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]]> worden.lit dein Friedensschluß von Pretoria am 31. Mai dieses Jahres
ist der südafrikanische Krieg nach dem mehr als zwciundeinhalb-
jnhrigen heldenmütigen, zähen Widerstande eines kleinen Völkchens
gegen die erdrückende Übermacht eines Weltreichs mit der Unter-
I werfung der beiden Bnrenrepnbliken unter England beendet
Trotz anfänglich günstiger Aussichten war dieser Ausgang, seitdem
die Buren die ersten Wochen nicht zu einem entscheidenden Schlage benutzt
hatten, unvermeidlich, sobald uicht eine Wendung in der Weltlage ihnen zu
Hilfe kam. Eben diese hatten sie in ihrem festem fast fatalistischen, aber echt
kalvinischcn Vertrauen ans die Gerechtigkeit ihrer Sache bei dem Entschlüsse zum
Kriege offenbar zu wenig in Rechnung gezogen, und die Hoffnung auf die
Erhebung der Kapholländer erfüllte sich nnr in bescheidnen Umfange; der Mehr¬
heit dieser behübigen Bevölkerung fiel es gar nicht ein, ihre Existenz aufs Spiel
zu setzen. Wenn bei dem Entschlüsse der Burenführer zum Kriege etwa die
Erinnerung an den niederländischen Freiheitskampf gegen Spanien oder um
den Abfall der amerikanischen .Kolonien von England eine Rolle gespielt Hütte,
so wäre übersehen worden, daß die Niederländer an der allgemeinen Gegen¬
wehr der europäischen Nationen gegen das spanisch-habslmrgische Übergewicht
teilnahmen, in einem großen politischen Zusammenhange standen und also
von außen fortwährend unterstützt wurden, die Nordamerikaner ohne die Hilfe
der Franzosen sicherlich unterlegen wären. Allein gelassen sind kleine Bauern-
Völker, wenn sie nicht von ganz besonders günstigen geographischen Umstünden
Vorteil zogen, wie die Urkantone der Schweiz, größern Staatenbildungen
regelmüßig erlegen, die friesischen Stedinger den vom Erzbistum Bremen gegen
sie aufgebotenen Kreuzheeren 1234, die holsteinischen Dietmarschen dein dänischen
und holsteinischen Adel 1559. Denn das Vertrauen ans die Gerechtigkeit der
eignen Sache ist etwas Großes, oft Entscheidendes, aber auch der gerechtesten
Sache schafft nur die Stärke den Sieg, und die historische Gerechtigkeit ist
uicht die Gerechtigkeit von heute, die Weltgeschichte ist das Weltgericht, aber
nicht der nächste Tag vollzieht es. Auch ist es in Wirklichkeit so, daß Recht
oder Unrecht niemals ganz und rein auf einer Seite steht, wie eine naive Anf-
fassung zu glauben liebte und wer die großen politischen Ereignisse nur nach
den Regeln der bürgerlichen Moral beurteilen will, der übersieht, daß die
Staaten als große souveräne Gemeinschaften vor allem dem Selbsterhaltungs¬
triebe gehorchen müssen, genan wie der einzelne Mensch, wenn er allein in
der Notwehr ist.
Recht und Unrecht im Burenkriege abzuwägen, das war und ist eine
mißliche Sache, Daß sich die menschliche Sympathie fast allgemein auf die
Seite des Schwachen, also der Buren stellte, war selbstverständlich und eine
edle Regung. Dagegen wäre also weiter nichts zu sagen. Aber die Mehrheit
des deutschen Volks und damit der deutschen Presse wollte auch schlechtweg
alles Recht auf feiten der Buren, alles Unrecht auf feiten der Engländer
sehen; sie sah mir, daß die Bnrenstaaten um ihre Existenz fochten, hatte
aber kein Auge dafür, daß die Engländer um die Behauptung ihrer Herrschaft
in Südafrika, also um ihre Weltstellung rangen, und daß es sich dabei zugleich
um den Kampf zweier Kultur- oder Wirtschaftsformen einer höhern und einer
niedern, handelte. In ihrer leidenschaftlichen Parteinahme für die Buren ging sie
sogar über jedes billige Maß weit hinaus; sie begrüßte jede Niederlage der Eng¬
länder mit schadenfrohem Hohn und lautem Jubel und wurde nicht müde,
auch auf einseitige und übertriebne Berichte hiu, die englische Armee und die
englische Regierung der Unfähigkeit und Grausamkeit anzuklagen; kurz sie ge-
bärdete sich, als ob die Sache der Buren eine uationaldeutsche und England
auch unser Feind wäre, und unsre politischen Witzblätter leisteten in Plattheit
und Roheit geradezu Beschämendes. Gewiß, die englische Politik und noch
viel mehr ein Teil der englischen Presse hatte durch hochmütige Überhebung
und übelwollende Behandlung unsrer nationalen Interessen seit Jahrzehnten
reichlich Gelegenheit zur Verstimmung gegeben; aber daß darüber einem
großen Teil unsrer Presse und ihrer Leser jede ruhige Erwägung völlig ab¬
handen kam, daß ihm sozusagen der Kopf mit dem Herzen durchging und
lediglich Gefühlspolitik getrieben wurde, das ist wahrhaftig kein Zeichen unsrer
politischen Reife. Fast noch bedenklicher war es, wenn zahlreiche deutsch-
evangelische Theologen in der Burensache schlechtweg Gottes Sache sahen und
deshalb ihren Sieg erwarteten, weil ihnen die Buren als ein frommes, schlicht
bibelgläubiges Volk erschienen. Sie hätten doch den Spruch des Jesaias (55, 8)
besser berücksichtigen sollen: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und
meine Wege sind nicht eure Wege, spricht der Herr." Theologen haben nicht
den Beruf, schwere und verwickelte politische Fragen zu beurteilen.
Nun ist der Krieg zu Ende; eine Fortsetzung der erbitterten Polemik,
die doch nur die absolute Ohnmacht der deutschen Presse in großen auswärtigen
Fragen dargethan und den Buren nicht das Geringste genutzt hat, die hat
vollends jetzt nicht den mindesten Zweck mehr, wir sind mit der feindseligen
Haltung eines Teils der englischen Presse seit 1863 quitt. Es ist an der Zeit,
uns wieder auf die zahllosen Beziehungen geistiger und materieller Art, die
uns mit England verknüpfen, zu besinnen, vor allem aber uns die nüchterne
Frage vorzulegen: Was ergiebt sich für Deutschland, für die Welt ans dem
Siege Englands? Wie stehn wir überhaupt jetzt in der Welt?
So viel steht fest: Das britische Weltreich ist nicht geschwächt, sondern
gestärkt aus dem schweren Kampfe hervorgegangen. Die englische Heerführung
ist im ganzen und im einzelnen vielfach gewiß höchst mangelhaft gewesen, ist
aber doch schließlich durch zähe Ausdauer zum Ziele gekommen; das britische
Volk hat eine höchst achtungswerte, sehr nachahmungswerte Opferwilligkeit
bewiesen, und die Kolonien haben ihrer Anhänglichkeit an das Mutterland
dnrch Truppeuseudungen praktisch Ausdruck gegeben; zweifellos hat also der
imperialistische Gedanke, das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit zwischen
den einzelnen Teilen des Reichs eine wesentliche Kräftigung erfahren, mag
auch jetzt der Plan eines engern, militärischen Zusammesschlusses der Reichs¬
teile uoch abgewiesen worden sein, und die Verwirklichung eines Neichszoll-
Vereins noch in viel weiterer Ferne liegen. Zugleich hat die englische Diplomatie
auch ihre sonstigen Interessen keineswegs aus dem Auge verloren. Sie hat
in China ihre alte, vorherrschende Stellung allerdings nicht behaupten können,
sondern hat ihren Einfluß dort mit Rußland und Deutschland teilen müssen,
aber sie hat dem Zarenreiche in dem Bunde mit Japan ganz überraschend
ein starkes Gegengewicht geschaffen und den Kampf um die Vorherrschaft in
Persien nachdrücklich aufgenommen.
Einem solchen lebenskräftigen Reiche gegenüber ist doch wohl auch die
deutsche Presse verpflichtet, die Frage recht ernsthaft zu stellen: Was kann uns
Englands Feindschaft schaden, was kann uns seine Freundschaft nützen?
Was die englische Seeherrschnft bedeutet, das ist gerade im Burenkriege
'klar hervorgetreten, obwohl kein englisches Kriegsschiff auch nur einen Schuß
abgefeuert hat; uur die Überlegenheit der englischen Flotte erlaubte es, das
Mutterland fast gänzlich von Truppen zu entblößen, sicherte die großen Truppen¬
transporte nach Südafrika, auf diese ungeheure Entfernung hin die größten
der Geschichte, und machte jedes Eingreife« einer fremden Macht in den Krieg
von vornherein unmöglich. Daß wir dieser Flotte noch nicht entfernt gewachsen
sind, sieht ein Kind; daß sie uns also im Falle eines Krieges sehr viel böses
zufügen könnte, jn daß unsre Kolonialpolitik im feindlichen Widerspruch mit
England gar nicht durchführbar wäre, schon weil wir sie ohne Benutzung
englischer Häfen nicht führen könnten, das muß auch der größte Engländer¬
feind zugeben. Jedenfalls könnten wir fürs erste den Engländern viel weniger
zu leide thun, als sie uns. Da ist also doch wohl die Politik unsers Kaisers
die richtige: gegeuüber England keine Schwäche zu zeigen, aber es auch nicht
unnütz zu reizen und von Fall zu Fall sich mit ihm zu verstündigen, wo es
sich um gemeinsame Interessen handelt. So ist es in China geschehn, wo das
deutsch-englische Einvernehmen uns das Jangtsethal geöffnet und den russischen
Plänen auf die stillschweigende Verwandlung des Niesenreichs in einen russischen
Schutzstaat entgegengewirkt hat. Das persönliche Verhältnis unsers Kaisers
zum englischen Hofe und die Sympathien, die er im englischen Volke genießt,
sind für eine solche Politik besonders wertvoll. Dabei ist unser Verhältnis
zu Rußland eher befestigt als gelockert worden, wobei ebenfalls das persön¬
liche Verhältnis zwischen den beiden Kaisern, wie es jüngst wieder auf der
Reede von Reval hervorgetreten ist, eine größere Rolle spielen mag, als unsre
Zeitungspolitiker, die dergleichen mit geringschätzigen Lächeln zu behandeln
pflegen, anzunehmen heucheln Dadurch wird wieder Frankreichs gelegentlich
immer uoch hervorbrechender Rcvanchedurst unschädlich gemacht, und die un¬
glaublichen Tischreden gewisser französischer Minister, die mit der kindlichen
Naivität des Radikalismus alle Welt anzurempeln für zweckmüßig halten, werden
auf ihren wahren Wert herabgedrückt, denn solange der Zar den Frieden will
— und er will ihn offenbar aufrichtig ans persönlicher Überzeugung und unter
dem Druck innerer Schwierigkeiten —, können die Franzosen gar nicht wagen,
ihn zu stören; sie haben gegen ihre Erwartungen im Zweibunde nicht eine
Förderung, sondern ein Hemmnis ihrer Lieblingspläne gefunden. So steht
Deutschland zu den beiden großen Weltmächten, die um die Herrschaft Asiens
ringen, in gleich guten Beziehungen, ohne sich der einen oder der andern
hinzugeben. Dasselbe Verhältnis tritt in Ostasien hervor. Gegenüber dem
russisch-französischen Zweibunde, der jetzt seine Wirksamkeit auch auf diesen
fernsten Osten erstreckt hat, und dem neuen englisch-japanischen Bündnis, das
ihm die Wage halten soll, behauptet Deutschland seine Neutralität, gestützt
auf seine feste Stellung in Tsingtau und zufrieden damit, seine wirtschaftlichen
Unternehmungen in China friedlich weiter zu fördern.
Eine ähnliche Position nimmt Deutschland im nähern Orient ein. Im
guten Einvernehmen mit der Regierung des Sultans will es die wirtschaft¬
lichen Kräfte vor allem Kleinasiens durch deutsches Kapital und deutsche Arbeit
entwickeln und so das türkische Reich in dem Umfange, worin es vielleicht lebens¬
fähig ist, weil hier die Christen nur schwache Minderheiten sind, so lange wie
möglich erhalten, statt auch diese Gebiete zum Zankapfel der Weltmächte
werden oder in ohnmächtige Kleinstaaten zerfallen zu lassen. Und wenn es
so zwischen England und Rußland nach wie vor die Mitte hält, so hat sich der
Kaiser auch bemüht, mit der jungen nordamerikanischen Weltmacht, die so viele
Millionen von Bürgern deutscher Abkunft zählt, so viel deutsche Kultur in
ihre Bildung aufgenommen hat und mit Deutschland in so regem wirtschaft¬
lichem Wechselverkehr steht, daß die große Republik halb und halb ebenso gut
ein deutsches Kolonialgebict ist wie ein angelsächsisches, engere Beziehungen
anzuknüpfen, indem er seinen Bruder, den Prinzen Heinrich, zu einem äußer¬
lich wenigstens ganz unpolitischen Zwecke hinübersnndte. Ohne die überaus
freundliche Aufnahme des Prinzen in ihrem politischen Werte irgendwie zu
überschätzen, wird man sagen dürfen, daß seine Reise wie die mannigfachen
Aufmerksamkeiten des Kaisers einen Würmern Ton in die Beziehungen der
beiden Nationen gebracht und die meist von England ausgehende» Versuche,
Mißtrauen zwischen ihnen zu säen, um die dort von vielen gewünschte größere
Annäherung der Vereinigten Staaten um England herbeizuführen, gekreuzt hat,
daß sie ebenso das Selbstbewußtsein der Deutsch-Amerikaner gestärkt hat. Dabei
ist der Dreibund die feste kontinentale Grundlage der deutschen Politik ge¬
blieben und am 28. Juni unverändert erneuert worden, während zugleich die
deutsche Wehrkraft zu Lande anf ihrer vollen Höhe erhalten wird, unsre Flotte
in raschem Ausbau begriffen ist.
Für Deutschland Raum zu schaffen unter den Weltmächten, unsre Wirt-
schaftliche und geistige Kraft nach allen Richtungen zu entfalten, das ist das
klare Ziel der auswärtigen Politik des Reichs. Deshalb erstrebt sie ein ge¬
wisses Gleichgewicht der Weltmächte und die Bewahrung des Friedens, weil
sich ihre Ziele nur uuter diesen Bedingungen erreichen lassen. So geht ein
großer Zug durch sie. Von der Spruughaftigkeit und der Launenhaftigkeit,
die ihr ein gewisser Teil der deutschen Presse nicht müde wird vorzuwerfen,
vermögen wir nichts zu entdecken. Wenn es nicht eine Lächerlichkeit ohne
gleichen wäre, so könnte eher behauptet werden (wie es in den ersten Jahren
wirklich behauptet worden ist), daß Bismarcks Politik etwas „sprunghaftes"
gehabt habe, da er 1862 Osterreich riet, seinen Schwerpunkt nach Pest-Ofen
zu verlegen, sich 1864 mit ihm gegen Dänemark verbündete, also seine deutsche
Position verstärkte, 1866 mit ihm Krieg führte, um es aus Deutschland
hinauszudrängen, 1871 mit ihm und Nußland das Drcikaiserbündnis schloß,
1879 sich mit ihm gegen Nußland verständigte. Die Mittel wechselten wohl,
wie es immer geschehn wird, aber niemals das Ziel, das sich nur erweiterte:
erst war es die Gleichberechtigung Preußens neben Österreich, dann die Hege¬
monie Preußens in Deutschland, endlich die Sicherung der Stellung des neuen
Reichs in Europa. Über deu Rahmen der Bismarckischen Politik ist die gegen¬
wärtige Politik natürlich hinausgeschritten, aber die neuen Ziele hält sie so fest
im Auge, wie einst Fürst Bismarck die seinigen. Es mögen gelegentlich Fehler
im einzelnen gemacht worden sein oder werden, aber sie sind für die ferner-
stehenden — und dazu gehört fast die gesamte deutsche Presse — uicht so
leicht zu entdecken und uoch schwerer zu beurteilen. Die unleugbare Aunäherung
an England auf Familienbeziehungen und persönliche Vorliebe des Kaisers
statt auf politische Erwägungen zurückzuführen, ist eine Albernheit und eine
schwere Beleidigung zugleich, da diese Unterstellung den Vorwurf der Pflicht¬
widrigkeit enthält. Einen Widerspruch zwischen der Glückwunschdepeschc des
Kaisers an deu Präsidenten Krüger zur Abwehr des Jaiuesouscheu Frei¬
beuterzugs und der deutschen Politik im Burenkriege konstruieren zu wollen,
verrät einen erstaunlichen Mangel um Logik; denn damals handelte es sich
um einen rechtlosen Einfall, dessen Urheberschaft die englische Regierung
durchaus ablehnte, jetzt um einen Krieg zwischen unabhängigen Staaten, den
unzweifelhaft die Buren gegen den wiederholten Rat Deutschlands begonnen
hatten, und wenn 1896 die deutsche Diplomatie die Erhaltung der Unab¬
hängigkeit Transvaals als ein deutsches Interesse bezeichnete, 1899 bis 1901
aber nichts dafür that, so hatte sich eben die Lage völlig verändert: was sich
1896 mit diplomatischen Mitteln erreichen ließ, das wäre 1899 ohne Krieg
nicht möglich gewesen, und einen solchen konnten und wollten Nur auch gar
nicht führen, soviel war uns die um sich erwünschte Selbständigkeit der
Bnrenstaaten eben nicht wert. Oder ist es etwa dem Fürsten Bismarck jemals
eingefallen, sich wegen der brutalen Unterdrückung des baltischen Deutschtums,
das uus der Abkunft und der Geschichte nach doch sehr viel näher steht, als
die Buren in Südafrika, mit Nußland zu überwerfen? Auch den europäischen
Nachbarn Deutschlands wäre es jedenfalls lieber gewesen, wenn der Deutsche
Bund in seiner Ohnmacht fortbestanden hätte; es hat schließlich doch keiner
außer Frankreich ernsthaft versucht, die deutsche Einheit zu hindern, sie haben
sich alle mit ihr abgefunden. Stellt man obendrein die Frage so, wie sie
thatsächlich stand, wenn die Buren einen wirklich entscheidenden Sieg erfochten:
Ist für die deutschen Interessen in Afrika ein selbständiges Südafrika oder ein
Südafrika unter englischer Herrschaft vorteilhafter? so wird die Antwort kaum
zweifelhaft sein. Ein unabhängiges, von den Afrikcmdern beherrschtes Süd¬
afrika würde der Versuchung, Deutsch-Südwestafrika zu nehmen, nur schwer
widersteh», und wäre nicht leicht daran zu hindern; für England als Herrin
des englisch-holländischen Südafrikas ist das gute Verhältnis zu Deutschland
viel zu wertvoll, als daß es dieses wegen eines solchen ihm selbst völlig ent¬
behrlichen Besitzes aufs Spiel setzen könnte.
Was den Schein einer schwankenden Politik zuweilen erwecken kaun, das
sind keine Thaten, sondern gelegentliche, einer augenblicklichen Stimmung ent¬
springende temperamentvolle Äußerungen des Kaisers, die deshalb eine mehr
psychologische als politische Bedeutung haben. Was aber mitunter Beunruhigung
erregt, das sind gar nicht solche Äußerungen selbst, das ist vielmehr die Sucht
einer gewissen Presse, sie zu kommentieren, zu kritisiere!?, breitzutreten — spalten¬
lang, wochenlang — und große politische Aktionen daraus zu machen, ein Ver¬
fahren, das sie bei wirklich bedenklichen Reden andrer hoher Häupter zartfühlend
zu vermeiden pflegt. Wieviel Druckerschwärze ist z. B. über die Swinemünder
Depesche an den Prinzregenten von Bayern vergossen worden!
Der Kaiser ist eine kraftvolle, ungewöhnlich begabte, auf sich selbst ruhende
Herrscherpersönlichkeit, die von ihren Rechten einen ebenso hohen Begriff hat
wie von ihren Pflichten, und die sich nicht knebeln läßt ganz undeutschen und
parlamentarischen Theorien zu liebe. Wir Deutschen wollen ja auch gar keinen
Monarchen, der nur das Pünktchen aufs i zu setzen hat, wir wollen und
haben Gott sei Dank die lebendige Monarchie, wir sind auch in dieser Be¬
ziehung ein Volk der Mitte, das weder den Absolutismus noch den Parla¬
mentarismus, d. h. die Scheinmonarchie mag, und wir werden deshalb weder
dort noch hier recht verstanden. Scheinmonarchen sind auch die konstitutionellen
Könige des Hohenzollernhauses niemals gewesen. Wilhelm I. wollte eher
abbaute«:, als das preußische Abgeordnetenhaus zur herrschenden Macht im
Staate werden lassen, und wenn er später in allen entscheidenden Momenten dem
genialen Rate des Fürsten Bismarck folgte, die Entscheidung behielt er sich doch
immer vor, und in jede Entscheidung hat er ein Stück seiner eignen Anschauung,
seines eignen Wesens hineingebracht, der Herr blieb er immer, ein Ludwig XIII.
war er niemals. Sein Enkel ist anders geartet. Bei allem Selbstbewußtsein
hat er nie den leisesten Versuch gemacht, konstitutionellen Rechten zu nahe zu
treten oder gar den Rechten der Bundesfürsten. Aber er giebt seiner Politik
einen stürkern persönlichen Zug, er ist nicht zurückhaltend, er sagt immer, was
er denkt. Und es mag sein, wie es will: wie durch seine Politik, so geht
auch durch die Reden des Kaisers ein hochherziger Zug, der auf die guten
Eigenschaften der Menschen rechnet, nicht auf ihre Schwächen, und gerade deshalb
zuweilen Enttäuschungen erführe. Wie er die Franzosen behandelt, wie er den
Uankees feinsinnige Höflichkeiten bezeigt, ihnen die Statue Friedrichs des Großen
und ihrer Harwarduniversitüt ein deutsches Museum, den Italienern das Stand¬
bild Goethes schenkt, wie er die Polen zu behandeln versuchte, wie er der
katholische» Kirche, weil sie eben eine Macht ist, jedes mögliche Entgegen¬
kommen erweist, ohne jemals seinen evangelischen Standpunkt zu verleugnen,
wie er die Traditionen seiner hannöverschen und hessischen Truppenteile wieder
zu beleben sucht, wie er sich bei dem allen des großen geschichtlichen Zusammen¬
hangs immer bewußt bleibt, das ist etwas ganz Persönliches und der Ausfluß
einer edeln, warmherzigen Natur, nicht kühler Berechnung,
Im Auslande wird das alles willig anerkannt, dort gilt der Kaiser für
die bedeutendste Persönlichkeit unter den Monarchen der Gegenwart, und Graf
Bülow als einer der ersten Staatsmänner, Aber dort sieht man offenbar durch
starke Vergrößerungsgläser; ein guter Teil der deutschen Presse und leider auch
der gebildeten Leser vermag davon nichts wahrzunehmen! Sie beklagen immer
wieder, daß Graf Bülow nicht Fürst Bismarck, Wilhelm II. nicht Wilhelm I,
ist, Sie finden, daß die That häufig nicht den Worten entspreche, und daß
sich der Kaiser immer mehr von der Empfindung der Nation entferne. Daß
sie selbst alles thun, um einen Spalt aufzureißen, wo thatsächlich gar keiner
vorhanden ist, wo der Kaiser bei seinem Erscheinen überall doch wahrhaftig nicht
mit gemachtem Jubel begrüßt wird, daß sie durch solche unverzeihliche Thor¬
heiten den Pnrtikularisten und den Sozinldemokraten, den grundsätzlichen und
unversöhnlichen Gegnern des Reichs, Wasser auf die Mühle treiben und ohne
Überlegung das ihrige thun, das monarchische Prinzip zu erschüttern, daß
hinter dieser Abneigung gegen eine bedeutende, eigentümliche Persönlichkeit
eine gute Dosis des echt demokratischen Neides steckt, für den es „Sünde ist,
ob dem Schwarm zu ragen," das merken sie nicht oder wollen es sich we¬
nigstens nicht eingestehn.
Auf der andern Seite giebt es wiederum, sehr gebildete und sehr kluge
Leute, die zwar zugeben, daß der Kaiser ein hochbegabter Mann sei, dies aber
keineswegs für ein Glück halten, sondern eher Gefahren daraus hervorgehn
sehe»?. Eine mittelmäßige Dnrchschnittsbegabung, meinen sie, sei das beste für
einen Monarchen; ein genialer Herrscher könne leicht in die Versuchung kommen,
in einem entscheidenden Angenblick, ans seine Kraft vertrauend, zuviel aufs
Spiel zu setzen und schweres Unheil heraufzubeschwören. Nun, auch ein
genialer Minister kann das, und wenn er hinterher entlassen wird, was bei
eitlen Monarchen allerdings nicht geht, so hilft das auch nichts mehr. Wenn
Bismnrcks Politik 1866 bei Königgrätz gescheitert wäre, statt zu siegen, welche
Fülle von Haß und Hohn hätte sich dann über sein Haupt ergossen, und er
war doch auch schon damals der geniale Staatsmann, der er später war.
Auch ein König mit bloßer Durchschnittsbegabung, namentlich ein willens¬
schwacher Monarch, kann großes Unglück anrichten, wie unzweifelhaft Friedrich
Wilhelm III, die Niederlagen Preußens 1806 durch seine Entschlußlosigkeit
wesentlich verschuldet und die Erhebung von 1813 eben nur zugelassen hat.
Wenn Friedrich Wilhelm IV. im ganzen so wenig Erfolge hatte, ja gerade
die Aufgabe, die seinein Staate gestellt schien, nicht löste, so trug daran nicht
seine reiche Begabung die Schuld, sondern eine Lücke in dieser Begabung, der
Mangel an festem, klarem Willen und nüchterner Einsicht. Dagegen hat der
genialste Hohenzoller, Friedrich der Große, seinen Staat niemals unbedacht
in Gefahr gestürzt, wohl aber ihn aus den verzweifeltsten Lagen gerettet. Auch
heute noch, und heute vielleicht mehr als je, ist das persönliche, sittliche Ver-
antwortlichkeitsbewlißtsein eines Monarchen, das unsern Kaiser in so hohem
Grade beseelt, viel mehr wert als alle MinisterverautUiortlichkeit gegenüber
der Volksvertretung, die thatsächlich doch nur auf dem Papier steht. Es wäre
doch auch ein trauriges Armutszeugnis für unser Volk, wenn es hochbegabte
Männer an seiner Spitze nicht ertragen konnte. Es bedarf ihrer nur allzu¬
sehr, gerade heute, mindestens ebensoviel wie vor vierzig Jahren, wo Bismarck
gegen John Lothrvp Motley zornig über die „kindische" Art des Abgeordneten¬
hauses klagte. Die Unfähigkeit der Mehrheit, die große Politik auch nur
zu begreifen, die alte, unausrottbare Neigung, immer nur nach dem Gefühl
zu urteilen, die Zerfahrenheit der Parteien, die leider die Neichsregierung
geradezu zwingt, mit der mächtigsten, dem Zentrum, zu paktieren, die ängstlich
kleinliche Zurückhaltung des deutschen Großkapitals von unsern Kolonien — bei
allein Unternehmungsgeist, deu es sonst auch im überseeischen Verkehr entfaltet —,
der geradezu schimpfliche Mangel also an dem kühnen Wagemut der Eng¬
länder, der allein aus ihnen etwas machen kann, dazu der Niedergang der
Demokratie und des Parlamentarismus allerorten, der immer deutlicher
hervortritt, je verwickelter die Kultur- und Weltverhältnisse ringsum werden,
je geringer also die Zahl derer wird, die sie zu beurteilen und zu lenken ver¬
steh», das alles zeigt, daß die beste Kraft, die größte Begabung an seiner
leitenden Stelle für Deutschland in den Gefahren der Gegenwart und der
en sogenannten unveräußerlichen Menschenrechten zufolge sollten
alle Menschen gleich sein. Daß sie es nicht sind, daran ist die
Natur schuld, die, aller Gleichmacherei feind, alles, was lebt, zu
einem fortwährenden Ringen miteinander bestimmt, bei dem sich
die Starken behaupten, die Schwachen untergehn. In der mensch¬
lichen Gesellschaft siud die Unterschiede schon mit ihrem Entsteh,: eingetreten,
sodaß die altgermanische Überlieferung im Rigsmnl die Stunde der Knechte,
Bauer» und Edeln geradezu auf göttliche Einsetzung zurückführt. Mai darf
um zwar die in der Edda geschilderten nordischen Zustände nicht schlankweg
als auch für die andern Germanen geltend annehmen. Doch unsre deutsche
Geschichte giebt uns auch in der ältesten Zeit schon die Abstufungen der Edeln,
Freien und Hörigen mit entsprechender Verschiedenheit des Besitzes.
Wie Tacitus berichtet, geschah die Verteilung des Landes bei unsern Alt¬
vordern söouncluin. al^rmtiemsm, und nach demselben Maßstabe sind sie in der
später» Zeit ihrer Eroberungen verfahren. Wenn irgendwo, so hatte eine gleiche
Verteilung des Landes in Britannien stattfinden können, wo die Angelsachsen,
wenigstens in den östlichen Teilen, rein germanische Gemeinwesen gründeten
und nicht, wie die Germanen in den romanischen Ländern, nur eine Aristokratie
inmitten einer zahlreichern nnterworfnen Bevölkerung bildeten. Doch in Eng¬
land zeigt sich schon von Anbeginn eine sehr große Ungleichheit des Besitzes.
Leider läßt sich die Eroberung und die Besiedlung nicht im einzelnen ver¬
folgen. Wir haben es nicht mit einem Heerzuge wie dem der Goten unter
Dietrich zu thun, der in einer Schlacht ein Reich gewinnt, sondern mit einen?
anscheinend planlosen, sich über hundert Jahre erstreckenden Ringen, worin
germanische Zähigkeit und Ausdauer die Kelten nach Westen drängen. An¬
gelockt von dem Reichtum des Landes und der Schwäche seiner Bewohner
zieht ein abenteuernder Haufe nach dem andern aus den Sitzen an der Elbe
übers Meer und nimmt, was er erlangen und behaupten kann. Am Schlüsse
des Jahrhunderts der Eroberung bestand in England eine große Zahl kleiner
selbständiger Königreiche, die ebenso oft gegeneinander als miteinander gegen
die Briten fochten. Gemeinsam aber war ihnen allen neben der Sprache und
dem alten Glauben an Wodan die germanische Rechtsanschauung. Die endliche
Vereinigung hatte nicht mit verschiednen Auffassungen zu kämpfen, alle Teile
des angelsächsischen Reiches hatten dasselbe Recht.
Wie gesagt, Berichte über die Art und Weise der Landverteilung bei der
Eroberung fehlen uns, doch sie muß wie in der alten Heimat 8eeunÄuin
äiAna>tionsm geschehn sein. Denn der genauere Einblick, den uns eine nicht
viel spätere Zeit erlaubt, giebt eine solche Abstufung der Stände und der
Besitzverhältnisse mit einem Überwiegen grundherrlicher Rechte, daß von einigen
sogar die Frage hat aufgeworfen werden können, ob in England die freie
Dorfgemeinschaft überhaupt jemals bestanden, und ob nicht von Anfang nu
ein Unterthänigkeitsverhältnis obgewaltet hat. Es ist ja richtig, daß nicht das
ganze Volk der Angeln und Sachsen mit Sack und Pack hiuüberwauderte, und
man könnte ganz wohl annehmen, daß die einzelnen Führer nur von der
Gefolgschaft begleitet waren, die sich ihnen zu persönlicher Treue verpflichtet
hatte. Aber die Gefolgschaft bestand aus freien Männern, und nichts ist un¬
wahrscheinlicher, als daß diese sich auf dem neuen von ihnen errnngnen Boden
freiwillig und ohne Not in eine Unterthänigkeit begeben Hütten.
Nach allem, was wir wissen, kann kein Zweifel sein, daß die heimischen
Verhältnisse nach England hinübergenommen wurden, und obenan stand das
alte Volksrecht, das noch kein Eigentum an Grund und Boden, sondern nur
einen Besitz kannte. Ob die Anteile nach den Standesunterschieden groß oder'
klein waren, sie wurden besessen gemäß dem Volksrechte, dus keine freie Ver¬
fügung zuließ. Das Eigentum lag beim ganzen Stamme, mochte das Land
dem Könige zugewiesen sein oder einem Edeln oder einem freien Manne. Es
war ursprünglich alles tolKlNitZ,
Das toMxmä ist also dem s^ör xublieu8 des alten römischen Rechtes
gleichzustellen. Der römische g.^e,r xrivatus mit der oivilis xossW8lo fand sein
Seitenstück durch römischen Einfluß erst später im booilmÄ lVuchland ^ Ur-
kuudcnland). Es lag in der Natur der Sache, daß die Fesseln, die das Volksrecht
der freien Verfügung über das Land anlegte, von vielen als lästig empfunden
wurden, so wohlbegründet sie auch in der germanischen Anschauung waren.
Als dann das Christentum eindrang, und die Kirche ausgestattet werden mußte,
da fanden sich Mittel, die ursprüngliche Landordnung zu durchbrechen, und
mit Zustimmung der Witena vermochte der König durch Urkunden, von denen
viele erhalten sind, tolKlanÄ in düolknä zu verwandeln und dem Besitzer als
erd und eigen zu übermachen. Nachdem die Umwandlung einmal möglich ge¬
worden war, wurde sie in großem Umfange ausgeführt, besonders zu Gunsten
der Großen, deren Macht dadurch stark wuchs.
Neben den freien Bauern auf ihrer Scholle von Volkland oder Buchland
gab es eine große Menge, die von den Großgrundbesitzern Land zu Lehen trugen,
Ig,6n1xmä. Wenn sie auch persönlich frei waren, mußte doch ihre wirtschaftliche
Abhängigkeit sie auch politisch Herabdrücken, und die Umwandlung des Bodens
ihres Herrn in freies Eigentum war nicht dcircinf berechnet, sie wieder unab¬
hängig zu machen. Die häufigen Kriege zwischen den einzelnen Staaten und
die dänischen Einfälle thaten ferner das ihrige, die alten Verhältnisse zu zer¬
rütten und den freien Bauern in einen unfreien zu verwandeln. Wer nicht
stark genug war, sein Land selbst zu schützen, fand es weise, sich unter den
Schutz eiues Großen zu stellen, und wer nicht selbst Land hatte — der ur¬
sprüngliche Anteil reichte ja uicht für alle Nachkommen aus —, mußte sich
unter einen Herrn stellen, wollte er nicht friedlos und vogelfrei werden. Alles
wirkte so zusammen, den Stand der freien Bauern einzuschränken und den
Großen alle Gewalt in die Hände zu spielen.
Schon lange vor der normännischen Eroberung gehörte ein großer Teil
des ganzen bebauten Bodens einer kleinen Zahl von Großgrundbesitzern, denen
auch mit Hintansetzung des alten Volksgerichts die Gerichtsbarkeit über ihre
Hintersassen zustand, und die Gliederung des Staates trug schou unverkenn¬
bare Züge des Fcudcilwesens. Der alte Ehrenname des freien Mannes, vsorl,
fiel in seiner Bedeutung, bis aus ihm der neuenglische Schimpfname vlruil
wurde, in derselben Weise, wie der deutsche Karl, der gut genug war. Königen
und Kaisern als Name zu dienen, zum Kerl herabgesunken ist. Die Ver¬
einigung der kleinen Königreiche unter Wessex schloß die Gliederung ab. Was
sie noch von dem Feudalwesen der spätern Zeit unterschied, war hauptsächlich,
daß das Buchland der Großen nicht ein Lehen vom Könige war, sondern
mehr dem deutschen Allodbesitz entsprach. Auf der obersten Sprosse der ge¬
sellschaftlichen Leiter standen als hoher Adel die Großthane oder Carls. Ihnen
folgten die Thaue als niedrer Adel, und dann die Masse der Gemein-
freien, der noch selbständigen wie der in abhängiger Stellung, darunter endlich
die rechtlosen Leibeignen, Dem Besitze entsprechend war die Verteilung der
Staatsämter und der Verwaltung der Grafschaften, Manchen der Großthcme,
wie z, B, dem Earl Godwin zur Zeit des Vekenners, war ein Gebiet unter¬
geben, das sich mit dem eines der frühern Königreiche deckte und ihnen eine
fürstliche, dem Könige sehr gefährliche Macht verlieh.
Ganz wie ihre Standesgenossen in Deutschland strebten sie danach, mit
Hilfe ihrer Hausmacht die Erblichkeit der ihnen vom Könige übertragnen Ämter
und damit eine landschaftliche Selbständigkeit zu gewinnen. Aber einer Ent¬
wicklung der Adelsinacht in dieser Richtung wurde durch die normännische Er¬
oberung ein jähes Ende bereitet. Der alte hohe Adel, angelsächsischer wie
dänischer Abkunft, verschwand, und der normannisch-französische ruckte ein, unter
wesentlich verschiednen Bedingungen.
Vor allem wurde ein bis dahin unbekannter, aus dem Rechte der Er¬
oberung abgeleiteter Grundsatz für das Eigentum an Grund und Boden auf¬
gestellt, der theoretisch, aber auch nnr theoretisch, noch gilt, wonach der König
der alleinige Grundherr, und ein Allodium staatsrechtlich eine Unmöglichkeit
war. Der rechtliche Damm des Feudalwesens wäre jedoch nicht ausreichend
gewesen gegen Sonderbestrebungen ohne eine andre Maßregel, die von dem
staatordnendcn Geiste des Eroberers Zeugnis ablegt. Bei der Verteilung der
eingezognen Güter des angelsächsischen Adels hütete sich Wilhelm, sie wieder
als geschlossenes Ganzes zu vergeben. Das Land eines normannischen Barons
mochte in seiner Gesamtheit dem eines frühern sächsischen Carls gleichkommen,
aber es bildete kein geschlossenes Gebiet, sondern lag über eine Anzahl von
Grafschaften zerstreut, nirgends groß genug, dem Besitzer eine überwiegende
Stellung innerhalb der Grafschaft zu gewahren und als Kern einer Hausmacht
zu dienen.
In Deutschland hat der zusammenhängende Allodialbesitz die alten Grafen
befähigt, die schwächen, Nachbarn unter ihre Botmäßigkeit zu bringen und sich
zu Reichsfürsten zu erheben. Eine», ähnlichen Ausgange beugte Wilhelms
Landpolitik vor. Allen Gefahren, die dem Könige vom Adel drohten, konnte
er freilich damit nicht begegnen, manche hat er geradezu heraufbeschworen.
Denn nicht um eine einzelne Landschaft gebunden, wurde der Adel gezwungen,
seine Augen auf das Ganze zu richten, und die Durcheinandermischung der
Güter führte ihn enger zusammen, als bei größerer Geschlossenheit des Besitzes
wahrscheinlich oder möglich gewesen wäre. Daraus erklärt sich die Schwierigkeit,
einen Teil des Adels gegen deu andern auszuspielen, und die Erscheinung,
daß die Könige so oft den gesamten Adel gegen sich hatten.
Für die Erhaltung der Reichseinyeit hätte Wilhelm keinen bessern Plan
finden können. Aber England hatte auch die Kehrseite mit in den Kauf zu
nehmen. Daß schwache Herrscher sich dabei nicht wohl befanden, will nicht
viel sagen, Schwächlingen pflegen auch die besten Hilfsmittel wenig zu nützen.
Die Kehrseite war das wirtschaftliche Übergewicht, das der Adel durch die
Gemeinsamkeit der wirtschaftlichen Lage in die Schale warf. Die Städte konnten
sich, von London und Bristol abgesehen, nicht im entferntesten mit denen
des Festlandes messen. Der Außenhandel war so gut wie ganz in fremden
Händen, das Gewerbe war noch wellig entwickelt und ging kaum über den
heimischen Bedarf hinaus, sodaß der Reichtum nur in Liegenschaften und nicht
in beweglichem Vermögen bestehn konnte.
Das Streben des Adels war um, nicht mir möglichst dick dieses Reich¬
tums zu erlange», sondern auch für immer für sich als Stand fest zu halten,
und das gelang ihm so gut, daß noch heute, obgleich das eigentliche Feudal¬
wesen längst dahin ist, die Landgesetzgebung die Züge trägt, die ihr vom mittel¬
alterlichen Adel gegeben worden sind.
Das Feudalwesen erhielt seine volle Allsbildung nicht von heute auf
morgen. Dazu bedürfte es der ganzen Zeit der normannischen Könige, und
erst unter Heinrich II, stellte es sich als das feste Gebäude dar, worin dann
für das alte Volksrecht kein Platz mehr war. Freie Bauern, trsöNolclörs, gab
es nicht mehr viel. Die Hörigen, die als villimi und später als ooMbolcIör8,
Erbpächter bezeichnet wurden, sind wahrscheinlich als die Nachfolger derer an¬
zusehen, die ihr Land nach dem alten Volksrecht als l'MIimcl besaßen. Zum
Teil möge» sie schon in angelsächsischer Zeit ihre frühere Stellung eingebüßt
haben, ohne doch auf die Stufe der auch unter den Normannen weiter be¬
stehende» Leibeignen herabzusinken. Jetzt aber war überall der feudale Grund¬
herr an die Stelle des Volksrechts getreten, anstatt der Gelvere nach Volksrecht
gab es nur noch die Gelvere nach Hofrecht. Die ganze Dorfgemeinschnft stand
nnter dem feudalen Herr» als dein liurcl öl' tho Nimor, der das ganze
Gebiet von der Krone oder einem großen Kronvasallen zu Lehen trug. Alle
Einwohner sahe» in ihm die Obrigkeit, sei es, daß sie als Hörige dem
Frondienste unterlagen, sei es, daß sie als Freie für ihr Land Heerfolge zu
leisten oder bloß eine Abgabe zu entrichte» hatten. Um seine Macht noch zu
vergrößern, galt nach der Anschanung der feudalen Rechtsgelehrten auch das
ganze nicht verteilte Gemeinland als dem Lord gehörig, und das Statut von
Merton vom Jahre 1235, ein Gesetz, dein man die Vaterschaft ans den ersten
Blick ansieht, ermächtigte ihn, von diesem Gemeinlande für seinen Nutzen so¬
viel zu nehmen, wie er wollte, vorausgesetzt, daß er genug übrig ließ für die
Bedürfnisse der zur Nutznießung an Weide, Holz usw, berechtigten. Für die
damalige Zeit wird das »»verteilte Land auf etwa zwei Drittel der ganze»
Oberfläche veranschlagt, und im Laufe der Jahrhunderte — das Gesetz von
1235 ist erst 1893 unschädlich gemacht, aber noch nicht aufgehoben worden —
ist diese ganze Masse Privateigentum der Lords geworden bis auf etwas über
zwei Millionen Acker, etwa fünf Prozent des ganzen Flächeninhalts. Was
so noch übrig geblieben ist, ist meistens unfruchtbares Ödland, das den Anbau
nicht lohnt. In bergigen Landschaften lvie Cumberland findet sich deshalb
weit mehr als in fruchtbaren lvie Leicestershire oder Keile. In Kent beläuft
sich das Gcmeinland nur noch auf achtzehnte! Prozent.
Solange das Feudalwesen in voller Blüte stand, waren dem Landhunger
der Lords gewisse Grenzen gesteckt durch die Notwendigkeit, die ihnen auferlegte
Zahl bewaffneter Mannschaften zu erhalten, für deren Bedürfnisse Land frei
bleiben mußte. Mit dem Niedergang des Fendallvescns fiel diese Notwendig
keit weg, und die Grundherren fanden es vorteilhafter, sich der Schafzucht zu
widmen, die bei der Vorliebe, deren sich „lündischcs" Tuch bei den Patriziern
der reichen deutschen Städte erfreute, guten Ertrag brachte. Sie zäunten
deshalb nicht nur einen großen Teil des Gemeiulandes für ihre Schafweide
ein, sondern Vertrieben auch viele der abhängigen Bauern von ihrem Lande,
wenn es ihnen gelegen war. Sir Thomas Morus führt in seiner um 1515
geschriebnen Utopia auf das daraus entstandne Elend die große Zunahme
der Verbrechen zurück. Auf diese Weise wurde das Land entvölkert, aber die
Großen bekamen es in ihre Hände, und sie haben es noch. Die Umwandlung
der meisten Erbpachtstellen (oopMolä) in freies Eigentum (trsöllolä) hat das
erdrückende Übergewicht des Großgrundbesitzes kaum berührt.
Wenn nun bei den Angelsachsen die Wehrpflicht eine Folge des Besitzes
war, so erschien umgekehrt unter dem normannischen feudalen Königtum der
Besitz als eine Folge des Waffendienstes, als die Ausstattung eines Amtes.
Je größer die Leistung, je größer der dafür ausgesetzte Lohn. Ganz folge¬
richtig ergab sich daraus, daß Stand und Rang von der Leistung abhingen,
oder kurz gesagt, die neue Aristokratie, die mit dem Fendalwesen aufkam, war
im Grunde eine Bcamtenaristvkratie. Vor der strengen feudalen Anschauung
konnte darum ein Recht anf Erblichkeit der Lehngüter so wenig bestehn, wie
ein Recht, sie frei zu veräußern oder letztwillig über sie zu verfügen. Diese
Anschauung lief jedoch dem natürlichen Gefühle stracks zuwider, und ihre Be¬
folgung hätte die ganze Einrichtung unmöglich gemacht. Brauch und später
gesetzliche Regel war, daß sich die Lehngüter vererbten, aber nur auf den
ältesten Sohn, um den neuen Besitzer in den Stand zu setzen, allen An¬
forderungen seiner Stellung zu genügen. Die Bedürfnisse des Staates über¬
wogen die natürlichen Ansprüche der jüngern Söhne. Töchter waren sowieso
ausgeschlossen, außer wenn kein Sohn vorhanden war. In diesem Falle
war auch eine Teilung erlaubt. Von den Lehngütern dehnte sich dann das
Recht der Erstgeburt auch auf andern Landbesitz aus. Nur hier und dort hat
sich ausnahmsweise eine andre Erbfolge erhalten. In Kent herrscht noch heute
gleiches Erbrecht aller Söhne, und ein einigen Orten erbt der jüngste Sohn
mit Ausschluß der ältern; doch nur selten treten diese Sonderrechte in Kraft,
da Jutestaterbfolge nicht oft vorkommt, und seit der Aufhebung des Lehns¬
verbandes der Besitzer letztwillig über sein Land verfügen kann.
Den großen Lehnsherren mußte natürlich sehr viel daran liegen, daß die
bon ihnen verliehenen Güter den Bedingungen des ursprünglichen Lehnsver¬
trags unterworfen blieben und nicht freihändig veräußert werden durften. Viele
Lehnsbriefe enthielten Bestimmungen über eine feste Erbfolge in Hinsicht auf
einen möglichen Heimfall des Lehens und schlössen einen Verkauf aus. Es
herrschte aber eine sehr weite Auslegung dieser Bestimmungen, und oft genug
fanden sich die Lehnsherren dadurch schwer geschädigt. Sie strebten deshalb
danach, sich durch Gesetze vor Nachteil zu schützen und,^ wo immer angängig,
das Land dem Verkehr zu entzieh».
Zwei Gesetze kommen hier in Betracht, das Statut Dk Oouis vouäitiollalious
vom Jahre 1285 und das Statut Huia Lmxwros von 1290. Das erste ver-
ordnete eine strenge Einhaltung der Bedingungen des Lehnsvertrags, die eine
feste Erbfolge festsetzten und einen Verkauf nicht erlaubten. Eine große Be¬
schwerde fanden die Barone ferner in der häufigen Veräußerung von Teilen
der unter ihnen stehenden Lehen durch die Schaffung neuer Aftervasallen, wo¬
durch die Leistungsfähigkeit des ihnen verpflichteten Lehnsträgers gemindert
wurde. Um diese Zeit hatte das Lehnswesen schon seine ursprüngliche Art
eingebüßt, und der Lehnsdienst war in Geldzahlungen umgewandelt worden.
Das militärische Verhältnis hatte sich in ein wirtschaftliches verändert. Der
Oberlehnsherr konnte sich nun für die schuldigen Zahlungen nur an seine un¬
mittelbaren Nasallen halten; gegen einen säumigen Untervasallen stand ihm
kein Rechtsmittel zu, und nicht minder fühlte er sich in den ans einer Nvr-
mundschast erfolgenden Einkünfte» oder bei einem Heimfalle des Hauptlehens
beeinträchtigt. Diesen Nachteilen der Aftervasallenschaft trat das Gesetz (jun
ömptorss entgegen, indem es Snbinfeudation untersagte. Wenn also L, der
Vasall von einen Teil seines Lehens an L abtrat, so durfte L! nicht wie
früher Vasall von L werden, sondern mußte das Gut von ^ zu Lehen nehmen
und seine Leistungen mit Umgehung von L unmittelbar an ^ entrichten.
Mit dieser Maßregel hatten die Barone Erfolg. Das Statut I)e poris
dagegen traf überall auf hartnäckigen Widerstand bei den Richtern, die von
einer Bindung des Landes an eine für alle Zeit festgesetzte und unabänder¬
liche Erbfolge nichts wissen wollten und alle Advokatenkniffe nicht bloß nicht
hinderten, sondern geradezu begünstigten, um dem verhaßten Gesetze des
Parlaments der Barone ein Schnippchen zu schlagen. Der Scharfsinn der
Rechtsgelehrten erfand im Laufe der Zeit ein Verfahren, dus man nur als
offenbaren Schwindel bezeichnen kann, das aber von den Richtern ruhig
hingenommen wurde und das Statut vo poris zu einem toten Buchstaben
machte.
Die Absicht der großen Barone wurde so vereitelt, doch die krummen
Wege, die dazu eingeschlagen wurden, haben den ganzen Verkehr mit Land
in der ungünstigsten Weise beeinflußt. Nirgends ist Öffentlichkeit des Ver¬
trags so nötig wie beim Kauf und Verkauf von Land. Das alte germanische
Recht und ebenso das Feudalrecht verlangte dabei feste öffentliche Formen
der Übergabe. Diese Öffentlichkeit schwand in England im Kampfe gegen das
Gesetz vo Uonis. Seitdem hüllt sich alles in tiefes Geheimnis. Für den
Unbeteiligten giebt es kein sichres Mittel zu erfahren, wem ein gewisses Stück
Land gehört, und kein Rechtsgeschäft ist verwickelter und darum kostspieliger
als der Kauf von Laud. In jedem Falle hat der Käufer durch einen in solchen
Sachen besonders erfahrnen Anwalt die Pergamente, die des Verkäufers
Besitzrecht beweise» sollen, prüfen zu lassen, um sicher zu sein, daß uicht später
ein andrer mit bessern Ansprüchen auftrete. Aus demselben Grunde ist das
Beleihen eines Gutes oft mit Gefahr verknüpft. Es giebt kein Grundbuch,
und Hypotheken werden uicht gerichtlich eingetragen. Der Darleiher kann
deshalb nicht mit Sicherheit erfahren, ob und wie hoch das Gut schon be¬
lastet ist, und hat sich ganz auf die Ehrlichkeit des Geldnehmers und die
Findigkeit seines Urwalds zu verlassen. Nur für Middlesex und Jorkshire
ist schon vor längerer Zeit der Versuch eines Landregisters gemacht worden,
ohne aber Nachfolge zu findein Die Anwälte sind ans leicht erklärlichen
Gründen gegen eine Einrichtung, die ihnen eine gewinnreiche Thätigkeit ver¬
kürzt, und viele Eigentumsrechte sind nicht so einwandfrei, daß ihre Inhaber
sie ohne Not eine Prüfung durchmachen lassen. Für die Grafschaft London
ist 1899 und für die City 1902 eine Negistration der Lcmdverkäufe eingeführt
worden. Der Zweck war nur, den Landnmsntz zu erleichtern; denn Hypo¬
theken werden nicht eingetragen, und das Register ist ohne besondre Erlaubnis
nicht zugänglich. Aber sehr billig ist der Landkauf immer noch nicht. Eine
kürzliche Eintragung über einen Gegenstand im Werte von 250 Pfund kostete
den glücklichen Käufer 12 Pfund 14 Schillinge und 3 Pence. In den übrigen
Grafschaften ist noch alles beim alten.
Die Geheimthuerei war die natürliche Folge des Streits zwischen den
Gesetzen der großen Barone und ihrer Auslegung durch die Richter, die mit
den Anwälten einer freiern Anschauung huldigten. Der Streit endete mit dem
Untergänge der großen Geschlechter durch die Rosenkriege, und die Gesetze
wurden ganz hinfällig mit der Aufhebung des Lchnsverbands, 1636 durch
das lange Parlament und 1660 durch Karl II. Das Laud der Vasallen war
hinfort freies Eigentum.
Was nun die großen Lehnsherren mit der Macht der Gesetze des Parla¬
ments nicht hatten erzwingen können, das wurde zur Regel durch den Ehr¬
geiz des Landadels, der darin mit den Großen einer Meinung war, so gern
er sich den Anforderungen der Großen entzog.
(Fortsetzung folgt)
le von Schliemann inaugurierten Ausgrabungen haben der Homer-
forschnng eine Menge Schwierigkeiten bereitet, ihr aber doch auch
zugleich eine neue, solidere Grundlage geschaffen, und während die
Forscher noch immer neue Hypothesen über einzelnes zu Tage för¬
dern, hat ein englischer Gelehrter, William Ridgeway, mit
kühnem Griff das Ganze umfaßt und auf der neuen archäologischen Grundlage eine
Geschichte des Urgriechcntnms aufgebaut, die er, mit allem antiquarischen, histo¬
rischen und philologischen Material und Werkzeug ausgerüstet, in hohem Grade
glaubhaft macht. Wir versuchen, von Hauptinhalt des ersten Bandes seines
Werkes: ?dro I^ri^ ok Sröövö ((ÄmbriclM, Universir^ ?ro88, 1901; der
zweite Band soll erschienen sein, ist aber uns der Bibliothek, die uns freundlich
"ersorgt, noch nicht vorhanden) einen Abriß zu geben.
Die Ausgrabungen haben eine Kultur nachgewiesen, die nach dem Haupt-
sundorte ihrer Produkte die myeenische genannt wird. Außer dem Peloponnes
ist Kreta reich an Erzeugnissen dieses Kulturabschnitts, sie sind aber über alle
Inseln und Küsten des Agäischen Meeres verbreitet, und nach Dörpfeld gehört
ihm auch die sechste der sieben Schichten von Hissarlik an, (Die sechste von
oben, also die zweitunterste,) Als Ausgangspunkt dieser Kultur ist der Pelo-
ponnes anzusehen. Sie unterscheidet sich durch deutliche Merkmale von der
jüngern Kultur, von der die homerischen Gedichte Kunde geben. Die Menschen
der endemischen Zeit sind langschädlig, das sind die Achäer Homers auch, aber
diese sind blond, während die Mhcener gleich den Griechen der historischen
Zeit eine braue Haut, schwarze Haare und Augen haben. Die auch an Gold
reichen Mhcener lebten im Bronzezeitalter, die Achäer führten eiserne Waffen,
und da die Griffe der eisernen Schwerter länger sind als die der in Mycene
gefundnen Bronzeschwerter, so ist daraus zu schließen, daß sie größere Hände
hatten, also überhaupt größer und stärker waren. Die Männer der endemischen
Zeit, die sich eines milden Klimas erfreuten, gingen teils nackt, teils waren
sie nur mit Schurz oder Schwimmhose bekleidet; die aus dein Norden stam¬
menden Achäer trugen Chiton und Mantel. Diesen zu befestigen, waren Nadeln
nötig (die erste Nadel ist ein Dorn gewesen), und ans diesen haben sich die
Spangen, Broschen und Schnallen entwickelt (unsre Frauen würden sich wundern,
wenn sie erführe», wieviel Schweiß, Augenlicht und Kopfzerbrechen gelehrte
Männer ans diese niedlichen Kleinigkeiten verwenden); die endemischen Funde
enthalten nichts dergleichen, weil es eben bei der oben erwähnten Tracht
nicht nötig war; dagegen sind die der Eisenzeit angehörenden Fundstätten
reich daran. Die Kriegsrüstnng der Mhcener bestand aus einem Lederwams
mit Leibbinde, einer Lederkappe und dem sogenannten Kuppelschilde: einem
langen Schilde, der fast den ganzen Leib bedeckte, und den man, nach Carl
Roberts Beschreibung, beinah wie einen Chiton anzog, indem man ihn auf
die Erde stellte und in die Schlinge des Tragbands hineinkroch. Dieser Schild
bestand aus einem Holzgestell, mehreren Schichten Stierhaut und war manch¬
mal noch mit Metallplatten besetzt. Die Achäer trugen Panzer, Beinschienen,
Helm und bedienten sich des kleinen metallnen Nundschilds. Den Unterschied
der Schilde und überhaupt der Bewaffnung hat Carl Robert in seinen vorm
Jahre erschienenen Studien zur Ilias sehr ausführlich behandelt. Er halt
aber den Unterschied für bloß chronologisch und schließt, da in der Ilias beide
Arten von Rüstung erwähnt werden, so müßten die Teile des Epos, in denen
die spätere Art beschrieben wird, jünger sein als die andern. Außerdem findet
er, daß die endemischen Stücke im äolischen Dialekt geschrieben sind, die andern
viele Jonismen zeigen, Nidgeway hält den Unterschied für einen ethnologischen
und glaubt, daß neben der Rüstungs- und Bewaffuungscirt der eingewanderten
Achäer die der Urbewohner in Brauch geblieben sei, sodaß der Dichter beide
Arten vor Augen gehabt habe, aus ihrer Erwähnung also nicht gegen die ein¬
heitliche Abfassung des Gedichts geschlossen werden dürfe.
Jünger als die mhceuische Kultur ist freilich die achüische, denn sie fällt
in die Eisenzeit; deren Ursprung muß man in Mitteleuropa, und zwar vor¬
zugsweise in den Ostalpen suchen, denn von hier ans hat sich das Eisen nach
Norden und Süden verbreitet. Auf die Benutzung der Metalle ist man natürlich
durch glückliche Zufälle gekommen. Das Kupfer wird weit häufiger gediegen ge¬
funden als das Eisen, und nicht selten lagert Zinn daneben; vulkanisch zusammen¬
geschmolzenes Kupfer und Zinn hat den Menschen die erste Bronze, eine auf
demselben Wege entstandne Legierung des Kupfers mit Zink das erste Messing
geliefert. Auch zur Benutzung des Eisens muß den Menschen die Nntnr be¬
hilflich gewesen sein; es aus Eisenerzen zu gewinnen, daran können die ersten
Bearbeiter unmöglich gedacht haben. Sie müssen Meteoreisen oder, was wahr¬
scheinlicher ist, tellurisches Reiueisen gefunden haben. Nach den Zeugnissen
von Cook und Nordenskjöld haben die Eskimos solches, das sie in Basalt
finden. Nidgewah schließt, daß auch in diesem Falle Vulkane die Hüttenarbeit
besorgt haben, und daß es auch in Kärnten, Krain, Steiermark, sowie im
Jura, von wo die Eiseubenutzung um das Jahr 1400 v. Chr. ausgegangen
ist, große Massen solchen Eisens gegeben haben muß. Daß es jetzt keins
mehr giebt, darüber darf man sich nicht wundern, denn Eisenerze zu graben
wird man eben nicht eher angefangen haben, als bis der letzte Rest des ge¬
diegnen Eisens verbraucht war. Übrigens sind nach der Ansicht eines englischen
Naturforschers, N. S. Ball, den Ridgeway anführt, die Meteoriten auf keinem
andern Wege entstanden. Sie find irdischen Ursprungs; durch Vulkaucmsbrnche
in solche Höhen geschleudert, daß die Zentrifugalkraft lange Zeit überwiegt,
nähern sie sich in ihrer Kreisbewegung der Mutter Erde allmählich und werden
schließlich gezwungen, sich wieder mit ihr zu vereinigen. Zeugen der achäischen
Kultur haben die Ausgrabungen in den Alpen und nördlich von den Alpen,
namentlich die von Hallstatt zu Tage gefördert. Sie bezeugen die homerische
Kultur u. a. auch dadurch, daß die Wagenräder acht Speichen haben, während
das Rad der myeenischen Zeit vierspeichig ist.
Einen Hauptunterschied der beiden Kulturen macht die Bestattungsweise
ans. Die Mycener beerdigen, die Achäer verbrennen die Leichen. Die Sitte
der Leichenverbrennung konnte nur in einem holzreichen Lande entsteh«, und
das war Mitteleuropa, das alte Germanien. Aber diese natürliche Bedingung
der Sitte ist nicht ihr Entstehungsgrund gewesen; dieser liegt im verschiednen
Seelenglaubeu der Völker. Die meisten Völker, auch die Stammväter der
Griechen, glaubten, die Seele verweile in der Nähe der bestatteten Leiche.
Sie hielten die Seele für den sozusagen schwindsüchtiger Doppelgänger des
lebenden Menschen, schrieben ihr leibliche Bedürfnisse zu und versorgten sie des¬
halb mit Kleidung, Speise und Trank, und war es die eines Fürsten, auch mit
Weibern und Gefolge. Dn die Seele fortwirkte, und ihr Wirkungskreis an
den Leichnam gebunden war, so suchte man durch sorgfältige Bestattung die
Seelen von Königen und Heroen als Schützer und Helfer an das eigne Land
zu fesseln; die Leichname von Feinden, die man zu fürchten hatte, schaffte
man fort. Der Glaube an Spukgeister und der katholische Reliquienkult sind
Ausgeburten dieser Vorstellung.
Bei Homer erscheint die Seele nur so lange an den Leichnam gefesselt,
als dieser unverbrannt daliegt, und so lange stellt man sich den Leichnam auch
noch als empfindend vor. Cieero hat (?uso. visx. I, 105) wahrscheinlich richtig
vermutet, daß Achill den Hektor zu peinigen glaubte, als er seine Leiche um
Ilion schleifte. Aber war die Leiche verbrannt, so waren der Seele die Pforten
des Hades geöffnet, und schlossen sich diese hinter ihr, so war sie aus ewig
von den Lebendigen geschieden, hatte, außer wenn sie Blut zu kosten bekam
auf Augenblicke, kein Bewußtsein und übte keinen Einfluß mehr auf die irdischen
Dinge. Diesen Unterschied des homerischen Seelenglaubeus von dem gewöhn¬
lichen hat Erwin Rohde ausführlich behandelt in seiner Schrift: „Psyche,
Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen." Ferdinand Dümmler
schließt sich (II, 261 ff. der gesammelten kleinen Schriften) feiner Auffassung an,
preist die homerische Ansicht als aufgeklärt auch in diesem wichtigen Punkte und
schreibt S. 265: „So stellt denn das stille und unwirksame Totenreich Homers,
das vom Erdenleben durch tiefe Ströme geschieden ist, eine Kulturerrungenschaft
dar, der auf der andern Seite die Loslösung der Götter ans den Fesseln des
Natnrgeschehens, ihre Transzendentierung zu einem olympischen Staate entspricht.
So wurde Raum für die lebenskräftigen Instinkte der homerischen Heidenzeit, für
ein freudiges Bejahen des Erdenlebens. Wie weit diese Aufklärung einzelnen
hervorragenden Geistern, den Schöpfern und Bewahrern der epischen Tradition,
zu danken ist, wie weit sie jemals das Volk oder einen bestimmten Stamm durch¬
drungen hat, läßt sich mit unsern Mitteln nicht mehr feststellen. Mit Recht be¬
schränkt Rohde die Anschauungen des Epos auf die asiatischen Jonier, noch rich¬
tiger würde man sie wohl auf den ionischen Adel beschränken, dessen Organ die
Sänger waren. In einem aristokratischen Zeitalter war das Epos darum doch
volkstümlich, wenn es auch Glauben und Bräuche der beherrschten Volksschichten
so wenig wie deren Kriegsthaten zum Ausdruck brachte." Ob es gerade die
asiatischen Jonier gewesen sind, denen der aufgeklärtere Seelenglaube zu danken
ist, darüber später; vorläufig mag nur daran erinnert werden, daß der gröbste
Gespensterglaube teils als ganz gewöhnliche Gespensterfurcht, teils als Spiri¬
tismus mitten im christlichen Europa bis über das naturwissenschaftliche neun-
zehnte Jahrhundert hinaus floriert hat, woraus wieder einmal klar wird, wie
sehr man sich hüten muß, aus dem Grade von Aufklärung, den ein Buch oder
ein Teil eines Buches bekundet, auf die Zeit seiner Abfassung zu schließen,
wie auch Rohde zu thun scheint, da er Gewicht darauf legt, daß die Nekyia
(Totenbeschwörung) im elften Buche der Odhfsee zu den jüngsten Teilen des
Gedichts gehöre. Die Aufklärung folgt dem Aberglauben nicht chronologisch
nach, sondern beide sind Geschwister, die Hand in Hand durch alle Zeiten
wandeln, weil eben in allen Zeiten die Fassungskräfte, Gemütsarten und
Bildungsstufen der Menschen verschieden sind.
Ridgeway hat Rohde ebenfalls benutzt, dessen Grundgedanken aber selb¬
ständig fortgebildet. Auch er sieht in den homerischen Vorstellungen eine
höhere Stufe dos Seelenglaubens, aber nicht eine Frucht ionischer Aufklärung,
sondern nordischen Volkstums. Die Leichenverbrennung findet sich überall mit
dem Odinkult zusammen (alle Länder werden durchgegangen und ihre Bestattuugs-
gebräuche geschildert); ganz ausschließlich hat die Verbrennung nirgends ge¬
herrscht; es ist überall daneben noch die Beisetzung unversehrter Leichen vor¬
gekommen, namentlich Kinderleichen blieben meistens von der Verbrennung aus¬
geschlossen. Das Feuer ist das Vehikel, mit dem der Verstorbne samt allem,
Was man ihm angiebt, nach Walhall befördert wird, wie Elias mit dem
Feuerwagen in den Himmel. (Wenn in der Nekyia der Odyssee Orion auf der
Asphodeloswiese der Jagd obliegt, so ist das eine Erinnerung an Walhall, wo
die Helden ihr irdisches Kampfspiel fortsetzen.) Gleicherweise ist dem arischen
Inder Agni, das Feuer, der Bote, der seine Gaben zu Gott cmportrügt. Zu¬
gleich reinigt das Feuer, vernichtet alles Vergängliche und löst die Seele voll¬
ständig von allen irdischen Banden. Im 29. Kapitel des Phüdon erinnert
Plato an den gewöhnlichen Seelcnglauben, der sich zu seiner Zeit doch schon
so weit geläutert hatte, daß man besonders von den ungebesserten Sündern
und deu sehr sinnlichen Menschen glaubte, sie könnten nach dem Tode nicht
von ihren Leibern loskommen und seien deshalb verurteilt, zu spuken; daraus
folgt aber schon, daß nicht sowohl das Feuer, als die Besserung, oder wie
Plato es nennt, die Philosophie als Läuterungsmittel angewandt werden muß
und von der Fesselung an den Leichnam erlöst. Der Glaube, daß Selbstmörder
und Ermordete umgehn müssen, weil sie keine Zeit gehabt haben, sich vor
dem Tode von ihrer Sündenschuld zu reinigen, hat sich in der Christenzeit
ganz allgemein erhalten; Nidgeway erinnert an den in seiner Sünden Maien¬
blüte hingerafften Vater Hamlets.
Wenn Nidgeway, um den homerischen Seelenglauben dem nordischen
Walhallglanbcn noch näher zu bringen, behauptet, Homer kenne keine Unterwelt,
so ist das wohl zu viel gesagt, wie schon gleich der dritte Vers des ersten
Buchs der Ilias zeigt, der die Seelen der Helden in den Hades fahren läßt.
Aber daß Odysseus in der Nekyia nicht in die Unterwelt zu steigen braucht,
wenn er mit den Seelen verkehren will, daß demnach der Aufenthalt der Seelen,
ebenso wie in der dem Menelaus gewordnen Verheißung, an den nördlichen
oder westlichen Enden der Erde, aber nicht unterirdisch gedacht wird, das ist
Wohl schou jedem denkenden Homerleser aufgefallen. Nidgeway hilft sich mit
der Annahme, daß, wie die Waffen und Rüstungen der mycenischen Kultur,
so auch deren Bestattungsweise und Seelenglaube neben denen der achäischen
fortbestanden habe, und daß beide Glaubensmeinungen mit einander verquickt
worden seien. Das ist ja eigentlich auch gar keine bloße Annahme, sondern
bezeugte Thatsache. Plutarch schließt die Lebensgeschichte Solons mit den
Worten: „Nach Verbrennung der Leiche soll man die Asche Solons auf der
^nsel herumgestreut haben; doch ist diese Sage zu abgeschmackt, als daß man
Ne glauben könnte, obwohl sie sich nicht allein bei andern Männern von Be¬
deutung, sondern sogar in den Schriften des Philosophen Aristoteles findet."
Nidgeway hält die Sage für geschichtliche Wahrheit; die Athener waren ein¬
mal abergläubisch. Sie hatten mit der Leichenverbrennung (die übrigens bei
ihnen so wenig wie im übrigen Griechenland allgemeine Sitte wurde) uicht
auch den aufgeklärten Seelenglauben angenommen; Solons Seele sollte ihnen
den Besitz der Insel sichern; deshalb vermischten sie mit deren Erdboden die
Asche des Heros so unlöslich, daß die Salmninier nicht imstande waren,
seine Überreste und damit ihn selbst fortzuschaffen. Von dem Volke, das die
Leichenverbrennung eingeführt hat, glaubt Nidgeway, es müsse die materialistische
Auffassung des Seelenlebens überwunden und den Begriff eines unkörperlichen
Geistes erfaßt haben, der nicht in Gräber eingesperrt, nicht mit dem Staub
vom Wüstenwind verweht, ja auch nicht einmal von den Feuerflammen zerstört
werden rönne. Sollte diese Ansicht richtig sein, so würde der nordisch-achmsche
Seelenglaube zu einem Ergebnis geführt haben, das dem von Dümmler an-
genommnen entgegengesetzt ist, und das hat er ja schließlich auch in den or-
phischen Mysterien und im Platonismus, die beide den Schwerpunkt des Da¬
seins ins Jenseits verlegen. Aber Dümmlers Ansicht läßt sich trotzdem mit
der von Nidgeway ganz gut vereinigen. In die freundliche Umgebung des
Ägnischen Meeres und in das Behagen versetzt, das der Reichtum in Verbin¬
dung mit einem milden Klima gewährte, hat sich das jugendkräftige Volk zu¬
nächst mit ganzem Herzen seiner Lebenslust hingegeben und aus seinein Seelen¬
glauben weiter nichts gefolgert, als daß es von den Seelen der Verstorbnen,
da sie die bewohnte Erde gänzlich verlassen Hütten, keine Störungen mehr zu
befürchten habe. Es ließ deshalb die Seelen zu Schatten verblassen. Der
Begriff des unzerstörbaren Geistes liegt allerdings schon drin in der Annahme
einer vom Leibe völlig getrennt lebenden Seele, aber entwickelt hat ihn erst
eine spätere reflektierende und vom Pessimismus stark beeinflußte Zeit.
Wir kehren zu Nidgeways Gedankengange zurück. Alle Charakterzüge
der homerischen Helden und ihre Lebensgewohnheiten weisen nach Mittel- und
Nordeuropa; so z. V. auch, daß sie das Fleisch braten; die Bewohner wald¬
armer Länder pflegen die Speisen zu kochen, nicht zu braten, weil das Braten
mehr Holz erfordert. Eine deutliche Erinnerung an den hohen Norden verrät
die Beschreibung des Landes der riesenhaften Lüstrygonen und der Heimat
der Kimmerier in der Odyssee. Der Dichter hat die nordische Winternacht
und den langen Sommertag des hohen Nordens an zwei verschiedene Völker
verteilt. Bei den Lüstrygonen könnte ein Hirt, der keinen Schlaf brauchte,
doppelten Tagelohn verdienen, „denn nah bei einander liegen die Pfade der
Nacht und des Tages," und der eintreibende Hirt begegnet dem austreibenden.
Die unglücklichen Kimmerier dagegen (die Cimbern) leben in ewigein Dunkel;
nimmer schaut Helios auf sie, weder wenn er am Himmel emporsteigt noch
wenn er sich abwärts wendet. Wir haben es also in den homerischen Ge¬
dichten mit zwei verschiednen Nassen zu thun. Die eine, die Mittelmeerrafse,
ist in den drei südlichen Halbinseln Europas und an der Westküste Asiens
einheimisch und hat ihre Kultur von der Steinzeit bis in die Eisenzeit ganz
folgerichtig entwickelt; kein Bruch, keine plötzliche Änderung ist in ihren aus-
gegrabnen Erzengnissen sichtbar. Die Menschen dieser Nasse werden von den
alten Autoren bald Pelasger. bald Minyer genannt, aber much die Namen
Äolier und Jonier bezeichnen keine von ihr verschiednen Völker. Sie hat sich
ganz rein erhalten unter andern: in Arkadien und in Attika, Landschaften, die
beide ihre Bevölkerung niemals gewechselt haben. Diese Rasse ist es, die die
von den mycenischen Funden bezeugte Kultur geschaffen hat, und von ihr
stammen die Griechen der historischen Zeit ab. Sie ist, wie gesagt, laug-
schädlig und brünett, aber durchaus nicht negerartig, sondern rein von Neger¬
blut. Sie war und ist noch heute durch ihren feinen Formen- und Farbensinn
ausgezeichnet, der ohne Zweifel dem Klima und der Schönheit der Landschaften
dieser Länder zu verdanken ist, (Die ungeheuerliche Ansicht Gobineaus, daß
die künstlerische Begabung, wo sie vorkommt, aus beigemischtem Negerblut
stammen soll, erwähnt Ridgewah nicht.) Aber diese Verfeinerung der Sinne
bringt unvermeidlich die Neigung zur Sinnlichkeit und die Gefahr der Aus¬
artung des Charakters ins Weibische mit sich. In das Gebiet dieser fried¬
lichen, fleißigen und fröhlich genießenden Mittelmeerrasse sind nach 1400 vor
Christo die nordischen Eroberer eingedrungen, die Männer von Hesiods eisernem
Zeitalter, die Homer Achäer nennt. Die Völkerwelle, die damals den Süden
überflutet hat, ist ja nur eine von den unzähligen, die vorangegangen und
nachgefolgt sind. Die andern beiden Halbinseln wurden nicht weniger ost
heimgesucht als die Bnlkanhalbinsel, und die Römer selbst sind nichts
andres gewesen als ein Schwarm der „Gallier," von denen sie später be¬
droht wurden.
Kelten werden von den Alten alle weißbärtigen Nordländer mit lichtem
Haar und lichten Augen genannt. Wir unterscheiden heut von den eigent¬
lichen Kelten, die ruudschädlig und von untersetzter Statur waren, breite Ge¬
sichter und dicke Nasen hatten, die Germanen oder Teutonen, die sich durch
Langschädel, hohen Wuchs, lange schmale Gesichter und dünne Adlernasen aus¬
zeichneten, und deren Heimat Skandinavien war. Die Alpen waren meist von
eigentlichen .Kelten bewohnt. Aber alle diese Völker waren in beständiger un¬
ruhiger Bewegung und entsandten unaufhörlich Schwärme nach Süden und
Osten — bis nach Indien hin. Der Weg, auf dem die Achäer nach Griechen¬
land kamen, war die große Heerstraße, die an der nordöstlichen Bucht des
Adriatischen Meeres vorbei südostwärts führt; durch Epirus sind die Ein¬
wandrer zuerst nach Thessalien gekommen. Sie haben, gleich allen? spätern
südwärts gewanderter Nordländern, Weiber der unterworfnen Ureinwohner
geheiratet und durch Vermischung und unter dem Einflüsse des Klimas ihre
anatomischen und Charaktereigenschaften eingebüßt, sind verschwunden, ohne
andre Spuren zu hinterlassen als die in den homerischen Gedichten und in
einigen andern Schriftwerken aufbewahrten. In kühlern gebirgigen Gegenden,
wie in Makedonien, haben sie sich etwas länger und besser gehalten. Die
Vermischung ging um so leichter von statten, als sie eine der pelasgischen
ähnliche Sprache redeten. Das ist nicht zu verwundern, da sie mit der Mittel¬
meerbevölkerung eines Stammes waren. Die Wiege der europäischen Mensch¬
heit kann natürlich nicht im arktischen Eise gestanden haben, sondern muß in
der Nähe der heißen Zone gesucht werdeu. Von dort ans sind Westasien und
Europa bevölkert worden, an den Mittelmeerküsten hat sich der dunkle Typus
befestigt, im Norden ist unter der Einwirkung des Klimas der helle entstanden,
der jetzt arisch genannt zu werden pflegt, und ist dann den nach dem Süden
zurückgewanderter Ariern wieder verloren gegangen.
Die Achäer haben die mediterrane Bevölkerung einiger Landschaften in
Thessalien, Hellas und dem Peloponnes unterjocht und die einheimischen
Fmsteugeschlechtcr verdrängt. Die in reichem Metallschmuck (Gold, Silber,
Bronze, dazu Bernstein und Elfenbein wird erwähnt; auch Stahl, was nicht
auffallen kann, da ja die Künstler der pelasgischen Bevölkerung das von den
Achüern eingeführte Eisen gewiß nicht verschmäht haben) prangenden Paläste
des Menelaus und des Alkinous waren Erzeugnisse der endemischen Kunst
Weuelaus war ein Sprößling der Eroberer, die Phäaken waren im ungestörten
Besitz gebliebne Urbewohner); Odhsseus hat sein einfaches Haus nach nordischem
Brauch um einen Baum herum gezimmert und dessen Stumpf zum Fuße des
Ehebetts gemacht. Menelaus erzählt dein Telemach, er habe die Absicht ge¬
habt, seinem Vater, falls dieser zurückgekehrt wäre, eine Stadt einzuräumen,
in die er mit seinem Volk aus Ithaka hätte übersiedeln sollen; das hat nur
uuter der Voraussetzung Sinn, daß der König von Lacedämon über Unter¬
jochte herrschte und die achüische Besatzung zu verstärken wünschte; Leute des
eignen Stammes zu vertreiben, um ihre Stadt einem befreundeten Häuptlinge
zu übergeben, würde ihm nicht eingefallen sein. Auch kann man, nach Ridge-
way, mehrere von den Namen achäischer Helden (Achilleus, Odysseus, Aiakos,
Aias, Laertes, Peleus) uicht aus dem Griechischen erklären. Die Achäer
brachten den Zeus mit, dem sie zuerst in Dodona einen Kult einrichteten, und
auf den ihre vornehmsten Helden ihr Geschlecht zurückführten, während die
Pelasger den Poseidon verehrten, von dem sich viele ihrer Helden abzustammen
rühmten.
Die Achäer waren, als sie einwanderten, nicht unkultiviert; ihre Bewaff¬
nung setzt einen hohen Grad technischer Fertigkeit voraus; aber ihre Kultur
war eben von der der Pelasger verschieden und noch nicht so verfeinert.
Selbstverständlich benützten die Herren die Kunstfertigkeit ihrer Knechte und
ließen von ihnen ihre Rüstungen, Schwerter und Schilde mit Bildwerken
schmücken, deren Schönheit und Reichtum Homer bei der Beschreibung des
Schildes des Achill ins märchenhafte übertrieben hat. Auch die Sänger der
Vertriebnen Herrschergeschlechter übernahm der siegreiche Achäer, und Dichter
der pelasgischen oder üolischen Urbevölkerung waren es, denen wir die Ilias
und die Odyssee verdanken. Denn, meint der englische Forscher, die vollendete
Form dieser Epen setzt eine lange litterarische Entwicklung voraus; der Hexa¬
meter, „diese vollkommenste Ausdrucksform, die der Menschengeist erfunden
hat," die zuerst beim delphischen Orakel ausgebildet worden zu sein scheint,
bezeugt für sich allein schon die Höhe der geistigen Kultur des Volkes, dem
der oder die Dichter dieser Gesänge angehört haben. Das achüische Wander¬
volk konnte weder den Hexameter mitgebracht haben noch ein Epos erzeugen;
es wird höchstens Balladen gesungen haben. Und zwar sind die Dichter der
beiden Epen Sänger peloponnesischer Fürstenhöfe gewesen, nicht Jonier. Mit
allen Orten und Begebenheiten des Peloponnes, auch noch der übrigen
griechischen Landschaften, zeigen sie sich wohl vertraut, dagegen fehlt die
asiatische Lokalfarbe gänzlich, was undenkbar wäre, wenn die Gedichte an der
asiatischen Küste entstanden wären; von den griechischen Kolonien dieser Küste
wird keine erwähnt. Gerade die entgegengesetzte Meinung sucht Dümmler
(II, 336 bis 341) zu begründen. „Alle Widersprüche und Dunkelheiten ^der
Ilias) erklären sich nur aus der Geschichte der troischen Sage und des troischen
Epos, da aber auch vollkommen. Der Räuber des göttlichen Weibes, der
seine That mit dem Tode und dem Untergange seines Reiches büßt, war ur-
sprünglich natürlich nicht ein minorenner Prinz, der auch einem mittelmäßigen
Gegner im Zweikampf nicht gewachsen ist, sondern ein gewaltiger König und
Held. Das einfache Motiv verwitterter Göttersage, den Raub und die Wieder¬
eroberung der göttlichen Frau, das ja auch für andre nationale Epen der
Lebensnerv geworden ist, trugen nun achmsche Stämme nach Kleinasien hin¬
über, nachdem sich vielleicht schon im Mutterlande allerhand Züge aus selbst-
bestandnen Kämpfen hineinverwebt hatten. In Kleinasien wurde dies Epos
darauf zum Gefäß der gesamten Wanderungserlebnisse der nachmals üolischen
und ionischen Stämme; kein Wunder, daß da vielfach die Form zersprengt
und der Riß mit mehr oder weniger Geschick geflickt wurde. Im Wetteifer
fügten die achäischen Stämme ihre nationalen Heroen in das nationale Epos
ein, sie nur notdürftig dem durch Sage und Epos gegebnen Rahmen an¬
passend." Thucydides und Aristoteles haben Homer historisch verstanden und
an das erste große gemeinsame Unternehmen der griechischen Stämme, den
Krieg gegen Troja, geglaubt. „Von modernen Forschern stehn wohl nur noch
die allcrmutigsten ans diesem Standpunkt. Bei der großen Mehrzahl ist die
einleuchtende Bemerkung von Völcker durchgedrungen, daß Erinnerungen an
die nolisch-ionische Kolonisation Kleinasiens den historischen Einschlag des
großen nationalen Epos bilden. Diese historischen Erinnerungen haben sich
um das mythische Motiv der Rückeroberung der Helena krystallisiert; dieses
Motiv verlangt die Rückkehr der siegreichen Helden in die alte Heimat, und
so mußte aus den Kämpfen wandernder Völker ein wvhlorgnnisierter Rache-
feldzug von festen Sitzen aus werden."
Die beiden Epen sind also in dem üppigen Jonien entstanden; die Home-
riden haben in den adlichen Häusern der reichen und glücklichen Aristokratie
des eroberten Koloniallandes gesungen und sind selbst Sprößlinge der dortigen
Adelsgeschlechter gewesen, daher kommt es, daß die Religion dieser Gedichte,
als Religion einer „Lebewelt," aufgeklärt ist „bis zur Frivolität." Später
tritt eine Reaktion ein; die alte Frömmigkeit und der alte Aberglaube werden
wieder mächtig. Darin, daß die homerischen Gesänge keine Volksdichtungen,
sondern höfische Kunstepen und von adlichen Dichtern an Fürstenhöfen geschaffen
sind, stimmt Nidgeway mit Dümmler überein (dessen vor 1901 noch nicht ge¬
sammelten Schriften er schwerlich gekannt hat); aber sie sind nach ihm, wie
gesagt, nicht in Jonien, sondern in Griechenland entstanden; auch bei dieser
Annahme erscheint es nicht ausgeschlossen, daß die Erinnerung an die Kolo-
uisationskriege auf der kleinasiatischen Küste zur Entstehung mitgewirkt hat.
Nidgeway findet in Homer Gemeinbesitz an Grund und Boden; nur für den
Fürsten sei Privateigentum ausgesondert gewesen; bei Hesiod sei das Sonder-
eigentum, wenigstens in seiner Heimat Böotien. allgemein; auch kenne Homer
weder gemünztes Geld noch das Talent; seine Münzeinheit sei der Wert
einer Kuh in Gold. Daraus gehe hervor, daß er ein paar hundert Jahre
vor Hesiod geschrieben haben müsse. Und aus dein Umstände, daß weder
^einasiatische noch sizilische Kolonien der Griechen erwähnt werden, schließt
er, daß die Epen vor der dorischen Wanderung geschrieben sein müssen, jeden¬
falls nicht nach dem Jahre 1000 entstanden sein können; auch von der
dorischen Wanderung selbst und den durch sie bewirkten Umwälzungen finde
sich ja keine Spur in den Gedichten. Für unsre deutschen Sezierkünstler, die
die vermeintlichen einzelnen Bestandteile präparieren und meinen, das Ganze
sei von einem Redakteur mehr oder weniger geschickt zusammengeflickt, hat der
Engländer nichts als Spott und Hohn. Warten wir ab, wie sie ihn strafen
werden, mit schweigender Verachtung oder mit beschämender Widerlegung.
s sind die Namen zweier Jungen, eines holsteinischen und eines
dünischen, und die Geschichte ihrer Entwicklung bildet den In¬
halt zweier Romane, die dadurch mancherlei Verwandtes bekommen
haben. Mit dem ersten (Berlin, G. Grote) hat ein holsteinischer
Pastor, Gustav Frenssen, einen glücklichen Wurf gethan, auf dem
Titelblatt steht „Zwanzigstes Tausend"; der Verfasser hat, wie die Zeitungen
melden, sein Amt niedergelegt und sich in seinem Heimatlande einen Bauernhof
gekauft, um ganz seiner Feder zu leben. Der andre: „Ricks Glambäk. Wie
er ein Mann wurde," von dem bekannten ausgezeichneten dänischen Schrift¬
steller K. G. Vröndsted, ist den Grenzbotenlescrn soeben in einer sorgfältigen
und feinen Übersetzung vorgeführt worden. Die Ähnlichkeit des Eindrucks der
beiden Romane beruht zunächst auf der Stammesverwandtschaft ihrer Menschen
und der Art, wie sie sich äußern, einer naturwüchsigen und treffenden kurzen
Sprache, die in ihrer durchsichtigen Gedankenbildung an das Plattdeutsche an¬
klingt, sodann aus dein einfachen Erzählungsinhalt, der dem innern Erlebnis
nur als Einkleidung dient, damit dieses das volle Licht erhält; höchstens bei
Vröndsted laufen einige wenig hervortretende romanhafte Züge mit unter. Bei
Frenssen fehlen sie ganz. Alles Interesse richtet sich auf das Psychologische,
das Fertigwerden des Menschen, der die Hauptperson ist. Frcnssens Roman
ist in der Art, wie er die sinnlichen Grundlagen der menschlichen Natur
bloß legt, ganz eigentümlich und neu, neu auch in dein Sinne, daß er
schon allein um deswillen solchen Modernen zusagen muß, denen diese Seite
des Lebens die Hauptsache ist, und die nur in der Offenheit noch einige
Schritte weiter gehn. Ernstere Leser, denen hierin schon Frenssen zu weit
gehn möchte, finden bei ihm ein reichliches Gegengewicht an sonstiger Lebens¬
erfahrung, an Gemütswärme und sogar an der religiösen Stimmung eines
auch für unreligiöse Menschen noch annehmbaren natürlichen Christentums.
Dazu kommt, daß uns das Buch das viel bewegte Problem des arbeitenden
Landmanns mit seinen Sorgen und seiner Not vor Augen stellt, aus eigner
Anschauung und in wahrer, ergreifender Schilderung, sodaß der ungewöhnliche
Beifall, mit dem es von der öffentlichen Beurteilung aufgenommen ist, seine
Berechtigung hat.
Das tiefernste Leben eines Bauerjungen, dem die Mutter früh gestorben
lst, der dann von einer guten alten Magd mitsamt seiner kleinen Schwester
""^gezogen wird, der, weil er ein stiller Grübler ist. aufs Gymnasium möchte,
aber aus freiem Entschluß als Stalljunge auf seines Vaters Hofe bleibt, weil
er früh begreift, daß keiner nach dem Rechten sieht, wo Vater und die er¬
wachsenen Brüder alles vertrinken und verspielen, der dann schließlich den
reichen Marschhof, nachdem er sich jahrelang gequält hat, und Vater und
Brüder elend umgekommen sind, doch verlassen muß. weil er ihn bei der hohen
llberschulduug mit seiner Hände Arbeit nicht halten kann, eine so traurige
Geschichte kann selbstverständlich nicht fröhlich enden. Eher noch mit einem
Unglück, auf dessen Ton der ganze Verlauf gestimmt scheint, das würde tief¬
erschütternd wirken und könnte durch eine vollkommne künstlerische Gestaltung wie
in einem Trauerspiel gemildert sein. Hier greift das gute Herz des Dichters
ein und baut vorsorglich hinter die tragische Katastrophe einen bürgerlich be¬
haglichen Schluß. Jörn Abt geht als Dreißigjähriger auf das Polytechnikum
nach Hannover, wird Ingenieur, arbeitet an dem großen Kanal, unterrichtet
im Winter an einer Gewerbeschule in Kiel, während er die Sommer auf einem
kleinen Geesthof zubringt, der dem Bruder seiner Mutter gehört, und der nun
sein eigen wird. Den väterlichen Marschhof hat sein Jugendfreund, der in
Amerika reich geworden ist, gekauft; der Vater hatte ihn im Zorn weggejagt,
weil er mit der kleinen Schwester Jörns im Scherz Liebeleien angefangen
hatte, und er ist nächst Jörn die am meisten ausgeführte Figur des Romans,
Dieser Schluß ist, um es mit einem Worte zu sagen, philiströs. Wir verlieren
nach dieser Wendung in Jörn Abts Leben die Teilnahme an dem Helden. Wir
gönnen ihm die Ruhe, in die er selbst sich nur mit Resignation findet und
fügt, aber sein Leben interessiert uns nicht mehr; wir sind mit unsern Gedanken
an ihn da zu Ende, wo er den langsam gereiften Entschluß, den väterlichen
Hof zu verlassen, in die That umsetzt, seine Leute ablöhnt und sich mit seinem
einzigen Kind auf den Wagen setzt, den seiner Mutter Bruder davon lenkt, zu
dem er sagt: Ich lasse die Abt nun fahren samt allen ihren Sorgen. Ich bin
ein Mensch, ich habe in fünfzehn Jahren keinen Sonntag gehabt; ich glaube,
ich bin ein armer, unglücklicher Mann gewesen. Aber nun will ich wirklich
versuchen, was du gestern sagtest; ich will sehen, daß ich meine Seele wieder¬
bekomme, die hier in der Abt gesteckt hat. Her mit meiner Seele! Die ge¬
hört mir.
Das neue Leben von Jörns Seele nimmt nur noch hundert Seiten, ein
Fünftel des Buches, in Anspruch. Es war Hochmut von ihm, daß er Marsch¬
bauer bleiben zu können hoffte, er ist hart darüber geworden, und seine Fran
ist dabei zu Grunde gegangen, eine arme, tapfere kleine Frau, die vielleicht
nur nicht klug genug für ihn war, ihm nicht Gedanken genug bieten konnte
zum Ersatz für seine Grübeleien. Nun hat er keine Angst mehr um das Täg¬
liche, er hat das Gefühl, etwas zu nützen, ohne die Verantwortung dessen,
der für sein eignes Risiko schafft, aber wenn er zum Nachdenken kommt, so hat
er doch mehr Wehmut als Befriedigung. Ihm ist immer, als wäre an seinem
Leben etwas zerrissen, als wäre er früher einmal, vor Jahren, falsch gefahren,
und als sähe er die rechte Straße immer erst nur von ferne. Aber freilich,
das erfahren alle ernstern Menschen, daß etwas in ihrem Leben nicht stimmt;
wenn alles genau stimmte, würde es dünn klingen, und wenn wir immer so
gegangen wären, wie die Mutter wollte, als sie ihren Arm über uns streckte,
so wären wir glatt und platt geworden; wir müssen alle in die Sandwege
hinein, damit die Geschichte Fülle und Tiefe bekommt. Früher, als er noch jung
war, hat er gemeint, es könnten einem nur zwei Dinge gegenüber treten,
nämlich solche, die sich biegen lassen, und solche, die sich brechen lassen. In
den traurigen Jahren nachher hat er erfahren, daß es noch eine dritte Sorte
von Dingen giebt. Die stehn einen Augenblick oder auch jahrelang vor einem
als ein wildes, schwarzes, überstarkes Ungeheuer, das seine fürchterliche Tatze
gehoben hat. Was soll man dagegen thun? Beiseite biegen, schmeicheln, lügen?
Hat keinen Sinn. Da steht es dicht vor dir, und es ist irre, hat keinen Ver¬
stand, ein grausig, wüstes Wesen. Daraus loshaueu? Hat keinen Sinn, es ist
viel stärker als du. Also was bleibt gegenüber solchem Ungeheuer, solchem
übergroßen Schicksal noch übrig, als daß man zu ihm sagt: Ob du mich sterben
oder leben lässest, ob du mich und was ich lieb habe, frißt oder nicht, ob du
durch dem ewiges Drohen und den Anblick deiner Tatze mir den Verstand ver¬
wirrst oder nicht, ganz wie es dir paßt. Aber das sage ich dir: beides ge¬
schieht im Namen Gottes, von dem ich fest traue, daß seine Sache, das ist das
Gute, überall siegen wird. Und als sein Ohm Thieß einwendet: Glaubst du
wirklich, daß alles, was so geschieht, auch das Traurige, was wir alle erlebt
haben, einen guten Zweck hat, ich meine, daß da Sinn darin liegt? meint
Jörn: Wenn man das nicht glaubt, woher soll dann ein ernster, nachdenklicher
Mensch den Mut zum Leben nehmen? Man erkennt deutlich, daß alles Ge¬
schaffne unter Mühe und Not gestellt ist, es wühlt auf und nieder, aber in
dem Mühen und Wühlen ist ein Sinn, das Böse sinkt widerwillig, das Gute
ringt mühsam nach oben, und eine verborgne Kraft hilft, stößt und schiebt, wie
die Hand des Schäfers und seine Hunde, und wohl dem Menschen, der dann
des Hirten leisen Ruf durch den Sturm hört. Aber freilich, was auf der
dreihnndertjührigen Hochzeitstruhe, die er von der Abt jetzt mitnimmt, zu lesen
ist: Der Segen des Herrn machet reich ohne Mühe, sodaß man die Wahl
hätte: ich bitte um etwas Segen ohne Mühe, ich bitte um etwas Segen mit
Mühe, wenn das in der Bibel steht, so ist die ganze Bibel nichts wert, und
der Herrgott auch nichts.
Der Verfasser läßt ans diesen letzten hundert Seiten Jörn Abt auch noch
einmal wieder heiraten, und zwar eine Jugendliebe, die Enkelin seines alten
Dorfschulmeisters, die inzwischen ihr Lehrerinnenexamen gemacht und in dem
Ladengeschäft ihrer Tante in Hamburg Hefte und Schulbücher an Gymnasiasten
verkauft hat. Nach unserm Geschmack, der ja aber für Jörn Abt nicht verbind¬
lich zu sein braucht, hat sie etwas Gouvernantenhaftes, und es will uns in
der Erinnerung an das stille, kurze Schaffen der ersten Frau und ihren wunder¬
voll geschilderten rührenden Tod im ersten Kindbett nicht recht in die Sinne,
daß diese zweite Verlobung nicht ohne eine gewisse Schäkerei vor sich geht.
Zumal da die erste Ehe unter besondern Aspekten gestanden hatte. Sie folgte
auf einen Fehltritt, den zwar die bäuerliche Auffassung übrigens kaum als
solchen rechnet, der aber hier einige deutliche Schatten wirft, namentlich in das
Gemüt der Frau, sodaß der Leser wenigstens das dunkle Gefühl nicht los
wird, als sollte mit dem jähen Abbruch des kurzen Glücks so etwas von Sühne
mit hineinfließen. Für das, was Jörn Abt erfahren, was ihn vor den Jahren
alt gemacht hat, geht er nach unserm Eindruck zu leichtfüßig in das zweite
Verhältnis hinein. Er Hütte uns als Witwer, allein mit seinem Sohne,
mehr zugesagt, und ihm selbst würde seine letzte Lebensaufgabe ebenso ant
möglich 'gewesen sein, nicht nur die äußere, die bald erzählt ist, sondern auch
die in der Ökonomie des Romans liegende einer Abrechnung über Gewinn und
Verlust, die uns mit ihrer ganzen Psychologie und Ethik dieses Teils, worin
der Verfasser nicht mehr dichtet wie in dem ersten, sondern eher doziert wie
ein Professor, mindestens ebenso gut zugänglich gewesen wäre ohne die um¬
rahmende Erzählung, die wir künstlerisch für einen Mißgriff halten.
Die Komposition fällt hier in Stücke auseinander. Eines Abends unter¬
bricht Jörns Frau das Schweigen und wendet sich an den ehemaligen Stall¬
jungen, der nun den Uhlenhof besitzt, er soll ihnen erzählen, wie es ihm mit
seiner Frau ergangen sei, die einst Jnngmcigd auf dem Hofe gewesen und
dann mit ihm nach Amerika gegangen war. Da bekommen wir ans noch
nicht zehn Seiten eine rührende Geschichte, aus der ein andrer einen ganzen
Roman gemacht hätte, so ergreifend, daß sie nicht im Auszug zerblättert
werden darf. Das kann alles so erlebt werden und ist vielleicht auch aus
Erlebnissen zusammengesetzt. Der Geistliche in Chicago hätte dazu gesagt,
wir thäten gut zu glauben, daß Gott sich in einer bittern Notwendigkeit be¬
funden habe und gezwungen dies Unheil habe geschehn lassen müssen. Ein
ehrlicher, verständiger und guter Mann, der nicht redete, wie viele andre
Prediger, die jeden Katzenweg kennen, den die Engel gehn, wenn sie mit
Aufträgen Gottes über die Erde schleichen, und die reden, als wären sie dabei
gewesen, als „dich die Morgensterne lobten."
Um das schwere Schicksal seines geprüften Helden versöhnlich ausklingen
zu lassen, hat Frenssen den Weg gewählt, daß er die Personen seiner Erzählung,
die es verdienen, nachdem die andern untergegangen sind, in diesem zweiten
Teil nach den Stürmen ihres Lebens in friedlichem Zusammensein vereinigt
und sie ihre Erfahrungen in Betrachtungen miteinander austauschen läßt.
Außer den Genannten sind es noch der Ohm Thieß, dessen äußerliches Wesen
mit vielen Wunderlichkeiten allein unter allen Figuren des Romans das
komische Element vertritt, aber eine tief angelegte, spintisierende Natur, deren
kluge Urteile sich zu einer Art von Philosophie znsannnenschließen, sodann
die alte Magd, die an Jörn Mutterstelle vertreten hat. Sie hatte eine bunte
Welt in sich. Was sich in den letzten fünfzig Jahren zutrug in dem kleinen
Dreieck, das zwischen diesem stillen Wasser und der alten Stadt drüben und
dem Kirchtum von Schcnefeld liegt, und das ist nicht wenig, das wußte sie,
und das sah sie deutlich vor sich. Sie war verschlossen und hatte rund um
ihre Welt eine hohe Mauer bauen müssen, weil dumme Leute lachten, wenn
sie hineinsahen. Aus diesem Grunde sind viele ernste und tiefe Menschen
schweigsam. Aber einzelnen hat sie zuweilen das Thor geöffnet und das ganze
Haus gezeigt, ein gutes, altsächsisches Bauernhaus, ein wenig niedrig vom
Boden und mit dunkeln Winkeln, aber fest und fromm. Sie hat auch eine
Jugend gehabt, aber eine solche, daß sie ernst danach wurde. Sie diente einst
auf einem Hofe, wo die Tochter den Knecht ihres Vaters geheiratet hatte,
hingerissen in Bewunderung von seiner männlichen Kraft und Schönheit. Das
gab eine ungleiche Ehe voller Unglück, eine lange und am Schluß grausige
Geschichte, die einem Alten in den Mund gelegt wird, der sie selbst mit er¬
lebt hat. Sie könnte uns hier, da sie recht viel merkwürdiges enthält von dem
vergeblichen Kampfe unsrer Vorstellungswelt gegen das wirkliche Leben, eine
ganze Weile beschäftigen, wenn wir in jeden Nebenweg einlenken dürften. Für
die Haupthandlung ergiebt sich daraus nur soviel, das; nach solchen Erfahrungen
ihrer Kindheit die kleine Magd den Mut zu eignem Heiraten verloren hatte,
auf der Abt lange vor Jörns Geburt in Dienst getreten war und ihn selbst
nun nicht mehr verließ. Ohne sie wäre das Ganze schon in seiner Kindheit
zusammengebrochen. Aber Fröhlichkeit kannte sie nicht, und alles Unglück,
das uoch kommen sollte, mußte sie in Erscheinungen und Vorwarnungen lange
voraussehen.
Von den frühern Insassen des Uhlhofs fehlt nur noch eine, Jörns
jüngere Schwester, die schon als Kind ein völlig andres Naturell gezeigt hatte
als er. Frühreif, leicht und nach Zerstreuungen begehrlich, war sie einem
reichen Bauernjungen in die Hände gefallen, einem wilden Taugenichts, war
mit ihm nach Amerika gegangen und nun längst verschollen. Die Sorge um
die Verlorne beschäftigt und quält Jörn, je mehr er seine eignen Verhältnisse
befestigt hat, und die andern teilen sie mit ihm. Immer geht eins von ihnen
hinaus auf die Heide, von wo man die Straße weit hinunter sieht, die über
Itzehoe nach Hamburg führt. Alle hatten das Gefühl, daß sie unterwegs
wäre. Sie warteten, und sie kam uicht. Ihre heimathungrige Seele streckte
die Arme aus und griff nach den Seelen derer, die sie in der Heimat lieb
hatte. Ihre Seele ging schon alle die alten Wege und machte sich denen
bemerkbar, die im Hause wohnten. Endlich wurde es Weihnachten. Gerade
da, als sie den Baum angezündet haben, kommt die Verirrte, blaß und müde,
durch den Schnee an die Fenster. Sie hat ihr Kind bei sich, der Mann ist
in Amerika verkommen.
Die Erzählung dieses Ereignisses ist ohne Frage das schönste Stück in
dem ganzen zweiten Teil. Da ist wirklich wieder, wie so oft in dem ersten,
Handlung, der wir mit Teilnahme folgen, nicht bloß Anseiuanderrechnuug von
Verhältnissen mit erbaulicher Betrachtung über das Ergebnis. Wir gehn hier
auf einiges etwas näher ein, weil es kennzeichnend ist für die schriftstellerische
Art, die sich Frenssen bis jetzt gebildet hat.
Zuerst eine zum Teil sehr schöne Schilderung der winterlichen Natur,
aus der wir das beste herausheben. Es kam ein kalter Nebel und zog mit
einem trügen Winde dünne, graue Tücher über das ganze Land. Die Sonne
stand wie ein weißlich trüber Fleck am Himmel, und vorbeiziehend ließ der
Nebel an jedem Baum und an jeder Hecke, an der er vorüberging, von seinem
losen Gewebe hängen, da lag das ganze Land im Rauhreif. Die Tannen
am Waldrande standen gerade und schlank, vom Scheitel bis zu den
Füßen in Silberbrokat, Bräute, bereit zur Hochzeit, und hinter ihnen in
fallenden, weißen Schleiern die dichte Schar der Jungfrauen. Halb schön er¬
schien ihnen der Zauber, halb schaurig, und erstaunt sah jedes auf seinen Nach¬
barn, so lange das geringe Tageslicht da war. Als es aber Abend wurde,
wandelte sich' die seltsame Herrlichkeit. Da sahen sie einer den andern im
Totenhemd, das war mit vielen weißen Spitzen kalt und steif besetzt; da
nahm das Grauen überhand. Das Dorf lag glänzend und neu, als wäre
es zu diesem Weihnachtsfeste als ein saubres Spielzeug wie in eine neue
Schachtel in dieses weiche, weiße Thal gelegt. Als kämen bald Riesen aus dem
Walde vom Meere her und setzten sich rund umher auf die Hügel und fingen
an mit den weißen Häusern und den schmucken weißen Bäumen zu spielen,
setzten die Häuser durcheinander und stellten die Menschen hin und her, und
stellten zwei zusammen und dann Kinder daneben und ließen sie alt werden,
und brächten sie nach dem Kirchhof und gruben ein kleines Loch im weißen
Schnee. Und dieses Spiel der Riesen dauerte schon tausend Jahre, und die
Menschen im Dorfe merkten es nicht.
Auf diese so originelle Verbildlichnng der Natur in ein Riesenspielzeug
folgt eine Betrachtung über das Weihnachtswunder: Man glaubt es ja jetzt
nicht mehr, weil man es nicht mehr sieht. Man sieht es nicht mehr, weil
man es nicht mehr glaubt. Wunderbare Dinge find aber nicht aus der Welt
^schafft, wenn die Menschen die Augen zuhalten und sagen: Ich sehe nichts,
oder die Augen aufreißen und sagen: Ich sehe alles. Es soll ja damals in
Bethlehem ein Engel gewesen sein, der war flink und vorlaut. Er sprach
einen Prolog, der nicht' vorgesehen war, und verwirrte das ganze Programm,
wie die Erzählung deutlich zeigt. Die andern, die nachkamen, waren mehr
aristokratisch, mehr himmlisch, mehr von der Sorte: da freien sie nicht und
lassen sich nicht freien. (Das ist aber weniger deutlich, Herr Pastor, wie auch
das folgende, das wir darum weglassen.)
Nun kommt Jörns kleine Schwester mit dem ermatteten Kinde über das
Feld gegangen durch die Winternacht, ein Mann hat ihr den Weg gezeigt
bis vor das Haus, wo sie den Weihnachtstisch richten. Jörns Frau legt
für jeden etwas hinauf, für ihn zwei wertvolle Bücher, die die Tante ge¬
stiftet hat. Ein junger Hilfslehrer der Mathematik hatte sie ihr empfohlen (em
recht philiströser Zusatz), der oft in den Laden gekommen war, nicht um em
Abenteuer zu haben, wie sie anfangs dachte, sondern weil er eine fühlende
Seele suchte, mit der er von seinem Liebesglück reden könnte usw. (also wieder
eine Ncbeugeschichte). Und endlich tritt die Verlorne ein, sie findet nach einem
bewegten Wiedersehen ihre Heimat, und alle feiern das Fest, in dessen tief-
empfundner Schildrung kein Wort zuviel gesagt ist.
In dem ersten Teil des Romans, dem wir uns nun zuwenden, ist die
Komposition zwar auch durch entbehrliche Episoden gelockert, aber die Fäden
haben ihren natürlichen Zusammenhalt in der biographieartigen Behandlung
^r Hauptperson, hinter der sich in kräftig gezeichneten Linien die westholsteinische
Landschaft aufbaut mit ihren auf die Bevölkerung abgedruckten Gegensätzen von
Marsch und Geest. Jörns Vater ist der Typus des protzigen Mcirschbanern,
und seine Stiefkinder aus des Vaters erster Ehe sind von derselben Art. Seine
sanfte Mutter und alle die gemütvollern, bescheidnen Menschen, von denen
er umgeben ist, auch die Dienstleute, stammen von der Geest. Dieser Gegen¬
satz geht durch das Leben der Alten in Arbeit und Lustbarkeit, durch die Spiele
der Kinder, durch Schule und Kirche, er zeigt sich in der körperlichen Er¬
scheinung, im Auftreten und Reden, er trennt das heranwachsende Geschlecht
in zwei sich instinktiv zusammenschließende Hülsten, denen er auch das Leben
so verschieden aufbaut, wie es ihre Ansprüche sind.
Seit in der Marsch nicht mehr der Wcizenbau den Ausschlag giebt,
sondern alles grün geworden ist und zur Weide liegt, seit der Bauer ein
Viehzüchter geworden ist, dn fängt das Geschlecht an dumm zu werden. Von
einem erzählt man, daß er seine Ochsen jeden Morgen besucht und sich mit
ihnen also unterhalten habe: Guten Morgen, alle miteinander. Kinder, nun
dauert es nicht lange, dann seid ihr fett. Mit dir, mein Lieber, steht es
allerdings schwach, namentlich im Achterviertel, was doch die Hauptsache ist.
Aber einerlei, ihr kommt nun weg, alle miteinander. Erst nach Husum, das
ist eine feine Stadt, Haus an Haus. Dann auf die Eisenbahn, nach Rhein¬
land hinunter, da werdet ihr euch wundern: Schornstein an Schornstein, und
überall wird geglüht, gehämmert und gefeilt. Und dort — dort werdet ihr
dann . . . nun ja, dort bekommt ihr einen andern Herrn, und ich, ich bekomme
mein Geld, und dann sind wir vergnügt, alle miteinander.
Von Natur hat dieser Menschenschlag Anlage für Philosophie und Mathe¬
matik und ist zum Grübeln und Plänemachen geneigt. Ein solcher Mann war
ja, wie wir sahen, Jörns Onkel Thieß. Manche ziehn sich nach den Stunden
ihrer Arbeit ganz auf ihre Gedanken und wenige Bücher zurück, die sie irgendwo
in einer verstaubten Truhe vorgefunden oder sich auch dnrch einen scheuen,
schweren Gang zum Buchhändler in der nächsten Stadt erworben haben. Einer
malt an die kahlen Kalkwände seiner Schlafkammer alles, was es in der
Welt giebt, von jeder Gattung eins, wie er sagt. Da waren Menschen und
Tierklassen zu sehen, Himmelskörper, die bösen und die guten Engel, sogar
die Dreieinigkeit, und dann ist er mitten unter seinen Werken an einer Gehirn¬
entzündung nnter schönen und wilden Phantasien gestorben. Manche Bauern¬
söhne müssen von dem Vater auf das Gymnasium gezwungen werden, weil sie
sich mit ihrer Seele nicht losmachen können von den Scheunen und Dielen.
Bei dem Brummen ihres Religionslehrers, denn viele Religionslehrer brummen,
denken sie an das satte Brummen ihrer Felder, und wenn zu den Horazoden
der Takt geschlagen wird, so hören sie winterlichen Drescherschlag. Meint das
Schicksal es gut mit einem solchen, so versetzt es ihn später wieder zu irgend
einem Beruf auf das Land, wo er den gefüllten Stall eines Bauern wenigstens
sehen kann. Ist das Schicksal hart, so läßt es ihn sein Gelehrtenbrot in einer
großen Stadt suchen, in die sich vielleicht seine Kinder einstmals gewöhnen
werden, während ihn selbst seine Gedanken zeitlebens in das Dorf zurückziehn.
Und doch sind die Jungen fast noch unglücklicher, die aus Drang nach Wissen
studieren möchten und es nicht dürfen, weil sie in den Ställen und hinterm
Pflug bleiben sollen. Die sitzen dann bis in die Nacht und verwirren sich
mit Dingen, die sie nicht begreifen, werden ihrer Umgebung unverständlich
und lästig: du längst nicht unter die Menschen. Geht ein solcher vor der
Zeit aus dem Leben, so machen sie ihm ein stattliches Bauernbcgrübnis und
Wundern sich weiter uicht viel. Es ist ihm durcheinander gegangen.
Man wird sich denken können, daß aus dem Leben Jörn Abts, der zu
dieser letzten Klasse gehört, in dem aber immer wieder über das Denken das
Handeln den Sieg gewinnt, durch Frenssens Darstellungsknnst ein wirklich be¬
deutendes Bild geworden ist. Die Kinderzeit hat für ihn noch ihre kleinen
Freuden. Er ist scheu, ernst, anständig, ungelenk und noch vieles mehr, woraus
etwas gutes werden kann, und das Schwere seines Lebens, z. B. daß sein
Vater sich eigentlich seiner schämt, fühlt er noch nicht. Auch die vergebliche
Fahrt nach Meldorf auf das Gymnasium, wo er auf den Landvogt studieren
will und in der untersten Klasse der Längste geworden wäre, weil ihn sein
Schulmeister englisch gelehrt hatte — und lateinisch sollte es doch sein —, hat
noch etwas humoristisches. Aber dann fängt die Bitterkeit damit an, daß er
beinahe gegen den Willen des Vaters, dem alles außer seinen wüsten Ver¬
gnügungen gleichgiltig ist. alle Sorgen um den Hof ans sich nimmt. ..Kein
Buch kaun ich mehr anfassen. Nun bleib ich so dumm wie alle die andern."
Der Konfirmandenunterricht war ihm unverständlich und qnälig. Der praktische
Junge, der alles ans die Abt und ihre Bewohner bezog, konnte weder die
Sünde noch die Gnade verstehn. die da gelehrt wurde. Die Sünde kam ihm
viel zu spät, und die Gnade kam ihm viel zu früh. Die Sünde fing ja erst
mit Diebstahl, Raub und Totschlag an. und die Gnade war da, wenn einer
seine Sünde „auf den Herrn warf." Jörn Abt konnte diesen lieben Gott
nicht verstehn; er schien ihm ein ganz unpraktischer Rechcnmensch zu sein, der
in seiner Stube seine Bücher stolz in Ordnung hielt und draußen von seinen
Leuten ungeheuerlich betrogen wurde. Arbeiten und nüchtern sein und sparsam
und klug wirtschaften, das war für ihn die frohe Botschaft. (Daß man freilich
diese Botschaft nicht in der Kirche verkündigen kann, hat der Verfasser inzwischen
selbst eingesehen.) — Einige Zeit nach der Konfirmation ging Jörn wieder in
die Kirche. Er sah, daß es die sparsamen, Nüchternen und die altmodischen
Leute thaten, und er hatte sich vorgenommen, ebenso zu werden. Der eine war
ein reicher Maun geworden, der andre galt für hartherzig und geizig, aber es
empfahl ihn, daß er noch den Rock trug, mit dem er schon vor fünfzig Jahren
zum Abendmahl gegangen war. Eine Frau, deren Manu ein wilder Trinker
"ut Kartenspieler war. saß mit zusammengepreßten Lippen und strengem Gesicht
jeden Sonntag in ihrem Kirchenstuhl. Aber die Jungen und die Wilden und
die Staatmacher, die gingen nicht hin. Jörn Abt saß da und langweilte sich.
Er konnte zunächst nicht darüber hinweg, daß der Pastor, der seit einem Jahre
in der Kirche das große Wort führte, als fester Trinker und sichrer Spieler
bekannt war, und dann ging ihm die rechte Lehre, die der kleine, starke Mann
verkündete, ganz und gar gegen den Strich. Er konnte nicht entdecken, was
unser von Jugend ans böses Dichten und Trachten und die Dreieinigkeit und
der Sohn Gottes von Ewigkeit geboren mit dem wilden Leben im Dorf und mit
seinem eignen Pflügen und Eggen zu thun hätten, und er wunderte sich im
stillen, daß das Wort Gottes so unpraktisch war. Nach ihm hätte es heißen
müssen: Der Bauer, der nicht jätet, wird nicht selig, und für jeden Wirtshaus¬
abend wird ihm ein Jahr im Himmel abgezogen; so ungefähr Hütte er die
Bibel gemacht. (Also etwa, wie wir in unsrer Kindheit noch die letzten Nach-
treter des alten Rationalismus haben predigen hören.) Du mußt immer auf
demselben Platz sitzen, hatte ihm sein alter Tagelöhner gesagt; seit sechzig Jahren
sitze ich jeden Sonntag da in der dritten Reihe, bloß die zwei Jahre abgerechnet,
als ich gegen die Dänen im Felde lag. Und so blieb nichts weiter nach, als
daß Jörn Abt darum etwas auf Gott hielt, weil der so etwas altmodisches hatte.
Eingehend wird die Entwicklung seines Sinnenlebcns analysiert, vom
ersten Erwachen aus einem heißen Traum bis zu seiner Heirat. Als Zwischen¬
handlung spielt ein Verhältnis zu einem walkürenühnlichen, viel ältern Mädchen,
das ihn stärker und fester macht, ihn gleichsam an dem Rand des Schuldig¬
werdens entlang führt und mit eindringlichem Zuspruch bewahrt. Dieses psycho¬
logisch kaum mögliche Verhältnis mit Reflexionen, die anstößig wirken müssen,
wenn sie zu Zwiegesprächen werden, soll offenbar Jörn zur Heirat reifmachen-
Als Gegenbild wird noch eine spröde Braut eingeführt, die ihre Abneigung
gegen die Männer überwindet durch den Anblick eines noch nicht erwachsenen
Bauernjungen, der ahnungslos ihr Wohlgefallen erweckt. Nachdem die beiden
weiblichen Figuren diesen Zweck für die Exposition erfüllt haben, verschwinden
sie spurlos von der Schaubühne. In dieses Gebiet gehören noch zahlreiche
Einzelheiten, die mit Jörn Abts eignem Leben nicht zusammenhängen, und
endlich die schon früher angedeuteten Vorgänge, die seiner eignen ersten Heirat
vorangehn, und für die wir auch hier die Leser nur auf das Buch selbst ver¬
weisen mögen. Bereitwillig erkennen wir Frenssen das Lob eines starken und
wahren Realisten zu („So ist das Leben," heißt der Titel eiues nichtsnutzigen
allermodernsten Theaterstücks), wir sind aber dieser Art von Realismus in
einem ernsten Roman der höhern Gattung noch nicht begegnet und können
uns wirklich nicht vorstellen, wie dieser das erstemal so reichlich abgeerntete
Acker dem Verfasser noch weitere Früchte tragen soll. Sein Erzählungstalent
findet ohnedies Aufgaben genug.
Die Darstellung des täglichen Lebens und der bäuerlichen Berufsarbeit
Jörn Abts ist, wie sich das bei dem Verfasser eines solchen Buchs von selbst
versteht, nicht bloß korrekt, sondern auch anschaulich, dabei keineswegs monoton.
Eher wirkt die Menge von Einschiebungen, über die man, ohne um Ganzen
zu verlieren, hinweglesen könnte, zerstreuend. Der Verfasser hat uns viel zu
sagen, und er giebt von seinem Überfluß, wie es ihm kommt, unbefangen und
natürlich, und diese naturalistische Art hat ja namentlich für den Bauersmann
ihr Recht und außerdem noch den Vorzug, daß sie nicht leicht ins Gezierte
fällt. An wichtigen Stellen seines Buchs wendet er aber auch die verweilende,
ausführende Schilderung an, und diese Teile sind nach unsrer Meinung die
wertvollern. Wir denken dabei nicht an die Szenen aus den Feldzügen, die
in ihrem abgerissenen Plakatstil weiter keinen Eindruck auf uns gemacht haben,
als dnß sie uns stark an Taneras letzte Manier und an den Prosa schreibenden
Liliencron erinnerten, sondern an die viel einfachern Dinge, die sich, mit jahre¬
langen Zwischenräumen, auf dem Uhlenhof zugetragen haben, und die dann für
diese kleine Welt große Ereignisse waren. Zuerst das Ende der Frau, lauter höchst
einfache Worte, aber von welcher Deutlichkeit! Gegen Abend nahm das Fieber
zu. Sie brauchte das ganze, große Bett. Sie gingen durch die Stube hiu
und her, gingen nach der Küche und kamen wieder. — Gegen Morgen wurde
sie wieder ruhiger, war aber todesmatt und redete mühselig. Er sollte Vater
(dem nichtsnutzigen alten Uhlbauern) sagen, daß sie ihn lieb gehabt hätte. Jörn
schluchzte Heiss auf: Der hat kein einzig gutes Wort zu dir gesagt, dn arme
Deern. Sie versuchte zu lächeln. Du hast nichts wie Mühe und Arbeit ge¬
habt, sagte er. Da machte sie ihm mit schwerer Zunge verständlich, daß sie
sehr glücklich gewesen wäre. Er beugte sich tief zu ihr nieder, und sie ver¬
suchte seine Hand zu streicheln. Um andre kümmerte sie sich nicht mehr; auch
ihr Kind hatte sie vergessen. — Nachmittag. Spätnachmittag, Abend bilden
ähnlich kurze Abschnitte. In der Nacht kommt der Arzt zum letztenmal an¬
gefahren. Die Laternen seines Wagens wehten im eiskalten Winde. Er sah
die Kranke und rief Jörn Abt beiseite und sagte, daß keine Hoffnung mehr
wäre. Wenn da noch etwas zu ordnen wäre . . . Jörn Abt ging wieder ans
Bett zurück, an dem er seit sechzehn Stunden stand. Ja, da war noch etwas
zu ordnen. Etwas. Er beugte sich zu ihr nieder, und mit seinen schwerfälligen
Worten sagte er ihr, wie lieb er sie gehabt hätte. Sie versuchte ihn anzusehen.
Es sollte ein lauger. verwunderter Blick sein. Sie sah ja zum erstenmal in
seine Seele. Aber die Augenlider waren zu schwer. Nach Mitternacht wurde
sie ein wenig wacher. — Dann kommen die letzten Fieberphantasien, Kindheits-
erinnerungen, Spaziergünge über die blühende Heide, die in das himmlische
Paradies führen, ebenfalls sehr schön, wie nach Fiesole oder Gabriel Dante
Rossetti, dazwischen auch ein wenig mystisch-modern (der Weg stieg an, von
'-om kam es wie Licht oder wie Gesang) und für das holsteinische Bauern¬
mädchen vielleicht zu entlegen.
Jörn Abts Vater ist schon lange nach einem Unfall beim Pflügen krank
und geistig gestört, er bildet sich ein, er sei sein Ahnherr, der Stifter des
Hoff, und seine Nachkommen brächten dnrch, was er erworben hätte. Da, ni
einer Nacht, finden sie den Trunkenbold von Bruder an einer Leiter erhängt.
Der Knecht ging nach dem Pferdeställe zu und sagte zu dein Jungen, der mit
bleichem Gesicht in der Thür stand: Mach, daß du nach der Stube kommst,
°ich ist nichts für dich. Der Amtsrichter kam, und der Gemeindevorsteher
kenn auch, und Jörn Abt war kalt wie Eis und gefährlich wie zertretnes Glas.
Der Vorsteher fragte, wer den Sarg machen sollte. Er antwortete: Was
gehts mich an? Ja, wir können ihn doch nicht als Armenlciche begraben
lassen? Jörn Abt sah ihn stolz an: Warum nicht? Wer konzessioniert in
dieser Gemeinde die Wirtschaften, in denen die Menschen sich betrinken dürfen,
bis sie Schweine sind? Thu ich das oder die Gemeinde? Dann mag die
Gemeinde die Schweine begraben, die sie selber groß zieht. Da kam am selben
Abend der Armensarg und wurde in die Kammer gestellt, die rechts vom Kuh-
statt ist; sie ist früher Hückselkammer gewesen. Jörn und der Tischler legten
den Toten hinein. Die Armeusärgc werden im voraus gemacht, sagte er. Er
ist zu lang, er hat bei der (Z^räh ein oorxs gedient. Es geht so. Mieter
(die alte Dienerin) kam und hatte den alten Manu, den sie notdürftig ange¬
kleidet hatte, an der Hand wie ein Kind. In der andern Hand hatte sie die
leere Flasche und den Strick. Wir wollen ihm alles mitgeben, sagte sie; es
nutzt doch nichts, daß man Gott was vormacht. Nun kann er gleich sehen,
was seine Not und sein Tod gewesen ist. Und sie legten ihm beides unter
die Kniee. Jörn schüttelte den Kopf und ließ die beiden allein und ging
hinaus und vor dem Hofe hin und her wie ein Wachtposten, daß nicht noch
mehr Unglück und Schande ins Haus hineindringe. Als er wieder hinein¬
ging, um deu Vater zu Bett zu bringen, fand er ihn schon drin, und die
Alte saß vor seinem Bett und las die Geschichte von Ell, dem starken, dicken
Mann, der seine Kinder nicht erzog. Laß das Lesen, sagte Jörn, es nutzt
nichts, das hätte früher geschehn müssen.
Danach trafen Jörn noch zwei Schläge, und dann war seines Bleibens
nicht mehr auf der Abt. Zuerst eine Mäuscplage, die über seiue Weizenfelder
kam, alle Hoffnungen zerstörte und die Zinszahlung für dieses Jahr unmög¬
lich machte. Das ist meisterhaft erzählt, wie es in den Halmen lebendig wird,
einer und der andre es bemerkt und noch nicht glauben mag, der schwer¬
blütige Jörn dann bald die ganze Gefahr erkennt, und endlich Haufen an
Haufen am Boden liegt, in der Nässe des regnerischen Herbstes aufschlüge und
verfault. Es ist außer unsrer Macht. Nun hat es keinen Zweck mehr, uach deu
Weizenfeldern zu gehn; da ist nichts mehr zu suchen. In demselben Jahre-
brennt das Haus auf der Abt bis auf den Grund nieder. Das Unglück hat
sich mit vielen Vorzeichen angekündigt. Alles wartet darauf mit Spannung
und Angst. Endlich zieht ein Gewitter herauf am späten Nachmittag. Das
war ein Schlag, es hat eingeschlagen. Die Leute traten heraus und sagten
einer zum andern: Es ist nichts zu sehen. Sie haben das ganze Haus durch¬
sucht bis unters Dach. Es war nichts zu sehen, es wurde zehn, und sie
waren zur Ruhe gegangen. Da meinte der Blitz, daß Haus und Menschen
sein wären, und machte sich auf den Weg. Er wand sich mit langem, glattem
Leib, blank wie ein gut gebrauchter Spaten, langsam zwischen Heu und Dach.
Wo er mit den dünnen Armen vorlangend hingriff, schwelte rote Glut auf. Dieses
Personifizieren der Natur versteht Frenssen aus dem Grunde. Ein andermal heißt
es bei ihm: Es war ein kalter, rauher, dunkler Frühlingsmorgen. Trübe Nebel
lagen wie große, faule Tiere dumm und stumm in den Senkungen der
Felder. — Wir wollen die Feuersbrunst nicht ausschreiben, sie zieht sich in
lauter kleinen dramatischen Abschnitten über mehrere Seiten hin. Die Menschen
können sich retten, das Vieh ist draußen auf der Weide. Der Alte wird in
das Nachbarhaus getragen und stirbt in derselben Nacht. Als die Kälte des
Morgens kam, verliefen sich die Menschen. Als der Himmel grau wurde,
verließ auch Jörn die Brandstätte. Einige Sterne standen noch hoch am Himmel,
wie übermüde, glänzende Augen in einem blassen, überwachten Gesicht. Jörn
tritt an das Bett des Toten und sieht ihn lange an. Dann geht er auf
Mieter zu, greift nach ihrer Hand, hält sie lange fest lind sagt weich und
leise: Es ist nur gut, daß meine alte Mutter noch tel't. Den Auszug vom
Uhlenhof. mit dem der künstlerisch gebaute erste Teil des Romans abschließt,
kennen wir schon.
„Jörn Abt" ist ein gehaltreiches, tüchtiges Werk, aber ein Rohgnß. dein
die Ziselierung gefehlt hat: die Sorge eines feinsinnigen Freundes, der schärfer
sieht, als wir selbst, oder eines kritischen Verlegers, dem es dazu freilich nicht
an Zeit fehlen dürfte. Wir können uns nicht denken, daß sich Freussens schrift¬
stellerischer Ehrgeiz mit dem Zerrissenen der modernen Mache, deren Ästhetik
sich am besten bei einem Flickschneider erlernen ließe, zufrieden geben wird.
Wir möchten aber um unsre Leser nicht noch mit einer gleich ausgedehnten
Besprechung des Bröndstedschen Romans ermüden, sondern ihnen nur noch sagen,
warum nur, während wir diesen lasen, immer wieder an den Jörn Abt zurück¬
denken mußten. „Ricks Glambäk" erschüttert uns nicht durch wuchtige Hand¬
lung oder sehr tief gehenden Seelenschmerz. Nur um einzelnen Punkten nimmt
die Situation etwas von Tragik an, meistens hält sie sich sogar im Bereich
eines gewissen Humors. Schon der ästhetischen Absicht nach haben wir hier
die kleinere Gattung vor uns, zugleich aber die Komposition eines wirklichen
Kunstwerks, abgewogen und vollendet, einen Eindruck also wie von einer Klein¬
bronze feinster Qualität, an der alles gut ist bis auf den letzten Strich der
Ziselierung. Der Schauplatz wechselt nur einmal, zwischen dein Landsitz des
dänischen Ministers und der Stadt Kopenhagen. Das Problem ist einfach
und schon beim Beginn der Exposition sichtbar. Wird dieser arme Student,
so ungelenk und juugeuhaft, wie wir uns in Deutschland kaum einen Studenten
vorzustellen pflegen, sich die Gunst des reichen Gutsherrn, der sein Verwandter
ist, gewinnen und dazu die Hand der kleinen Baroneß von dein Nachbargute,
die zu dem Minister auf Besuch kommt, weil sie ebenfalls mit ihm verwandt
ist? Das tiefere Interesse bekommt diese Frage erst durch eine seltsame Ver¬
schlingung, die dem Leser allmählich und Ricks Glambäk erst ganz zuletzt
klar wird. Seine Mutter ist verschollen, sie hat ihn als zweijähriges Kind
verlassen und ist nach Spanien gegangen, wie es heißt. Sie war die Schwester
des stolzen Jägermeisters, des Vaters der kleinen Baroneß, und sie war
einst mit dem Minister, ihrem Vetter, verlobt gewesen. Ricks weiß nur.
daß er selbst ein Glambäk ist. und daß der radikale Zeitungsrcdakteur dieses
Namens in Kopenhagen, in dessen Hause er eine Art kümmerlicher Erziehung
erhalten hat, seines Vaters Bruder ist. Seine Mutter ist leichtsinnig, sehr
leichtsinnig gewesen, aber nicht schlecht, sagen die andern, die sie gekannt haben.
Er weiß davon nichts. Nun hat ihn der Minister, der wohl irgend ein Interesse
an ihm haben muß, auf seinen Landsitz eingeladen, Ricks ist oft dagewesen,
zuerst ärmlich gekleidet und so schüchtern, daß er Mühe hatte, sich vor den
Verwaltern und der Dienerschaft notdürftig zu behaupten. Dann hat ihn der
Minister beschenkt und äußerlich allsgestattet, er ist ein Herr geworden und
verkehrt mit seiner vornehmen Cousine beinahe auf gleichem Fuß, und innerlich
knüpft sich zwischen ihnen in der Stille das Verhältnis. Sein Glück scheint
auf der Höhe, als ihm eines Abends der Minister erklärt, er nehme ihn an
Sohnesstatt an. Aber keiner hat es gehört, und gleich darauf wird der alte
Herr von einem Verrückten, dem er seit Jahren Aufenthalt gewährt, ermordet.
So leicht sollte es also Ricks Glambäk nicht werden. Nicht er, sondern der
künftige Schwiegervater Jägermeister wird der Erbe des größten Grundbesitzers
von Dünemark, und er selbst muß wieder in sein bescheidnes Stndentenquartier
zurück. Daß ihm die Versprochn? noch einmal zu teil werden wird, so uner¬
hört und bis zur Unmöglichkeit unwahrscheinlich es auch für den Augenblick
ist, fühlt der Leser zwar aus einer ästhetischen Notwendigkeit voraus, da sonst
die Ökonomie des Romans verfehlt wäre, er wird aber doch noch durch die
Knnsi der Darstellung in Spannung gehalten, und die Lösung erfolgt dann
nicht bloß ästhetisch, sondern mit einer tiefern Gemütswirkung so, daß Ricks
seine Braut nicht eher gewinnen kann, als bis er die Mutter wieder gefunden
und die vou allen ihren Angehörigen Zurückgestoßene bei sich aufgenommen hat.
Dieses Verhältnis von Mutter und Sohn, das ganz allmählich zuerst
mit Andeutungen und Ahnungen in die Handlungsführung des Romans einfließt,
erzeugt die schönsten Eindrücke, still und weich und uicht minder tief als die
lautere Bewegung des viel derber aufgebauten „Jörn Abt." Ricks träumt
zweimal von der Mutter, in Augenblicken, wo sie ihm ganz nahe ist, ohne daß
er es weiß. Das zweitemal fühlt er beim Erwachen auf seiner Hand eine
Thräne, die er für einen Tautropfen hält; er war draußen auf der Veranda
eingeschlafen. Aber er findet auch einen Shawl um sich gedeckt, den er nicht
hatte, als er sich hinsetzte, das weiß er ganz bestimmt. Jener erste Traum
war auch wehmütig, aber so angstvoll und schwer wie dieser zweite war er
nicht. Dieses mal hat der Träumende ein Gefühl von Widerwillen und Bitterkeit
gegen die Erscheinung, die mit Thränen seinen Namen spricht; er muß uach
ihr greifen wie mit einer Kinderhand, aber es ist zu spät, er ist erwachsen.
Er hat auch davon geträumt, daß etwas seine Wange berührt und über sein
Haar gestrichen habe. Und nun hört er einen Wagen davonrollen. In dieser
Nacht hatte der Minister eine lange Unterredung gehabt mit einer fremden,
schmalen Frau in ärmlichen, schwarzen Kleidern, es war vergebens gewesen.
Die Geliebte seiner Jugend hatte er verloren, aber ihr Sohn war da, den er
soeben zu adoptieren beschlossen hatte. Gottlob, daß ich jedenfalls dich habe,
flüsterte er. Und ich dich, antwortet Ricks. Das ist alles sehr schön, die Szene
zwischen dem Minister und Nielsens Mutter in ihrer Einfachheit geradezu gro߬
artig, und wenn man von hier aus an Frcnsfens Buch zurückdenkt, so fühlt
man, daß es zweierlei Arten von poetischer Stimmung oder Stilisierung giebt,
die eine mehr für das Volk, die andre für die leichter erregbaren Nerven der
Gebildeten, und daß diese zweite Art jedenfalls noch mehr Kunst verlangt.
Oder vielmehr natürliche Anmut, die wie Hauch und Duft über den Dingen
liegt, wie der schillernde Staub auf Schmetterlingsflügeln. So in den zarten
und feinen Begegnungen Nielsens und seiner künftigen Braut. Wie kann nur
so ein junges Mädchen einem Heimat und Mutter und alles zugleich sein,
wie einst Hektor der Andromache Eltern und Geschwister ersetzten mußte! Und
Ricks, der noch so weit von? Ziele entfernt ist, fühlt sich doch bloß in seinen
Gedanken und Hoffnungen schon so sicher. Da führt uns Bröndsted fürwahr
nicht bloß in die äußerlich feinern Verhältnisse, sondern auch in die höhern
Sphären, darinnen, wie der Dichter sagt, das Ohr viel feiner hören und das
Auge weiter tragen kann.
In der äußern Darstellung gehn Erzählung und Ortsschilderung bei
Vröndstcd weniger in die Breite, der Nachdruck liegt auf dem bei manchmal
äußerster Knappheit — die Menschen des Nordens sind einsilbig — vielsagenden
Dialog; geradezu erstaunlich ist es. wie die Unterdrückungen, die nicht zu Ende
gesprochnen Sätze, typographisch ausgedrückt die Gedankenstriche, wirken. Das
Personifizieren lebloser Gegenstände, die mit Eindrücken zu den Menschen sprechen,
findet sich auch bei Bröndsted, wenn er z. B. Ricks sich mit seiner Studier¬
lampe unterhalten läßt, ebenso das Meditieren, das zum Selbstgespräch wird.
Die psychologische Kunst ist mindestens ebenso groß wie bei Frenssen, z. B.
in der Haushälterin des Ministers und in dem für die Exposition wichtigen
Vertrauensverhältnis, das sich zwischen ihr und ihrem Schützling Ricks leise
anspinnt. Die Figur des Verrückten hat für manchen Geschmack vielleicht etwas
'"ehr Licht bekommen, als für ihre Aufgabe, durch die Ermordung des Ministers
die Katastrophe herbeizuführen und die Hauptperson über die flache Rolle
unes Hans im Glück zu erheben, erforderlich war. Übrigens herrscht volles
Ebenmaß in der Abwägung der Rollenfächer und der Folge der Szenen,
sodaß man nichts hinwegnehmen könnte. Da das Mitten Bröndsteds welt-
förmiger ist, so ist das Pathos weniger stark, aber der Gesamteindruck daran
doch nur scheinbar flacher als bei Frenssen, wo nach unserm Gefühl wenigstens
der mehr an die Nerven gehende Prcdigertvn manchmal der künstlerischen
Wirkung im Wege steht.
Wir meinen also, und das sollte mit dieser kurzen Parallele gesagt sem.
daß Bröndsted der größere Künstler ist, wogegen sich ja vielleicht in Frenssen
noch das stärkere Talent wird offenbaren können.
is ich als Schiffsarzt um Afrika fuhr, lief unser Schiff auch
einige kleinere Häfen des portugiesischen Ostafrikas an. Es ist
Sitte, daß die Herren vom Land den Ankömmlingen an Bord
den ersten Besuch machen. Darum hatten wir bald die ganze
^. deutsche Kolonie an Bord versammelt. Denn es locken nicht
oß Bier und Rheinwein, die ja mich an Land zu haben sind, sondern als
^ kostbarsten aller Delikatessen Schwarzbrot, Butter und Käse, die nur, wenn
^ Schiff von der Heimat kommt, zu haben sind. Die Unterhaltung kam
ni Gang. Denn jeder fragt, worauf er eben neugierig ist, und an he-
res^' t ------- — > ——......> .....-......^—» "
"Mgter Neugierde ist ja auf beiden Seiten kein Mangel. So fragte ich:
Wieviel Europäer sind Sie denn hier? Antwort: Wir sind etwa acht Deutsche
hier, vielleicht zehn Engländer, dann die Herren vom französischen Hans, die
meist Schweizer sind und sich zu uns halten, außerdem die Holländer, im
ganzen etwa so und so viel! Frage: Außerdem haben Sie doch Portugiesen
hier? Die werden ja wohl in ihrer eignen Kolonie ziemlich zahlreich sein.
Antwort: Ja, wenn Sie die Portugiesen zu den Europäern rechnen! Frage:
Sind das etwa keine Europäer? Antwort: Nein, die rechnet hier niemand
dazu. Europäer sind nur Deutsche, Holländer, Engländer, Skandinavier,
Franzosen, auch Nordamerikaner würden so genannt werden, wenn es welche
gäbe. — Aber Portugiesen, auch wenn sie aus Portugal direkt kommen, etwa
als Offiziere oder Gouverneure, und dazu adliche Namen tragen, rechnen nicht
zu den Europäern und zur europäischen Gefolgschaft, nicht einmal in ihrer
eignen Kolonie? — Der Grund ist, daß sie eben Portugiesen sind, und von
diesen weiß man nie genau, ob sie reines Blut haben. Hier in der Provinz
Mozambique haben sie seit dreihundert Jahren ihr Blut mit Negerblut ge¬
mischt. Das Halbblut, das sie zeugen, geht nicht ein, wie das von Germanen
gezeugte, sondern hat ein Volk geschaffen, das seit ebenso langer Zeit christlich
und katholisch ist und die Lebensführung der Europäer nachahmt, das sich
aber von unten her aus der Negerbevölkerung ergänzt. Alle Grade der Vlut-
mischung giebt es in diesem Volke, vom fast reinen Negerblut bis zum fast
reinen Portugiesenblut. Aber sie alle, mitsamt den reinblütigen Portugiesen,
trennt eine scharfe Linie vom Europäer im eigentlichen Sinne des Wortes.
Sie sind b.3.lie,g,se oder outeast. Man verkehrt wohl geschäftlich mit ihnen,
weil man muß, aber man setzt sich nicht mit ihnen zur Tafel und läßt sie
nicht in die Klubs. Deu Offizieren und Beamten der Kolonie gegenüber
kann man diesen Grundsatz manchmal nicht durchsetzen, aber man versucht es.
Sogar der Neger unterscheidet scharf und sicher zwischen einem echten
Europäer, er sei Kapitän oder Matrose, Offizier oder Soldat, Chef oder Lehr¬
ling, reich oder arm, der ihm immer mit einem gewissen Herrenblick gegenüber
tritt, und dein Talmieuropäer, für den er einen bestimmten Ausdruck hat, den
ich wieder vergessen habe, dem Griechen, Italiener, Halbblutportugiesen, der
sich wohl europäisch kleidet, aber der mit ihm gaunert und ihn betrügt.
Es gab eine Zeit, wo der Indische Ozean ein portugiesischer See war.
Darum ist er noch jetzt mit alten Portugiesenkolonien bevölkert, die kenntlich
sind durch ansehnliche, alte katholische Kirchen im Barock- oder Jesuitenstil.
Solche Orte giebt es sowohl in Ostafrika, wo sie noch portugiesisch sind, wie
in Vorderindien und Hinterindien bis nach Macao in China. Jetzt lebt in
vielen alten Handelsstädten, die nunmehr englisch sind, zwischen der Masse
der Eingebornen und der Aristokratie der germanischen Europäer eine portu¬
giesisch-katholische Halbblutbevölkerung und liefert die Diener, Friseure, Köche,
Schreiber und Dolmetscher in die europäischen Häuser. Man erkennt sie, wie
Südeuropäer, am eleganten Anzug, schwarzen Rock und Lackstiefeln. Sie
mögen aber so elegant sein, wie sie wollen, ja, was sie gewöhnlich nicht sind,
reich dazu, so ist es ihnen doch für ewig unmöglich, in die Aristokratie der
reinen Europäer einzudringen.
In einer dieser Städte lernte ich einen Herrn mit adlichen deutschem
Namen kennen, der in Deutschland als Kaufmann ausgebildet worden war,
vollendete Manieren hatte und fließend deutsch sprach. Trotzdem gehörte er
nicht zur Gesellschaft, deun er war in dieser Gegend geboren, stammte von
einem ausgewanderten Deutschen und von einer Mutter, die nicht etwa eine
heidnische Malaiin gewesen war, sondern eine portugiesische Christin; aber sie
konnte doch ans frühern Generationen etwas Malaienblut haben und hatte
es wohl auch. Ja. nicht nnr dieser Mann wird zu keiner Tafel geladen, wo
europäische Damen sind, sondern auch seine Frau nicht, die er aus Deutsch¬
land mitgebracht hat. Sie war aus einfachen Verhältnissen, aber das hätte
ihre Gesellschaftsfähigkeit nicht gehindert, wenn sie einen reinblütigen Deutschen
geheiratet hatte. So lernte sie deutsche Häuser bloß als Kmnkenpflegerm
kennen.
Ist ein reicher Europäer mit einer halbblütigen Einheimischen regelrecht ver¬
heiratet, und hat er aus dieser Ehe etwa Töchter, so kann er sie, wenn er
reich genug ist, in Genfer Pensionen erziehn lassen. Dort werden sie viel¬
leicht gerade wegen ihres Halbbluts interessant sein und gute Partien machen.
Draußen nicht. Unser Kapitän erzählte von einer deutschen Dame, die er
einmal an Bord gehabt hätte, die als Braut eines vornehmen und reichen
hinterindischen Fürsten hinausging, der sie in Europa kennen gelernt hatte,
eines Mohammedaners, der ihr aber die Einehe versprochen hatte. Auf dem
Dampfer mieden sie alle, besonders die Damen, denn sie würde draußen outest,
sein. Sie hielt das für Neid und spielte in ihrer Kabine die gekränkte Fürstin.
Sie glaubte wunder, was sie draußen würde, wenn sie einen hinterindischen
^'gierenden, wenn auch mediatisierten Fürsten heiratete. Draußen giebt es nur
eine Aristokratie, die des blutreinen Europäers. eigentlich der Germanen, zu
denen nur die Franzosen noch hinzugerechnet werden.
Diesen Rasfenhochmut giebt es überall, wo englische Kultur ist, also auch
in Nordamerika. Obwohl dort Neger und Weiße schon eine Generation hin¬
durch unter denselben Gesetzen miteinander leben, ist Konnubium die Ausnahme.
Noch vor nicht langer Zeit ging die Notiz durch die Blätter, daß Präsident
Noosevelt einen angesehenen Negergeistlichen an seine Tafel geladen habe.
Wir in Enropa haben gar keine rechte Vorstellung, was das den Anschauungen
des amerikanischen Volkes gegenüber bedeutet. Ist es nicht wunderbar, daß
unsre in Enropa doch arg demokratisierte Welt Kolonialstaaten erzeugt, in
denen sich die Menschen nach ihrer Abstammung scheiden, und in denen em
Blutsadel herrscht, der viel exklusiver und hochmütiger ist, als der Adel früherer
Zeiten je gewesen ist? Freilich ein Adel, der nicht innerhalb eines Volkes
Grenzen zieht, sondern zwischen den Völkern. Es giebt auch deutliche Unter¬
schiede zwischen der Denkweise der Heimat und der draußen lebenden Europäer.
Diese werden es immer wunderlich finden, wenn z. B. der deutsche Kaiser
oder der König von England ein paar marokkanische Häuptlinge oder indische
Fürsten mit einem Pomp empfängt, als wären sie, wenn auch nur im kleinen,
seinesgleichen. Draußen macht man nicht soviel Umstände mit ihnen, sondern
läßt sie, wenn die Gelegenheit es erlaubt, den Europäerhochmut fühlen. Sie
finden es auch nicht in der Ordnung, wenn der deutsche Kaiser erlaubt, daß
japanische oder türkische oder sonst ausländische Offiziere gelegentlich seinen
deutschen Unterthanen Kommandos geben oder sich von ihnen militärisch grüßen
lassen. Matrosen, die auf Handelsschiffen im Ausland gewesen sind, werden
es schwer begreifen, daß sie in der eignen Heimat den Fremden gegenüber
Respekt heucheln sollen, den sie in deren Heimat geflissentlich zu verleugnen
gewohnt sind. Ich glaube auch nicht, daß englische Soldaten in Indien
indischen Offizieren gehorchen, und sie sind doch nur gewordne Soldaten und
nicht die Söhne des Volks in Waffen. Ganz skandalös aber wird man es
draußen finden, wenn deutsche Damen Neger interessant finden oder sozusagen
poussieren, wie das bei der Ausstellung in Berlin beobachtet sein soll. Das
wird direkt als unmoralisch und wider die Natur empfunden.
Die kolonisierenden Holländer denken eher noch strenger. Sie haben es
verstanden, wenn ich recht berichtet bin, in ihren östlichen Kolonien auch die
Rechtsungleichheit zwischen Farbigen und Weißen noch aufrecht zu erhalten,
während die öffentliche Meinung Englands, weil sie die Gleichheit aller
Menschen will, immer gegen den Wunsch der draußen lebenden den Schein
der Gleichheit auch zwischen den Menschenrassen aufrecht erhalten will.
Auch die frommen Buren machen einen dicken Strich zwischen sich und
den Negern. Sie nennen sie Lvböxssl, d. h. Geschöpfe. Die Engländer über¬
setzen das mit arüing.18, d. h. Tiere, um zu beweisen, wie gottlos die Buren
mit den Knffern umgehn.
Die europäischen und zumal die protestantischen Missionare können nicht
anders, als den Farbigen die Gleichheit aller Menschen vor Gott lehren; denn
das ist einer der Grundsätze des Christentums. Da sie nun leicht die großen
Unterschiede zwischen den Menschenrassen unterschätzen, so wünschen sie, daß
mit der idealen Gleichheit auch im wirklichen geselligen und politischen Leben
Ernst gemacht werde, und damit rennen sie gegen die Sitten der draußen
lebenden Europäer. Darum ist die Mission von den Buren vielfach mit Mi߬
trauen angesehen worden. Sie wollen wohl auch Christentum für die Kaffern,
aber eben sozusagen ein Christentum für Kaffern. Andrerseits haben manche
der Missionare, z. B. ein so alter Afrikaner wie Merenski, in den Buren ihre
Gegner gesehen und waren bei Beginn des Kriegs auf feiten der Engländer.
Der tiefere Sinn dieses Rasseilhochmuts ist wohl ein instinktiver Selbstschutz
der Nasse. Man weiß, daß Mischlinge mit farbigen Nassen gewöhnlich moralisch
von geringerm Wert sind. Sie verderben dann auch die Sitten der Neinblutigen.
Darum soll mit den Farbigen keine Gemeinschaft sein. Man rühmt heute zu¬
weilen an den Russen ihr kolonisatorisches Talent, weil sie dein fremden Volke
gegenüber keinen Rassenhochmut herauskehrten, ebenso bescheiden zu leben ver¬
stünden wie die Einheimischen und ihnen damit das politische Los leicht
machten. Freilich die Kolonisationsart der germanischen Holländer, Engländer,
Amerikaner, Deutschen und aller Mitläufer ist Herrenkolonisation. Eine untre
ist auch für uns Deutsche unmöglich. Nur der thörichte Engländerhaß kann
die Methode der Russen loben, die nur einige dürftige Nomadenvölker unter¬
worfen hat, gegenüber der germanischen Kolonisation, die fast den ganzen
übrigen Erdball beherrscht, eine Methode, die die Russen nnr darum üben,
weil sie zu der andern unfähig sind. Es giebt auch, von draußen angesehen,
kein deutsches, französisches, englisches Kolonisieren, sondern nur ein europäisches
in dem oben beschriebnen Wortsinn. Die europäischen Nationen draußen sind
nicht wie Hirsche, die um die Herrschaft miteinander kämpfen, sondern wie
Pferde, die in einer Bahn laufen.
So wie die Bruderkriege der Griechen uns im besten Fall als eine
schöne Tragödie mit Schuld'und Sühne auf beiden Seiten, nicht aber als
ein Glücksfall in der griechischen Geschichte erscheinen, so wird den spätern
Freunden der europäischen Geschichte der Neid der europäischen Völker um die
Tropenkolonien nur wie eine kurzsichtige Verirrung erscheinen. Zumal wir
Deutschen haben, so lange die Engländer uns die Thore ihrer Kolonien so
weit öffnen wie bisher, nicht das Recht und gar nicht das Interesse, sie zu
beneiden. Denn ohne diese Liberalität hätten wir zunächst nur einen geringen
Anteil
le dicken, übermütigen Pferdchen liefen wie besessen, der offne Wagen
schleuderte gelegentlich oder that einen kleinen Sprung, und der alte
Adam Jahr, der sonst immer in der Furcht lebte, die Racker würden
noch einmal teuer zu stehn kommen, indem sie Wagen und Geschirr
zerstörten und die Beine oder die Hälse brachen, fing an zu loben.
Ja, sagte er, die haben Feuer! Aber wenn du fährst, da sitzt
"a Wie in Abrahams Schoße. Wenn du die mal verkaufst, die mußt dn selber
vorführen, die hast du großartig in der Faust.
Der Schwiegersohn, ein breiter, behäbiger, dunkler Mann mit jovialem, rundem
Befiehl, lachte gutmütig und sagte: Ja, das verstehn wir! Hu du du!
Die Tiere hatten eine kurze Strecke zurückgelegt, vom Hof herunter, durch die
vein Hofthor beginnende Pappelallee, die hinab zur Landstraße führte, und jetzt die
Landstraße links herum, als die beiden Männer einen jungen Menschen quer durch
°le dahintraben sahen, in der Absicht, ihnen den Weg abzuschneiden. Er
^ef mit hängenden Armen, merkte bald, daß der Wagen sich dem Schnittpunkt allzu
Ichnell näherte, und verfiel nun in einen springenden Schritt, wobei er die linke
A""d fest ,inter die Brust drückte. Dabei lachte sein rundes, leicht gebräuntes
Befiehl, das er den beiden Männern zukehrte.
Als er den Graben erreicht hatte, der die Landstraße von den Feldern trennte,
Machte er halt, schwenkte den Hut und rief zum Wagen hinüber, während er lachend
^>es Atem rang: Glückliche Reise. Großvater! setzte sich aber gleich wieder in
^ab und lief, immer diesseits des Grabens, in der Fahrtrichtung mit. Denn der
^"gen war wohl herangekommen, aber den Vater faßte der Schalk, und er zügelte
^ Pferdchen nicht, ließ vielmehr die Leinen so gefährlich locker, daß sich die Tiere
vor Wonne schüttelten und wie die Wahnsinnigen davonstürzten.
^ Der alte Jahr schmunzelte und schrie mit aller Kraft seiner fünfundsiebzig
^cihre: Schönen Dank. Fritze!
Nun blieb der junge Murr zurück, machte aus seinen Händen ein Sprachrohr
und schmetterte jauchzend hinterdrein: Grüße — e — nu die schönen Mädchen in
Thüringen!
Der Großvater drehte sich um und winkte mit dem Arm. Wollen wir aus¬
richten! Eine Weile blieb er zurück gewandt sitzen, die Augen still auf den Enkel-
svhn gerichtet. Dann aber vergrößerte sich die Entfernung zu sehr, er setzte sich
wieder zurecht und sagte beredsam zum Schwiegersohn: Der ist dir wie aus deu
Auge» geschnitten, der Fritze. Das ist eine Freude, den Jungen zu sehen. Der
hat Gemüt. Ja, das hat der. Und Knochen hat der auch — he! — Das ist
wirklich eine große Freude, daß wir den Burschen haben.
Ja ja! antwortete der Schwiegersohn und nahm die Leinen kürzer. Aber er
wird ja wohl auch Fehler habe».
Na — wo sind denn die? ich weiß keine, führ der Alte auf. Na — ja —
du bist der Vater — du darfst deine .Kinder nicht rausstreichen — von dir stammen
die Kinder her. — Aber ich bin der Großvater, ich darf sie rausstreichen. —- Er
brach ab. Kucke da, hub er von neuem an, was der Frost für Schaden angericht
hat, machten, das ganze Feld sieht weiß. S' is ja freilich an der Zeit — aber
dennoch. — Krake da, wiederholte er, das ist ein Jammer mit den Bäumen, das
giebt einen Obstschaden — ja. Das ist wirklich ein Jammer.
Der Herbst war zuerst sommerlich mild gewesen, danach flau mit Regen oder
bedecktem Himmel; in der vergangnen Nacht aber war unvermutet Frost gekommen.
Die Bäume standen noch im vollen Schmuck ihrer grünen, regentriefenden Blätter,
als der Frost über sie herfiel. Das Doppelgewicht, das die Äste zu tragen be¬
kamen, war so schwer, daß viele herunterbrachen. Die andern hingen weit zur
Erde, mau hörte gelegentlich ein leises Ächzen, und es wurde noch manche Wunde
gerissen, bis am hohen Mittag die Sonne soweit zu .Kräften kam, daß sie ein wenig
von der Last heruutertnute. Jetzt, im Morgenwind, der den beiden Männern um
die Köpfe pfiff, klapperten die Blätter, als wären sie von Glas, und das bereiste
Erdreich mit Gras und Kräutern sah aus wie mit Zucker bestäubt.
Die Bahnstation war erreicht, das Fuhrwerk hielt, der alte Adam Jahr turnte
eilfertig herunter, rückte die breite Ledertasche zurecht, die er am Riemen über der
Achsel trug, faßte den Stock und lief los, als wolle er ohne Aufenthalt in sein
geliebtes Thüringer Land, das er vor fünfzig Jahren als ein junger Mensch ver¬
lassen hatte, hineinmarschieren. Doch ging die Reise vorerst nur bis auf den Bahn¬
steig, wo sich auch bald der Schwiegersohn zu ihm gesellte. Bald lief dann auch
der Zug ein, der Alte stieg in sein Coupee, und sein hagerer Kopf tauchte am
Fenster auf.
Und da am Fenster blieb der Mann und sah Landschaft um Landschaft vorüberziehn.
Vorläufig interessierte ihn der Frostbruch. Die Fahrt brachte ihn an Baum¬
gärten vorüber, die aussahen, als hätten die Baummannen einander eine Schlacht
geliefert, Äste und Wipfel hingen zerbrochen herab. Aber bald wurde der Ausblick
freundlicher, und um die Mittagszeit, als Halle erreicht war, da war nichts von
Frost und Reif mehr zu spüren, da regten die Bäume im schönsten Sonnenschein
ihre vollbelaubten Wipfel.
Adam Jahr war immer ein wortkarger Mensch gewesen und hatte auch da¬
mals, als er, ein stattlicher Bursch von fünfundzwanzig Jahren, in das gesegnete
Oderbruch hinüberheiratete, nicht viel Worte gemacht; heute jedoch floß er über
von Beredsamkeit; sein fahles, faltiges, scharf geschnittenes Gesicht belebte sich, seine
sonst ruhigen Augen blitzten beinahe übermütig. Und dann fuhr er, während er
sprach, gelegentlich einmal mit der Hand um Kinn und Wangen, und weil da seine
tastenden Finger keinem Bartstoppel begegneten, sondern glatt über die sauber
rasierte Fläche liefen, so war ihm das eine angenehme Erinnerung, daß heute
Feiertag sei, ein auserlesener Tag, den er doch wohl als einen Merktng sonder¬
gleichen betrachten mußte.
Jahns Leben zerfiel in zwei Teile, in die Zeit vor seiner Verheiratung und
in die Zeit nach seiner Verheiratung, und diese Teile waren um so schärfer von¬
einander geschieden, als sie sich in räumlich weit getrennten und landschaftlich un¬
gleichen Gegenden 'abgespielt hatten. Er war in Thüringen zwischen Berg und
Wald geboren und hatte ins platte Land in eine Wirtschaft des Oderbrnchs hinein¬
geheiratet — nicht zu seinem Schaden, denn er war heute ein reichbegüterter Mann.
Mit seiner Frau hatte er verträglich gehaust, seine einzige Tochter war gut ein¬
geschlagen, und mit dem Schwiegersohn hatte er das große Los gezogen. Und
dann die Enkel, gut gewachsen und gut geraten, zwei Jungen und ein Mädchen,
und von den Jungen der ältere schon verheiratet.
Jahr nahm den Hut vom Kopf und legte ihn neben sich auf die Bank, dann
faßte er nach dem Scheitel, ob der unversehrt geblieben sei, zog ein Würstchen
heraus und glättete die .haare. Dabei weidete sich seine Brust aus, und ein weh¬
mütig schalkhaftes Lächeln"erschien auf seinen Lippe». Er dachte an Thüringen! an
sein Thüringen! — an sein Thüringen, wo er jung gewesen war! Es zog ihm
ganz wunderbar durch den Sinn, als ob ihm einer ein Märchen erzählte, wie er
sich jetzt vorstellte, daß er einmal ein kleiner Junge gewesen sei, mit nackten Beinen
"ut kurzen .Höschen, und danach ein junger Bursch, der die eine nicht kriegte und
die andre nicht haben wollte. Seit zehn Jahren, wo er ins Altenteil gegangen
war, hatte der Gedanke an ihm gezogen: er wolle einmal in sein Heimatsörtchen
reisen, da die Wege und Stege sehen, die Berge, den Fichtenwald, die Saale und
deu grünen Wiesen. Er war auch neugierig, was ans seiner frühern Wirtschaft
geworden war. Und von Jahr zu Fahr wurden die Neugier und das Verlangen
stärker, bis ihn das richtige Heimweh packte.
Wenn er des Abends mit den Seinen bor der Hausthür saß, that er un¬
vermutet den Mund auf und fing an von Thüringen zu erzählen, von Beckmanns
Herbert, seinem besten Freunde, von der Alma vom Dietzel-Schmied aus Etzelmunde
und von des Tätschcrbäckers Tochter Priska. Mit stiller Neugier sprach er auch
Wohl einmal vom Pfeiff-Schneider.
Es war seiner Familie wohl bekannt, daß der Schneider Thomas Pfeiffer
um hinterlistiges, nichtsnutziges, rosthaariges Bengelchen gewesen war, das dem
Großvater zu mancher Züchtigung durch seine strenge Mutter verholfen hatte. Fast
immer war es ihm gelungen, was er selber verbrochen hatte, ans Adams Schultern
abzuwälzen Beinahe hätte er dann anch dessen Tod auf dem Gewissen gehabt.
Nach einer Prügelei, bei der er dem Adam die Jacke zerrissen hatte, jagte er ihn
mit Geschrei über die Saalwiesen vor sich her und erreichte richtig, daß Adam ^ahn,
aus Furcht vor dem, was Thomas noch anstiften könnte, nicht ans den Weg achtete
und mit zurückgewandtem Gesicht vorwärts lief. Und dann brach Thomas in
Elendes Gelächter ans - Adam Jahr war in die Saale gestürzt. Flößer zogen
den Knaben heraus, als er schon steif und kalt war und nur und Mühe wieder
ins Leben gerufen werden konnte. ,.
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, Auch späterhin, als junger Bursch, mochte er dem Großvater zu nah g trete
sein. Jahr sprach sich hierüber nicht ans; aber sein Groll saß tief K-r ging
weit, daß er einem Knecht abgeneigt war. nur weil er den Rufnamen seine» Fen des
führte. Ein Fohlen, das nicht einschlagen wollte, erhielt den Namen Thomas von
UM- Als es sich dann späterhin doch heransmachte. war der Alte beinahe mißmutig.
, So hatte er sich immer mehr in Jugenderinnerungen vertieft bis der Schwieger¬
sohn eines Tages gesagt hatte: Was hilft das alles, der Großvater fahrt eben mal hin
Die Großmutter hatte eine Familienreise daraus machen wolle«. Aber der
Schwiegersohn widersprach. Wie ein Wanderbursch, mit dem Ranze auf der
Schulter und dem Stab in der Hand, müsse der Großvater in seine alte Heimat
"nzichu. An jedem Berg, den er wieder erkenne. müsse er sich erst satt sehen, in
feder Ortschaft müsse er sich erst wieder zurecht finden, jede Veränderung müsse er
erst überwinden ohne daß ein andres Ange sehe, wie schwer es ihm falle.
Veränderungen? hatte der Alte aufhorchend gefragt.
Ja, da werde sich doch manches verändert haben; fünfzig Jahre seien ein
starker Zeitabschnitt. Er werde auch manchen nicht mehr antreffen.
Was das heißen solle? hatte der Alte aufbegehrt. Da ziehe keiner so leicht
fort, da aus den Bergen. Er war still geworden. Kann sein, hatte er hinzu¬
gesetzt, daß einer oder der andre unter der Zeit gestorben ist, von den ganzen
Alten . . . leichte der Dietzel-Schmied . . . oder der Tätscherbäcker... ja . . . das
kann schon sein. . .
Der Schwiegersohn hatte abgelenkt. Sie hätten ja da auch eine Eisenbahn
gebaut, die längs der Saale laufe. Das verändre doch auch viel an der Gegend
und weise auch dem Handel und Wandel andre Bahnen.
Freilich! freilich! hatte der Alte gesagt. Na man muß abwarten, man findt
sich schon wieder nein. —
An dieses Gespräch dachte Adam Jahr, wahrend der Zug ihn immer weiter
führte. Er holte seine kurze Pfeife aus der Seitentasche, stopfte sie, brannte
sie an und quälende vor sich hin. Auf den letzten Stationen hatten die Mit¬
fahrenden gewechselt, sodaß sein Schweigen nach der vorherigen Beredsamkeit nicht
auffiel. Denn er saß nun wieder, schaute in die Landschaft hinaus und wehrte
seinen Gedanken nicht, die in die Vergangenheit zurückkehrten.
Verwandte faud er keine in der alten Heimat vor. Seine Mutter, die zeitig
Witfrau geworden war, hatte das Zeitliche gesegnet, als er zweiundzwanzig Jahre
alt geworden war. Mit zweiundzwanzig Jahren war er sein eigner Herr auf dem
Hofe gewesen.
Er dachte an Herbert Beckmann, seinen Freund. Sie hatten als Kinder mit¬
einander gespielt, waren zusammen zur Schule gegangen und hatten sich in dasselbe
Mädchen verliebt. — Sie hatten einander um die Dämmerzeit auf dem Weg nach
Etzelmüude getroffen, wo der Dietzel-Schmied wohnte. — Erst fielen nur Worte
zwischen den beiden heiß blickenden Burschen — dann kam es unversehens zu
Thätlichkeiten — und plötzlich schnappten die Messer. Es war ein Wunder, daß
keiner auf dem Platz geblieben war. — Heute begriff der alte Jahr nicht, daß
er um ein Mädchen seine heilen Glieder hatte wagen können.
Das war um die Alma, dachte er.
Alma Dietzel hatte den beiden Burschen die Köpfe heiß gemacht. Es kam
aber schließlich heraus, daß sie einen ganz andern in ihr Herz geschlossen hatte,
gerade den, der den Adam Jahr, als dieser ein zwölfjähriger Knabe gewesen war,
in die Saale gejagt hatte.
Um diese Zeit lernte Jahr seine spätere Frau keimen, und da ihm die Heimat
verleidet war, so entschloß er sich kurz, verkaufte seine Wirtschaft und siedelte um.
Als er aus der Heimat wegfuhr, der Ort hieß Seitengoschen, und auf Göschen
zukam, das eine halbe Stunde unterhalb liegt, zog ein sonderbares Gefährt vor
ihm her, ein kleiner Kastenwagen, vor den ein Mädchen gespannt war. Im Wagen
aufrecht stand eine schöne braun und weißgefleckte Ziege.
Da er in vollem Trab Heranfuhr, drehte das Mädchen den Kopf, ließ die
Deichsel fallen und schlüpfte aus der Schlinge, die ihr schräg über die Achsel lief.
Hatjeh, Priska! rief ihr Jahr hinüber.
Hatjeh, Adam!
Er brachte die Pferde zum Stehn; sie trat unsicher heran, reichte ihm die
Hand und sah thu an mit ihren guten blauen Augen, die voll bitterer Thränen
standen. Und als er weiter fuhr und nach einer Weile zurücksah, stand sie noch
immer auf dem alten Platz und hatte ihre Schürze vor ihr Antlitz geschlagen.
Jahre gingen dahin. Allmählich gelang es ihm, sich an die neue Wirtschaft
zu gewöhnen. Es wurde ihm nicht leicht, denn die alte lag ihm zu sehr im Sinn,
seine ererbte, auf der er noch hätte sitzen können, wenn Alma Dietzel ihm nicht den
Pfeiff-Schneider vorgezogen hätte.--
Der alte Mann im Conpee rauchte nicht mehr, die Pfeife hing kalt im Mund¬
winkel, und er rutschte unruhig ans seinem Platze hin und her. Die Bergzüge zu
beiden Seiten des Weges wurden höher und rückten dichter heran. Da trat Fels
zu Tage. — Da war der Fluß. — Da tauchten Wiesen auf — steil ansteigende
Felder — und Fichtenwald in weiter schwarzer Flucht — bergauf — bergab. —
Das war Thüringen' — sein .Heimatland! Er steckte die Pfeife in die Seiten¬
tasche, schneuzte sich mit zitternden Händen und rieb an seinen Augen, er wußte
nicht, warum.
Ein paar Stationen weiter stieg er aus, hängte seine Ledertasche über die
Achsel, faßte den Stock, fragte der Vorsorge halber. Wo der Weg nach Goschen
führe, und schritt rüstig dem Bescheide gemäß aus. Hierbei mußte er sich dann
freilich sagen, daß sich'doch viel an Weg und Ortschaft verändert habe in den
vielen Jahren seiner Abwesenheit. Aber die Berge waren die alten geblieben, wie
der Fluß und die ertragreiche Ackerkrume. Und der blaue Himmel und die liebe
Sonne. Denn hier grünte es und duftete es, als ob noch Sommerzeit wäre, die
hochstämmigen Rosen standen voller Blüten, und es hatte noch kein Frost an ihre
Farbenpracht gerührt.
^^^,
So recht für die Sommerfreude und die Wiedersehensfreude gemacht schien
dem alten Wandersmann die hochzeitliche Ehrenpforte von vier schlanken Fichte»,
die in der Hauptstraße des Orts, zu dem die Station gehörte, errichtet war. Der
Brautwngen hielt vor der Thür. Unter Lachen und Jauchzen ging das junge
Volk daran, den Hochzeitskranz der Kranzwindermädchen von seinem Platz zwischen
den ersten Stämmen der Ehrenpforte herabzunehmen und hinten an dem zuruct-
neschlagneu Kutscheuverdeck zu befestigen. Da bildete er mit seiner breiten rosa¬
farbnen Atlasschärpe den prächtigen Abschluß einer Guirlande, die in reichen Bogen
den Wagen umschlang. . „ . ...
^^Die jungen Eheleute traten aus dem Hanse, die Frau in sonntäglichem Ge¬
wände, der Mann im Hvchzeitsstaat, dem schwarzen Rock mit weißer Kravatte und
mit dem Cylinder auf dem Haupt.
Zu den Brautleuten in den Wagen schlüpfte eine lachlustige, durchtriebne Frau,
die das Puppenwickelkind auf ihrem Schoße hielt, in einem feiuverzierten Trage¬
kissen mit dem Erstlingszeug, mit Hemdchen, Jäckchen und Mützchen angethan, em
Puppenkind, das das junge Ehepaar daran erinnern sollte, sich der Elternfrende
bald zu befleißigen, und zwar der Frende an einem Knaben ; so deutete der blaue
^^"
DnFührerdesWagens, einem schneidigen Burschen, steckte ein Sträußchen
mit flatternden Seidenbändern am Hut. Lange, bunte. lustig tanzende Seidenbänder
waren an der Peitschenspitze eingeschlungen. Über des Burschen Rücken blas e
sich ein seidnes Tuch in feinen bunten Farben, das vorn am Rockaufschlag fest¬
gesteckt war. .
Dem Brautwagen folgte der Wagen mit den Gästen g^ßer Leiterwag^en
N"t zwei längsseits angebrachten langen bretternen Sitzreihen. Den Beschluß machte
das Fuhrwerk mit Hausrat und Hochzeitsgeschcuken. - ^ ^ .
< Hier sah man stürzen und Gefäße für die Wäsche Wagen und Badewann
für das künftige Kindchen, das Spinnrad, um dessen dicken F-lachswocken em leucht ud
wees Wockenband geschlungen und mit allerlei Zieruadelu. die Blumen und Täubchen
vorstellten, festgesteckt war. Alles sorglich aufgestellt, sodaß nichts übersehen werden
konnte, und vorn auf einer Unterlage von Brettern die breiten prall gestopften
Betten. Die Wohnung des jungen Ehepaars mochte schon eingerichtet sem, denn
die Möbel fehlten die aufrecht stehenden Schränke, die Tische und Stühle und das
Kanapee, das man hinten quer über den Wagen stellte, und auf dessen Polstern die
Hütejungen der Möbelfuhre mit rückwärts herabbcmmeluden Beinen zu sitzen pflegten.
Mit Jauchzen und (Gelärm setzte sich der Zug in Bewegung. Weithin klingende
Jauchzer drangen zu dem Wandersmann hinauf, der rüstig fürbaß geschritten war
und jetzt die Wegsteiguug schon überwunden hatte. Hoch oben am Bergabsturz
ueben dem Wege, den er einhielt, klar gegen den lichten Himmel gestellt, standen
drei junge Birkenstämmchen mit wenigen rotgoldigen Blättern, die unruhig, vom
Sonnenschein durchleuchtet, wie winzige Fähnchen von Rauschgold winkten.
Jahr war zur Seite getreten und wartete, um den Hochzeitseinzug vorüber zu
lassen. Hufschlag drang zu ihm herauf, helltönend das Lachen von Männer- und
Frauenstimmen. Dazwischen wieder der Juchzer! der Juchzer! Wie ein Weckruf
zog er daher aus jenen Tagen, die vor den letztverflossenen fünfzig Jahren lagen.
Jahr kniff die alten Augen zwinkernd zu, und stockend, als probiere er nur,
löste auch ihm sich ein Juchzer in der Kehle. Ganz sacht stieg er herauf, ein
gestammeltes, kaum hörbares Juuhh-Hu-Hu-Huhhh, das in der wunderbaren weichen
Herbstluft verklang, ohne eines Menschen Ohr erreicht zu haben.
Und dann rollte der Zug an ihm vorüber, während er seinen Hut vom
Kopfe nahm. Der buntumwundne Brcmtwagen mit Kranz- und Bänderschmuck,
darin das aufrechtsitzende Brautpaar und die neckende junge Frau mit der Wickel¬
puppe; vorn der stattliche Führer mit dem tanzenden Bänderschmuck an Hut und
Peitsche und dem wehenden Seidentuche, danach der Wagen mit den jauchzenden
und lärmenden Gästen und zuletzt die Fuhre mit Spinnrad und Kinderwagen und
den aufgeschichtete» Bettstückeu mit ihren prallsitzcnden, zweifarbigen Überzügen —
alles vom wärmsten Sonnenschein umflossen und umstrahlt und verschönt. Und
zur Seite der rötliche Bergsturz mit seineu Birkeustämmchen, die ihre Fähnlein von
Rauschgold schwenkten, und unten im Thal zwischen grünen Wiesen der rauschende,
Wie von silbernen Schuppen bedeckte Wasserlauf der Saale, mit seinem Scmmbesatz
von grauen Weidenbüschen, und drüben der lang hinlaufende Vergzug, und zwischen
deu einzelnen fichtengekröuten Gipfeln hindurch tugend, als seien sie mit feinem
grauen Schleier verhängt, die Häupter ferner Höhenzüge.
Der alte Jahr stand und starrte hinterdrein und blickte umher. Wehrlos und
schwach wie ein ganz altes Männchen machte ihn die Wiedersehensfreude, und doch
auch so stark, als sänken fünfzig Jahre von ihm ab, und er sei wieder der junge
Bursch mit den straffen Beinen, dem gehobnen Nacken und der breiten Brust, die
sich heranswölbte.
Er holte sein Pfeiflein hervor und stopfte es. Dann that er ein paar Züge,
mußte den Pfeifenkopf aber festhalten, weil seine Lippen zitterten. Ans seinen
Augen rannen Thränen über die faltigen Wangen, in seiner Kehle gluckste es, als
wolle sich ein Bach erschließen. Und dann rückte er die Tasche zurecht, schwang
den Stock und marschierte weiter und brummte aus dem einen Mundwinkel etwas
wie eine Melodie, während ihm im andern die Pfeife hing. Er hätte mit der
Bahn bis Goschen fahren können, war aber ein paar Stationen vorher ausgestiegen;
denn er wollte zu Fuß, wie der Schwiegersohn geraten hatte, seinen Einzug halten.
Wenn bei der Biegung des Wegs ein neuer Bergzug auftauchte, faßte der alte
Jahr an den Hutrand und grüßte hinüber, und ihm fiel allerlei ein, was ihn in
frühern Tagen hier die Straße herauf geführt hatte.
Hinter ihm, vor ihm versperrten ferne duftige Bergzüge die Landschaft, die
sich unversehens doch wieder aufthat. Der Weg senkte sich zu Thal und mündete
in eine Ortschaft ein.
Als der alte Jahr vor einem der netten lichten Häuser mitten im Dorf die
hochzeitliche Ehrenpforte aufgepflanzt sah, verging ihm die Wanderlust, und er be¬
schloß Rasttag zu machen, gleich dem Hochzeitseinzug, der hier sein Ziel gefunden
hatte; denn hier wehten über den Kranz der Krnnzbindcrmädchen die brandroten
Atlasbänder des Bräutigams hernieder, und zur Seite standen noch die geschmückte
Brautkutsche und die beiden andern Wagen, die die Gäste und das Wirtschafts¬
zeug hergebracht hatte. Dem Hochzeitshans gegenüber aber lag ein Gasthaus,
das ihm von früherer Zeit her in Erinnerung war. Freilich, den alten Wirt, der
damals schon ein Mann in reifen Jahren gewesen war, den würde er heute kumm
noch antreffen.
Er trat ein und bestellte Speise und Trank. Mit der Wirtin ließ er sich
wohlaufgeränmt sogleich in ein Gespräch ein, ob sie in Goschen und Seitengoschen
und in Etzelmünde bekannt sei.
Jawohl, das sei sie, antwortete die Frau und zog einen Stuhl unter dem
^-M) herdor, um sich niederzusetzen. Als er dann aber von seinen Leuten be¬
gann, stand sie wieder auf und versetzte sorglos lächelnd: Wer weiß auch, ob die
noch am Lebe» sind!
Der alte Jahr hatte auch sonst kein Glück mit seinen Erkundigungen gehabt,
sobald er unterwegs von einem Mitreisenden die vertraute thüringische Mund¬
art hörte, hatte er nach seinem Hcimntsörtchen gefragt; aber der eine wußte
von dem Bezirk überhaupt nichts, der andre wieder kannte Goschen und Seiten¬
goschen nur, weil ihn der Weg einmal vorübergeführt hatte, wieder ein andrer
wunde notdürftig Auskunft geben: ja, er war schon in Goschen gewesen, zu einer
^Milch. Als Jahu dann nach dem Tätscherbäcker fragte, der in Goschen seine
Ortschaft hatte, wußte der Mann ihm nichts zu erzählen.
, Und so hatte Jahr nun selbst erzählt, daß der Tätscherbäcker, als seiue Frau mit
einem kleinen Mädchen in Wochen gelegen sei, das dann Priska getauft wurde, denen,
die ihn gefragt hatten, was er seiner Wöchnerin denn Gutes koche, sorglos ge¬
antwortet habe, er habe Tätscher gebacken. Dafür sei ihm der Name Tätscherbäcker
aufgelegt worden, sodaß sein wirklicher Name, der Adler gelautet habe, fast in Ver¬
gessenheit geraten sei.
^»ahn sah mit Kennerblick die Ehrenpforte an, die vier schlanken im Viereck
Aufgepflanzten Fichtenstämme, die von Stamm zu Stamm geführte mit Blumen
onrchflochtene Guirlande, und in der Mitte frei herabhängend des Bräutigams Hoch-
Mtskrcmz, mit dunkelrotem Atlnsband in Zacken besteckt und von frei herabwehendeu.
vreüen roten Atlasbänderu umflattert.
Als der Imbiß aufgetragen war, fuhr ein offner Wagen mit zwei wohlge¬
nährten jungen Pferden vor. Die Fran hielt die Leinen, während der Mann
Menllief und mit dem Wirt um einen Kuhlaus unterhandelte, über den die beiden
Männer so schnell nicht einig wurden. Nun war es sonderbar, mit anzusehen, wie
"Aar paar Minuten die Fran einen Boten ins Hans schickte, ihr Mann solle kommen,
und wie dann der Mann bis auf die Schwelle lief und ihr durch Winken klar zu
machen suchte, das Geschäft sei noch nicht abgewickelt.
Wer ist denn der? fragte Jahr die Wirtin, die wieder in der Stube war.
Das is der reiche Schuuke aus Wißberg.
Und die Frau — von wo stammt deun die?
Die war zuvor mit den dicken Bork aus Rasch verheirat.
Hin . . . machte Jahr.
Er mußte immer wieder nach dem Wagen hinaussehen, wie die Frau ihren
^carm turbierte. Und an dem Mann fiel ihm eine Verschlagenheit auf, als sähe
°er wohl, wo er bleibe. Er war lang und hatte einen krummen Nacken; die Frau,
mittelgroß, war sehr in die Breite gegangen. Sie hatte einen großen, flachen
->crut, der eingekniffen war, als sei sie immerwährend unzufrieden und bereit auf¬
zutrumpfen.
Es kam noch ein Mann in mittlern Jahren dazu und stieg auf den Wagen.
. le Frau gab ihm die Leinen und verlangte, er solle zufahren. Aber der Mann
laß mißmutig, wartete auf den Vater und rief den Männern zu, die Mutter wolle
U"de mehr warten. Unter bösen Worten und Blicken von der Frau ging endlich
^e Fahrt von statten. Der Mann that kaltblütig, aus dem Sohn fuhr die Wut
«eraus, daß er wild in die Pferde hieb.
Hin . . . machte Jahr. Ihm ging seine Familie durch den Sinn, seine Fran,
die ruhig und verständig ihr Tagewerk vollbrachte, seiue Tochter, die ja auch gern
mehr Worte machte, als nötig waren, aber doch immer in erlaubten Grenzen blieb,
der Schwiegersohn und die Enkelkinder. Sein ganzes Hauswesen war vernünftig
eingerichtet und gut geführt, Zank und Streit standen nicht auf der Tagesordnung.
Er trat vor die Thür und ging durch den Ort. Es war nun schon ein
wenig dämmerig geworden, und dus rege Leben um Feierabend hatte begonnen.
Quer durch das Dorf floß ein Bach. An der Pumpe mitten im Dorf sah
er Frauen mit ihren Blechbutten zum Wasserholen. Aber so eilig sie es hatten,
so verweilten sie doch ein wenig und schwatzten miteinander. Andre kamen mit
dem hochgeladnen Holzkorb aus der Heide dahergeschritten und blieben gleichfalls
stehn. Kiuder spielten auf der Gasse und hockten vor den Thüren. Aber die ganz
Kleinen wurden im Mantel getragen, von dem Großvater oder der Großmutter, die
solchergestalt Rasttag hielten, oder von der Mutter auf einem Gang zum Kaufmann.
Jahr war sacht hinausgekommen. An Stelle der Häuser breiteten sich nun
wieder Felder und Wiesen im Saalthal aus- Die Dämmerung war schnell in
Dunkelheit übergegangen.
Über den Mond, der im ersten Viertel stand, wölbte sich ein breiter, weiß-
lenchtender, durchsichtiger Reifen, der unten auf kleine weißflockige Wolken stieß, die
ihn zu tragen schienen. Nun sah es aus, als sei das himmlische Licht von einem
halbrunden, weiten, fremdartigen Fensterrahmen umgeben. Der schwarzblaue Himmel
schloß sich an, reich mit Sternen bedeckt.
Jahr kehrte endlich um und ging heim.
Dicht vor ihm her schritt ein Mann mit einer Ladung Stamme auf der Achsel.
Wenig Schritte noch, dann warf der Mann ab und setzte sich auf die Barriere
zur Seite des Weges, um auszuruhen. Die Chaussee war dem diesseitige» Höhen¬
zug abgewonnen worden, lief aber nicht immer am Fuß der Berge dahin, hob und
senkte sich vielmehr mit den ansteigenden Hängen. streckenweis war sogar durch
Sprengung der Felspartien Raum geschafft worden, sodaß das Rotliegende zu
Tage trat.
Jahr gesellte sich dem andern zu, sagte vor ihm stehn bleibend, daß er ein
geborner Thüringer sei, der weit fort in das flache Land hinunter geheiratet habe
und jetzt gekommen sei, um sein Heimatland wieder zu sehen. Dann sprach er eifrig
von der Feldarbeit, wie bequem er das in seiner neuen Heimat habe, die platt
wie ein Tisch sei, und lvie mühselig es dagegen hier von statten gehe. Er habe
in seiner alten Wirtschaft in Seitengoschen einen Berg gehabt, den er ausschließlich
mit der Hacke habe beackern müssen, so unzugänglich habe das Land gelegen. Alles
habe auf dem Rücken hinauf und herab gebracht werden müssen. Ob er bekannt in
Seitengoschen sei?
Das sei er uicht, antwortete der Mann.
Jahr erzählte vom Hochzeitseinzug, den er getroffen habe; er habe schmerzlich
die alte thüringische Tracht vermißt.
Ja, sagte der Mann darauf, das ist nicht nach der Mode. Er besann sich
noch gut. Seine Mutter hatte auch noch den breitkragigen, schwarzen Tuchmantel
und die prächtig bebänderte, thüringische Haube getragen. Jetzt liegt das in Kasten,
das ist nicht merre wichtig.
Und nun wunderte sich Jahr, daß er so wenig alte Leute getroffen habe, so
die ganz alten von sechsundachtzig Jahren etwa.
Die sterben wäg, sagte der Mann.
Auch eigentlich keine achtzigjähriger und siebzigjährigen mehr.
Ja, die sterben auch wäg.
Der Mann trug über dem Hemd eine dunkle Wolljacke, er hatte einen langen
roten Bart und ein verwittertes Gesicht.
Wie alt er denn sei, fragte Jahr.
Sechzig gewasen. Er blickte frohgemut vor sich hin, streckte sich und sagte:
Mai muß machen, daß ma han kommt. Dabei begann er aufzuhucken, wobei Jcchu
ihm half.
Vor dem Kochzeitshans standen die Leute Kopf bei Kopf und guckten durch
die Fenster in die Stube, wo getafelt wurde. Die jungen Bursche flüsterten den
Mädchen Schalkereien zu, über die Geschrei und Gelächter entstand. Die Mädchen
hatten sich untergefaßt, als halte sich eine an der andern, und bildeten so eine Kette,
hinter der die Burschen sich aufgepflanzt hatten. Trotz der anzüglichen Worte und
der gelegentlichen Anfschreie ging es gesittet her.
(Fortsetzung folgt)
Seit der Restauration des Katholi¬
zismus in der ^eit der Romantik sind alle Versuche erleuchteter und wohlmeinender
Katholiken, ihre"Kirche ein wenig zu reformieren, nach folgendem Schema verlaufen.
Dem ersten Worte der Kritik, das sie aussprachen, jubelten alle nichtkatholischen
Preßstimmen zu die Zivnswttchter erklärten die Kritik und den Reformvorschlag für
Rebellion für einen Angriff auf die Kirche, und das Volk sagte sich schon selbst,
noch ehe es ihm seine ultramontanen Führer gesagt hatten: Der Mann den. die
..Protestanten. Juden nud Freimaurer" beistimmen. ist sicherlich e.n Kirchenfeind.
Der Reformer sah sich darum immer bald vor die Wahl gestellt, ob er widerrufen
oder die Kirche verlassen wollte. Dank den in der Besprechung Von Ehrhards Buch
"" 27. Heft angedeuteten Umständen dürfte Von den heutigen Refonnkatholiken
keiner auf diese grausame Probe gestellt werden, am wenigsten Ehrhard. Er hat
s'es in dem soeben bei Jos. Roth in Stuttgart und Wien erschienenen Buche:
-Liberaler Katholizismus? Ein Wort an meine Kritiker." mit diesen aus¬
einandergesetzt. Man sieht aus seiner Antikritik, daß ihm der Beifall der politisch
Liberalen und wie sie ihn, als „liberalen Katholiken," halb und halb zu den Ihrigen
rechnen, äußerst peinlich ist. und er verwahrt sich ans das feierlichste dagegen, dem
.edeln Dulder" Mus IX. zu nahe getreten zu sein (wir möchten wisse», was der
S" dulden gehabt hat!), aber er behauptet tapfer seinen einmal eingenommen.en Stand¬
punkt, und el» k rak indes Disziplinarverfahren ist trotzdem weder gegen ihn ein¬
geleitet Ivorde» noch wiri das w Zukunft geschehn. Von den Kritikern erwähnen
wir nur. daß sich der Redemptorist Rösler (in. Vaterland) vor den andern dnrch
Verbohrtheit und Fanatismus auszeichnet, daß die Kntike» der beide» Jesu. »
Mötzer und Duhr nach Ehrhards Urteil ..weitaus die wohl.vollendsten u d g -
rechtesten" sind, und daß es die meisten übrigen Kritiker namentlich an Loyalität
"ut Ehrlichkeit fehlen lassen. Die einzelnen Kontroversen interessieren ^Wir wollen die Gelegenheit nnr wieder dazu venntzen sowohl den Protestanten
wie den Katholiken je ein Meditationsthema vorzulegen das geeignet se, d Be ¬
endigung anzubahnen. Eine der Kontroversen des Buches dr^t sub um d
dogmatische B de.itung des Syllabus. die uns natürlich gleuhgiltig ist aber über
die geschichtliche Rolle, die er gespielt hat. ist ein Wort zu sagen. S ne Ver-
üffentlichung ist linker den vielen thörichten Handlungen des bigotte. Pu s keine
der gescheiteste., gewesen, aber das wütende Geschrei, das die mchttatholische We t
darüber erhoben hat. war unbegründet. und wenn man heute noch mit dem Syl¬
labus beweise» zu können glaubt, daß Rom ein Monstrum sei so tauscht man sich.
Bekanntlich ist dieses Aktenstück eine Zusammenstellung von Sätzen, die die Kurie
bei Verschieden Gelegenheiten verworfen hatte; welche Ansicht wahr sei. die der z»r
Häresie gestempelten Behauptung entgegengesetzt ist, wird nicht gesagt, und die meisten
dieser Sätze haben mehr als ein Gegenteil. Gerade die vier berüchtigtsten Sätze
nun sind oder vielmehr ihre Verwerfung ist ganz harmlos, wie die Übersetzungen
ins nichtkatholische, die wir dahinter einklammern, schlagend darthun. 1. In unsrer
Zeit ist es nicht mehr zuträglich, daß die katholische Religion mit Ausschluß aller
übrigen als einzige Staatsreligion gelte. (In unsrer Zeit ist es nicht mehr zu¬
träglich, daß die lutherische Religion in Sachsen, Braunschweig und Mecklenburg
als Staatsreligion gilt.) 2. Darum ist es zu loben, daß in gewissen katholischen
Ländern den Einwandrern andrer Religionen erlaubt wird, ihren Kultus öffent¬
lich auszuüben. (Darum wäre es zu loben, wenn die genannten drei Staaten den
Katholiken die unbeschränkte öffentliche Ausübung ihres Kultus erlauben.) 3. Denn
es ist falsch, daß die gesetzlich anerkannte Freiheit eines jeden, jede beliebige Meinung
öffentlich auszusprechen, die Sitten und Gesinnungen der Völker verderbe. (Denn
es ist ein Irrtum, zu glauben, daß die Freiheit, den Sozialismus, Anarchismus
und alle beliebigen Sekteulehren öffentlich zu verbreiten, irgend welchen Schaden
anrichte.) 4. Der römische Papst kann und soll sich mit dem Fortschritt, mit dem
Liberalismus und mit der modernen Bildung aussöhnen und verständigen. (Die
preußische Regierung und die Kreuzzeitung können und sollen sich mit Eugen Richter,
mit Bebel, mit Häckel und Nietzsche aussöhnen und verständigen. Daß im Syllabus
weder der technische Fortschritt noch die moderne Schulbildung gemeint sein kann,
geht daraus hervor, daß die Katholiken unter Führung ihrer geistlichen Häupter
soviel Gebrauch davon machen, als sie nur irgend können.) — Nun etwas für die
Katholiken! Einer von Ehrhards Kritikern schreibt: „Statt der kleinlauten Auf¬
forderung, sich selbst zu prüfen, hätte E., wenn er etwas leisten wollte, lant und
offen den Ruf an die Protestnuten richten sollen, zur Mutter aller Christen, zur
heiligen katholischen Kirche zurückzukehren." Welche Verblendung, sich einzubilden,
es werde mich nur ein einziger verständiger Protestant der Einladung zum Ein¬
tritt in eine Kirche folgen, die solche Früchte zeitigt, wie wir sie in den romanischen
Ländern und in Österreich reifen sehen! Der katholischen Kirche als einer gro߬
artigen Institution, die gewaltige Aufgaben gelöst und dabei, wie es das Schicksal
menschlicher Institutionen zu sein pflegt, im Guten wie im Bösen Großes voll¬
bracht hat, weigern wir die geziemende Ehrfurcht nicht; aber wenn sie sich heute
als Retterin aus sozialen und politischen Nöten empfiehlt, so macht sie sich lächer¬
lich, und wenn sie uns gar die Gnade Gottes und das ewige Leben verbürgen
will, begeht sie Gotteslästerung; daß sie, wo ihre Geistlichen ihre Schuldigkeit thun,
die Wahrheiten, Tröstungen und nützlichen Übungen, die uns zur Gnade Gottes
und zum ewigen Leben verhelfen können, ebenso wirksam vermittelt wie die übrigen
Kirchen und Sekten, bestreiten wir ihr nicht.
Zwei Gründe bestimmen uns, an dieser Stelle das vor kurzem erschienene
Buch eines evangelischen Verfassers zu erwähnen: Materialien zum Verständnis
und zur Kritik des katholischen Sozialismus von Ine. tksol. G. Traub.
(Zweites Heft der von I. F. Lehmnnns Verlag in München herausgegebnen
Sammlung: Geschichtswahrheiten; zwanglose Hefte zur Aufklärung über konfessionelle
Zeit- und Streitfragen.) Der Verfasser stellt die katholische Gesellschaftslehre dar,
deren Großartigkeit, Harmonie und Geschlossenheit er anerkennt, kritisiert sie und
berichtet sodann über einige geschichtliche Dokumente (Schriften von Ketteler und
Hitze, die Schulen von Angers und Lüttich, die päpstlichen Enzykliker) und über
die sozialen Organisationen der Katholiken (Gesellen-, Arbeiter-, Bauern-, Gewerk-
vereine). Einmal bedeutet die Schrift einen Schritt zur Verständigung von pro¬
testantischer Seite; dann aber ladet sie zu einem Blick auf die sozialen Zustände der
katholischen Länder ein, der sofort davon überzeugt, wie eitel der Anspruch der
Kurie ist, die Völker retten zu wollen; sie kann froh sein, wenn sie selbst von den
Völkern, nicht am wenigsten von den protestantischen, ans der Falle, in der sie
sich selbst gefangen hat, erlöst wird. Die katholische Kirche hat die schönste soziale
Theorie, aber die katholischen Völker üben die elendeste soziale Praxis. Wenn die
Werke der Barmherzigkeit gezählt lind gemessen werden könnten, so würde sich
vielleicht für die katholischen Völker, dank ihren charitativen Klosterorden, ein Über¬
schuß ergeben, und die Thätigkeit der modernen katholischen Sozialpolitiker und
Organisationen verdient die höchste Anerkennung, Aber diese moderne Svzial-
thätigkeit blüht doch vorzugsweise in Deutschland, wo die protestantische Konkurrenz
dazu nötigt und die Wechselwirkung mit dem protestantischen Geistesleben und einer
guten Staatsverwaltung sie fördert, in den katholischen Ländern aber fehlt es gänz¬
lich an dem, was besser ist als Barmherzigkeit, an einer vernünftigen Staats- und
Gesellschaftsordnung. die der Entstehung des Elends vorbeugt. Leo XIII. redet
und schreibt so unendlich viel, aber nie hat er ein Wort gesagt gegen die Greuel
der Kiuderausbeutnng, die, wie die weltbekannten Zustände in den sizilianischen
Schwefelgrnben und die Schriften des Staatsanwalts Zerrinntbeweisen, heute in
Italien beinahe schlimmer sind, als sie vor achtzig Jahren in England waren. In
so rohem Aberglauben wird doch kein katholischer Theologe mehr befangen sein,
daß er sich einbildete, die priesterliche Absolution könne einen Menschen von der
Hülle in seinem Innern befreien (und eine andre Hölle, als die sich die verdorbne
Seele selbst bereitet, giebt es nicht),, die notwendigerweise mit einem Menschen
heranwächst, der seine Kindheit unter 'beständigen Mißhandlungen in einer physisch
und moralisch verpesteten Atmosphäre verbracht hat. Weit entfernt davon nun,
eine katholische Bewegung zu begünstigen, die im Vnnde mit der sozialdemokratischen
diesem Verderb vou Millionen italienischer Leiber und Seelen gesteuert habe»
würde, hat die Kurie diese katholisch-demokratische Bewegung unterdrückt, weil sie
will, daß alle Kräfte der katholisch gesinnten unter den Italienern (welches Zeugnis
!^gen das Papsttum liegt schon darin, daß die nnr eine schwache Minderheit sind!)
auf die Wiederherstellung des Kirchenstaats verwendet werden sollen. (Tranb
S. 114 bis 115.) Also die Befriedigung eines ganz uuevangelischeu Herrschafts¬
auspruchs, die als vorübergehende geschichtliche Notwendigkeit seinerzeit verziehn
werden konnte, heute aber unverzeihlich ist, bleibt auch dem gegenwärtigen Papste
die Hauptsache; das Verderbe» von Millionen Leibern und Seelen seiner Landes¬
kinder rührt thu nicht, der sich einbildet, der Vertreter Jesu von Nazareth zu sein!
Diese einzige Thatsache sollte doch eigentlich genügen, denkende Katholiken von ihrem
dugmatischen Wahne zu heilen, sie bescheiden von ihrer Kirche denken zu lehren
und zur Verständigung mit den Protestanten geneigt zu machen.
Vor kurzem ist Freiherr vou Wechmar in der
Täglichen Rundschau energisch für den Train eingetreten. Er ist der Ansicht daß in
«"serm militärischen Leben der Grundsatz: gleiche Pflichten — gleiche Rechte dem
Train gegenüber nicht immer befolgt werde. Zugehen muß man ihm allerdings,
d"ß die Versetzung des Gnmbinner Artilleristen in das zweite Trainbataillon, eine
der unerfreulichen Begleiterscheiniiugen. wie sie das Abschiedsliebesmahl des Ober¬
leutnants .Mdebrandt'zeitigte, von dem gesamten Train, der ohnedies durch die
viele» Einfchübe schon etwas nervös geworden ist. unangenehm empfunden wird
Bekanntlich erhielte.: die vier ältern beteiligten Herren den Abschied der Leutnant
ist „mit der Versetzung zum Trnin davongekommen." wie es in den Zeitungen hieß.
Schön klingt das la nicht, aber deswegen braucht man noch nicht „armer ^rat»!
SU rufen, wie das v. W. thut. Wen« mancher stolze Grenadier oft aus seu.er
schien Garnison zur hohen Hausnummer »ach Lothringens oder Westpre.ißeus
Gefilden abgerufen wird und den Haarbusch einpacken muß - schreit kein Mensch:
arme Lothringer, arme hohe Nummer. denn des Königs Rock trägt der Versetzte
auch da mit Ehren weiter. Aber beim Train soll die Sache anders sein. Herr
v- W. erwähnt z B. den Tschako, den die Traimnannschaften tragen. Es ist genau
das Modell des Jägcrtschakos; bei den Jägern findet ihn kein Mensch unschön,
aber beim Trciin heißt es: Seht nur den scheußlichen Cylinder, den die Leute aus¬
sahen! Wenn sich v. W. wundert, daß der oberste Kriegsherr die Trainnniform
nicht anlegt, so müßte er sich ebenso darüber aufhalten, daß man von einem An¬
legen der Pionier- oder der Luftschiffernniform auch noch nichts gehört hat. Es
wird immer und überall so sein, daß die Ehre und der Ruhm zunächst der
kämpfenden oder für den unmittelbaren Kampf in Betracht kommenden Truppe
gehört, also der Infanterie, der Kavallerie und der Artillerie; das liegt auch schon
in der stillern, sozusagen latentem Art der Arbeit und des Dienstes der übrigen
Heeresformationen.
Woran der Train krankt sind nicht Äußerlichkeiten, wie sie von dem Frei¬
herrn von Wechmar erwähnt werden, z, B, daß sich die Trainoffiziere beim Schießen
nicht um den Ehrensäbel mit bewerben dürfen, der Grund liegt in der mangelnden
Vertretung im Kabinett, wo die Trainsachen von der Artillerie unbearbeitet
werden. Hier freilich könnte eine Änderung von großem Nutzen sein; aber sehr
unrecht wäre es, vor dem vielen Guten, was die letzten zwölf Jahre dem Train
gebracht haben, die Augen zu verschließen. Denn auch hier hat das scharfe Auge
des obersten Kriegsherrn schon sichtbar gewaltet.
Abgesehen von den schon etwas ältern dritten Kompagnien sind neu geschaffen
worden eine Brigadekommandeur- und drei Negimentskommandeurstellungen, von
denen allerdings zu wünschen wäre, daß sie Trainoffizieren vorbehalten blieben und nicht
den aus andern Waffengattungen versetzten Offizieren gegeben würden. Die Wech-
marsche Auffassung von den Charakteroberstlentnants als ausschließliche» Bataillons¬
kommandeuren trifft auch nicht zu; so hat z. B. der vorige Inspekteur das Kasseler
Bataillon lange als Oberst gehabt, ehe er Traininspekteur wurde, auch das sechste und
das vierte Bataillon wurden lange Jahre von Obersten (von Eynatten und Müller)
befehligt. Das Avancement regelt sich zur Zeit im Train sehr günstig, und zwar so,
daß die Beförderung zum Rittmeister ein bis anderthalb Jahre vor den Altersgenossen
z. B. der Infanterie erfolgt, wobei den Herren noch ein Sprung bei dem Auf¬
rücken in die erste Gehaltsklasse in Aussicht steht, wenn die vierte Rittmeisterstelle,
der „Rittmeister beim Stäbe," eingeführt wird, der den'Bataillonskommandeur von
der vielen Arbeit als Traindepotvorstand etwas entlasten soll. Über den Kapitän
hinaus — Hand aufs Herz: wieviele schaffen es denn bei andern Waffen wesentlich
weiter? Unter den Majorem z. D. treffen wir heute sogar schon manchen Kriegs¬
akademiker. Dabei hat der Train, Forbach und Damm ausgenommen, schöne und
große Garnisonen, um die ihn manche Truppe beneidet.
Das Pferdematerial beim Tram ist gegen früher bedeutend besser geworden:
die Zeiten, wo der Schwadronschef dem aussuchenden Trainoffizier lediglich die
ältesten fünf Hunkepunken zur Auswahl präsentieren dürfte, sind für immer dahin. Die
Offizierpferde sind heute durchweg rittige und schnittige Gäule, und auch das Chargen¬
pferd wird kommen. Bezüglich der Remonten gehn übrigens im Train selbst die
Ansichten auseinander, da es ohnehin schon Dienst genug giebt. Die drei Wech-
marschen Trompeter, die sich beim Königs Geburtstag in der Garderobe verstecken
und dort patriotisch schmettern, sind längst fast bei allen Bataillonen einen, vierzehn
bis zwanzig Mann starken Trompeterchor gewichen, und den Musikinstrumenten, zu
deren Klänge der Train heute zum Exerzieren ausrückt, hört man es nicht an, daß
sie keine königlichen Utensilien, sondern aus irgend einem Fonds bezahlt oder von
den alten Herren und Reserveoffizieren gestiftet worden sind. Den Offizierersntz
regeln die seit acht Jahren wieder zugelassenen Avantngeure.
Auch der Dienst im Sommer ist beim Train seit drei Jahren, wo die Feld-
dieustübungen kriegsmäßig, auf Grund einer taktischen Idee, mit einer Abschluß-
besichtigung eingeführt worden sind, interessanter geworden und wird von der ab¬
gesessenen Kompagnie sowie im Bataillon mit allen Chikanen: Burentaktik, markiertem
Feind, Sprung, Halt, Nieder, Schützenfeuer usw. wie bei der Infanterie intensiv
betrieben. Im Kriege werden allerdings dem Kolonnenführer seine Schützen rechtes
Kopfzerbrechen machen, wenn er sich wirksam decken will, da er lediglich seine paar
Reservefahrer ins Feuer bringen kann, denen er auch nicht den einzigen Leutnant,
den er bei seinen achtzig und mehr Fahrzeugen hat, als Führer ins Gefecht mit¬
geben kann, weil er sonst entblößt ist. Ganz überflüssig aber ist der von Wechmar
verlangte etatmäßige Trompeter bei jedem Zuge. Ich empfehle Herrn v. Wechmar,
sich einmal eine Provicmtkolonne auf dem Marsch anzusehen, die der Führer nur und
Zeichen und Trillerpfeife regiert und dirigiert, wobei die Sektionsführer die Zeichen
nach hinten weiter geben. Er würde sich von Herzen freuen, wie vorzüglich das
klappt. Das Rasseln der Fahrzeuge stört heute niemand mehr beim Tram, das
war ehemals. Kurz gesagt: „Der Trainschlaf ist raus."
Im übrigen schadet es nichts, daß auch die Trainfrage einmal angeschmtteu
worden ist und von ernsthaften Blättern besprochen wird. Manches bleibt noch zu
thun und muß angestrebt werden, so z. B. die vierte Kompagnie sür jedes Bataillon.
Im Reichstage dürfte jegliche Neufvrderung für den Train, dieser sür unser Heer
und seine Schlagfertigkeit so wichtigen Truppe, einer glatten Bewilligung sicher ,ein.
Unter diesem Titel hat der als militärischer
Schriftsteller und als Redakteur der Kreuzzeitung bekannte Major z. D. I. Scheib er t
seine Lebenserinnerungen veröffentlicht. Sie gehören zu den besten Beiträgen der
neuen Memoirenlitteratur, weil der Verfasser mehr als andre erlebt hat, hauptsächlich
aber weil er eine Persönlichkeit ist, die an Frische ihresgleichen sucht. Auch im
Militär, das an wagemutigen, allezeit schlagfertigen Naturen reicher ist als das
Zivil, herrscht an Männern, die mit diesen Tugenden eine so unerschöpfliche und
selbstverständliche Liebenswürdigkeit verbinden, wie Scheibert, kein Überfluß. Eine
Zeit lang haben ihm diese Gaben auch deu Lebensweg erleichtert, er war der
Liebling des alten Wrangel und vieler Fürstlichkeiten, und eine große Karriere
schien ihm sicher zu sein. Da muß es ihm, dem gebornen Soldaten, furchtbar
schwer geworden sein, sich um der bekannten Ecke von dem Kleid des Kvmgs zu
trennen, aber als richtiger Mann hat sich Scheibert in die neuen, unsympathischen
Lebensverhältnisse gefunden und auch in ihnen eine hervorragende Stellung er¬
rungen. Den jüngern Standesgenossen schärft sein Lebensgang aufs neue die
Lehre ein: „Wacht über euern Freimut!" Unbefangne Meinnngsiinßerung wird
"ur selten so sachlich aufgenommen, wie das arglose, größer angelegte Naturen
immer voraussetzen, namentlich dann nicht, wenn sie schriftlich erfolgt. Auch Scheiberts
Mitteilungen lassen keinen Zweifel darüber, daß er durch unbefangne Kritik durch
dienstliche, militärwissenschaftliche Arbeiten bei Vorgesetzten angestoßen daß ihn die
Feder uns Schwert gebracht hat. Originell wie die ganze Person ist Scheiberts
Eintritt in die Militärschriftstellerei. Hören wir das ans seinem eignen Munde:
„Als ich (während des italienischen Krieges von 1859) eines Tages in der
damals als illustriertes Blatt fast allein dastehenden »Illustrierten Zeitung« eme
militärische Einleitung zu dem Feldzug in der Lombardei las die "übt gehauen
«ut gestochen war. schrieb ich einen ärgerlichen Brief an die Redaktion, nachweisend,
Wie solch ein Feldzug sich einleitet, und mit welchen Friktionen mie Arm e zu
rechnen habe. Ich bekam als Antwort die Nachricht, daß man deu Zuhält des
Briefes in einen Artikel verwandelt habe und mich dringend bäte, weiter über deu
Feldzug zu berichten, und zwar unter pekuniär sehr gentile.i Bedingungen ^es
gwg mit Freuden darauf ein. besorgte mir ausgezeichnete Karten, las die telegraphischen
Bulletins beider Parteie». sorgsam die Zeitunge.. vergleichend, durch, berechnete die
täglichen Marschleistungen aller Korps nach dem Durchlchnitte konnte dadurch d.e
Wappen, in welchen die Korps marschiert waren, genan angebe., und entwarf nun
Schlachtberichte die ungefähr der Wahrheit sich näherten. ledeufalls bedeutend
richtiger waren als die damals von dem bekannten Riistvw gegebnen Feldzugs-
schilderuugeu Für mich viel zu früh wurde der Friede von Villafranca geschlossen.
Weil mir eine nngemesfne und anregende Arbeit und meiner Kasse eine höchst will-
tonimne Einnahme damit verloren ging.
Die Geschichte hatte ein mich erfreuendes Nachspiel. Ich erzählte später in
Reiße im Kameradenkreise meine italienische Berichterstattung »von Magdeburg
aus«. Da fragte mich der anwesende Direktor der Kriegsschule, Major Seichte
(der spätere Generalstnbschef des Prinzen Friedrich Karl), auf Ehrenwort: ob dies
wahr sei? Als ich dies bejahte, erzählte er lachend, daß er damals im Großen
Generalstabe gestanden habe und alles darüber ungehalten gewesen wäre, daß nicht
eine Zeitung vernünftige Berichte aus dem Kriege in Italien zu bringen vermöge.
Eines Morgens aber sei General v. Moltke zufriedner Antlitzes unter sie getreten
mit einer großen Karte von Italien und — der »Illustrierten Zeitung« in der
Hand. »Endlich — hat er gesagt — finde ich einen trefflich orientierten Bericht¬
erstatter, auf den wir uns verlassen können!« Von nun an seien alle acht Tage
nach Erscheinen der Zeitung die Herren vom Generalstabe zusammengetrommelt, mit
Fähnchen die Marschrouten der Korps bezeichnet und verfolgt worden, und Moltke
hätte ihnen dabei nach dem Wortlaut des »trefflichen Berichterstatters« aus Italien
den Fortgang des Feldzugs erläutert."
Nach diesem Erfolg kommt bald eine kleine Schrift „Über den Einfluß der
gezognen Geschütze auf den Festnngskrieg," dann ein „Sappeur-Rcglementsentwnrf,"
kurzum der Dienst um der Feder wird immer eifriger. Aber auch als praktischer
Militär macht Scheibert seinem guten Kopfe soviel Ehre, daß ihm ein schwieriger
Auftrag nach dem andern und eine ganze Reihe ungewöhnlicher Spezialkommandos
übergeben wird. Durch die Vermittlung des Fürsten Radziwill, dessen besondre
Zuneigung er sich durch Leistungen und Wesen erwirbt, wird er dann 1863 als
„Rentier Scheibert" zu der Armee der Konföderierten geschickt, um in dem belagerten
Charleston Beobachtungen über Panzerplatten und gezogne Geschütze zu machen.
Seine Erlebnisse im Sezessionskriege nehmen fast die Hälfte des Buches ein und
machen wohl seinen geschichtlich wichtigsten Teil aus. Die fernere Litteratur über
den sogenannten und vermeintlichen Sklavenkrieg wird es zu beachten haben, das;
ein in Motive und Getriebe der Parteien so tief eingeweihter Zeuge wie Scheibert
für die Nordnmerikaner keine Shmpathien hat. Jedenfalls ist es immer wieder von
Wert, die Verhältnisse, die die neuen Geschicke des andern Kontinents bestimmt
haben, mit andern Augen als den der Mrs. Bcecher-Stowe betrachtet zu sehen und
höchst anerkennende Urteile über die Führer der Südländer zu hören. Noch mehr
als Lee und Stunrt bewundert S. den alten Jackson, diesen „herrlichen General"
und ist des Lobes voll über den Cromwellschen Geist, der im Heer der Konföderierten
lebte. Von der Armee der Nordstanten bekam er dagegen gleich in New-Iork
einen Übeln Begriff. „Was ich (von Soldaten) sah, schreibt er, machte ans mich,
den Zögling eines stehenden Heeres, natürlich einen sehr wenig imposanten Eindruck;
einige ölgeleckte swolls, die in irgend einem Militärburenu als Söhne großer Lichter
ein sichres Dasein führten, einige Schildwnchen, die gähnend sich auf ihr Gewehr
lehnten, die schloddrig herumflankierenden volnntsors, sowie nachlässig einherschlendernde
Patrouillen reizten mich damals zur Heiterkeit, bis ich mich daran gewöhnt hatte,
Milizen vor mir zu sehen, die man mit anderm Maßstabe messen muß als reguläre
Truppen. An eins konnte ich mich allerdings nicht gewöhnen, an die sogenannten
Zuavcn-Regimenter der Jankees, die eines großen Ansehens — nicht etwa bei ihren
Gegnern! sondern in der Stadt — genossen. Diese habe ich nie ohne inneres Er¬
götzen sehen können. Den Eindruck, den ich in New-Uork von der Armee der zukünf¬
tigen Gegner empfing, war daher kein glänzender; er ist, wie wir sehen werden, auch
später im Kriege kein erheblich besserer geworden." Eine besonders schlechte Zensur
erhalten die Deutschamerikaner, und nicht bloß wegen der Schlacht bei Wilderneß.
Außer der politischen und militärischen Bedeutung hat der amerikanische Ab¬
schnitt von Schetberts Erinnerungen anch einen großen Lesewert durch die Fülle
spannender Abenteuer und Bravourstückchen des Kriegers oder des Reisende», die
er mitteilt. Es ist nach dieser Seite hin eins von den Büchern, nu denen das
reifere Knabenalter sich nicht satt lesen kann, um denen es den Wert von Kaltblütig¬
keit und Geistesgegenwart schätze» lernt.
Nach seiner Rückkehr wurde Scheibert zum Stäbe Wrcmgels kommandiert. „Als
ich, erzählt er, eines Tages die Linden entlang ging, stand zu meinem Schrecke»
der alte Feldmarschall von Wrangel ein der Ecke der Friedrichstraße. Aus der
Fähnrichszeit her gewohnt, durch Eintreten in irgend ein Hans rechtzeitig dem
alten sserrn auszuweichen, der an uns Pionierfnhnrichen stets — und mit Recht —
irgend ein uuvorschriftsinnßiges Kleidungsstück zu entdecken und uus alsdann rück¬
sichtslos mit Arrest bestrafen zu lassen pflegte, wollte ich auch diesmal entweichen,
doch der Feldmarschall sah mich so scharf an. daß ich schüchtern, alle Knöpfe noch
einmal revidierend nud mich überzeugend, daß ich wirklich Waschhandschuhe und keine
verpöntem Glacehandschuhe oder gar Lncksticfcl trug, mich ihm grüßend näherte,
deshalb steh ich hier, mein Sohn? fragte er mich. Ich weiß es nicht, Exzellenz
war meine Antwort. Um dir die Hand zu drücke». Ich habe Seine Majestät gebeten,
daß er dich in meinen Stab nach Schleswig-Holstein kommandieren möchte, und
Seine Majestät haben meine» Wunsch gewährt. Ist dir das recht, mein Sohn?"
Das ist eins vou deu vielen liebenswürdigen Stücken, mit denen Schciberts Buch
die Litteratur der Wrangelanekdoten ergötzlich bereichert. Sie treten hervor dnrch
die Originalität des alten Feldmarschalls selbst, thuen stehn aber eine Menge Porträts
andrer hoher Militärs aus deu großen deutscheu Kriegen zur Seite, die nicht minder
die Beobnchtuugs- und Darstellungstnnst des Verfassers glänzend belegen. Er hat
das Glück des'Verkehrs mit bedeutenden Männern. der Mitwirkung bei großen
Ereignissen gehabt, hat aber mich wie wenige das Talent, die Leser in diese eignen
Erlebnisse hinein zu versetzen. Ein köstliches Augcnblicksbild löst das andre ab.
namentlich der Dänische Krieg zieht auf lange Strecken wie ein Unterhaltungsstück
beim ersten Lesen vorüber. Dann kommen aber wieder Stellen, aus deuen man die
Weltgeschichte merkt in denen die Schwere und Härte der Zeit zu ihrem vollen
Recht kommt. Sie gab Scheibert reiche Gelegenheit, sich zu bewähren und auch zu
zeigen, daß er in Amerika gelernt hatte, sich zu behelfen und schwierige Situationen
M beherrschen. Ans vielen der kleinen launig mitgeteilten Geschichten vom Bruckeu-
und Bahnbau geht hervor, daß 1864 die Armeeverwaltung den vollen Umfang
der Kriegsanfgaben nicht vorausgesehen hatte, und daß nur die außerordentliche
Leistungsfähigkeit von Offizieren und Mmmschafteu die gefährlichsten Verlegenheiten
überwand. Es steckte etwas Unverwüstliches in diesem Menschenmaterial, ein Über¬
schuß von Lebenskraft, der sich durch die ungeheuersten Anstrengungen und Gefahren
nicht die Fröhlichkeit verderben ließ. Der Attache der französischen Gesandtschaft,
der eines Abends zugesehen hatte, wie sich auch Prinz Albrecht ungezwungen an
einer improvisierten tollen Balletanfführung beteiligte, brach in die Worte aus:
»Meine Zerren das ist in keiner Armee der Welt möglich, nur in der preußischen!"
Es giebt°kaum ein zweites Buch aus der neuern Kriegslittcratur, das den Reichtum
b°" Charakter und Intelligenz, über den die preußische Armee verfügt, s» glänzend
Sur Anschanung brächte, wie das Scheibertsche. Dabei sagt er me ein ausdrückliches
W»re des Lobes, läßt sich auf keine allgemeine Bemerkung ein. geht scheinbar ganz
i'n virtuosen Wandern ans. Es ist ein Buch, das man fast Seite auf Seite aus¬
schreibe» möchte, schon hente durch Inhalt und Form so fesselnd wie wenig andre,
w hundert Jahren sicher eines der reichsten und köstlichsten Qnellenwerte zur Ein-
führung in eine von Deutschlands größten Perioden.
Die Plewnafeier und die von den Ver¬
ewigten Staaten für die rumänischen Jude» eingeleitete Aktion bieten erwünschte
Veranlassung, ans ein Buch aufmerksam zu mache», das von dem Generalmajor
H- Grase» zu Dohna unter dem an die Spitze dieser Zeilen gesetzten Titel vor
fünf Jahren veröffentlicht, unter die klassischen Reisewerke der deutschen Litteratur
gehört.
Dem Hauptcharakter nach ist das Buch eine kriegsgeschichtliche Arbeit. Der
Verfasser hat die Balkanländer bereist, um den letzten riissisch-türkischen Krieg,
dessen Ausgang zu Dreibund und Zweibund und zur heutigen politischen Weltlage
geführt hat, an Ort und Stelle nachznstudieren. Die Ergebnisse dieser Besichtigung
bringen dem Fachmann manche wichtige Ergänzung zu den Berichten der Parteien
und klären über Vorgänge ans, die an sich unverständlich erscheinen. Aber auch
den Laien, wenn er nur eine Karte zur Hand hat, muß die Darstellung, die der
Graf von den militärischen Ereignissen giebt, in jeder Hinsicht fesseln. In Stil
und Geist steht sie auf der künstlerischen Höhe, die wir an den Alten bei solchen Auf¬
gaben bewundern, der sich bei uns durch Moltke die gesamte offizielle Kriegslitteratnr
wieder genähert hat. Aus der gemeinverständlichen Schilderung der Hauptzüge
tritt das psychologische Element hervor, das diesen Feldzug so merkwürdig macht.
Die Türken lassen die Vorteile des Bodens, die Russen ihre Übermacht ungenutzt,
auf beiden Seiten treiben angestammte Nationalfehler zu Unterlassungs- und Be¬
gehungssünden unbegreiflicher Art, aber ebenso entwickeln beide Volker wieder die
höchsten kriegerischen Tugenden. Parad zu sein, große, heroische Persönlichkeiten
zu erziehn und sie an die rechte Stelle zu bringen, ist und bleibt die vornehmste
Pflicht einer Nation! Das ist die Moral, mit der der Leser von dem Feldzugsbild
des Grafen scheidet.
Aber das Buch ist mehr als ein Beitrag zur neusten Kriegsgeschichte, es ist
zugleich ein höchst wertvolles Stück Länder- und Völkerkunde, die Frucht von Be¬
obachtungen eines nach jeder Richtung aus dem Vollen schöpfenden Geistes. So, mit
dem vielseitigen Rüstzeug des Politikers, des Historikers, des Philosophen, des
Poeten reisen wenige, sogar aus unsern besten Kreisen. Das giebt den Beschrei¬
bungen des Buches einen bleibenden Wert, seinen Urteilen und Ansichten über das
Wesen und die Entwicklungsfähigkeit der einzelnen Balkanvölker eine hervorragende
Bedeutung. Anschaulicher, naturgetreuer und überzeugender können die Thpen des
Menschengemischs, das sich um Eingang zum Orient auf engem Raum zusammen¬
drängt, nicht skizziert werden. Nirgends doziert der Verfasser, und er giebt doch
überall tiefgegründete Begriffe; überall spricht bei ihm das Leben selbst. Groß
ist die Versuchung, die Bilder, die er vom Türken, vom Rumänen, vom Juden,
vom Zigeuner giebt, die meisterhaften, stimmungsvollen Schilderungen von Land¬
schaft und Volkstum abzuschreiben; es ist aber besser, den Leser an die Quelle selbst
zu verweisen. Er lernt ein Buch kennen, das an Belehrung und Genuß Außer¬
ordentliches bietet.
Ab und zu kommt aus Norddeutschland wieder ein poetisches
Lebenszeichen, das jedermann beweist, daß diese Leute droben an der Küste für
unsre Litteratur in ihrer stillen, wortkargen Art doch sehr viel zu bedeuten haben.
Auch das kleine Buch, das Emma von Oertzen unter dein Titel „Enteurike und
andre hinterpvmmersche Geschichten" (Wolfenbüttel, I. Zwißler) vorlegt, gehört
zu dieser Klasse. Es sind Dorfgeschichten, außerordentlich einfache Erzählungen,
die auf seelische Vertiefung, auf Stimmungsmalerei und alle Novellistenkünste ver¬
zichten. Wir hören da von einer alten Viehmagd, der Entenrike, die auf dem
Totenbett ihre größte Sünde beichten will: sie hat einigemal Eier aus dem großen
Küchenkvrb genommen, um die im Wachstum zurückgebliebnen Küken zu füttern.
Dann kommt eine Kinderfrau, die, von Jung und Alt im Hanse geliebt und selbst
allen innigst zugethan, doch davonläuft.mis ihr vor Jahren davvngelanfner lieder¬
licher Mann scheinbar reuig zurückkommt. Weiter eine halb alberne Gouvernante,
die „ich liebe sie" mit „Ich liebe Sie" verwechselt, und so fort eine Reihe billiger
Originale. Reuters „Läuschen" usw. und andre Auekdoteusammlungeu bieten ähn¬
liches. Und doch wirkt das Buch im Leser lange nach. Denn diese Volksgestalten
sind ans dem Leben geholt, mit Liebe beobachtet und schlicht, aber in höchster An¬
schaulichkeit geschildert. Drum sei das Buch empfohlen.
user Interesse wird durch den Zusammentritt von Reichstag und
Zolltnrifkommission in erhöhtem Grade auf die Länder gelenkt,
mit denen uns handelspolitische Beziehungen verbinden. Da
unter diesen unser östlicher Grenznachbar für die zu erneuernden
Handelsverträge in erster Reihe in Betracht kommt, ist es Pflicht
der öffentlichen Meinung, soweit sie ans die deutsche Politik und Volkswirtschaft
einen berechtigten Einfluß ausüben will, sich mit der augenblicklichen wirtschaft¬
lichen Lage Rußlands bekannt zu machen, um beurteilen zu können, wie weit
Man bei einem künftigen Vertrage seinen eignen wirtschaftlichen Vorteil wahren
kann, ohne seine Anforderungen den, andern Teil gegenüber unpolitischerwcise
höher zu spannen, als in dessen Leistungsfähigkeit liegt. Daß diese, das wirt¬
schaftliche Rüstzeug unsers Nachbarn für einen etwa in Frage kommenden Zoll-
kanflikt, nicht so hoch ist, daß wir mit Besorgnis dem spannenden Augenblick
entgegenzusehen brauchten, wo dnrch die Erneuerung des Handelsvertrags der
Grundstein für ein weiteres Dezennium unsrer wirtschaftliche,? Entwicklung ge¬
legt werden soll, dafür will nachstehende Betrachtung den Beweis erbringen.
Die Gesaiutwirtschaftslnge eines Landes findet allgemein ihren Ausdruck
Ul seinen Staatsfinanzen und seiner Kreditfähigkeit. Wenn man aber auch
bei Rußland ohne weiteres einen Schluß von seinen Stantshaushaltungszahlen,
wie sie vom Finanzminister von Witte veröffentlicht werden, ans seine wirt¬
schaftliche Leistungsfähigkeit ziehen wollte, würde man stark irre gehn. Rein
finanzpolitisch betrachtet ist ja ein Fortschritt in der Finanzlage des russische»
Staates nicht zu bestreiten. Die Konversion der Staatsschulden aus 5- und
^/s Prozentigen in 4-und 3^ prozentige, die allmähliche Verstaatlichung der
Eisenbahnen, der erfolgreiche Kampf gegen die Nnbelspeknlation, die zur Durch¬
führung der Währnngsrefvrm nötige Anhäufung eines Goldschatzes, die gänz¬
liche Tilgung der „schwebenden Schuld," die 1888 noch über Milliarde
Rudel betrug, und endlich die Einführung der Gvldwähruug und damit die
Hebung und Festigung des russische» Staatskredits das siud etwa die
Etappen dieses Fortschritts der hier in Betracht kommenden letzten Periode.
Auch das Bild der Entwicklung der russischen Staatsschuld ist an sich nicht
um erfreulich:
Dieses Bild erscheint ans den ersten Blick um so vorteilhafter, als erstens
die Verzinsung im letzten Jahrzehnt ganz unbedeutend gestiegen ist — eine
Folge der in den Jahren 1894 bis 1897 vorgenommnett Konvertierungen; und
zweitens die Eisenbahnschuld 1902 fast das Doppelte der von 1892 betrügt,
während die Gesamtschuld nur um etwa 17 Prozent gestiegen ist; eine Eisen-
bahiianleihe ist aber für gewöhnlich eine produktive Anlage, Für eine Kritik
aber, die vorurteilslos der Sache auf den Grund geht, verändert sich das Bild
der russischen Finanzlage bedeutend.
Um in der Widerlegung mit dem letzten scheinbaren Vorzug anzufangen:
In Rußland rentieren sich die Eisenbahnen bis jetzt nicht, sie haben in den
ersten vierzehn Jahren ihres Großbetriebes (1387 bis 1900) einen Stants-
zuschuß von 200,1 Millionen Rudel gebraucht, und für die sieben Jahre 1896
bis 1902 (für das letzte Voranschlag) läßt sich sogar ein Staatszuschuß von
300 Millionen Rubeln herausrechnen.
Die Gründe hierfür liegen erstens in dem teuern Erlverb und Bau —
die Verstaatlichung erfolgte meist zu sehr hohem Kurs, der Bau kostet im
Durchschnitt 20 Prozent mehr als in Deutschland; zweitens in unrationeller
übereilter Anlage, woraus sich ständige sehr kostspielige Ausbesserungen er¬
geben — so erhält z. B, scholl jetzt die sibirische Bahn stärkere Schiene», weil
die bisherigen nicht genügen —; drittens im geringen Frachtenverkehr, der in
Deutschland aus dieselbe Betriebslänge fast das Vierfache betrügt. Trotzdem
daß für absehbare Zeit eine Besserung der russischen Eisenbahnkonjunkturen nicht
zu erwarten ist, muß das Vahunetz doch immer noch weiter ausgebant werden,
wenn Rußland nichts a» seiner politischen und wirtschaftlichen Stellung ein¬
büßen will. Während in Deutschland nämlich auf ) 000 Quadratkilometer etwa
100, in Frankreich 84 Kilometer Eisenbahnen kommen, sind es in Rußland
nur 9 Kilometer!
Was nun die Hohe der Gesamtstaatsschuld betrifft, so muß man zunächst
feststellen, daß um ihrer absoluten Zahl fehlen 1, die dem Staat zur Ver¬
fügung stehenden Bardepots der Staatssparkassen (eingezahlte Ersparnisse der
Bevölkerung), die nichts andres als eine regelrecht zu verzinsende innere An¬
leihe sind; sie betrugen am 1, Mai 1902: 742 Millionen Rubel. Und 2. die vom
Staat garantierten Privatbahnanleihen, die finanzpolitisch genau die Bedeutung
direkter Staatsanleihen haben und 400 Millionen Rubel betragen. Rechnet
mau diese Summen, sowie die um 3. April d. I. in Berlin emittierte Anleihe
von 182 Millionen Rubeln zu den von Witte am 1. Januar 1902 angegebnen
Zahlen hinzu, so erhält man den augenblicklichen Stand von 7821,3 Millionen
Rubeln-^ 16894 Millionen Mark. Zinn Bewußtsein der Höhe dieser Summe
kommt man aber erst, wenn man sie in die richtige Beziehung zum National¬
vermögen bringt. Dieses betrügt in Rußland auf den Kops 1000 Mark, die
Verschuldung 130 Mark, in Deutschland beträgt das Nationalvermögen auf
den Kopf etwa 3000 Mark, die Schuld 231 Mark; würde also der Russe in
demselben Verhältnis wie der Deutsche belastet sein, so dürften auf die Person
mir 77 Mark entfallen, während in der That mit 130 Mark fast das Doppelte
erreicht wird.
Doch das mag noch hingehn! Viele werden den Standpunkt Wildes
teilen, daß die Aufnahme so zahlreicher und hoher Anleihen notwendig war
im Interesse der Eisenbahnpolitik, die den Vorsprung des übrigen Europas in
Wirtschaft und Kultur schneller einholen sollte, als dies in der langsamern
aber gesundem Entwicklungsform z. B. Deutschlands möglich gewesen wäre.
Doch diese Kapitalanlage konnte und kann mir geschehn in der Voraussetzung,
daß sie sich einmal gut rentiere» werde. In Frage kommt hier die Zeit, in
der dieses Rentieren eintreten soll, und das ist der springende Punkt, wo
unsre Kritik einsetzen muß: Werden die Stützen der russischen Finanzpolitik
halten, bis ein klingender Erfolg gezeitigt ist, oder werden sie vorher zusammen¬
brechen?
Zur Belehrung über diese Stützen, die Stcuertrüfte des Landes, muß ein
kleiner Überblick über das Staatsbudget vorausgeschickt werden.
Da Voranschläge und Ausführung des Budgets in Rußland neuerdings
nnr wenig voneinander abweichen, »vollen wir uns mit dem neusten Material,
dem Voranschläge für 1902, bekannt machen, dessen Einnahmen, in Summa
1947 Millionen Rubel, sich aus folgenden Hauptposten zusammensetzen:
1. Direkte Steuern (Grundsteuer, Gewerbesteuer usw.): 130.5 Millionen
Rubel, davon Grundsteuer 47 Millionen Rubel. 2. Indirekte steuern:
Getrünkesteuer 34,6 Millionen Rubel, Tabak 43 Millionen. Zucker 69.4 Mil¬
lionen. Nnphtha 27 Millionen. Zündhölzer 7.4 Millionen. Zölle 205 7 Mil¬
lionen; zusammen 387,1 Millionen Rubel. 3. Gebühren (Stempel-, Ge¬
richts-usw)- 91 9 Millionen Rubel. 4. Regalien: Bergwerke, Post, Münze
58,9 Millionen. Schankmonopol 462.8 Millionen; zusammen 521.7 Mil¬
lionen Rubel 5 Einnahmen ans Staatsbesitztum: 508,4 Millionen
Rubel, davon die Eisenbahnen 396 Millionen Rubel. 6. Ablösungs-
',abtrugen der Bauern: 86,4 Millionen Rubel. Außerdem uoch ewige
unbedeutende Summen, die hier nicht in Betracht kommen.
Für die Beurteilung der einzelnen Posten bezüglich ihrer Aufbringung
möchte ich die hauptsächlichsten in folgende Gruppen teilen: 1. Die Zölle,
die mit 205 Millionen Rubel über 11 Prozent der Einnahme» betragen. Sie
schädigen einerseits in ihrer Höhe die gerade genügend daniederliegende Land¬
wirtschaft durch Verteuerung landwirtschaftlicher Maschinen und haben andrer¬
seits eine Jndustriekrisis nicht verhindern können; ihr Nutzen ist also auf die
Dauer problematisch. 2. Der Branntwein. Er liefert mit 497,4- Millionen
Rubel 28 Prozent des Budgets 1902 und zwar durch die Branntweinsteuer
und das Monopol. Die Branntweinsteuer versagte in demselben Maße, wie
die Kaufkraft der Bevölkerung infolge Steuerdrucks und Mißernten Jahr für
Jahr nachließ. Die jedesmalige Antwort darauf war die Erhöhung der Steuer¬
sätze, die jetzt 2^ mal so hoch wie in Deutschland sind. Wenn dies auch die
absoluten Ertrüge steigerte, so verminderte sich doch erneut der Konsum, sodaß
schließlich ein Versagen dieser Methode zu befürchten war, und das Schank-
monopol eingeführt wurde. Dieses machte die Schankwirte brotlos, raubte
deu Gemeindekassen die Lizenzgeluchrcn und vergrößerte dadurch die Steuer-
rückstände, was auch von der Negierung offen zugegeben wird. Hier wird
also mit der einen Hand genommen, was die andre giebt. 3. Die Eisen¬
bahnen. Überschüsse existieren hier, wie schon erwähnt worden ist, nnr in
Wildes Fiktion, in Wirklichkeit schießt der Staat bis jetzt zu. 4. Die Land¬
wirtschaft. Dn Zölle und Branntwein keine dauernde Sicherheit bieten, die
Bahnen sogar Zuschüsse brauchen, eine allgemeine Einkommensteuer aber in
Rußland fehlt, muß sich der Staat an die Landwirtschaft halten, die durch
84 Prozent der Bevölkerung vertreten wird. Wenn man mit Rücksicht ans
die geringere Kaufkraft der Landbevölkerung von den in Gruppe 2 aufgeführten
indirekten Steuern (außer Zöllen) der Landwirtschaft nur 50 Prozent statt
84 Prozent zur Aufbringung anrechnen will, so betragen ihre Lasten für 1902
an indirekten Steuern (außer Zöllen) 90,9 Millionen, an Grundsteuern
47 Millionen, an Ablösungsgeldern 86,4 Millionen; zusammen 224,3 Mil¬
lionen Rubel.
Wie bringt nun die Landwirtschaft, die Hauptstütze des Budgets, diese
hohen Summen auf? Hauptsächlich durch den Verkauf und den Export von
Getreide, also durch eine vou der Regierung gewissermaßen erzwungne Ma߬
nahme, die mit ihren Folgen zu besprechen die Pflicht einer erschöpfenden
Dnrstcllnng der wirtschaftlichen Lage Rußlands ist.
Es betrug in den sechzig europäischen Gouvernements Rußlands (vom
1. Juli bis zum 30. Juni gerechnet)-
Ans dieser Tabelle sieht man, daß die Menge der Ausfuhr nicht eine
unmittelbare Folge der Ernte ist, wie man zunächst annehmen sollte, da die
Iahresausfnhrberechnung vom 1. Juli bis zum 30. Juni erfolgt ist, also die
Ausfuhrzahl immer das Spiegelbild der letzten Ernte sein müßte. Man erfährt
vielmehr, dnß trotz einer Steigerung der Ernten von 1897 bis 1899 die Aus¬
fuhr in den drei entsprechenden Rechnungsjahren gefallen ist, denn aber bis
1901/02 steigt, trotz zurückgehender Ernten.
Für die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Ernte, also Produktion,
und Export muß zunächst festgestellt werden, das; das russische Zentralkomitee
zur Hebung des Notstands im Schwarzerdegebiet als Mindestjahresbedarf für
den Kopf der Bevölkerung 300 Kilogramm Getreide für notwendig erachtet
Hut. Zieht man, unter Zugrundelegung dieser Zahl, für den Gesamtgetreidc-
verbrauch der Bevölkerung Rußlands Saatgetreide und Ausfuhr von der
jedesmaligen Jahreserute ab, so erfährt mau, daß für den Verbrauch des
^viles
in Mill. Zentnern:
Rußland hätte demnach nur im Jahre 1899/1900 soviel Getreide — oder
etwas mehr — ausführen dürfen, als es thatsächlich ausgeführt hat, in den
andern Jahren dagegen den Fehlbetrag in Spalte 4 weniger — das heißt
also für die Jahre' 1897/98 und 1901/02 hätte es noch Getreide einführen
"U-sseu, wenn für den Kopf das Mindestmaß von 300 Kilogramm vorhanden
sein sollte. Thatsächlich sind zum Verbrauch für Kopf und Jahr geblieben
i"> Durchschnitt dieser fünf Jahre 270 Kilogramm, wogegen der Getreide-
Verbrauch in Durchschnitt pro Kopf beträgt in Österreich-Ungarn 397 Kilo¬
gramm, in England 440 Kilogramm, in Deutschland 403 Kilogramm, in
Frankreich 560 Kilogramm, in Dänemark 950 Kilogramm, in den Vereinigten
Staaten 1031 Kilogramm. Wenn hierbei auch, besonders in Nordamerika
u»d Dänemark, Getreide in erhöhtem Maße zu Gewerbezmcckeu. Brennereien,
Brauereien usw.. sowie zur Viehfütteruug benutzt wird, so muß doch die in
Nußland hierfür verwandte Menge, wenn sie auch geringer ist, ebenfalls von
be». für den Kopf verbleibenden Getreide bestritten werden. Zieht man hierbei
"och in Betracht, daß sich der reiche Bürger deu Luxus des Sattessens - in
Rußland kann mans kaum anders nennen - i.i vollem Maße erlaubt, so kommt
zu dem Schluß, daß der arme Mann, der Bauer uoch acht einmal die
27» Kilogramm im Durchschnitt der letzte» fünf Jahre verbraucht hat. also
auf deutsch: fast beständig gehungert hat.
Daß thatsächlich der ärmere Bauer zumeist in dieser traurigen Lage >se.
ist allgemein bekannt, nicht aber, welchen Grad und welche Ausdehnung dieser
Zustand oft erreicht. Ohne daß in Einzelheiten eil.gegangen wird, soll hier nnr
Mvähnt werden, daß sich allem der letzte Notstand (1901/02) auf fünfzehn euro¬
päische Gouvernements mit 35 Millionen Einwohnern und das ganze Getreide
bauende Westsibirien mit 5'/.. Millionen Einwohnern erstreckt hat. und daß
b'e Staatsanfwendnngen (in Rußland leistet außerdem die Privathilfe oft mehr
als der Staat) dafür 27^/.. Millionen Rubel überstiegen haben. (Preußen hat
für den Notstand 1901 leihweise Millionen Rubel allsgegeben.) Nach
Schützlingen der im Notstandsgebiet thätigen Ärzte gab es im verflossenen
Jahre in vielen Gouvernements Skorbntkranke (die Folge andauernden Hungers)
nicht nach Tausenden, sondern nach Zehntausenden. Aber anch der sonst so
bedürfnislose russische Bauer hält die Unterernährung auf die Dauer nicht aus,
und so muß von der Regierung — auch bei einer bessern Ernte — dnrch
Stellernachlaß der Ausfuhr Einhalt gethan werden, damit der Bauer wieder
zu Kräften kommen kann.
Daß die russische Landwirtschaft jedenfalls augenblicklich nicht in der Lage
ist, der um sie gestellten Anforderung gerecht zu werden, eine auf wirklicher
Überproduktion ruhende Getreideausfuhr zu bewerkstelligen, dürfte vorstehend
nachgewiesen sein. Am Platze sind darum die Fragen: Warum wird äugen
blicklich so wenig produziert? Und: Wodurch und in welcher Zeit kann die
Produktion bis zur nötigen Höhe gesteigert werden?
Die Gründe für die geringe Produktion liegen weit zurück; sie haben ihren
Ursprung hauptsächlich in der Bauernbefreiung von 1861. Danach wurden die bis
dahin leibeignen Bauern mit Land bedacht, das den Gütern entnommen wurde,
die Gutsbesitzer aber wurden durch Geldsummen vom Staate entschädigt, die den
Bauerngemeinden als Schuld gebucht wurden in der trügerischem Voraussetzung,
die Tilgung würde durch die nunmehr freien Bauern leicht erfolgen können.
Die Verteilung des Landbesitzes stellte sich nach offizieller Statistik für den
Anfang der neunziger Jahre (außer für Polen und Finnland) folgendermaßen:
155 Millionen Hektar Staatsland, 135 Millionen Hektar Banernland, 95 Mil¬
lionen Hektar Privateigentum. Ein verhältnismäßig kleiner Teil gehört der
Krone, der Kirche und einigen Städten.
Das Staatseigentum liegt größtenteils im Norden, besteht hauptsächlich
aus Wald oder Uulaud und kommt darum agrarisch nicht in Betracht. Voll
Privateigentum besitzt der Adel etwa neunzig Prozent, der Rest verteilt sich
unter Kaufleute, Bürger usw. Der Adel hat die bei der Bauerubefreiung er-
hnltnen Ablösnngsgelder vielfach unprodnktiv aufgebraucht; er schritt dann zur
Hypotheeiernng seiner Güter und griff, nachdem auch diese Summen hinge¬
schwunden waren, das Kapital seiner Wälder an, womit er auch die klima¬
tischen Verhältnisse ungünstig beeinflußte. Ware» die Barmittel erschöpft, so
hörte die gutsherrliche Eigeuwirtschaft auf, und es wurde wieder, wie einst,
das Gntslaild mit bäuerlichen Inventar bestellt.
Im russischen Bauern, der außerdem seine 135 Millionen Hektar Banern¬
land zu bestellen hat, liegt also der Schwerpunkt der russischen Landwirtschaft.
Dieser Bauer stand nach seiner Befreiung den Verhältnissen gänzlich unvor¬
bereitet gegenüber. Bis dahin hatte der Gutsherr vorwiegend Naturalabgaben
und Fronten bezogen, jetzt forderte der Staat Geld. Dies setzte einen Grad
geldwirtschaftlicher Entwicklung voraus, den der Bauer nicht hatte. Gegen¬
über der bäuerlichen Naturalwirtschaft und dein niedrigen Staude der Technik,
wie er von der Leibeigenschaft herübergekommen war, erreichten, ja überstiegen
die Ablösnngszahlen vielfach die Erträgnisse des Grund und Bodens. Dieses
Mißverhältllis wurde noch durch zwei Umstände vergrößert, die es dem Bauern
erschwerten, sich aus den auf ihn geko,nennen Verhältnissen loszuarbeiten: seine
geistige Natur selbst als eines gewesenen Leibeignen, und die Form seines Land¬
besitzes, der nicht Privatbesitz, sondern — in 34 Gouvernements — Gemeinde¬
besitz ist. Dieser Gemeindebesitz erleichtert, von seiner volkswirtschaftlichen Be¬
deutung abgesehen, dem Staat die Eintreibung der Steuern (Grundsteuer und
Ablösnngsgelder), für die die Gemeinde in ihrer Gesamtheit haftbar ist. Die
Negierung hält sich also nur an den Gemeiudeültesten und entsendet ihre
Steuerbeamten unmittelbar nach Eingang der Ernte; sie ermöglicht zwar da¬
durch der Gemeinde einerseits meist die sofortige Zahlung überhaupt (soweit
genug Getreide geerntet ist), veranlaßt aber andrerseits den Bauern, mehr
~~ dazu unter Preisdruck — zu verkaufen, als er mit Rücksicht auf seinen
Verbrauch lind die künftige Aussaat eigentlich dürfte. Es kommt dann oft
zu der wunderlichen Erscheinung, daß die Regierung im Frühjahr für die
Notstandsgebiete Getreide zu weit höherm Preise kaufen muß, als es der
Bauer seinerzeit verkauft hat, um es diesem, wenn er infolge Hungers zu¬
sammengebrochen ist, durch Schenkung wieder zukommen zu lassen. Der Bauer
empfindet aber wegen seiner aus dem Landbesitz hervorgehenden Haftbarkeit
für die Steuer diesen mehr als eine drückende Pflicht, als als ein Recht; das
Recht um Besitz kommt einer gesund naiven Nuffafsung eben erst zum Bewußt¬
en, wenn im Bewirtschaftungskonto das Haben höher ist als das Soll. Oft
genug sucht sich der russische Bauer dieser Laudpflicht durch die Flucht zu ent¬
lehn, indem er seinen drückenden Besitz gern preisgiebt.
Da außerdem der Acker in deu meisten Gemeinden des Schwarzcrdc-
gebiets nach einer kürzern oder längern Reihe von Jahren neu ungeteilt wird,
hult es der Bauer für zwecklos. Meliorationen vorzunehmen, die doch nicht
ihm, sondern seinem Nachfolger im Besitz zu gute kommeu würden. Still¬
stand in der technischen Bearbeitung, vermehrter Anbau (zur Steueraufbringung)
und Raubbau ohne Düngung ist die Folge. Damit ist ein allgemeiner Rück¬
gang der Laudwirtschnft eingetreten, der sich in den periodisch seit Anfang der
achtziger Jahre wiederkehrenden Mißernten, in stetiger Verringerung der Boden¬
erträgnisse, des Biehstandes und des Volkswohlstandes kundgiebt. Der Durch-
schnittsertrng für den Hektar stellte sich für die Jahre 1887 bis 1899 nur
"uf zehn Zentner, während er in Deutschland 22 Zentner, in Frankreich 23
und in Nordamerika 25 Zentner betrug.
Der Viehbestand stellte sich 1899 ans 100 Hektar:
Der Rückgang des Viehbestands in Nußland ergiebt sich aus folgender
Zur Besserung dieses Zustandes lind Hebung der landwirtschaftlichen
Produktion sind Mittel der verschiedensten Art von Nüssen und Ausländern
vorgeschlagen worden; folgende erscheinen mir als die geeignetsten: I. Über¬
gang vom Gemeinde- in den Privatbesitz, 2, Einführung einer allgemeinen
Einkommensteuer und Erlaß der landwirtschaftlichen Steiler, 3. Hebung des
geistigen Niveaus des Bauern durch Errichtung von Schulen, durch landwirt¬
schaftliche Belehrung in Form von Vorträgen, Versuchsanstalten, Musterwirt¬
schaften usw., 4, Aufforstung weiter Gebiete.
Der Umwandlung der Besitzform soll Witte selbst nicht unsympathisch
gegenüberstelln; aber er hat hierbei den Widerstand der russischen Ideologen,
der Panslawisten und Slawophilen zu überwinden, die im Gemeindebesitz das
Heil des Russentums sehen. Die technische Schwierigkeit wird dabei von
vielen Seiten zu hoch angeschlagen; die Hälfte der Arbeit wäre dnrch den
legislativen Akt der Erhebung der Besitzer zu Eigentümern schon gethan; die
Verteilung der gemeinsamen Ländereien braucht ebenso wie die Streulegnng
durchaus nicht sofort in Angriff genommen werden.
Mit der Steuerreform würde sich Herr von Witte als anerkannt großer
Finanzkünstler technisch abfinden, aber anch hier ist ein Widerstand der bisher
unbesteuerten Beamten sowie sonst mit hohem Einkommen gesegneter Leute
zu überwinden. Zu den unter 3 und 4 genannten Knltnraufwendungcn
gehört vor allem Geld, und das ist dafür nicht vorhanden, weil die staat¬
lichen Ausgaben für andre Zwecke zu groß sind: Heer, Marine, Vahnbnutcn —
Ausgaben, die notwendig waren zur Durchführung der russischen Weltmacht¬
politik und es noch sind zur Erhaltung der Großmachtstellnug Rußlands.
Deu Einwand, daß Staat und Kirche daran interessiert seien, die Masse des
Volks ungebildet zu erhalten, kann man nicht gelten lassen. Ein Einfalls¬
thor für die Sozialdemokratie, was viele befürchten, würde durch eine Bauern-
bildung, die sich nußer auf die elementarsten Fächer nur auf landwirtschaftlich-
techuische Fertigkeiten erstreckte, keinesfalls geöffnet werden. Von dieser Tendenz
ist der russische Bauer sehr weit entfernt. So ist es bei den diesjährigen
Vauernunrilhen im Gouvernement Charkow vorgekommen, daß Bauern bei
einer Ansammlung riefen: „Es lebe die Anarchie." Als aber einer rief:
„Nieder mit dem Zaren," wurde er von den andern totgeschlagen. Die dies¬
jährigen Bauernllnruhen sind wohl ein Zeichen für den hohen Grad des Elends,
das geherrscht haben muß, sodaß es den russischen Bauern aus seiner stoischen
Apathie aufrütteln konnte, nicht aber der Anfang einer sozialdemokratischen
Stimmung nnter ihnen. Sobald der Staat für die Sättigung des Bauern
sorgt, ist dieser auch weiterhin seine beste Stütze.
Allerdings steht die Negierung augenblicklich vor einem Dilemma: Soll
sie den Bauern von nun an sich sattessen lassen, also vorläufig auf Getreide¬
ausfuhr und damit auf ihre Weltpolitik verzichten — oder soll sie weiter
exportieren und das Schwarzerdegebiet völlig ruinieren? Sie wird dies ja
wohl vermeiden und trotzdem Getreide ausführen wollen; aber mag sie anch
alle zur Hebung ihrer landlvirtschaftlichen Produktion tauglichen Mittel an¬
wenden: darüber ist nicht hinwegzukommen, daß Jahrzehnte bis zum Eintreten
des gewünschten Erfolges dahingehn werden. Bis dahin wird die Negierung
Wohl das ihrer Auffassung nach kleinere Übel wählen und — so lange es
geht — auf Kosten der Volksernährung weiter Getreide ausführen; sie hat
sich mit ihrer ganzen Politik so festgelegt, daß ihr kaum etwas andres übrig
bleibt. Auf das neuste Hilfsmittel Wildes zur Erleichterung der Ausfuhr, die
angestrebte internationale Preisbildung, komme ich später.
(Schluß folgt)
me augenscheinlich voreilige Nachricht aus S. Sebastian wollte,
gestützt auf das Zeugnis einer angeblich hohen Persönlichkeit,
wissen, das spanisch-französische Bündnis sei eine vollzogne That¬
sache. Die Grundlagen seien beiderseits gut geheißen, doch noch
nicht veröffentlicht worden, weil hinsichtlich Mahon und Ceuta
die französischen Forderungen zu weit gingen. Die halb offiziöse Corre-
Mwdeneia glaubte, die Veröffentlichung werde uicht lange ausstehn. So
weit ist es aber nnn noch nicht, und die Sache ist von Madrid aus offiziös
dementiert wordeu. Aber offenbar ist ein solcher Gang der Dinge im Bereich
Möglichkeit, und dabei verhält sich daS deutsche Publikum in einer Gleich¬
gültigkeit, die nur verrät, wie wenig ihm die Tragweite dieser Angelegenheit
klar geworden ist. Man läßt sich von dem Worte'des Fürsten Bismarck. daß
""r im Mittelmeer nicht interessiert seien, einlullen und bedenkt uicht, wie
wenig Bürgschaft man dafür hat, daß der große Lenker der deutschen Politik
'Li der Verkündigung dieser Ansicht einen längern Zeitraum als den Bereich
Berliner Kongresses im Auge gehabt hat, und ob das, was er öffentlich
""ssprnch, die letzte Weisheit seiner tiefen Seele erschöpfte. Jedenfalls sind
^zwischen Dinge eingetreten, die die Wichtigkeit der Mittelmeerpolitik und der
freien Mittelmeerschiffahrt auch in Deutschland in ein ungemein helleres Licht
stellen, als 1878 geahnt werden konnte.
Daß Deutschland keine Mittelmeerintcressen habe, weil es keinen Fu߬
breit Landes an seinen Ufern besitze, ist natürlich eine Simpclci. Hat denn
England Mittelmeerinteressen, weil° es Gibraltar und Malta besitzt, oder hat
es diese Punkte besetzt und befestigt zum Schutze seiner Mittclmeerinteresscn?
Do Frage aufwerfen heißt sie beantworten. Seit dreißig Jahren geht aufs
neue der Weltverkehr nach dem fernen Osten durch das Mittelmeer, und
Deutschland beteiligt sich an diesem mit erfreulich wachsender Lebhaftigkeit.
Lefzen nur uns davon abdrängen, so ließen wir uns aus der Reihe der erstem
Hmidelsnativnen heransmanövrieren. Unser Vaterland hat inzwischen die
^ohn der Kolonialpolitik beschritten, »voran man 1878 noch nicht dachte; die
H"isle unsrer Besitzungen liegt jenseits des Suezkanats. Noch wichtiger als
""6 ist das freie Mittelmeer unsern Bundesgenossen Italien und Öster-
reich, denn beide haben keine andern Meeresküsten als die des Mittelmeers.
Nur die Wogen, die der antiken Welt mit der See annähernd gleichbe¬
deutend waren, vermitteln ihnen den Zugang zu den seitdem, erschlossenen
großen Ozeanen. Gerät das Gewässer zwischen Gibraltar und Suez jemals
in die Gewalt einer andern Macht, so ist die politische und militärische
Selbständigkeit Italiens dahin, und die von Österreich-Ungarn beeinträchtigt.
Italien kann sich nicht den Eiseuklmmnern dessen entziehn, der die Obmacht
über das Tyrrhenische Meer und die Adria hat, und der österreichische Arr
wird mindestens an einem Flügel gelähmt sein. Daß das auf ihre Freiheit im
Bündnisschließen zurückwirkt, kann doch am Ende ein Kind begreifen. Unser
Bündnis mit Italien und Österreich-Ungarn ist also neben dem Handel mit
dem fernen Osten und unsern Kolonien die dritte Klammer, die uns an die
Mittelmeerpvlitik bindet. Sie ist die wichtigste, sie ist aber nicht die letzte.
Denn bedeuten wir, welchen Gewinn Frankreich mit der Herrschaft über das
Mittelmeer machte, wie ihm dann erleichtert würde, seine sämtlichen militärischen
und maritimen Kräfte gegen uns zu verwenden, so thun sich Perspektiven auf,
die sich einer Behandlung in so knappen Raum gänzlich entziehn.
In der Mittelmeerpolitik spielt das zukünftige Schicksal Marokkos eine
bedeutsame Rolle. Denn Gibraltar ist nicht mehr uneinnehmbares Sperrfort
für die nach ihm benannte Meeresstraße, seitdem die Kanonen bequem über die
Bucht von Algeeiras tragen. Am gegenüberliegenden marokkanischen Ufer
sind Tanger und das spanische Ceuta von keinen feindlichen Landbefestignugen
bedroht. Wer eins oder beide hat, ist an den Säulen des Herkules eben so
mächtig wie England, vielleicht mächtiger. Seit Jahrzehnten konkurrieren um
Marokko Spanien, Frankreich und England. Spanien schreibt sich einen
natürlichen Anspruch zu, weil es der nächste Nachbar sei, und weil Marokko
von dem islamitischen Volke beherrscht werde, dessen Erbe auf europäischem
Boden eben Spanien sei; Frankreich bestreitet das; durch seine algerischen
Besitzungen sei es jetzt zum nächsten Nachbar des Sultans geworden. England
hat keine solche „Hinterland"-Theorie, verteidigt aber seinen Handel und seine
Stellung in Gibraltar, indem es Marokkos Unabhängigkeit unterstützt. An
Erwerbung des ganzen Landes kann es gar nicht denken; höchstens das kost¬
bare Kleinod Tanger möchte es aus der arabische» Mißwirtschaft herausheben.
Das leidet aber Frankreich nicht, während sich mit Spanien vielleicht ein
Arrangement treffen ließe.
Spanien ist durch den Verlust der Antillen und der Philippinen und
durch den amerikanischen Krieg sehr geschwächt, zugleich aber auf einen ge¬
wissen Ersatz an der nahen afrikanischen Küste doppelt erpicht. Ans eignen
Kräften an die Eroberung des acht bis neun Millionen Einwohner zählenden,
großen, mit Verkehrsstraßen wenig ausgerüstete» Landes zu gehn, ist ihm
versagt. Dagegen wird es von beiden andern Mächten umworben. Auch
Frankreich wagt die Sache nicht recht, hauptsächlich weil es fürchtet, so viele
Streitkräfte darin festzulegen, daß es in seiner europäischen Politik gehindert
werde. Das war vor Jahresfrist der misgesprochne Grund, weshalb es die
von vielen empfohlene Gelegenheit von Grenzstörungen nicht benutzte, mit der
Selbständigkeit Marokkos ein Ende zu machen. Solche Grenzstreitigkeiten
unterhält es immer; sie können nach Bedarf auch leicht geschaffen werden.
Die Republik begnügte sich, die Onsengrnppe Gurara in der Wüste und die
Oase Tafilelt am Atlas zu nehmen und den Sultan ihre Macht fühlen zu
lassen.
In Marokko selbst sind die Zustände so verworren, das; sie zu einem
Eingreifen geradezu auffordern. Sultan Mnlay Hassan hatte, als er am
6. Juni 1894 starb, sein Land einundzwanzig Jahre lang auf alte barbarische
Art regiert, aber doch eine gewisse Ordnung aufrecht erhalten. Er hatte die
Macht'zum Regieren. sein Sohn Abdul Asiz folgte ihm als ganz unreifer
Jüngling und war ein Spielball in der Hand der Wessire und der aus¬
wärtigen Vertreter, uuter denen namentlich der französische, gestützt ans den
französischen Leibarzt, einen großen Einfluß gewunn. Von einer geordneten
Wirtschaft kann in Marokko keine Rede sein, namentlich auch nicht von einer
finanziellen. Die Kosten der Hofhaltung bestreitet der Sultan, indem er in
eine leidlich wohlhabende Provinz einrückt und sich von ihr so lauge er¬
nähren läßt, bis sie ausgesogen ist und nichts mehr hergeben kann. Kleinere
">'d größere Aufstände sind an der Tagesordmmg. Sie werden grausam
unterdrückt. So baufällig der Thron des Sultans ist, so leicht er umgestürzt
werden kann, so ist doch zu erwarten, daß muselmanischer Fanatismus die
Bevölkerung eint, wenn eine christliche Macht das Land angreift. Frankreich
fürchtet sogar in einem solchen Falle eine unbequeme Erregung unter seinen
eignen islamitischen Atlasstämmen. Deshalb steckt im gegenwärtigen Regiment
wnner noch eine gewisse vis insrtms.
Einer Verbindung mehrerer Mächte wären diese Verhältnisse wohl weniger
gewachsen. An Projekten für eine solche hat es natürlich uicht gefehlt. Und
immer war Spanien dann in der glücklichen Lage, der Teil zu sein, dem
Geschenke von andrer Seite auf Marokkos Kosten mühelos in deu Schoß
fallen sollten. Ernstes Gewicht bekamen sie, als vor etwa einem Jahre der
frühere spanische Minister Silvela, Führer einer konservativen Gruppe in den
Eortes. sich für ein Abkommen mit Frankreich aussprach. Er hoffte, dann
s" viel vom Lande der scherifischen Sultaue für Spanien erlangen zu können,
daß eine ersprießliche kolonisatorische Thätigkeit darauf zu entfalten Ware.
Ceuta und eine Reihe andrer Punkte an der marokkanischen Mcktelmeerkuste.
die sogenannten Presidios. sind schon lange in spanischem Besitz. Von ehren
aus könnte man zum Atlas emporsteige«, der wohlbcwüsserte Oasen, fruchtbare
Hochthäler und beackerbare Hochflächen in Menge hat. Frankreich sollte natnrluh
Tanger »ud einen sehr großen Teil des übrigen Landes erhalten. Anklang
fand Herr Silvela nicht/ Frankreich gegenüber sind die Spanier zu sehr von
dein tinieo O^imos beherrscht.
Vor kurzem hatte die Erörterung eines solchen Gedankens einen neue»
Anstoß genommen, obgleich Silvela noch immer auf die Opposition beschränkt
ist- Die' französische Republik berief einen ihrer bewährtesten und befähigtsten
Diplomaten, sserrn Cambon, ans Washington ab und setzte ihn nach Madrid.
Es lag nahe. °zu vermuten, daß eine so ungewöhnliche Verschiebung ans einen
geringern Posten einen besondern Grund haben müsse. Frische Nahrung be¬
kamen die Kombinationen, als der spanische Botschafter in Paris, Leon y
Eastillv, plötzlich nach Madrid berufen wurde, und in den französischen Zeitungen
ein auffallendes Bemühen um die Gunst Spaniens hervortrat. Daran mag
man die Nachricht reihen, die wir an der Spitze dieser Zeiten erwähnt habe«:
das spanisch-französische Bündnis sei abgeschlossen worden.
Auf alle derartigen Kombinationen brauchte man nichts zu geben, wenn
nicht ein Untergrund allgemeiner Wahrscheinlichkeit für sie vorhanden wäre.
Marokko selbst ist so tief zerrüttet, daß seine Selbständigkeit nur noch geduldet
wird. Wenn es den andern Mächten einfällt, ihr ein Ende zu macheu, so
ist sie verloren. Es liegt ganz ähnlich damit, wie mit der Türkei, die auch
nur noch von der Uneinigkeit und vom Gleichgewicht der Nachbarn ihr Dasein
fristet. Kommt es zu einer Verständigung zwischen zwei Nachbarmächten, vor
der die dritte die Segel streicht, so ist über Marokko ebenso unbedingt ent¬
schieden, wie über Tunis oder Ägypten. Das wird wahrscheinlich nicht mit
offner Eroberung vor sich gehn, sondern in der Weise, daß der bisherige
Herrscher nominell Haupt des Landes bleibt und die Gerichtsbarkeit über seine
Stammesgenossen behält, sich aber in allem nach den Anweisungen der wahren
Gewalt richten muß. Tunis, Ägypten, viele indische Staaten geben das Vor-
bild dafür.
Wenn Madrid jetzt erklärt, ein Bündnis mit Frankreich sei nicht abge¬
schlossen worden, so glauben wir es gern. Noch ist ja auch Sagasta um
Ruder, der den Gedanken verworfen hat. Aber wenn der Führer der Kon¬
servativen ein solches Ziel offen verkündet, dann ist es eine der Realpolitik
angehörende Eventualität. Wird Silvela einmal wieder Minister, so kann die
Gefahr akut werden. Und eine solche Wendung ist an: Ende nicht fern. Das
marokkanische Problem sollte also nicht uur in England und Italien, sondern
anch in Deutschland sehr aufmerksam im Auge behalten werden.
Am meisten würde England betroffen werden. Seine ehemals so glänzende
Stellung im Mittelmeer ist durch das Emporkommen Frankreichs (man denke
nnr an Tunis mit Bizerta) und Rußlands (dem die Türkei jetzt nur uoch
wie eine morsche Planke entgegensteht) sehr verdunkelt. Die türkischen Be¬
festigungen und Kriegsschiffe bannen Rußland nicht mehr in den Bosporus.
England hat Ägypten gewonnen, aber seine Angreifbarkeit ist dadurch nur
noch mehr gewachsen. Die offne Verbindung mit dein fernen Osten durch den
Suezkanal ist ihm eine Lebensfrage. Die hierdurch angedeuteten Interessen
vervielfältigen und verfeinern sich von Jahr zu Jahr.
In dieser subtilen Lage der Dinge hat sich die englische Politik verleiten
lassen, ihre ehemalige Intimität mit Italien dein Verlangen nach Versöhnung
mit Frankreich zu opfern. Um über Faschvda ein heilendes Pflaster zu kleben,
hat sie mit Frankreich den Vertrag über das Hinterland von Tripolis ge¬
schlossen, wodurch diese italienische Znknnftshvffnnng ein entwertetes Ziel vor
sich sah. Geärgert dadurch hat sich Italien der französischen Republik ge¬
nähert und dieser die Erklärung abgegeben, in Marokko „desinteressiert" zu
sein; dafür hat es dann als französische Gegengabe die Versicherung empfangen,
daß die französische Republik in Tripolis „desinteressiert" sei — ein Geschenk
ans türkische Kosten! Offenbar bedenket das eine Kette von Fehlern auf eng¬
lischer und italienischer Seite, und Frankreich hat den Vorteil davon. Zwei
Mächte, die so an der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts im Mittelmeer
interessiert sind und jede für sich so wenig Aussicht haben, es zu erhalten,
hätten sich nicht eine Abkühlung ihrer alten Freundschaft erlauben dürfen. Sie
sind darauf angewiesen, mit vereinten Kräften der französisch-russischen Kom¬
bination ein Gegengewicht zu geben und zu verhindern, daß das Mittelmeer
em französisch-russischer See wird, den Frankreich im Westen, Rußland durch
die Operation eines Landheeres auf Suez im Osten schließt. Die letztgenannten
Machte werde» diesem Ziel wesentlich näher gekommen sein, wenn Frankreich
Marokko in seinen Besitz bringt. Darum liegt soviel daran, ob sich Spanien
dem französischen Vorgehn anbequemt oder nicht.
Endlich scheint mich die englische Presse diesen Angelegenheiten wieder
mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Einzelne Blätter fangen doch an, den tief¬
gehenden Unterschied zu begreifen, der sich durch die Entfremdung mit Italien
vollzogen hat. um so nrgwöhuischer betrachten sie die Anzeichen einer Ver¬
ständigung zwischen Spanien und Frankreich über Marokko. Deutschlands
Interesse ist viel kleiner als das von England. Aber daß eine so wichtige
Position wie Tanger nicht in Frankreichs Hände übergehn kann, ohne große
Nachteile auf für Deutschland hervorzurufen, liegt doch an: Ende wohl auf
der Hand. Auch wir müssen dazu beitragen, daß Marokkos Unabhängigkeit
n Deutschland haben sich die ritterbürtigeu Geschlechter zu eiuer
nach außen abgeschlossenen und schon im Namen dnrch das
Wörtchen „von" gegen die übrige Menschheit abgegrenzten Kaste
entwickelt. In den meisten Fällen freilich enthält die Bezeich¬
nung einen Widerspruch, indem der Träger des Namens weder
"'e betreffende Ortschaft besitzt noch die geringste Aussicht hat, sie jemals
zu besitzen. Noch stärker wird der Widerspruch, wenn das Wörtchen „von"
>'es einem Namen wie Müller oder Schulze vorgesetzt findet, der über¬
haupt leine Ortschaft bezeichnet. Solcher Briefadel zeigt, daß in Deutschland
^er ursprüngliche Sinn des Wortes Adel verwischt und verdunkelt worden
'se- Als Begriffskern liegt ihm zu Grnnde das Vererbte, Angestammte; das
althochdeutsche uom'1 bedeutete Erbsitz. Voraussetzung des Adels war also er¬
erbter, angestammter Grundbesitz. Doch nur bei einem Teile des deutschen
"ldels trifft diese Voraussetzung noch zu? der allgemeine Begriff Adel bezieht
sich heute bloß auf das Blut, Damit soll nichts gegen deu landlosen deutschen
Adel gesagt sein, der keineswegs die Abneigung verdient, die ihm von manchen
Kreisen entgegengetragen wird. Nicht mit Unrecht weist Sallust ans den
Einfluß hin, den die Bilder der Vorfahren auf den Geist der Nachkommen
ausüben, und ohne Zweifel ist die Fnmilienüberlicfernng ein starker Ansporn
für den landlosen Adel, sich im Dienste des Staates auszuzeichnen. Dafür
Beispiele zu geben ist nicht nötig.
In England ist die Familienüberlieferuug nicht minder stark, aber das
Blut allein giebt keinen Anspruch auf Auszeichnung. Immer hat der Grund-
scitz geherrscht, daß der Rang auf der Leistung beruht, und in der ältern Zeit,
die noch kein Beamtentum in unserm Sinne kannte, war die Leistung vom
Besitz, d. h. Landbesitz abhängig. Mir das Ausehen und deu Einfluß eines
Geschlechts war es notwendig, den Landbesitz festzuhalten und vor Zer¬
splitterung zu hüten. Bei einer Zersplitterung des Besitzes hätte die Gesamt-
leistuug der Mitglieder des Hauses gleich bleiben können, aber die Stellung
des Hauses hätte nicht höher gestanden als die des reichsten Gliedes und
wäre endlich auf eine sehr niedrige Stufe gesunken. Beim Zusammenhalten
des Ganzen bei dem Haupte des Geschlechts blieb der Rang und der Einfluß
ungeschmälert. Es hat lange gedauert, bevor die deutschen Fürsten diese ein¬
fache Wahrheit einsahen. Die Wettiner und vor ihnen die Astamer haben
durch Teilungen die führende Stellung in Deutschland verscherzt, die Hohen-
zollern haben durch Zusammenhalten der märkischen Besitzungen deu Grund
zu ihrer spätern Macht gelegt. Die deutsche Teiluugssucht ging hervor aus
einem übertriebnen Gerechtigkeitsgefühl, das den Gedanken an die Größe des
Hauses überwog und deu Staatsgedanken überhaupt nicht aufkommen ließ.
Um den Staatsgedanken brauchten sich die englischen Grundherren nicht
zu kümmern; ihnen schwebte nur der Glanz des Hauses vor, und dem opferten
sie die Gerechtigkeit gegen jüngere Söhne. Ob sie dem großen Adel oder dem
Ritterstande angehörten, sie fühlten sich alle eins in der Absicht, ihren Besitz
auf alle Zeit als ein unteilbares Ganzes zu vererben und so die erworbne
Stellung zum mindesten zu behaupten, wenn möglich zu erhöhen.
Bei den häufigen Thronstreitigkeiten im Mittelalter war die Erhaltung des
Besitzes durchaus nicht leicht. Der Inhaber eines Nitterleheus war keineswegs
dnrch seinen Lehnsherrn vor Schaden gedeckt, da die Gesetzgebung Wilhelms
des Eroberers vou alleu, auch von den nicht unmittelbaren Kronvnsallcn ver¬
langte, daß sie der Krone den Treueid leisteten. Standen sich nun, wie in
den Rosenkriegen, zwei Nebenbuhler gegenüber, so fand sich ein Vasall in
schwieriger Lage. Beide Könige beanspruchten Treue von ihm. Wenn die
Seite, für die er kämpfte, unterlag, dann half ihm seine Treue wenig, und
er hatte, wenn er selbst mit dein Leben davon kam, den Verlust seines Lehens
zu erwarten. Diese Unsicherheit des Besitzes regte die Rechtsgelehrten wieder
zum Denken nu, und der Ausweg, den ihre Gehirnthntigkcit fand, war der,
daß der Grundbesitz der Form nach einem andern oder der Sicherheit halber
mehreren andern übertragen wurde, mit dem Vorbehalte des Nießbrauchs für
den eigentlichen Besitzer und seine Erben. Wenn dann das Unglück hereinbrach,
dann gab es nichts einzuziehn, und ans alle Fälle blieben die Güter dem
Erben erhalten.
Dem Könige mußten solche Fideikommisse unter den Umständen als ein
Mißbrauch erscheinen, und nicht minder sahen die großen Lehnsherren das
neue Verfahren mit scheelen Augen an, dn die Pflegschaft als juristische Person
niemals zu Ende kam, und ihnen so die Lehnware entging, die übliche Abgabe
beim Wechsel des Lehninhabers. Das Lwwts c»l UsW vom Jahre 1535 sollte
dem entgegentreten und die Heimlichkeit der Landnbertragnng verhindern. Aber
wieder hatte die Gesetzgebung ohne die Advokaten gerechnet, die findig genug
waren, die Absichten "des Gesetzes zu vereiteln. Die ganze Geschichte des
Bodenrechts in England ist ein Kampf zwischen der Gesetzgebung und den
Nechtsanwälten, wo kein Teil einen vollen Sieg davongetragen hat. Was
den Anwälten und den aus ihnen hervorgegangnen Richtern an dem Lwww
»l llss« mißfiel, wurde umgangen, wo es zu umgehn war, und als eine Art
Kompromiß wurde das überaus kunstvolle Verfahren in Landsacheu ausgebaut,
das für den Unkundigen oder Unvorsichtigen voller Fallen ist, aber noch heute,
obwohl etwas vereinfacht, in Blüte steht.
Einer Bindung des Landes auf unbegrenzte Zeit stand die ganze juristische
Schule entgegen, weil damit der größte Teil einer weltlichen toten Hand ver¬
fallen wäre. ' Seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ist der Grundsatz
nicht »lehr angefochten worden, daß niemand befugt ist, das Verfügungsrecht
"och nicht geborner Personen zu beschränken. Ein Fideikommiß hat sonnt
Giltigkeit bloß für die Lebensdauer der Urheber, und darüber hinaus nur bis
zur Volljährigkeit des Erben, also höchstens etwas über einundzwanzig Jahre.
Der Plan eines englischen Fideikommisses ist etwa folgender. ^ über¬
antwortet seine Güter an die Fideikommißpfleger (trustsss) und bestimmt, daß
sein Sohn ZZ ihm im Genusse folgen soll, auf L dessen ältester Sohn mit
Vorbehalt des Erbrechts der andern Söhne von L. Hier ist angenommen, daß L
schon mündig ist und sich selbst durch Unterzeichnung des Vertrags bindet. Es
ist gleichgiltig, ob 0 schon geboren ist oder nicht. Wenn nun 0 volljährig
wird, so'kann er das Fideikommiß aufheben, soweit es seine eignen Nach¬
kommen betrifft, kann aber die Rechte der Agnaten nicht beiseite setzen. Er
Wun also, da er selbst nur den Nießbrauch hat, die Güter nicht veräußern,
sondern bloß, falls er selbst einen Sohn hat, diesem die Freiheit eines Ver¬
kaufs g^ben. Da es aber die Absicht ist, die Güter in der Familie zu er¬
halten, so errichten L und L ein neues Fideikommiß, das anch 0s Sohn v
"ur den lebenslänglichen Nießbrauch giebt. In derselben Weise wird und dem
Heranwachsen jedes neuen Geschlechts verfahren. Eine landesherrliche Ge¬
nehmigung ist nicht nötig zu einem solchen Familienabkommen, und solange es
erneuert wird, siud die Güter unveräußerlich und können für Schulden labt
haftbar gemacht werdeu.
In der Hauptsache haben also die Feudalherren ihre Absicht erreicht. Die
Juristen haben die Bindung des Landes ans unbegrenzte Zeit verhindert,
doch die allgemeine Politik der Familien hält es gebunden, und bei weitem
größte Teil des ganzen englischen Bodens ist thatsächlich Fideikommiß.
In den andern Teilen des Vereinigten Königreichs, in Schottland und Irland,
ist es ebenso.
Aber die Juristen haben doch nicht vergebens gewirkt. Ihnen ist es zu¬
zuschreiben — mau ist versucht zu sagen, leider —, daß die Sache so dehnbar
ist, daß sie überhaupt erträglich ist. Die Notwendigkeit, das Familienabkommeu
von Zeit zu Zeit zu erneuern, giebt Gelegenheit, nicht nur den festen Hans-
besitz zu vergrößern, sondern auch zu beschränken. Auch reicht der väterliche
Druck nicht immer hin, den Erben zu einer Erneuerung zu bestimmen, und
dadurch kommen umfangreiche Stücke Bodens in den Verkehr. An Käufern,
die willig find, einen guten Preis zu zahlen, fehlt es nicht. Die Grund¬
herren lieben es, ihren Besitz auszudehnen, und dann ist es der Ehrgeiz der
durch Handel und Gewerbe reich gewordnen Leute, eine „Familie" zu gründen
und in die Zvirtry, den Landadel, aufgenommen zu werden, vielleicht gar,
Wenns dazu langt, die Peerwürde zu erhalten. Ohne eine gewisse Anzahl
von Ackern Landes geht weder das eine noch das andre. Ein großes Gut¬
haben bei der Bank giebt Ansehen und Gewicht in der Londoner City. Auch
auf dem Lande weiß man Bankanweisungen zu schätzen; aber eine gesellschaft¬
liche und politische Stellung giebt nur der Landbesitz.
An Bewerbern um die Ehre, dem Landadel zugerechnet zu werden, fehlt
es also nicht, und die Notwendigkeit einer Ergänzung ist nicht zu leugnen.
Denn der künstliche Schutz der Fideikonunisse reicht doch nicht überall hin.
Ein leichtsinniger Erbe, dessen Hände nicht gebunden sind, kaun in wenig Jahren
die Güter vergeuden, die jahrhundertelang mit seinem Ruinen verknüpft ge¬
wesen sind, und mit dein Glänze des Hauses, ja mit dem gauzeu Hause ist
es aus. Natürlich giebt es tausend andre Ursachen, die den Niedergang eines
Geschlechts herbeiführen. In alten Chroniken findet sich mancher Name von
gutem Klänge, der heute aus der breiten Masse nicht mehr hervortritt. Thomas
Hardh schildert in seinem Romane I'ö88 ok Um v'Hrdsrvillss ein solches ehe¬
mals angesehenes Geschlecht, dem sogar die Kunde seiner Borzeit so weit
geschwunden ist, daß es deu alten Namen nur noch in verderbter Form führt,
während ein gemeiner Emporkömmling sich den geschichtlichen Namen anmaßt
und die Tochter einer langen Reihe tapfrer Ritter zu Grunde richtet. Ein
Recht ans den Namen hatte der Mann nicht; aber in England kann sich jeder
nennen, wie er will.*)
Die Käufer von Gütern und die Begründer neuer Familien sind jedoch
durchaus nicht immer Emporkömmlinge. Der englische Mittelstand, aus dem
sich der Landadel ergänzt, erhält fortwährend Zufluß aus den Kreisen des
Adels. Die jüngern Glieder auch des vornehmsten Hanfes sind wie andre
gewöhnliche Sterbliche. Die Söhne eines Peers erhalten noch einen Höflichkcits-
titel, die Enkel nicht mehr. Um ein Beispiel zu geben: der verstorbne Lord
Rcmdolph Churchill hatte gesellschaftlich den Titel Lord als jüngerer Sohn
eiues Herzogs vou Marlborough, vor Gericht wäre er bezeichnet wordeu als
Nandolph Churchill, gewöhnlich Lord Randolph Churchill genannt; sein ältester
Sohn Winston Churchill hat keinerlei Titel, und in der Hofrangordnung hat
er seinen Platz noch weit unter dem ehemaligen Mayor von Richmond, Sir
James Szlumper. Auch die Führung des Geschlechtswappcns steht nur
dem Haupte zu; die andern Mitglieder müssen sich mit der .helmzier be¬
gnügen, um ihre Zugehörigkeit zu bekunden. Mit der Helmzier, orsst, wird
freilich viel grober Unfug getrieben, zum großen Leidwesen der Heraldiker,
aber zur Freude des Schatzkanzlers, dein die Eitelkeit der Menschen ein gutes
Stück Geld einbringt. Wer sein Briefpapier mit Wappenzeichen schmücken
will, hat dafür jährlich ein Pfund zu erlegen, und für denselben Zierat auf
dem Wagenschlage zwei Pfund. Nach der Berechtigung oder Nichtigkeit fragen
die Steuerbeamten nicht, und die Sonne scheint auf mancherlei unmögliches
Wappengetier, das der Hausindustrie entstammt und im Heroldamte unbekannt
ist. Es kommt wohl auch vor, daß das Helmkleinod eines Geschlechts mit
gleichlautendein Namen einfach entlehnt wird. In Thackerciys Vavit/ BÄr
antwortet Osborne auf die Frage, ob er mit dem Herzoge von Leeds, dessen
Geschlechtsname Osborne ist, verwandt sei, er wisse das nicht, aber das Helm¬
kleinod sei dasselbe. Wäre Thackerays Osborne wirklich berechtigt gewesen,
so hätte er auf der Stelle den genanen Grad der Verwandtschaft angeben
können; denn auf Stammbäume wird in England viel gehalten, besonders in
Geschlechtern, deren Haupt einen Titel führt, weil immer die Möglichkeit einer
Nachfolge besteht. Der gemeinsame Stammvater des gegenwärtigen und des
verstorbnen Herzogs von Hamilton lebte vor zweihundert Jahren.
So viel unberechtigte Warenzeichen es im Mittelstande geben mag, die
Mehrzahl wird doch mit Fug und Recht geführt, und der Sproß eines alten
Hauses, der im Handel reich geworden ist, kann nicht als ein Eindringling
und Emporkömmling betrachtet werden, wenn er sein Vermögen in Land an¬
legt. Er wird mit offnen Armen empfangen. Aber auch der Ahucnlose hat
nichts zu befürchte«, wenn er nur sonst dem Maßstabe entspricht, den man
an einen Gentleman legt. Die Verleihung eines Wappens durch das Herold¬
amt führt ihn dann in aller Form in die Reihen des Adels ein.
Die vorstehenden Ausführungen ergeben, daß das Wort Adel, wie es
hier auf englische Verhältnisse angewandt ist, sich nur zum Teil mit dem
Begriffe deckt, den man in Deutschland damit verbindet. In der ältern Zeit
bestand eine größere äußere Ähnlichkeit, indem es Sitte war für den Inhaber
eines Ritterlehens, den Ritterschlag und damit den Titel Sir zum Namen*)
zu erhalten. Jakob I. war noch sehr darauf bedacht, daß jeder ritterbürtige
Herr die Ritterwürde erwarb, weil die Gebühren ihm Geld in seine ewig
leere Kasse brachten. Doch gerade die Gebühren ließen die äußerliche Aus¬
zeichnung als wenig begehrenswert erscheinen, und sobald der Zwang schwand,
bewarb sich kaum einer noch um einen Titel, der das Gewicht des Trägers
im Staate in keiner Weise vermehrte. Seitdem ist die Ritterwürde nur eine
Persönliche Auszeichnung ohne Verbindung mit Landbesitz und der Begleiter
der höhern Ordensklassen.
Das deutsche Wort Adel läßt sich in seiner ganzen Bedeutung im
Englischen überhaupt nicht wiedergeben. Die naheliegende Übertragung nobilit,^
geht nicht an als viel zu eng, da in England wie in Rom der vovilis vom
<z<znlL8 unterschieden wird, die beide im deutschen Adel begriffen sind. Zur
nobilit/ gehören nur die Peers, Herzöge, Marqucsses, Carls, Viscounts und
Vnrons, deren Titel sämtlich erblich sind. Die Varonets, Ritter und Esquires,
die dem deutschen niedern Adel entsprechen, werden als Aönlr^ bezeichnet.
Mau könnte demnach die nobilit/ dem deutschen hohen Adel an die Seite
stellen wolle». Aber nichts würde verfehlter sein. Die alten Reichsfürsten
und Reichsgrafen, die den deutschen hohen Adel bilden, haben zumeist eine
Geschichte von vielen Jahrhunderten, die englische nobilit.^ dagegen ist in ihrer
Mehrheit ein neugebacknes Gebilde ans einem Teige, der neben Schießpulver
auch mit Bierhefe angerührt ist. Von den angelsächsischen Carls und Thaues
ist nichts übrig geblieben, von den normannischen großen Baronen so gut wie
nichts. Nur etwa dreißig englische Lordstitcl sind älter als 1500, mehr als
die Hälfte aller bestehenden stammt erst aus der Welfenzeit als Erzeugnis
eines Peerschubs, und sehr viele von ihnen ruhen ans Namen, die in der
ältern Zeit völlig unbekannt waren.
Unter dem titellosen Landadel dagegen finden sich viele wirklich alte
Geschlechter, die sich der Abstammung von einem der Leute rühmen, die mit
dem Eroberer herüber kamen. Über den Eroberer pflegt man nicht hinaus-
zugehn, und wenn mans konnte, würde man manchmal von dem Vorleben
des gepriesenen Ahnherrn wenig erbaut sein. In Irland, wo einst die Könige
mandelweise zu haben warm, hat sich, obwohl ein unnatürlicher Tod das
natürliche Ende eines Königs war, und trotz der englischen Unterjochung noch
eine kleine Zahl alter Clanhäupter erhalten. Sie haben von den englischen
Königen weder Titel noch Würden erhalten. Aber ihre Geschichte verliert sich
im Dunkel der grauen Borzeit, und unter den Iren gelten der Mac Dermott,
Prinz von Coolcwin, der O'Conor Don, der Ritter von Gun, der Ritter von
Kerry usw. mehr als ein englischer Herzog.
Ganz titcllos ist freilich der englische Landadel auch nicht, da ihm die
Baronets zugehören. Sie sind eine Erfindung Jakobs I., der in seiner Geld¬
not auf den Gedanken kam, die herkömmlichen Gebühren für den Ritterschlag,
die seinen Nachfolgern zugekommen wären, zu kapitalisiere!! und für sich voraus¬
zunehmen. Er verkaufte die erbliche Ritterwürde mit dem Titel Sir, und um
die Vogel auf den Leim zu locken, verlieh er den erblichen Rittern als Zu¬
gabe den Namen eines Baronets und einen Rang, höher als der Ritterstand,
aber noch weit unter der letzten der bevorrechteten Klassen der erblichen Gesetz¬
geber, der Peers. Der Baronet nötigt deshalb den Briten auch nicht die
heilige Ehrfurcht ab, die dem wirklichen Lord gezollt wird. In den Romanen,
die das geistige Futter der Halbgebildete!! sind, pflegt der alte aus dem Augel-
sachsentum stammende Carl ünßerst tugendhaft zu sein, die Baronets jedoch
kommen schlecht weg. Alle Baronets sind schlecht, heißt es deshalb geradezu
in Snllivans Oper Ruddigore.
Innerhalb des Landadels hängt das Ansehen eines Varonets weniger
von seinem Titel ab, als von seiner Persönlichkeit und vor allem von dem
Umfange seiner Güter, die oft geringer sind als die unbetitelter Nachbarn und
nur selten so groß, daß sie ihn über den einfachen Squire hinaussehen und
den Peers an die Seite stellen. Im Vereinigten Königreiche beträgt durch¬
schnittlich der Umfang der Güter bei einem Herzoge 140000 Acker (2^ Acker
gleich 1 Hektar), bei einem Marqueß 47000, einem Carl 30000, bei einem
Viscount oder Varon 14000 Acker. Darunter kommen dann die Güter der
Gentry bis auf 1000 Acker hinunter.
Von den 72 Millionen Ackern des ganzen Vereinigten .Königreichs
sollen dreißig Millionen von nur tausend Personen besessen werden. Ge¬
nauere Nnchweisungen giebt es nur für England und Wales in dem neuen
Domesdahbuche (Ahorn ok tue ovnsrs ok I^g,na), das jedoch London außer
acht läßt. Eifrige Vergleichung und Durcharbeitung hat die groben Fehler
dieser Aufstellung verbessert, und danach gab es 1875 in England und Wales
höchstens viertausend Besitzer von mehr als tausend Ackern, die zusammen
über 18^ Millionen Acker oder die Hülste des Ganzen ausmachen. Ländereien,
die dem Staate, der Kirche, den Universitäten oder andern Körperschaften ge¬
hören, werden mit weniger als anderthalb Millionen Ackern angegeben. Etwa
zwei Millionen sind noch unangcbautes Gemeiulaud, sodnß aus den sieben-
unddreißig Millionen Ackern, die England mit Wales enthält, höchstens fünf¬
zehn Millionen in den Händen kleinerer Besitzer sind. Die Gesamtzahl der
Eigentümer von mehr als einem Acker wird von G. Ch. Brodrick auf etwa
150 000 veranschlagt, wonach also, wenn die Besitzer von weniger als einem
Acker gar nicht berücksichtigt werden, 2,8 Prozent der Eigentümer die Hälfte
der ganzen Oberfläche oder alles Privatlandes besitzen.
Ein Viertel des ganzen Landes gehört einer kleinen Zahl von nur
710 Personen. In einigen Grafschaften tritt jedoch das Mißverhältnis zwischen
großem und kleinem Besitz uoch weit schärfer hervor. Z. B. in Northumber-
land, das 1236655 Acker enthält, davou 53000 Gemeiulaud, teilen sich
10036 Personen in 1424 Acker. Nur ein Viertel der Grafschaft besteht aus
Gütern von weniger als 2000 Ackern. Aber 44 Grundherren besitzen drei
Fünftel, 26 fast die Hälfte, und der Herzog von Northumberland allein nennt
mehr als ein Siebentel sein eigen, wozu uoch seine Ländereien in andern Graf¬
schaften kommen.
Die Klasse der kleinern und der größern Ieomen, der Eigentümer von
einhundert bis dreihundert und dreihundert bis tausend Ackern zählt nach den
amtlichen Erhebungen des neuen Domesdahbuches von 1875 nicht ganz 34000
mit weniger als neun Millionen Ackern. Nach dem alten Domesdahbnche
sind dagegen für die Zeit Wilhelms des Eroberers über 53000 freie Eigen¬
tümer der Ieomanklasse anzunehmen, die zusammen mit den burg'önsös und
villlmi etwa zwei Drittel des in Privatbesitz befindlichen Bodens hatten, und
der feudale Adel umfaßte 1400 Kronvasallen und 7871 sudtönöarü oder
Untervasallen, weit mehr als das Doppelte des jetzigen. Die adlichen Be¬
sitzer waren danach nicht nnr zahlreicher, sondern ihre Güter auch viel kleiner,
und um ihre Stellung im Staatshaushalt richtig zu verstehn, muß man be¬
rücksichtigen, daß England damals — Wales gehörte noch nicht dazu — wohl
wenig mehr als zwei Millionen Einwohner zählte, und ferner, daß zwei Drittel
des ganzen Gebiets noch brach lag, ohne besondern Eigentümer, während jetzt
nur noch etwas über zwei Millionen Acker oder ein Sechzehntel des Ganzen
unter den Begriff Gemeinland, oommon, fallen. Wenn also damals auf
jeden sechzehnten männlichen Engländer, ganz gleich ob erwachsen oder noch
in den Windeln, Grundbesitz von einer zum Leben genügenden Große kam, so
ist heute nur noch einer aus etwa vierhundert in dieser Lage, trotzdem daß
der benutzte Boden dreimal so groß ist. Wird dieses letzte auch in Rechnung
gezogen, so ergiebt sich, daß wo die alte Zeit 75 Besitzer hatte, die neue nur
noch einen aufweist.
Die Urbarmachung des Wüstlandes, Gemeinlandes, ist nicht dem Volke
zu gute gekommen, sondern nur denen, die schon großen Besitz hatten. Die
Klasse der Ieomen, die im Mittelalter das Rückgrat des englischen Volkes war,
ist im Laufe der Jahrhunderte zur Seite gedrückt worden, und der Kreis der
Besitzenden hat sich bestündig verengt. So reich die Grundherren auch sind,
sie suchen doch ihre Güter noch zu vergrößern. Wo ein Stück Land verkäuflich
ist, kann man sicher sein, daß der eine oder der andre der benachbarten
Magnaten es zur Ausdehnung seines Grundbesitzes und damit seines Ein¬
flusses zu erwerben sucht. Auch die Reste des Gemeinlandes sind keineswegs
vor ihrer Begehrlichkeit sicher. Erschwert auch die neuere Gesetzgebung die
Aneignung, der Versuch wird doch gemacht in der Hoffnung, daß die Dörfler
es nicht wagen, sich dagegen aufzulehnen.'")
(Schluß folgt)
er Schlußstein einer guten Fachbildung besteht darin, daß sie
die Schüler treibt und befähigt, sich selbständig weiter zu
bilden. Die Weiterbildung ist auch für die Künstler unerläßlich,
für den modernen Musiker darum doppelt unerläßlich, weil die
Tonkunst zur Zeit in lebhafter Entwicklung begriffen ist. Dem
Musikerstand müssen also die üblichen Mittel dieser Weiterbildung bequem und
ausreichend zur Verfügung stehn. Es sind dieselben wie in den gelehrten
") In einem kentischen Dorfe soll gegenwärtig das Aufsichtsrecht über den Dorfanger von
dem I^viel c>t tlo Minor auf den Gemeinderat übertragen werden. Der Lord bezieht aus diesem
Rechte keinen Pfennig und kann nie einen Pfennig daraus beziehn; höchstens könnten ihm
Kohle,, entstehn. Als Entschädigung aber verlangt er die Überweisung von mehr als drei Acker
wertvollen Baugrundes aus dem Gemeinlande einer benachbarten Stadt, die zu dem Manor
gehört.
In demselben Dorfe hat kürzlich ein Großgrundbesitzer mir nichts dir nichts drei Acker
Gemeinland eingezäunt, obwohl das Land seit Menschengedenken als freie Weide benutzt worden
ist. Der Widerstand, der sich erhoben hat, scheint aber gute Aussicht aus Erfolg zu haben.
Berufen und im höhern Gewerbe, nämlich: geregelter Verkehr mit Fachgenossen,
Bibliotheken, Fachpresse und Reisen.
Das erste dieser Mittel ist zur Zeit vorhanden in: Tonkünstlervereinen,
Musiklchrervereinen, Wagnervereinen, neuerdings sind hinzugetreten: Orts¬
gruppen der Internationalen Musikgesellschaft. Die Wagnervereine arbeiten
für das Verständnis Wagnerscher Kunst, die Musiklehrervereine hauptsächlich für
die Verbesserung des Unterrichtswesens, die Ortsgruppen für alte Tonkunst und
für Musikwissenschaft, die Tonkünstlervereine veranstalten Übungsabende und
Aufführungen. Alle diese Institute vertreten spezielle Teile musikalischer Fort¬
bildung und lassen andre beiseite. Sie sind zweitens, vielleicht mit Ausnahme
der Wagnervereine, nicht zahlreich genug; gerade die am universellsten an¬
gelegten, die Tonkünstlervereiue, beschränken sich auf Köln, Dresden, Hamburg,
Wien und wenig andre große Städte. Wir haben innerlich wie äußerlich
Ansätze, aber kein Ganzes, und der Musik geht somit von der Bildungs¬
kraft des für Juristen und Philologen schon durch die amtliche Thätigkeit ge¬
gebnen, bei Medizinern durch Ärztevereine, bei Theologen durch Pcistorcil-
und Ephoralkonferenzen, sogar im reinen Geschäftsleben durch Handels- und
Gewerbekammern, durch Innungen und Zünfte gesicherten Kollegialverkehrs
sehr viel verloren. Es ist deshalb sehr wünschenswert, das Institut der Ton¬
künstlervereine weiter auszubauen; einmal solche Vereine in jeder Stadt zu
errichten, in der eine genügende Anzahl von konservatoristisch oder in andrer
Weise hinlänglich gebildeten Musikern wirkt, die der kleinen Orte anzuschließen
oder in Bezirksvereinen zusammenzufassen, zweitens aber auch ihre Thätigkeit
zu erweitern. Daß es bisher gelungen ist, vom Beruf ermattete Musiker an
einzelnen Orten ausschließlich mit praktischer Musik zusammenzuhalten, ist
überraschend und rühmlich. Aber zur Norm eignet sich das Verfahren so wenig
als etwa der Versuch, in Pastoralvereiuen nur zu predigen, in Lehrervereinen
Schule zu halten. Die Aufgabe der Tonkünstlervereine muß dahin gefaßt
werden, daß sie ihre Mitglieder mit allen wichtigen neuen Erscheinungen der
Musik bekannt machen und über alle frisch auftauchenden, schwierigen Fragen
aufklären. Fortwährend trägt der Strom der Kunstentwicklung neue Leistungen
und Ideen heran, bald auf diesem, bald auf jenem Gebiet, bald vom Inland,
bald vom Ausland her. Da fehlt es nun in der Musik gar häufig an der
rechtzeitigen und klar begründeten Stellungnahme des Standes als solchen;
seine Sachkenntnis kommt nicht zur Geltung, das Schicksal wichtiger Neuerungen
wird vom Zufall und von lauten Stimmen entschieden. Daraus kann lang¬
dauernde Verwirrung entstehn, wie beim Fall Wagner, es kann auch positiver
Verlust entstehn, wie bei der Jankoklaviatur, die man in fünfzig oder hundert
Jahren nochmals, dann hoffentlich gleich vervollkommnet, erfinden wird. Die
Musik bedarf eiues engern Zusammenschlusses aller Musiker, eines regen und
wohlgeordneten Vereinslebens im Interesse der Entwicklung der Kunst, die der
Einzelne von seinem Platz aus in der Regel nicht übersehen, noch weniger be¬
herrschen kann, dann aber auch im Interesse der Künstler. Für sie sollen die
Vereine Fortbildungsschulen sein. Dem entsprechen die Tonkünstlervereine
nicht genug, wenn in ihnen nur gespielt, gesungen und Geselligkeit gepflogen
wird. Sie müssen auf Lehren und Lernen, ans Vermehrung des Wissens
und strenge Gedankenarbeit ausgehn und zu diesem Zweck, so wie es in den
Ortsgruppen der I. M. G, schon Brauch ist, Referate und Debatten ein¬
führen, so oft unbekannte und ungewöhnliche Kunst dazu Veranlassung bietet.
Dadurch wird ein Gegengewicht gegen die berufsmäßige Bevorzugung der
Phantasie- und Gemütskräfte gewonnen, die Verpflichtung, künstlerische Ein¬
drücke gemeinverständlich zu umschreiben und zu begründen, hält den Geist
klar und frisch. Solche Vereinsarbeit zwingt anch die Mitglieder, ihren
Bildungsbedarf wach und auf der Höhe der Zeit zu erhalten.
Bei allen, die Gelegenheit zum Vergleichen haben, besteht keine Meinungs¬
verschiedenheit darüber, daß es unter den jungen Musikern, schon phhsiognomisch
erkennbar, einen ungewöhnlich hohen Prozentsatz idealer und geistig hervor¬
ragend begabter Naturen giebt; aber ebensowenig unterliegt es einem Zweifel,
daß nur wenige von ihnen halten, was sie versprechen. Das liegt nicht bloß
an den allgemeinen Gefahren musikalischer Berufsarbeit, ihrem psychisch er¬
müdenden, aufreibenden, sinnlich erregenden Charakter, nicht bloß daran, daß
die Schulen die allgemeine Bildung zu gleichgiltig nehmen, sondern dazu
kommt, daß den Musikern der Sporn durch Examina, durch Avancementsver¬
hältnisse und sonstige in andern Ständen die Fortbildung regelnde Bedingungen
fehlt. Konzertieren ist ja auch eine Art peinlicher Prttfuug, aber eine ein¬
seitige. Unter diesen Umständen ist die Weiterentwicklung eines jungen Musikers
viel mehr gefährdet, als die eines jungen Gelehrten, eines bildenden Künst¬
lers. Nur die planvollen, energischen Köpfe, die ein früh gestecktes äußeres
Ziel, die das Feuer der Begeisterung, der Segen eines anregenden, pflichten¬
reichen Amtes treibt, reifen voll aus; die andern bleiben stehn oder verlieren
sich in Behaglichkeit und in großstädtische Tändeleien. Es wartet demnach
der Tonkünstlervereine eine wichtige, erzieherische Mission. Nur wird es
schwer sein, sie ans dem Nichts hervorzurufen und in großen Verbunden an¬
einanderzufügen. Der Natur der Sache nach fiele diese Aufgabe den General¬
musikdirektoren zu, sobald dem Titel Befugnisse beigegeben würde«.
Das andre Mittel der Weiterbildung, das durch Bibliotheken, ist zur
Zeit den Musikern schwerer erreichbar als andern Ständen. Die Zahl öffent¬
licher Musikbibliotheken ist zu klein, die Beschaffung eines umfassenden Schatzes
eigner Noten und musikalischer Bücher ziemlich kostspielig. Mit Ausnahme
der musikalischen Abteilung der königlichen Bibliothek in Berlin stammen alle
großen Musikbibliotheken der deutscheu Höfe, Städte und Schulen aus alter
Zeit. Die Gegenwart hat keine neuen hinzugefügt, bei den alten hier und
da auf zeitgemäße Vervollständigung des Materials verzichtet. Hochherzigen
Musikfreunden von der Art des verstorbnen Dr. Mnx Abraham, des Gründers
der für die Leipziger Studien schnell segensreich gewordnen „Musikbibliothek
Peters," bietet sich hier die Gelegenheit zu einem dauernden Gedächtnis. Die
Unzulänglichkeit ihres öffentlichen Bibliothekwcsens hat den Musikern den Sinn
für dieses Bildungsmittel überhaupt ziemlich verkümmert. Das zeigt sich ein¬
mal in der schwachen, hier und da auch unnötig erschwerten Benutzung der
vorhandnen Bibliotheken, zum andern darin, daß nur der kleinere Teil der
Fachmusiker auf eigne, wohlgeordnete Privatbibliotheken Wert legt. Es giebt
allerdings nicht bloß hochgestellte Tonkünstler, die, auf diesen Besitz stolz, zu
allem Nötigen auch uoch Seltenheiten, anßcrmnsikalische dazu, aufzuweisen
haben, wie das bei Brahms der Fall war, sondern auch bescheidne Musiklehrer
wenden ein Übriges an den Erwerb teurer Gesamtausgaben. Aber der Durch-
schuittsmusiker bleibt mit den Ausgaben für die eigne Bibliothek unter seiner
Kaufkraft, auch wenn er sie für Konzerte und Theater unbedenklich überschreitet.
Die musikalischen Denkmäler, die das neunzehnte Jahrhundert der Tonkunst
der Vergangenheit errichtet hat, haben ihn wenig interessiert, klassische Bücher
wie die Händelbiographie Chrhsanders, die Bachbiographie Spittäh haben zum
Absatz der ersten Auflage dreißig Jahre gebraucht. Es werden Broschüren
über die Siufouie nach Beethoven, Zeitnngsaufsätze über Hahdn in England
veröffentlicht, ohne daß die Verfasser die jahrzehntealten Hauptwerke der
einschlagenden Litteratur kennen. Wir haben Musiker, die, um unentbehrliche
Unterrichts- und Meisterwerke einmal nachzuschlagen, den Gang ins Leihiustitut
thun müssen, andre, die wohl Schopenhauer und Nietzsche, aber kein Musiker¬
lexikon bei der Hand haben. Unzweifelhaft zeigt sich hier das musikalische
Bildungsniveau sehr niedrig. Die Konservatorien können es heben, indem sie
erstens nach dem Muster der Königlichen Hochschule in Berlin die Jnstituts-
bibliotheken auf den gehörigen Stand bringen, indem sie zweitens in der Ge¬
schichte der Musik auf regelrechte Prüfungen halten. Bon deu Musikern der
Schulchorperiode dürfen wir aus Nachlaßverzeichnissen und aus dem Charakter
damaliger Musikschriftstellerei schließe«, daß ihre Bücherei in Ordnung war.
Anders ists mit dem Verhalten zur Fachpresse. Nur wenig Musiker
halten keine Musikzeitung, ohne Ausnahme lesen sie welche. Die Blätter
haben sich in den letzten Generationen stark vermehrt und verzweigt; für die
verschiedensten Interessen und Spezialitäten sind eigne Organe entstanden.
Wie überall in der modernen Kulturarbeit, so sind auch hier die Leistungen
desto besser, je beschränkter das Gebiet ist, auf dem sie sich bewegen. In den
Musikzeitungen, die über die Kunst in: ganzen orientieren wollen, wird die
ernste Richtung stark durch eine lediglich unterhaltende bedrängt, Belehrung
und sachliche Vertiefung haben einen schweren Stand gegen das Neuigkeits¬
bedürfnis und die Berichterstattung über ephemere Thaten. Ihren tiefsten
Punkt hat die deutsche Musikpressc im letzten Jahrzehnt mit einer Reihe kurz¬
lebiger Sensatiousblüttchen erreicht, deren jugendliche Mitarbeiter Trompete
und Horn verwechselten, als Warren tadelten, was sie als Wolf lobten, und
jeglicher Einbläsern zu Diensten standen. Da sich dagegen und sogar gegen
gemeingefährliche Gaukeleien, wie die Dinge in der Musik liegen, nichts
thun läßt, und da jeder Beruf die Presse hat, die er verdient, müssen wir
uns über die Zeichen der Besserung freuen, die neuerdings in der Vervoll¬
ständigung des chronistischen Teils, in der Veredlung des Tons und namentlich
darin zu Tage treten, daß in Deutschland wieder wissenschaftliche Musikzeitungen
großen Stils möglich geworden sind. Die Musik auf den Universitäten hat
daran ein Verdienst. Das letzte Mittel musikalischer Weiterbildung, das Reisen,
ist auffälligerweise in demselben Maß, wie es erleichtert worden ist, außer
Gebrauch gekommen. Der deutsche Musiker reist heute zur Erholung, zum
Vergnügen, aber er macht keine Studienreisen mehr; er hat dafür auch das
Talent verloren. Führt ihn der Weg nach Italien, nach England, klagt er
dort über die schlechte Kirchenmusik, hier über die Salonmnsik, die Blüte der
Oper in dem einen, des Chorwescns im andern Lande, und eine Menge
kleinerer oder größerer Vorzüge kommen gegen heimische Anschauungen und
Nationalbewußtsein nicht durch. Franzosen und Norweger fördern noch gegen¬
wärtig hervorragende junge Musiker durch Stipendien ins Ausland. Auch für
Deutschland ist dieses alte Mittel der Weiterbildung zwar nicht mehr unent¬
behrlich, aber noch sehr wertvoll.
Am letzten Ende hängt aber nicht bloß die Weiterbildung, sondern die
Leistungsfähigkeit des Musikerstandes überhaupt eng mit seinen Erwerbsverhült-
nissen zusammen. Usus sang, in vorpms 83.no! Frische des Geistes setzt eine
gewisse Sorgenfreiheit voraus, und es fragt sich, ob diese dem tüchtigen Musiker
in demselben Grade gesichert ist, wie den Angehörigen andrer Stände. Da
muß zunächst entschieden werden, mit welchen Stünden sich der musikalische
vergleichen darf. Seiner Bedeutung und seinem Wesen nach gehört er zu den
privilegierten Berufsarten, denn er verrichtet im wesentlichen eine Kultur¬
arbeit, die wie die der Kirche und der Schule des Schutzes und der strengen
Regelung bedarf. Er hat diesen Schutz in der Zeit der Zünfte auch genossen,
ist aber im neunzehnten Jahrhundert mit andern Leidensgefährten in das Ex¬
periment der Gewerbefreiheit hineingezogen worden und der neuen Lage als
freier Gewerbetreibender bisher außerordentlich viel schuldig geblieben. In den
Erwerbsverhältnissen aller Musikerklassen, Komponisten, Virtuosen, Lehrer
herrscht eine übergroße Ungleichheit und Unsicherheit, und nur wenige Zweige
des Gewerbes, z. B. die Angehörigen der Zivilkapellen, haben etwas dagegen
gethan.
Zum guten Teil stehn wir bei dem Mißverhältnis zwischen Leistung und
äußerm Ertrag in der Musik vor einer unabänderlichen Thatsache. Etwas
unpraktischer, träumerischer Sinn ist von den meisten musikalischen Naturen
unzertrennlich, nur ausnahmsweise halten sich Talent und Weltklugheit die
Wage, und viele setzen ihre Kraft zu lang an falsche Ziele. Besonders groß
ist die Zahl der enttäuschten Komponisten und Virtuosen.
Der ältern Zeit war die Trennung zwischen schaffenden und ausübenden
Musikern unbekannt, weil ein zum Teil aus realen Verhältnissen, aus der
Unzulänglichkeit von Handel und Verkehr namentlich, entsprungner Partikula¬
rismus die Ansprüche an die Komposition beherrschte. Kirchenkantaten waren
meistens nur für den Entstehungsort zu brauchen, in der Nachbarstadt schon
wichen die zu Grunde liegenden Choräle in Text und Melodie ab. Jeder
Hof verlangte seine eignen Opern, Sinfonien und Konzerte, jede Bürger¬
familie für ihre Freuden- und Trauertage Motetten und Lieder nach ihrem
Sinn. Jeder Kapellmeister, jeder Kantor und Organist mußte Komponist sein.
Sitte und Brauch zwangen zur Fruchtbarkeit, verhinderten die Talente brach
zu liegen und machten manchen zum Meister wider Willen. Zustände und
Anschauungen haben sich mittlerweile umgewandelt. Heute würde Händel keine
Tedeums, keine Begräbnishymne, keine .Krönungsanthems, Bach keine Ratswahl¬
kantaten, keine Gratulationsdramen, keine Parentationsmotettcn mehr zu schreiben
haben. Die Gelegeuheitskompositivn hat alle Bedeutung verloren, mit Aus¬
nahme von Liszts Graner, seiner Ungarischen KrönungSmesse und seiner Heiligen
Elisabeth, sind in unsrer Zeit auch keine nennenswerten Kompositionen ans
amtlichen Auftragen hervorgegangen. Der einzige Auftraggeber und Abnehmer
ist heute der Verleger. Der Komponist arbeitet nicht mehr für einen kleinen
Kreis, sondern für die weite Welt, 8ub spseiv Ästsrni. So hofft er wenigstens.
Nur hat er gar keine Gewähr, daß ihn die weite Welt beachtet; oft genug
kommt er nicht dazu, seine Chöre und Orchesterwerkc nur ein einziges mal zu
hören und seine Phantasie an der Wirklichkeit zu prüfen.
Trotzdem soll sich jeder junge Musiker auf die Komposition einrichten,
sei es auch nur, damit er die Werke der Meister besser versteht, damit er die
Wonne musikalischen Schaffens kostet. Glücklicher ist kein Sterblicher als der
Komponist, dein eine schöne Melodie, dem der Abschluß eines großen Satzes
eben gelang; so warm wirds auch dem Dichter und dem bildenden Künstler
nicht, und wiederum liegt das an dem physischen Element der Musik. Aber
auf die KompvnistentlMigkeit eine bürgerliche Existenz aufzubauen, bleibt ein
Wagnis, das Los großer Komponisten ist so unsicher wie das der großen
Philosophen und mit der besondern Schwierigkeit belastet, überhaupt zu Gehör
zu kommen. Anders als beim Schriftsteller thut beim Komponisten der Druck
der Werke nur wenig, sie wollen verständig und liebevoll aufgeführt sein. Das läßt
sich mit Bagatellen durch Hilfe ewiger guten Freunde schon ermöglichen, aber
für Opern, Sinfonien und große Chorwerke Paten zu finden, ist für den
konnexionslvsen Neuling eine harte Arbeit. Die Musiker haben versäumt, den
Verlust der alten Absatzstellen der Komposition irgendwie nnszugleichen; es
konnten und können in großen Städten zunächst mit Beihilfe der Verleger
regelmäßige Novitätenkonzerte eingerichtet, die allgemeinen und die sezessio-
nistischen Ausstellungen der bildende!? .Künstler nachgeahmt werden. Auch
hierfür fehlen Tonknnstlcrvereine, auch hier rächt sich der Mangel jeglicher
Organisation. Erst in allerletzter Zeit ist man dieser wichtigen Zeitfrage mit
dem Gedanken der Errichtung einer „musikalischen Fakultät," einer „musikalischen
Staatszeitung" als aiitoritativcn Zensurbehörden näher getreten. Wer garantiert
deren Autorität? Wer zwingt die Theater und Konzertinstitnte, die von der
Fakultät belobten Werke aufzuführen?
Angenommen aber, daß sich daS Durchdringen junger Komponisten in
Zukunft wesentlich erleichtern läßt, so bleibt noch die zweite Aufgabe, deu
materiellen Ertrag der Koiupositionsthütigkeit sicher zu stellen. Nur für die
Opernkomponisten hat das Tantiemengesctz von 1870 vorzüglich gesorgt, die
Komponisten für Hans und Konzert sind eben erst verdienstlich daran ge¬
gangen, berechtigte Wünsche zur Kenntnis zu bringen. Dn Musikverlag und
Volksvertretung die Möglichkeit, ihnen statt zu geben, bestreiten, steht ein
Kampf bevor, dessen Ausgang wesentlich von der Einsicht der Musikfreunde
abhängt. Diese können sich die Sachlage an der einfachen Frage klar machen -
Was ist vorzuziehn: daß ein Komponist wie seinerzeit Franz Schubert für
ein Heft der herrlichsten Lieder mit einem Gulden abgefunden wird, oder daß
er wie der Engländer Sullivcm durch ein einziges gelungnes Stück — sein
I^08t Ldorä — zu Wohlstand gelangt? Kurz formuliert heißt die Frage:
Pauschalhonorar oder Anteil am Absatz, Tantiemen? Das Tantiemenwesen
entspricht der Billigkeit, es beherrscht den deutschen Buchhandel, es hat sich
im Ausland auch für den Musikverlag bewährt. Die Opfer, die es in Deutsch¬
land von Verlegern und Publikum fordert, müssen gebracht, oder aber die
Methoden des Kompositionvertriebs geändert werden. Die Komponisten waren
in alter Zeit, in Frankreich noch bis ins neunzehnte Jahrhundert sehr häufig
ihre eignen Verleger; es wäre auch heute wieder möglich, daß sie ihre Geschäfte
selbst in die Hand nähmen. Auf alle Fülle ist die Revision des deutschen
musikalischen Verlagsrechts und des damit verbundnen Aufführungsrechts
wünschenswert und dringlich. Die Kunst braucht uneigennützige Begeisterung,
gelegentlich auch ein Märtyrertum. Aber sie ist gefährdet, wenn sie ihre Ver¬
treter vorzugsweise auf den idealen Ertrag verweisen muß. Auch der Gegner
der weichlichen Irvrosbix, die alle Lebensschwierigkeiten geistiger Größen zu
Verbrechen der Mitwelt umschmiedet, muß zugeben, daß diese Gefahr für den
deutschen Komponistenstand besteht. Wenn wir für einen Robert Franz und
für andre Tonkünstler, deren Werke noch verbreiteter sind, sogenannte Ehren¬
solde sammeln müssen, dann ists nicht zu verwundern, daß einige unsrer besten
Talente den Fleiß verlernt haben. Auch von dem Genie giebt es eine be¬
queme Spielart. Solange aber diese Verhältnisse nicht geändert sind, läßt
sich dem jungen Musiker nur raten, die Komposition als Erwerbsquelle erst
dann ins Auge zu fassen, wenn sie sich als solche bewährt hat. Goethe und
Schiller haben im Nebenamt gedichtet, Liszt und Brahms lange nur in dienst¬
freien Stunden komponieren können. Brahms freute sich der Zeit, wo er um
des Brotes willen beim Tanz aufgespielt hatte. Der echte Pegasus bleibts
auch im Joch!
Auch die Laufbahn des Virtuosen ist heute reicher an nieder als in
frühern Jahrhunderten. Sie hat an Eleganz gewonnen, seitdem die konzer¬
tierenden Künstler nicht mehr mit dem Subskriptionsbogen hausieren müssen,
für die vom Glück begünstigten auch an Ertragsfähigkeit, seitdem man in einem
Monat an dreißig verschiednen Orten auftreten kann. Aber es ist trotz ver¬
mehrter und beschleunigter Berichterstattung schwerer geworden, bemerkt und be¬
fördert zu werden. Hier besonders macht sich der Mangel des Mäzenatentums
geltend, an dem das ganze moderne Mnsikwesen leidet. Wer in älterer Zeit
sich auszeichnete, den nahm unfehlbar ein hoher Herr in seinen Schutz, sorgte
für die Vollendung seiner Ausbildung im Inland oder Ausland, gab ihm in
seiner Nähe einen Ehrenplatz und eine mindestens sorgenfreie Stellung. In
diese Lücke ist heute die Kouzertagentur getreten. Der Agent ist aber kein
Mäcen, er interessiert sich für einen Virtuosen um des eignen Vorteils willen.
Den erreicht er am besten, wenn er auf etliche hohe Nummern hält. Für die
stA-8 miniert er so eifrig, daß für andre gleich gute oder bessere Kräfte der
Boden abgegraben ist. Der Mitbewerb der Provinz hat durch dieses Verfahren
aufgehört, uur die Großstädte erzeugen noch Virtuosen, auf ihre teuern Süle
sind alle jungen Talente angewiesen. Dabei bleibt reichliche Virtuosenkraft
an den hintern Orchesterpulten unentwickelt, unbelohnt oder auf die Dankbarkeit
und die Bewunderung weniger Schüler und Freunde beschränkt. Das ist zu
bedauern, weil das Virtuosentum nicht bloß äußern, sinnlichen Wert hat. Es
veranschaulicht wirksamer als alles andre die Macht und die Bedeutung von
Persönlichkeit und Individualität in der Kunst und verdient die Kränze, die
ihm in der Sage gereicht werden. Darum darf es uicht zur Handelsware
werden, und die Konzertinstitute haben die Verpflichtung, die bisher gescheiterten
Versuche, das Agententum aus dem modernen Musikwesen auszuschalten, wieder
aufzunehmen. Ein deutscher Konzertverband und eine rein von künstlerischen
Interessen geleitete Zentralstelle für Solistenvermittlnng ist da!
Wenn der Dirigentenstand in neuster Zeit ebenfalls in den Agenturdienst
getreten ist, so liegt hier durchaus kein Postulat der modernen Musik vor,
die an die Qualität der Dirigenten hie und da andre, aber keine größern
Anforderungen stellt, als die alte, sondern eine zeitgemäße Spekulation, die
Erweiterung früherer Ausnahmen zur Regel. An sich können diese Gastreisen
nützen, wenn die Dirigenten wirklich Kräfte ohnegleichen sind, wirklich ihre ganze
Zeit an Wissen und künstlerischem Charakter überragen. Andernfalls führt
die Neuerung irre. Die ganz überwiegende Mehrzahl unsrer Konzertbcsucher
ist außer stände, einen falschen Weingärtner von einem echten zu unterscheiden.
Zweitens aber drückt eine künstlich geschaffne Elite den Wert der tüchtigen Lokal¬
dirigenten herab und vermehrt die Neigung zum Götzendienst und zur Zen¬
tralisierung, die der deutschen Musik verderblich und ihrer Geschichte unwürdig
ist. Reisender Orchester bedarfs für unsre Großstädte ebenfalls nicht, wohl aber
könnte sich ein Unternehmer durch Ausschicken eines Mustcrchors, wie es seiner¬
zeit der Amsterdamer Kirchenchor war, verdient machen. Auch die reisenden
Gesangsquartettc, deren wir mehrere haben, ergänzen das heutige Musikwesen
an notleidenden Stellen und verdienen deshalb Förderung.
Unter allen Klassen der deutschen Musiker sind es die Musikdirektoren,
deren Erwcrbsverhältnisse am meisten der Aufbesserung bedürfen. Die Thätig¬
keit eines Dirigenten, dem gute Kräfte zur Verfügung stehn, ist innerlich so
befriedigend, daß um ihretwillen mancher angesehene Virtuos seine Laufbahn
aufgegeben hat. Aber von den mindestens fünftausend Dirigentenstellen, die
sich mit Ausschluß der Oper und mit Einschluß der Liedertafeln in deutschen
Musikerkalendern nachrechnen lassen, ist kaum der hundertste Teil so dotiert,
daß ihre Inhaber ans Nebenerwerb verzichten können; bei der Mehrzahl ist
die Direktion das Nebenamt. Das scheint in der Ordnung, wo es sich um
wenig Ausführungen handelt; ists aber doch nicht. Das Amt verlangt einen
starken Einsatz von persönlicher Begabung, von Schule und Vorbereitung.
Jedem, der am Vormittag eine mehrstündige Orchesterprobe geleitet hat, ist
für den Rest des Tages Ruhe zu gönnen, wer abends auch nur die Übungen
eines schlichten Männerchors leiten soll, darf seine Frische nicht in Lektionen
verausgaben. Diesem Punkt wird besonders von den deutschen Chorvereinen,
mit einer einzigen Ausnahme, keine Rechnung getragen, und daran krankt dieses
ganze Chorwesen. Wie diese Dilettantenchöre sind, hätten die meisten, soll es
in Deutschland auf diesem Gebiete den: Ausland gegenüber nicht ähnlich gehn
wie im Schulgesang, Chorschulcn und Privatkurse nötig und müßten ihre
Dirigenten so stellen, daß sie ihnen die volle Kraft widmen könnten. Von
diesem Ziele trennen uns noch außerordentliche Schwierigkeiten; aber es ist für
die Klärung der Sachlage förderlich, es aufzustellen. Dazu, daß es allmählich
erreicht wird, können die Musikzeitungen, unter denen es Spezialorgaue des
Chorgesangs giebt, viel beitragen.
Auf dem Wege, die Einkommensfrage günstig zu lösen, sind die Musik¬
lehrer und die Orchestermusiker, die einzigen Gruppen des Standes, die gemein¬
same Interessen geschlossen zu vertreten begönne:, haben, vielleicht, weil in
beiden die Not am drückendsten war. Auch bellte leiden beide noch an der
Überfüllung des Berufs, die Orchestermusiker so sehr, daß ein Anfänger froh
ist, wenn er nach langer, mit einem dreijährigen Konservatoriumskursus be¬
endeter Lehrzeit einen Jahresgehalt von tausend Mark erreicht. Die Mit¬
glieder angesehener Kapellen stehn in ihrem Fixum ungefähr den Volksschnl-
lehrern gleich, die Konzertmeister den Schuldirektoren, in der Mitte die Vertreter
wichtiger Soloinstrumcnte; bei der allsreibenden, zu frühem Alter führenden
Natur ihrer Arbeit eine immerhin bescheidne Lage. Die Musiklehrcrvereine
haben ihr Hauptaugenmerk zunächst auf die Verbesserung der Leistungen
gerichtet; auf dem materiellen Gebiete werden sie das Teil von Ungleichheit
und Zufall, das in der Natur der freien Gewerbe liegt, immer ertragen und
es dulden müssen, daß persönliche Verbindungen und Geschäftstalent die Be¬
gabung und die Tüchtigkeit überfliegen. Für alles aber, was am Los des
Musikers mangelhaft ist, läßt sich Besserung nur unter zwei Bedingungen
ermöglichen: das sind nüchterner Blick und Zusammengehn!
!le Europäer, die die Gesellschaft in den Tropen oder in Nord¬
amerika zusammensetzen, stammen bekanntlich keineswegs aus
besonders ahnenstolzen oder vornehmen Kreisen, im Gegenteil,
zumal die Deutschen. Hierin liegt der Grund, warum die
I Deutschen draußen so leicht zu Engländern werden. Sie stammen
aus zu einfache,: Kreisen. Zu Hause haben sie keine gute deutsche Gesell¬
schaft zu sehen bekommen. Werden sie nun draußen reich, so wollen sie
auch vornehm werden, und wissen doch nicht, wie sie sich benehmen sollen.
Sie haben nur das englische Vorbild, und diesen: müssen sie folgen. Das
Vornehmwerden geht in den Tropenkolonicn sehr schnell. Jeder junge Kauf¬
mann, der hier in Deutschland für Gleichheit schwärmt, weil er ohne Ver¬
mögen fürchten muß, sein Leben in Dunkelheit zu verbringen, wird draußen
in einem halben Jahre zum Bluts- und Rassenaristokraten, der einen Farbigen
nicht für einen Menschen von seiner Art ansieht. Dieser Nassenstolz und
Hochmut führt auch nicht etwa ein verschwiegnes Dasein im Subjekt, sondern
wird von seinem Objekt, dem Chinesen, Inder und Neger erkannt, um nicht
zu sagen anerkannt, und mit dem entsprechenden Haß beantwortet. Wie recht¬
fertigt sich dieser Hochmut? Ist die Überlegenheit des Weißen über den
Farbigen so groß, daß man ihn damit erklären darf?
Ist es ein Vorrang der Intelligenz, der die Weißen so stolz macht und
machen darf? Keineswegs, Der Neger ist nicht dümmer als der Weiße,
Man setze einen Negerknaben in eine deutsche Kuabenklnssc, so wird er Rechnen
und Schreiben und fremde Sprachen mindestens ebenso schnell lernen wie die
deutschen .Kinder, Die Inder und die Chinesen sind erst recht, auch ohne unsre
Schule, klüger als die Weißen.
Ist es die Kultur, die uus überlegen macht? Ein Schatz überlieferter,
höchster Geistesarbeit, geschulte Kraft abstrakten, philosophischen Denkens?
Aber wie man auch Kultur definieren mag — ein vornehmer Inder, ein ge¬
lehrter Chinese hat viel mehr Kultur als wir Europäer. Ihre Kultur ist nicht
nur viel älter als die unsrige, die der vornehmen Inder ist auch viel tiefer
und feiner. Diese Leute haben dein Europäer gegeuüber uicht das Gefühl, vor
einem höher kultivierte» Menschen zu stehn, sondern vor einem noch ziemlich
rohen Barbaren, roh in seiner Verkehrsweise, in seinen Gefühlsäußerungen,
in seinem Geschmack, in seiner Lebensführung, in seiner Philosophie.
Ist es die Moral, die uns überlegen macht? Die Tropencuropäer
machen keinen Anspruch darauf, als moralische Leute zu gelten. Im Gegen¬
teil, Besonders im Verkehr mit der weiblichen Hälfte der farbigen Völker
sind sie durchaus uicht gewissenhaft, nicht einmal vorsichtig oder wählerisch,
it)r Hochmut hindert sie nicht, hier ganz intim und häufig recht gemein zu
werden, Sie Wollen auch in andern Hinsichten keine Tugendspiegel sein, Sie
fühlen sich dort als aller moralischen Fesseln ledig und frei und meiden nur,
was ihre Vorrangstellung beeinträchtigen könnte.
Aber die Weißen sind doch allen andern Völkern überlegen, und zwar
durch ihre viel größere Willenskraft. Die andern Völker fürchten sie als die
mutigern, willensstärkern. Zwar haben die farbigen Völker auch Mut, z. B.
den Mut der Verzweiflung, der Todesangst, des Hasses, der Blutgier. Sie
sind aber nicht Herren ihres Muts. Etwa wie dein Tiger, der für gewöhnlich
den Menschen nicht anzugreifen wagt, wohl aber, wenn er gereizt, verwundet
ist oder die Jungen in Gefahr sieht — so kommt ihnen der Mut mit den
Umstünden. Oder um ganz im allgemeinen von der Fähigkeit zu handeln,
der motorischen Kraft der Hirnrinde, der Energie zu sprechen: wie der Hund,
wenn man zu ihm sagt: Wie spricht der Hund? sich vergebens abmüht, einen
Ton aus der Kehle zu bringen; sobald man aber zur Thür geht, als wollte
man zum Spaziergang, läßt ihn die Freude sofort seine Sprache wiederfinden :
so braucht auch der wilde Mensch den Affekt, um seine Handlungen auszu¬
lösen. Er hat Mut, mir wenn sein Affekt es ihm erlaubt. Der Weiße aber
hat kaltblütigen Mut. Auch der Gefahr gegenüber behält er sein klares
Denken. Seine Leidenschaften verwirren und fesseln ihn nicht. Er kann sie
festhalten, wie Hunde an der Leine, und loslassen wie Hunde von der Leine.
Das können in dem Maße die andern Nassen nicht; entweder sie haben keinen
Mut, oder sie haben nicht die Ruhe des Mutes.
Wenn man von wilden Menschen spricht, so möge man sich unter dem
Worte Wildheit nur Unberührtheit von jeder Zucht vorstellen, so wie man
von einem wilden Reh, einer Gemse spricht, nicht aber Gefährlichkeit. Natür¬
lich können Neger, Chinesen und Malaien auch gefährlich sein. Aber die
wildesten und gefährlichsten Menschen auf der Erde, das sind nie Farbige,
sondern das sind verwilderte Weiße. Man erzählt von den gefährlichsten
chinesischen Seeräuberhorden, daß ihre Anführer Weiße gewesen seien. Wenn
man von Wilden spricht, so setze man hinzu: arme Wilde. Das zeichnet die
Wirklichkeit am besten.
Es ist doch lächerlich, mit wie geringen Waffenmitteln die Engländer
ihr großes Kolonialreich, darunter das Reich von dreihundert Millionen, Indien,
bisher beherrscht haben.
Hunderttausend weiße Soldatei, sind es vielleicht, die das leisten müssen
und bald in den Bergen des Himalaya, bald im Sudan, bald an der Goldküste
oder gegen die Kaffern Siege gegen große Überzahl erfochten haben. Wie
gering diese Machtmittel bisher gewesen sind, das sieht man jetzt erst, da es
ihnen nicht gelingt, ein kleines Völkchen von 30000 holländischen Bauern zu
überwinden. Warum gelingt ihnen hier nicht, was sie sonst gegen die zehn¬
fache Überzahl vermocht haben? Weil es eben auch Weiße sind, Germanen,
die einen Willen haben, der ebenso stark ist wie der ihrige, ebenso ausdauernd
und langatmig und ebenso vorausdenkend ist.
Die Beherrschung der farbigen Nassen ist für den Weißen nur allzu leicht.
Trotz des Rassenhasses des Unterworfnen, trotz des Hochmuts und der Roheit,
womit man sie gewöhnlich behandelt, trotz der lächerlich geringen Minderzahl
der Weißen unter der tausendfachen Mehrheit der Einheimischen kennt man
draußen keine Gefahr. In manchen europäischen und manchen amerikanischen
Großstädten ist es vielleicht nicht feig, sondern vorsichtig, wenn man nur mit
dem Revolver in der Nacht ausgeht. In den afrikanischen und asiatischen
Küstenstädten würde der ausgelacht werden, der mit der Waffe ginge. Ich
erinnere mich an eine Nacht in einem kleinen afrikanischen Hafen, wo es nur
wenig Europäer gab. Einer war bis spät in die Nacht an Bord geblieben
und hatte sich schwer betrunken. Am Fallreep lag sein Boot mit acht Negern
bemannt, die sich schwatzend die langen Stunden Vertrieben. Schließlich ver¬
luden wir ihn mit sehr viel Schwierigkeit in sein Boot, und als er taumelnd
sich am Nuder niedergelassen hatte, gab er das Zeichen zum Losfahren, indem
er mit seinem Stiefel die vor ihm sitzenden Neger in den Nacken trat. Die
treuen Kerle hatten ihn noch zwanzig Minuten lang durch die dunkle Nacht
an Land zu rudern.
Auf der Reise von Singapore nach Hongkong hatten wir dreihundert
chinesische Deckpassagiere, während wir an Bord, Schiffsleute und Passagiere,
höchstens dreißig Weiße waren. Diese Chinesen wurden auf dem Vorderschiff
von den Matrosen herab bis zum Schiffsjungen mit dem Tauende geprügelt
und hinten von den Schiffsoffizieren, obwohl sie teures Geld für die Über¬
fahrt bezahlen mußten, Sie lagen so eng an Deck, daß sie immer über die
ihrem Aufenthalt gezognen Grenzen überquollen. Eine einfache Leine sperrte
sie ein und wurde natürlich oft genug von der eingeengten Menschenmasse nicht
respektiert. Das gab immer neue Gelegenheiten zu Handgreiflichkeiten. Wollte
man durch sie hindurch gehn, so schob man die liegenden mit dem Stiefel
beiseite, und nachts trat man darauf; ich erinnere mich noch des wunderbaren
Gefühls, auf schlafende Menschenleiber getreten zu sein, aber man scheute sich
davor weniger, als unter sie zu fallen. Für alle Mißachtungen hatten sie nur
Verwünschungen. Sie konnten jeden Augenblick das Schiff in die Hand be¬
kommen, indem sie vorn und hinten die Weißen einsperrten und mitschiffs die
sechs bis acht Mann überwältigten. Es ist das auch schon einmal vor¬
gekommen vor einigen Jahren. Nachdem die Europäer zum Teil getötet, zum
Teil eingesperrt waren, kamen seerüubernde Chinesen ans einigen Dutzend
Segelschiffen nach Verabredung läugsseit und plünderten mit den chinesischen
Passagieren das Schiff, das sie schließlich sich selbst überließen. Das Schiff
erreichte mit dem Reste der Besatzung den Hafen. Es gab eine lange Unter¬
suchung. Einige Chinesen wurden geköpft. Aber in solchen Fällen erlaubt
man sich immer zu zweifeln, ob es auch die richtigen waren. Danach hat man
auf einigen Reisen für Waffen gesorgt. Aber zu meiner Zeit wurde das schon
wieder außer acht gelassen. Wir bekamen dann einen drei Tage währenden
Taifun. Damit die dreihundert Chinesen nicht über Bord gespült würden,
mußten sie in die Kohlenbunker und haben dort drei schreckliche Tage ver¬
bracht unter dem furchtbaren Tosen des Sturmes, das einem das Wort im
Munde überdröhute, in stockfinstrer Nacht, ohne Essen und Trinken, im Dunkeln
alle Katastrophen der Seekrankheit erlebend, mit Frauen und Kindern, auf
einem unebnen und hin und her rollenden Boden, sie selbst in der Dunkelheit
bestündig über- und durcheinander geschüttelt.
Am Tage nach dem Sturm, als die See noch unruhig, aber die Lage
doch nicht mehr gefährlich war, wurde an der Luke, die in die Kohlenbunker
führte, eine Bohle gelüftet. Eine Galerie von Köpfen garnierte beständig
diese Öffnung, um frische Luft zu schöpfen. Über der Luke stand ein Matrose
mit einem Knüppel, um den, der heransklcttern wollte, auf die Nase zu schlagen.
Schließlich durften sie alle wieder ans Tageslicht, schwarz wie die Neger von
den Kohlen gefärbt, froh, daß sie ihr Leben noch hatten. Einer allerdings
kam sterbend heraus.
In den ostafrikanischen Häfen kommen indische Kaufleute an Bord und
breiten an Deck ihre Waren aus. Während der Tage im Hafen ist der Kapitän
meist an Land, und der erste Offizier Herr im Schiff. Er kann von den
Händlern von Bord jagen, wen er will. Darum müssen diese ihn bei guter
Laune halten, ihm Vorzugspreise, zuweilen auch Geschenke geben. Manchmal
hat auch der Offizier etwas zu verkaufen. So sah ich unsern ersten Offizier
einmal einen wertvollen Bambusstuhl verhandeln, den ihm ein Passagier
hinterlassen. Das gab folgende Szene: Der Inder bietet, der Seemann ver-
langt mehr mit allerlei halb scherzhaften, halb ernsthafte» Drohungen. Nachdem
eine Stunde gemäkelt ist, kommen sie überein, und schließlich sagt der See¬
mann, indem er das Geld nimmt: Da hol dir deinen Stuhl, und wirft den
Rohrstuhl über Bord in weitem Bogen ins Meer. Der Inder kunst erschreckt
hinter seinem Stuhl her. Ein paar nackte Neger apportieren ihn schnell, und
unser Lachen begleitet die Szene.
Der Nordeurvpäer ist den meisten Tropeubewohnem auch an Körperkraft
überlegen. Herkulische Neger habe ich auf meiner Reise nicht gesehen unter
den vielen hundert, die auf unserm Schiff gearbeitet haben. Einmal machte
mich der Ingenieur auf einen aufmerksam, der wirklich unter seinen Kameraden
an Kraft und Schönheit auffiel, und es auch merkte, daß er uns gefiel. Der
paßt in die Garde, sagte der Ingenieur, der selbst ein großer und starker
Mann war. Ich rief den Neger heran und stellte ihn neben meinen Ger¬
manen, da verschwand denn freilich der Neger vollkommen. Weil diese
Menschen schwarze Farbe haben und nackend gehn, sodaß man das Spiel der
Muskeln sieht, erscheinen, sie uns viel kräftiger, als sie sind. Thatsächlich
sind sie meist schöner und können sich dann eher nackend sehen lassen als
der Kulturenropäer. Das hat aber auch seine besondern Gründe. Weil die
Sterblichkeit unter ihnen größer ist, und weil sich die Küstenbevölkerung durch
Zuwandrung verstärkt, so sieht man unter ihnen mehr junge Leute als unter
den Europäern. Körperschönheit gehört aber nur der Jugend. Man würde
auch bei den Deutschen mehr Körperschönheit sehen, wenn nicht der Biergenuß
bei der große» Mehrzahl vou unsern Landsleuten das Ebenmaß verdürbe.
Weil unsre Seeleute zumeist kräftiger als die Tropenbewohner sind, so
fühlen sie sich, ebenso wie manche Gebildete, immer versucht, ihre Kräfte an
den Kerls zu probieren. Der Unterschied der Kräfte wird noch erhöht dadurch,
daß der Weiße die Muskulatur, die er hat, viel mehr unter seinen Willen stellt
und mehr anspannen kann als der Farbige. Das zeigt sich sogar bei der
körperlichen Arbeit, die doch in dein heißen Klima oder gar in den Heizräumen
eines Schisses, wo die Hitze über Blnttemperatnr steigt, für den Weißen mit
so viel großem Strapazen verbunden ist. In Aden wechselten wir die Heizer.
Die deutschen Leute fuhren nach Hause, und Schwarze wurden angeworben.
Hierbei nahm man für zwei deutsche drei Schwarze, weil in diesem Verhält¬
nisse die Leistungen zu einander stehn. Der Schwarze spielt bei der Arbeit.
Sein Wille reicht zu andauernd gleichmäßiger Anstrengung uicht aus.
Noch eine Geschichte von der Sorglosigkeit der Europäer unter den
Farbigen. Singapore ist eine Stadt, wo ungefähr 50000 bis 100000 Chinesen
und Malaien wohnen. Die englische Besatzung ist lächerlich gering. Vielleicht
1000 Europäer, hoch gerechnet, leben dort. Sie haben ihre Häuser zum Teil
weit vor der Stadt im Walde. Dort wohnen die Damen tagsüber allein
mit einer farbigen Dienerschaft von vielleicht zwölf .Köpfen, und nicht nur
tags, sondern auch nachts allein, wenn sich der Gatte aus dem Klub nicht
rechtzeitig nach Hause findet. Einmal gab es in Singapore eine kleine Revolte,
weil die nackten Kuli, die als Pferdchen und Kutscher zugleich die zweirädrigen
Wagen ziehn, von der Polizei gezwungen wurden, sich eine Droschkennnmmcr
und eine Jacke, beides in einem Gegenstand vereint, umzuhängen. Einige
Tage ging man mit dem Revolver durch die Stadt. Dann aber wurden
wieder Faust und Stock die einzige Waffe. Auch eine Mehrzahl von Chinesen
greift einen Weißen so leicht nicht an, es sei denn, daß er hilflos betrunken
ist. Ein Herr hat sich im Klub verspätet. Spuk in der Nacht verläßt er erst
das Haus und setzt sich in so eine kleine Knlikutsche. Ohne zu fragen, läuft
der Kuli los. Der Herr wird schon sagen, wenn der Weg nicht der rechte
ist. Aber der Herr schläft ein. Der Kuli läuft immer gerade aus, bis er
alle Häuser hinter sich hat, bis die Gasbeleuchtung aufhört, und der Weg sich
teilt. Hier sieht er sich nach seinem Herrn um, um zu frage», wohin er sich
wenden soll, und sieht, daß der Herr eingeschlafen ist. Da er nnn weiß, daß
es gefährlich ist, einen betruutueu Deutschen zu wecken, so senkt er die Gabel
seines Cabs auf den Boden, setzt sich hinzu und schläft anch. Die aufgehende
Sonne weckt dann die beiden.
Der Neger folgt dem Weißen auch gegen die zwnnzigfache Übermacht, er
mißachtet die Gefahr, eigentlich nicht aus Mut, sondern aus Maugel an
Energie, ans blindem Vertrauen in seinen Herrn. Solange der weiße Mann
aufrecht steht, steht auch sei» Mut aufrecht; sowie aber der Weiße gefallen ist,
wird er die Beute seiner Affekte: der Angst und der Unbesonnenheit. Mit seiner
guten Waffe in der Hand läßt er sich vom Feind wie ein wehrloser Hund er¬
schlagen. Das Vertrauen ans den Weißen unterscheidet auch uicht, ob dieser
Offizier oder Arzt oder Apotheker oder Handwerker oder Kaufmann oder Unter¬
offizier ist. Es sei nur ein Weißer, so ist er seines Führerberufs sicher.
So ist der Weiße in allen Erdteilen Herr über die Farbigen. Nicht
durch ein großes Aufgebot von Waffengewalt. DaS ist immer mir sehr gering.
Nicht durch Einkerkern und grausame Leibesstrafen, die giebt es nur, wo die
Gefahr für die Weißen sehr groß ist, z. B. unter den Muhammedanern von
Holländisch-Hinterindien. Für gewöhnlich werden nur die Faust, der Stock
und etwa der Stiefel gebraucht, auch der Kibvlo, der Stock aus Nilpserdhaut.
Das, was eigentlich die Herrschaft der Weißen liberal! gründet, ist, daß sie
wissen, was sie wollen, daß sie kaltblütig wollen auch der Gefahr gegenüber,
und daß sie ausdauernd wollen. Sie sind nicht nwmlischer, nicht kultivierter,
uicht intelligenter, sondern willcnskräftiger, als die meisten andern Rassen.
Einer annähernd gleichen Kraft begegnen sie mir in den Muhammedanern.
An allen Küsten des Indischen Ozeans findet der Europäer alte muhammeda-
nische Staateugrnndungen vor, Feudalstaateu, nur in ihrer Spitze von arabischer
Rasse bevölkert, die noch in der Vermischung erkennbar ist, in den untern
Schichten von dem einheimischen Volk, Negern hier, Indern und Malaien
dort. Alle aber befähigt der nuchammedanische Fanatismus, mit Todes¬
verachtung in die Schlacht zu gehn so, wie die Chinesen im letzten Kriege,
die der Überzeugung waren, sie würden nach drei Tagen wieder erwachen.
Wohl die geführdetste Europäerhcrrschaft und zugleich die strengste ist die der
Holländer unter den muhammedanischen Malaien Hinterindiens. Auch die
muhammedanische Religion lehrt die Gleichheit aller Meuscheu vor Gott.
Überall, besonders auch in Afrika, sind die kräftigsten Völker mnhammedanisch,
eutlveder weil gerade diese Völker für den Muhammedanismus reif Ware»,
oder weil eben diese Religion ihnen Kraft giebt. Aber auch der Muhnmme-
dcmer, er sei schwarz, gelb oder weis;, braucht, um seiner Energie einzuheizen,
den Affekt, besonders den des religiösen Fanatismus, der ansteckend von einem
Menschen zum andern springt. An der faulen Schlaffheit und Thatenlosigkeit
der heutigen Türken sieht mau aber auch, was dieser Affekt nicht kann,
nämlich nicht den verständig nachdenkenden Einzelwillen ersetzen. Der nüchterne
Einzelwille, das ist die Kraft der europäischen Kultur. Aus Hunderttausenden
von solchen Willen besteht der endlose Thatendurst eines Volkes, das sich in
Unternehmungen und Erfindvngen uicht genug thun kann, aus ihnen folgt
die unerschöpfliche Flut »euer fruchtbarer Gedanken. Dem Orientalen sind
die Ruhelosigkeit des Europäers, die beständige Unzufriedenheit mit seiner Lage,
seine zahllosen Bedürfnisse und Wünsche, die Arbeitslust und die Erwerbslust
und die Ausdauer seines Willens, die auch vor den langwierigsten Schwierig¬
keiten nicht müde wird, einfach unheimlich. Er hat nicht den rastlosen Willen
d
er deutsche Malteserritter Freiherr Augustin zu Mörsperg und
Beffort, dessen sehr interessantes, reich mit bildlichen Beigaben aus¬
gestattetes Reisewerk als stattlicher Folioband handschriftlich im
Fürstlichen Landcsarchiv zu Sondershausen liegt und erst 1893,
nachdem es bis dahin als verloren gegolten hatte, von Martin
Wagner wieder ans Licht gezogen wurde (man sehe dessen Aufsatz in den
„Preußischen Jahrbüchern" 1893, Band 73, Heft 3, Seite 484 ff.), kam ans
seiner dritten großen Reise durch die Länder Europas 1592 auch unes Däne¬
mark. Hier besuchte er mit dem jungen Könige Christian, der ihn sehr liebens¬
würdig aufnahm und ihm viel Ehre erwies, auch Thcho de Brahe („Tnhbrott")
auf seiner Insel Homil (,,Wien") und schildert uns nun ziemlich ausführlich
die vielen Wunder, die er dort zu sehen bekam. Als Nachklang zu der jüngste»
Gedächtnisfeier für den großen Astronomen dürfte es vielleicht nicht uninter¬
essant sein, des vielgereisten Maltesers Bericht über diesen Besuch im Wortlaut
zu hören. Mörsperg war nach einem Aufenthalte von drei Wochen in England
von London über Hamburg nach Holstein zu Herzog Johannes und nach acht¬
tägigen Verweilen am Hofe zu Sonderburg nach Kopenhagen und Krvnenbnrg
gekommen. König Christian weilte aber mit seinen Räten ans seinem Lustschloß
Hirschholm. Als er durch den Gubernator von Krouenburg ,,Stein Mvltzeu"
(Molshcim) dei» Könige seine Empfehlungsschreiben hatte übermitteln lassen,
Wurde er anderntags zu Wagen abgeholt, mit dem Könige die Wunderinsel zu
besuchen.
Nachdem er in seiner Schrift auf der vorhergehenden Seite das eingeklebte,
kolorierte Porträt des Königs in Stich und darunter in Aquarell und Gold
sauber ausgeführt das königliche Wappen gebracht hat, berichtet er im folgenden
Abschnitte über diesen Besuch wie folgt:
Bon dem König Cristianus vnd scynenn Rhätten, wie von der Insekt Wien vnd
auch dem Astromus Tuhbrvtt In Dennemarck, 1592.
Diser Konig frere noch diser zeytt kein Regiment. Sonder die Riebs Rhett
so da whar Petter Monat Riebs Admirall. Hock Halgerschcn Landhoffmeister. Rvsen-
kranh laute Marschalck. Reinh der Cantzler. Item Broden Bild, Item einer von
Byli hoffmarschalck, Jneob Krad, hoffrhat, vnd vit ander herreir mit N'eichen Ich
>M guckte Kuntschafft käme, so das Regiment fhnertten In Dennemarck. dißmal
ooch zimliche Stattliche Königliche Hvffhaltung Jerem König den sie merers Dheil
nennten vnser Printz.
Den andern Dag zog der Konig mit sampt den Rhcitteu vff die Insekt Wien
dahin man zu gutschen vnd schiff mneßt, wie ein klein men zu Wasser so ligt zwischen
^vppenhagen vnd Kronnebnrg, dohin mich der Konig auch gnedig mit nam wegen
'»einen Neeomnndntivn schreiben.
Dise Insekt of ein klein men lang vnd breit, da In der Mitten das Astro¬
nomisch schloß geformiert fast wie vier stern gebaut worden dnrch den fnrnemen
'lstrmmmns Tnhbrvt so whar einer von Ateti noch ledig*) so nlda whvnt vnd das
gnntz Haus; schloß wie auch ausserhalb so wol Juerhalb alles voller Kunstück vnd
'lstronomische Zeichen vol whar. vber die maß künstlich vnd lustig zu sehen mit
verwundern.
Vnd 9. Vhr kamen wier zu laute an die Insekt, da vnder andern fhueren
och Tuybrotz Astromischen gutschen stiert, die aller kunstück vol whar, drauf
'Aich der Konig mit 2 richsrhetteu vnd Astromus rauh. Also >vol ein men zuuor
der Insel rond fhneren allerhand zu besehen vmb das schloß Im feldt. Vff
gntsch vorne» Stunde ein schönrer Klobus, so sich selber bewegt arttlichen. Item
Jnstruuieut so do zeigt vnd schlieg ettlich Klöckle. Nämlich die viertel men
Wegs vnd gantze acht, wair man die fartt, so do zugieng durch geschwi»digkeit wie
vmbgh^n eines Radtz an der gutschen das do zuegericht wie offt das in einer
'nent vmbghen mueßt. vnd mau fhuer starck oder gemach so gieng der zaiger vnd
Muegeu die viertel men das klein Klöckly wie die gantz men das groß, vnd wie
^es verstaust mau es In alle laute richten tan dem die mcylen bekümt. In
ver gutschen rond als of den knöpfen vnd wincklen, waren allerhand von Compassen
'hrwerck vnd »arrenbossen wan man etwas druckt selber vfsprang vnd sich erzaigt.
In disem hauß verbrachten ivier wol 3. stundt alle ort vnden vnd oben vnd
allenthalben wo wirdig was zu sehe», dessen gcuuegsam vnd wunderbarlich wie
ruustrich das gantz hauß voll whar so vuß diser Astromus zeigt, vnd gar weit-
muffig dorvon zue beschreiben loser vnd mit wenig Worten doch ettlich die fur-
nempsten vermeiden will.
Vnder neben dein Weinkeller ein groß gewelb, darin er Tuvbrott sein diestenlier-
werck vnd offen, darauf ein grosse menge von distenlier glesser feuerten, alle in
.^' arbeit, of allerhand formb. of einem offen, ettlich gar krumb oben von kupfer
W durch ettlich fenster hinaußgiengen vnd zu andern wider hinein, dori» distenliert
^ londere Sachen, wie sonderlich ein großer Alchimist, neben der Astronom! starck
^ehe^ab zue solcher arbeit woll aliam vff 8. oder 9. dienner halt, so deglich
vnd stundtlich by disem werck verbleiben »liessen, vnd nchtnng dranff geben, und
Jeder besonder, Nun hatt er ein arttlich register wie an einer orgelt wie zapffen wol
an 7. ortten Jm hauß, nämlich du er ligt neben dem bete, neben dem disch, do
er Ißt, Item do er studiert, vnd andern ortten, allenthalben Im hauß, vnd so
offt er ein dienner begert, griffe er der register oder zapffen einen oder mer an,
In einer beide Ist ans; dem keller, der dienner vor der dhur antönen, frngent
was man sein well, welches der Konig selber an ettlich vnderschidlichen ortten
probiert hat, mit verwundern, volgentz vnß gezeigt so sondere glvckly by Iren
dorten, neben einander fecere, do Jeder die sein kent.
Wenders") dorten In einem andern gewelb ein offen, do man glesfer macht,
vnd breue, drauf auch of 4. oder 6. Personen, vnd mer deficit, so in presentia des
Königs ettlich gemocht haben.
Item oberthalb ein ziemlichen saal, dorin ein große menge abevnterfeichungen,
sonderlich von den fnrnemvsten Astronomi, dorunder auch Landtgraff Wilhelm In
Hessen alle gar lebhcifft, muß disem Saal tan, in ein schönrer dhurn geen, neben
disem Saal.
Item In diseni Turm so Rout, sleet Ein Astrologischer Klobus, so groß als
ein paß, rout von Moses (Messing) hol, dörrend alle himclische Zeichen, die weit
vnd was dorin, noch nrtt der Klobbns, vnd man das dach oben arttlich
hinweg heben vnd dises Instrument noch des himels lausf richten kan, wie
mai: will.
In disem Hauß hatt es noch 4, Turm, In welchen alle solche vnd derglichen
Astrologische oder Astronomische Instrumente, Hangent, fecere, of allerhand manier,
wunderlichen zue sehen, von Kupffer, Moses, Ihm, vnd andern Mettall als groß
wie fesser, Item Reder, hoch wie die hallenbnrtten vnd schier xen spieß hoch vnd
lang, die er richten, leren, wenden kan, noch des himels Laufs, wie er will,
vnd durch ettlich lochly vnd Wortzeichen, seine sternen vnd planetten absehen tan.
Auch Ju seiner lauer neben disem Saal, neben seinem bete sleet ein groß
hoch Rad, so ein Den zu der maur hinauß also gemacht, so er vmbkeren kan, im
bete, des himels lauf durch ettlich lochly, by der nacht, hindurch zue sehen, vnd
der Konig wie Wier all dorbey vnß mit genuegsmnb verwundern können, der selt-
zmnen abenthurlichen sachen, so ein groß gelt kost haben, vnd nit glnnb oder dorfnr
halt, das ein solche Menge vnd große Astronomische Jnstrmnenta wett vnd breit
gefonden werden.
Item Sonst Im gantzen hauß an allen ortten vnd wincklen, es voller kunstücke
steckt, vnd Ist vnd"") iveitleuffig zu beschriben, Ja ein gnntz libell vnd duces von
rotten oder sonderlichen mit seltznmen dhüren so of beten heilten vfghent, mit
wunderlichen dischen, do allerhand Musica, wie hanßrhatt, vnd vit seltzams dorin
steckt, Item werckliche fenster, Stück, Sessel, ivinckell, wendt, betstat, vnd In sonar
nit bald vit derglichen sachen gefonden werden.
In mitten dem hoff, ein lustiger drum, mit hundertseitigen, arttisitiosischcn
Inventionen, von rore», bittern, thieren, vöglen, vff vnd vmb den brunen rond.
Vor denn schloß noch ein ander konsthauß, aller voll derglichen mit vit Zimer»,
dorin erstlich ein buechdruckery, mit vit Personen, do vor dem Konig, vnd vnß
andern, gleich ettlich blctter gedruckt worden, vnd sonderlichen von Astronomischen
biechern, do er zwey schier drey kammer vol biecher dorneben schon hatt, so hin
vnd wider In die weit verschickt werden.
In disem andern Knnsthcmß auch die glnßhutten steckt sampt neben lnnern
voller glesser schon gemacht of den lauf von allerhand höreten.
Wenders sleet noch das dritt Knnsthauß etwas wcitters dorvon gegen dem
Mor zue. So ist ein Müller, Alba vnder andern ein groß Rad, so gar mit wenig
Wasser 3. oder 4. würckung dhuett.
Erstlich das korn zue Meil noch begeren Malt, und macht.
Zue dem andern ein schliffmulleu bride vnd fhiert,
Zum dritten ein stampsf mulier, sonderlich von lumpen zu Papier.
Zum 4. diß Rad ein ander Wasser werck shuert zu ettlich bruneu werck.
Also auch neben diser Mullen, do man das Papier macht, of allerhand
Manier, wie solches vor dem König aprvpierbt vnd pill bletter gemacht worden in
einer geschwinde.
Item ob diser kunstmille hat es noch vit dych vnd wasserfeell, so zuegericht
die seltznme effectus thuend, und Jene nit vit Wasser leer abget, dorfon kein
bberflnß.
Item das viere Konsthnuß, nit weit von der Müll so ein Maierhoff, der nit
aliam nützlich sonder lustig, mit allerhand nützlichen pratiea, nllcrhandt erziechuug
huner, Pfaden, genß, enden, vnd darben, wie von vichzncht, vnd pfertt. Item
seltzame bachoffen, 3. 4. auch 5. of, vnd neben ein ander, die mit einer hitz alle,
oder so vit man will, gewermbt können werden.
Diß alles vnd noch vit mer gesehen vnd aliam das ivirdigest beschriben
Wellen.
Noch disem huett diser Astrouomus dem Konig, seineu Rheeder, vnd hofgesint,
ein lustige Mittag Moltzeit, do man frolich whar mit grosser verwundern, der
gesehenen Sachen. Vnd Vesperzeit whart man wider of zu gutschcu, vnd schiff gegen
"beut gen hirßholm, so gar ein lustigs furstlichs lusthanß.
Mit Jr Königliche Mas^ vnd Richsrhett Ich in guckte eonnersation Käme vff
disem hnnß, so mich alle gar wol lebten mochten, vnd gar gern bey sich hatten.
Sonderlich an der Königlichen Daffell, do er Konig vnd die sehnigen wol leiden
vnd inier zuhöre» möchte», wie auch sonst wol erfarne gelertten Hoffrhett hatt, die
"und zimlicher massen was gesehen, Sonderlich Herr Jacob Krabbe, ein furuemmer
sicher Lantzherr so In Dennemarck wonhafft In Schonlant (Schonen), so aler
hernach, wie man hören Wirt grosse frcnndtschcifft, vnd Ehr crzoigt, by Jr May:
hoff verhärte Ich vff «>. Dag. Nochgeeutz mein vnderthenigst abscheidt nam, dn
Mas: sich gantz mer tun gucdigst gegen aler erholt, wie auch of den saal
^es much In seinen dienst zu hoff begeben woll, stattliche anerbiettung vnd vnder-
haltung auerbott. Lues; mich also vff gutschen mit dem obrister vnd gnbernatoru
Stein Mois heim, zu Cronnenburg, dvhin fhieren vnd gelenken, mit befelch aler
ooss^sig gnntz werck zu zeigen, wie beschcich dan. Dien'eil aler dan biß nnherv
'uit Astronomischen Jnstrumenta, vnd Zeichen vmgangen, hab ich dir vnden etlich
l° Ich vnd(?) vnder andern gesehen abrissen wellen lossen, so vit inier möglichen
gewesen, den ich In dieser Kunst wenig erfaren, sonder die sternen gugger mit des
himels lauff vmbghen lassen, vnd mich of dem Erdrich, vnd Wasser so weit Ich
ghen, faren vnd geriethen mögen, beholfen hab. biß nnhcro.
Die am Schlüsse nuögesprochne Absicht, seinem Berichte erläuternde, nach
seinen Angaben angefertigte Bilder beizufügen, hat Mvrsperg nicht ausführen
können. Zum Ersatz hat er (ein Mittel, zu dem er auch sonst oft seine Zu¬
flucht nimmt) die kolorierten Ausschnitte eines Globus und des südlichen und
des nördlichen Sternhimmels in Stich eingeklebt. Das Bild des Globus ist aber
s" groß, daß der für die Nisse aufgesparte Raum nicht zureichte und er damit
in wenig später saß Jahr wieder hinter seinem Seidel und fing
von Goschen und Seitengvschen zu sprechen an. Der Gastwirt, ein
flinker, wohlgenährter Mann, hatte sich zu ihm gesetzt und erzählte,
den Tätscherbäcker aus Goschen kenne er wohl, der sei schon öfter
bei ihm eingekehrt. Es gebe eigentlich deren dreie in der Wirtschaft,
einen in reifen Jahren, einen ganz alten im Altenteil, den er aber
noch nicht gesehen habe, und einen, der mit der Priska verheiratet sei.
Nun wollte Jahr von der Priska wissen.
Die habe ihren Jungfernkrauz zu Recht getragen, versetzte der Wirt.
Der Alte nickte. Wen sie denn geheiratet habe?
Die hat Hannfrieden seinen Großen geheirvt.
Der alte Jahr wußte nicht, wer Hannfriede war. Aber er wollte weiter
von der Priska wissen.
Ja, sagte der Wirt, die sei ein propres, schönes Weib, arbeitsam, flink.. .
Jahr unterbrach ihn mißtrauisch: Daß sie das noch so hinbringt. Is doch
itze auch schon bei Jahren, die Priska.
Da kam es heraus, daß die Priska vom Tätscherbäcker ein junges Weib von
fünfundzwanzig Jahren sei.
Der alte Jahr fing an zu lachen. Nein, die Priska, nach der er frage, die
habe die Siebzig schon überschritten.
Und dann saß er und rechnete. Seine Priska, die er zuletzt gesehen hatte,
wie fie, die Schürze vor das Gesicht geschlagen, ihre bitterlichen Thränen um sein
Scheiden weinte, seine Priska mochte doch wohl schon die Großmutter der jungen
Priska sein. Gewißheit hatte er sich nicht verschaffen können, der Wirt wußte weiter
nichts zu sagen.
Oben stellte sich allmählich die Hochzeitsgesellschaft zum Tanzen ein. Das
ganze Haus wurde unruhig davon. Jahr hörte dem Laufen und Rutschen zu und
den sachter Tönen, die von der Musik herunter drangen. Dann bat er, ihm sein
Logis zu zeigen, er wolle zur Ruhe geh».
Mau wies ihn nach oben. Hier aber war er dem Tanzen und Rutschen und
der Musik so nahe gerückt, daß er an Schlaf nicht denken konnte.
Er saß um Tisch, horchte hinüber.
Kleine Begebnisse aus seiner Jugend und Kindheit stiegen ihm auf, an die
er ein ganzes Menschenleben nicht mehr gedacht hatte. Da er räumlich näher ge¬
kommen war, stellte sich die Einnerung ein, wie eine schwatzhafte Person, die alles
weiß und von allem berichten möchte. Immer lebendiger wurde die Vergangenheit,
immer weiter trat die Gegenwart zurück, als würden all die Schleier, die von jeuer
abgehoben wurden, über diese gebreitet. Der Gedanke, der zu den Seinen hiunber-
sprang, faßte zuletzt kaum dort Fuß.
Auf dem Tisch brannte ein Licht, vor ihm neben dem Leuchter uns der weißen
Decke lag seine Ledertasche. Er stand auf, hängte sie an den Fensterriegel und sah
in die Nacht hinaus, nach dem langen Zug der Berghäupter, der sich wie eine
sacht gewellte Linie, wie ein hingezeichncter feiner, geschwungner Strich von dem
schwarzen nächtlichen Himmel abhob. Der Mond our untergegangen, nur das matte,
stille Licht der Sterne leuchtete.
Vor seiner Thür our ein beständiges Hin- und Herlaufe» der Hochzeitsgäste
und der Bedienung, die Bier und Limonade hernnschleppte; wenn die Saalthür
geöffnet wurde, flutete die Musik heraus.
Jahr dachte daran, um ein abgelegneres Zimmer zu fragen, da er ruhen wolle.
Aber als er kaum hinaustrat, erschaute ihn der Gastwirt, winkte ihm, in seinen
Schanlstand zu kommen, und führte ihm einen jungen Menschen zu, einen der
Hochzeitsgäste, einen Schneider aus Seiteugoschen, der eben aufbrach.
Der Schneider, der sich noch mit seiner Liebsten treffen wollte, stand und der
Uhr in der Hand, indes Jahr seine Fragen stellte. Wie es seinem Freunde Herbert
Beckmann gehe, fragte er; aber die Eile machte ihn mißgestimmt, und die Antwort,
daß er keine Auskunft geben könne, verwunderte ihn schon nicht mehr. Es kam
mich bald heraus, daß der Schneider erst seit kurzer Zeit in Seitcngvschen ansässig
war und nicht einmal von seinem Konkurrenten, dem Pfeiff-Schneider, etwas gehört
hatte. Denn der alte Jahr, da er so wenig Anhalt fand, vergaß sich niederge¬
schlagen so weit, daß er sich sogar nach seinem Feind erkundigte. Jedenfalls sei
der Pfeiff-Schneider tot, folgerte er, und er war ein guter Christ, sargte seinen
Feind ein und begrub ihn in Frieden.
In seinem ziemlich neuen grauen Rock, dem saubern Vorhemdchen, der schwarzen
Krawatte und dem Peinlich gebürsteten Haar konnte er sehr wohl für einen Hoch¬
zeitsgast gelten, und als der Bräutigam, dein man erzählt hatte, daß er ein alter
Thüringer und nach fünfzig Jahren in sein Vaterland zurückgekehrt sei, ihn auf¬
forderte, in den Saal zu kommen, nahm er die Einladung an.
Die Musik saß auf der Galerie. Uuter der Galerie zur einen Seite der
Thür war der Schanfftand, zur andern Seite auf einem Podium saß das junge
Ehepaar; auf Bänken rechts und links den Saal entlang hatten sich die Tanz¬
lustigen niedergelassen, und unten am Ende standen zwei Tische für die Zecher.
Zu diese» hatte sich der alte Jnhu gesellt. Er sah aufmerksam dem Tanze
SU und freute sich, mit welcher Hingebung sich Tänzer und Tänzerinnen drehten.
Sie kreiselten aufrecht mit ganz ernsten Gesichtern um die Saalweide, und der
schlichte alte Mensch, der irgend einem Verwandtschaftsgrad seine Anwesenheit ver¬
dankte, drehte sein Eheweib im weiten Blandrnckkleide mit den strickundeldünnen
Zvpfcheu und dem ausgedörrten, lederbraune» Gesicht mit demselben Anstand, womit
die Burschen ihre jungen Tänzerinnen drehten, die mit aller Anmut der neusten
Mode, mit hellen Binsen und weißen Kleider» angethan waren.
Neben Jahr saß ein .Hofbesitzer, mit dem er über die Landwirtschaft sprach.
Der Mann war schon ein wenig angeheitert. Er hieß Bork und war ans Rasch.
Als er feinen Name» und seinen Heimatsort nannte, fiel dem alten Jahr das
Fuhrwerk ein, das am Nachmittag vor dem Gasthof gehalten hatte, und er fragte
den Mann, ob er in verwandtschaftlicher Beziehung zu den schrilles aus Wißberg
stehe; die Frau sei doch in erster Ehe. wie er gehört zu haben meine, mit einem
gewissen Bork ans Rasch verheiratet gewesen.
Der Mann seufzte, kraute verdrießlich den Kopf und sagte: ^>n, aber die
Mutter lebe jetzt schon in dritter Ehe. Ans der ersten Ehe, die kaum em Jahr
gewährt habe, habe sie keine Kinder gehabt. Er sei der einzige Sohn ans zweiter
Ehe. Aus der dritten Ehe seien drei Geschwister am Leben. Die Mädchen hätte»
den ersten besten genommen, bloß um nus dem Hause zu kommen. Die jüngste
d"bon, ein Nachkömmling, erst fünfundzwauzigjährig. habe kürzlich Hochzeit gehalten.
Der Sohn aber weiche'acht. weil es sich für ihn doch um die Wirtschaft handle.
Die Mutter denke indessen noch lange nicht daran, ins Altenteil zu gehn. Und ehe
das nicht geschehn sei, kriege der Bruder keine Fran ins Haus. Zu der Schwieger¬
mutter gebe sich keine hin. ohne daß ihr Rechte eingeräumt würden. Der Bruder
sei el» lustiger, frischer Mensch gewesen, jetzt sei er aber auch schon giftig geworden.
Der sei nun zweiunddreißig Jahre alt, er selber zweiundvierzig. Er wurde ge¬
schwätzig und begann von seiner Kindheit zu erzählen, wie viel Zwist im Hause
geherrscht habe.
Jahr hörte zu und hörte doch auch nichts, sein ernstes, fahles, scharf geschnittenes
Gesicht war den Tanzenden zugewandt, wie sie sich eifrig drehten und sich kaum
dabei bewegten und ihre heißen Blicke zu Boden gerichtet hielten.
Ein junges Paar fiel ihm auf, beide groß und schlank gewachsen, beide mit
geradblickenden Augen, die sich mir beim Tanze zu senken schienen, das Mädchen
jung und fröhlich wie ein Frühlingsmorgen, mit blondem Haar und roten Wangen,
schwellenden Lippen und wundervollen kleinen Zähnen, die bei der Kürze der Ober¬
lippe fast immer zu sehen waren. Der Bursch ernst, mit braunem Haar und lockerm
Schnurrbart. Sie drehten sich so anmutig und so ernst und in so schöner, sachter Har¬
monie, daß der alte Wandersmann seine Angen nicht abwenden konnte.
Wer sind die — die dahier — die beiden? fragte er, als das Paar wieder
hinten an der Tanzkette, von der sich immer nur sechs Paar zum Tanze ablösten,
angetreten war.
Welche denn?
Na — eiferte er und zeigte auf sie: Die dahier! Das is Thüringer Schlag,
so in der Statur, und die Gesichtszüge auch. Überhaupt! sagte er.
Das is Webers Arno und Webers Emma, berichtete der Hofbesitzer aus Rasch.
Sollen das epper Geschwister sein — gelle?
Das sind sie. — Der Bursch ist meiner Stiefschwester zu Gefallen gelanfe,
die itze geheirot hat. Sie sprechen Rippe ans ihn. Auf Eumen, dn sprechen sie
Scheckgs Emma, weil sie immer Kein Großeltern ist.
Von wo stammen sie denn?
Von Goschen.
Na — da weiß ich doch nicht — da weiß ich doch nicht —
Der Hofbesitzer aus Rasch stand ans und schritt zum Schaukstnnd hinüber, wo er
stehn blieb, mit dem Gastwirt sprach und Glas um Glas hinunter schüttete.
In der Tanzpause schritt ein Mann mit einer Düte über den Saal und streute
Wachs auf die Dielen. Bier, Limonade und Zigarren wurden präsentiert. Nach¬
her traten die Paare zur Polka an.
Jahr reckte seinen Hals: zwischen den Tcmzpnaren sah er zwei Alte stehn, der
Mann dürr, behend, hohlbäuchig, schon ein wenig gebückt im Nacken, ein Weißkopf
und ein Fuchsgesicht, die Frau größer und aufrechter und dennoch ein wenig vorn¬
über geneigt; aber geneigt von den Hüften ans, von der schweren Last des Korb¬
tragens. Ihr Haar war ergraut, ihr Gesicht war faltig mit geröteten Wangen,
ihr Mund sacht lächelnd eingezogen. Ein Schimmer von Scham lag ans dem Gesicht
der Frau, als sie setzt anfing, sich mit ihrem Alten zu schwingen. Und der alte
Fuchs setzte seine Füße mit Bedacht und blinzelte aus halb zugekuiffueu Augen,
über denen die Brauen wie bereiste Büsche standen.
Das Paar hatte den Smal zur Hälfte umkreist, als die andern tanzenden
Paare zur Seite traten, sodaß sich die beiden Alten ganz allein um die Sanlweite
drehten. Das war hier alte Sitte, wenn man einem Pärchen dahinter gekommen
war, daß es insgeheim einander zu Gefallen lief.
Die Frau, als sie den Schelmenstreich gewahrte, wollte sich frei machen, um zu
entschlüpfen; aber ihr Ehemann hielt sie mit den großen verarbeiteten Händen fest
und drehte sie weiter im Kreise, und seine Augen sahen so verschmitzt und durch¬
trieben aus, als ob er gar uicht leben könne, ohne daß er einen losen Streich im
Anschlag habe.
Irgend einer schrie über den Saal: Das ist das neuste Brautpaar, was
wir habe»! Und nun brach Gelächter los. Der alte Schelm machte noch einen
Entrechat und ließ sein Eheweib fahren, das taumelnd und verschämt das Gesicht
in den Händen verbarg.
Jahr fragte seinen Nachbar und wies auf das Fuchsgesicht: Wer is denn der?
Die Antwort lautete: Das is der alte Scheckg,
So, sagte Jahr, so —
Der alte Scheckg trieb dann seine Leute zusammen. Mir müsse» han. Mir
erreichen uicht merre den Zug. Macht!
Er schüttelte rund herum die Hand, Mit schmunzelndem Gesicht schoß er
umher, als ob ihn? immerwährend der Himmel voll Geigen hinge. Der hatte etwas
im Leben genossen, was Jahr vorübergegangen war. Jahr empfand es aber mehr,
>ils daß er es dachte.
Dann legte der alte Schelm auch ihm die Hand auf die Schulter: Na —
wen dünn mir dem, hier? — Na — das is schöne! Na — hatjeh auch! und
er rief: Arno! Emma! Nu mal keine Winkelzüge weiter! Der Zug wart nicht,
bis mir hinkomm! So trieb er die beiden jungen, schonen Menschen, die freundlich
und lachend gehorchten, vor sich her.
Seine Frau aber stand noch hinten im Saal, hatte ein zusammengelegtes,
weißes Taschentuch in ihren Hände», das sie abwechselnd von der Linken in die
Rechte und vou der Rechten in die Linke legte.
So stand sie ein wenig vorgebückt vor ?ldam Jahr und fragte deu, ein Lächeln
der Scham und der Bescheidenheit um deu Mund: Ich ha gehört, Ihr seid bei
uns derhäme, aber Ihr seid lange fort gewasen — haußen . . . Sie schwieg, es
war beinah, als könne sie nicht weiter sprechen vor Verlegenheit, daß sie so auf¬
dringlich sei.
Jahr antwortete: Ja; aber um will ich mal sieh, wie es hier geht.
Willkommen auch! sagte sie.
Schönen Dank. — Na — sagte er, und ein wenig von der Schalkheit des
Alte» war auf ihn übergegangen: wie ist denn Euch das Tanzen bekommen? Ging
uoch ganz schöne! Da habt Ihr wohl so lange torbiert, bis der Alte ran gemußt hat?
Ach, das ha ich nicht! sagte sie und legte verlege» die Hände an ihre Wangen,
aber der hats hintern Ohren, der hat ein Temperment, das hat der liebe Gott
gesegnet. Ist ein guter Mann. Ja. Der hat mir nie zuviel gethan, do kann ich
uicht klage. — Und das alles mit dem Lächeln um die eiugefallnen Lippen und
wie einem erwartenden und fragenden Zug in dem lieben alten Gesicht, das nun
W ein wenig neugierig aussah. Sie trug ein hübsches wollnes brnuues Kleid
wie seidnem Knüpstnch. '
Dn schoß der alte Scheckg heran und schrie: Das muß ich sage! Der Zug
thut uicht warten! Muß ich mir meine Frau Gemvhlin schon mit der Gewalt
hole! — packte sie mit einem gefährlichen Diener beim Arm und zog mit ihr ub,
während sie verlege» »ach ihm schlug und sich zu wehren suchte.
Auch das Enkeltöchterche» stob Hera«: Großemutter! Großemutter! wie solln mir
denn denn komme? und breitete einen großen, rötlichen Kattunmantel um deu Nacken
der alten Frau.
So verschwanden sie — der alte Scheckg voran, turzschrittig, mit den Gebärden
eines, der eine Last vom Platze zieht, und die Frau wehrend und sich ein wenig
sträubend, mit einer verschämten Würde, die ihr gar wohl stand. Hinterher die
schöne Enkeltochter in ihrem weißen Piqneekleid und Spitzensattel. In der Thür
Jout Rippe und lachte, der ernste Mensch.
^ Und uuter der Thür drehte der alte Scheckg sich zurück und schrie über deu
Saal: Na — denn auf Wiedersehe» a»es! Wiedersehe», das macht Freude!
Und zurück rief es von allen Ecken: Gubben Abend, Wiedersehen!
Der Nachbar erläuterte dem alten Jahr: Sie heißen ihn Wiedersehen, weil er
innrer die Redensart in Gange hat: Wiedersehen macht Freude!
^ Der Hofbesitzer aus Rüsch saß wieder da, nun völlig betrunken und zum
streiten aufgelegt Als er Jahr ins Ange faßte, fing er aufs neue um auf seine
Mutter zu schelten.
Die is schuld an uns allen, sagte er. Das is ein Gesteckchen, das Weib, das!
Er weinte und lallte.
Dann kam der Wirt und sagte- Dein Wagen is dn!
Er fuhr auf: Hab ich den epper bestellt?
Doch! sagte der Wirt; du hast Auftrag gegeben.
Er ließ sich zureden und ging mit hinaus, ein großer, dicker Mnuu mit ge¬
dunsenem Gesicht und schwimmenden Augen.
Als sie ihn glücklich im Wagen hatten, wurde er wütend, schlug um sich und
wollte wieder in den Saal hinauf, denn sie hätten ihn hinausgeworfen. Aber der
Knecht ließ die Leinen locker und fuhr mit dem tobenden Manne davon.
Oben im Saal aber drehte sich das junge Ehepaar mit seinen Gästen, kreiselten
die schönen jungen Mädchen mit gesenkten Augenlider», schwenkte der Mann sein
Weib mit den stricknndeldüuneu Zöpfchcn. Und die Schneider bliesen Horn und
Trompete, daß es schmetterte. Das Tenorhorn blies der Gastwirt vom Weid¬
mannsheil in Wißberg- Er war Gastwirt und Schneider und Dirigent der
Kapelle, und keiner konnte dem Tenorhorn lieblichere Töne entlocken als er. Wenn
die Schuster aufspielten, die in Goschen ansässig waren, wurde immer ein Tronic
petensolo eingelegt, denn hier war die Hauptkraft der Kapelle der Trompeten¬
bläser. Wer spielt deun? pflegte gefragt zu werden. Spielen die Schuster oder die
Schneider?
Als Jahr am andern Morgen gefrühstückt hatte, fragte er den Wirt, wo der
Böttcher wohne; er wollte nachträglich ein kleines Hochzeitsgeschenk machen.
Der Wirt gab Bescheid, und Jahr machte sich auf deu Weg. Der Gedanke
an den Böttcher war ihm ganz plötzlich gekommen, ganz plötzlich war ihm ein¬
gefallen, daß er als blutjunger Bursch mit Beckmanns Herbert hier im Ort zur
Kirmes gewesen war und beim Böttcher gegessen und getrunken hatte. Der Böttcher,
der damals noch zweite Hand gewesen war bei seinem Schwiegervater, mochte jetzt
vierundachtzig Jahre alt sein. Die Handwerker verzogen hier nicht, da sie zugleich
Ackerwirte waren und ihr eignes Besitztum hatten.
Der Morgen war kühl aber schön. Vor ihm her ans der Dorfstraße ging
ein kleiner Junge mit dem Schnltornister auf dem Rücken. Auf die Klappe des
Tornisters war der Kopf des Kaisers eingewirkt, von einem grünen Lorbeerkranz
umgeben. Ein wenig weiterhin schaukelte im schwachen Sonnenschein um Straßen¬
rand ein junger Mann sein Kindchen im übergeschlagnen Barchentmantel. Es mochte
der Souutagsmantel seiner Frau sein, er war weißgrnndig mit zarten lila Blüten-
stränßen, reich nut Frisuren und Rüschen verziert. Das Kindchen war ein kleines,
lachendes Mädel, das selig mit seinen Ärmchen ruderte. Die Mutter hatte demi
Kind ein weißes Jäckchen mit roten Armbändern, dem Kennzeichen der kleinen
Mädchen, angezogen. Der Vater aber trug zu seinem lichten, feinen Mantel die
Neservistenmütze auf dem Kopfe.
Jahr trat in den Böttcherhof.
Der Meister, ein Mann in den besten Jahren, war eben dabei, einem Wein¬
faß den Boden einzufügen.
Guten Tag, und er wolle eine Sturze kaufen.
Der Meister zeigte vor, Jahr wählte, erlegte den Preis und fing seine Er¬
kundigungen an.
Der alte Böttcher war längst tot, auch der damals junge Böttcher war schon
gestorben. Der jetzige Meister war der Schwiegersohn des letztgenannten.
Nun erzählte Jahu, daß er vor etwa fünfundfünfzig Jahren mit seinem
Freunde Herbert Beckmann Gast im Hause gewesen wäre.
Nachdem er eine Weile am Reifen gerückt hatte, fragte der Mann, ob das
der Tischler Beckmann aus Seitengoschen sei.
Das treffe zu.
Ja, mit dem sei irgend etwas vorgefallen, er wisse nicht mehr was. Da er
aber nichts weiter von ihm geHort habe, so müsse er doch wohl tot oder verzogen
sein. Und er setzte sein Eisen auf und begann den Reifen hinabzntreiben.
Die Frau, eine straffe, hübsche Person, die ein kleines Kind im Arme trug,
das mit einem roten, weißdurchwirkten, handbreiten Band in ein bunt gewürfeltes
Kissen wie in eine spitze Tute eingebunden war, kam von der Hausschwelle heran,
und mit einem freundlichen Blick, der den Alten willkommen hieß, fragte sie ihren
Mann: Wie wor denn das mit den Dinkrige, den sie ncnlichst eingekerkert hatten . ..?
Der Böttcher schüttelte den Kopf. Mit Herbert Beckmann, das sei etwas ganz
andres gewesen. Aber er wisse nicht mehr. . . und er pochte weiter an seinem
Weinfaß und blickte, zum Zeichen, daß er es eilig habe, zur Straße hinüber, als
erwarte er den Boten, der das Faß abholen werde.
Jahr war nun wieder unterwegs. Der Tag war herrlich lau und lind ge¬
worden. Dünne Nebel zogen noch über die Wiesen und hingen zwischen den Bergen;
aber sie senkten sich mehr und mehr, lagerten sich und wurden vom Erdboden auf-
genommen.
Der alte Mann schritt hastig dahin, reckte die große, hagere Gestalt und sah
sich um nach rechts und nach links.
Aber er ging doch dahin wie einer, der über ein Gräberfeld geht, und konnte
zu keiner rechten Festfreude kommen. Noch keine vertraute Stimme hatte ihm die
Tageszeit geboten. Noch keinen von denen hatte er angetroffen, mit denen er jung
gewesen war. Noch von keinem von ihnen war ihm Kunde geworden. Wer wußte,
"b noch ein einziger von ihnen allen lebte. Seine Gedanken wurden wehmütig
und glichen in ihrem schwerfälligen Zug einem Schwarm einförmig dahinziehender
ungelenker Vögel, die sich langsam fortbewegten.
Und doch wurde ihm die Gegend vertrauter, je weiter er kam. Er erkannte
die Bergzüge »nieder und wußte, wann hüben oder drüben am Stromufer eine
neue Ortschaft auftauchen würde. Und er grüßte Berg und Thal und Ortschaft
wie seinen Augen, die sich röteten in wehmütiger Wiedersehensfrende.
Dabei hatte er überhört, daß ein hurtiger Schritt herangekommen war. Eine
lunge, klingende Stimme bot ihm den Tagesgrnß. Ein großes blondes Mädchen
"ut breiten, flatternden Röcken, den Korb ans dem Rücken, hatte ihn überholt.
Der alte Jahr handhabte mit der Rechten emsig den Stock und wischte mit
der Linken über seine Augen, während er den Gruß erwiderte.
Wart e bischen! rief er ihr nach. Wo gehst denn du hin? Leichte haben
wir denselben Weg.
Ich gieh auf Goschen, klang es zurück, und das Mädchen hob die Hand und
wies ans ein Geschiebe, woran der Weg, der zu einem großen Bogen ausholte,
vorüber führte. Sie legte wieder die Arme uuter der Brust übereinander, wie
die Fromm dieser Gegend zu thun pflegen, wenn sie den Korb oder die Butte
tragen.
Jahr betrachtete sie, wie sie wartend mitten im Wege stand. Zu ihrem dunkel¬
blauen Waschkleid hatte sie eine weiße Schürze mit breiter, gehäkelter Abschlußzacke
vorgebunden.
Er war herangekommen und fragte jetzt: Bist du von da gebürtig, von Goschen?
Ja, antwortete sie.
Es wurde ihm schwer, mit dem Mädchen gleichen Schritt zu halten, und er
gab der Tasche die Schuld, die seine fünfundsiebzig Jahre traf. So rückte er um
Riemen und wiederholte: Wart e bischen. Ich will sie mal anders hängen. Ich
do schon seit gestern früh um Fttufen auf der Reise.
I gar!
Ja, sagte er und wurde redeemsig vor stiller Freude; ich komme drußßen vom
Platten Lande her, da bin ich zu Hause. Er blieb stehn und strich mit der flachen
Hand breit durch die Luft. Da kannst du blicken, so weit du magst, da ist die ganze
Gegend Platt wie e Tisch, da sieht ma keine Berge, wo ich zu Hause bin! Halt
mal den Stock, sagte er. So wirds gehn!
Er hatte glücklich die Tasche über die andre Achsel gehängt, nahm seinen Stock
wieder dem Mädchen ab, das unter der Last des Korbes ein wenig vornüber geblickt
vor ihm stand und ihn mit ihren lachenden Blauaugen von unter herauf anschaute.
Wo ist denn das, wo Ihr derhäme seid?
Das liegt weit weg — liegt noch hinter Berlin. Er schmunzelte. Mein
Dorf heißt neulichen. Hast du das in der Schule gelernt, wo das liegt?
Nee.
Aber wo Seitengvschen liegt, das hast du gelernt.
Sie brach in lustiges Gelächter aus, in das er einstimmte.
Da will ich hin . . . sagte er. Zugleich stutzte er, und dann Suhrs ihm heraus:
Na — was ist das? Dich sollt ich doch kennen? Bist denn du nicht Scheckgs
Emma — gelle?
Ja, die bin ich.
Ich hab dich doch machten ans der Hochzig gesehen mit deinen Großeltern . . .
Na, wart mal — wo kommst denn du daher?
Ach, ich hab Beeren aufgetragen. Meine Schwester, die is gestern in Beeren
gewesen.
Da bist dn aber zeitig ans den Federn, das muß ich sagen!
Ja, sagte sie und seufzte ein wenig, der Vater, der läßt uns kei Gras unter
den Füßen wachse. Da darf man nicht einfältig thun, wenn ma zu Tanze war.
Er könnts sonst verweigre, wenn ma wieder drum ansprechen thut.
Spring nicht so scharf, ereiferte sich Jahr, ich kann dir nicht folge. — Ich
will auf Seitengoschen bei meinem Freund, sagte er, bei Beckmmms Herbert. Kennst
du den epver?
Den kenn ich nicht, gab das Mädchen zur Autwort.
Es kam ihm auf die Lippe, daß er auch nach dem Pfeiff-Schneider frage»
wollte. Aber er dachte zugleich: Der ist tot, und es fielen ihm allerlei von den
kleinen Schandthaten ein, die der Pfeiff-Schneider an ihm begangen hatte.
Das Mädchen sagte noch einmal: Den kenn ich nicht. Und ich weßß doch gut Be¬
scheid in Seiteugoschen. Habt Jhrs ihm denn geschrieben, daß Ihr kommen wollt?
Ich hab keinen Briefwechsel eingeführt.
Kann sein, er ist nicht merre da . . .
Jahr rnusperte sich und antwortete mit Bedacht, indem er vor sich nieder auf
den Weg sah: Dann haben wir eben andre Leute, bei denen wir einkehren.
Das Mädchen hatte den Kopf auf der Seite und betrachtete ihn, sah ihn
teilnahmvoll an, daß er hier nach Thüringen zurückkehre, um seine Freunde zu
besuchen, ein so alter Mann, wie er schon war. Sie hatte auch einen Blick der
Anerkennung dafür, daß seine Kleidung die eines wohlgestellten Menschen war.
Und zuletzt that er ihr leid, weil ihm keiner entgegenkam. So mäßigte sie denn
ihre Schritte aufs neue, um ihm noch ein Stücklein Gesellschaft zu leisten.
Neander is auch von Seiteugoschen, sagte sie.
Neander?
Ja, der Vater. Wir heißen Weber.
Er wiederholte den Namen, als besinne er sich. Es war in seinem Ort ein
Musiker und Tischler gewesen, der so geheißen hatte.
Aber das Mädchen stellte die Sache richtig: Vaters Vater ist vom Walde
her gekommen.
Und jetzt seid ihr in Goschen zu Hause?
Ja.
So . . . sagte der alte Jahr.
Er trug seinen Kopf ein wenig gesenkt. Dachte an die Prisla, der das
Scheiden von ihm so schwer geworden war, daß sie in bitterliche Thränen zer-
flössen our. Dachte, immerfort an die Priska, die auch in Goschen wohnte. Aber
er wagte keine Frage zu stellen, weil er sich vor dem Bescheide fürchtete. Der
Mann mit der Fichtcnlndung ans der Achsel hatte gesagt: Die sterben weg. Dann
hatte er sich, als er vom Böttcher weggegangen war, anch vorgenommen, zuerst
nach seinem .Neimatsort zu wandern und späterhin, wie es sich passen würde, in
Etzclmünde und Goschen vorzusprechen. Und hiervon wollte er nicht abweichen.
Mit ihnen dieselbe Straße zog ein Fuhrwerk, das Fichtenzweige geladen hatte.
Das Pferd, hohlrückig, mit müden Kopf und langen steife» Beinen, die es bedachtsam
voreinandersetzte, blieb bei der Berganfahrt aller paar Schritte stehn. Dann setzte
der Fuhrmann, ein hagerer Mensch, seinen Fuß in die Radspeichen, damit der
Wagen nicht zurückrolle. Ging es nachher bergab, so drehte er die Bremse an.
Ein kurzer knurrender Ton antwortete sogleich und wiederholte sich, solange die
Bremse in Thätigkeit war, als ob ein bissiger Hund neben dem Wagen herlaufe.
Was das Gespann bei der Bergnnfahrt zurückblieb, das brachte es nachher bei der
Bergabfahrt wieder el«, sodaß es immer neben den beiden Wandrern blieb.
Der alte Jahr sagte zu seiner Begleiterin: Wart ein bischen! reichte ihr den
Stock zum Halten und holte sein Pfeifchen hervor. Das stopfte er und fing an
zu dampfend Wir wollen den Mau« erst mal ein Stückchen vorne weg lasse,
sagte er. der braucht nicht zu wissen, was wir zweie uns anvertrauen. Er stocherte
und schüttelte am Pfeifchen. Mit dem Daumen drückte er den Tabak nach und
knipfte zu. Dann hob er die Augen und sah sie an, wie sie mit ihren sprunghafter
Gelenken vor ihm stand, den Stock vor sich ans den Erdboden gestellt, die Hände
übereinander auf den Handgriff gelegt, und ihm mit ihren blauen Augen voll
lachender Neugier znsnh.°wie 'er mit seinem Pfeifchen hantierte, das er jetzt glücklich
im Mundwinkel untergebracht hatte. Es wurde ihm ganz sonderbar zu Mut, als
»b sie ihm etwas zu sagen hätte. Aber er wußte, nicht, was das sein könne.
Und dann fragte er unvermutet: Nach wein haben sie dich denn Emma ge-
heißen, epper »ach deiner Pate?
Ich heiß so mich Baders Mutter, antwortete sie.
Sie waren an, Geschiebe vorüber, der Weg senkte sich jetzt, am Fuße sah
man eine Ortschaft liegen. Als sie kaum hindurch waren, fing der Weg wieder
zu steigen. Wie in einem flachen Hohlweg lief er dahin zwischen leicht auf¬
strebenden, mit Dorn und Brombeergebüsch bewachsenen Böschungen; Feld schloß
steh zu beiden Seiten an. Jenseits des Thales reckten sich ruudtngligc Berghäupter,
nebeneinander lind hintereinander; hin und wieder that sich der Blick nach unter
"uf> und man sah dann die Bahnlinie zwischen den Wiesen. Jetzt schallte anch
ein Pfiff he^uf, und mit gemessener Eile kam ein Lvkalzng dahergednmpft.
Das ist früher alles anders gewnsen, sagte er^in Gedanken.
Sie hatte keine ^eit mehr für den behaglichen L?chlendergang neben dem alten
Wandersmnn». Gras" mußte noch eingeholt werden. Am Nachmittag sollte sie mit
der Schwester wieder in die Preifielbeeren, davon die Mutter eiubraten wollte.
Morgen sollten die letzten Erdäpfel aufgepflügt werden. Die Arbeit riß das ganze
Jahr über nicht ab. Der Vater war ein scharfer Wirt, und die Mutter verlangte
"und, was irgend zu erschaffen war. Aber sie war immer mehr das Kind der
Großeltern gewesen, der Eltern ihrer Mutter, die mit im Hans im Altenteil lebte»,
das Töchterchen vom alten schalkhaften Großvater und von der guten Großmutter
Priska. Sie hießen sie Tätscherbnckers, und das mochte sie nicht leiden. Und wie
der aufgelegte Name vom Vater der Großmutter herrühre, der, als sein kleines
Mädchen, eben die Großmutter, geboren worden, die Wöchnerin mit selbst gebacknen
Tätscher verpflegt hatte, das wollte sie eben erzählen, als Wngengeroll daherschallte,
ein schmuckes Fuhrwerk hinter ihnen auftauchte und im flotten Tempo vorüberfuhr.
Das sind schrilles ans Wißberg, sagte Emma, noch ehe der Wagen neben
ihnen war.
Die beiden Alten saßen wieder hinten. Der Sohn fuhr. Die Frau musterte
d"s Paar am Wege, das zur Seite getreten war; denn der Weg war »icht allzu
breit, und die Pferde waren junge mutige Tiere, die scharf im Zügel gehalten
werden mußten.
Das Mädchen rückte am Korb, an den schönen Tragebändern von Glanzleder,
denen eine feine Rosenguirlande aufgemalt war nebst Namenszug der Trägerin und
Datum und Jahreszahl des Gcschenktages.
Die wills nich wahr haben, das; die unsern Großvater zu Gefallen gelaufen
ist. Die hat euue Rache auf uns. Unser Arno hats mußt büße. Der hat ihre Limnei
wollt heirate, aber sie hats nicht zugegeben. Der ist heute noch nicht drüber weg.
Sie sprechen Rippe auf ihn, ans meinen Bruder, aber ich weiß nicht wegen was.
Wenn er die gekriegt hätte, da würde er nicht so finzenwie er itze thut,
antwortete der alte Jahr mit Bezug auf den Großvater. Das Weibsbild, das
würd ihn schon kuriert haben von seiner guten Laune. Ich hab ihr gestern ä
liuzchen zugeschaut, wie sie ihren Mnun torbiert hat, das Deibelslnder, das die is.
Ja, da muß an sich hüten, sagte das Mädchen wichtig. Großvater spricht,
das hätt er gleich weisgekriegt, was die für einen Charakter hat. Nachher ist er
nach der Grvßemutter gelaufen, die hatte er in sei Herze eingeschlossen. Aber die
hat ihn nicht wollt nehmen, die hat gesagt, sie woll nich heiraten. Zwei Jahre
ist er ihr wegen gelaufen. Dann hat er sie mal in Holze getroffen. Erst hat er
ihr helft auflesen und packen und verschnüren, und dann hat er gesprochen:
Hast denn du dir das nunc überlegt, ob du mich willst? — Ach, ich mag
dich schon gerne, hat sie gesagt. Du bist nicht schlecht — nein! — Na, willst
denn du mich nunc heiraten? hat er weiter gesprochen. — Aber unsre Großemntter hat
gesagt: Zum Heiroten, da thuts das uicht, daß man einen bloß mag. Da muß
man einen schon hehre lieb haben. Die Weibsen, die sind ja dazu da, daß sie den
Mannsen was nachsehen. — So hat sie gesprochen. Und der Großvater hat zu ihr
gesagt: Wenn dn mich uicht willst, dünn geh ich unter. Dann werde ich ein
schlechter Mensch. Ich kann mir das vürstelle, hat er gesagt, daß ich einen konnte
überfallen und den windelweich hauen aus blußeu Spaß nu der Sache. Und wenn
man erst soweit is, da kommt man leichte weiter. Dn thut mau leichte mehr vom
Guten einbüßen. Und da fängt man an zu sinken und zu fallen. Und da ist ein
Schritt, da is man ganz verloren. Wenn du mich aber nimmst, hat er gesagt,
du sollst nie keine Klage zu führe» haben. Ich will dich auf meinen Händen durch
das Leben tragen. Der König soll nicht besser zu seiner Fraue sein, wie ich zu dir
bin. — Aber sie hat uicht gemocht, so viel er auch in sie hinein geredt hat. Da
hat er sich hingesetzt und hat angefangen zu weinen. Mit den Händen vor seinein
Gesicht hat er dagesessen und hat so aus tiefen Herzen geweint, daß die Große¬
mntter das nicht hat konnt mit ansehen. — Ach, hat sie gesagt, du überfällst ja
mich gar! Das kann ich nicht hören. — Und dn hat sie auch geweint. Er hat
aber ihren Korb aufgehuckelt und hat thu rab getragen. Und wie er ihr den Korb
hat wieder gegeben, dn hat er gesagt: Ich muß noch einmal mit dir reden, wie
ein Bettelmann: Willst dn mir denn nicht ein Stückchen Brot gebe, daß ich nicht
Hungers sterbe? Damit hat er gemeint, ob sie ihm nicht wolle ein linzchen Hoffnung
losse. — Die Großemntter hat nacher gesagt: Na, denn in Gottes Namen sags
dem Vater, der wird nicht nein spreche. — Da hat sich der Großvater auf die
Wiese niedergeworfen und hat gebrüllt wie ein Stier, so voll ist sein Herz gewesen.
Das Mädchen hatte ein hellgrundiges Taschentuch herausgezogen, das es und
beiden Händen vor seine Augen hielt. Dann rückte sie wieder an den Tragbändern.
Nu hab ichs aber notwendig, sagte sie. Ich bin mit dem Zug ranis gefahren,
daß ich rascher sollte retour kommen. Sie stand doch noch einen Angenblick, als
wolle sie etwas fragen, nickte aber schließlich und sagte: Hatjeh — na ich wünsch
auch gute Reise. Darauf nickte sie wieder und verfiel sogleich in einen kräftigen
schritt, dem der alte Jahr wohl nicht hätte folgen können.
Der nahm die Pfeife aus dem Munde und rief hinterdrein: Spring zu!
Ich muß schon! schallte es zurück.
Während er ihr noch nachschaute, siel ihm plötzlich die Bestellung seines Enkels
ein; er brachte hastig die Pfeife in der Brnstlnsche unter, legte die Hände als
Schallfänger seitlich an den Mund und rief: Emma!
Na?
Ich soll dir auch eiuen Gruß ausrichten.
I gar! Wer läßt deun mich grüßen? Sie blieb stehn, ohne sich umzuwenden,
den Kopf cinfmertend ein wenig zur Seite gewandt.
Mein Eukelsohu läßt dich grüßen — er heißt Fritze!
Er horte sie fröhlich lachen, während sie hurtig fürbaß schritt.
(Fortsetzung folgt)
Im 12. und 13. Heft haben wir
den ersten Band der Sammlung von Briefen und Aufsätzen der drei Häupter der
deutschen Sozialdemokratie, die Franz Mehring bei I. H. W. Dietz Nachf. in
Stuttgart hernusgiebt. ausführlich gewürdigt, weil er zeigt, wie einer der einflu߬
reichsten Menschen des neunzehnten Jahrhunderts das geworden ist, was er war.
Dem zweiten, soeben erschienenen Bande, der Schriften von Marx und Engels
aus der Zeit vom Juli 1844 bis November 1847 enthält, ist eine gleiche Bedeu¬
tung nicht beizumessen; die Katzbalgereien zwischen den Sozialisten und den Hegelianern
und die der damaligen Sozialisten untereinander haben keine weltgeschichtliche
Bedeutung und für uns Heutige kein Interesse. Doch findet man in dem dick¬
leibigen Buche hie und da eine geschichtliche Thatsache, einen geistreichen oder
richtigen Gedanken, die der Aufbewahrung wert sind, und die in einem kleinen
Heftchen zusammenzustellen ein Verdienst gewesen wäre. Dahin gehört einiges aus
der Verspottung der „Heiligen Familie" (Bruno und Edgar Bauer), die Marx
und Engels unter diesem Titel veröffentlicht haben. Die beiden Sozialisten sind
den genannten Hegelianern gegenüber im Recht, soweit sie die Begriffsabgötterci
bekämpfen: die Vorstellung.' daß die Menschen nur dazu da seien, mit ihre»
Bestrebungen und Schicksalen abstrakte Wahrheiten zu beweisen, die Methode.
Begriffe wie Geschichte. Selbstbewußtsei«. Idee zu hypostasiercn und sie wie wirk¬
liche Wehe.i thätig ein zu lassen. Auch geißeln die Verfasser nach Gebühr die
Anmaßung. daß sich jeder dieser Herren einbildete, in höchst eigner Person der
absolute Geist zu ein. Dagegen waren sie im Unrecht, wenn sie den echt Hegelschen
Gedanken von der Priorität des Geistes ablehnten und spotteten, bei Hegel er¬
zeuge der Sohn, der Geist, die Mutter: die Natur. (Gei.an ausgedr.M. ist es
bei Hegel die Idee, die als Natur von sich selbst abfällt und als G«se zu sich
zurückkehrt.) Daß der Materialismus seit beinahe fünfzig Jahren wissenschaftlich
"berwuudeu und der Geist als das allein wahrhaft Seiende von der heutige»
Philosophie anerkannt ist. durfte natürlich der Heraiisgeber im emwteudcu Avr.-
'»entar den Genossen nicht verraten. I» dein Streit über das Verhältnis des
Geistes zur Masse hatten beide Parteien Unrecht. Die Bauers verachteten die
Masse und haßten sie als einen Hemmschuh des Geistes, während doch die führenden
Geister ohne Volksmassen so wenig etwas vermögen wie der Emzelgeist ohne den
Leib. Marx und Engels dagegen sehen in der Masse, und zwar gerade in der
untersten Schicht der Masse die Trägerin des Geistes und halten sie für be¬
sagt zur Durchführung eiuer erfolgreichen Revolution, wofern sie nur ihr
wahres Interesse erkenne; denn wenn nicht hinter der revolutionären Idee ein
'mächtiges Interesse stehe, sei sie allerdings ohnmächtig. Hier vermittelt das
Christentum, das die Gliederung der Gesellschaft in Führer und Geführte, in Herren
und Knechte, in verschiedne Verufstände für göttliche Ordnung erklärt und deu
Herrschenden die Masse als Werkzeug und Material übergiebt mit dem Vorbehalt,
daß sie die Pflicht haben, die Masse nach Möglichkeit zu durchgeistigen, und daß
kein Herrschender das Recht hat, zu seinem eignen Genuß und Vorteil den Unter¬
gebnen seines Menschentums, seiner Persönlichkeit und seines Glücks zu berauben.
Wo das in größerm Umfange der Fall ist, hat die Masse das Recht auf Revolu¬
tion, freilich je länger je weniger die Kraft dazu, sodaß also der wirkliche Weg
der Geschichte dem ihr von Marx vorgezeichneten gerade entgegengesetzt ist. Jenes
Recht aber wird verstärkt durch eiuen Mißbrauch des Geistes, der häufig genug
vorkommt, wenn er auch nicht die unverbrüchliche Regel ist, als die ihn Marx
hinstellt. „Alle kommunistischen und sozialistischen Schriftsteller gingen von der
Beobachtung ans, einerseits, daß selbst die günstigsten Glanzthaten ohne glänzende
Resultate zu bleiben und in Trivialitäten auszulaufen scheinen, andrerseits, daß alle
Fortschritte des Geistes bisher Fortschritte gegen die Menschheit waren, die in eine
immer entmenschtere Lage hineingetrieben wurde."
Zu deu in dem Buche erwähnten oder beleuchteten Thatsachen, die nicht
genügend bekannt sind, gehurt, daß die englischen Arbeiter der Chnrtistenzeit nicht
die Freihändler, die Antikoruzollliga, sondern die Tories zu Bundesgenossen gehabt
haben. Engels und Marx unterstützten die deutsche» Schutzzöllner aus folgendem
Grunde. „Da die Bourgeoisie in Deutschland des Schutzes gegen das Ausland
bedarf, um mit den mittelalterlichen Resten einer Feudalaristokratie und dem
modernen »von Gottes Gnaden« aufzuräumen und ihr eigenstes, innerstes Wesen
rein und lauter zu entfalten, so hat auch die arbeitende Klasse ein Interesse an
dem, was der Bourgeoisie zur ungeschmälerten Herrschaft verhilft. Erst wenn uur
uoch eine Klasse, die Bourgeoisie, ausbeutend und unterdrückend dasteht, wenn Not
und Elend nicht mehr bald dem, bald jenein Stande oder bloß dem unbeschränkten
Königtum und seinen Bureaukraten ins Schuldbuch geschrieben werden können: erst
dann entspinnt sich der letzte entscheidende Kampf, der Kampf zwischen deu Be¬
sitzenden und deu Besitzlosen, der Kampf zwischen der Bourgeoisie und dem Prole¬
tariat. Dann ist das Schlachtfeld von allen unnötigen Schränken, von jedem irre¬
führender Beiwerk gesäubert, die Stellung der beiden feindlichen Heere klar und
übersichtlich." Der Leiter und Ordner der Weltgeschichte spinnt sehr langsam, und
sein Gespinst fällt allemal anders aus, als es seine menschlichen Handlanger planen.
Heute, fünfundfünfzig Jahre später, sind die Feudale» uoch nicht vernichtet; sie, die
damals Freihändler waren, betreiben die Hochschutzzvllnerei im Bunde mit der
Großbourgeoisie, und die Sozialdemokraten verstärken beiden gegenüber das schwache
Häuflein der Freihändler. Daß für sie viel damit gewonnen wäre, wenn sie nur
uoch einen Heerhaufen sich gegenüber hätten, das heißt, wenn die „Soldateska"
bloß noch im Dienste des Großkapitals stünde, was ja in Belgien, in Frankreich,
in England, in Nordamerika einigermaßen erreicht ist, das glauben sie heute wohl
selber nicht mehr. Zudem siud wir von dieser reinlichen Scheidung hente weiter
entfernt als damals. Die Zahl der einander kreuz und gner bekämpfenden Inter¬
essengruppen ist Legion, und die organisierten Lohnarbeiter sind noch lange nicht
die stärkste dieser Gruppen. Engels hat sich übrigens im damaligen Zollstreit als
einen so schlechten Propheten erwiesen wie Marx mit der weltgeschichtlichen Rolle,
die er den? Proletariat zumutete. Engels glaubt uicht daran, daß Deutschland
nach dem Rezepte Lifts ein England ebenbürtiger Industriestaat werden könne; das
sind wir aber bekanntlich geworden. Und sollte dennoch das Unglaubliche geschehen,
so, prophezeit Engels, würde die soziale Revolution die unmittelbare Folge davon
sein; diese würde zunächst in dem ruinierten England nusbrecheu und von da aus
das Festland ergreifen. — Was Marx für die Nationalökonomie, und was die
organisierte Lohnarbeiterbetvegung für die Gesellschaft und den Staat geleistet hat,
wird von allen Unterrichteten anerkannt. Das Marxische Evangelium aber hat der
Gang der Entwicklung als reine Utopie enthüllt. Wenn sich nun der sehr gescheite
Herausgeber immer noch dann stellt und glauben machen will, er halte dieses
Evangelium für den Inbegriff aller Wahrheit und Weisheit und jeden, der nicht
daran glaubt, für einen beschränkten Kopf, so wirkt das doppelt komisch in diesen
Tagen, wo die belgischen und die schwedischen Arbeiter der Welt so arithmetisch
genau gezeigt habe», wie viel und wie wenig sie vermögen, wo die englischen
organisierten Arbeiter nach der richtigen Charakteristik, die der Vorwärts von ihnen
entwirft, reaktionäre Zünftler sind, die Nichtorganisierten aber Nullen, die kein
Politiker in Rechnung stellt, und wo das „Fest der Arbeit" aus dem Stadium der
Lächerlichkeit in das der Vergessenheit eingetreten ist.
Der Altdeutsche Verband giebt bei I. F. Leh-
mann in München ein Werk: Der Kampf um das Deutschtum in zwanzig Heften
heraus. Im siebenten, 1901 erschienen, behandelt H. Nähert: Das Deutschtum
in Tirol. Seine Schrift ist kein Pamphlet, sondern eine mühsame historisch-
statistische Studie, aber dem aufgewandten Fleiß entspricht leider nicht der Wert;
sie ist eine wüste Materialiensmnmlnng, die über die Ursachen und den innern Zu¬
sammenhang der erzählten Vorgänge keinen Aufschluß giebt. Der Verfasser teilt
seinen Stoff in die vier Abschnitte: Allgemeines; Kirchliches; Unterricht; Industrie,
Handel, Land- und Forstwirtschaft, sowie Fremdenverkehr in der Gegenwart. Diese
Einteilung verursacht zwei Nbclstände, einmal, daß manche Dinge, wie der Bauern¬
aufstand des sechzehnten Jahrhunderts, wiederholt abgehandelt werden, sodann, daß
die Kirchen- und Unterrichtsgeschichte von ganz Österreich eingeflochten wird samt
einem Stück politischer Geschichte der Monarchie einschließlich der Schicksale der
Christlich-sozialen Partei und der Los-Vou-Nom-Bewegung. Der Verfasser hätte
besser gethan, wenn er zum Einteilungsgrunde die zwei Fragen gewählt hätte, die
ihm vorgeschwebt haben, die er aber nicht ausspricht: Wie wirkt das Jtalienertum,
"ut wie wirkt der Klerikalismus ans das Tiroler Deutschtum ein? So wie in
den Sudetenländern wirken das nationale und das religiöse Element in Tirol gewiß
nicht zusammen. Dort liegt die Sache so, daß die Leute von Besitz und Bildung
meist Deutsche und dabei seit der josephinischen Zeit unkirchlich, zum Teil entschieden
kirchenfeindlich sind, der katholische Klerus sich darum meist aus dem Tschechentum
rekrutiert, womit zwei Gründe für die antideutsche Gesinnung des Klerus gegeben
sind. In Tirol dagegen sind die Deutschen fromme, jn bigotte und fanatische Ka¬
tholiken, und der Verfasser giebt ihnen das Zeugnis, daß sie trotzdem gute Deutsche
bleiben; daß sich aber deutsche Gemeinden italienische Seelsorger oder Lehrer ge¬
fallen lassen müssen, kommt nicht vor. Der Kampf gegen den Klerikalismus kann
also in Tirol nur den Sinn haben, daß nach einer bei den Protestanten ziemlich
allgemein herrschenden Meinung der Katholizismus an sich etwas Altdeutsches sei,
und daß man die tiroler von ihm befreien müsse, um sie wieder zu echten Deutschen
An machen. Daran arbeiten nun auch der Scherer und seine Freunde, und es Ware
also darzulegen gewesen, wie stark die Anhängerschaft dieses Blattes ist. und ob
wirklich in ihm der echt deutsche Geist lebt, was nach den Geschichten, die seinem
Herausgeber in Schmierers Organ nachgesagt werden, bezweifelt werden darf, ^or
allem würde ein Mann, der eine auch noch so kurze Geschichte des Droler Deutsch¬
tums vom protestantischen Standpunkt aus schreibt, das Rätsel zu losen haben,
wie diese Tiroler Bauern, die sich im sechzehnten Jahrhundert so energisch gegen
ihren Klerus erhoben haben, so bigotte Katholiken geworden sind, daß ihr Landtag
den Toleranz- und Schulgesetzen der neue» Zeit den größten Widerstand entgegen¬
gesetzt und die Glanbenseinhcit des Landes bis vor zehn Jahren als sein heiligstes
Gut verfochten hat? Mit dem Worte Jesuiten ist doch nichts erklärt, wenn man
diesen Ordeusleuten nicht übermenschliche Kraft zuschreiben will, und die Soldateska
der Ferdinande thuts auch noch nicht. Man muß bedeute», daß behauptet wird.
29 Dreißigstel der Bewohner der österreichischen Monarchie seien vor der Gegen¬
reformation Protestanten gewesen (S. 91 der vorliegenden Schrift), daß die Iren
i» dreihundertjährigcr beispielloser Unterdrückung treue, ja fanatische Katholiken ge-
blieben sind, und daß die Kalvinisten des winzigen Hollands zu der Zeit, wo sie
der spanischen Weltmacht siegreichen Widerstand leisteten, auch noch die katholische
Mehrheit ihres kleinen Staates daniederznhalten hatten, denn — es klingt un¬
glaublich, ist aber, wie Wenzclbnrger nachgewiesen hat, wahr — die Reformierten
blieben bis ins siebzehnte Jahrhundert hinein in der Minderheit. Diese Thatsache
ist so merkwürdig und dabei so unbekannt, daß wir die entscheidende Stelle aus
dem zweiten Bande seiner Geschichte der Niederlande (S. 809) abschreiben müssen,
„Trotz aller Gewaltmaßregeln war es nicht gelungen, den Katholizismus so zu
vertilgen, wie dies in katholischen Ländern mit dem Protestantismus geschehn ist;
zur Zeit Oldenbarnevelts bilden die Katholiken seiner Behauptung nach noch die
Mehrheit, und zwar nicht nur in Gelderlaud, Friesland, Overyssel, Groningen und
Utrecht, sondern selbst in Holland, wo in einer Konferenz von Prädikcmten und
Deputierten im Jahre 1587 konstatiert wurde, daß nicht der zehnte Teil der
Einwohner der Provinz reformiert sei, und 1618 gab Oldenbarnevelt dem englischen
Gesandten Carletvn die Versicherung, daß die Papisten noch immer den reichsten
und migeseheusten Teil der Bevölkerung bildeten, und daß die Protestanten nicht
den dritten Teil der Bewohner ausmachten. Und dennoch hat diese Minderheit
den andern Teil zu rechtlosen Staatsbürgern herabgedrückt, die kein öffentliches
Amt bekleiden durften, aber zu den öffentlichen Lasten und den vom Kriege ge¬
forderten Opfern in derselben Weise herangezogen wurden wie die Protestanten."
Holland beweist also die Unüberwindlichkeit eines wirklich vorhandnen religiösen
Glaubens in doppelter Weise, indem weder die Spanier den Kalvinismus, noch
die Kalvinisten den Katholizismus auszurotten vermocht haben. — Auch der letzte
Teil von Näheres Schrift enthält trotz seiner ganz unangemessenen Kürze (5 Seiten!)
meist nur statistische Angaben, die mit dem Tiroler Deutschtum wenig zu thun haben;
nur die kurzen Angaben über den Unterschied in der Lage der deutschen und der
welschen Weinbauern und über die wirtschaftlichen Ursachen der Ausbreitring der
italienischen Sprache und Nationalität gehören hierher, und diese waren zu einer
ausführlichen Darstellung zu erweitern gewesen. Möge ein wirklicher Historiker
den interessanten und wichtigen Gegenstand anpacken! Die Nabertsche Stoffsammlung
wird ihm dabei einige Dienste leisten.
gliedert seine Einleitung
in die Philosophie (Leipzig, Wilhelm Engelmann, 1901) in drei Abschnitte.
Der erste behandelt „die Aufgabe und das System der Philosophie" und beweist,
daß sie keineswegs durch die Ausbildung der Einzelwisseuschaften ihr Dasein und
ihre Berechtigung eingebüßt hat. Sie ist „die allgemeine Wissenschaft, welche die
durch die Einzelwissenschaften vermittelten Erkenntnisse zu einem widerspruchslosen
System zu vereinigen und die vou der Wissenschaft benützten allgemeinen Methoden
und Voraussetzungen des Erkennens auf ihre Prinzipien zurückzuführen hat." Der
zweite Abschnitt giebt eine vortreffliche kurz gefaßte Geschichte der Philosophie, in
der anch die patristische und die scholastische Periode gebührend gewürdigt werden. Die
Kirchenlehre charakterisiert folgender Satz: „Gegenüber allen Tendenzen, die entweder
darauf ausgehn, den Glanbensinhalt zu rationalisieren, oder bemüht sind, ihm eine
anschauliche, der Phantasie zugängliche mystische Form zu geben, ist das Streben
der sieghaften Lehre immer dahin gerichtet, die Glaubenslehre als eine absolut
mystische festzuhalten, welche ebensowenig von dem Verstände begriffen wie von der
Phantasie anschaulich vorgestellt werden könne. Der rationalistischen und der phan¬
tastisch-mystischen setzt die orthodoxe Lehre die rein mystische Auffassung gegenüber."
Der dritte Abschnitt stellt die Hnuptrichtungen der Philosophie dar, die erkenntnis-
theoretischen (Empirismus, Nationalismus, Kritizismus), die metaphysische» (Mate¬
rialismus, Idealismus, Realismus) und die ethischen (heteronome, transcendente
und immanente Moralsysteme). Im Nationalismus werden wieder drei Richtungen
unterschieden: der Aprivrismus, der Ontvlogismus und der Panlogismus. Die
Begründer des Panlogismus sind Fichte und Hegel. Wenn den zweiten Wundt
richtig Schanden hat, so konnte sich Marx die bekannte UmMpung seines Meisters
ersparen. Wunde meint nämlich, da bei Hegel das Sein ein sich das reine Nichts
und nur in seinen Erscheinungen wirklich sei, so sei damit der Gedanke einer jen¬
seitigen Welt beseitigt und die Welt unsrer Erfahrung für die einzig wirkliche Welt
erklärt. — Der berühmte Physiologe, der sich allmählich zum Philosophen entwickelt
but, hatte schon vor Hartmann seinen Drews gefunden in Edmund König, der
,.W. Wundt, seine Philosophie und Psychologie" als 13. Band von Frommanns
Klassikern der Philosophie (Stuttgart, 1901) herausgegeben hat, allerdings nur ein
zierliches Bündchen, während der Hartmann von Drews ein umfangreiches Werk
ist. Streng wissenschaftlich gehalten ist mich die Arbeit von König.
Als eine vortreffliche Einführung in die Philosophie haben wir Otto Lreb-
manns Gedanken und Thatsachen wiederholt empfohlen. Im vorigen Jahre ist
(bei Karl I. Trübner in Straßburg) vom zweiten Baude das zweite Heft erschienen.
In behaglicher Breite und ansprechender Form erörtert und beleuchtet der Verfasser
die Gedanken und Thatsachen, mit denen die Forscher seit Jahrtausenden ihr Hirn
zermartern, im vorliegenden Hefte Subjekt und Objekt, Sein und Geschehen, Stoff
und Form, Materie und Geist, Einheit und Vielheit. Er zeigt, daß die Grund¬
gedanken der ältesten Philosophie, wie des Parmenides unveränderliches Sein und
des Heraklit unfaßbarer Werdeflnß (nicht zweimal tauchst dn in denselben Strom)
thpische Gedanken sind, die sich allen Zeiten in immer neuen Verkleidungen unab¬
weisbar aufdrängen, und er lehrt uns sogar von Zenos Paradoxien (Achill kaun
die Schildkröte nicht einholen) den Sinn versteh». Die heutigen Kämpfe um die
Deseendenzthevrie z. B. find nur eine neue Form des alten Streits zwischen Rea¬
listen und Nominalisten, zwischen Platonikeru und Aristotelileru. „Wir brauchen,
schreibt Liebmann, nur die Definition aufzustellen: unter der platonischen Idee
einer Nntnrgattnnq ist das Naturgesetz zu verstehn. uach welchem beim Zusammen¬
treffen gewisser Bedingungen stets und überall ein Wesen von dem Thpus dieser
Gattung entstehn muß' — dann stimmt die Jdeenlehre mit den wesentlichen Grund¬
gedanken der moderne« Naturansicht viel besser überein, als der aus empirischer
Beobachtung der Phänomene abstrahierte, über die Grundrätsel des organischen
Lebens ratlos oder gleichgiltig hinweggehende Gednnkenapparat der Deseeudeuztheorie."
Die Unlösbarkeit dieser Grnndrätscl macht Liebmann auch im vorliegenden Heft
wiederum so unwiderleglich klar, daß wir am liebsten den ganzen Abschnitt ab¬
schreiben möchten, der mit dem Satze beginnt: „Nur über das Ungewöhnliche wundert
sich der gewöhnliche Kopf; über das Gewöhnliche erstaunt der ungewöhnliche Kopf.
So erstaunte Newton darüber, daß ein Apfel vom Baume herunterfiel, und ent¬
deckte infolgedessen das Gesetz der Gravitation. Nichts ist »»begreiflicher, als daß
es Philosophen gegeben hat. die alles begreiflich fanden." Zu ihnen gehöre» mich
die Herren, die aus Erblichkeit. Variabilität. Entwicklungsfähigkeit und soripflcm-
zungsfähigteit die Artcubildung erklären, ohne eine Ahnung davon, daß gerade diese
vier Eigenschaften der Organismen das sind, was zu erklären wäre, wenn je die
Möglichkeit der Erklärung geschafft werden könnte.
Kant hat ein Manuskript hinterlassen, das gedruckt etwa 1000 Seiten groß
Oktav füllen würde. Es enthält ein vollständiges und ein unvollständiges Wert Das
vollständige: „Vom Übergang vou den metaphysischen Anfangsgründen der Natur-
Wissenschaft zur Physik" hat Albrecht Krause herausgcgebei- Das unvol stand.ge:
..Der Transceiidentalphilosophie höchster Standpunkt: von Gott der We t und
dem Menschen" benutzt der genannte Gelehrte dazu, in dem Buche: Tue letzten
Gedanken Immanuel Kants (Hamburg, C. Boyseu. 1902) die eigentliche
Meinung Kants darzustellen, die in seinen gedruckten Werken vielfach durch eine
ungeschickte Terminologie verdunkelt werde. Die beiden wichtigsten Enthüllungen,
die uns hier dargeboten werden, sind, daß Kants Gott nicht der Erklärungsgrund
der Welt, sondern nur eine Forderung der praktische» Vernunft und der Erklärungs-
grund für das menschliche Pflichtgefühl ist, und daß man Kants Ding an sich all¬
gemein mißverstanden but. Nicht kantisch sei die nnter dem Namen Kantianismus
bekannte Lehre, dnß wir die wirkliche Welt nicht kennten und nicht kennen könnten,
das; wir mir die Erscheinungen kennen könnten, die wirkliche Welt aber, die Welt
der Dinge an sich, uns unbekannt bleiben müsse. Vielmehr lehre Kant ganz dasselbe
wie der gesunde Menschenverstand: „daß sowohl das Menschengeschlecht wie der
einzelne Mensch in eine längst bestehende Welt hineingeboren ist, deren Gegenstände
die Eigentümlichkeit haben, dnß sie auf den schlummernden Geist des Kindes ein¬
wirken können, svdnß es Bewußtsein, Erkenntnis und Erfahrung bekommt. Die
Gegenstände erzeugen weder unsern Geist, noch erzeugt unser Geist die Welt, aber
wir können erst dann behaupten, daß die Welt sei, wenn wir mit Bewußtsein die
Erfnhrnng davon gemacht haben." Das uns zu sagen, brauchte wohl eigentlich
kein Säkulargeist zu erstes», denn daß einer, der kein Bewußtsein hat, überhaupt
etwas behaupten könne, ist auch vor Kant keinem Menschen eingefallen. Daß die
Welt, wie man aus Kants Schriften gefolgert hat, ohne wahrnehmende Wesen nicht
existieren würde, oder daß sie zwar auch unabhängig vom Meuscheu existiert, aber
ohne die Qualitäten, wie Töne und Farben, die erst mittels der Sinne im mensch¬
lichen Bewußtsein erzeugt werden, das ist nach Krause ein augenfälliger Unsinn. —
Welches Glück, daß .Kant so dunkel geschrieben hat! Was hätten denn alle die Pro¬
fessoren, die ihr Leben der Kauterklärung gewidmet haben, wohl anfangen sollen,
wenn sie gewußt hätten, daß Kant über Welt und Mensch nicht anders denkt als
ihr Stiefelputzer? Vielleicht wäre ihnen nichts übrig geblieben, als diesem Konkurrenz
zu machen. Und auch Dr. Paul Deußen, ordentlicher Professor der Philosophie
an der Universität Kiel, hätte sein letztes Werk: Die Elemente der Metaphysik
(Leipzig, F. A. Brockhaus, 1902) ungeschrieben lassen müssen; denn er lehrt, deu
Standpunkt der Versöhnung aller Gegensätze habe die Menschheit „der Hauptsache
nach erreicht in dem von Kant begründeten, von Schopenhauer zu Ende gedachten
Idealismus, der an der ersten und ursprünglichsten aller Thatsachen festhält, daran
nämlich, daß die ganze räumlich ausgebreitete Welt nie und nirgends besteht außer
in dem Bewußtsein und daher nur ideal, d. h. nnr Vorstellung ist." Dem Wider¬
spruch, daß das Gehirn, ein Teil der räumlichen Welt, das Bewußtsein, dieses aber
die räumliche Welt erzeugen soll, sucht er dadurch zu entkommen, daß er zwischen
dem empirischen und dem transcendentalen Bewußtsein unterscheidet; jenes wird von
der Welt erzeugt, dieses erzeugt und trögt die Welt. Wir nennen Gott, was er
transcendentales Bewußtsein nennt, und denken uns im übrige» den Zusammenhang
ebenso. Unsern Gottesbegriff kann Deußen freilich nicht annehmen, denn ihm, dem
Schüler der weisen Brahmanen, ist Gott „das Prinzip der Verneinung" und un¬
persönlich; wäre er persönlich, so wäre er ein begrenztes, „folglich egoistisches,
folglich sündiges Wesen"; als Individuum da sein, das ist ja die Urhunde. „Darum
kann die Philosophie das höchste Ziel alles menschlichen Strebens, dem alle reine
Gerechtigkeit, Nächstenliebe und Entsagung, alle Tugend und Heiligkeit entgegenführt,
immer nur negativ als die Verneinung des Willens zum Leben und dieser gauzeu
Welt, in der er erscheint, zum Ausdruck bringen, wiewohl an sich vielmehr die
Bejahung des Willens als Sinnlichkeit, Feigheit, weichliche Genußsucht und klein¬
liches Kleben am eignen Ich das negative und verwerfliche, hingegen das, was
wir im Anschluß an einen Ausspruch Jesu Verneinung nennen, die Quelle alles
Heroismus, aller Tapferkeit, Ausdauer und uneigennützigen Arbeit, aller Treue und
Lauterkeit der Gesinnung und somit an sich nichts weniger als negativ, sondern
vielmehr das wahrhaft Positive, Göttliche und Beseligende ist." Als moralisch
läßt Deußen gute Handlungen nur gelten, soweit sie Akte der Sclbstverncinung
sind. Mau kauu deu zartsinnigen und gemütvollen Deußen als die weibliche Seele
des heutigen Pessimismus bezeichnen gegenüber dem Verstandesschärfe», abstrakten
und, wo er praktisch wird, hnsarcnmäßigen Hartmann. Darin stimmt jener mit
diesem überein, dnß er ebenfalls weder zum Selbstmord noch zum Quietismus oder
zur indischen Askese verführen will, sondern in der leidbringcnden Erfüllung der
Berufspflichten die Selbstsucht überwinde» lehrt. — Dnß Tapferkeit und Pflicht¬
erfüllung oft zur Selbstvernichtung führen, ist richtig, dnß sie der Sclbstverueinung
entspringen, dagegen mir in einzelnen Fällen wahr. Der Wille zum Leben, sei es
mich nur der Wille, daß andre glücklich leben sollen, erzeugt sicherlich im gauzen
mehr Neroismus, Mag der Pessimismus manchem Ansnahniemenschen zur höchsten
Vollendung seiner Persönlichkeit verhelfen, der Durchschnittsmensch kann nur eine
optimistische Philosophie brauchen; falls er nicht Christ zu sein vermag, etwa eine
von der Art wie sie Julius Duboc darbietet, der das Leben, und zwar das
gesunde Lebe'
u, als ein Gut schätzt und glaubt, daß sich das Menschengeschlecht im
ganzen laugsam dem Ziel alles Lebens: völliger Gesundheit, nähere. Er begründet
und verteidigt diese Ansicht anch in den philosophischen, ästhetischen, kultur- und
zeitgeschichtlichen Studien und Skizzen. die er in seinem neusten Buche unter dem
Titel Streiflichter (Leipzig, Otto Wigand, 1902) zusammengefaßt hat.
Aus Leserkreisen haben Wir folgende Zuschrift
erhalten: Mit vielemInteresse habe Ich den Artikel von Herbert Meyer „Das
jüdische Hehlerrecht" in Ur. 29 der Grenzboten gelesen. Es sei mir erlaubt, die
Angaben "des Verfassers zu berichtigen. An einer Stelle heißt es: „Auch nach dem
nnter den enropäischen Juden geltenden talmudischen Recht konnte der Käufer oder
Pfandnehmer eiuer gestohlnen'Sache immer Ersatz des darauf gegebnen verlangen,
wenn er nur nicht gewußt hatte, daß die Sache gestohlen sei. Verdächtig konnte
sie ihm vorkommen-, er durfte sie auch von einem notorischen Diebe oder um einen
Hehlervrcis kaufe», das schadete ihm in seinem Rechte nicht." Dies ist nicht ganz
wulstig. Nach L 3l>6 des Schnlchan Armes Chvschcn Mischpat (worin das talmudische
Recht niedergelegt ist) hat der Käufer eine Sache, die er von einem notorischen
Diebe gekauft bat dem frühern Eigentümer unentgeltlich zurückzugeben. ^>in ^.oll
heißt es: Jede Sache, bei der vorauszusetzen ist. daß sie gestohlen ist. ist verboten
SU kaufen; deshalb darf man vom Viehhirten Wolle. Fett oder Lämmer nicht kaufen;
überhaupt darf man von einer Person, die beim Verkaufen eines Gegenstandes dem
Käufer sagt, daß er sie geheim halten soll, nicht kaufen. Der 350 beginnt mit
den Worten: Es ist verboten, einen gestohlenen Gegenstand zu kaufen; es ist dies
ewe große Sünde, da man den Übelthäter dadurch unterstützen würde und vermi¬
sste«, daß er »och mehr stehlen würde. Hiernach trifft die Bemerkung des Herrn
Verfassers: „Und genau dieselben Rechtsgrundsätze, die uns so unmoralisch erscheinen,
die aber der Talmud mit dem Bestreben nach Erleichterung des Ver¬
kehrs rechtfertigt, wurden von deutschen Königen in Privilegien zu Gunsten
von Neichsfremdcu anerkannt!" soweit es den Talmud betrifft, nicht zu. in. L.
Der Assyriologe Friedrich Delitzsch hat bekanntlich
am 13. Januar für die deutsche Orientgesellschaft in Gegenwart des Kaisers e,nen
Ertrag gehalten, worin er nmlznweisen sticht, daß die jüdische Religion el,i Ablege
assyrischen und die babylonisch-assyrische Litteratur die Quelle der Erzähln g
des ersten Vnches Mosis sei. Diesen Vortrag hat er, mit schonen Jllustrationen
"meer den, Titel: Babel und Bibel bei I. C. Hinrichs i» Leipzig herau.-
gegeben. Für die überraschende» Aufschlüsse über die "s^ "l-^die uns die Assyriologen gewähren, sind wir selbstverstai^lich sehr dankbar. aber
N'it dem Vers ich. ti? Erzählungen des ersten Buches Mos.s zu Plagiate» von
"wischen Schriftwerken zu stempeln, sind anch nicht alle ^es^^^wi emver-
swnden. Einer von ihnen, der des Assyrischer kundige Professor der Philosophie
und Theologie Eduard König in Bonn, hat den Vortrag seines Kollegen in der
Schrift: Bibel und Babel, eine kulturgeschichtliche Skizze (Ber n,. Martin Warneck,
U>02) sehr scharf kritisiert. Er führt darin hauptsächlich folgende Satze aus
Man darf nicht alaubeu. daß die Keilschriften. weil sie auf uuverwevliches Material
eingegraben sind sämtlich Urkuudcuwert hätten; Thoutafeln waren eben das ge¬
wöhnliche Schreib'material am Euphrat und Tigris, und der Thon war so geduldig,
Wie heute das Papier Viele der Keilschriften sind nicht Originalurkunden, sondern
Abschriften von solchen, die in späterer Zeit, besonders unter Asurvanibal (668 bis 628
v. Chr.) angefertigt ivurden, und zwar mit der Tendenz, den König zu verherrlichen,
der sie verfertigen ließ, sodaß es also den Autoren wahrscheinlich nicht ans ge¬
wissenhafte Geschichtschreibung angekommen sein wird. Die Thontafeln sind zum
Teil zerbrochen, die richtige Reihenfolge der Stücke ist nicht sicher zu ermitteln;
die Schrift ist schwer lesbar und noch schwieriger zu deuten, viele Deutungen sind
unsicher und zweifelhaft. Wäre aber auch in allen Fällen die Deutung, die Delitzsch
vorzieht, unzweifelhaft richtig, so würde daraus weder das höhere Alter der assyrisch¬
babylonischen Schriftwerke, noch ihre Überlegenheit über die biblischen folgen. Sie
und die biblischen Erzählungen können aus einer gemeinsamen Quelle geschöpft sein,
und das für die Wertschätzung Entscheidende ist nicht, was beide gemeinsam haben,
sondern das, worin sie voneinander abweichen. Und gerade die charakteristischen
Abweichungen der babylonischen Mythen von der Bibel: die wüsten polytheistischen
Fabeln und die Verherrlichung der Unzucht, dazu die dnrch Bildwerke und In¬
schriften bezeugte wilde Grausamkeit des Volkes und seiner Religion hat Delitzsch
gar nicht erwähnt. In seinem kurzen Abriß der babylonischen Schöpfungsgeschichte
z. B. läßt er gerade die Hauptsache weg, den Anfang, aus dem hervorgeht, daß
die Götter ebenso entstanden gedacht werden wie die Menschen, und seine Deutung
des Bildes zweier zu beiden Seiten eines Baumes sitzenden Personen auf die
biblische Geschichte vom Sündenfnll ist ganz willkürlich und höchst unwahrscheinlich.
Daß in den Keilschriften einige biblische Erzählungen, wie Delitzsch behauptet, in
ursprünglicherer Form ans Licht getreten seien, ist also unerwiesen; völlig unberechtigt
aber ist es, wenn diese Form auch noch dazu die reinere genannt wird, man müßte
denn das trübe Wasser des Gießbachs für rein und das durch menschliche Arbeit
gereinigte für unrein erklären. Die Ausgrabungen am Euphrnt fördern wertvolle
Ergänzungen der Bibel zu Tage, aber darin liegt ihre Bedeutung nicht, daß sie
zur Totengräberarbcit für die Wertschätzung der Bibel würden. Delitzsch mag Babel
mit Recht das Hirn Vorderasiens nennen — was in der Bibel lebt, das stammt
nicht aus der Welt: „In Babel strebte die Menschheit zum Himmel, in der Bibel
ragt der Himmel in das arme Menschenherz hinein."
Bei Robert Lutz in Stuttgart
sind in einer zweibändigen deutschen Übersetzung erschienen Ach Souvenirs alö vinxt
ans as sHour s Lsrlin von Dieudomü! Thiöbnult (1804). Der Verfasser, dessen
Sohn nachmals unter dem ersten Napoleon ein ausgezeichneter Generalstabsoffizier
gewesen ist, kam auf Veranlassung D'Alemberts als Sprachlehrer 1765 an die
Militärakademie nach Berlin, kehrte 1784 nach Frankreich zurück und vertrat mit
Eifer und litterarischem Geschick die Ideen der neuen Zeit. Ein Jahr vor seinem
Tode gab er sein Memoirenwerk über Friedrich den Großen heraus, das in einem
wundervoll leichten, angenehm lesbaren Französisch geschrieben ist, denn er war
ein vortrefflicher Stilist und hatte schon 1774 eins der besten Bücher über den
Gebrauch seiner Muttersprache veröffentlicht: ISsMi sur lo septo. Der König, der
ihn auch als Ratgeber und Korrektor für seine. Briefe und Akademieabhnndlnngen
gebrauchte, hatte ihn gern; er war ein bescheidner Mann , der seine untergeordnete,
aber wichtige Stellung mit Takt versah und, von aufrichtiger Verehrung für seinen
hohen Herrn beseelt, seine Berliner Aufzeichnungen ohne allen Anspruch als die
„Beobachtungen eines Kammerdieners" veröffentlicht hat. In vier Gruppen ge¬
ordnet behandeln sie die Person des Königs und seiner Geschwister, die fremden
Gesandten und die Hofgesellschaft, die Zivil- und Militärverwaltung, alles in
kurze» Schilderungen, Persönlichen Zügen und anekdotischen Erzählungen. Die
Mitteilungen haben durch ihre Lebendigkeit einigen Wert und bringen anch wohl
noch etwas Neues für die Zeit, die Thiübault selbst erlebt hat; von den berühmten
Männern aus des Königs Kreise hat er nur noch wenige und diese im hohen
Alter kennen gelernt, Zielen, Möllendorf, Leopold von Dessau und Lentulus,
und was er von ihnen und andern sagt, geht dem Standpunkt seiner Wahr¬
nehmungen entsprechend durchaus auf das Persönliche ihres Privatlebens. Ebenso
Was er von dem König erzählt, seinem einzigen Luxus, den 1500 Tabaksdosen,
deren er vier bis sechs zur Zeit in Gebrauch hatte, der Lieblingsfarbe seiner Möbel,
Rosa, und den Windspiele«, die sie ihm zerkratzten und zerbissen, so oft er sie auch
neu überziehn ließ. Das koste zwar viel, pflegte der König zu sagen, aber eine
Marquise de Pompadour würde ihm doch noch mehr kosten und dabei weniger an¬
hänglich sein. Der König habe es übel vermerkt, wenn ein in Audienz Empfangner
eins der anspringenden Tiere unversehens auf die Pfoten getreten habe, und es sei
ans seine Stimmung einem Eintretenden gegenüber nicht ganz ohne Einfluß ge¬
wesen, ob diesen die Windspiele freundlich oder unwillig begrüßten. Ihn selbst
~~ TlMbault — hätten sie niemals angebellt! Zu dem Kapitel der Einfachheit des
Königs merkt er den Besitz von sechs Hemden an, die man jährlich erneut habe.
Auch die königlichen Prinzen hätten nur soviel gehabt und namentlich nicht mehr
i"s Feld und zu deu Manövern mitnehmen dürfen. Der ganze Troß des Prinzen
Heinrich einschließlich seiner Kanzlei sei, wenn er in den Krieg zog, von zwölf
Maultieren befördert worden. Wir zweifeln nicht, daß sich die Leser von unserm
sympathischen Kammerdiener gern noch mehr erzählen lassen werden.
Über Kartelle. Von Dr. Josef Grunzel. Leipzig, Duncker und Humblot, 1902
Das Buch ist eine vortreffliche Thatsachen- und Materialiensammlung, in der
er Leser uicht nur möglichst erschöpfend über die bestehenden Kartelle, ihre Ent-
> ehungsgrüude, ihr Wesen und ihre bisherigen Wirkungen, sondern auch über die
Mir verschiednen Urteile, die von Volkswirten über sie gefällt sind, und über die
e en so verschiednen Vorschläge und Versuche eines staatlichen Eingreifens in die
^nrtellfrage reichliche Belehrung findet. Grunzet betont mit einem gewissen Stolz,
W er, wie in seinen frühern Schriften, auch in dieser an der Methode festhalte,
^'es ein Arten erst dnrch Beobachtung der Thatsachen zu bilden, statt ans der
ti>, ^ ^ Thatsache» zu erklären." Aber wie es vielen unsrer modernen Anti-
der^ Wirtschaftspolitik geht, so scheint auch er bei seiner Beobachtung
r. -^hatsachcn von theoretischen Voreingenommenheiten nicht ganz unbeeinflußt zu
jedenfalls ist die folgende grundsätzliche Äußerung zur Kartellfrage entschieden
"vottrinär."
Entweder — so führt er ans — man bekenne sich „mit den Theoretikern
o i dein Axiom der möglichst uneingeschränkten rücksichtslosen Bethätigung der indi-
vwuellen Kräfte, mit einem Worte, zum wirtschaftlichen Individualismus," dann
"löse man konsequenterweise „alle Kartelle verwerfen." Oder man glaube, daß
^ "User heutiges Verkehrslcbeu „ein andrer Grundsatz, nämlich der der gemein¬
schaftlichen Organisation notwendig" geworden sei, dann werde man die Kar-
^Ac von hier aus beurteilen müssen. Vor dem Kartellproblem stehe also die
. orfrnge: welcher von den beiden genannten Ausgangspunkten zu wählen sei. Daß
unsre heutigen Verhältnisse der „Individualismus in der Wirtschaftspolitik"
^rechtfertigt sei. daß uns die „freie Konkurrenz unter allen Umständen" den Fvrt-
MMtt verbürge, sei zu verneinen, denn es bestehe kein Zweifel, daß der übermäßige
Wettbewerb den doppelten Nachteil, „Kostensteigernng und Wertzerstörnng, in vielen
Produktionszweigen" schon herbeigeführt habe. Das Heilmittel biete die „gemein-
^ttschnftliche Organisation je nach den Bedürfnissen der einzelnen Interessengruppen."
^le Kartelle seien der Versuch einer solchen Organisation. Die Behauptung: es
^ve gute und schlechte Kartelle, sei ein „billiger Opportunismus." „Entweder ist
°"s Prinzip des wirtschaftlichen Individualismus richtig, dann sind alle Kartelle
vn Nntnr ans schlecht, und es kann im einzelnen Fall nur auf mildernde Umstände
Elidiert werden. Oder man redet einer gemeinwirtschaftlichen Organisation das
"^ort, dann hat jedes Kartell dnrch seine bloße Entstehung den Beweis seiner Not-
wendigkeit erbracht. Wenn im einzelnen Falle eine Organisation mißbraucht wird,
so kann dies mir deshalb geschehn, weil die heutige Gesetzgebung der neuen Er¬
scheinung noch ratlos gegenübersteht."
Dieses „Entweder — oder" ist ein großer Irrtum. Man wird Nieder ans
die „freie Konkurrenz" oder den „Individualismus" noch auf die „gemeiuwirtschaft-
liche Organisation" als alleingiltiges Prinzip schwören dürfen, wenn man die That¬
sachen des Wirtschaftslebens wissenschaftlich richtig erfassen und seinen praktischen Be¬
dürfnissen politisch gerecht werden will. Grnnzels doktrinäre Abneigung gegen die freie
Konkurrenz, oder was er Individualismus nennt, und seine doktrinäre Vorliebe
für das Prinzip der gemeinwirtschaftlichen Organisation, wie das Schlagwort heißt,
verleitet ihn offenbar zum Optimismus in der Kartellfrage, macht, daß er die
guten Wirkungen der Kartelle vielfach überschätzt, vor allem aber die Gefahren, die
daraus erwachsen können, unterschätzt. Die Kartelle sind legitime Sprößlinge der
Gewerbefreiheit, der „freien Konkurrenz." Sie können als gesundes, natürliches
Korrektiv gegen ungesunde auf demselben Boden erwachsende Erscheinungen segens¬
reich wirken, aber sie können auch zu den ärgsten Miszbräuchen dieser Freiheit, zur
rücksichtslosen Ausbeutung und zur Vernichtung wahlberechtigter Existenzen und
schließlich zur Gefährdung des Gemeinwohls führen und damit das Eingreifen der
Staatsgewalt herausfordern.
Sein eignes Urteil faßt Grunzet ganz allgemein dahin zusammen: Er gelange
auf diesem Wege zu dem Resultat, daß die Kartelle als solche — also nicht bloß
einige davon — eine durchaus berechtigte und notwendige Organisationsform der
modernen Volkswirtschaft seien. Deshalb lehne er aber „staatliche Eingriffe" keines¬
wegs ab, da er die Überzeugung habe, daß gerade die „unsichre rechtliche Stellung"
der Kartelle Mißbräuche gezeitigt, in noch viel höherm Maße aber den Glauben
an solche gezüchtet habe. Die gesetzliche Regelung sei notwendig, dürfe aber ihrer¬
seits nicht in eine Bevormundung der wirtschaftlichen Erwerbsthätigkeit ausarten,
sondern habe ihre nächste Aufgabe darin zu erkennen, „die rechtliche Stellung der
Kartelle zu präzisieren und die Kartellbcweguug an die volle Öffentlichkeit zu
zieh»." Wie sich der Verfasser die staatlichen Eingriffe denkt, sucht er in einem
Abschnitt über die „Grundlinien für eine gesetzliche Regelung des Kartellwesens"
vorzulegen. Er lehnt dabei eine strafrechtliche wie eine zivilrechtliche Intervention
des Staats ab, indem er unter der ersten das Verbot von Kartellen unter Straf¬
androhung versteht, unter der zweiten die verschiednen Versuche zusammenfaßt, die
Kartellverträge durch Aufhebung ihrer Klagbarkeit unwirksam zu machen. Warum
er auch die Bezeichnung der doch auch von ihm empfohlnen „Regelung" als eine
„verlvaltuugsrechtliche" Maßnahme abweist, ist wenig klar begründet. Er sagt- eine
„Rechtsnorm" petrifiziere einen Zustand, der oft im nächsten Augenblicke durch die
Ereignisse überholt werde. Elastisch und nupassuugssähig sei nnr ein Grundsatz der
„Wirtschaftspolitik," und deshalb könne der Staat dem Kartellproblcm nicht auf dem
Rechtsgebiete, sondern nur auf dem Gebiete der Wirtschaftspolitik beikommen. Ja
wie soll dann aber die Regelung erfolgen und die „rechtliche Stellung" der Kartelle
prcizisiert werde»? Die von Gruuzel gebilligte Einführung eines Kartellregisters,
die Statuieruug einer Anzeigepflicht und eines gewissen Kontrollrechts, das die
Staatsregierung in den Stand setzen würde, „mehr zu erfahren, als was ans dem
Kartellregister herauszulesen ist," wären doch immerhin Rechtsnormen, die man
als verwaltungsrechtliche bezeichnen könnte. Vielleicht unterliegt der Verfasser in
seiner Auffassung der etwa zu lösenden Gesetzgebnngsfrage etwas zu sehr dem
modernen borror ^uri«. Wir unsrerseits wünschen, daß die Regelung des Kartell-
Wesens nur unter ernster Mitarbeit der Rechtswissenschaft versucht werden möge,
d
in ein genaues Urteil über die Leistungsfähigkeit des deutschen
Schiffbangewerbcs zu gewinnen, ordnete vor einiger Zeit der
Staatssekretär des Ncichsmarinemnts, Vizeadmiral von Tirpitz,
eine eingehende Untersuchung aller Betriebe an, die am Schiff¬
bau beteiligt sind; auch wurden zu dem Zweck, Erfahrungen zu
sammeln und einen Maßstab zum. Vergleich zu gewinnen, sehr viele aus¬
ländische Schiffswerften und Maschinenfabriken von deutschen Sachverständige»
besichtigt. Zwölf Fachleute, darunter die beiden Kontreadmirale von Ahlefeld
und von Eickstedt, bearbeiteten die verschiednen Gebiete. Marineoberbaurat
schwarz und Professor Dr. von Halle wurden dann damit beauftragt, die
^uzcluntersuchungcn zu verarbeiten und in einem systematischen Handbuche
Msnmmeuznstellen; ihr stattliches zweibändiges Werk trägt den Titel: Die
^chiffbauiudustric in Deutschland und im Auslande (im Verlage
von E. S. Mittler und Sohn in Berlin kürzlich erschienen). Infolge seiner
^eng sachlichen Form ist das Werk reich an Anregung für Fachleute des
Schiffbaues, wie auch für Reeber, Schiffsbefrachtcr und Volkswirte, und bei
"er Wichtigkeit, die das Schisfbaugewcrbe in Deutschland schon jetzt hat, wird
unes der gebildete Binnenländer gut thun, seine Aufmerksamkeit ein wenig
^chem nur anscheinend nüchternen Stoffe zu widmen; denn es hängt ja die
Geltung des Deutschen Reichs zwischen den Seemächten der Erde zu einem
A'ten Teile von der Leistungsfähigkeit des heimischen Schiffbaugetverbes ab.
^'u folgenden soll in aller Kürze ein Überblick über die Hauptergebnisse der
amtlichen Untersuchungen gegeben werden, der hoffentlich dazu führt, dem aus¬
gezeichneten Werke Freunde zu gewinnen.
Jede moderne Schifsbcmwerft vereinigt in sich sehr verschiedenartige Be¬
gebe, und zwar hauptsächlich die folgenden: die eigentliche Baustelle, die
Helling, wo alle in den einzelnen Werkstätten hergestellten Schiffsteile zum
^"uzen zusammengefügt werden; die Schiffbauwerkstatt mit der Schiffsschmiede,
Spanten und Platten und alle die verschiedenartigen Winkeleisen
^es Schiffsrnmpfes zurechtgcschnitten, gebogen und bearbeitet werden; die
^lschlerci für alle Holzarbeiten am Schiffskörper; die Maschiuenbanwerk-
statt, in der die Schiffsmaschine fertig hergestellt wird, ehe sie ins Schiff
hineingebaut wird; die Kesselschmiede für den Van der Schiffskessel; die
Hammerschmiede, wo die größten Schmiedestücke, wie Vor- und Achtersteven,
Schraubenwelle, Nuderschaft und andre gefertigt werden. Dazu kommen
dann noch eine Schlosserwcrkstatt, eine Kupferschmiede für allerlei feinere Ar¬
beiten an Schiff und Maschine, ferner die Malerwerkstatt und die Modell¬
tischlerei. Natürlich sind auch größere Lagerräume nötig für das Rohmaterial
um Stahl und Eisen, Gelbmetall und Holz, für Arbeitsgerät und Ausrüstungs¬
stücke, wie Anker, Ketten, Boote und vieles andre. Der Betrieb jeder größern
Eisenschiffbauwerft ist so groß, daß die Leitung von drei Direktoren besorgt
werden muß. Man hat gewöhnlich zwei gesonderte technische Betriebe, von
denen der eine nnr den Bau des Schiffrnmpfes, den Schiffbau im engern
Sinne, umfaßt, während dem andern der Maschinenbau zufällt, also die Her¬
stellung sämtlicher Maschinen und Kesselanlngen auf dem Schiffe. Als dritter
wichtiger Zweig, der für die wirtschaftliche Verwaltung zu sorgen hat, kommt
der kaufmännische Betrieb hinzu, dem nicht mir das Ergaltern von Bauauf¬
trägen und der Vertragsabschluß mit den Bauherren obliegt, sondern der auch
das gesamte Material zu beschaffen lind zu verwalten, sowie das Personal zu
lohnen hat.
Jeder dieser drei Werftbetriebe arbeitet mit je einem großen Stäbe be¬
sonders vorgebildeter Techniker, Zeichner und Kaufleute. Die Arbeit beginnt
im Zeichensaal, wo die Pläne des Schiffs und seiner Maschinen entworfen und
berechnet werden; es giebt im gesamten Bauwesen keinen Zweig, der höhere
theoretische, insbesondre mathematische Vorbildung fordert, als der des modernen
Schiffbanmeisters, der ungefähr soviel auf die Integralrechnung angewiesen
ist wie der gewöhnliche Sterbliche auf sein Einmaleins. Ganz abgesehen von
den Stabilitätsverhältnissen, die ihren Ausdruck in dem berühmten Meta-
zentrum finden, find schon im Schiffsplan eine Menge der knifflichsten Rechen¬
aufgaben zu lösen, die eine vorzügliche Schulung des leitenden Baumeisters
fordern. Die sonderbarsten Meßwerkzeuge, Flüchenmesser und Knrvenmesser
mit Rechenmaschine werden bei der Berechnung der Schiffspläne verwandt.
Auch die Übertragung des Planes auf die Modellteile in der wirklichen Größe
fordert sehr geschickte und sorgfältige Arbeit; auf dem sogenannten Schnür¬
boden werden die Malle hergestellt, d. h. die Modelle für die Spanten, die
Schiffsrippen, die die Form des Schiffs bestimmen; entsprechend der Krümmung
der Malle werden dann auf dem Spantenbiegcplan die in einem riesigen Glüh¬
ofen erhitzten Winkeleisen in die Form der Spanten gebogen.
Um jede Platte in die richtige Form und Krümmung zu bringen, müssen
in der Schiffbauwerkstatt ungefähr folgende Arten von besondern Maschinen
vorhanden sein: Lochmaschinen und Scheren zum Platteuschneiden, Bohr¬
maschinen, Versenkbohrer, Kantenhobelmaschinen, Blechwalzen, Platteuricht-
maschinen, Kielplattelwiegemaschinen, Pressen zum Biegen der Platten, Stanzen
für Maurischer und zum Börteln von Platten, Schleifmaschinen, Nietmaschinen,
Stemmmaschinen und Deckhobelmnschinen. Ähnliche Maschinen, aber von ganz
gewaltiger Kraftleistung, sind auch für die Bearbeitung der Panzerplatten er-
förderlich. Für das Fortschaffen der Platten von einer Maschine zur andern
und schließlich zur Schiffbanhelling sind mannigfaltige Einrichtungen vorgesehen.
Wo es irgend möglich ist, wird Maschinellkraft, sei es Dampf, elektrische oder
hydraulische, zur Bearbeitung, zum Heben und Fortschaffen der einzelnen
Stücke verwandt, sodaß die menschliche Thätigkeit auch der einzelnen Arbeiter
fast nur noch in der Leitung und Führung der einzelnen Arbeitsmaschinen
beruht. Der Materialbedarf an Platten und Winkeleisen, schweren Schmiede-
und Gußstücke« wird für jedes Schiff entsprechend dem Plane in bestimmter
Größe und auch in bestimmter Reihenfolge für die Lieferung von den Hütten¬
werken gedeckt. Die verschiednen Gegenstände der Schiffsausrüstung werden
zumeist von Spezialfabriken beschafft.
Um ein Schiff fix und fertig dem Besteller abzuliefern, müssen sehr viel
verschiedenartige Gewerbe Hand in Hand arbeiten; alle Einzelarbeiten müssen
zur rechten Zeit angeordnet, vorbereitet und ausgeführt werden, damit sie sich
harmonisch in die Gesamtarbcit einfügen und weder den Werftbetrieb im ganzen,
noch den Ban des einzelnen Schiffes hemmen. Eine Schiffswerft kann alle
ehre Einzelbetriebe nnr dann wirtschaftlich ausnutzen, wenn sie zugleich mehrere
Schiffe, und zwar in verschiednen Entwicklungsstadien in Arbeit hat. Dabei
bildet jedes ans der Helling stehende Schiff eine besondre Ausgabe, die gewisser-
uwszen eine individualistische Behandlung fordert. Bei der großen Verschiedenheit
der modernen Sadi ffsgattun gen hat sich ferner eine Trennung der Arbeits¬
gebiete auf verschiedne Werftbetriebe aus wirtschaftlichen Gründen als not¬
wendig herausgestellt. Denn die Anforderungen, die an gewisse Schiffsgattungen
in Rücksicht auf die Güte und Feinheit der Arbeitsansführnng gestellt werden,
verlangen ganz andre Werfteinrichtimgen, als die Herstellung von Schiffen,
bei denen es lediglich auf den billigen Preis und geringe Betriebskosten an¬
kommt. Der Ban der modernen Kriegsschiffe und Schnelldampfer fordert die
höchste Arbeitsleistung, die größte Güte an Material und Personal im Werft¬
betrieb. Das Kriegsschiff soll dauerhaft aus bestem Stoff hergestellt sein, und
telle seine sehr schwierigen Einzelheiten sollen auf das gründlichste durchgearbeitet
sol. Auch für den Ban des Schnelldampfers dürfen die Kosten keine Rolle
spielen, wo es sich um die Sicherheit, Schnelligkeit, mich um die wohnliche
so,e Ausstattung des Schiffes handelt. Beim Frnchtdampfer dagegen genügt
^' für den Zweck, wenn der Schiffskörper in seiner Bauweise gerade den
Anforderungen der Klassifikativns- und Versicherungsgesellschaften genügt; er
wuß ohne jede andre Rücksicht billig hergestellt werden und Maschinen haben,
"le sparsam arbeiten, wenig Kohlen fressen und wenig Platz beanspruchen, damit
der Schiffsraum eine möglichst große Gütermenge aufnehmen kann. Der Fracht-
dnmpfer fordert weniger geschulte Arbeitskräfte; Hauptsache ist, daß die Bau¬
arbeit schnell und billig ausgeführt wird. Deshalb ist die „fabrikmüßige" Her¬
stellung vieler Frachtdampfer nach ein und derselben Schablone eine Aufgabe,
der sich gewisse englische Schisfslverften mit gutem pekuniären Erfolg hingeben;
^le bei manchen andern heutigen Kunstprodukten zweifelhaften Wertes ist '
auch bei solchem schnell zusammengehämmerteu Schiffsschund schon auf schnellen
Verschleiß gerechnet, der den Absatz der Schnndware erhöhen muß. Dagegen
muß man für einen guten Preis die beste technische Ausführung verlangen,
das gilt für den Schiffball so gut wie für jedes andre Gewerbe, Auch die
Schiffsgröße hat eine Arbeitsteilung auf den Werften herbeigeführt; es giebt
heutzutage Schiffswerften, die sich lediglich mit dem Bau großer Schiffe be¬
fassen, und solche, die trotz Großbetriebs doch nur kleine Fahrzeuge bauen.
Eine Werft, die darauf eingerichtet ist, in verhältnismäßig langen Arbeits¬
zeiten hauptsächlich große Schiffe zu bauen, wird in ihrem Gesamtbetrieb
vielfach gestört, wenn sie zu gleicher Zeit den Bau kleiner Schiffe unternimmt.
So hat sich eine natürliche Arbeitsteilung herausgebildet, der zufolge große
Kriegsschiffe, Schnelldampfer, Frachtdampfer, große Segelschiffe (die immer
nur Frachtschiffe siud), kleine Kriegsschiffe und kleine Postdampfer, kleine feine
Sportfahrzeuge, Hafeudamvfer, Hafenfrachtkähne (Schulen und Leichter) in
ganz getrennten Betrieben von verschiednen Unternehmern oder gelegentlich
auf großen Werften wenigstens doch in getrennten Abteilungen (Betriebs-
gruppen) hergestellt werden.
Gewiunbringender moderner Werftbetrieb zum Ban großer Schisse ver¬
langt große Kapitalaillagen, wenn er bestehn soll; denn nur in Ländern mit
großen Reedereien und mit einer diesen entsprechenden Kriegsflotte werden ihm
dauernde Aufträge sicher sein. Das Anstand bestellt, wie die Erfahrung lehrt,
auf einer Werft nur solche Schiffsnrten, die schon im heimischen Gebrauch
gute Leistungen aufweisen können. Außerdem müsse» im Lande technische
Schulen zur Ausbildung der Schisfbaumeister und ihres Personals sein.
Ferner ist es sehr förderlich für den Werftbetrieb, wenn der Stahl und das
Eisen für den Schiffbau im eignen Lande nicht weit von der Werft gewonnen
und zubereitet wird, und wenn die Betriebsmittel, also Stahl, Eisen und
Kohlen, auf rasche und billige Art an die Werft geschafft werden können.
Schließlich kann auch die Lnndesregicrnng durch zweckmäßige Gesetze und Ver¬
fügungen den Werftbetrieb sichern und erleichtern.
Was die Gesamtleistung der Schiffbanwerften aller Länder betrifft, so
hat der Norweger Klar in ausführlicher Statistik dargelegt, aus der man
sehen kann, daß seit 1873 die jährliche Vauleistung durchschnittlich ungefähr
eine Million Dampfer- und Seglcrtonnen ausmacht! uur das Verhältnis des
Dampferbaus zum Seglerban hat sich seitdem vollständig umgekehrt. Um
1890 fallen auf Segler kaum ein Drittel der Bestellungen, die der Dampferban
auszuführen hatte. Schon in den achtziger Jahren sind die Leistungen im
Dampferbau doppelt so groß als in den siebziger Jahren. In den letzten
Jahrzehnten zeigt der Seglerbau jähe Schwankungen, die den Kampf ums
Dasein mit dem Dampfer veranschaulichen. Nach den Znsamlncnstellnngen des
Britischen Lloyd machen die Seglerbauten in der ersten Hälfte der neunziger
Jahre unter deu Neubauten nur noch ein Fünftel und von 1896 bis 190t)
sogar nnr noch ein Zwölftel aus. Die Tage der großen Segelschiffe sind
also gezählt. Dabei muß man wissen, daß die Statistik unter die Segler von
heutzutage auch Schiffe ohne Masten oder nur mit Lademasten, nämlich
allerlei Seeleichter mitrechnet, die nie ohne die Dampferkraft eines vorgespannten
Schleppdampfers fortbewegt werden. In deu letzten Jahren ist der Dampferball
noch stark gewachsen; er war im Jcchre 1900 dein NaumgelM nach bei rund
2 Millionen Registertonnen Brutto doppelt so groß als 1895. Die Haupt¬
rolle im Dampferbnn spielt England, es hat aber doch im letzten Jahrzehnt an
auswärtiger Knndschnft verloren, sodaß im Jahre 1900 zwar noch vier Fünftel
aller Neubauten in England hergestellt wurden, aber doch schon 10 Prozent aller
Neubauten den Bereinigten Staaten und 9 Prozent Deutschland zugefallen
sind. Auch Italiens Schiffbau. der 1895 kaum V. Prozent des Gesamtbaues um¬
faßte, ist 1900 auf 2,3 Prozent angewachsen. Norwegen, früher als Segcl-
schiffbanland bedeutend, ist fast gänzlich zum Dampferbau übergegangen, kauft
aber deu Hanptbedarf an Schiffen „billig und schlecht" im Ausland und ver¬
braucht vielfach alte Schiffe, die andre Länder abstoßen. Frankreich baut
wenig selbst, und zwar fast nur Segelschiffe; infolge einer sonderbaren Prämien-
politik ist nämlich die Prämie für die Unterhaltung der in Frankreich gebauten
und unter französischer Flagge fahrenden Segelschiffe so groß ausgefallen, daß
diese Schiffe noch Gewinn bringen, auch wenn sie ohne Fracht fahren! Auch em
famoser Beweis dafür, was für Karikaturgesetze zuweilen zustande kommen.
Leider ist Deutschland bis heute uoch sehr stark darauf angewiesen, den
eignen Bedarf an Handelsschiffen aus dem Auslande, namentlich ans England.
5" decken. Im Durchschnitt des letzte., Jahrfünfts wurden nämlich zwar
133000 Dampfertonueu Neubauten für eigne und 21000 Tonnen für fremde
Rechnung jährlich gebaut, aber doch zugleich noch jährlich 71500 Dampfertonnen
Neubauten von ausländischen Werften und 36500 Dampfertonnen anfertigen
fremden Schiffen für deutsche Rechnung angekauft; auch war die deutsche
Seglerflotte fast zu 90 Prozent auf eine Ergänzung vom Auslande angewiesen.
Also dem Aufschwung des Ncedereibetricbs kounte der deutsche Schiffbaubetneb
bis heute bei weitem nicht folgen. So ist es erklärlich, daß vom Gesamtbesitz
der deutschen Handelsflotte, nämlich von 1293 Dampfern und 493 Seglern
Anfang 1902 nicht weniger als 399 Dampfer und 170 Segler in England
gebaut sind. Freilich liege.: die englischen Werften besonders günstig zu den
Eisen- und Kohlenwerken. die ihnen den Baustoff liefern; in keinem andern
Seestaate ist die Fracht des Banstoffs nach den Schiffbauwerfteu darum so
"iedrig wie in England. Auch die günstigen Wasserverhältuisse vor den eng¬
ten Schiffswerften haben ebenfalls dazu beigetragen, den Wettbewerb andrer
^über in Schranken zu halten. Aber unzweifelhaft trägt die Eroniwell ehe
Schiffahrtsakte das Hauptverdienst an dem Umstände, daß England seit de n
Niedergang Hollands zum Seefrachtfuhrmaun der Erde wurde; em Bill ,
gesetzlich gezwungen war. zwei Jahrhunderte lang nnr auf selige arten Schiff
Seehandel zu treiben und - ^ not l^t, - alle Meere der Erde fa oh
Mitbewerber zu beherrsche... ein solches Boll n.nßte seinen Schiffbaubetr.el' auf
das äußerste entwickeln. Die schlechte Wasserverbindung ^is^n unsern Stab -
und Eisenwerken in. Rheinland und in Westfalen mit unsern sah.ffswerftm an
den Mündungen der E.us. Jade. Weser. Elbe. Oder "»d Weich e und an der
Kieler Föhrde. die erst kürzlich an die Elbe dnrch den 5?aiser Wik el.n-Kanal
angeschlossen wurde. erschwert unserm Schisfbaugewerbe den Wettbewerb mit
England sehr; noch hente ist zuweilen die Beschaffung englischen Eisens uno
englischer Kohlen für die deutschen Wersten billiger, als die Verwertung des
reichlich vorhandnen und gleich guten deutschen Stahls und Eisens und der
freilich etwas weniger guten deutscheu Kohlen. Immerhin ist schon manches
geschehn, daß durch verständige Eisenbahntarife dem deutschen Schifflmngewerbe
die Verwendung deutschen Baustoffs überhaupt möglich gemacht wird.
Die meisten modernen Schiffbaubetriebe im Ausland und in Deutschland
sind Aktiengesellschaften, die sich bisher zumeist darauf beschränken, die Schiffe
aus solchen Baustoffen herzustellen, die von andern Unternehmungen gewonnen
und vorbereitet sind. Aber wie bei so manchem Großbetriebe tritt auch im
Schiffbau schon vielfach das Streben hervor, den gesamten Herstellungsprozeß
von A bis Z in die Hand zu bekommen und dadurch von den Lieferungs-
preisen und Lieferungsfristen fremder Betriebe unabhängig zu werden. Das
Ziel dieser Entwicklung ist also, Kohlenzechen, Eisenerzgruben, Hochofen, Walz¬
werke, Panzerplattenwerke, Geschiitzfabriken, Maschinenfabriken mit der Schiffs¬
werft zu vereinigen. Einzelne Grvßgewerbetrcibende haben dieses Ziel schon
erreicht: nämlich die Cockerillwerke in Belgien, Vickers und Maxim sowie Brown
in England und Krupp in Deutschland. Durch den Ankauf der Germaniawerft
in Kiel ist Krupp in der glücklichen Lage, Schiffe in allen ihren Teilen ans
selbstbereiteten Stahl mit selbstgewonnenen Kohlen herzustellen. Auch eine
andre Betriebsausdehnuug ist erwähnenswert, nämlich die Verschmelzung des
Schiffbaubetriebs mit dem Rcedereibetriebe; sie ist gewissermaßen schon historisch
geworden, da sie bei alten Scehandelskompaginen sehr beliebt war. Man findet
sie bei den großen französischen Dampfergesellschaften, den Messageries Maritimes
und der Compagnie Gönerale Transatlantique, die seit 1851 und 1861 eigne Bau¬
werften in Lu Ciotat und Samt Nnzaire besitzen. In England hat die Wilson-
Dampferlinie kürzlich eine Werft angekauft. Andre Dampferlinien haben feste
Liefernngsverträge mit bestimmten Werften für ihren ganzen Schiffsbedarf. In
Deutschland soll der norddeutsche Lloyd dem Stettiner Vulkan für Schiffsneu-
bauten nicht einen vorher festgesetzten .Kontraktpreis, sondern, den wirklichen
Herstellungspreis vermehrt durch einen gewissen Gewinnprvzentsatz zahlen;
solche Abmachung nähert sich wohl der idealen Form eines für Künfer wie
Verkünfer gleich befriedigenden Vertrags, denn sie schließt jede Übervorteilung
eines Teils aus.
Über den jetzigen Stand in der Entwicklung des Schiffbaugewerbes ist
folgendes zu bemerken: In England hat man bisher moderne Vetriebskräfte,
die Arbeiter sparen könnten, nnr wenig verwandt; das Maschinengewerbe
liefert bewährte Arten von Hülfsmaschinen und andern Schiffsausrnstungs-
stücleu rasch und billig; die Schiffbauer und Arbeiter sind gut geschult, aber
Neuerungen in der Arbeitsweise wenig zugänglich. Die englischen Werften
kennen die Bedürfnisse ihres großen Kundenkreises genau, können sich schon
im voraus auf sicher zu erwartende Aufträge einrichten und können, weil sie
meist „auf Vorrat" bauen, sehr kurze Lieferungsfristen gewähren, was für den
Needereibetrieb oft sehr wichtig ist.
In Amerika sind die Schiffbauwerften vorzüglich mit modernen Betriebs¬
kräften, Arbeitsmaschinen und Transportmitteln ausgerüstet. Die Baustoff-
gewerbe siud leistungsfähig, aber die Herstellung schwerer Schiffbanmaschinen,
sowie die von Hilfsmaschinen und allerlei Schiffsausrüstuugsstückeu ist noch
nicht genügend entwickelt, sodaß die Mehrzahl der Küstcnwerftcn noch nicht
alle verschiednen Bedürfnisse der Reederei zu decken vermag. Die Schiffbauer
und Arbeiter haben noch weniger Erfahrung und geringere Schulung als die
englischen, verfügen aber über bessere Arbeitsmaschinen, sodaß sie voraussieht-
^es schon bald erfolgreich mit dem englische» Schiffbau in Wettbewerb treten
werden. Freilich sind in Amerika sowohl die Preise für die Baustoffe wie die
Löhne für die Arbeiter sehr hoch. Die geringe Entwicklung der nordameri-
kanische» Reederei hat zur Folge, daß die Bautätigkeit vorläufig nicht be¬
deutend ist.
In Frankreich ist das Schiffbaugewerbe eine Treibhauspflanze; es ist schon
oben gesagt worden, welchem Irrtum der Segclschifsbau seiue schwache Blüte
ante. Einige Werften sind mit modernen Arbeitsmaschinen gilt ausgerüstet
und wenigstens im Kriegsschifsbau sehr leistungsfähig, aber anch sehr derer.
^ Schiffbauer sind theoretisch vortrefflich ausgebildet, haben aber weniger
praktische Erfahrung als ihre englischen Kollegen; die Arbeiter sind dnrch-
'chnittlich weniger leistungsfähig, aber freilich begnügsmner, als die der ger¬
manischen Volker. Die Unternehmer streben hauptsächlich nach Lieferungen,
w durch Bauprämien begünstigt sind. Infolge hohen Schutzzolls sind die Bau-
^sse teuer, sodnß Frankreich im Handelsfchiffbcm überhaupt nicht mit andern
ändern in Wettbewerb treten kann.
An Deutschland berechtigt die technische Entwicklung der großem Werften
den besten Hoffnungen; die Unternehmer und die Schiffbauer und andern
-^echniker sind mindestens ebenso tüchtig wie die englischen, in theoretischer
Schulung diesen sogar überlegen. Die Arbeiter sind vielleicht nicht ganz so
durchgeschnit, wie die der englischen Schiffbaubetriebe; sie werden aber, wenn
^)re Lohne entsprechend ihren Leistungen gesteigert werden, voraussichtlich bald
un Tüchtigkeit und Erfahrung in ihrem Fache den Engländern um nichts mehr
unchstehn. Im Schnelldampfer- und Kriegsschiffbau sind die deutschen Leistungen
schon seit einigen Jahren den besten fremdländischen mindestens ebenbürtig, in
^uizelheiten sogar schon überlegen. Aber freilich ist in Deutschland die Ver¬
wendung deutschen Stahls und Eisens zum Schiffbau immer noch der wuudeste
Hurte des Gewerbes. Für den Kriegsschiffban ist aus nationalen Gründen
^ Verwendung mir deutscher Baustoffe Bedingung, freilich eine Bedingung,
^ Wesentlich daran Schuld trägt, daß die Herstellung der Kriegsschiffe in
entschland vorläufig noch etwas teurer ist als in England, weil die eng-
M)e Stahlindustrie infolge der riesigen Lieferungen für den englischen Schifs-
uu günstiger entwickelt ist und die verschiednen Arbeiten besser auf entsprechende
pezialbetriebe verteilen kann, als die deutsche Stahlindustrie. Die sehr ent¬
gegenkommende Tcirifpvlitik der deutscheu Eisenbahnverwaltungen hat diesen
, achten durch Verbillignng der Heranschaffuug des Stahls an die Werften
u geschickter Weise nahezu wett gemacht. Über die gute Wirkung der Aus-
^ Metarife sei angeführt, daß die Eisenbahnversendung vou deutschem Schiff-
uustahl und -eisen von 1895 bis 1900 um nicht weniger als 952 Prozent
58^^" ^' allerdings die Bruttoeinnahme der Eisenbahn nur um
^ Prozent gestiegen ist. Was diesen Tarifen die deutschen Kohlen- und
Eiscnbetriebe zu danken haben, zeigen folgende Zahlen sin Tonnen zu je
1000 Kilogramm):
Im letzten Jahrzehnt hat also trotz der starken Steigerung des Schiff¬
baues überhaupt die Verwendung englischen Baustoffes im Verhältnis zur
Menge des deutschen von 37 Prozent in 1890 auf 30 Prozent in 1899 ab¬
genommen. Da 1899 mindestens 34000 Tonnen an deutschem Stahl und
Eisen zu Schifflmuzwecken ins Ausland ausgeführt wurden, so ist die „Mehr¬
einfuhr" fremden Stahls und Eisens nicht wesentlich größer als 1890. Immer¬
hin ist leider das Ausfuhrlnud uoch sehr stark an der Lieferung des Ballstoffes
für deutsche Schiffe beteiligt; da die Erzeugung des deutschen Stahls lind
Eisens für den Schiffbau 1899 nur knapp 4 Prozent der gesamten deutschen
Stahl- und Eisenherstellung ausmacht, so kann man wohl hoffen, daß all¬
mählich das Allsland ganz von den deutschen Werken verdrängt werde» wird;
denn es wird dem ans andern Gebieten schon aufs höchste entwickelten deutschen
Stahlgewerbe schließlich gelingen, anch für die Spezialbedürfnisse des Schiff¬
baues durch zweckmäßige Anordnung und Verteilung der Arbeiten die fremden
Mitbewerber gänzlich aus dem Felde zu schlagen.
Wenn man bedenkt, daß im Jahre 1899 sechsmal mehr Flußeisen und
Flußstahl zu Eisenbahnmaterial als zu Schiffbauzwecken in Deutschland her¬
gestellt wurde, daß aber auch dieses uur knapp ein Fünftel der gesamten im
Jahre 1899 in Deutschland erzeugten Menge dieser Stoffe ausmachte, so wird man
auch erkennen, daß der Schiffbau aus deutschem Stahl und Eisen in Zukunft
noch gesunder Steigerung fähig ist. In England schätzt man den Verbrauch
von Eisen und Stahl zu Schiffbauzwecken als doppelt so groß, wie den für den
Eisenbahnbetrieb. Mail darf auch nicht vergessen, daß im Jahre 1899 noch für
deutsche Rechnung im Auslande, und zwar meist in England, Schiffe teils neu
geballt, teils fertig angekauft wurden, zu deren Herstellung etwa 40000 Tonnen
Flußeisen nötig gewesen ist. Wenn also die deutsche Eisenindustrie imstande
wäre, etwas mehr als 6 Prozent ihrer jährlich erzeugten Flußeisenmenge für
Schiffbaustoffe zu verarbeiten, dann würde nicht nur der gesamte Bedarf der
deutschen Reederei um Schiffen aus deutschen Stoffen gebaut werden können,
sondern dann könnte auch noch ebensoviel Schifsbaueisen wie bisher ins Aus¬
land ausgeführt werde». Außerdem wird sich die Nachfrage nach Schiffbau¬
stoffe» noch »lehr steigern, je mehr es den deutschen Werften gelingt, in den
Nachbarländern wie auch in exotischen Seestaaten noch mehr Bauaufträge
als bisher zu erlangen. Der scharfe Wettbewerb auf dem Weltmarkt mit bete
amerikanischen und den englischen Schiffbanwcrften fordert freilich, daß sich
die deutsche Stahl- und Eisenindustrie »lehr und mehr, ähnlich wie in England,
den eigentümlichen Bedingungen des Schiffbaues anpaßt. Vielleicht wird später
einmal Emden der wichtigste deutsche Schiffbauplatz, weil er dem Mittelpunkte
der deutscheu Eisengewinnung am nächsten liegt; Rotterdam, Antwerpen und
Dünkirchen liegeu freilich uoch günstiger, gehören aber leider nicht mehr zum
Deutschen Reiche. .
^Da die Einführung von Schiffen nach Deutschland zollfrei ist. so ist der
deutsche Schiffbau dein freisten Wettbewerb des Auslands ausgesetzt. Diese
Zollfreiheit wiederum ist unvermeidlich, weil sonst der deutsche Needereibeweb
den scharfen Wettbewerb mit dein Ausland aus dem internationalen Frachten¬
markt nicht aushalten, also verkümmern würde. Wenn der Reederei die Schiffe
verteuert werden, kann sie nicht zu billigern Frachtsätzen fahren, als ihre Wett¬
bewerber in fremden Seehäfen. Wohl oder übel muß sich also der deutsche
Schiffbau dein unbeschränkten fremden Wettbewerb anpassen, wenn er über¬
haupt Aufträge von Privatreedereien bekommen will. Fremder Wettbewerb
"n Schiffbau wird möglich, sobald fremde Werften einen Bauauftrag besser,
billiger oder schneller ausführen köunen als deutsche. Ju der Güte der Arbeit
braucht nun freilich der deutsche Schiffbau heutzutage den Vergleich mit keiner
fremden Leistung zu scheuen. Ja, es ist sogar schon so weit gekommen, daß
einzelne Reeber bei Frachtdampfern gelegentlich deutschen Werften den Vorwurf
allzu feiner Arbeitsausführuug, die den Bau verteuert, gemacht haben. Trotz¬
dem haben sich die meisten deutschen Wersten noch nicht darauf eingelassen,
die Frachtdampfer „in wilder Fahrt" (sogenannte Trampdampfer, das heißt
Vummeldampfer. die nicht in festen Linien fahren, sondern Frachtgelegenheit
bald hier bald da suchen) ebenso billig und schlecht zu bauen, wie dies gewisse
rücksichtslose und profitwütige englische Werften, die sogenannten 'IiWip stsanuzr
^räh schon seit Jahrzehnten thun. Für diese Sorte Dampfer und diese Sorte
Werften gilt das Wort des Mutioal N^wo (1899, Seite 941), das in
meiner Broschüre SchuK für unsre Seeleute!" ausführlich angegeben ist; es
gipfelt in der Anklage: °.Je größer der jährliche Verlust an Schiffen ist. um
W mehr Aufträge werden sie empfangen, und um so mehr Geld werden sie
schlucken."
Gottlob verdienen unsre Schiffswerften den Ruhm, daß sie sich auf solchen
unlautern Wettbewerb noch nicht eingelassen haben und wohl anch Nie einlassen
werden. Während also Deutschland in der schlechten Massenware allerdings
gegen England zurücksteht, leistet unser Schiffbau dagegen anerkannt das Beste
w Bau der Schnelldampfer, die die sorgfältigste und gediegenste Arbeit fordern;
keine englische Werft hat je einen Schnelldampfer gleicher Güte wie Kaiser
Wilhelm den Großen" ebenso schnell und billig hergestellt, wie des en deutsche
Vanwerft. Der deutsche Kriegsschiffbau wird auch im Auslande gebührend be-
"chtet. das kann man an vielen fremden Bestellungen erkennen Ob es vom
nationalen Standpunkte betrachtet nicht richtiger sei, die Was e.iliefernng
irgend welcher Art an fremde Völker völlig zu verbieten, das ist freilich eine
^dre. schwierige Frage, die aber eingehender juristischer und ethischer Be¬
trachtung hiermit empfohlen sein möge. Kürzlich haben sich die gescheiten
Japaner je einen Panzerkreuzer gleicher Gattung auf je einer französischen,
englischen und deutschen Werft bauen lassen; das deutsche Schiff foll das beste
Gr
gewesen sein. Hätte die deutsche Werft aus Patriotismus den Bau abgelehnt,
so würden wahrscheinlich zwei japanische Panzerkreuzer auf englischen Werften
gebaut worden sein; es scheint demnach, daß man heutzutage mit den Wölfen
heulen muß. So viel aber steht fest: die Römer haben den Karthagern nie¬
mals Kriegsschiffe gebaut. Der moderne Handelsverkehr zeitigt seltsame Er¬
scheinungen: er zwingt uns, dem Fremden Waffen in die Hand zu drücken,
mit denen er uns, wenn es ihm paßt, auf den Leib rücken kann. Die Kulturfort¬
schritte rufen doch zuweilen heillos verworrene, unnatürliche Zustände hervor.
Ob wir uns also dieser Erfolge unsers Schiffbaues (und unsrer Waffenerzeugung
überhaupt) freuen sollen, das bleibt dem Gefühle überlassen. Die einzige
ersprießliche Lösung bestünde wohl darin, unsern deutschen Schiffbau so reich¬
lich mit deutschen Bauauftrügeu zu versehen, daß er jederzeit auf den Ban
fremder Kriegsschiffe verzichten könnte.
Abgesehen von den eben berührten wurden Punkten ist der deutsche
Schiffbau schon jetzt ein gesundes, leistungs- und lebensfähiges Gewerbe; ja
er ist sogar noch entwicklungsfähig und erweitcrnngsbedürftig, weil er noch
lange nicht den gesamten Bedarf an Schiffen für die deutschen Needereibetriebe
zu decken vermag. Für eine aufstrebende Reederei und eine starke Kriegs¬
flotte ist es geradezu eine Lebensfrage, daß sie sich auf ausreichende deutsche
Werften zu stützen vermögen. Und für das deutsche Volksvermögen spielt
es doch auch eine Rolle, ob weiterhin jährlich viele Millionen (1900 etwa
60 Millionen Mark) ans Ausland für Schiffe und Schifsbaustoffe gezahlt
werden sollen. Deshalb muß man dem dentschen Schiffbaugewerbe eine ge¬
sunde, hauptsächlich auf deutsche Bauaufträge gestützte Erweiterung im all¬
gemeinen nationalen Interesse wünschen; zu erwägen wäre dabei wohl die
Frage, ob nicht auch andre Werften imstande wären, dein Beispiele Krnpps
zu folgen und sich mit Kohlengruben und Eisenhüttenwerken zu großen Be¬
trieben zusammenzuschließen, um mit vereinter Kraft fremde Wettbewerber besser
aus dem Felde schlagen zu können.
as Finanzministerium hat geglaubt, den Wohlstand des Staates
auf die Entwicklung einer Großindustrie gründen zu müssen, um
sich von den natürlichen Schwankungen der Erträge der Land¬
wirtschaft unabhängig zu machen. Der Gedanke war durchaus
berechtigt, aber die Art, wie er in der Praxis durchgeführt wurde,
muß, wie die Thatsachen nunmehr gelehrt haben, als nicht ganz zweckmäßig
bezeichnet werden.
Die erste Bedingung für die Entwicklung von Industrie und Großhandel
w Rußland war mit der Bauernbefreiung gegeben. Der Ausbau eines Eisen¬
bahnnetzes, Verbesserung der Verkehrsstraßen, gesetzgeberische, zoll- und handels¬
politische Maßnahmen der Regierung und endlich die Erhaltung des Friedens
nach außen seit dem Jahre 1878 thaten das weitere; man kaun eigentlich erst
von diesem Jahre den Beginn der Entwicklung modernen Gewerbelebens in
Rußland herschreiben. . ..
Allerdings verdankt die russische Industrie ihre Entwicklung großenteils
nicht nationaler Kraft, sondern zum guten Teil ausländischem Einfluß. Unter
den drei Erfordernissen der Produktion: Rohstoff, Arbeit, Kapital ist nur das
erste zum größern Teil, die beiden letzten aber bei weitem zum kleinern Teil
echt nationalrussische Zuthat in der Geschichte der russischen Industrie. Bei
dein sich aus der Naturalwirtschaft ergebenden Mangel an flüssigem Gold, und
andrerseits bei dem großen Reichtum an natürlichen, anch heute teilweise noch
völlig unberührten Bodenschätzen des russischen Reichs war es für die Weiter¬
entwicklung von Rußlands Industrie und .Handel eine dringende Notwendigkeit,
dnß ausländisches Kapital dein Lande zuströmte. Herbeigezogen wurde dieses
nicht nur durch die Aussicht auf hohen Gewinn, sondern im letzten Jahrzehnt
auch infolge des russischen Schutzzolls, der den Export nach Rußland zu sehr
belastete und die Gründung ausländischer Jndustrieunternchmnngen in Rußland
selbst vorteilhafter erscheinen ließ. Wenn auch die statistischen Angaben über
den fremden Kapitalzufluß nicht ganz zuverlässig sind, geben folgende Zahlen
doch ein allgemeines Bild der Lage:
Von 1851 bis 1894 sind im ganzen an ausländischem Kapital nur 400 Mil¬
lionen Franken angelegt worden, in den folgenden sechs Jahren strömten
dagegen dank Wildes Schutzzollpolitik 1200 Millionen Franken em. Haupt¬
sächlich beteiligt ist daran belgisches und französisches Kapital, und zwar haben
sich in diesen sechs Jahren'allein 135 belgische Gesellschaften etabliert mit
einem Kapital von 450 Millionen Franken. Ähnlich liegen die Verhältnisse
in der Steinkohlenindnstrie. von der im Jahre 1900 ein Betriebskapit^it vo„
58,5 Millionen als thätig angenommen wurde, und davou rühren 4b 6 Mil¬
lionen Rudel vom Auslande her; und noch mehr fremdes Kapital ist in der
Naphthaindustrie beteiligt, da vou dem Gesamtbetriebskapital von 49.9 Mil¬
lionen Rubel 47 Millionen Ausländern gehören. Deutsches Kapital ist
hauptsächlich in Polen an der Textilindustrie beteiligt, daneben dort auch an
der Metall- und Kohlenindustrie.
Es ist schou erwähnt worden, daß die Regierung nach dem ^ahre 18?»
in möglichst kurzer Zeit die heimische Industrie entwickeln wollte und hierzu
das Mittel des ^ochschutzzolls wählte. Nachdem in den Jahren 18^0 do 1877
eine Periode freihündlerischer Strömungen ans der Grundlage eines geneigten
Schutzzolles vorausgegauyeu war. begann mit dem Jahre 1878 die rückläufige
Bewegung, die sich seit dieser Zeit in verschiednen Etappen vollzog bis zum
Hochschntzzollwrif des Jahres 1891. Das letzte Jahrzehnt brachte danach in
der Ära der Handelsverträge nur geringe Abänderungen, sodaß noch heute
der außerordentlich hochgespannte Zolltarif des Jahres 1891 zur Grundlage
dient. Es ist unzweifelhaft, daß der Hochschutzzoll die Entwicklung der russischen
Industrie gefördert hat, aber ein solches Mittel birgt auch große Gefahren
und Nachteile in sich, ganz abgesehen von der großen Belastung des Konsums
für die Einwohner. Zur Jllustrierung dieser sei erwähnt, daß der Russe infolge
der Einfuhrzölle mehr zahlt als der Deutsche: für Maschinen um 325
bis 1030 Prozent, für Kessel, Rohre usw. um 400 bis 800 Prozent, für Sensen,
Sicheln um 80 bis 170 Prozent, für Wollwaren um 1300 bis 2300 Prozent,
für Leinenwaren um 200 bis 550 Prozent, für Baumwollgespinste um 80
bis 200 Prozent. Der Hochschutzzoll machte der Industrie zwar das Dasein
leicht, weil er fast alle Außenkonkurrenz abhielt;^) aber gerade das Fehlen
einer solchen ist auch als großer Mangel zu betrachten. Fehlt die freie Kon¬
kurrenz, so herrscht im allgemeinen die Sucht nach raschem, möglichst großem
Gewinn, während das Streben uach Verbesserung der technischen Mittel, das
heißt nach Verbilligung der Produktionskosten — was den wahren Fortschritt
einer Industrie kennzeichnet — in den Hintergrund tritt. Auch liegt eine Ge¬
fahr darin, daß unter dem Einfluß des Hochschutzzolles und leicht erzielbarer
großer Gewinne ein übermäßiges und plötzliches Anwachsen von Unternehmungen
in einzelnen Industriezweigen auftritt, was dann zu einer verhängnisvollen
Überproduktiou und zu Krisen führen muß. Der Hochschutzzoll darf also uur
als vorübergehendes, von besondern Verhältnissen veranlaßtes Auskunftsmittel
betrachtet werden; zu hoch gespannt und einseitig angewandt führt er leicht
dazu, eine Industrie künstlich groß zu ziehn, die dann auf schwachen Füßen
ruht und ernstlichen Krisen nicht standhält. Inwiefern Rußlands Beispiel diese
Erfahrungen bestätigt, wird sich bei nähern: Eingehn auf einzelne der Haupt¬
industriezweige feststellen lassen.
Wir unterscheiden in der Hauptsache eine Textil-, eine Naphtha- und
eine Montanindustrie Rußlands.
Wie überall sonst, so nimmt auch in Nußland die Textilindustrie mit
einem Anteil von 33 Prozent an der jährlichen Gesamtproduktion unter den
Industriezweige» eine hervorragende Stelle ein. Von allen Faserstoffen, die
in Nußland verarbeitet werden, ist die Baumwolle der wichtigste; sie hat die
Vorherrschaft von Wolle und Leinen in verhältnismäßig kurzer Zeit gebrochen.
Während der Verbrauch von Rohbaumwolle im Jahre 1801 nur 7260 Pud
betrug, stellte er sich 1898 auf 14,5 Millionen Pud; während außerdem in
frühern Jahren der gesamte Bedarf an Rohbaumwolle aus dem Auslande
bezogen wurde, werden gegenwärtig 33 Prozent des Bedarfs im Inlande er¬
zeugt. Diese Möglichkeit, den Rohstoff im eignen Lande erzeugen zu können,
giebt Rußland unter den Baumwolle verarbeitenden Ländern Europas eine
ganz exzeptionelle Stellung, deren Bedeutung mit der rasch wachsenden Un¬
abhängigkeit von Amerika und Ägypten immer schärfer hervortritt. Durch Be-
mühungen des Ackerbauministeriums ist die rationelle Baumwollkultur in Trans-
kaukasien, Buchara, Chiwa und namentlich in Turkestan angebahnt worden
und entwickelt sich dank Klima und Zollschntz in der befriedigendsten Werfe;
eine große Zukunft steht in dieser .Hinsicht noch der Landschaft Fcrghana bevor,
aus der allein 1900 sechs Millionen Pud vorzügliche Baumwolle un Werte
von etwa 50 Millionen Rubel ausgeführt wurden. Dementsprechend wuchs
auch die Verarbeitung des Rohstoffs zu Baumwollwaren im letzten Jahr¬
zehnt etwa um das Doppelte ihres Wertes. Der Hauptsitz der Baumwollwaren-
fabrikation ist einerseits Polen mit dem Zentrum Lodz-Warschau, andrerseits
Mittelrnßland mit Moskau-Wladimir. Quantitativ genügt die Produktion
jetzt der innern Nachfrage für die niedern Qualitäten fast völlig, nur höhere
Sorten werden noch dauernd aus England und Deutschland importiert. Die
russische Baumwollindustrie versorgt aber nicht nur den innern Markt, sondern
sie arbeitet auch schon stark für die Ausfuhr; das Steige» der Ausfuhr ist
namentlich bemerkenswert nach den Märkten des Ostens, insbesondre Perstens,
wo England in Rußland einen sehr beachtenswerten Konkurrenten gefunden
hat. Dieser erfolgreiche Kampf Rußlands mit der englischen Konkurrenz ist
um so bemerkenswerter, als England die billigen Seefrachten für sich hat;
aber gerade diese ständige Konkurrenz hat viel zu einer gesunden Entwicklung
dieses Jndustriezweigs beigetragen, sodaß die Baumwolliudustrie am ehesten in
der Lage sein wird, den .Hochschutzzoll missen zu können. Sie leidet ,a wohl
auch an dem Mangel der russischen Industrie überhaupt, nämlich dem an
tüchtigen, geschulten Arbeitern (der russische Mushik geht nur gezwungen zur
Fabrikarbeit und entläuft ihr, wenn er kauu, wieder aufs Land, wohin ihn
seine eingeborne Liebe zur Natur immer wieder zurückzieht), sie ist aber von
der in den letzten Jahren über Rußland hereingebrochnen Krisis unmittelbar
am wenigsten betroffen worden. Mittelbar hängt sie natürlich auch von dieser
ab insofern, als sie doch hauptsächlich auf die Kaufkraft des Inlandes au¬
gewiesen ist, die in Rußland als einem vorwiegend agraren Staat in dem
Absatz landwirtschaftlicher Produkte, also am Ende wieder in dein aus Über¬
produktion hervorgehenden Getreideverkauf ihren Ausdruck sendet.
Auf eine ganz junge Vergangenheit sieht im Gegensatz zur Textilulduswe
die Naphthaindustrie zurück. die erst Ende der siebziger Jahre ihren Auf¬
schwung genommen hat, aber dank der reichen Bodenschätze vielleicht die erfolg¬
reichste aller russischen Industrien genannt werden kann. Sie hat 1877 bis 1897
eine Steigerung der jährlichen Produktion vou 12.5 auf 421 Millionen Pud
mit einem Wert von etwa 50 Millionen Rubel zu verzeichnen, und auch die
letzten Jahre zeigen eine Tendenz nach oben. Die Naphthagewumung der
letzten fünf Jahre trügt in Millionen Pud (1 Pud ^ ^ Zentner) 1897 : 421.
1898 : 486. 1899 - 525, 1900 : 600. 1901 : 675. Krisen hat anch diese ^udustnc
durchzumachen gehabt, 'die letzte 1893/94, sie hat sie aber glücklich überwunden
und kann, wenn sie auch uoch außerordentlich steigerungsfähig ist, doch heute
schon als positiver Faktor der russischen Volkswirtschaft gelten.
Weniger ist dies der Fall bei den für die augenblickliche wirtschaftliche
Lage Rußlands hauptsächlich in Betracht kommenden Industriezweigen des
Bergbaus und der Metallurgie. Doch zum Verständnis der gegenwärtigen
Lage der Montanindustrie ist das Vorallsschicken einer kurzen geologischen
Übersicht nötig, wobei wir auch das asiatische Rußland nicht ganz außer Be¬
tracht lassen dürfen. Bei dieser riesenhaften Ausdehnung ist anzunehmen, daß
es reiche Eisen- und Kohleuschntze birgt. In den meisten Teilen Sibiriens
sind allerdings die Absatzverhältnisse und Verkehrswege noch so unentwickelt,
daß von allen Montauindustrien auf lange Zeit Hinalls nur die Gewinnung
edler Metalle in Betracht kommen dürfte; die Kohlenproduktion hat 1901
erst eine Höhe von acht Millionen Zentnern erreicht. In allsgezeichneten Ver¬
kehrsverhältnissen stehn dagegen die in der Nähe des Meeres liegenden Kohlen¬
schätze der Insel Sachalin, deren Zukunft voraussichtlich in der Versorgung
von Kriegs- und Handelsschiffen sowie in der Ausfuhr nach japanischen und
mandschurischen Häfen liegt. Erst fernerer Zukunft vorbehalten ist die Aus¬
beutung der an Metallen und Kohlen reichen Kirgisensteppen, dieser riesigen
wasserarmen und fast menschenleeren Gebiete zwischen Turen und Sibirien.
Ebenso ist ein reiches Lager von Kohlen und Erzen erst im vorigen Jahr in
der Provinz Ferghana in Zentralnsien entdeckt worden.
Dagegen ist schon im Besitz einiger Eiseuhütten das reiche Berggebiet des
Altai, das außer einer schon jetzt vorhandnen ziemlich namhaften Gvld-
produktion beinahe das größte aller bekannten Kohlenbecken ausweist. Es ist
fast eben so groß wie alle Steiukohleufelder Europas zusammen; die Mächtig¬
keit der Lager betrügt mehrere Meter, und die Koksbcirkeit der Kohle ist schon
durch eine Kaiserliche Eisenhütte festgestellt worden. Obgleich aber auch noch
Eisen- und Magnetitlager zu einer Entfaltung der Industrie einladen, sind
doch die wirtschaftlichen Verhältnisse dort zur Zeit uoch so, daß nur eine all¬
mähliche Entwicklung erwartet werden kann; jedenfalls ist ihr der Bedarf
Sibiriens an Eisenbahmnatericil, Maschinen usw. vorangeeilt.
Für die praktisch in Betracht kommende nächste Zukunft ist also das
asiatische Rußland auf Eiseneiuführ aus dem europäischen Rußland auge¬
wiesen, dessen Montanindustrie sich auf fünf Hauptgebiete verteilt: Im Kau¬
kasus findet sich Kohle, deren Koksbcirkeit noch nicht festgestellt worden ist,
und ebenso sind dort große Eisenlager. Aber gegenwärtig kommt der Kaukasus
als Eisenproduzent wenig in Betracht, da für die nächste Zukunft dort andre
Gelegenheiten zu gewinnbringenden Kapitalanlagen viel näher liegen, das
Nnphtha und die Manganerze; diese, Hilfsstoffe der Eisenindustrie, werden in
großer Menge ausgeführt, hauptsächlich nach Südrußland, Deutschland, Eng¬
land und Amerika. Das mittlere Rußland — Moskaner Kohlen¬
becken — hat keine zur Eisenverhüttung geeignete Kohle, dagegen großen
Erzreichtum, dessen Verhüllung südrussische Kohle zu Gebote steht, wodurch
die Tulaer und Kalugaer Eisenindustrie eine ziemlich bedeutende Rolle erlangt
hat. Der eigentlich altüberlieferte Sitz der russischen Eisenindustrie ist der
Ural, dessen Reichtum an Eisenerzen, teilweise bester Qualität, namentlich
im südlicheu Teil, fast unerschöpflich ist. Doch leidet dieses Gebiet an drei
Mängeln: Erstens ist der Ural belastet mit der Vergangenheit der Leibeigen¬
schaft, deren Folge eine ungeheure Arbeitsverschweudung ist; für dieselbe Pro-
duktionsmenge braucht man in Südrußland etwa nur ein Sechstel, in Belgien etwa
ein Zwölftel an Arbeitern. Sodann entstammen die Eisenwerke einer Zeit,
Wasserwerke die einzige mechanische Triebkraft waren. Infolge dessen
liegen sie in den Tiefen der Thäler des Gebirges verstreut. Dadurch erhebt
sich für eine zu erbauende Verbindungsbahn die Schwierigkeit, die Mehrzahl
der Werke mit einer einheitlichen Träne zu berühren, während zur Anlegung
eigner Sciteubcchuen den Werken vielfach das Kapital mangeln wird. Endlich
ist, da der Ural keine zu Verhttttuugszwecken geeignete Kohle hat, die Eisen¬
industrie auf Holzkvhlenfeuerung angewiesen, wodurch ihrer Ausdehnung ein
enges Ziel gesetzt ist. Es ist also wahrscheinlich, daß der Ural vorerst mehr
"is Erzversorger für andre Bezirke eine Rolle spielen wird, als in der Selbst-
Erarbeitung.
Wir kommen nun zu den weitaus wichtigsten Montangebieten, die auch
gegenwärtig auf der höchsten Entwicklungsstufe in Nußland stehn und aus¬
schlaggebend für die Gesamtproduktion sind, dem südrussischen Montan-
ezirk und der Industrie Polens. Das erste, das sogenannte Donjez-
"jeprbeckcn, weist eine völlig koloniale Industrie neusten Datums aus,
vo mit einem Schlage Großbetriebe ersten Ranges mit allen Errungenschaften
er neusten Technik hingepflanzt worden sind, meist durch ausländisches
^iprtal. Ziemlich direkt nördlich vom Asowscheu Meere liegend, östlich vom
^°njez begrenzt, westlich über den Dujepr hinausreichend umfaßt das Becken
Moa 2730000 Hektar; die östlichen zwei Drittel enthalten Anthracit, das
cherche Drittel dagegen führt in reichlicher Menge qualitativ hervorragende
otsbare Backkohlen^ die die Grundlage des Hochofenprozesses sind. Eisenerze
senden sich verstreut im ganzen Kohlenbecken; sie sind jedoch nur vierzig bis
N ^ Prozent eisenhaltig und bisher wenig abgebaut, die Zufuhr fremder'rze rst praktischer. Dagegen verfügt die Eisenindustrie hier noch über die
^errluhen Magneteisensteinlagcr von Kriwoj Rog, die eine Fläche von neun-
misend Hektaren einnehmen und etwa 450 Kilometer westlich von den west-
)sten Kohlengruben liegen, mit denen sie hente durch einen Schienenweg
verbunden sind; die Erze sind äußerst rein und sehr reich an Metall (60 bis
Prozent). Auch dieser Industriellezirk leidet aber unter dem Mangel ge-
'chulter Arbeiter.
Es bleibt noch übrig, des uns zunächst benachbarten Montangebiets in
Holen zu gedenken, dessen Eisenindustrie seine Bedeutung in der russischen
vlkswirtschaft weniger ihrer natürlichen Grundlage als ihren wirtschaftlichen
Vorzügen an Arbeit und Kapital verdankt; der polnische Arbeiter ähnelt eben
^ seiner Verwendbarkeit dein Westeuropäer. Polen hat zwar reiche Kohlen-
l)"ezc, aber sie sind zur Verkokung wenig tauglich und dienen nur als
^rennmnterial für die Fabriken und Eisenbahnen. ' Polen ist auf die Zufuhr
von Erz und Koth angewiesen und bezieht sie teils aus Südrußland, teils
"us Deutschland.
Die Kohlen- und Eisenindustrie zeigen am deutlichsten, daß auf die
auer der Hochschutzzoll in seiner Wirkung versagt. Umstehende Tabellen
>°lieu zunächst einen Überblick über Produktion und Konsum geben :
Die eingeklammerten Zahlen in Spalte 2 und 3 bedeuten den Anteil in Prozenten an der
Gesamtproduktion, die eingeklammerten Zahlen in Spalte 8 den Prozentanteil am Gesamtverbrauch.
Die Ausfuhr beträgt noch nicht Prozent der Jahresproduktion, kommt also hier beim
Vergleich gar nicht in Betracht.
DieRoheisenausfuhrist minimal und kann also ohneSchaden für dasGesamtbild
fortgelassen werden.
Zur Veranschaulichung des Roheisen-Prodnktionsanteils der verschiednen
Industriegebiete diene eine Übersicht der Produktion von 1901 in 1000 Tonnen:
Südrußland 1538,4, Ural 810,3, Polen 330,5, Moskaner Gebiet 178,6, Norden
(Petersburg) 19,5, zusammen 2877,3.
Bemerkt soll aber hierzu werden, daß sich diese Verhältnisse der verschiednen Gebiete zu
einander erst im letzten Jahrzehnt so ausgebildet haben; in diesem Zeitraum hat sich nämlich
die Roheisenproduktion in Südrußland versiebenfacht, im Ural und Moskaner Bezirk verdoppelt,
in Polen verzweieinhalbfacht.
Aus den Tabellen I und II geht hervor, daß mit dem Jahre 1899/1900
eine Stagnation oder sogar ein Rückgang in der Produktion und im Konsum be¬
gonnen hat. Da die Kohlenprodnktion unter dem Einfluß der Eisenindustrie
steht, hat sich dieser bei der Kohlenindnstrie natürlich erst später eingestellt.
Zum Ausdruck kommt er besonders stark in Spalte 6 der Tabelle II, dem Ma߬
stab für einen gesunden Fortschritt der Volkswirtschaft im Zusammenhang mit
der Industrie. Welchen unmittelbaren Anteil auch wir an diesem Vorgange
nehmen, geht ans den Einfuhrzöllen der beiden Tabellen hervor, namentlich
w ihrer prozentualen Beziehung zum Konsum. Wenn um zwar ans Spalte 5
Tabelle II der auch von Fachleuten vielfach bestätigte Schluß gezogen werden muß.
daß allmählich der Roheisenbedarf Rußlands durch das Inland gedeckt werden
wird, so war doch dieses rapide Tempo im Rückgang der Einfuhr der letzten
drei Jahre hier nicht der natürliche Lauf und muß wohl auch als em Grund
für unsre Jndustriekrisis angesehen werden.
Daß in Rußland eine Krisis überhaupt vorhanden ist. darüber durste
kein Zweifel herrschen. Sie besteht aber meiner Meinung unes nicht lediglich
auf dem Gebiet der Industrie, souderu ist mehr allgemein wirtschaftlicher Natur
und findet in der Jndustriekrisis uur zum Teil ihren Ausdruck. Daß sur
diese außerdem noch künstlich Propaganda gemacht worden ist von Interessenten¬
kreisen der Industrie, sei es wegen einer Einwirkung auf die Regierung zu
direkter Unterstützung, sei es. um ein Pressionsmittel bei den Handelsvertrags¬
verhandlungen zu haben, thut der Thatsache an sich keinen Abbruch. Be¬
sonders stark zeigt sich die Krisis auf dem Barometer wirtschaftlicher Kon¬
junktur, der Börse, sie bewertete die Aktien nachstehender Gesellschaften folgender¬
maßen:
Ferner zeigt sich die Krisis in der Produktionseinschränkung, die 1900
betrug: im Süden 4-3 Prozent, im Moskaner Gebiet 38 Prozent, in Polen
13 Prozent, im Ural 11 Prozent, und sie hat sich nach Tabelle I und II 1901
nicht gebessert. . '
^<^rUnmittelbar hervorgerufen ist sie von der Eisenindustrie, weil steh diese,
durch Hochschutzzoll und ungewöhnliche Bestellungen der Regierung auf un¬
gesunden Boden gewachsen, plötzlich durch das Ausbleiben dieser Beste lungen
gelähmt sah. lind ein Privatinnenmarkt nicht mit einem Schlage gesclMeu
werden kann Es blieb n. a. der erwartete Auftrag für die sibirische Buhu
aus. da für den schleunigst in der Mandschurei herzustellenden Bahnbau die
Regierung Schienen ans Amerika bezog. Hierbei ist die Thatsache interessant,
daß 1900 die Hütten Eisenbahnbestellungen von rund 1 Million Tonnen Roh¬
eisen hatten, dagegen für 1901 die Bestellung nur 465000 Tonnen betrug,
während die Produktionsfühigkeit der Hütten für dieses Jahr auf 1176 500 Tonnen
angegeben wird.
Der Hilferuf der südrussischen Mvutauindustriellen an den Finanzminister,
der bei einem in diesem Sommer zu Charkow abgehaltenen Kongresse dieser
Industriellen ergangen ist, hat nur den praktischen Erfolg gehabt, daß ihnen
von Witte die Bergsteuer erlassen wurde; alle übrigen Unterstützungsforderungen
wurden rundweg abgelehnt mit dem guten Rat, sich selbst zu helfen durch
Verbilliguug der Produktion und Schaffung eines wohlorganisiertcn Klein¬
handels, d, h. eines Absatzmarktes im Innern. Und das ist der springende
Punkt der jetzigen Jndustriekrisis, mag sie auch zum Teil künstlich hervor¬
gerufen worden sein: Witte will jetzt nicht mehr der Industrie weiter alles
zuwenden auf Kosten des übrigen Volkes (84 Prozent davon gehören der
Landwirtschaft an), er will seine Eisenbahnen uicht weiter doppelt und dreifach
so teuer bezahlen, wie er sie bei Zulassung der Außenkvnkurrenz zu bezahlen
brauchte; er will vielmehr jetzt, wo er die Industrie geschaffen hat, daß diese
sich unter gesundem Bedingungen weiter entwickle. Daß dabei viele Industrie¬
betriebe zu Grunde gehn werden, ist unvermeidlich; diese hatten aber eigentlich
keine Existenzberechtigung, da sie nur aus Spekulation auf die dauernde Er¬
haltung dieser volkswirtschaftlich unberechtigten Zustände aufgebaut worden
waren. Der Übergang wird Witte um so leichter, da ja das dabei verloren¬
gehende Kapital größtenteils Ausländern gehört, also der Volkswohlstand davon
unmittelbar wenig berührt wird.
Zu diesem Entschluß, die staatliche Unterstützung nunmehr auch dem nicht-
industriellen Teile Rußlands in erhöhten: Maße zu gewähren, ist Witte ge¬
zwungen worden durch die im ersten Abschnitt dargestellte Lage der Land¬
wirtschaft, deren Wert für Rußland nnßer wegen der erwähnten Verhältnisse
noch ganz besonders bei der Betrachtung des russischen Außenhandels hervortritt.
Nußland braucht zur Erhaltung seiner Goldwährung eine aktive Handelsbilanz,
und diese ist völlig abhängig von der Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte,
wie aus folgender Tabelle hervorgeht:
Man mag also die wirtschaftliche Lage Rußlandsansehen,von welchem
Standpunkt aus man will — immer wird man zu dem Schluß komme», daß
es s o nicht mehr weiter geht. Unter dem Druck dieser Verhältnisse null Witte,
wie es scheint, nunmehr auch den Weg einer völlig geänderten Wirtschafts¬
und Handelspolitik betreten, zum Segen seines Landes und nicht zum Nachteil
seines deutschen Nachbarn. Die bei der Brüsseler Znckerkonvcntion an die
Mächte gerichteten Noten beschäftigen sich, wie jetzt bekannt geworden ist,
nicht nur mit dieser, sondern mit einer internationalen Reform der Preis¬
bildung aller internationalen Stapelartikel, zu denen nicht in letzter Reihe
das Getreide gehört. Bei höherer Bewertung des russischen Getreides auf
dem Weltmarkt würde nicht nur der russischen Landwirtschaft die Möglichkeit
für ein Ausblühn geschaffen durch die Hebung des Produktionspreises ans
einen die Produktionskosten deckenden oder überhöhende!, Stund, dazu eine
Hebung der russischen sozialen Verhältnisse eintreten, indem bei Höheren Preise
weniger Getreide zur Erzielung derselben Bilanz ausgeführt zu werden brauchte
und mehr für die Volksernährung zurückbliebe, wobei auch die Kaufkraft des
russischen Volkes im Interesse seiner Industrie gestärkt würde, sondern mich
der deutsche Landwirt würde von dem bessern Preise denselben Nutzen haben
ohne daß dieser zur Erhaltung der Landwirtschaft notwendige Preisstand durch
hohe Schntzzollmaßregelu erkämpft zu werden brauchte. Ein Vorgehn Wildes
dieser Richtung können also auch wir nur mit Freuden begrüßen und dabei
wünschen, daß es von Erfolg begleitet sei im Interesse der Erhaltung der
guten B
cis Lob des englischen Grundherrn, des Landedelmannes, ist oft
genug gesungen worden, zuletzt sogar von dem Diamantenkönige
Rhodes, der der Versuchung, ein Familiengut zu stiften, so wenig
wie andre hat widersteh« können. Nach ihm liegt eins der Ge-
-1 hcimnisse von Englands Stärke in dem Bestehn einer Klasse von
.rmidherren, die ihre Kräfte der Wohlfahrt der auf ihren Gütern Lebenden
u'winen.
Me ^ ^" ^undherr wirklich eine solche Aufgabe stellt und sie er-
d Wirken von großem Segen sein, vorausgesetzt, daß er geistig
^/ayigt ist, zu erkennen, was not thut, und die richtigen Mittel zu finden,
suum die besten Absichten zum Verderben ausschlagen. Ein solcher
wyerr herrscht wie ein patriarchalischer.König auf seinem Gebiete, und je
^oßer seine Güter sind, um so größer ist auch seine Macht. Was ein MannSonst k
l Einsicht vollbringen kann, zeigt das Beispiel des Mr. Augustus Smith,
von der V
^ullyinselu übernahm. Er fand dort eine verwahrloste, verarmte BevölkerungSe^""- ^ Verwaltung des Herzogtums Cornwall eine tun
^'r. ZM einem weisen Despotismus führte er einen erfolgreichen Krieg gegen
^^ulsncht und Laster, und es gelang ihm, die übel berüchtigten und vermach-
INgten Eilande in ein irdisches Paradies zu verwandeln, das unter dem
meter Klima des Atlantischen Meeres die schönsten Blumen und Früchte
^vorbringt. Wohlstand und Zufriedenheit herrschen jetzt dort, einzig durch
^ Willen und die Einsicht eines Mannes.
Darf man aber die Eigenschaften, die dort so Treffliches geleistet haben
allen
^un Einsicht ist nicht angeboren, sondern muß durch Arbeit erworben werden,Grundherren voraussetzen oder auch uur vermuten? Schwerlich,
und Arbeit ist gerade das, was den meisten Grundherren durchaus fern liegt.
Der Rittergutsbesitzer, der sein Land selbst bewirtschaftet, wie es in Deutschland
die Regel ist, gehört in England zu den Seltenheiten. Im Mittelalter leitete
der Sqnire die Bebauung der väterlichen Scholle noch selbst. Später, als
durch den Schwarzen Tod Mangel an Arbeitskräften eintrat, und die Ver¬
pflichtung, Kriegsleute zu stellen, durch eine Geldzahlung abgelöst wurde, folgte
er dein Beispiel der geistlichen Grundherren und zerschlug sein Land in
kleinere Stücke, die er in Pacht gab. Seitdem hat er mit dem Landbau nicht
mehr zu thun, als daß er aller halben Jahre die Pachtgelder einstreicht und
die Verwaltungsgeschäfte durch einen Agenten besorgen läßt. Persönliche Be¬
ziehungen zwischen dein Grundherrn und seinen Pächtern sind nur bei den
kleinern Gütern möglich, bei den großer» sind sie völlig ausgeschlossen. Ein
ortsansässiger Grundherr ist in den meisten Dörfern von vornherein unmöglich,
weil auf etwa vier Kirchspiele höchstens ein Grundherr kommt. Ein Grund¬
herr nnn, dessen Besitzungen über 100900 Acker umfassen und über ein halbes
Dutzend Grafschaften zerstreut liege», kann nur die unmittelbare Nachbarschaft
seines gewöhnliche» Aufenthalts kennen. Die große Mehrzahl seiner Pächter
bekommt ihn nie lind seine» Agende» nur selten zu sehe». Die Besitzungen
des Adels, die Besitzungen von mehr als tausend Ackern, werfen, ohne die
Erträge, die einigen Grundherren aus dem teuern Boden von London zu¬
fließen, jährlich über dreißig Millionen Pfund um Pachtgeldern ab."') Dem
Herzog von Westminster allein wird nachgesagt, daß er jede Minute ein Pfund
zu verzehren habe. Und welche Gegenleistungen könne» die Grundherre» dafür
aufweise»? H. Herbert Smith, der Age»t für den Marqueß of Lansdow»e,
den Earl of Crewe und Lord Methuen, ist der Meinung, die Pachtgelder
stellten nnr eine Verzinsung des Kapitals dar, das die Eigentümer in der
Form von Bauten n»d Verbesserungen wie EntWässer» usw. ins Land gesteckt
habe». Aber das ist uicht recht glaublich. Das Kapital, das wirklich so an¬
gewandt worden ist, ist doch auch größtenteils erst vom Lande selbst hervor¬
gebracht worden, und das ohne Zuthun der Grundherren. Kent, der Garten
Englands, ist immer fruchtbar gcwesc», und der Wert der Londoner Grund¬
stücke, die den Herzog von Westminster zum reichstem Mnuue machen, ist nicht
durch die Bemühungen oder die Verbesserungen des Herzogs gestiegen, sondern
durch die Entwicklung Londons. Und welchen Anteil hat der Herzog von
Bedford an dieser Entwicklung? Er hat das Mnrktmvnopvl von Covent
Garden, von wo aus die Riesenstadt mit Gemüse versorgt wird. Der Herzog
zieht reichen Gewinn daraus. Aber der Markt von Covent Garden ist einer
der elendesten Flecke von London. Ein weniger konservatives Volk als die Eng¬
länder Hütte darin schon längst eine genügende Ursache für eine Revolution
gefunden.
Nun. viele Grundherren erfüllen die sittlichen Verpflichtungen^ die ihre
Stellung ihnen auflegt. in vollem Maße und sind eifrig auf der. Wohl ihrer
Leute bedacht. Sie verbessern das Land, erhalten Hanser Scheunen und
Schuppen in gutem Zustande, machen uut große., Kosten Ersuche zur Forde¬
rung der Landwirtschaft, die anderswo vom Staate deser.dem werden haben
für ihre Pächter ein offnes Ohr nud in schlechten Zeiten eine offne Hand.
Daneben sind n sie auch Zeit, sich den öffentliche., Angelegenheiten ihrer Graf¬
schaft wie des ganzen Landes zu widmen. I». Unterhause f.ndet ...an ihrer eme
nicht geringe Zahl.
^,..Aber wie weit sind viele ihrer Standesgenossen von diesem ^deal ent¬
fernt, wie wenig sind sie sich ihrer Verantwortlichkeit bewußt! Dav Land
auf dem ihre Aufgabe liegt, wird vou ihnen nur da.... mit ihrer Anwesenheit
beehrt, wenn Feldhühner und Fasanen schnßreif sind, und wenn Meister Re.ne e
gesagt wird, der oft erst vom Festlande eingeführt werden muß. damit edle
Herren und zarte Frauen sich an dem Schauspiel ergötzen tonnen ihn von
den Hunden zerreißen zu sehe... Will mau den Jägern glauben > machdie Sache dem Fuchse ....bändigen Spaß; leider fehlt nnr die Bestätign..«
nun selten des Fuchses.
,^Wenn es nichts zu töte., giebt, hält sich diese Art vou Edelleute» dem
Lande fern und zi de die Vergnügungen der Londoner ^mson und den Be es
der Pferderennen vor. Wie der Herr Vater, so der Herr So ... die Hoff.. .. g
des Hauses, der Erbe der breiten Äcker der Vorfahren. In Eton. der Schule
der Vorueh.um und der Streber, die ihren Weg durch Gunst machen sollen,
bleibt ihm zwar die Rute nicht erspart, aber die Weisheit, die der jiNige
Gentleman von dort heimbringt, ist oft das teure Schulgeld nicht wert Da¬
gegen hat er dort schon Gelegenheit zur Sportübuug. Er lernt den Hasen und
Hunden Hetzen und bedauern. wenn die Hunde kein Blut bekommen, das heißt,
wenn Freund Lampe den Verfolgern entgeht. Ist er nicht gar zu dumm, so
HM sich der junge 5>err noch drei Jahre lang in Oxford auf und ist dann
fähig, sich in London und sonstwo ans eigne Faust zu vergnügen. Be. den
Rennen macht er seine Wetten, und im Klub ist er «"^ ^.nen ^en acht
'"geneigt. Sein Kunstverständnis beweist er durch den Besuch der Mustthalle.,
und seine Lesebedürfnisse sind leicht durch ein rosafarbnes SporMatt oder
Wenns hoch kommt, einen der seichten Dutzendromane befriedigt. 5uirz er r
el" vollendeter Bummler. ein loatm', wie Rhodes sich in seinem Testament
ausdrückt. Er weiß, daß die väterlichen Güter ihm zufallen müsse... und oaß
d'e einzige Arbeit die er zu leiste., hat. darin besteht, daß er sich am Lebe.,
«hält. Sein ganzes Dasein läuft darauf hinaus, das Geld unter die Leute
5" bringen. Wenn der väterliche Wechsel nicht ausreicht, dann findet er zeder-
zeit n.euscheufreundliche Leute, die ihm gegen einen Wechsel über tausend Pfund
co paar hundert bar ans den Tisch lege... Andre Geschäftsleute su.d nicht wemger
entgegenkommend. Sie wissen gewöhnlich sehr gut Bescheid und semen Aus¬
sichten, und so ein Erbe, wenn er auch noch minderjährig, also gesetzlich noch
g« nicht kreditfähig ist. genießt fast unbeschränkten Kredit.
Kommt nun die Zeit, daß die Familien guter .veiter durch ein Abkomme»
für das nächste Geschlecht gesichert werden müssen, dann findet er sich mit
einer erklecklichen Schuldenlast behaftet. Dem alten Familienanwalt gelingt
es wohl, die übertriebnen Forderungen etwas zu beschneiden, doch die Summe
bleibt noch immer viel zu groß, als daß sie ohne weiteres bezahlt werden
könnte. Die Notwendigkeit einer erneuten Bindung des Landes giebt Ge¬
legenheit, die Schulden zu tilgen und dem jungen Herrn die Flügel zu stutzen.
Durch das neue vou ihm nnterschriebne Familienabkommen hat er nach des
Vaters Tode nur den Nießbrauch der Güter, nicht das freie Eigentum. Sein
Kredit beschränkt sich auf die Summe seines Einkommens während seines mut¬
maßlichen Lebens. Wenn er sich das zu Herzen nimmt, kann noch alles ver¬
hältnismäßig gut werden. Wenn er sich aber die Hörner noch nicht abgelaufen
hat, dann ist es wahrscheinlich, daß ihm die Verbindlichkeiten über den Kopf
wachsen, und daß ihm von seinem ganzen Einkommen nichts bleibt, als was
die Gläubiger ihm zu des Leibes Notdurft aussetzen.
Ein so greller Fall wie der geschilderte ist natürlich nicht die Regel,
sondern eine Ausnahme; doch die Ausnahmen sind recht zahlreich. Ohne
Mühe läßt sich eine stattliche Liste aufstellen von Peers, Baronets und
Squires, die dem Gerichtshofe für Bnnkbruchsachen ihre Aufwartung haben
machen müssen.
Der wohlthätige Einfluß dieser Herrschaften auf ihre Pächter und sonstige
Umgebung läßt sich nur durch eine Zahl mit dem Minuszeichen ausdrücke«.
Auch in den zahlreichen Fällen, wo das Bummelleben nicht bis zur Zahlungs¬
unfähigkeit führt, ist das Ergebnis nicht viel günstiger. Das alte Familien¬
haus mit Gurten, Gewächshäusern und Ställen muß in gutem Zustand er¬
halten werden, und ein gewisser Aufwand ist bei der Stellung der Familie
in der Grafschaft mwermeidlich. Zu den aus den Schulden erwachsenen Lasten
treten vielleicht auch uoch Wittümer, und für Verbesserung der Güter bleibt
nichts übrig. Auch notwendige Ausbesserungen unterbleiben, überall zeigt sich Ver¬
nachlässigung und Verfall. Das Nichtige bei einer solchen Lage, wo der Grund¬
herr nicht mehr sein kann, als eine Drohne im Bienenstock, wäre, daß die Güter
in andre Hände übergingen. Dem steht aber das Familien abkommen entgegen,
und die Familienmitglieder, die erbberechtigt sind, würden schwerlich ihre Ein¬
willigung geben, da die Familie mit dem Besitz des Landes steht und fällt.
Dieses Erbübel der englischen Primogenitur, die den Erben eines großen
Besitzes allen Versuchungen des Leichtsinns überliefert, hatte Rhodes im Auge,
als er in seinem Testament der Familiengutstiftuug die Klausel einfügte, daß
das Einkommen des Gutes von Dalham Hall nicht belastet werden darf, und
ferner, daß jeder Inhaber mindestens zehn Jahre seines Lebens in einem
Berufe (das Wnsfenhandwerk ist ausdrücklich ausgeschlossen) thätig sein muß,
widrigenfalls das Gut an den nächsten Berechtigten fällt. Wenn alle künftigen
Grundherren einer solchen Bedingung der Nachfolge unterlügen, es stünde
besser um das Land und die Achtung, die den Grundbesitzern gezollt wird.
Der gegenwärtige Lord Coleridge erfüllt die Bedingung. Er kann auf eine
fünfundzwanzigjährige Thätigkeit als Rechtsanwalt zurücksehen, und der ererbte
Lordstitel hat ihn nicht veranlaßt, seinen Beruf aufzugeben.
Weniger über Zweifel erhaben ist die von Rhodes geäußerte Ansicht von
der Stärke die England ans der Klasse der Landeigentümer g^gen hat
Ans der Primogenitur kann die Stärke nicht stammen. So rauche Gesteh
ist dnrch die Aufeinanderfolge einer Reihe von Bmnmlern ^ "^ernt
haben. Ihren Geist anzustrengen. entartet und wird ^ wühlt es trüb d u
Schutz der Fideikommisse erhalten. Wenn in andern Häusern z. B d
Stanleys, ein Geist herrscht, der sich nicht in dem eckeln Wesen d oldn n
Jugend verliert, sondern seine Befriedigung in der Arbeit für den Staat sindet.
s» ist das nicht infolge, sondern trotz der Primogemtur. .
,..^...Das englische Landwesen steht einzig da. in ^wem Lande findet^ sich
wieder. Es nach den Kolonien zu verpflanzen ist den Briten me enge allem
In England selbst. n.o sonst der Schwache mitleidlos an die Wand gedruckt
wird, ist es eine Sonderbarkeit mit seinem künstlichen Schutz des ^tauglichen.
Sein Fortbestehn läßt sich nnr erklären ans der Thatsache, do ziir Pa -
lamentsreform von 1832 die Grundherren als Klasse uuiimschra.it die H^r-
''hast hatten und noch heute ihre Hand an der Klinke der Ge etzge ung haben
Doch der Vergleich der Zeit vor 1832 mit der viktormmfchen f'M s
Ungunsten der friihern aus. Seine moderne Ent^c wug ^"icht den Grundherren. Das England, das in der Wel SahU. tap ^thätige und handeltreibende. An seinem Anfblühn haben die G uudherre
bi°ß das eine Verdienst, daß sie es nicht gehindert haben Nur auf de B -
festignng ihrer Stellung als Gebieter der Landbezirke bedacht, sind sie eher
Hemmschuh als eine Triebkraft für das Rad des Fortschritts gewesen
Die mit Freiheiten ausgestatteten größern Städte vermochten sie nicht
unter ihre Botmäßigkeit zu bringen, ans dem Lande aber wußten sie sich aUev
Unterthan zu macheu. Der hohe Wahlzensus gab ihnen die Verfügung uver
^ Vertretung der Grafschaften im Unterhause so sich^ wie in den ihnen
gehörigen verrotteten Bnr flecken. Die Verwaltung der finf^ wir^W ans die neuste Zeit von ihnen allein geleitet, die niedere Ge clMbarwt
h°ben sie noch jetzt. Im allgemeinen giebt die Rechtsprechung ur^Achter wenig Anlaß zu Klage.i. Nur wenn die Gewohiiheitsrecht ^ Griu^Herren in Frage kommen, läßt sie zu wünschen übrig wie der ^ud ^^igt. der vor kurzem in Tonbridge in Kent verhandelt wurde ^^n ^ndw re
wünschte seine Äcker und Wiesen von der Fuchshetze verschont seM und
'erbat sich in eine.n Schreiben an den Meister der in seiner feg^d ^g nden
Fnchsmente das Betreten seines Landes. Der Mecher jedoch Me in einem
T"gdgenossen über ein und zwei Zoll hohem Weizen bestandne^-e^ und ^ .f
dem Landwirt, der ihm das verwies, spöttisch zu- Schon gu . h»l her ^ig
heute. Da es dem Manne nnr darauf ankam, die Jagd über sem F d
^' verhüten, so wies er die angebotene Entschädigung zurück und ^klagdie beiden Fuchsjäger. In der Verhandlung wurde der Thatbest
and ohn
weiteres zugegeben, aber die Friedensrichter wiesen die Klage einfach ab Ev
k°rund nicht oft vor, daß eine solche Klage erhoben wird. Gewöhnlich ist der
Geschädigte klüger und nimmt an. was ihm als Schmerzensgeld geboten wird.
Der Schaden ist manchmal recht beträchtlich, wie wenn infolge des Vorüber-
ziehns der Meute und der Rotröcke ein halbes Dutzend trächtiger Schafe ein¬
geht, und dann ist die Entschädigung nur ein schwacher Ersatz des Verlustes.
Doch das ist immer noch besser als ein Verlorner Prozeß.
In der Rechtsprechung auf der Bank der Friedensrichter werden die Grund-
herren wohl noch lange ausschlaggebend bleiben. Dagegen ist ihnen die Ver¬
waltung der Grafschaften, die früher ganz von ihnen nbhing, jetzt abgenommen
worden. Bis zum Jahre 1888 waren die Friedensrichter in ihrem Lourt
(ju-utsr Lössicms die unumschränkten Gebieter. Sie schützten den Wert der
Grundstücke und Häuser für die Besteuerung ein, wobei die Landsitze der Grund-
herren so niedrig angesetzt wurden, wie anstandshalber möglich war; die Polizei¬
macht stand unter ihrer Aufsicht, die Schankerlaubnis wurde von ihnen erteilt,
sie ernannten die Beamten, sie setzten die Grafschaftstenern fest, sie waren die
Herren. Es ist anzuerkennen, daß die Verwaltung uicht schlecht war. Aber
sie hatte auch große Schattenseiten, und bei der Ausdehnung des Wahlrechts
zum Parlament ging es nicht mehr an, das Ausschreiben der Grafschaftsteuern
und die Verfügung über die daraus erzielten Gelder einer Körperschaft anheim¬
zustellen, die ohne Beteiligung der Steuerzahler vom Lordkanzler allein aus
Mitgliedern eines engen Kreises gewählt war.
Das Ortsverwaltungsgesctz von 1888 übertrug die Verwaltung der Graf¬
schaft dem aus Wahlen hervorgehenden Grafschaftsrate (Lount/ Lcmuoil). Die
Gewalt über die Polizei wird seitdem vom Grafschnftsrate und von den Friedens¬
richtern gemeinsam ausgeübt. Nur die Erteilung der Schcmkerlanbnis liegt
fürs erste noch allein bei dem Vierteljahrhofe der Friedensrichter. Ein zweites
Gesetz vom Jahre 1894 setzte die begonnene Reform fort durch die Schaffung
der Bezirksrüte (visrrivt iüounoils) und der Kirchspielrüte (?^ris!r Louuoils)
und führte damit erst eine wirkliche gegliederte Selbstverwaltung des Landes
ein. Niemand hat der verschwundnen friedensrichterlichen Verwaltung eine
Thräne nachgeweint. Mit ihr ist das Hauptbollwerk des Feudalismus gefallen,
der fast neunhundert Jahre in England mächtig gewesen ist. Jetzt hat das
Landvolk endlich wieder das Recht wie in den alten angelsächsischen Zeiten,
seine Angelegenheiten selbst wahrzunehmen. Das alte de»vu iriotö ist in der
Kirchspielversammlung (xarisd. russting) mit dem Kirchspielrate wieder ins Leben
getreten, für das dunclrscl niote giebt es den Bczirksrnt, und die Stelle des
vitöimZ'ömotö der kleinen angelsächsischen Königreiche wird vom Grafschaftsrate
eingenommen.
Rein politisch also sind die Grundherren nicht mehr, was sie waren, aber
wirtschaftlich ist ihre Stellung noch dieselbe, und hier ist nicht viel Aussicht
auf Reform. An Eingriffe in Eigentumsrechte wagt sich die Regierung nur
im höchsten Notfalle wie in Irland, und in Irland hat sie es durch ihre
halben Maßregeln fertig gebracht, sich zwischen zwei Stühle zu setzen. Da
hat sie, anstatt die Grundherren auszulaufen, was ihr bei ihren Mitteln um
endlich viel leichter gewesen wäre als dem armen Preußen nach dein Unglück
von Jena, nur den Pächtern den Mund wässrig gemacht durch Herabsetzung
der Pachter durch die Behörden, und hat die Grundherren erbittert, ohne
die Landfrage der Lösung näher zu bringen.
In England, und ähnlich ist es in Schottland lieg die Notwendigkeit
eines Einschreitens noch nicht vor, weil die Industrie blüht, und der Land¬
hunger nicht wie in Irland hervortritt. Die Städte üben eme große An¬
ziehung ans die Landbewohner ans. und wem es auf dem Lande nicht ganz nach
Wunsch geht, der trennt sich ohne großen Schmerz von Feldern die ihm meh
gehören^Mai hat versucht/durch Zuteilung kleiner Stücke Laudes Mot^zur eignen Bewirtschaftung dem Landarbeiter eine größere Teilnahme am
Landleben einzuflößen. Die Stücke werden gut und sorgfältig bearbeitet und
soweit ist der Versuch geglückt. Doch der Zug uach der Stadt ^ devwegeu
nicht geriuger geworden. Denn was den Mann an das Land ftssew kann,
das Eigentum an Grund und Boden, das hat er nicht. Von dem Pachter,
der seine Farm oft uur in jährlicher Pacht hat, ist cbeusowemg en, ver¬
wachsen mit dem Boden zu erwarten. Darum steht auch die Landbevölkerung
den Rechten, die ihr in der neuen Selbstverwaltung gegeben worden sind,
ziemlich teilnahmlos gegenüber, anch wo sie keine Gefahr länft. dem Magnaten,
von dem sie abhängt, zu mißfallen. Es find meist nur die wenigen t einen
Eigentümer, die t^uMer«, die sich um die öffentlichen Angelegenheiten
kümmern. Eine vor kurzem gehaltene Versammlung in einem kentischen Dorfe
will achthundert Einwohnern, die berufen war. die widerrechtliche Aneignung
«ues Stückes Gemeinlaudes durch den Sqnire zu besprechen, zahlte nnr
zwanzig Teilnehmer, den andern war es durchaus gleich, ob sich der «qmre
das Land aneignete oder nicht. Aber die bald darauf stattfindende jährliche
Kirchspielversammluug war auch nicht stärker besucht, und an den Wahlen
für die Ortsschulverwaltuug beteiligte., sich nnr 11.70 Prozent der Wahl¬
berechtigten.
Bei solcher Stumpfheit der Landbevölkerung, einer Folge der vielhundert-
jährigen Bevormundung, ist es nicht wahrscheinlich, daß die Regierung eilen
wird, die Landfrage zu berühren und die Grundherren gegen sich in Harnisch
SU bringen. Nur wer sich der Regierung unangenehm machen kann, findet
Berücksichtigung, und dazu sind die wirkliche,. Ackerbauer nicht stark genug
Französische Gemüse und Meiereierzeugnisse werden von den Eisenbahnen zu
billigern Sätzen befördert als die der englischen Farnen Die Eisenbahnen
^rteidigen sich mit dem Hinweis, daß jene in großen Massen kommen und
weniger Mühe verursachen'als diese, und die Regierung giebt fich damit zu¬
reden; denn die Eisenbahnen sind einflußreich, und eme ganze Reihe von
Mtgliedern der Regierung sind Eisenbahndirekto^
,^....
^ Dieselbe kurzsichtige Gleichgiltigkeit zeigt die Regierung in der mehlige.
Sache der Forsten. Es mangelt nicht an Bäumen, wie jeder Kenner der
englischen Landschaft weiß, aber was man in Deutschland uuter Forsten ver¬
steht, giebt es uicht. und wissenschaftliche Forstpflege ist gü'^es "^etmiut^Weniger als vier Prozent des großbritannischen Bodens wird als Waldland
bezeichnet, und anch davon ist nur ein Teil wirklicher Wald, von den
N5000 Ackern Staatswaldungen wenig mehr als die Hälfte, ganz Gro߬
britannien giebt es nicht eine einzige Forstakademic; die für die großen"Wischer Forsten bestimmten Beamten müssen ihre Ausbildung im Auslande
Gre
suchen, meist in Rauch. Demgemäß liegt das Verständnis für den Wert
einer richtigen Waldwirtschaft sehr im argen. Die alten großen Wälder sind
längst der Axt zum Opfer gefallen, und niemand denkt an Wicderaufforstung.
Von dem Andredesweald, der sich einst durch Kent und Sussex erstreckte, ist
kaum mehr als der den heutigen Engländern unverständliche Name Weald
übrig geblieben. Zwar sichert die Nähe des Atlantischen Weltmeeres England
vor den traurigen Folgen der AbHolzung und vor dem Schicksale der noch in
geschichtlicher Zeit waldreichen Küsten der Adria, doch bei der Zusammen-
drängung der Bevölkerung in den Städten beginnt die Wasserfrage schon
schwierig zu werden. London leidet seit Jahren in jedem Sommer ein Wasser¬
mangel. Die Themse, soweit ihr Bett nicht durch die Flutwelle gefüllt wird,
ist im Sommer nur ein armes Gewässer und nicht imstande, London hin¬
reichend mit Wasser zu Versehen. Die Wassergesellschafteu müssen immer
weiter hinausgehn, um ihren Bedarf zu decken, zum Schaden der Laudbezirle,
denen dadurch ihr so schon nicht großer Wassergehalt geschmälert wird, ohne
daß sie einen Anteil an dem Gewinn der Gesellschaften erhalten.
Die Wiederaufforstuug größerer Strecken Landes wäre das beste Mittel,
dem drohenden Notstände zu begegnen, und würde außerdem bei guter Wirt¬
schaft reichen Gewinn abwerfen. Aber dem steht wieder das ganze Landwesen
entgegen. Der Grundherr, der bloß den Nießbrauch seines Laudes hat, hat
zwar nie etwas dagegen, Nutzholz zu fällen und den Erlös zu verbrauchen, aber
er fühlt sich nicht veranlaßt, aus seiner Tasche Aufwendungen zu machen, die
erst dem auf seinen Tod wartenden Sohne oder gar erst dem Enkel oder Ur¬
enkel zu gute kommen.
Die Regierung thut nichts, giebt nicht einmal ein gutes Beispiel, und
so geht alles in der alten Weise weiter. Solange das gegenwärtige Land¬
wesen besteht, wirds auch schwerlich anders werden.
Außerhalb des Kreises der Grundherren wird natürlich das ganze Land¬
wesen bitter angefeindet und verurteilt. Der Engländer will sonst vom
Staate nicht viel wissen, und der Gedanke an Verstaatlichung ist ihm ein
Greuel, eine Ausgeburt des hilflosen Knechtgeistes der tiefer stehenden fest¬
ländischen Barbaren. Nur hier ruft er den Staat zum Einschreiten an. Die
I,anÄ Nstorin I^saFne befürwortet uur eine stärkere Besteuerung der Laubwerke,
die I,g,und National! fallor Loeist^ dagegen, die sich durch Rührigkeit hervor¬
thut, verlangt schlankweg eine Verstaatlichung alles Bodens. Die Befür¬
worter der Bodenverstaatlichung sind alles andre als Sozialisten, und ihre
Beweisgründe halten sich von allen sozialistischen Absichten einer Neuver¬
teilung fern und streben nur an, der stetig zunehmenden Entvölkerung des
Landes, das jetzt nur noch 23 Prozent der Gesamtbevölkerung enthält, zu
steuern und einen neuen Bauernstand zu schaffen.
Abgesehen vou der alten germanischen Landverfassuug, die nur die Staats-
gemeinschaft als wirklichen Grundeigentümer kannte, wird die Forderung
unterstützt durch die Thatsache, daß das englische Recht unbewegliches Ver¬
mögen (rout vropvrt/), das auch ein Erbpachtgut einschließt, anders behandelt
als das bewegliche, die fahrende Habe (psrsorml proxerty). In der Jntcstat-
erbfolge geht jenes stets ungeteilt an den nächsten männlichen Erben, ) wahrend
für dieses eine billigere Verteilung besteht. Daraus wird gefolgert, daß das
unbewegliche Vermögen, als schon eine Ausnahmestellung ^nehmend, auch
weiter eine Ausuahmebehandluug erfahren muß. Auf deu Em Wurf, daß der
Staat über den Grundbesitz nicht größere Rechte beanspruchen dürfe alö über
das flüssige Kapital, wird sehr richtig erwidert, daß der Stau auf dem Land
beruht, nicht auf dem Kapital. Eine Gesellschaft von Kapitalisten. so groß
ihr Vermögen sein mag. ist nun und nimmer ein Staat, wohl aber kam
Vereinigung von Menschen einen Staat bilden, ohne über einen Pfennig
bares Geld zu verfügen, wenn sie nur ein gewisses Stuck Land besitzt
Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß der Staat das Recht hat. seine
Grundlage eiuer Verbesserung zu unterzieh.! und alles Land in seine Hand
zu nehmen, doch von der Notwendigkeit einer solchen Umwälzung hat die
Landverstaatlichnngsgesellschaft bisher erst wenige überzeugt. Es ist bemerkens¬
wert, daß derartige Plane in England haben entstehn können Aussicht auf
Verwirklichung haben sie gerade in England nicht. In Neuland wurde
man sich „icht lauge besinnen, in England heißt die Lösung: Nur one Über¬
stürzung. Ein Auflauf der Großgrundbesitzer würde den Hauptschaden die
wringe Anzahl der ackerbautreibenden Bevölkerung, auch gar acht einmal be¬
ehren. Durch die Verwandlung der Pächter in Eigentümer wurde dem
Mangel an Kleinbauern nicht abgeholfen.
Die Hoffnung der gemäßigten Landreformer, unter denen George E. ^rod-
nck (nicht zu verwechseln mit seinem Neffen, dem Kriegsminister Se ^ohn
Brodrick) hervorragt, geht dahin, zunächst das Land dem freien Verkehr zu¬
gänglich zu macheu durch die Aufhebung des Rechtes der Erstgeburt und die
rechtliche Gleichstellung des unbeweglichen und des beweglichen Vermögens
Das würde die Bevorzugung eines ältesten Sohnes nicht ausschließen, wohl
aber allmählich die herrschende Anschauung von seinem höhern Erbrechte zu
Gunsten seiner Geschwister ändern. Wenn ein Vater, austatt bloß deu Nie߬
brauch, die volle freie Verfügung über sein Land hat und einen tüchtigen
jungern Sohn einem ältern Thuuichtgut vorziehn kann, dann kann da. Gut
^ die Familie dabei nur gewinnen. Der Gefahr der Vergeudung ^ gcmzu
Familienbesitzes durch einen Verschwender ließe sich leicht durch die Ausiiahm
des festländischen Verfahrens der Entmündigung begegnen. Wo "n Geschle
n°es kräftig ist, wird es imstande sein, sich zu halten auch ohne °in sah b
des Fideikommisses. Ist es der Entartung verfallen, sodaß es für seine S ellung
«icht länger tätige, dann ist es besser, daß es weicht. In allen andern Zweigen
^ Das englische Erbrecht hat manchmal zu schreienden »ur°ehe gefü^ em
M°um mit Zustimmuna seiner Frau deren Vermögen zum Kaufe des Hauses worm sie
wohnten. period ^r nach !em Abschlüsse des Kausoertrags starb er ploAch u^ ohne
°W Testament zu hinterlassen. Da die Ehe kinderlos war, erhöbe.n Reh e d° Verstorbnen
Anspruch auf das Haus, es wurde ihm zugesprochen, und der Wttwe bUeb n.ches ubr.g, als°Me Dienstmädchenstelle anzunehmen.
, . „ c> ^ r ein-.Ein Gesetz vom Jahre 1890 hat solchen Mißständen abgeholfen. Jetzt hat d:e Witwe°W Recht mindestens auf die ersten fünfhundert Pfund der Erbschaft.
des Lebens, die für den Staat von weit geringerer Wichtigkeit sind, wird der
Untüchtige beiseite geschoben. Für den altersschwachen Arbeiter hat der englische
Staat nichts übrig, keine Hand rührt sich für einen Kaufmann, der dnrch
Unfähigkeit das väterliche Geschäft zu Grunde richtet. Warum soll Unfähigkeit
da geschützt werden, wo sie an die Wurzeln des Staates rührt?
Es wird kein Schade für den Staat sein, wenn mit der alten Gewohn¬
heit der Bindung des Landes gebrochen wird. Es ist das einzige Mittel,
den Kreis der Grundbesitzer, der sonst noch enger und kleiner zu werden
droht, zu erweitern. Die Änderung wird nicht von heute auf morgen vor sich
gehn, es wird mehrerer Menschenalter bedürfen, den Umschwung in den An¬
schauungen zu bewirken. Der Wegfall des künstlichen Schutzes durch Verbot
der Fideikommisse würde aber inzwischen die Untauglichen ausmerzen und eine
große Menge Landes in den Verkehr bringen. Ist erst einmal die Möglich¬
keit kleiner Bauerngüter gegeben, dann wird sich much ein Stamm von Bauern
bilden als Grundlage einer neuen Landbevölkerung.
Bisher sind die Versuche einer gründlichen und umfassenden Verbesserung
an dem verwickelten Wesen der ganzen Landverfnssung und an dem Wider¬
stande der Juristen gescheitert, die sich nicht über eine Lösung dieses gordischen
Knotens einigen können. Aber gelöst muß der Knoten werden, und die richtige
Lösung t'ann geschehn dnrch Vereinfachung der bestehenden ausgekünstelten
Formen des Landumsatzes, allgemeine Durchführung eines Grundbuches und
Befreiung des Landes von den Fesseln der Fideikommisse. Eine andre Losung
in der Weise Alexanders ließe sich auch denken. Sie ist von den Franzosen
in der großen Revolution geübt worden. Doch dazu wird es in England
schwerlich kommen.
le Anfänge der bildenden Kunst wechseln wie der Horizont mit
dem Standpunkte, deu wir einnehmen. Der Anhänger der
mechanistischen Weltanschauung, der in dem Leben nur ein Physi¬
kalisch-chemisches Problem sieht und keinen Unterschied zwischen
den Kräften der belebten und der unbelebten Natur kennt,
wird die Anfänge der bildenden Kunst bis in das Mineralreich zurückführen.
Der Vitälist oder Dualist, der das Mineralreich für tote Materie hält, wird
nicht über die Pflanzenwelt hinausgehn, wenn er die Keime der menschlichen
Kunst enthüllen will. Wer aber das Empfindungsleben der Pflanzenwelt für
zu niedrig hält, als daß er daran anknüpfen konnte, der wird die Kunst der
Tiere zum Ausgangspunkt einer Geschichte der menschlichen Kunst wühlen.
Nicht minder verändert sich der Horizont, wenn wir statt des natur¬
wissenschaftlichen oder physiologischen Standpunkts den kunsthistorischen wählen-
Da fallen die Anfänge der Kunst mit denen des menschlichen Geistes oder
der menschlichen Kultur zusammen, je nachdem wir den abstrakten Asthetrteru
oder den beschreibenden Kunstschriftstellern folgen Dre Aufange sind nat^al
oder international, je nachdem wir die Wurzeln der Kunst Vollstn
oder in der Menschheit, in dem individuellen Selbstgefühl rmer oder dem
Massengefühl despotisch regierter und primitiver Vblier su^n^ W^ in d
Grieche oder der Italiener der Renaissance in seiner Volksmd ^Menschheit sieht, wird sie nicht über die Grenzen seines ^erkant. ^aus
verlegen. Erheben wir uus v°u diesem Standpunkte zu dem koutme aler
von diesem zu dem ethnologischen oder kosmopolitischen. so w^w ^ un. dle
Anfänge der Kunst in den Grenzen des Kontinents oder der Mensch
Wieder verschiebt sich der Horizont, wenn wir den kunstlos pH h
oder kuustkritischen Standpunkt betreten. Wer das Wesen der Kunst nur u
dem gesetzmäßigen Bilden sieht und den ästhetischen Genuß auf das Schone
beschränkt, der wird in der Erklärung der kunsthistorischen Tha^eben ab¬
weichen von dem. der die Kunst unabhängig vou den Regeln der Ästhetik und
den Wandlungen der Form und des Inhalts aus sich selbst/'egrefft und se
w ihrem Verhältnis zu dem jedesmaligen Bewußtseinsmhatt der Reen ckM^trachtet. Ähnlich werden die Anfänge der Kunst in dre Nahe oder in d
Ferne fallen, je nachdem man in den Begriff der Kmist nur d:e den
Interessen dienenden Künste wie die Griffel-, die Mendel- und die ^n Äwnst
^de oder darunter auch die den praktischen Interessen dienenden Künste v erste .
Wie die architektonische. ornamentale, keramische, kosmische oder gar Sy
wüst. Narbe^.i^'.."-............wie dielenzeichnnng und Tattnierung. Diese praktischen Künste hervor-
vder"s^^'- ^^rügte es, die Keime weiterzuentwickeln, die schon die tierischen
^ . ^nlbtierischen Vorfahren gelegt hatten. Jene geistigen Künste aber sind
liebe ^ 'menschliche und setzen die Trennung des tierischen und des mensch-
yz/" Seelenlebens voraus. Je nachdem sich der Kunsthistoriker auf diesen
und^ VStandpunkt stellt, wird er die Kmistgeschichte auf die Plastik
Vers s Malerei beschränken und nicht über die Grenzen der Menschheit yinans
> gen, oder ^ ^ tierische Kunst ausdehnen und in den
^es seiner Darstellung auch die andern Künste ziehn.
oss> . ^er Standpunkt ist der richtige? Die weiteste Fernsicht gewährt
i erbar der Standpunkt der rein mechanistischen Erklärung der Kunst. Vou
des finden mit den Endursachen alle Gegensätze des Physischen und
setze )^Rheden, der belebten und der unbelebten Natur; denn dieselben Ge-
° - denen die innern Vorgänge der Lebewesen folgen, bestimmen auch die
ein?N"xM ^ leblosen Körper. Die menschliche Kunst erscheint danach als
in? in?^^ der Welt- oder Schvpfungsinaschine, das mit seinen Anfängen bis
^ ' "neralreich zurückgreift. Die mannigfaltigen, mit mathematischer Genauig-
der »"^^"hrten Kristallisationen der Minerale, die kunstvollen Bildungen
r - unter und der Blüten unsrer Pflanz eil. die unsre Bewunderung heraus-
^^ernten Gebilde der Tierwelt und die künstlerischen Erzeugnisse des Menschen
d . nur Glieder einer Kette. So verschieden auch diese Erscheinungsformen
den / ? sind, so sind sie doch nicht durch Klüfte geschieden/ sondern
Gradunterschiede verbunden.
Diese Auffassung ist so alt wie die Philosophie. Sie entspricht dem in
den Menschen gelegten Glauben an die physische und psychische Einheit der
Welt, unserm Einheitsbedürfnis, und hat mit den Fortschritten der Deseendenz-
lehre eine ungeahnte wissenschaftliche Bedeutung erlangt. Schon Kant wendet
sich in seiner Kritik der Urteilskraft gegen sie, wenn er sagt: „Ein organi¬
siertes Wesen ist also nicht bloß Maschine, denn die hat lediglich bewegende
Kraft, sondern es besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche, die
es den Materien mitteilt, welche sie nicht haben; also eine sich fortpflanzende
bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein nicht erklärt
werden kann." Es verliert denn auch diese Weltanschauung trotz der ge¬
waltigen Fortschritte, die ihr die Wissenschaft verdankt, in der Gegenwart
immer mehr die Autorität der Allgemein- und Ewiggiltigkeit, die ihre fana¬
tischen Vertreter für sie in Anspruch nehmen. Weder vermögen wir wie bei
den Maschinen auch bei den Organismen den Ursprung der schaffenden Kraft
zu erkennen, noch vermögen wir die Spuren der Lebensvorgänge der orga¬
nischen Welt in der anorganischen zu verfolgen. Überall erweist sich anch
heute noch die Mechanik unfähig, alle gegenwärtige, geschweige denn alle zu¬
künftige Erfahrung zu umfassen. Nicht einmal die Voraussetzung, von der sie
ausgeht, hat die Autorität eines wissenschaftlichen Beweises. Sie setzt eine
Entwicklungskette voraus, die es für uns noch gar nicht giebt.
Es fehlt nicht nur die gemeinschaftliche Grundform von dem Menschen und
den vornehmsten Vertretern der Tierwelt, sondern auch die Brücke zwischen Säuge¬
tieren, Vögeln und Reptilien einerseits und Amphibien und Fischen andrer¬
seits. Weder der Solenhofner Archäoptryx noch der javanische Affenmensch
noch das australische Schnabeltier, der Molchfisch oder die Brückeneidechse noch
die Kiefernfragmcnte von La Naulette und der Schipkahöhle und andres
haben die fehlenden Glieder für unsre Ahnengalerie geliefert. Doch auch
wenn es gelänge, das sogenannte MZsinA loin überall zu finden und nicht
nur die Entstehung der Organismen aus einander, sondern auch des Organis¬
mus aus dem unorganischen Stosse zu erklären, wären die Anfänge unsrer
Schlüsse noch ebenso unsicher wie die der ionischen Philosophen, die auch von
den äußern Objekten der Erscheinungswelt ausgingen, um das Rätselhafte
aus dem Offenbaren, das Unbekannte aus dem Bekannten zu erklären. Matt
hätte den langen Weg, den die Fortpflanzung bis zur Gegenwart durchge¬
macht hat, aufgedeckt und gezeigt, was durch Fortpflanzung entsteht, aber nicht
die Endursachen gefunden, warum es entsteht. Man hätte eine historische Re¬
konstruktion sondergleichen, gleichsam den Stammbaum des Menschen, entworfen,
aber nicht eine kausale Theorie geschaffen, die das Problem des Lebens und
seiner Erscheinungen erklärt. Eine Kenntnis aller Wirkungen der Bildungs¬
kraft giebt uus weder die Erkenntnis der bewirkenden Ursachen noch den Be¬
weis für die vermutete Einheit des doppelten Seins von Körper und Geist-
Diesen hätten wir erst, wenn der Nachweis gelänge, warum das Endliche aus
dem Unendlichen, warum auch nur aus dem Obstkern ein Obstbaum, aber nicht
ein Tannenbaum, ans dem Säugling und dem Tiere, die auf gleich indifferenter
Entwicklungsstufe des Bewußtseins stehn, so verschiedne Subjekte oder aus zwei
chemisch gleichen Palmenkernen ein männlicher und ein weiblicher Swenn entstehn
mußten. So lange das aber nicht geschieht, solange acht die PMo ogie in
der Gehirnphysiologie ausgeht. lob solange nicht aus der Beschaffenheit deo
Gehirns die psychische Leistung als naturgesetzlich notwendige Folge abgeleitet
werden kann, wird mich die mechanistische WeltaMammg mit der De ^lehre ebensowenig eine wissenschaftliche Auskunft über die wir lichen Aufa g
Kunst und die Differenzierung des Mensch und Tier gemeinsamen » sah
Triebes geben wie dieidealistische oder dualistische Philosophie. Auch se licht
einen uubeqriffuen Rest vom Weltall in uns zurück, die Ahnung einer unbe-
kannten um7nnerforMchen Kraft, in der wir den Urgnell des Lebens erkennen
und verehren müssen.
.<-?Darum müssen wir tiefer steigen, wenn wir zu erkennbaren oder begrei ¬
fen Anfängen der Kunst gelangen wollen, die in organchhem Zusammen¬
hang mit den spätern Erscheinungsformen der Kunst stehen Von l^n S in -
Punkt aus ver chwinden sie vor unsern Blicken wie der Menschen W°hnnng n
wenn wir beim Besteigen des Berges den Wolken nahe kommen. Al. end lebe
Wesen stehn wir dem Unendlichen oder Absoluten nicht minder verständnislos
gegenüber als der Stein oder die Pflanze der Fülle des Mmschengeis es. Es
^ erfassen, reichen unsre gegenwärtigen Sinne nicht aus. Solange sie acht
leistungsfähiger oder zahlreicher werden und uns nicht bisher unsichtbare Ding.
^rborgne Massen offenbaren, werden wir uns in den Grenzen halten müssen,d" sie unsrer Erkenntnis setzen.
.^«„.Erst in den Tieren glauben wir dieselbe künstlerische Kraft zu erkennen,die in uns wirkt. Sie stehn uns physisch und psychisch weit näher als die
Pflanzen und die Minerale, sind uns organisch verwandt, sind wie wir zur Er¬
kenntnis der Außenwelt auf die Sinne angewiesen und wie wir zum Kampfums '
rkl ">------ x,--»»'«"»'"
r sind darum auch geneigt'," die psychischen Grenzen zu verwischen und die
seelischen Leistungen der Tiere zu überschätzen. Dieser Zug ist acht Roß den
übertriebnen Tierfreunden eigentümlich, sondern allen Menschen. Er hat um.
""t den schönsten Blüten der Poesie beschenkt, den Märchen. F^in und de u
Verepos und ist noch hente in deu Eingebornen Australiens und Sudafn a-
wirksam, wenn sie die Stoffe zu ihren Dichtungen dem Leben der ^re ent¬
nehmen, die ihrem Interesse am nächsten stehn. Auch «"f die Wissen haft es
" von entscheidenden Einstich geworden. Das beweist die «ckteratu aller
Zeiten und Völker. Sie hat von Plato bis auf Maeterlinck eine große Anzahl
v°n Schriften hervorgebracht, deren Verfasser in dem Leben der Tiere alle
die staatlichen, wirtschaftlichen, ehelichen und künstlerischen S^PfungM et et
^ haben meinen, die wir nur als einen Ausfluß der :.ienschlickM ZwiUsation
Zu betrachten pflegen. Mit deu Vögeln teilt danach der Mensch die Einrichtung
Ehe; gleich dem Fuchs erzieht er seine Jungen; wie der Biber baut er
Häuser, wie die Spinne macht er Netze, wie die Töpferwespe Gefäße, wie die
Biene bildet er Staaten und gründet Kolonien, und mit der Ameise ist ihmDasein gezwungen. Dazu kommt ein Gefühl der Zusammengehörigkeit,
Verk t ^ phh^ehe »ut die psychische Verwandtschaft als der innige
)r mit ihnen in dem ganzen Verlauf unsers Daseins großgezogen hat.
der
außerdem die Lust am Kriegfuhren, am Sklavenmachen und an nutzbaren Haus¬
tieren gemein.
Es ist deshalb kein Wunder, wenn man schließlich der Überzeugung Aus¬
druck gegeben hat, daß viele Tiere nicht bloß schärfere Sinne als wir haben,
sondern auch in ihrem ganzen Gebaren weit höher erscheinen als der un¬
kultivierte Mensch. Die anthropoiden Affen z. B. pflegen und verteidigen
die Angehörigen ihrer Familie besser, als die australischen Ureingebornen oder
die Botokudenhorden und manche zivilisierten Menschen. Sie zeigen auch
vielfach gegeneinander mehr Treue und Anhänglichkeit. Die Liebe zu den
Jungen, nicht selten auch die Gattenliebe ragt verhältnismäßig tief in die
Tierwelt hinein, und Grausamkeiten wie die bluttriefenden Thaten unter
den Menschen finden ihresgleichen nicht in den wilden Lebensünßerungen der
Tiere. Nichts aber hat mehr dazu beigetragen, den Glauben an eine Intelli¬
genz der Tiere zu befestigen und die geistigen Anlagen des Menschen mit
denen des Tieres durch ein vermittelndes Band zu verknüpfen, als die tierische
Kunst. Sie ist bis in die jüngste Zeit hinein immer wieder von Philosophen
und besonders von Tierpsychologen zu dem Beweise herangezogen worden,
daß die tierische Kunst eine Vorstufe der menschlichen sei. Schon Kant und
Schiller neigten zu dieser Ansicht und suchten sie zu begründen, indem sie den
dein Tier und dem Menschen gemeinsamen Spieltrieb für die Wurzel erklärten,
ans der so verschiedne Lebenserscheinungen wie die tierische und die mensch¬
liche Kunst hervorgegangen seien. In ihrem Sinne haben dann andre Philo¬
sophen, besonders Spencer, diesen Gedanken weiter ausgeführt und haben nach¬
gewiesen, daß der Spieltrieb mit den künstlerischen Trieben die äußerlich zwecklose,
also ästhetische Bethätigung der körperlichen und der geistigen Vermögen gemein
habe, wie diese von Lustgefühlen begleitet sei und einen gewissen Überfluß an
Kräften nach Befriedigung der auf die Erhaltung des Einzelwesens und der Art
gerichteten Triebe voraussetzt. Den Nachweis freilich, wie sich der Kunsttrieb aus
dem Spieltrieb so verschieden entwickeln konnte, sind sie alle schuldig geblieben,
aber dennoch haben sie mit dieser Feststellung der verwandtschaftlichen Be¬
ziehungen beider Triebe erreicht, daß moderne Schriftsteller die Kunst der Tiere
zum Ausgangspunkt ihrer Darstellungen der menschlichen Kunst gemacht haben-
Gewiß verrät das Spiel eine geistige Ausbildung des Tiers, durch die
es mehr als durch irgend eine andre Fähigkeit dem Menschen genähert wird;
aber dennoch ist es nicht weniger geschieden von dem des Menschen als alle
andern Leistungen, die das Tier hervorbringt. Der Mensch hat alle mög-"
lichen Lebensverhältnisse, Fertigkeiten und Künste wie Mimik, Tanz, Musik,
Bildnerei und Poesie dem Spiel dienstbar gemacht und eine unberechenbare
Anzahl erfinderischer Spiele hervorgebracht, in denen planmäßig und von einer
einheitlichen Gesamtvorstellung aus der Verlauf des Spiels geregelt wird-
Das Tier aber kennt nur Kampfspiele oder, wie Wundt sich ausdrückt, reine
Assoziationsspiele. Es ist wie in allen seinen Leistungen an einen beschränkten
Umkreis von Vorstellungen gebunden und erhebt sich niemals wie der Mensch
zu einer Phantasiethütigkeit, die die Existenz von Begriffen, Urteilen und
Schlüssen voraussetzt. Wenn dennoch einmal der Mensch diese Kluft, die den
Menschen vom Tiere trennt, überschritte.: haben soll, so ist das ebenso un¬
wahrscheinlich, als daß eine Spezies unsrer höhern Tiere irgend einmal
diesen ungeheuern Schritt thun werde.
Daran wird auch aus dem gemeinsamen Spieltrieb auf nneii Zu «
sang zwischen Mensch und Tier nicht geschlossen werden tonnen ^ eus w
ist das mit dem Sprachtrieb der Fall. Töne bringen anch ^ T^re vo
die sogar mannigfaltiger als das Krächzen des Wachmanns s.ud^ ab^ dr
Artilnlationsfähialeit der Sprachorgane, auch wenn sie ^ ^un «o b^zum Paarun s e ange gesteigert wird, oder sich w.e denn Dompfaff u dn h
Abrichten zum Vortrage komponierter Weisen bilden läßt, kann a e in da. T r
nicht befähigen, eine Sprache hervorzubringen. Dazu gehören faulen u d
Gefühle, die das Tier niemals gehabt hat und memals haben wird- S
seelisches Leben ist nnr von dem erfüllt, was seine Sinne beschäftig ; e. beginnt
und jeder Stande, mit jedem Tage von neuem sein Leben, kennt weder V r-
g""gerben noch Mnnst und erhebt sich nicht zu nrteiwideni iind esu^end in
Denken, das allein den Ausbau einer geistigen Innenwelt ermöglich. Wie also
der Mensch schon Mensch sein mußte. als er die Sprühe erfand, so "rußte er
auch schon Mensch sein, als er den Fortschritt zur Sy^lknnst maäM Da.
mußte er aber erst recht sein, als er in der Bildnern durch das Ob,ete deu
seelischen Inhalt seines Subjekts zu offenbaren begann.
Der bildneri che Trieb ist wie der der Sprache, der politische und andre
w<der psychischen Anlagen. mit denen die Natur Mensch und Tier aus¬
gestattet hat. Er differenziert sich aber in deu beideu gleichartigen Orga¬
nismen auf ähnliche Weise wie jeder andre Trieb oder die Bildung.kraft.
die aus zwei chemisch gleichen tierischen Embryos oder Pflanzen-Samen¬
körnern ganz verschiedne Gebilde hervorbringt. So weit wir zuruckzuschauen
vermögen, zeigt der bildnerische Trieb des Tiers uur eine Erscheinungsform.
während der des Menschen in der Mannigfaltigkeit seiner Leiswngcn uner¬
schöpflich zu sein scheint. Das Netz der Spinne, der Waben- u"° Allenban der
Viene. der Honig- und der Töpferwespe, die Lufthülle des australischen L übe i-
Wgels. das Nest des indischen Weber- oder Schneidervogels. die kegelform g
gekuppelten Wohnuugsbauten der Termiten, die Bauten des Bibers und des
Fuchses, kurz alle die Schöpfungen der bildnerischen Kraft des Tieres, ti
unser Staunen und i.nsre Bewunderung so oft herausfordern, sehen hente nochpf>»^.k.ebenso
Gattaus wie in grauer Vorzeit. Sie werden von allen Tieren erselw
ung in allen Zonen und Zeiten nach denselben Modellen um aus u
selben Stoffe verfertigt. Weder wissen wir. ob diese Erzeugnisse das N^u w
wier vorhergehenden allmählichen Entwicklung gewesen sind, noch ha in zur
Grund zu glauben daß si sich in der Zukunft ändern werden Und nicht
bloß ihr S o f n d ?e Form, sondern anch ihre Zahl und ihre Bestimmung
^ im.ner dieselbe gegeben. Wie die tierischen Leistungen in der Sprache
"ud in der Staatenbildung. so verdanken anch ihre Baukünste an.nahm.los
ihr Dasein nicht geistigen, sondern materiellen Bedürfnissen. Sie sind wie
jene nnr Waffen in dem harten Kampfe ums Dasein und dienen dem Tiere
uur als Mittel zur Befriedigung der Paarungsbedürfnisse und des Hungers.
In scharfem Gegensatz dazu ist die Entwicklung dieses Triebes bei dem
Menschen nie stehn geblieben. Er hat seine Gebilde immer vollkommner ge¬
macht und immer neu gestaltet. Er allein gelangte dazu, die leblose Materie
mit dem Odem seines Geistes zu beleben und die Form von dem Stoffe un¬
abhängig zu machen. Er errichtet sein Haus aus Holz oder Stein, seine
Gefäße aus Thon oder Metall, macht seine Werke je nach dem Charakter der
Zeit und des Ortes verschieden und schafft nicht bloß aus Sorge, sondern
auch äußerlich zwecklos aus reiner Lust am Darstellen. Deshalb findet er
auch allein an der Erscheinung, an der Form der Dinge das Wohlgefallens
dem der Begriff des Schönen ebenso geheimnisvoll entsprang wie der der
Religion aus der bewußter? Abhängigkeit des Menschen von der Natur.
Das alles sind Unterschiede, die mehr noch als die des Spieltriebes den
Gegensatz zwischen der menschlichen und der tierischen Natur ausdrücken. Das
Tier schafft und bildet nur nach Gesetzen, die ihm von der Natur vorgeschrieben
werden und seinem Wirken und Vermögen mit der Geburt schon eine bestimmte
Grenze und ein immer gleiches Ziel setzen. Es ist in seinem Subjekt befangen
und kaun seine Seele nicht durch einen andern Gegenstand offenbaren. Wenn
auch freier als die Pflanze, lebt es doch wie diese sklavisch im Banne der
Natur. Seine bildnerischen Leistungen nähern sich deshalb vielmehr dein
Bauen und Bilden der unbeseelten Natur. Erst der Mensch hat das Gängel¬
band, an dem die Natur die übrigen Schöpfungsgebilde hält, zerrissen und
sich im Laufe der Zeit immer mehr die Natur zum Diener gemacht. Er kann
sein Ich oder seine Innenwelt dem Nichtich oder der Außenwelt selbstbewußt
gegenüberstellen und vermag sich mit seinen Vorstellungen, die er wie eine
Schatzkammer beliebig erweitern und vertiefen kann, über der äußern sichtbaren
Welt auch eine innere unsichtbare zu erbauen.
Zwar entzieht es sich, wie wir gesehen haben, unsrer Erkenntnis, wie
diese Unterschiede entstanden sind. Wir können nicht nachweisen, ob man sie
einer Wirkung des absoluten Geistes oder einer Wandlung organischer Formen
oder physikalisch-chemischen Vorgängen zuschreiben muß; wohl aber können wir
wissen, daß sie vorhanden gewesen sind, solange der Mensch da ist. Das be¬
weisen die künstlerischen Erzeugnisse der Naturvölker und der vorgeschichtlichen
Völker ebenso sehr wie die der Kulturvölker. Auf den ersten Blick freilich
scheinen die ohne Drehscheibe hergestellten, nur mit den Händen gekneteten,
dickwandigen Gefäße vorgeschichtlicher Völker, die orientalischen und die grie¬
chischen Darstellungen der menschlichen Figur mit den merkwürdig langen
Hülsen und den steifen, über die Brust gelegte« Armen den bildnerischen
Leistungen der Tierwelt uachznstehn. In formaler und technischer Veziehnng
ist das auch der Fall. Durch die Motive und Ziele des künstlerischen Schaffens
sind sie aber von ihnen nicht minder scharf geschieden wie die größten Kunst¬
werke aller spätern Zeiten. Sie sind nicht künstlich, sondern künstlerisch, nicht
Produkte eiues materiellen, sondern eines geistigen Verlangens und tragen
die Keime zu weiterer Vervollkommnung schon in sich. Mit Recht können
deshalb diese plumpen und rohen Idole sehr wohl als die Vorfahren des
hehren Göttergeschlechts bezeichnet werden, das aus den Händen der klassischen
Meister Griechenlands seine ewig giltige Gestaltung empfing.
Sie sind jedoch von der Gegenwart dnrch ^u Z^an^nur eine kleine Spanne der Zeit ist, in der Mr das Da em de. M isch
"achweisen können Freilich noch Cuvier. der Begründer der mode nen f
vergleichende Anatomie sich stützenden Paläontologie, fu r e " Kata-
strophencheorie den Nrsprm.ig des Menschengeschlechts nicht über das Allnvinm.
die letzte s Heute aber fehlt es nicht an gewichtigen
Forstn d 7^ wie sie sogar der gebildetste Ant ro^zurichten kann und ans Einschnitten ans dem Unterkiefer eines Navhornv
»der'an de7 Rippe eines Halitherinms. die sämtlich dem ^auf das Dasein des Menschen in diesen nicht ^ messenden ^ 'W°sse"
haben. Dieser Bewohner des Mioeäns ist jedoch noch zu hypothetisch, als
daß seine Artefakte als Beweismittel dienen könnten.
Anders ist dies mit den: Ureuropäer der fernen Zeiten wo noch da. Nun i r
bis an die Pyrenäen wanderte, und der Mensch auf dem schmalen Säure
Mitteleuropas zwischen den diluvialen Gletschergebieten Skandinaviens rend
Alpen ohne Anstiere und Geschirr mit Hilfe des F-nerf palaolithischer
Waffen. Schlingen und Gruben den Kampf mit Tieren W^die ^i 'r in
n»es heute mit Pulver und Blei schwierig ist. Als seine Reste nach öl wel-
tausendjährigem Schlummer ans Tageslicht gezogen wiirden. glauben ^e da-
waligen Schöpfnnqstheoretiker. daß sie einem affenähnlichen. als b K tter-
tter ans Bäumen nistenden Geschöpfe mit «verlangen Armen
und Kletterdanmen am Fiiße angehörten. Die kramologischen Unke suchnngm
bestätigten jedoch diese Annahme keineswegs. Nach Brom sollen sogar diese
alten vorgeschichtlichen Bewohner Frankreichs in Beziehung auf die Größen-
entwicklung des Gehirns die heutigen Bewohner Frankreichs überragen.
Mehr aber noch als die Knochenreste liefern die eingeritzter, lebenswahren
Zeichnungen ans Renntiergeweihen, die nnter menschlichen und tierischen Über¬
resten, steinernen und knöchernen Werkzeugen aus den Höhlen in Südfrankreichund am Bodensee zu Tage gefördert wurden, den untrüglichen Beweis daß ihre
^fertiger Fleisch von nnserm Fleisch gewesen sind und den »ete^nMNaturvölkern der Gegenwart ebenbürtig gewesen sem an sen. D"se ^Mverk.
Zeigen den allen Jägervölkern eignen Knlturcharatter dieselbe Roheit d r D ^Stellung. aber anch dieselbe Lebenswahrheit. Schürfe der Beobach in g d
Handfertigkeit, die überall in den Darstellungen dieser Völker hervortreten und
dem gleichartigen Nahrungserwerb ihre Erklärung finden
^ Trotz der Verschiedenheit der Zeiten. Zonen und Rassen cum '
^ldwerke in der Wahl des Stoffs, in der Art der Darstellung l bhaft an
australischen Höhlengemälde am Glenolg oder an die australi che F^-
'wlptnren ass Depii h Island; ja sie sind «ug verwandt um ^n ^^d-
rungen der südafrikanischen Buschmänner sowie den hyperboraisch i Knoch -
und Treibhoizschnitzereien der Eskimos. Wie diese, so ab auch s e d e ^ -
b°lieu Hingebung an das Objekt und der reinen Lust am Darf ellen nt-
drungen; wie diese, so tragen anch sie weder den erst den Ackerbanvollern
eigentümlichen Rassencharakter oder den nationalen, wie ihn die babylomsch-
"Wische. ägyptische, chinesische, indische und mexikanische Kunst zeigt, nochweniger den Charakter der individuellen Richtung, die der Grieche der Kunst gab.
Diese Bildwerke sind vielmehr eine eigne und zwar die unterste Ent¬
wicklungsstufe der Kunst, die man als die indifferente oder die internationale be¬
zeichnen kann, da ihre Gebilde in ihrem Stil und in ihrer Auffassung weder
ein deutliches Bild von dem Wesen und Werden des hervorbringenden Künstlers
geben noch von der Zeit und dem Lande, dem sie angehören. Die Kunst aber,
die sie vertreten, ist in ihren wesentlichen Motiven und Zielen durchaus eins
mit der Kunst aller Zeiten. Sie werden nicht nnr einer ästhetischen Schaffens¬
lust gerecht, sondern offenbaren auch schon in deutlicher Weise, wie Ernst Grosse
in seinen „Ansängen der Kunst" mit Recht hervorhebt, die großen ästhetischen
Grundprinzipien der Eurhythmie, der Shmmetrie, des Gegensatzes, der Stei¬
gerung und der Harmonie, uach denen auch die Athener und die Florentiner ihre
Kunstwerke schufen. Dadurch aber rücken sie den Schöpfungen eines Phidias
und Rafael weit näher als den viel künstlichem der Tierwelt.
Wer freilich, wie es in unsern Kunstgeschichten geschieht, den Wert des
Kunstwerks von einer gewissen Qualität des Inhalts und der Form abhängig
macht, der wird dieser ersten Entwicklungsstufe der Kunst wenig gerecht werden.
Dennoch verhält sie sich zu deu spätern Entwicklungsstufen wie das Eiumnleins
zur höhern Mathematik. Sie setzt nnr einen andern Bewußtseinsinhalt oder
Vorstellmigsinhalt voraus, bringt aber durchaus gleichartige Wirkungen hervor.
Form und Inhalt der Kunst haben von jeher gewechselt, aber das Verhältnis
zum Bewußtseinsinhalt des Genießenden ist immer dasselbe geblieben. Jene
sind das Vergängliche und Wechselnde der Kunst, dieses aber ist das Dauernde.
Der Begriff des Schönen ist nicht objektiv, wie man glaubte, sondern subjektiv
wie der künstlerische Genuß.
Entspricht also die Naturauffassung des Kunstwerks überhaupt der durch¬
gehenden Naturauffassung einer Zeit, so kommt auch die Schönheit des Kunst¬
werks zum Vewußtseiu. Darum wird auch in der Diluvialzeit nicht jedes
Bild ein Kunstwerk gewesen sein. Anfänger, Dilettanten und Stümper hat
es zu allen Zeiten gegeben. Wenn sich aber künstlerisch begabte Menschen
bemühten, die Natur, wie sie sie im Kopfe hatten, nach Maßgabe der Errungen¬
schaften der Technik ihrer Zeit darzustellen, wenn sie damit den Vorstellungs¬
inhalt und die Naturauffassung ihrer Zeitgenossen veredelten und ihre Be¬
wunderung hervorriefen, so wurden sie damit allen Bedingungen gerecht, von
denen wir den Wert eines Kunstwerks abhängig macheu. In diesem Sinne
gab es damals ebenso gut klassische Werke wie heute, wenn wir auch ihre
dauernden Wirkungen nicht so gut erkennen können wie bei der griechischen
oder der Renaissancekunst, bei der deutschen Kunst des sechzehnten oder der
holländischen des siebzehnten Jahrhunderts.
(Schluß folgt)
^ Der Geographie des deutschen Menschen und hin"^ Mltur der ^ellung
es Werdens. Wachsens und Wanderns des denk eben Volkes "»d A sbr den.g
seiner geistige, und sachlichen Kultur über die Erde ist diese neue Ze« g.
widmet. Der Name des Herausgebers ist gut. Wir verdauten ^die Kartographie und die Geographie deutschen Landes. deutMr Koi Mi^o w
Handelsniederlassungen in den. uwhlbekauuteu Perthesschen Geograph sah^ ^ se^SU Gotha eine Pflege findet wie sonst nirgends. Wenn wir in allen Beziehungen
unsern We!tbeiÄe n im Osten und Westen so weit voraus waren une in d.^Wir glauben. Langhaus wird anch für diese Zeitschrift der recht L t ' " ^l ^d°r ersten Nummer heben wir einige größere Beiträge hervor d a u S ^w°hiu sie steuert. Otto Bremer beantwortet die Frage: ^det d e ^Staatsgrenze gegen die Niederlande und Belgien eine S^absah ^Kaindl schildert die Ansiedlung der Deutschen in der Moldau «"d
Funke bespricht die ^abi und die Stellung der Deutschen in No Grande do Wut.
Paul LaV' iLline'Verlust- und Gewinuliste des De^ in Nord¬
schleswig si x 1901 ^obauues ^emmrich giebt dasselbe für Osterreich feinere
^fsätze'vo^n T cobalt Fischer und Karl Martin behandeln die Deut chen in Maro
'N'd Chile. Vorzügliche Karte,, begleiten diese Darstell.engen. und ^zu °um une
r-use Bücherschau mit Auszüge,, ans Büchern und Flugschr.sten. die sehr ost den
besten Kenner,, des Deutschtums i», Auslande verborgen bleiben.
Die Starke des Verfassers liegt im Stift; auch seine Feder führt er recht
geschickt, frei und fAch Ab wer das Buch aufschlägt, sieht als ersten Gruß ans
Niederösterr.i " ein gezeichnetes Alpenveilchen mit einen, ebenso gut..... """" »"^
wählten Motto^w^I^lebe^dorf! und fühlt 5'?^^er nach so wohlthuender Einführung gleich auf den f^gerd^ Zei u: de^r
k-»w.8a. dann einen, Friihlingsbirkenzweig und so ""cheiua^w'd malerischsten BMen und Zweigen der W.enerwald-^ - yd'e Landschaftsbilder Zetsches sind duftig, "ber gerade diese Pflan^e'u origineller Schmuck des Wanderbuchs. Jeder Natur- " d bes d ^ eder
Psen,zenfrennd wird sie n.it Dank begrüßen, nud Z°»^wir es den Lesern der Grenzboten. Wer sich an Wintertagen ,u wohlthuendlter
e an K.,> in,.".^... -.^^ ^"U die Blütenpracht des Frühlings und Frühsvmmers erinnert fühlen will.
Ma . > die Kopfleisten und Schlußstücke dieses Buches an. Im Text ist ebenfalls
N gute Beobachtung, aber so treffsicher wie sein Stift schreibt die Feder des
F^..^'Zriftstellers nicht. Landschaftliches und Pflanzenknndliches. das ist ja sein
ist ,, ^ '""s er uns vom Volk des Wienerwaldes und des nahen Wien giebt
er ",es'U"l etwas schal, und das altdeutsche und Los vom Rom-Geschmäckleiu da?'
/'''einmengt, verbessert den Geschmack des Ganzen nicht
hult!-^^ Thatsachen volkskundlicher Art, z. B. in" den Wirtshausstudien, heraus undim uns im übrigen an die Bilder, die das Gute haben, nicht geschwäina ;u seinWir wählen uns die un¬
Haben, nicht geschwätzig zu sein.
In Karlsruhe ist in einem Kreis patriotischer Männer der Plan zur Gründung
einer Schule ausgearbeitet worden, in der deutsche Jünglinge für koloniale Arbeit
als Landwirte, Techniker, Kaufleute erzogen und ausgebildet werden sollen, und
in der dann besonders auch den Söhnen von Deutschen, die im Auslande leben,
eine deutsche Erziehung und Bildung geboten werden soll. Die Denkschrift, die
wir der Beachtung deutscher Eltern im In- und Auslande dringend empfehlen, be¬
gründet diesen Plan mit der auf der Hand liegenden Notwendigkeit der Ausbreitung
der Deutschen über fremde Lander und der Erhaltung der Deutschen im Auslande.
Die nüchterne Erwägung, daß wir die Folgen der Verengerung des uns politisch
zur Verfügung stehenden Bodens und des Ungeuügens der spät erworbnen Kolonien
für unsre Auswanderung durch gesteigerte Tüchtigkeit im Wettbewerb mit allen
andern Völkern gut zu machen haben, in deren Gebieten wir uns einwohnen müssen,
und daß uns aus demselben Grunde obliegt, die Millionen von Deutschen in allen
Teilen der Erde fester mit uns und miteinander zu verbinden, ergreift ja immer
weitere Kreise; sie führt über die unklare Kolonialbegeisterung hinaus zur Würdigung
der harten Wirklichkeit, die uns anspornen, nicht entmutigen muß. Sie hat schon
die Kolonial- und Missionsschule in Witzenhausen ins Leben gerufen und will nun
hier eine weitere moderne, deutsche, interkonfessionelle Schule schaffen, die in Ver¬
bindung mit einem Internat gedacht oder vielmehr schon in der Einrichtung begriffen
ist. Als Ort der Schule ist Wertheim am Main, die schön und gesund gelegne,
echt deutsche Stadt in Aussicht genommen, deren an Heidelberg erinnerndes Bild
und deren Reichtum an geschichtlichen Erinnerungen so recht geschaffen ist, einen
tiefen Eindruck auf junge Gemüter zu machen. Durch das Entgegenkommen der
städtischen Behörden ist dort ein einstweiliges Unterkommen gefunden, und die Schule
wird uuter der Leitung des Dr. Kapff schon am 1. Oktober d. I. ins Leben treten-
Über den Lehrplan und alle sonstigen Einzelheiten ist dieser Herr bereit Auskunft
zu geben. Die oben genannte Schrift, die den Plan einer Nationalschule in all¬
gemeinerer Form begründet, kann von ihrem Verfasser oder von der G. Braunschen
Hofbuchdruckerei in Karlsruhe zum Preise von 1 Mark bezogen werden. Sie ver¬
dient auch von denen gelesen zu werden, die nicht unmittelbar an dieser Schule
interessiert sind. Die Abschnitte, worin „die Ausbildung einer selbstvertrauenden und
frohmütigcn Individualität, verbunden mit einem wohlentwickelten Gemeinsinn," ferner
„die Pflege deutscher Idealität und schlichter Frömmigkeit" besprochen werden, sind
besonders lesenswert und haben unsern vollen Beifall.
Unsre Stieler, Debcs, Andree, von den kleinern Atlanten nicht zu reden, haben
der Geographie in Deutschland und im Auslande so viele Freunde erworben,
haben soviel Kenntnisse verbreitet und der deutschen Wissenschaft und Technik soviel
Anerkennung eingetragen, daß wir mit großer Freude den alten Svhr-Berghaus
unter tüchtiger Leitung sich verjüngen und mit jenen drei andern den Wettbewerb
neu aufnehmen sehen. Der neue Atlas wird aus 84 Kartenblättern bestehn und
außerdem eine stattliche Anzahl von Nebenkarten und Plänen aufweisen, sodnß die
Summe aller Karten über 150 beträgt. Über die Vorzüge, die Plan und Aus¬
führung des Atlasses in Anspruch nehmen, möge der Leser sich in dem ausführ¬
lichen Programm unterrichten, das die erste Lieferung begleitet. Wir wollen hier
nur aussprechen, daß die Übersichtskarten von Europa und Afrika in dieser ersten
Lieferung zum klarsten und ausdrucksvollsten gehören, was wir jetzt haben; das
Hervortreten der Unsznche und die gute Wahl der Farben für die Höhenabstufungeu
soffen ungemein markige Länderbilder, Der Atlas wird anders als seine Vor¬
gänger und in seiner Art vermutlich ebenso gut werden.
Leichte Planderware, aus einer Tageszeitung gesammelte Reisebriefe, die ebenso
gut dort hätten bleiben können, wo sie zuerst erschienen waren Man kann hochsw^
einem der nicht wenigen, die heute an Argonnutenfahrten teilnehmen das Büchlein
Zur Ergänzung seines „Baedeker" empfehlen. Für Stubenlektüre sind diese Skizzen
Zu matt, zu gewohnlich, passen insofern recht gut zu den grauen Atzungen nach uu-
nmlerifchen Momentphvtographien, die als ..Buchschmuck" dienen.
Wieder eine wertvolle Bereicherung der Afrika-Litteratur aus der Feder eines
von den Pionieren denen vor allem unsre Kolonien ihre Existenz danken, die aber
dann auch Manus genug sind, ihre Thaten. Leiden und Erfahrungen in einer solche»
Weise darzustellen, daß viele Tnuseude ihrer zu Haus gebliebueu Landsleute daran rhre
Freude haben und daraus Belehrung, oft Erhebung schöpfen. Hutter ist 18»1/6 ""t
Zwtgraff in Nordkamernn. besonders im Bauland gewesen. Über Zintgraffs Eharatter
und Haltung sind wegen seiner Konflikte mit dem Gouverneur und dem Kolonlalamt
ungünstige Urteile in die Welt qedruugen. Ich selbst, der ich Zintgraffs Thätigkeit
SU würdigen hatte, sah mich zwischen die widersprechendsten Angaben seiner y-rennde
und Feinde gestellt; angesichts des Zeugnisses, das Hutter mit männlicher Bescheidenheit
für ihn ablegt („Er hat mir das Verständnis für Afrika erschlossen; was Gutes in
dem Buche steckt, ist Frucht seiner Aussaat"), freue ich mich, daß ich jenen mehr ge¬
glaubt habe als diesen. Zintgraff war eine starke Natur, die sich gegen Weiße und
Schwarze ihre eignen Wege wies und rücksichtslos vorwärtsging; es dürfte heute
klar sein, daß es besser gewesen wäre, wenn die Verwaltung ihm nach seiner Nieder¬
lage im Brillante die Unterstützung gewährt hätte, die er heischte, vorausgesetzt
allerdings, daß sie die Mittel dazu hatte. Hutters Buch ist ohne Absicht eine beredte
Verteidigung Zintgraffs; leider kommt sie sehr spät. Die Erlebnisse des damaligen
Leutnants und Schutztruppeuführcrs nehmen keinen großen Raum ein. Hutter hat
seine Erlebnisse und Erfahrungen nicht sozusagen in photographischen Ansichten ge¬
geben, sondern zu größern Um- und Ausblicken zusammengefaßt. So haben wir
zuerst eineii Abschnitt „Vorgeschichte," dem ein zweiter „Wanderungen" folgt, und
in diesem schildert er das Leben an der Küste, auf dem Marsche und auf einer
Station im Innern. Dann folgt ein dritter Abschritt „Forschungen," worin „Das
Wnldland und seine Bevölkerung," ferner „Das Grasland und seine Bevölkerung,"
"Streifzüge in die Tierwelt/' „Sprachliche Beobachtungen," „Meteorologische Be¬
obachtungen" gegeben sind. Den Beschluß macht ein Abschnitt „Zivilisation und
Wildnis," in dem Hutter den Zauber schildert, den die Wildnis auf deu Kultur-
wenschen ausübt.
setzt er an den Anfang der Seiten, auf deuen er seiner Liebe zur Wildnis beredte
Worte leiht. Man könnte auch das Wort Schillers anwenden: Der Mensch ver¬
kümmert im Frieden, müßige Ruh ist das Grab des Muts, auf das Fortreißendedes Kampfes in der Natur und im Menschenleben, dem sich der natürliche, frei¬
gesinnte Mensch mit voller Lust hingiebt, weil die Persönlichkeit in ihm zur Geltungkommt. Es ist im Grunde derselbe Kampf wie in der Kulturwelt, aber offner. ,,DieEinsamkeit in der freien, großen Natur gleicht der Gefahr: deu einen bedrängt, er-
drückt sie; andrer Herzen fühlen sich in ihr geweidet, erhuben, gestählt." Der Ver¬
fasser dieses Buches gehört zu diesen letzten, und das ist gerade, was den Leser
fesselt, daß sein Buch in einem so frischen, frohen Geist geschrieben ist. Wie zu
erwarten steht, ist Hntter Freund und treuer Beobachter der Natur und der ein¬
fachen Völker des Hinterlandes von Kamerun; demgemäß sind auch seine thatsächlichen
Mitteilungen klar, so vollständig wie möglich und ohne jede Phrase gegeben. Das
Buch ist ein Schatz ethnographischer Beobachtungen. Als Nntnrschildercr ist Hntter
einfach, tief empfindend, ohne Sentimentalität und Wortreichtum; vorzüglich sind
besonders seine Jagdbilder. Die Ausstattung des Buches mit Bildern und Karten
ist sehr reich. Ernste Männer mögen es lesen, um den Kvlonialpessimismns zu ver¬
scheuche», doch kann es auch der reifern Jugend ohne Bedenken in die Hand gegeben
werden, damit sie modernes deutsches Heldentum der besten Art kennen lerne.
Wer das Inhaltsverzeichnis dieses Bandes durchblättert, ohne durch deu be¬
rühmten Namen des Verfassers angezogen zu sein, wird sagen: Neapel-Aden-San-
sibar-Bagamvyo — olle Kamelien, und zur Tagesordnung übergehn; wer jedoch
das erste Kapitel mit seinen farbigen Schilderungen der Fahrt durch das Mittel-
meer vou Neapel bis Port Sand gelesen hat, wird fortfahren zu lesen. Wohl sind
es bekannte Örtlichkeiten, aber es ist ein andres Auge und eine neue Feder. Sien¬
kiewiez ist ein Naturschilderer von großer Kühnheit in der Übersetzung der Linien,
Farben und Bewegungen in Worte, von der Feinheit des Vielerfahrnen in der
Beurteilung der Menschen und im allgemeinen ein fesselnder Plauderer, der so gut
unterhält, das; man es ihm nicht übel nimmt, wenn ihm auch einmal eine Banalität,
ein falsches Bild entschlüpft. Besonders wer das Meer und die Wolken liebt, wird
in diesem Buche Seiten finden, die ihm die schönsten Erinnerungen an Sturm und
Stille, blaue oder silbergrauweiße Wellen, schlafendes und sturmbewegtes Meer
zurückrufen, Passatwolken und graue Regenzeiten mit wahrer Meisterschaft schildern.
Sicherlich das anspruchsloseste und doch nicht das wenigst lesenswerte unter
diesen Afrikabüchern. Der Verfasser hat uur zu erzähle«, was ihm seine Missions¬
erfahrung darbot. Er ist weder Forscher noch Dichter, sondern einfacher Missionar,
den eine nicht unbeträchtliche Dosis von Philistertum nicht hindert, uns durch die
einfache Innigkeit seines Berichts zu rühren. Er hätte freilich Gedichte mit dem
Kehrreimoer
und ähnliche unterdrücken und etwas mehr von der Art geben sollen, die sich in
dem Briefe ausspricht, den eine seiner Wakambnschülerinnen an seine Mutter richtet:
Herrin und Mutter des Bwana Mendner. Ich erhebe meine Hand, um dir,
Mutter des Bwana Mendner, diesen Brief zu schreiben, mit meiner ganzen Freude.
Ich kenne dich nicht und weiß nicht, wo du wohnst. Dein Sohn ist hier in Afrika,
er ist fast immer gesund; manchmal hat er einen Tag Fieber und ist am andern
wieder gesund. Jetzt bin auch ich krank, ich habe eine Wunde am Fuß. Genug
davon.
Die Arbeit deines Sohnes ist diese: Er lehrt die Kinder, unterrichtet sie im
Wort Gottes und predigt Gottes Wort. Nun kann dein Sohn gut Kisuaheli.
Dein Sohn liebt die Kinder sehr, und wir, wir lieben ihn sehr und folgen ihm.
Bald werde ich getauft werden und freue mich sehr darauf. Damit schließe ich.
Einen schönen Gruß von mir hier, einer Schülerin deines Sohnes mit
Namen Betel.
Beim Lesen dieses Briefes war mein erster Eindruck: Wie viele Briefe em¬
pfange ich von hochgebildeten Europäern, die viel weniger Sinn und Herz aus¬
sprechen als diese Zeilen eines heidnischen Negermädchens! Zum zweiten aber
empfand ich die Wohlthat der Einrichtung, die die Mission als Vertreterin idealer
Menschlichkeit mitten in der Barbarei der Wilden und neben dem barbarischen Wett¬
bewerb der Kulturmenschen um Geld und Gut auf afrikanischen Boden anpflanzt.
Dieser dritte Band behandelt die Zeit von 1875 bis 1893, die der Verfasser,
abgesehen von kurzen Urlauben, ganz in China zugebracht hat. Es ist die Zeit
seiner regsten und fruchtbarsten Thätigkeit, zugleich die Zeit des Erstarkens und
Selbstäudigwerdens Deutschlands im fernen Osten; in diesen Jahren sind die Keime
ausgesät worden, aus denen der Einfluß hervorgegangen ist, der sich seitdem in
der Erwerbung von Kiautschau und der deutsche« Gebiete in Tientsin, Schanghai
und Harlan, endlich in der Walderseeschen Führung der Expeditionstrnppen kräftig
erwiesen hat. Es kommen in diesem Bande Fragen zur Besprechung, die nicht
bloß hochpolitisch, sondern auch rein menschlich bedeutend sind. Ein Blick in das
Inhaltsverzeichnis zeigt n. a. Die christliche Mission in China — Die Opiumfrage —
Russisch-Chinesische Beziehungen — Französisch-Chinesische Beziehungen — England
und China — China, Korea und Japan. Das sind zum Teil Dinge, über die in den
Kreisen der Politiker ganz verschiedne Auffassungen herrschen, und es ist ein wahres
Verdienst, das Herr von Brandt sich dnrch ihre Besprechung erwirbt. Wir sind in
Deutschland an so manche akademische Behandlung derartiger Fragen gewöhnt, daß uns
die freie, weitschauende Auffassung des Diplomaten zuerst erstaunt, dann aber finden
wir soviel gesunden Menschenverstand in seinen Urteilen, daß wir sie anch da be¬
herzigen, wo wir nicht ganz mit dem Diplomaten einig sind. So ist es z. V.
gleich in der Opiumfrage. Brandt ist nicht geneigt, in dem Opinmgenuß die Gefahr
für das chinesische Volk zu sehen, wie viele Missionare und auch manche von seinen
Kollegen. Nun ist es aber Thatsache, daß er in China selbst immer so aufgefaßt
worden ist; der Opiumhandel der Britisch-Indischen Kompagnie mit China ist
immer in chinesischen Augen ungesetzlich gewesen, aber mit Hilfe bestochner Beamten
bis 1837, zeitweilig sogar mit Unterstützung der Vizekönige, halb-öffentlich betrieben
worden. Im Jahre 1837 nahm die chinesische Regierung eine energische Haltung
gegen die Opiumeinfuhr an, wie die Engländer behaupten, weil sie den Abfluß des
Silbers verhindern wollte; in dem sogenannten Opiumkrieg war dann die Wieder-
zulassung des Opiums eine stillschweigende Voraussetzung, und der Nangkinger
Frieden von 1842 bestimmte die Herausgabe des von den Chinesen konfiszierten
Opiums, was natürlich den Wiederanfang des Handels bedeutete. Die chinesische
Regierung wollte ihn dann mehr als einmal verbieten, erschwerte ihn, machte ihn aber
auch wieder zum Gegenstand einer ertragreichen Zollpolitik, war jedoch dabei offenbar
immer von seiner Verderblichkeit für China überzeugt, bis endlich 1890 aller
Widerstand angesichts der wachsenden Verbreitung des verbotenen Opiumbaues in
China selbst aufhörte, der nun freigegeben wurde. Die Chinesen haben aber doch
immer die Beseitigung des Opiums aus dem Zolltarif angestrebt, besonders stark
zuletzt 1869. In England selbst war, nachdem seit sechzig Jahren der Kampf gegen
den Opiumhandel Indiens nach China im Parlament und in der Presse vergeblich
geführt worden war, 1893 eine Königliche Opiumkommission ernannt worden, die
w: vergangnen April ihren Bericht erstattete; für Indien wird darin der im allge¬
meinen mäßige Genuß des Opiums als weitverbreitet zugegeben, es bestehe aber darum
kein Grund zum Verbot des Baues, der Herstellung und des Handels mit Opium;
Opiumraucher sei nur in Britisch-Barma weit verbreitet. Die Erklärung des mit
seinen Antivpinmansichten in der Minderheit gebliebner nennten Mitgliedes, daß die
Kommission Parteiische Zeugen verhört habe, wirft freilich ein schlechtes Licht auf die
ganze Erhebung. Wenn die sogenannte öffentliche Meinung in Indien gegen die
Einschränkung des Opiumbaues ist, wird sie angerufen. In Indien wurde als
Grund gegen die Einschränkung des Opiumbaues noch angeführt, das Opiuniesseu
sei gerade unter den kräftigsten Nassen Nvrdindieus üblich, habe die kriegerische«
Nadschputeu und Sikhs, die unablässig emsigen Marwari am meisten ergriffen; das
spreche für seine Unschädlichkeit. Das ist jedenfalls kein Grund, den Opiumgebrauch
einzuschränken, denn allzu kräftige Leute mag England unter den eingebornen Jndiern
gar nicht haben! Im augloindischen Voranschlag für 1900/1 wird eine Einnahme
von neunzig Millionen Mark aus der Opiumsteuer eingesetzt, nur das Salzmonvpol
bringt noch mehr ein; aber die Opinmsteuer ist der drittstärkste Einnahmeposten. In
China wiederholte übrigens im Frühjahr 1902 eine Eingabe von Bischöfen, Missions¬
direktoren und Ärzten die Hinweise auf die Verderblichkeit und Unchristlichkeit des
Opiumhandels mit China; sie hoben besonders hervor, daß auch in Indien der
Opiumbau noch immer zunehme. Ebenso haben sich in niederländisch-Jndien, wohin
die massenhaft einwandernden Chinesen die „verderbliche Drogue" gebracht haben,
und wo die Opiumpacht die höchste und sicherste Einzeleinnahme liefert — 1901
18,7 Millionen Gulden! —, seit Jahren Stimmen gegen die Ausbreitung des
Opinmgenusses erhoben. Wir meinen, das könnten nicht alles Vorurteile sein, und
so sehr wir die Erfahrungen des Diplomaten mit intelligenten und energischen
chinesischen Opiumessern schätzen, fahren wir doch fort, in der amtlichen Förderung
dieser Seuche einen noch schlimmern Flecken der englischen Politik in Indien und
China zu sehen, als etwa in der staatlichen Branntweinpacht in manchen andern
Ländern.
Als Anschauung und Beurteilung derselben Zustände und Entwicklungen von
einer andern Seite ergänzt und vervollständigt Zabels Werk das oben genannte;
das spricht sich schou äußerlich darin aus, daß es Herrn von Brandt gewidmet
ist, innerlich in der Grundübereinstimmung der Auffassung der Lage in Ostasien
und der Stellung Deutschlands zu ihr. Der Verfasser hat als Schriftleiter des
in Shanghai erscheinenden „Ostasiatischen Lloyd" einen reichen Schatz persönlicher
Eindrücke gesammelt, als deutscher Kriegskorrespoudent den chinesischen Feldzug per¬
sönlich mitgemacht und im Anschluß daran auf selbständigen Reisen in der Mand¬
schurei, Schankung und Südchina Land und Leute kennen lernen. Das Werk ist
in einen historischen Abschnitt, der die Politik der Mächte China gegenüber be¬
handelt, und in eenen ausführlicher gehaltnen erzählenden geteilt, worin er seine
Eindrücke als Augenzeuge des chinesischen Feldzugs wiedergiebt. In dem ersten
Teil ist besonders die scharf durchgeführte Trennung zwischen der russischen Land-
erwerbspolitik im Gegensatz zu der Handelspolitik der übrigen Mächte von In¬
teresse. Das ist eine Unterscheidung, die dem politischen Geographen nicht neu ist,
denn es liegt ihr der alte Gegensatz phönizisch-griechischer Politik des Seehandels
und der Küsten- und Jnselbesiedlung und römischer Ausbreitung über Land mit
Schwert und Pflug, Straßenbau und militärisch geleitete Kolonisation zu Grunde.
Aber der Verfasser hat Recht, wenn er betont, daß man sich besonders in Deutsch¬
land noch wenig darüber klar geworden sei, was dieser Unterschied in der ost¬
asiatischen Politik bedeutet. Er gruppiert alle Mächte, die, wie Deutschland,
hauptsächlich am Handel und Verkehr mit China und Korea interessiert sind, einst¬
weilen um den Grundsatz der Integrität des chinesischen Reiches und der Gleich¬
berechtigtheit in allen Fragen des Handels und Verkehrs. Was sich später in der
Richtung auf Interessensphären und Teilstücke des alten Reichs daraus entwickeln
wird, kann uns nicht darüber täuschen, das Rußlands Lnnderwerbspolitik auch den
deutschen Interessen nachteiliger ist als Englands Handels- und Verkehrspolitik;
wie neidisch sich diese auch gebärden mag, sie läßt immer noch Raum für Wett¬
bewerb, wo dagegen Rußland kolonisiert, folgt Ab- und Ausschließung. Das Ge¬
währenlassen Rußlands in Ostasien hat also auch für Deutschland seine Grenzen,
wenn es auch klugerweise in der im Grunde schon längst für China entschiednen
Mandschnreifrage seinem großen Freund und Nachbar keine Schwierigkeit bereitet.
Aber schon Koreas Offenhaltung liegt so in Deutschlands wie in Englands Interesse,
und hier dürfte selbst Frankreich nicht mit Rußland durch dick und dünn gehn,
wenn es auch nur seine große missionarische Vergangenheit in Korea erwägt.
Schade, daß der Verfasser nicht eingehender die Stellung Deutschlands im Jangtsze-
bccken geschildert hat; seine berechtigte Schätzung des deutsch-englischen Abkommens,
worin er eine der größten Thaten der deutschen Politik der letzten Jahre sieht, hätte
dadurch erst den richtigen Hintergrund erhalten. Von der Klarheit und Einfach¬
heit der Gedanken und der Sprache, durch die sich das Zabelsche Buch im all¬
gemeinen auszeichnet, macht merkwürdigerweise gerade einer der wichtigsten Sätze
eine Ausnahme: „Der »Politik der Aufteilung« tritt die »Politik der offnen Thür«
bewußtermaßen gegenüber, beziehungsweise als Kompromiß zwischen beiden die
»Politik der Interessensphären«." Wenn man doch diese trüben Ausdrücke bewußter¬
maßen und beziehungsweise für immer ans der dentschen Sprache verbannen könnte!
Auch der Satz: „Die chinesische Frage ist eine interne Frage der Weltpolitik"
läßt an Klarheit zu wünschen übrig. Denn was heißt hier intern? Der Verfasser
will sagen, in der chinesischen Frage sei ein zentrales Problem der Weltpvlitik un¬
gefähr gleich dem aufgestiegen, das einst orientalische Frage im engern Sinne hieß;
sie beschäftige alle großen Machte. Den Satz: Nur vor Thatsache,, beugt sich der
Geschichtschreiber (S. 22) empfehlen wir ebenfalls zur Revision, denn wo bleibt
dann die Macht der Ideen? Ich kann noch begreifen, daß der Naturforscher,
sofern er nämlich naturwissenschaftlicher Kleingewerbtreibender und Zunftmensch ist,
nichts von Ideen wissen will, aber wo bleibt die Geschichtschreibung ohne Ideen?
Nicht einmal der Staatsmann darf sie vernachlässigen. Lboax ima rurst,^ <S. 33)
würden wir nicht mit billig und eklig übersetze», sondern mit billig und schnndig,
oder mit Reuleciux noch kürzer mit billig und schlecht.
hin selbst aber, wie er nun wieder einsam seines Weges pilgerte,
verging allmählich die sonnige Laune. Das Mädchen war ihm als
ein Stück lebender Heimat erschienen. Da er sie nicht mehr sah, fiel
ihm wieder schwer aufs Herz, wie tot doch noch die Heimat für ihn
war. Und er eilte weiter und grüßte die vertrauten Berge.
Dich kenn ich, sagte er für sich, dich kenn ich auch. Du bist
der weiße Berg, dich kenn ich satt, murmelte er, und eine wehmütige Freude er¬
füllte ihn.
Seine Gedanken begannen wieder im Kreise zu laufen, von Beckmanns Herbert
zu Alma Dietzel und zur Priska und zuletzt auch zum Pfeiff-Schneider, und die
Vorzüge seiner Freunde wuchsen hoch an, indes die Scharmützel und kleinen Nieder¬
trachten seines Feindes, den er eingesargt hatte, sacht zu verblassen begannen.
Eine Kette Radfahrer stob mit grellem Klingelzeichen an ihm vorüber, eine
Equipage mit gleichgiltig zurückgekehrten Menschen rollte heran, über der Böschung
oben Pflügte ein junger Mensch den Acker und pfiff dazu. Und dann arbeitete sich
mit ungeheuerm Getöse ein Motorwagen die Chaussee herauf und flog rasselnd an
ihm vorüber.
Der Weg senkte sich noch immer und wand sich der Berglagerung gemäß,
sodaß immer nur eine kurze Strecke zu übersehen war. Der Blick nach unten aber
lag frei, und man sah auf ein herrliches, frisches Wiesenthal, aus dessen hatten Grün
sich hier und da ein einzeln stehender grauer Weiterbauen gleich einem Wachtposten
hervorhob oder ein flaches breites Weidengebüsch. Der Schienenstrang, kaum sicht¬
bar, lief mitten hindurch, der Fluß hatte sich bis zur jenseitigen bewaldeten Berg¬
kette, wo er dicht an rotem Gestein vorüberfloß, zurückgezogen.
Der Luftzug trug ihm das Geräusch scheidender Stimmen zu, die von Gelächter
und Spottreden unterbrochen wurde». Er verstand soviel, daß sich hier ein Unfall
ereignet haben mochte, und hörte eine hohe, pfeifende Frauenstimme sich in atem¬
losem Schelten ergehn.
Als er die Wegbiegung erreicht hatte, sah er das Schunkesche Gespann, dem
zwei Räder fehlten, mit zerrissenen Strängen, und daneben den Mann mit der
Fichtenfuhre, die auch Schaden genommen hatte, jetzt aber wieder zur Abfahrt bereit
war. Vor dem daherfauchenden Motorwagen hatten die Pferde gescheut und soviel
Unheil am eignen Fuhrwerk angerichtet, als sie Mut und Kraft im Leibe hatten.
Der Fichtenmann war demgemäß ziemlich gut davon gekommen.
Oben vom Feld, wo Erdäpfel aufgepflügt wurden, hatten sich die Unsicher
eingefunden und hockten an der niedrigen zum Weg hinabführenden Böschung, halb¬
wüchsige Jungen, die durch die unmöglichsten Stellungen ihr Ergötzen ausdrückten,
Mädchen und Bursche, die lachten und die Kopfe warfen, lose Reden führten und
ihre herrlichen Zähne zeigten.
Der Straßenmann, der gleichmütig, ohne viel Notiz zu nehmen, in der Nähe
einen Kilometerstein festsetzte, den das jüngste Unwetter ausgespült hatte, mischte sich
mürrisch ein, sie sollten machen, daß die Chaussee frei würde. Denen auf der
Böschung rief er zu: Nu macht, daß ihr wegkommt. Ihr scheint auch nicht ge¬
willt, was zu thun!
Dann wurde der Wirt oben sichtbar, ein langer, sehniger Mann, vor den
Köpfen seiner Pferde. Wir wollen anfangen! rief er seinen Leuten zu. Und
zum Straßenmann: Sie fressen wie die Störche, aber von der Arbet mögen sie
nichts wissen! Zu den Verunglückten sagte er frohgemut: Paßt auf deu Weg
auf. Ich weiß nicht, die Chaussee is doch breit satt — wie ihr das habt konnt
anstellen!
Mit Hellem Jubel geriet das junge Volk in Bewegung, die Böschung hinauf,
wo es mit seinem Arbeitgeber verschwand.
Jahr war herangekommen, sagte sein „Guten Tag miteinander" und blieb
neben dem Sohn stehn, der an den Strängen knüpfte.
Das muß ma sagen, das hat sich verlohnt, sagte er und überblickte die
Trümmerstätte.
Der andre nickte.
Die Frau, die mit ihrem Manne sprach, kam herzu, ob er helfen wolle?
Ich bin nicht mehr in den Jahren, entgegnete Jahr. Ich wills bloß
betrachte.
Sie fing an: Wenn mir noch einmal so ä Ding daher kommt, nachher laß
ich quar über den Weg fahren, die sollen lernen, sachte kutschieren. Wenn mer mit
dem Wagen quarüber ist, der hales aus. Da gehn die in Stücke. Sie war so
rund, daß sie watschelte.
Er half nun schließlich doch. Tasche, Stock und Pfeifchen hatte er auf der
Böschung niedergelegt. Die Frau stand daneben, während die Männer sich mühten,
die Wagenräder fest zu bringen. Immer sprach sie dazwischen; sie hielt die Pferde
um Zügel, die wieder unruhig wurden. Wie sie sich wackelnd mühte, Herr zu
bleiben, brach oberhalb der Böschung aufs neue Gelächter los, und einer der
Jungen kugelte herab, indem er Arme und Beine wie die Windmühlenflügcl drehte.
Der Sohn geriet in Wut, griff nach der Peitsche und schlug hinüber.
Dann räumte der Straßenmann das Feld, der mit Karren und Schippe weiter
zog, die Hemdärmel aufgeschlagen, den Hut aus der Stirn gerückt.
Jahr nahm der Frau die Pferde ab, kniff die Faust um die Zügel und stand
wie ein Baum.
Er sprach zu den Tieren: Ho-Ho-Ho! Na, bleib stiehnich, du! Ho-Ho-Ho!
Die Sonne brannte herab. Der Sohn hatte jetzt einen Stein in der Faust,
womit er drauf loshämmerte. Der Hut saß beiden arbeitenden Männern ans dem
Hinterkopf.
Jahr trug seinen Hut mitten auf dem Haupte, der graue Anzug sah sonn¬
täglich aus, deu Wegstaub, den ihm seine Hilfe eingetragen hatte, hatte er schon
von Rock und Hose geklopft. Wenn er die Leute ansah, die beiden Männer, die
sich am Wagen mühten, der Sohn eifrig, der Vater ohne sonderliche Eile, und
dann die dicke Frau, die mit gequetschter hoher Stimme kommandierte, ohne daß
ihr freilich gefolgt wurde, so konnte er ein Spottlächeln um die dünnen Lippen
nicht unterdrücken.
Die Frau sah es und sagte gekränkt: Ihr könnt fiuze, Euch betriffts nicht.
Das ist Thatsache, erwiderte er.
Das Pochen thuts nicht, man muß zupacken, sagte sie und wies auf den
hämmernden Sohn, aber der Alte hat keine Lust auf nichts, der hat sein Lebelang
die Arbeit nicht möcht leiden. — Wo seid denn Ihr zu Hanse? fragte sie und
Musterte ihn.
Er schwieg und machte sich mit den Pferden zu schaffen. Nach eiuer Weile
sagte er beiläufig: Ich komme von weit her.
Aber sie ließ nicht von ihm ab: Leichte kennt man Euern Ort.
Das ist nicht anzunehmen. — Er stand wie ein Stock und sprach über ihren
Kopf hinweg.
Der Sohn lachte und warf dem fremden Mann einen verstohlenen Blick der
Freude zu. Es that ihm nicht weh, wenn die Mutter schlecht behandelt wurde.
Die Frau schien nicht zu empfinden, daß er ihr unfreundlich begegnete, sie
stellte unverdrossen ihre Fragen weiter: Wo geht denn die Reise hin?
Er sah sie an, wie sie vor ihm stand in ihrem grauen Kleid, klein, seit, mit
dem eingekuiffnen häßlichen Munde.
Als sie ihre Frage wiederholte, fuhr der Spottvogel in ihn, und er sagte:
Ich will nach Wißberg.
Bei wem denn do-e?
Ich will bei der Frau Schurke.
Sie fingen alle drei an zu lachen, und die Frau rief: Da könnt Ihr gleich
mitfahren. Mein Alter setzt sich vor. Da könnt Ihr mir gleich hinter ihm er¬
zähle, was Ihr bei mich wollt. Da er auf den Scherz nicht einging, fragte sie
Weiter: Wollt Ihr sonst noch wo hin?
Es wurde ihm so bequem gemacht nach seinen Leuten zu fragen; aber sie
Ware» ihm zu schade dazu: mit Herbert Beckmann mochte irgend etwas vorgefallen
sein, das er sich von diesem Munde nicht wollte berichten lassen.
Mich hat das gefreut, sagte er zu den Männern gewandt, wie sommerlich
das dcchier noch ist, bei mich zu Hause hat der Frost allerwent alles umgebracht
aufm Felde. He! die Blätter an den Bäumen, die waren gerade wie von Blech
geschnitten, mer hörte sie kleppere, so hatten die den Frost im Leibe.
Die Männer waren mit dem Wagen soweit fertig geworden, daß die Weiter-
fahrt möglich war; die Frau kletterte, von ihrem Mann geschoben, mühsam in den
Sitz und setzte sich breit zurecht, der Mann säuberte dann seine Kleidung von
Stroh- und Heurestchen, die sich mit dem Straßenstaub angesetzt hatten, und der
Sohn strängte die Pferde an. Indem er selber aufstieg, fragte der Mann mit
seinem schlausten Katzenbuckel, ob Jahr mitfahren wolle.
Jahr lehnte es ab. Der junge Mensch ließ dann die Leinen locker, und das
Gefährt mit dem hochnackigen Ehemann, der fetten Ehefrau und dem Sohn, der
seinen Kurs verloren hatte, weil er um deu Hof und das Vieh ausharren mußte,
rollte von dannen.
Dich kenn ich, sagte Jahr wieder vor sich hin, dich kenn ich auch! Er
schritt weiter. Der Gebirgszug schwang sich vor, als wolle er den Weg versperren,
hohe Berge mit spitz zulaufenden Gipfeln und breiter Basis reckten sich steil zum
Himmel empor.
Als die Thalsohle erreicht war, bog sein Weg um und führte über die Wiesen,
die im zarten lila Schimmer von tausend und aber tausend knospenden und er¬
schlossenen Kelchen der Herbstzeitlose standen. Dann ging es weiter über die Saal¬
brücke und an den letzten Häusern von Goschen vorüber. Und hier, zu Füßen des
jenseitigen Höhenzuges, auf dem schmalen, flachen, sandigen Landweg zog klappernd
und eintönig wieder vor ihm her die Fichtenfuhre, das Pferd rin dem einer Mulde
ähnelnden Senkrücken und den langen steifen Beinen, die es müde vorsetzte, und
der krank aussehende Mensch, der jetzt die Leinen um den Wagenbaum geschlungen
hatte und mit herabhängenden Armen gleichgiltig neben seiner Ladung herschritt.
Jahr blieb zurück. Hier, wo er jetzt stand, kannte er jeden Berg. Jede
Krümmung des Flusses war ihm bekannt. Hier, ans diesen Wegen, zwischen diesen
Bergen und Dörfern, die sich mit ihren roten Ziegeldächern und schwarzgrauen Schiefer¬
dächern zu beiden Seiten des Flusses ausbreiteten, hier hatte er seine Kindheit
verlebt und seine Jugendjahre. Diese Wege und diese Berge und diese Dörfer
wiederzusehen, dazu war er gekommen. Dünne kleine Thränen fingen an über
seine Wangen zu laufen, das Weh der Heimkehr packte ihn wie ein überstarker
Mann und schüttelte ihn. Wie ein zorniger Niese fiel es über ihn her und er¬
würgte ihn fast.
Da drüben auf der Chaussee, wo der rote Sandstein zwischen dem Fichten-
Wuchs aufragte, da hatte er mit Herbert Beckmann gerungen, da waren sie mit
den Messern aufeinander losgegangen, die beiden Herzbrüder. Hier unter in der
Ortschaft stromauf war er abends um des Dictzel-Schmieds Haus geschlichen, daß
er des Dietzel-Schmieds schöne Tochter treffen wollte.
Er sah sie leibhaftig auftauchen vor seinem Geiste, mit ihrem roten Schmoll-
mnnd und den kleinen Eigensinnsfältchen über der Nase und den braunen Augen,
die alle Bursche verheißend anblitzten und sie in Feuer versetzte,?. — Er sah sie,
wie sie sich drehte mit ihrer feinen hübschen Gestalt und ihre Röcke schwenkte, auf
daß die Bursche uach ihr sähen. Und er sah auch den Pfeiff-Schneider vor sich,
einen behenden Burschen und Bruder Unverschämt, und da ein Stückchen stromauf
die Stelle, wo der als ein halbwüchsiger Junge seinen Schulgenossen Adam Jahr
in die Saale getrieben hatte. Was das nur für eine Ehe mochte abgegeben haben,
die zwischen dem Pfeiff-Schneider und Almen Dietzcl . . .
Er stand und sann. Wie Nebel lag es vor seinen Gedanken, wie Nebel, der
sich zu heben begann, und der sacht verflatterte. Und da sah er auf flachem Sand¬
wege einen Kastenwagen, den ein Mädchen am Riemen zog, dasselbe Mädchen,
das er nachher stehn sah im fließenden Sonnenschein, wie es hinter der vorgehaltenen
Schürze bitterlich weinte.
Hier gerade mochte die Stelle sein, wo er von Priska Abschied genommen
hatte. Ob er umkehrte, um in Goschen beim Tätscherbäcker vorzusprechen? Eine
unerklärliche Angst erfaßte den alten Wandersmann, er könne erfahren, daß Priska
gestorben sei. Der Pfeiff-Schneider war ohne Zweifel tot, Herbert Beckmann war
verschollen und verdorben oder ebenfalls gestorben. Wer konnte wissen, ob die
beiden Frauen noch lebten? Und nun erging es ihm sonderbar: es wurde ihm
Weber ums Herz, wenn er sich vorstellte, daß die, die er nicht geliebt hatte, auf
dem Gottesacker ansrnhe, als wenn es die gewesen wäre, um derentwillen er Heimat
und Freunde tierlassen hatte.
Er hob den Kopf und sah umher, drehte sich und ließ seine Augen langsam
in die Runde schweifen. Er schaute nach hüben und drüben, schaute den einen
Berg an und den andern, stemmte sich mit der Rechten auf den Stock, indes die
Linke den Taschenriemen faßte, als ob er sich daran halten müsse.
Dich kenn ich satt! Dich auch! Dich anch! stieß er hervor. Ihr steht dahier
schon an die zweitausend Jahre, seit der Herrgott die Welt geschaffen hat. Ihr
habt euch nicht vom Platze gerührt! — Von euch, da heirat keiner fort! Da ver¬
zieht keiner in eine andre Gegend! Dn stirbt keiner! Über euch, da kann schon
einer heimkommen und Auskunft begehren! Ihr bleibt immer da auf euerm alten
Platze! Aber die Menschen, mit denen man jung gewesen ist, die sterben weg wie
Gras auf dein Felde, und die werden ausgerissen wie die Bäume, die keine Frucht
mehr tragen! Und nun schluchzte seine Stimme, und die Thränen schössen ihm über
die gefurchten Wangen. Alter Adamsmensch, sagte er nach einer Weile, zog sein
Sacktuch und trocknete seine Augen damit, wegen was weinst du? Die Kinder von
damals sind alt geworden mit deu Jahren — neue Kinder sind dazu gekommen
und sind jetzt Mannsen und Weibsen in ihrem besten Alter — und deuen ihre
Kinder, die sind auch schon wieder heiratsfähig. Von den ganz kleinen Kinderchen,
die sie jetzt im Mantel tragen, da ist damals nichts zu spüren gewesen, als ein
Großvater oder ein Urgroßvater, der aber noch e junger Bursche war, dem
man die große Nachkommenschaft nicht that anmerken, — Na — und nunc mach
Weiter!
Er lockerte den Stock, der tief in den Erdboden eingedrungen war, rückte die
Tasche zurecht und schritt hurtig weiter — bog in das Bergthal ein, das kaum
breiter als eine Schlucht war, und aus dem ein schmales Wässerchen munter zu
Thale rann.
Dich kenn ich auch! sagte der alte Jahr, blieb stehn, ließ die Blicke über die
friedliche Natur schweifen, über das ansteigende Feld, über Busch und Baum, die
unten am Wasserlauf entlang standen. Denn er war allmählich ein wenig höher
gekommen und sah das Bächlein zwischen Erlen und Gestrüpp nur wie einen
blinkenden Faden, hörte aber das Murmeln des Laufes, der über Kiesel und Geröll
führte, deutlich herausbringen.
Während er noch stand und seine Pfeife stopfte, war es ihm, als höre er
Zuruf erschallen. Er sog fest an, daß es quälende, und machte, daß er weiter kam.
Und als er um die nächste Berglagerung bog, sah er ein schönes, breites Feld flach
in die Berge gebuchtet und auf dem Feld einen grauköpfigen Alten, der die Pflug¬
schar führte. Vorgespannt war eine Kuh und ein Pferd. Hinten am Berg auf
einem alten Sack saß ein kleines Kind mit nackten Armen und spielte mit einem
schwarzen Spitz, den es mit beiden Fäustchen beim Fell gefaßt hatte.
Als Adam Jnhu ans der steinigen Straße heran polterte, spitzte der Hund
die Ohren, riß sich los, jagte über das Feld bis zum Ackersnum, pflanzte sich breit¬
beinig auf und bellte den Fremden an.
Das Kind saß ganz ruhig im gelben Sonnenschein und spielte mit einer
schwanken Weidenrute; der alte Pflüger aber, der eben jenseits gewandt hatte und
jetzt seine Furche herzu stieß, hob den verwitterten Kopf. Adam Jahr sah, daß er
den alten Scheckg vor sich hatte.
Er stieg auf den Acker, versetzte dem Hund einen leichten. Schlag, daß er mit
Kläffen aufhöre, und schritt auf den Graukopf zu.
Guten Tag, sagte er.
'"
N Tag auch.
Ist denn das nicht Land von der Oberförstcreie, das hier?
Nä, sagte der Alte, hielt sein Gespann an und betrachtete den Ankömmling,
Das gehört meinem Schwiegersohn, das hat der mit in die Ehe gebracht. — Wir
sind doch machten mittenander auf der Hochzg gewesen — gelle?
Das sind wir. Und Ihr seid dahier schon wieder bei der Arbet . . .
Na ja — mer spukt en bischen. Kein Bestand hats nich mehr. — Na —
wo gehts denn hin?
Ich will nauf auf Seitengoschen.
Da habt Ihr nicht mehr weit zu springen. Wohl zu Besuch — gelle?
Ja, sagte der alte Jahr.
Bei wem denn da?
Jahr klappte seine Pfeife auf und drückte mit dem Daumen nach. Das Aus¬
fragen hatte er nie leiden können. Er sagte eigensinnig: Ich weiß nicht, ob ich
meine Leute noch da werde finden. Und sah sich dabei den Graukopf an, der ihm
in seinem Arbeitszeug viel unansehnlicher vorkam, als gestern zwischen der Hoch¬
zeitsgesellschaft.
Der aber fragte unverdrossen weiter: Warum denu nicht?
He! versetzte nun Jahr, das ist gar lange her, daß ich dagewesen bin.
Wie lange denn?
Fufzg Jahre.
Das läßt sich höre! Aber wie hat sich denn das zugetragen... So schnell
folgten seine Fragen, daß Jahr nicht dazu kommen konnte, auch seinerseits eine
Frage einzuwerfen.
Er sagte bissig, um abzubrechen: Ich bin dahier zum Besuch gewesen.
Der alte Schelm hatte inzwischen ein Pfeifchen aus der Seitentasche geholt,
brannte an und paffte los. Bei wem denn da?
Jahr stand mit steifem Nacken, ohne den alten Scheckg anzusehen. Er besann
sich, ob er antworten solle. Mein Freund heißt Herbert Beckmann, ist jetzt epper
fünfundsiebzig Jahre alt. . .
Der Tischler Beckmann?
Eben der.
Und bei den wollt Ihr hin?
Die Frage kam in so bedenklichem Tone, daß den alten Jahr eine nagende
Angst überfiel. Ja, bei dem null ich einkehren.
Der Pflüger nickte vor sich hin, umhin die Pfeife aus dem Munde und sagte
kurz: Der ist tot. Ist beim Holzfällen erschlagen worden. Er hatte was in Kopfe,
und da ist er nicht flink genug beim Fortspringen gewesen. Das ist schon lange
her. Er hatte oben nauf geHeirat nach dem Walde. Die Fraue war aber nichts
wert. Die hat alles in die Kutte gesteckt zum Verstaaterieren. Er hatte sich dann
auch ins arme Recht geschmissen — —
So — so — sagte Adam Jahr mit beklommner Stimme. Na — dann —
ja — dann Friede seiner Asche! — Ja — den habe ich besuchen wollen.
Hin — machte der andre, die Fraue, die hat wieder geHeirat. Kinder haben
sie nicht gehabt. Aber ledigerweise hat er einen Wärgel hinterlosse. Jtze mag
sie vierzig Jahre alt sein. Ist eine Tappe. — Dann wollen mir mal weiter ackern.
Kommt Ihr von weit her?
Da fuhr Adam aus seine» trüben Gedanken auf, hieb mit dem Stock in-
grimmig einen Erdkloß entzwei, sodaß Kuh und Pferd scheuten und ihren Führer
zur Seite drängten. Meine Papiere sind in Ordnung! schrie er los. Ich bin
hinter Halle zu Hause — habe vier Pferde und acht Kühe und sechs Stücken
Jungvieh — he!
Hahns! hahnh! Na — horch! horch! Scheckge, horch! beruhigte der alte Schelm
sein Gespann. Er ordnete am Zaumzeug, rückte der Kuh das Stirujoch gerade
und strich ihr mit dem Peitschenstiel sacht über den Rücken, was ihr zu gefallen
schien. Dabei glänzten seine alten Augen wie die Racker, und er fragte unver¬
drossen: Wie nennt sich denn der Ort? Blinzelte zu dem Wandersmann hinüber
und kniff schmunzelnd seinen alten Mund ein, sodaß das Kinn unter die Nase
rutschte. Darauf stieß er seine Furche zu Ende bis an den Weg hin, hob die
Pflugschar aus, lenkte um, setzte wieder ein und schwenkte die Leinen, um sein
Gespann in Gang zu bringen. Hu-e! du-e! — Na geh! — horch! — horch! —
Hahns Scheckge! — Horch! —
Die Pfeife steckte in der Rocktasche. Er ermahnte unaufhörlich und trieb an;
denn die Kuh zeigte den Hang, aller paar Schritte stehn zu bleiben. Der Boden
war hart, immerzu hatte der alte Maun mit dein Pfluge zu richten. Das Kind
und der Spitz sahen aufmerksam zu, wie er dahertrieb.
Und das Kind begann zu lallen. Hochab, sagte es. Und der alte Scheckg
trieb an und schmunzelte und ermahnte sein Gespann: Horch! — horch! — susus! —
Na — horch!
Jahr sah ihm nach, wie er krumm dahin stapfte in seiner schlottrigen weißen
Leinenhose und dem alten verschossenen Arbeitsrock. Er hatte große, unbarmherzig
verarbeitete Fäuste. Was mochte der Mensch in seinem Leben gearbeitet und ge¬
schuftet haben! Mit ihm selbst hatte es das Schicksal bei weitem besser gemeint.
Er spannte nicht Kuh und Pferd zusammen, er ankerte schon lauge nicht mehr selber,
obgleich er weniger verfallen aussah als das Fuchsgesicht, das jetzt, oben angelangt,
umwandte und zurück gepflügt kam. Seine Hände hatten auch uicht gefeiert —
aber so aus allen Gelenken gezerrt, die Haut so zu rissiger Borke gearbeitet, das
hatte er sich nie zuzumuten brauchen.
Der Pflüger war inzwischen wieder herabgekommen, wandte am Weg und
kam sacht zurückgezogen, indem er gemach auf seine Tiere einredete. Die Kuh war
eine schöne Rothebeete mit dickem Euter, das Pferd mochte schon alt sein und war
ein wenig abgetrieben. Als er in Jahns Nähe kam, ließ er dem Gespann den
Willen und hielt an, gleich hatte er dann auch wieder das Pfeiflein beim Wickel.
Und während er zog, daß es brennen sollte, fing er die nbgebrochne Unterhaltung
wieder an.
Er fragte: Habt Ihr sonst noch wen, wo Ihr einkehren wollt?
Jahr war ärgerlich gewesen, daß ihm der Scheckg mit seinem Ausfragen
so scharf zu Leibe gegangen war. Das war sein alter Fehler, daß er keinen
Spaß verstand. Aber inzwischen war die Achtung vor den verarbeiteten Fäusten
gekommen, und er war uun mißgestimmt darüber, daß er sich selber so wenig im
Zaume hielt.
Ja, antwortete er, ich wollte noch nauf auf Etzelmüude beim Dietzel-Schmied.
Der Sicherheit wegen setzte er hinzu: Sie haben ihn Goldsvrnng genannt. Den
kennt Ihr doch wohl auch — gelle?
Ja — — das heißt — — der Dietzel-Schmied von damals, der vor fufzg
Jahren die Schmiede hatte, der ist tot. — Und sein Sohn, der ist auch schon
we. — Und dem sein Sohn, der ist kein junger Mann merre — ja — mag so
^sZg Jahre alt sein. — Und dem sein Sohn, der ist itze e Bursch und ist
heiratsfähig. — Ist ein ganzes andres Geschlecht, sagte er, und nun glänzten seine
Augen wehmütig, er brachte die Pfeife wieder im Mundwinkel unter, schnellte mit
ven Leinen und trieb seine Tiere an. Horch! Scheckge! horch! Hahns, hahüh! —
Wie heißt denu Ihr, wenn man fragen darf?
Jahr kehrte um und schritt neben dem andern dahin. Ich hab das vergessen,
^le ich heiße, sagte er, aber ohne daß er sich ärgerte.
Das soll vorkommen.
Jahr sah ihn an; es war nichts von Mutwillen in den Falten und Runzeln
SU finden; der Mund, den die Pfeife schief zog, sah vielmehr wehleidig aus.
Das reizte ihn gewaltig, und er fragte verschmitzt: Na — und Ihr? wie heißt
denn Ihr?
Jede?
Ja,
Ich hab meinen Namen ooch vergessen, lautete die Antwort, die gemächlich
und mit ehrbaren Gesicht gegeben wurde, sodaß den alten Jnhn der Witz kitzelte
und er anfing zu lachen, worauf der andre munter einfiel. Aber während Jahns
Lachen in kurzen Stößen laut erschallte, kicherte es bei dem audern nur, beinah,
als würde mit Papier geraschelt. Zuletzt fragte der alte Graukopf treuherzig:
Von wem wollt Ihr denn nun noch was wissen? — Fragt mal los.
Ja, sagte Jahr, der ganz vertraulich wurde, jetzt möcht ich wissen, wies der
Alma geht — war die Tochter vom Dietzel-Schmied . . .
Der Pflüger that einen dünnen Pfiff, riß den Mund auf, daß eine schwarze,
gähnende Höhlung zu sehe» war, zwinkerte mit den Augen und sagte geheimnisvoll:
Die hat den dritten Mann — ja!
El weh!
Ja!
Und geht ihrs gut?
Geht ihr hehre gut. — Die hat noch mehr Vieh, wie Ihr habt. Die hat
nie nach den Mannsen, die hat immer nach dem Vieh geHeirat. Ihr Mann ist
der lange Schurke in Wißberg — und ihr zweiter Manu, das war der dicke Bork
aus Rasch — —
Die — — die — — mehr brachte Jahr nicht heraus. Ihm wurde wirblig
im Kopfe.
Ja, die — — sagte der alte Pflüger, und sein Fuchsgesicht nahm einen ge¬
heimnisvollen Ausdruck an.
Jahr wußte uicht, was ihm noch durch den Kopf schoß. Es hatte ihm einer
irgend etwas gesagt, was mit irgend einem andern in Verbindung stand. Emma
hatte ihm gesagt, die Frnn Schurke sei ihrem Großvater zu Gefallen gelaufen. Aber
er kam nicht dahinter, daß es das gewesen war.
Die —? sagte er wieder und wieder. Kann denn das sein? Ist denn das
nach der Möglichkeit?
Und der alte Scheckg fuhr fort: Und ihr erster Mann — ja — wer war
denn das nun gleich? — wart mal — ja —
Da fiel der alte Jahr selbstvergessen ein: Das weiß ich — ihr erster Mann
das ist der Pfeiff-Schneider gewesen.
Der andre brach in Lachen aus. Das klang aber diesesmal nicht dünn, es
kam vielmehr so von Herzen, daß es schier polterte.
Nä! so dumm ist der nicht gewesen —! na! der hat die nicht genommen!
der hat sie laßt laufe! der war keiner, der sich tot schelten ließ von einem
Weibsen — na! — Die Alma — na'! — war ja ein schönes Mädchen und
fleißig — aber mit dem Mundwerke, da ist die allen Mannsen miteinander über
gewesen. — Nä —!
Sie waren beim Berge angelangt. Der Alte wandte, hielt dann aber sein
Gespann an, denn das Kind begann zu weinen. Und da eilte er hin, hob es ans
den Arm und beruhigte es. Der Hund, noch ein junges Tier, war beim Spielen
ein wenig grob geworden. Das Kind wies das Fingerchen. Da pustete der Grau¬
kopf, strich und schäkerte, hockte nieder und rief den Spitz heran, der abbitten
mußte, hockte da als ein jämmerliches altes Menschenhäuflein und spielte die Kinder-
niagd so verständnisvoll, daß Kiemchen bald zu jauchzen begann. Stand mühsam
wieder auf und fing an, mit dem Kindchen zu hüpfen, schaukelte das Kind, das
sich krähend und lallend in seinen dichten Haaren festkrallte.
Der Alte schnitt eine Grimasse, löste die kleinen unbarmherzigen Hände, setzte
das zappelnde Kind wieder auf den Sack und zog ihm ein Jäckchen über. Das
Jäckchen war nicht größer als eine seiner Fäuste. Und als er nestelte, um es
zu schließen, war vor den faltigen, großen, unbeholfnen Händen beinah von dein
ganzen Kinde nichts zu sehen. Aber die Arbeit wurde geschafft, und der Alte
stand ächzend auf. Dann kam er wieder an den Pflug und sah lustig und guter
Dinge ans.
Die Sonne stand fast im Zenith, der ganze Acker war überstrahlt, die Berge,
die ihn im Halbkreis umschlossen, strömten den Duft der Scholle und des Harzes
aus. Die Luft war weich, ein sachter, kräftiger Wind aber fiel von den Bergen.
Der alte Scheckg sah zum Himmel auf; der blanke fröhlich und war von kleinen
Weißen Wolken ttbersegelt. Darauf blickte er seinen Genossen an, wie er dort stand,
den Stock schief in den Acker gestemmt, die Ledertasche auf der Hüfte, in seinem
guten grauen Rock, mit dem hübschen Filzhut, die eine Hand um das Kinn gelegt
und nach den Bartstoppeln tastend, und der Blick, der dem alten Scheckg entgegen
lief, doch beklommen.
Ich hab anch Eure Enkeltochter getroffen, sagte er. Auf die könnt Ihr stolz sein.
He! das ist ein schönes MädchenI und ein gewieftes Benehmen hat die auch. Wir
sind über und über miteinander gelaufen. Nachher hab ich dann Schunkes ge¬
troffen, mit zwei abgeschmisseneu Räder», die Pferde, die hatten gescheut vor dem
Dampfwagen. Ich hab dann auch die Frau hört schelten. — Und das soll die
Almen sein! Man mondes nicht glauben.
Ehe er nach den Leinen faßte, sagte der alte Scheckg: Jtze hab ichs! Ihr
erster Mann, der hieß Pieter und war aus Hellgen. Sie sagten for ihn: der
dicke Pieter, aber er war dürre wie ein Stecken; indessen, der soll das auf den
Knochen gehabt haben, wie er kleine war. Er wischte mit der Faust über den
Mund und sagte obenhin: Ihr habt vorhin auch den Pfeiff-Schneider genannt . . .
ist denn der auch von Eurer Bekanntschaft gewesen?
Ja, antwortete Jahr. — Bei ihm zu Hause wurde das erste Urenkelchen
erwartet, da sah er ans das jauchzende Kind mit ganz besondern Gefühlen. Er
wiederholte: In, den hab ich gekannt . . . und Neugier erfaßte ihn, von den Schick¬
salen des Menschen zu hören, der das Mädchen verschmäht hatte, um dessentwillen
er selber aus der Heimat gewandert war. Als nun der alte Scheckg ihn mit einem
Pfiffigen Na! ermunterte, weiter zu fragen, da fuhr er fort: Der is tot, der Pfeiff-
Schneider, wie ich gehört habe — he!
Tot? sagte der andre und glotzte ihn an.
Ja, antwortete Jahr.
I gar, sagte der alte Scheckg ablehnend. Der ist doch nicht tot. Den sein
Lebenslauf, das ist —. Nä, der ist doch nicht tot — das fällt doch den nicht ein. —
I gar! wo wird denn der — — Den sein Lebenslauf, das is bis itze gar ein
guter gewasen!
Jahr sagte verblüfft: Der ist noch am Leben —?
Ja, das ist der noch.
Und dem gehts gut?
Den geht das hehre gut.
Na — na —
Ja, fiel der Graukopf mit leuchtenden Angen ein, der hat eine brave Fraue —
und brave Kinder — und schöne, kräftige, gesunde, rechtschaffene Enkelkinder —
und auch schon e Urenkelchen — — Er warf sich komisch in die Brust und wies
auf das Kind: Da Sitzes! Der Pfeiff-Schneider, der bin ich! Stand und weidete
sich an der Betroffenheit Jcchns; denn der starrte ihn an, als sehe er einen Geist,
stand ganz steif mit versteinertem Gesicht und sah den Graukopf an, der gar bald
die unbequeme Haltung aufgab mit der herausgedrückten Brust und dem eingebognen
Rücken und sacht wieder vornüber zusammenschnappte.
Euch hätt ich nicht erkannt, brachte Jahr endlich heraus, und die Worte kamen
so widerwillig, daß der andre aufhorchend den Kopf hob und den zugewanderten
Menschen, der mitten auf seinem Acker stand und sich benahm, als sei der Pfeiff-
Schneider ihm etwas schuldig geblieben, mit seinen kleinen klugen Augen musterte.
Ja, sagte er darauf gleichmütig, ma verändert sich in fufzg Jahren, das
versteht sich. — Na — wollen mal weiter pflügen, is gleich Mittg!
Mit hahüh und du - e brachte er sein Gespann in Gang. Es tönte wieder
durch die sommerliche Luft: Horch, Scheckge! Horch! horch! der ganze eintönige
Antrieb, womit er seine Tiere zur Arbeit ermahnte.
Als er vorüberpflügte, sagte er: Nu macht Euch auf den Weg, wenn Ihr
noch auf Etzelmünde wollt zu Mittg. Hu-e! du-e! du-e! Ist denn keine
Einigkeit da vorne? schrie er, riß seine Peitsche aus dem Pflugkarren und schwang
sie durch die Luft, daß sie über den Köpfen seines widerwilligen Gespanns drohend
knallte, und Kuh und Pferd, erst zur Seite gescheucht, jetzt mit verdoppelter Gewalt
vorwärts drängten.
Zugleich aber riß der Alte zurück, warf die Peitsche auf den Acker und hob
die Pflugschar aus. Darauf hockte er nieder und grub mit seinen Händen vor der
Furche. Und Adam Jahr sah, wie diese Hände sich gewaltig vergrößerten und
einen Stein zu umspannen und heraus zu heben suchten, der hier dicht vor der
Zeile lag, und Wie bei dieser Bemühung der hockende Grnukopf von einer Seite
zur andern schwankte — und er streifte seine Tasche von der Schulter, ließ sie
samt dem Stock auf den Acker fallen, eilte hinzu und sagte eifrig: Halt mal an,
ich helf zupacke! — he! — wir zwei Alten werden doch den Stein noch schaffen —
legte sich so gewaltig ins Zeug, daß der Stein sich lockerte und sich auf den harten
Acker rollen ließ.
Als er sich dann aufrichtete, sah er, daß der Pfeiff-Schneider wieder in seine
Bartstoppeln schmunzelte, und er fühlte, daß ihm leicht zu Mute wurde. Zuvor,
als sich das alte Fuchsgesicht bei seinen unfreundlichen Worten verdrießlich in die
Länge gezogen hatte, wars ihm gerade so gewesen, als falle ihm ein Stein aufs
Herz, größer als der, deu er jetzt aus dem Acker seines Feindes hatte herausheben helfen.
Er rieb seine Hände am Sacktuch ab, schneuzte sich und sagte, während der
andre die Pflugschar wieder einrichtete: Ihr seid doch Schneider gewesen — he?
Ja.
Na — na —
Ja, sagte der Pfeiff-Schneider verschmitzt, aber ich hab in eine Wirtschaft
neingeheirnt — und da bin ich Wirt geworden. Das wär keine Sache gewasen,
wenn der Wirt die Hosen gemacht hätte, und der Knecht hätte deu Acker gepflügt —
ich faß schon lange kei Bügeleisen merre an — aber ein paar Hosen ausbessern —
ja, das thu ich noch.
Könnt Ihr denn die Nadel festehalten mit den Fingern?
El ja — gieht langsam — wird aber doch fertg. Hu - e, du - e — Na —
wollt Ihr nichts weiter wissen?
Jahr, der wieder die Tasche auf der Achsel trug, sagte mit beklommnen
Zögern, während er neben dem Graukopf dahinschritt, der seine Tiere dem Acker¬
saum zutrieb: Ja — ich möcht ja wohl noch fragen, wie es mit dem Tätscher¬
bäcker geht. Aber ich weiß schon, der ist tot — gelle?
Ja, der ist tot.
Und seine Tochter — die Priska — wißt Ihr — wie es der jetzt geht,
der Priska? — Ist die — ist die epper auch tot?
El, wo wird denn die! sagte der alte Scheckg. Is ja meine Fraue! Nä, die
ist nicht tot, Gott sei Dank!
Eure — Eure Frau? — Jahu packte den Graukopf beim Arm.
Der wandte den Kopf, sah den Frager mit scharfem, klugem, gewaltigem Blick
an, nickte und sagte: Die Priska von'n Tätscherbäcker — jn, die ist meine Frau.
So! — na! — dann will ich weiter machen! Und Jahr wandte sich und
schritt ohne Dank und ohne Gruß von dannen.
(Fortsetzung folgt)
Die ultramontane Moral. Diesen Untertitel giebt der Exjesuit Hoens-
broech dem zweiten Bande seines Werkes: Das Papsttum in seiner sozial-
kulturellen Wirksamkeit (Leipzig, Breitkopf und Härtel, 1902), dessen ersten
Band ich im vierten Hefte des vorigen Jahres angezeigt habe. Mit der ultra-
montanen Moral ist die sogenannte Moraltheologie gemeint, die Moral der Hand¬
bücher, die weder für den Jugend- noch für den Volksunterricht bestimmt, sondern
Anleitungen und Anweisungen zur Ausübung des Amtes eines Richters und
Seelenarztes sind, das nach der katholischen Kirchenlehre dem Beichtvater obliegt.
Der Inhalt dieser unerquicklichen Litteratur ist im allgemeinen bekannt, und daß
nun zum zweitenmal dem Publikum im saftigsten Deutsch geboten wird, was vor
Graßmcmn nur lateinisch zu haben war, wird auch deu Besonnenen unter den
Protestanten nicht besonders verdienstlich erscheinen. Hoensbroech leugnet zwar,
daß die Erörterungen der x«zeea,ta, vomer». sextnm nur lateinisch veröffentlicht würden,
führt aber nur eine einzige solche Erörterung in der Volkssprache an, und zwar
eine in der spanischen. Diese Ausnahme beweist umso weniger, da die meisten
Spanier Analphabeten sind. Das Urteil des heutigen gebildeten Menschen über
die kasuistische Moral steht längst fest und kann durch uoch so große Stoffsamm¬
lungen nicht geändert werden. Ganz ohne Kasuistik kommt auch der protestantische
Morallehrer nicht aus, deun zu einem solchen Grade von sittlicher Selbständigkeit
gelangen eben die Kinder des Volkes nicht, daß sie die einzelnen Grundsätze in
jedem einzelnen Falle mit Sicherheit anzuwenden vermöchten; gerade die gewissen-
haftem unter ihnen werden manchmal Eltern, Lehrer und Geistliche fragen: Ist
dies erlaubt? Und wenn das selten geschieht, der junge Mensch lieber Zeitungen,
Broschüren und politische Agitatoren befragt, so weiß man ja, was dabei heraus¬
kommt. Aber darin stimmen alle vernünftigen Pädagogen überein, daß die Sitten¬
lehre nicht vorwiegend kasuistisch behandelt werden darf, und wenn die Kasuistik den
Zögling dazu anleitet, vor seinem Gewissen den Advokaten zu spielen, wenn sie die
einfachen Grundsätze durch talmudische Spitzfindigkeiten verdunkelt, den gesunden
einfältigen Willen durch Zerfaserung des sittlichen Ideals in eine Unzahl von Einzel¬
vorschriften verwirrt und krank macht, die Seele durch die Häufung überflüssiger
Pharisäischer Zeremonialgesetze beschwert und zur Verzweiflung treibt, so verwerfen
wir das alles natürlich mit Abscheu. solange das Übel fortbesteht, dauert auch
die Pflicht, es zu bekämpfen. Eine neue und wirksame Methode der Bekämpfung
hat jedoch Hoensbroech nicht angewandt; er bewegt sich in dem alten ausgefahruen
Geleise, eine Menge Anklagestoff aufzuhäufen und zu rufen: Da seht ihr, wie schlecht
diese Päpste, diese Jesuiten und alle diese Theologen sind! Das hat bekanntlich
bisher nichts genützt und wird auch in Zukunft nichts nützen. Soll die Polemik
fruchten, so muß sie positive Ziele aufstellen. Zunächst muß sie anerkennen, was
übrigens ans Hoensbroechs Buche klar hervorgeht, daß der sogenannte Jesuitismus
lange vor der Gründung des Jesuitenordens und sogar vor dem mittelalterlichen
Papsttum dagewesen ist, woraus folgt, daß man ihn durch die Beseitigung dieser
beiden Institute uicht los werden würde. Dann ist zu beachten, daß die sogenannte
Jesuitenmoral unmittelbar nur auf die Geistlichen, auf das Volk nur mittelbar
wirkt, und zwar nur auf einen kleinen Bruchteil des Volkes, denn auf hundert
Beichtende kommt noch nicht einer, der einen jener merkwürdigen Fälle bekennte,
die dem Beichtvater zur Entfaltung seiner kasuistischen Gelehrsamkeit Anlaß geben.
Aber auch bei den Geistlichen macht sich der Einfluß nicht in den: Grade und Um¬
fange bemerkbar, daß ihre Mehrzahl anders dächte, fühlte und handelte als der
Durchschnitt der Volksgenossen. Es sind nur verhältnismäßig wenige, die im Ge¬
strüpp der Kasuistik Schaden leiden, und das geschieht dann meistens auf andre
als die von den Jesuitenfeinden angenommene Weise, indem sie nämlich nicht liederlich
und lasterhaft, sondern dnrch Grübelei und Gewissensangst elend und verrückt werden.
Die positive Bekämpfung nun wird ihr Augenmerk auf zweierlei zu richten haben:
eins die Reform des Beichtinstituts als der Werkstätte der kasuistischen Moral, wofür
ganz bestimmte Vorschläge zu machen sind, und auf die Schaffung einer Sittenlehre,
die bei der Mehrheit des Volkes Anerkennung findet und der ultramontanen gegen¬
übergestellt werden kann. Eine solche giebt es nämlich zur Zeit nicht. Auch
wenn wir von der ethischen „Modernen" absehen, die entweder gar keine Pflichten
anerkennt oder die Pflichtcnlehre auf den Kopf stellt, bleibt nichts als Konfusion
übrig. Darin, daß Mord, Diebstahl, Raub, Wucher und Ehebruch Sünde sind,
und daß die Liebe des Gesetzes Erfüllung und zugleich die Wurzel aller Tugenden
ist, stimmt der moderne Protestantismus mit dem Katholizismus überein, aber was
nützt uns das im einzelnen konkreten Falle? Der Arbeiter erklärt die Lohnpraxis
des Unternehmers, der Unternehmer den Aufstand seiner Arbeiter für Diebstahl,
Erpressung, Raub und Wucher, und dieser Gegensatz der Interpretation zieht sich
durch alle Gebiete der Ethik wie durch alle sozialen Verbände, ja durch alle persön¬
lichen Verhältnisse hindurch. Zur Lösung dieser Schwierigkeit trägt Hoensbroech
nichts bei, deshalb werden die Katholiken der einzigen Autorität, die es auf diesem
Gebiete giebt, treu bleiben, mag sie auch höchst anfechtbar sein. Der einzige wesent¬
liche Unterschied in der protestantischen und der katholischen Moral ist, daß der
Katholik den Gehorsam gegen die Kirche und die Beobachtung der Kirchengebote
zu den sittlichen Pflichten rechnet. Von hier aus kann freilich die ganze Moral
in Grund und Boden verderbt werden; nicht bloß dadurch, daß die Kirchenobern
ihre willkürlichen Satzungen zu göttlichen Geboten stempeln und die Beobachtung
von Kirchengebräuchen oder von kirchlichen Ehegesetzen über die wirklichen sittlichen
Pflichten stellen, sondern auch durch die Hineinziehung toter Dinge in den Pflichten¬
kreis, indem die Verunehrung von Gebäuden, Geräten, Bildern, Totengebeinen und
schon die Unterlassung von Ehrfurchtsbezeugungen vor solchen Dingen und nament¬
lich vor der konsekrierten Hostie zum Sakrileg, also zu einer furchtbaren Sünde
gestempelt wird. All das ist selbstverständlich Rückfall ins Heidentum und Judentum.
Es ist, wie das ganze Heidentum, in menschlichen Empfindungen und Bedürfnissen
so tief begründet, daß sogar der moderne Staat die Verunehrung seiner Symbole:
der Wappen, Fahnen, Orden, Königsbilder als Beschimpfung oder als Verletzung
der Pietät bestraft. Aber wenn diese Dinge einen so breiten Raum einnehmen
wie im Katholizismus, können sie wirklich leicht die moralischen Begriffe verdunkeln
und die sittlichen Gefühle verwirren. In welchem Grade dies geschieht, das hängt
von ihrer Behandlung in Jugendunterricht, Predigt und Erbauungsbüchern ab.
Wo von der Erziehung der Geistlichen protestantische und moderne Anschauungen
sorgfältig fern gehalten werden, da wird Wohl überall das heidnisch-jüdische Element
überwiegen. Wir Freien, die wir keiner Autorität auf dem ethischen Gebiete zu
bedürfen glauben und mit Kant Autonomie für uns in Anspruch nehmen, dürfen
Der Befähigungsnachweis im Baugewerbe. Als Mißstände, die an¬
geblich aus der durch die Neichsgewerbeordnnng erfolgten Aufhebung der obliga¬
torischen Meisterprüfung für das Baugewerbe hervorgegangen sind, werden im
allgemeinen die folgenden angeführt: 1. daß durch die fortwährend zunehmende
Konkurrenz Unbefähigter bei der Ausführung von Bauarbeiten die Thätigkeit der
wirklich Sachverständigen ungebührlich verdrängt werde; 2. daß die Ausbildung
eines sachkundigen Meisterstandes in Frage gestellt werde; 3. daß die technischen
Leistungen im Baugewerbe zurückgingen; 4. daß der wachsende Mangel an Sach¬
kenntnis die Gefahren bei der Ausführung sowohl wie bei der Benutzung der her¬
gestellten Bauwerke in bedenklicher Weise vermehre.
Der unter 1 aufgeführte Mißstand muß in einem gewissen Maße als vorhanden
anerkannt werden; dieses Maß begreift aber im wesentlichen nur die Bauten, die
das spekulierende Kapital gleichsam als Handelsware herstellt. Die Zahl und der
Umfang solcher Bauten ist je nach der Konjunktur verschieden, ihr Verhältnis zu
den übrigen Bauten dürfte in rasch anwachsenden Großstädten überwiegend sein,
während auf dem Lande und in kleinen Städten Spekulationsbauteu nur selten
vorkommen werden. Daß bei Spekulativusbauten, bei denen es sich darum handelt,
ein Verkaufsobjekt zum billigsten Preise herzustellen, vielfach Pfuscharbeit — und zwar
nicht selten gegen besseres Wissen — geleistet wird, kann mau nicht verkennen;
aber man kann nicht zugeben, daß durch die Einführung der obligatorischen Meister-
Prüfung hiergegen Abhilfe geschafft werden würde. Der Spekulant würde gewisse als
Meister geprüfte Personen, die im übrigen nichts zu verlieren haben, in reichlicher Zahl
bereit finden, gegen geringes Entgelt die sorglosen Ausführungen seiner Ballten
mit ihrem Namen zu decken. Die Prüfung eines Handwerksmeisters darf nicht
so schwierig gemacht werden, daß sie nur mit großem Aufwands vou Zeit und Geld
von hervorragend Befähigten bestanden werden könnte, in deren Interesse es dann
liegen würde, das teuer erworbne Privilegium nicht durch Unzuverlässigkeit bei der
Ausübung des Berufs in Frage zu stellen. Die Prüfungsvorschriften würden sich
vielmehr nur, um den einfachen, mit gewöhnlicher Volksschulbildung ausgerüsteten
Manu nicht auszuschließen, in dem Rahmen der bis 1870 giltigen Verordnung
vom 24. Juni 1856 bewege» können. Bei den heutigen gegen früher so sehr
vermehrten Gelegenheiten zur technischen Ausbildung durch Bauhandwerker- und
Gewerbeschulen würde es für viele junge Leute verlockend und nicht schwierig sein,
sich durch Ablegung der Prüfung als Bangewerksmeister ein Privilegium zu er-
werben, das die leichtsinnigen und unzuverlässigen unter ihnen so lange im Dienste
der Spekulation ausnützen würden, bis sie einmal die Grenze des Erlaubten über¬
schritten hätten und ihre Berechtigung verlieren würden. Derartige Meister gab
es schon vor der Einführung der Reichsgewerbeordnung. Es war nur die Nach¬
frage uach ihnen nicht groß, weil eben die Bauherren selbst ein großes Interesse
an der Solidität ihres Baues hatten und einen solchen Meister der Form wegen
nur dann annahmen, wenn sie ihren Bau durch eiuen Polier oder Gesellen aus¬
führen lassen wollten, dem sie volles Vertraues schenkten. Wenn aber der Bauherr nur
das Interesse verfolgt, mit dem geringsten Kostenaufwand einen Bau herstellen zu
lassen, dessen er sich bald durch Verkauf zu entledigen wünscht — und daraufhin
geht ja das Interesse der spekulierenden Kapitalisten, Ballgesellschaften usw. —, dann
Wird er auch bei neu eingeführter Meisterprüfung leicht solche finden, die ihm zu
willen sind, und die Nachfrage wird um so leichter zu befriedigen sein, als ein
einziger Meister mit seinem Namen viele Ballten decken kann.
Wenn also der Bauherr mala. Käs handeln will, so wird er durch Einführung
der obligatorischen Meisterprüfung darin nicht behindert werden. Damit soll freilich
nicht in Abrede gestellt werden, daß unter den heutigen Verhältnissen auch ein Bau¬
herr, der bona, nah handelt, einem unzuverlässigen Bauunternehmer in die Hände
senken kann. Aber es dürfte heute wohl nicht mehr als eine Aufgabe der Staats¬
verwaltung angesehen werden, das Publikum in seinen Privatunternehmungen zu
bevormunden, sondern es vielmehr zu veranlassen, sein eignes Urteil zu scharfen
Und anzuwenden. Fühlt sich ein Bauherr in dieser Beziehung nicht sicher, so mag
er sich an einen Junungsmeister wenden, und daß hierzu reichliche Gelegenheit
durch Unterstützung des Innungswesens und der fakultativen Meisterprüfungen ge¬
geben werde, das scheint allerdings wünschenswert.
Die Behauptungen unter 2 und 3 werden einfach durch den Hinweis auf das
Widerlegt, was seit den letzten dreißig Jahren im Baugewerbe geleistet worden ist.
Wo so zahlreiche Baute« in anerkannt tüchtiger «ud gediegner Ausführung her¬
gestellt worden sind, da müssen eben auch die Meister dafür vorhanden sein. Freilich
sind es uicht gerade solche Meister wie die, die das Baugewerbe vor 1870 be¬
herrschten. Damals waren es Maurer- und Zimmernleister, die mit ihren durch die
Prüfung bewiesenen, für die gute Ausübung des Handwerks genügenden Kenntnissen
die meisten Privatbauten in wenig künstlerischer aber sonst tüchtiger Weise nach
Hnndwerlsgebrauch und Gewohnheit ausführten; heute sind es zahlreiche akademisch
gebildete Architekten, die mit ungleich größerer Sachkenntnis, mit einer Ausbildung,
die in nichts gegen die der Baukünstler andrer Länder zurücksteht, die führende
Rolle im Privatbauwesen spielen. Daß uuter ihrer Leitung das Bauhandwerk in
seiner Fertigkeit in den technischen Leistungen im Rückgange begriffen sei, ist eine
Behauptung, die der Augenschein so sehr widerlegt, daß es weiterer Nachweise
dafür nicht bedarf.
Die Behauptung unter 4 kann auch nur für gewisse Spekulntionsbauten
als berechtigt anerkannt werden. Es ist richtig, daß wucherische Spekulanten un¬
solide Leute als ihre Bauunternehmer wählen, die dann mit wenig geschickten oder
unzuverlässige» Gehilfen den Bau billig und schlecht ausführen. Dieses Verfahren
wird wesentlich dadurch unterstützt, daß die Revision der Baupläne und die Kontrolle
der Bauausführung dnrch die Baupolizeibeamten immer strenger geworden ist. So
unwahrscheinlich das klingt, ist es doch zutreffend. Der Bauherr ist durch die bau¬
polizeiliche Kontrolle der Pläne und der Ausführung gegenüber der Behörde voll¬
kommen gedeckt, er kann sein Ziel, aus dem Unternehmer das Möglichste zu er¬
presse« — wir wollen nicht sagen mit Seelenruhe — aber doch mit vollkommner
Sicherheit verfolgen. Seine Wahl des unfähigen oder unzuverlässigen Unternehmers
bringt es mit sich, daß die von der Polizei als sicher bescheinigten Konstruktionen
von ungeschickten oder lässigen Arbeitern mangelhaft ausgeführt, und daß schlechte
Baumaterialien verwandt werden, nicht selten gegen besseres Wissen des Unter¬
nehmers, aber unter dem Druck der ihm bewilligten Preise. Kommt dann ein
Unfall auf der Baustelle vor, dann sühlt sich der Bauherr ohne jede Verschuldung
— er ist ja nicht Sachverständiger —, aber wegen des Geldverlustes, der ihn
dabei trifft, ist er entrüstet über die mangelhafte Kontrolle der Polizei; er ruft
nach ihrer Verschärfung, und das große Publikum, gewöhnt die Behörden für alle
Unfälle verantwortlich zu machen, ruft mit. Wollte die Behörde aber erreichen,
daß alle Arbeiten regelrecht ausgeführt und schlechte Materialien nicht verwandt
würden, so müßte sie jeden Bau uuter ständige polizeiliche Bauleitung stellen, weil
sie sonst den betreffenden Beamten nicht für vorgekommne Fehler verantwortlich
machen könnte. Das hieße den Teufel mit Beelzebub austreiben, denn unsre Be¬
hörden folgen schon jetzt dem Rufe nach baupolizeilicher Kontrolle viel weiter, als
im Interesse der Allgemeinheit erwünscht ist.
Wer die verschiednen Bauordnungen mit sachverständigen Blick durchsieht, wird
nicht selten finden, daß darin die bau- und die feuerpolizeilichen Rücksichten den
Bau kleiner Wohnhäuser mit kostspieligen Ausführungen belasten, die in ihrem ganzen
Umfange nur für so große Mietkasernen begründet sind, wie die Verordnung sie
noch eben zuläßt. Es ist schon ein großer, Wohl unvermeidlicher Mißstand, daß
die Behörde in ihrer Verordnung Konstruktionen, die nur bei besonders sach¬
verständiger und zuverlässiger Ausführung sicher sind, nicht zulassen darf, weil sie
nicht unter allen Umständen ans eine solche und die Verwendung bester Materialien
rechnen kann. Die Baupolizei tritt deshalb der Einführung von Verbesserungen
in der Konstruktion und im Material entgegen und erstickt die Entwicklung des
Baugewerbes in dieser Richtung. Darum soll mau sich hüten, noch nach weiterer
Verschärfung der polizeilichen Kontrolle der Bauten zu rufen, sie würde schädlich
sein, während man von der Einführung der Meisterprüfung nur sagen kann, daß
sie nichts nützen würde. Es ist eben nicht der Mangel an Kenntnissen und Hand¬
fertigkeit, der das Überwuchern der Pfuscharbeit im Baugewerbe hervorruft, sondern
Gewinnsucht, Unzuverlässigkeit und Leichtsinn. Daß Personen, die von diesen Eigen¬
schaften beherrscht werden oder ihnen zugänglich sind, ebenso gut eine Meisterprüfuug
besteh» können, wie zuverlässige, vertrauenswürdige Personen, wird niemand in Ab¬
rede stellen.
Ma» sollte deshalb von der Einführung des Befähigungsnachweises im Bau¬
gewerbe ebensowohl absehen, wie von der Verschärfung der baupolizeilichen Kontrolle,
und bei Unfällen den Strafrichter seines Amtes walten lassen. Freilich schreckt Z 330
des Strafgesetzbuchs den Pfuscher nicht genügend zurück, denn es ist schwer und
umständlich, ihn vor dem nicht sachverständigen Richter so zu überführen, daß er
verurteilt werden kann. Dafür wäre ein kurzes Verfahren vor einem Gericht mit
an redet so oft von dem Gegensatz der Nationalitäten in Öster¬
reich als dem Grundübel der dortigen Zustände; in der That
ist er das Grundübel, zugleich aber auch die Grundlage der
Existenz für Österreich, Diese nationale Buntheit, diese ethno-
I graphischen Gegensätze erhalten die österreichische Monarchie in
ihrem Bestände, sind freilich auch allem äußern Anschein nach für sie ein
Hindernis, sich über gewisse chaotische und zum großen Teile heillos verfcchrne
Verhältnisse zu erheben. Dem ferner stehenden Beobachter mögen diese Zu¬
stände als vollkommen haltlos erscheinen, aber sie sind es in Wirklichkeit nicht;
nur macht es ganz besondre Schwierigkeiten, namentlich in einer Zeit, wo die
Lehre vom Rechte der Nationalitäten die Völker berauscht, ein Reich zusammen¬
zuhalten, das von nahezu vierzig Haupt- und unzähligen Nebensprachgrenzen
durchschnitten wird. Aber die Bildung der österreichischen Monarchie in ihrer
Hauptmasse ist durchaus uicht künstlich und unnatürlich, wie man vielfach außer¬
halb Österreichs anzunehmen beliebt. Die zumeist parteilichen Schilderungen
in den Blättern, die ausschließlich vom nationalen Standpunkt aus fast
allein das Trennende, die tiefen Unterschiede der Nassen und Sprachen sowie
der Lebensgewohnheiten betonen, müssen in allen, denen eine andre Gelegen¬
heit abgeht, sich ein eignes Urteil zu verschaffe», die Meinung erwecken, als
hätte man da ein Doppelreich, ja ein Dreireich vor sich, das in sich selbst die
Bedingungen des Auseinanderfallens, der politischen Störung trage. Viele na¬
tionalen Schwarmgeister in Österreich selbst und zahlreiche Leute in den Nachbar¬
ländern, auch in Deutschland, die sich von ähnlichen Anschauungen leiten lassen,
sind derselben Meinung und warten schon auf die Stunde, wo sich der ver¬
mutete Prozeß vollzieh« müsse.
Wir haben niemals an einen Zerfall Österreichs, am wenigsten einen nahe
bevorstehenden, geglaubt. Wie Treitschke, der entschiedenste Gegner einer habs-
burgischen Hegemonie in Deutschland, schon vor vierzig Jahren schrieb, wäre
^n solches Ereignis „die furchtbarste Revolution, die dieser Wettteil je gesehen,
und der bisherige Gang der österreichischen Verhältnisse berechtigt niemand,
^ für wahrscheinlich zuhalten," Das ist noch heute vollkommen wahr. That-
sächlich ist nun freilich der große Doppelstaat unter dem Geschlecht der Habs¬
burger noch das ungelöste Problem aus einen: Restbetrag der hier zur Er¬
starrung gelangten Völkerwanderung, Man mag es auch vom deutschen Stand¬
punkt aus beklagen, daß den Deutschen im Süden die Germnnisieruug der
östlichen Völkerschaften, wie sie im Norden geglückt ist, uicht gelang, vielleicht
konnte sie bei dem Maße der den Deutschen und den Fremden dort zu Ge¬
bote stehenden politischen Kräfte nicht geschehn, kurzum heute haust in dem
weiten Donaugebiete, ähnlich wie auf der Balkanhalbinsel, ein buntes Völker-
gemisch, kein Volk darunter stark genug, sich abzusondern und die andern zu
verschlingen, und darum allesamt darauf angewiesen, sich friedlich zu vertragen.
Damit scheint es freilich augenblicklich sehr windig auszusehen. Aber was
wollen drei, vier Jahrzehnte verfehlter Politik (seit dem Verluste der italienischen
Provinzen und der Lostrennung von Deutschland) für ein altes Staatengebilde
bedeuten? Deutschland hat sich nach einem jahrhundertelang dauernden Un¬
glück doch wieder zu dem mächtigen Zentralstaate zusammengefunden, und wenn
man das ausschließlich auf die Einheit der Nation schieben wollte, so würde
man einen schweren Irrtum begehn. Fassen wir dem gegenüber den Widerstreit der
Nationalitäten in Österreich von dem Standpunkt eiuer allgemeinen philosophischen
Politik, so bezeichnet er eine Entwicklungsstufe, die vor der liegt, die wir als
die eines Staates zu betrachten gewöhnt sind. Osterreich ist eigentlich noch
kein Staat, sondern nur ein Reich, worin allerdings die stciatenbildenden Ten¬
denzen rege geworden sind und zum Teil mächtig gegen einander wogen. Darum
aber hauptsächlich — und nicht etwa zunächst infolge des in unsern Tagen
überall geschürften nationalen Bewußtseins — strebt in Österreich jede, auch
die unbedeutendste Nationalität danach, mehr in den Mittelpunkt des Gnuzeu
zu treten und als dessen Kern zu erscheinen, um den sich die übrigen Völker¬
schaften herumlegen und fo allmählich alle zu einer Einheit verbunden werden
sollen. Eigentlich zentrifugale Tendenzen sind doch nur in einem Teile der
österreichischen Italiener und der ungarischen Rumänen, neuerdings much bei
den der großpolnischen Idee wieder nachjagenden Galiziern zu bemerken. Die
„Hohenzollerngelüste" der Schvnerericmer nimmt innerhalb wie außerhalb
Österreichs niemand für ernst. I» dem feindlichen Widerstreben der Nationen
gegeneinander liegt demnach auch noch keine Ursache für den möglichen Zer¬
fall Österreichs.
Staatspolitisch aufgefaßt stellt das heutige Österreich im wesentlichen un¬
gefähr noch deu Zustand dar, der in Frankreich vor Ludwig XI., in Preußen
vor dem Großen Kurfürsten bestand. Diese Länder haben seitdem eine lange
Entwicklung der absoluten und der bureaukratischen Monarchie durchlaufen,
sind dadurch innerlich geeinigt worden und sind mit einem Worte wirkliche
Staaten; der Franzose ist in jedem Falle Franzose, der Preuße fühlt sich zu
allererst als Preuße. Offenbar kann erst dann von einer Staatsverfassung
die Rede sein, wenn man es zu einem wirklichen Staate gebracht hat. Ju
Österreich könnte somit eigentlich nur eine Reichsverfassung am Platze sein-
Aber eine solche muß den Dienst versagen in einer Zeit, die längst den Staat
als die für das Leben der Völker geeignetste Form erkannt hat. Auch Oster-
reich hat einen ziemlichen Zeitraum des absolutistischen und des bureaukratischen
monarchischen Regiments hinter sich, doch hat seine Dauer offenbar nicht ge¬
nügt, ein einheitliches Staatsbewußtsein zu schaffen. Österreichisch — mit
Ausnahme der oben erwähnten irredentistischen Tendenzen — und monarchisch
denken wohl alle, mindestens in gleichem Maße wie in den Nachbarländern,
aber einheitlich fühlen und denken lernen hat man nicht, weil zu keiner Zeit
eine sich gleichbleibende Regierungsform bestanden hat, die erziehend auf das
bunte Völkergemisch hätte wirken können. Man wird dagegen einwenden:
Hat es je eine starrere, geschlossenere Regierungsform gegeben als die Metter-
nichsche, die über ein Mcnschencilter bestand? Gewiß, es war ein großer Ge¬
danke, eines Staatsmanns und eines Großstaats würdig, ein geographisch
wohl abgerundetes Reich zusammenzuhalten, zugleich Deutschland zu beherrschen
und die Oberhoheit in Italien zu behaupten. Die Idee war gewaltig, viel¬
leicht zu groß, und der junge, staatsmännisch begabte Friedrich von Gagern
schrieb darum schon vor achtzig Jahren seinein Vater, dieses Programm sei
rein defensiv, und Österreich könne in Zukunft nur verlieren. Der Verlauf
der politischen Ereignisse hat ihm Recht gegeben; vielleicht kannte er die rein
defensive Natur Metternichs und des österreichischen Staates nur zu gut. Aber
es brauchte wohl nicht so zu kommen. Freilich, um ein so hohes Ziel zu er¬
reichen, mußte man alle positiven Kräfte des Staates mächtig entwickeln, die
beiden Nationen des Reiches mit alter Kultur, Deutsche und Italiener, zur
höchsten Blüte zu bringen suchen, das wirtschaftliche Leben des Staates heben
und die Finanzen kräftigen. Von alldem ist bekanntlich uuter Metternich genau
das Gegenteil geschehn. Ans Furcht vor dem Aufstrebe» der Völker wurde
jede Regung des öffentlichen Geistes niedergehalten, namentlich für die Deutschen
geschah gar nichts, eher förderte man slawische und magyarische Bestrebungen
oder ließ sie wenigstens aufkommen; die wirtschaftliche Entwicklung wurde unter
der beschränkendsten Vormundschaft gehalten und dazu eine so heillose Finanz-
Wirtschaft samt der allemal damit eng zusammenhängende« Bestechlichkeit ge¬
rrieben, daß die Kräfte des Staates bei jeder ernsten Entscheidung, die an ihn
herantrat, versagen mußten. In kurzen schlugen wurde der österreichische Einfluß
aus Deutschland und Italien entscheidend hinausgeworfen, das Staatsprogramm
Metternichs, dessen Regiernngsgrundsütze längst schon zusammengebrochen waren,
hatte ausgelebt und ließ als Nachwehen nur allgemeines Unbehagen und tiefe
Unzufriedenheit, Gefühle der.Demütigung und des Neides zurück.
Man hat nie etwas für die Belebung einer Stantsidee in Österreich ge¬
than, auch nach Metternich nicht; aber wenn man genauer zusieht, darf man
sagen: es ist in Österreich überhaupt niemals regiert worden, sondern man
hat sich von den Ereignissen treiben lassen, Formen und Personen verbraucht,
ohne die geringste leitende Idee, und ist nun scheinbar bei einem Chaos an¬
gekommen, dem allerlei politische Katastrophen zuzutrauen wären, wenn sich
uicht die zusammenhaltenden Fäden stärker erwiesen, als die zerstörenden Nach¬
wirkungen eines Prinzipien- und thatenloser Regiments. Namentlich seitdem
Osterreich den Versuch gemacht hat, ein Verfassungsstaat zu werden, ist es in
einem unaufhörlichen Schwanken und Experimentieren begriffen, ganz im Gegen-
Sache zu seiner Vergangenheit, deren hervorragende Eigentümlichkeit die Un-
beweglichkeit war, wo wie nach anßen, so much um Innern alles in den einmal
eingeschlagnen Bahnen fortlaufen sollte. Diese Unbeweglichkeit hat um seit
beinahe einem halben Jahrhundert einem steten Wechsel der Personen und
Regierungsformen, einer fieberhaften Hast, immer wieder etwas neues in Szene
zu setzen, weichen müssen. So sind seinerzeit das Septcmberpatent, das Oktober¬
diplom, das Februarpatent aus dein Nichts erschaffen, fertig wie ans Jupiters
Haupt hervorgetreten, aber ebenso wieder in nichts zusammengesunken, indem
sie alle gleichmüßig nur die eine Spur hinter sich zurückgelassen haben, die
Verwirrung noch schlimmer, noch unentwirrbarer zu machen. Schließlich ist
man nach 1866 beim Dualismus angekommen, der ja seitdem seinen Bestand
behauptet hat, aber auch nur, weil man Änderungen aus Furcht vor den
Magyaren vermied. Statt dessen hat man namentlich in Österreich einen fort¬
währenden Wechsel in den leitenden Persönlichkeiten beobachten können, der
aber anch das rettende Rezept nicht zu Tage gefördert, souderu die Unklarheit
noch vergrößert hat. Diese Methode der Regierenden hat Nacheiferer gefunden
auch außerhalb der maßgebenden Kreise, und an allen Straßenecken der Jour¬
nalistik und politischen Publizistik preisen dilettierende Staatsmänner ihre
natürlich „unfehlbaren" Nettungspläne für Osterreich an. Sie übersehe» nur
eines: daß in Österreich auch der vollkommenste Nettungsplan nichts helfen kann,
solange mau nicht bei ihm bleiben, sondern ihn verwerfen wird, sobald sich
die ersten Schwierigkeiten zeigen, und alsbald zu einem neuen übergeht. Wie
ich schon bemerkt habe, regiert man eben in Österreich nicht, sondern lebt, oben
wie unten, noch in dein vormärzlichen Ideenkreise, wonach es irgend eine ver¬
fassungsmäßige Staatsform geben müsse, die ohne alles weitere Zuthun die
Länder glücklich und die Völker zufrieden machen werde. Der Erkenntnis
und politischen Erfahrung, daß es nahezu gleichgültig ist, welcher Wortlaut
in Gesetzen und Verfassungen enthalten ist, wenn sie nur sonst vernünftig,
gerecht und energisch gehandhabt und ausgelegt werdeu, hält mau sich fern,
weil eben politisch theoretisieren und experimentieren viel leichter ist als regieren.
Es ist aber ganz gut möglich, allein durch richtige Anwendung der bestehenden
Verfassung die Lösung aller brennenden innern Streifragen in Österreich, sowohl
der Völker als der Länder, durchzuführen, man muß aber regieren wollen und
es auch ein wenig verstehn. Schon die kurze Regierungszeit des Ministeriums
Körber zeigt, daß es gehn würde. Freilich kann in Österreich niemand wissen,
ob er nicht morgens früh mit einem andern Ministerium aufwacht, als mit
dem er sich gestern schlafen legte.
Wie heute die Sachen stehn, denkt keine einzige der österreichischen Nationen
daran, irgend eine ihrer Sonderinteressen der Verwirklichung und Kräftigung
der Staatsidee zum Opfer zu bringen. So stellt sich allerdings jedem Regenten
und jedem Staatsmann in der Aufgabe, die er zu lösen hat, eine Art von
Schraube ohne Ende dar: regieren sie, wie es das Vernünftigste zu sein
scheint, absolutistisch-zentralisierend, so erfahren sie den heftigsten Widerstand
von der föderalistischen Seite; wollten sie sich aber damit begnügen, die einzelnen
„Kronländer" uur in einem Unionsverhältnis zu einander zu halten, so
würden sie schlechterdings außer stände sein, neben den einheitlich zusammen¬
gefaßten Staaten rings um Österreich zu irgend welcher Geltung zu bringen.
Man hat darum auch, außer in der kurzen Hohenwartschen Periode während
des deutsch-französischen Krieges, niemals wieder einen Experiment»ersuch nach
der föderalistischen Richtung hin unternommen.
Merkwürdig genug sind in der ganzen Verfassungszeit in Österreich der
Bachsche Absolutismus und die zentralisierende Regierung von Schmerling
noch immer die Episoden, die als die fruchtbringendsten bezeichnet zu werden
verdienen, und wenn anch die damals herrschenden Grundsätze keineswegs
unsre Billigung finden können, so waren doch wenigstens leitende Gedanken
vorhanden. Als man zur konstitutionellen Verfassung überging, hoffte man,
auf diesem Wege mit einem mal über alle Schwierigkeiten hinauszukommen,
indem man den Völkerschaften alle Vorteile des Staates zuzuführen und sie
zugleich von der Belästigung dnrch die nationalen Sondermteressen zu befreien
glaubte. In der That wurde damit jedem Interesse der Weg geöffnet, zur
Geltung zu gelangen. Man hatte nur die Hauptsache dabei vergesse», daß
nämlich die alle Sondermteressen ausgleichende Kraft der Staatsbildung ihre
Wirkung an den Völkern Österreichs noch nicht hinreichend gethan hatte, und
daß dieserhalb eine umso energischere und umsichtigere Thätigkeit der Staats¬
gewalt nötig gewesen wäre, mäßigend und vermittelnd zu wirken, sowie dem
Staatsinteresse den ihm gebührenden Raum zu verschaffen. Daß eigentlich
keine österreichische Negierung nach dieser Richtung hin ihre Aufgabe erkannt
und erfüllt hat, lehrt die Geschichte jeden Tages der letzten vierzig Jahre.
Unter diesen Verhältnissen mußte sich natürlich der österreichische Konstitutiona-
lismus, wie kein andrer auf dem Kontinent, als arbeitsunfähig erweisen. Dazu
traten noch die besondern Umstände, die in der persönlichen Stellung des
Monarchen, der Wahl der Negieruugsorgnne, uicht minder aber in der Haltung
der Reichsratsabgeordneten wurzelten und alle nicht geeignet waren, die Dinge
in ein besseres Geleise zu bringen.
Die Schmerlingsche Zeit war die letzte, wo noch staatsmännische leitende
Ideen vorhanden waren. Was Schmerling allen gleichmäßig wert machte,
war seine auswärtige Politik: er sollte den wuchtigsten Stoß gegen die ver¬
haßte preußische Macht führen, die Reform Deutschlands in die Hand nehmen
und somit die deutsche Mission Österreichs erfüllen. Außerdem galt Schmerling
dielen als der wahre Hort der Völker nnter dem Habsburgischen Szepter, den
Ländern der ungarischen Krone erschien er als der Vorkämpfer ihres nationalen
Rechts wider die Ansprüche der Magyaren, andern als der Schirmer der Einheit
und der Macht des Reiches, und wieder andern endlich als Vertreter und Be¬
förderer aller geistigen und Knlturinteressen. Aber wer viel von diesem Manne er¬
wartet hatte, sah sich nach einiger Zeit völlig enttäuscht. Mit seiner deutschen
Politik machte er glänzend Fiasko, sein Liberalismus und seine konstitutionellen
Neigungen erwiesen sich vielfach als bloße Koketterie, als die Täuschung der
vierziger Jahre, die jeder liberalen Verfassung aus sich selbst heraus segen-
bnngende Wirkungen beilegte, sodaß man eine solche nur walten zu lassen
brauche. So erschien auch als das Bedenklichste an der Schmerlingschen Ver-
waltung seine unüberwindliche Arbeitsscheu, die mich deu brennendsten Fragen
gegenüber zu keiner energischen Thätigkeit gelangen konnte. Je mehr er dem
Grundsätze huldigte: Wir können warten, desto eifriger rührten sich seine
Gegner; namentlich erstanden die Anhänger der historisch-politischen Individua¬
litäten im Reiche wieder. Am schärfsten tritt die verderbliche Unthätigkeit
Schmerlings bei der Behandlung der ungarischen Frage aus Licht. Damals
lagen die Verhältnisse in Ungarn selbst so vorteilhaft wie möglich; denn dort
waren die Parteien seit der Auflösung des ungarischen Reichstages 1861 im
vollsten Unfrieden, keine wollte das Mißlingen der nationalen Sache ver¬
ursacht haben, jede maß der andern die Schuld bei. Diesen Augenblick hätte
aber eine energische Regierung ausnützen müssen, umsomehr als es im Mittel¬
stande sehr viele gab, die die allgemeinen politischen Interessen über die
Schwärmerei für die nationale Idee des Magyarentums zu stellen bereit waren.
Nun verstand sich doch von selbst, daß eine Negierung, die Österreich zum
konstitutionellen Staate, also zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzufassen
trachtete, mit allen Kräften danach streben mußte, das größte Hindernis der
Einheit, die mit zäher Ausdauer behauptete Sonderstellung Ungarns, so zu
wenden, daß sie sich in das allgemeine Staatsinteresse einfügte. Wir wollen
nicht heute, uach vierzig Jahren, behaupten, daß dieser Versuch hätte ge¬
lingen müssen, aber wenn auch die Umstände ein solches Vorhaben nicht
begünstigt Hütten, so mußte wenigstens seine Ausführung versucht werden. Da die
Schmerlingsche Negierung das unterließ, so kamen die ungarischen Altkonserva¬
tiven wieder zu Einfluß, und der Dualismus in Österreich erhielt in dem an
Schmerlings Stelle tretenden Ministerium Belcredi-Majlath eigentlich zum
erstenmal offizielle Geltung, die sich nach der Katastrophe von 1866 nahezu
im Handumdrehu zur festen Staatseinrichtung entwickelte.
Wir haben der Schmerlingschen Zeit eine ausgedehntere Betrachtung ge¬
widmet, als es vielleicht manchem nötig erscheinen könnte: aber sie ist so recht
belehrend für das innere Wesen der österreichischen Verhältnisse, sie ist auch
in Deutschland uoch allgemein verständlich und in Erinnerung, außerdem läßt
sich an ihr und an den in ihr zu Tage tretenden Erscheinungen alles Nach¬
folgende ohne weiteres leicht erklären. Es gab damals äußere und innere
leitende Staatsidcen: die äußere war, die einstige Habsburgische Kaiserinacht in
Deutschland wieder auszurichten. Daß dies nach dem Verhalten des Kniser¬
hauses seit 1802 und namentlich nach der Entwicklung der dentschen Frage in
den Jahren 1848/9 unmöglich sein würde, ließ sich keineswegs von vornherein
erkennen, wenn es auch sicher schwieriger sein mußte, als man es sich in Wien
vorstellte. Wie freilich einst Joseph II. geglaubt hatte, mit ultraliberalen De¬
kreten die langjährigen Negierungsersolge Friedrichs II. zu erreichen, wenn
nicht zu überbieten, so vermeinte man jetzt dadurch, daß der Liberalismus
Schmerlings die Bismarcksche „Reaktion" überglänze, die ganze wirtschaftliche
und nationale Arbeit Preußens wettgemacht zu haben, und war sogar bereit,
den Ungarn weitere Zugeständnisse zu machen, als sonst irgend jemand in den
Sinn gekommen wäre, wenn sie nur für die deutsche Kaiseridee zu gewinnen
wären. Nach der militärischen Katastrophe ging man keineswegs von diesem
Gedanken ab, sondern hing ihm, jedoch ohne nach Art der Franzosen mit lauter
Revanche zu drohen, um so eifriger nach. Die Berufung Beusts und die voll¬
ständige Kapitulieruug vor den Magyaren waren die Folgen davon.
Seit dieser Zeit ist die österreichische Monarchie mit dem unglückseligen
Dualismus behaftet. Man war unter Veust sogar noch weiter gegangen und
hatte in der Hohenwartschen Episode den Tschechen die Anerkennung des böh¬
mischen Staatsrechts in Aussicht gestellt, um sie für die Revanche an Preußen
zu begeistern. Die Ereignisse von 1870 machten alle diese Bestrebungen zu
nichte; eine leitende Idee für die äußere österreichische Politik, die über die
schlichteste Verteidigung des Bestehenden hinaufginge, giebt es seitdem nicht
mehr. Um so lebendiger sind die staatsbildnerischen Strömungen beflissen, im
Innern neugestaltend aufzutreten, wo sich natürlich als politischer Knotenpunkt
die neue Bildung des Dualismus in den Bordergrund schiebt, die aber außer
den Ungarn niemand recht leiden mag. Dualismus wie Personalunion, die
Verbindung zweier Leiber unter einem Haupt, geben an sich einen überaus
künstlichen, schwer haltbaren Zustand; ein solches Verhältnis mag für die
Herzogtümer Koburg und Gotha erträglich sein, besteht aber in Schweden und
Norwegen, uuter vergleichsweise sehr einfachen Verhältnissen, nur unter fort¬
währender Reibung und schwerer Anstrengung. Solche halbe und schiefe Verhält¬
nisse können in einem Großstaate nicht lange dauern, weil sich immer das Streben
nach straffer Einigung der innerlich verwandten und much ehrlicher Trennung der
innerlich verfeindete« Staatsteile geltend macht. Beide Strömungen treten
sichtbar in Österreich hervor, kommen aber nicht vorwärts, weil ihnen die Ne¬
gierung vollkommen teilnahmlos gegenüber steht, und ohne Unterstützung von
dieser Seite keine der Nationen oder Parteien energisch und mächtig genug
wäre, einen wesentlichen Einfluß zu äußern. Bisher haben die Magyaren den
Vorteil davon gehabt. Sie steuerten 30 Prozent (neuerdings 34), Österreich
aber 70 Prozent (66) zu den gemeinsamen Lasten bei, während der politische
Einfluß, dank der Zerfahrenheit im deutsch-österreichischen Lager, genau im
umgekehrten Verhältnis stand. Daß solche Zustände in einem Staate auf die
Dauer nicht haltbar sind und nur so lange bestehn können, als sie den aus¬
schlaggebenden Willen der Krone zur Stütze haben, liegt nahe genug. Kaiser
Franz Joseph, bei dem die Erinnerungen von 1848 noch nachklingen, ist aber
den Magyaren gegenüber immer streng „konstitutionell" gewesen. Infolge
dessen waren die Ansprüche der Ungarn mit den Jahren so ins ungemessene
gestiegen, daß die österreichischen Regierungen die Zustimmung einer Majorität
des Abgeordnetenhauses zu ihren Vereinbarungen mit Ungarn nnr durch große
Zugeständnisse an die Parteien erlangen konnten. Die Badenischen Sprachen¬
erlasse waren ein solches Zugeständnis, das wohl genügte, dem Ausgleiche die
tschechischen Stimmen, nicht aber die parlamentarische Genehmigung überhaupt
ZU sichern, da die aufs tiefste verletzten Deutschen die Arbeiten des Abgeord¬
netenhauses überhaupt unmöglich machten.
(Schluß folgt)
chon im März dieses Jahres erschien in der Kopenhagner „Na-
tionaltidende" eine kurze Mitteilung nnter der Überschrift „Ein
dreister Plan," die starkes Aufsehen erregte und in der Presse
Dänemarks und Nordschleswigs hin und her besprochen wurde.
Es hieß nämlich, daß in Kopenhagen ein Aufruf oder „offner
Brief" an das deutsche Volk zur Unterschrift zirkuliere, worin die Unterzeichner
auf Grund der letzten Wahl anerkannten, daß die Nordmark nunmehr von
einer stark national gemischten Bevölkerung bewohnt werde, und darum dem
Aufhören des Nationalitätenkampses dort das Wort redeten. Sie rieten den
Dänen im nördlichen Schleswig, sich offen und ehrlich dem stärksten der beiden
Nachbarstaaten ohne Hintergedanken anzuschließen. Als Entgelt sollten in
Schleswig mehr Milde und Schonung von den preußischen Staatsbehörden
geübt werden.
Der als Miturheber des Unternehmens genannte Pastor n. D. Affe Virkedal
berichtigte jedoch öffentlich die Mitteilung dahin, daß ihr nichts andres zu
Grunde liege, als daß er der Redaktion der Zeitschrift „Tilskuercn" einen
Artikel über Nordschleswig und Deutschland übergeben habe.
Dieser Aufsatz ist dann in „Tilskueren" erschienen und zugleich ein zweiter,
der dasselbe Thema behandelt, das Verhältnis zwischen Deutschland und Däne¬
mark. Beide Verfasser, Virkedal wie der Privatdozent Dr. Östrup, haben die
Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf die von ihnen besprochne Sache gelenkt,
und ihre Artikel sind denn auch vielfach besprochen worden.
Auf die ersten kurzen Mitteilungen über den Inhalt der Aufsätze hat man
sie deutscherseits vielfach sympathisch, dünischerseits dagegen ebenso abweisend
aufgenommen. Nachdem man den ganzen Inhalt kennen gelernt hatte, mußte
sich das Urteil auf beiden Seiten moderieren, und für uns Deutsche bleibt
nicht viel andres von der Zustimmung übrig, als daß wir anerkennen müssen,
daß beide dänischen Männer insofern Recht haben, als sie das jetzige Ver¬
hältnis zwischen beiden Staaten als aus die Dauer unhaltbar und schädigend
ansehen. Daß Dünen besonders auf die Schädigungen sehen, die ihrem Vater¬
lande durch ein Mißverhältnis zu seinem großen Nachbar erwachsen, und daß
sie sich ihres Volkes und seiner Zukunft wegen bemühen, das Verhältnis zum
bessern zu wenden, wird niemand verwunderlich finden. Wir würde«? auch
unsrerseits gern ein besseres Verhältnis angebahnt sehen, weil auch Deutsch¬
land davon Vorteil haben würde.
Um ein Verständnis für die Vorschläge Birkedals und Östrups zu ge¬
winnen, muß man natürlich zunächst wissen, wie es zwischen den Nachbarn
an der Königsau steht.
Nach dem Wiener Frieden hatte man in Dänemark natürlich ohne Vor¬
behalt auf das ganze Gebiet der Herzogtümer verzichtet, wenn man vielleicht auch
die Hoffnung nicht aufgab, einmal wieder in den Besitz der Lande zu kommen,
deren Verlust man nicht als selbstverschuldet ansah, sondern als ein Dänemark
angethanes Unrecht, als eine Vergewaltigung durch den starkem, Neue Hoff¬
nung schöpfte man aus dem Passus des § 5 des Prager Friedens, daß die
nördlichsten Distrikte von Schleswig, wenn die Bevölkerung durch freie Ab¬
stimmung zu erkennen gäbe, mit Dänemark vereinigt zu werden, an Däne¬
mark abgetreten werden sollten. Und hauptsächlich in der Aussicht auf Ver¬
wirklichung dieser in vielleicht näher Zukunft liegenden Abtretung fühlten sich
zahlreiche Nordschleswiger bewogen, sich des Rechts zu bedienen, das ihnen
im Artikel XIX des Wiener Friedens gewährleistet worden war, nämlich für
Dänemark zu optieren und die Optionserklürung für ihre Söhne auszusprechen.
Zu vielen Tausenden verließen die Optanten ihre frühere Heimat, um sich in
der neuen, so gut es ging, einzurichten und mit ihren Landsleuten — zu
warten, zunächst auf die Erfüllung der Zusage im 8 5, dann aber auch auf
die zuversichtlich erhoffte Niederlage Preußens im kommenden Kriege mit
Frankreich.
Da sich Dänemark nicht darauf einlassen wollte, gewisse Garantien zu
leisten, die Preußen zum Schutze der unter Umstünden mit den dänischen Be¬
wohnern der nördlichsten Distrikte Schleswigs abgetretenen deutschen verlangte,
wurde die Ausführung des H 5 auf unbestimmte Zeit verschoben. Die Hoff¬
nung auf eine Niederlage Preußens ging 1870 gänzlich in die Brüche, und
die an der Grenze angeblich zu einem Manöver gesammelten dänischen Truppen
konnten wieder abrücken, ohne die Königsau überschritten zu haben. Als nun
das Deutschtum laugsam erstarkte, als 1878 der unglückselige 8 5 durch die
Vereinbarung zwischen Preußen und Österreich „anßer Giltigkeit gesetzt" wurde,
da sahen die Dänen zwar nicht ihr Hoffen anf Nordschleswig als gescheitert
an, sondern nur dessen Erfüllung auf unabsehbare Zeit verschoben. Aufgegeben
War die Hoffnung aber nicht, und Dänemark, offen natürlich nur das inoffizielle,
hat seitdem die Dänen in Schleswig in ihrem Widerstande gegen das Deutschtum
nach besten Kräften unterstützt, das offizielle mindestens indirekt dazu geholfen.
Preußen hat zwar bis in die Mitte der neunziger Jahre zahlreiche Op¬
tanten wieder in den diesseitigen Untcrthanenverband aufgenommen, bis es
sich denn doch in zu vielen Fällen zeigte, daß sich die neuen Bürger des
Landes sofort der intransigenten Agitation anschlössen, aber dennoch leben in
Dänemark viele Tausende geborner Schleswig-Holstciner, die nun nicht mehr
zurückkommen können, und die mit ihren gleichgesinnten Freunden hüben und
drüben auf eine „Wiedervereinigung" hoffen und darum die Agitation in Nord¬
schleswig, die im letzten Ziele dnrcmf hinauswill, stärken und stützen.
Die Krhstallisationspuukte der antideutschen Agitation in Dänemark sind
die sogenannten „Südjütischen (das heißt schleswigschen) Vereine." Es gelb
deren im Jahre 1900 nicht weniger als 59, zerstreut in allen Gegenden des
Landes, mit 9377 Mitgliedern. Ihr Wirken geht natürlich zuerst darauf hinaus,
sich selbst mehr und mehr Mitglieder zu schaffen, von diesen aber wieder Mittel
zu sammeln zur Unterstützung der ganzen Parteiarbeit in Nordschleswig, um
hier dänische Sprache, dänische Gesinnung zu erhalten bis ans den Tag der
„Wiedervereinigung." Die sämtlichen Einzelvereine (s, I?.) bilden ein Ganzes
unter dem Namen „Die zusammen wirkenden südjütischen Vereine" (8. 8. ?.).
Im Schoße dieses Verbandes arbeitet ein „Schulausschuß," ein „litterarischer
Ausschuß" und vermutlich auch ein „Wahlausschuß." Diese Ausschüsse arbeiten
dann entsprechend dem hier bestehenden „Schul-, Sprach- und Wühlerverein"
(vergl. den Artikel „Zum deutsch-düuischeu Streit," Grenzboten III 1896).
Der „Schulausschuß" hat an der preußischen Grenze eine sogenannte „Nach¬
schule" aus eignen Mitteln gegründet und gewährt ihr jährlich 6000 Kronen
Zuschuß. Die Einzelvereine aber unterstützen die sämtlichen „Nach- und Hoch¬
schulen," die an der Grenze gegen Süden angelegt sind. Diese Anstalten sind
aber ausdrücklich für die nordschleswigsche Jugend ins Leben gerufen worden,
und die „Nachschulen" werden fast nur von nordschleswigschen Jünglingen und
Jungfrauen besucht. Der Unterricht ist darauf zugeschnitten, die Zöglinge zu
dcmisiereu. So bemerkte die „Dannevirte" 1895 von der Schule zu Heils,
die Jugend kehre von dn zurück „gestärkt im Glauben an unsre heilige Sache
und im Besitz entwickelter Fähigkeiten, selbst einzugreifen, um sich auf mehr
oder minder hervortretende Weise an unserm geistigen Kampfe zu beteiligen." Von
der Schule zu Wester-Wedsted schrieb der Flensburger „Avis," daß die Fahne
auf hoher Stange, das dänische Wappen am Hause bekunden: „Hier soll der
Däne auf dem Throne sitzen." Von der Hochschule zu Askov schrieb die
„Dannevirte" am 11. Oktober 1898, sie sei die treue Grenzwncht, und vou
ihr gehe eine Jugend aus mit Lebensmut und starken Kräften, dänisch an
Seele und Leib, mit Glauben und Hoffnung darauf, daß Recht aus dem Un¬
recht langer Zeiten hervorwachsen möge, und noch drastischer sagt der Almanak
des dänischen Sprachvereins vou 1895, ein Aufenthalt von drei Monaten auf
einer dänischen Volkshochschule wirke absolut tödlich auf den „Stmnmverwandten-
bazillus." Der dünische Pastor Karl Berthelsen drückt sich noch deutlicher aus
in feiner Schrift „Söuderjylland," wo von den aus Nordschleswig stammenden
Zöglingen der Hoch- und Nachschulen gesagt wird, sie würden deshalb hin¬
gesandt, damit sie heimkehren könnten „wohlausgerüstet, den Kampf gegen
die Preußen und die einheimischen Deutschen aufzunehmen."
Die jungen Leute, die solche Schulen besucht haben, sind fast ausnahmlos
für das Deutschtum verloren. Und es sind dies nicht nur Kinder aus den kraß
dänischgesinnten Familien, sondern auch aus weniger deutschfeindlichen. Es sind
sogar Fülle bekannt, wo teutschgesinnte Handwerker gezwungen worden sind
durch ihre hauptsächlich dünische Kundschaft, ihren Sohn oder ihre Tochter
auf diese Danisierungsinstitute zu geben. Man lockt und droht, je nachdem,
und die Kosten trägt die von Dänemark unterstützte Agitationskasse. So er¬
hielt der „Schulverein," der diese Verselldung junger Leute vermittelt, im
letzten Jahre allein aus Dänemark 12327 Mark. Die Schulen geben ganze
und halbe Freiplätze und nehmen ganz geringes Schul- und Kostgeld (zu¬
sammen 25 Kronen monatlich). Sie können das nur, weil dänisches Geld sie
sämtlich unterstützt. Sogar aus der dänischen Staatskasse hat man den Nach-
Schulen, die doch nur im Hinblick auf Nordschleswig und unmittelbar an der
Grenze angelegt sind, Unterstützungen gewährt.
Der hier bestehende Verein zur Erhaltung der dänischen Sprache erhält
jährlich von drüben, hauptsächlich wieder durch die 8, s, etwa zehntausend
Bücher und Zeitschriften übersandt. Daß auch die staatsfeindliche Presse von
jenseits der Königsau Barmittel erhält, ist offen zugegeben worden,
Nun könnte man sagen: Ja, wenn das Däuentnm hier im Lande von
Dänemark aus auch noch so sehr gestützt und in gewissem Sinne getragen
wird, so ist das ja rein Privatsache und darum nichts dagegen zu machen.
Die Sache bekommt aber dadurch ein eigentümliches Gepräge, daß in den
Z?. zahlreiche dänische Beamte sitzen und zum Teil sogar die Vereine leiten.
Im Jahre 1900 waren in den Vorständen der „südjütischen" Einzelvereine
35 Pastoren, 81 Lehrer, 9 Bahn- und Postbeamte, 9 Militärpersonen, im
Hauptvorstande 8 Pastoren (darunter ein Propst), 45 Lehrer, 6 Bahn- und
Postbeamte, 3 Militärs.
Für die Thätigkeit, die die s. 8. I?. entfalten, ist es charakteristisch, daß
darüber möglichst wenig in die Öffentlichkeit kommt. Das Vereinsblatt „Sönder-
jhden" erscheint unter Ausschluß der Öffentlichkeit, politischen Tageszeitungen
wird untersagt, über gehaltene Vortrüge zu berichten, ja die Namen der Redner
werden gewöhnlich aufs ängstlichste verschwiegen, und es wird nur etwa be¬
merkt: Es redete „ein alter bekannter Südjüte."
Kommt dann und wann eine kleine Mitteilung in die Presse, die nicht
hinein sollte, dann wird das stark gerügt vou den hiesigen dünischen Blättern,
besonders dem des Neichtagsabgeordneten Jessen, das erst kürzlich schrieb:
„Man versteht nur nicht, warum dänische Blätter derartiges veröffentlichen,
das nur dazu geeignet ist, von der Verdeutschungspresse ausgenutzt zu werden. . . .
Warum soll man ihnen diese Waffen liefern." Aus dem, was vor Jahren
— vor Köllers Zeiten — mehr unverblümt, jetzt verblümt in die Zeitungen
gelangt, ist aber wohl ein Bild über die ganz unverantwortliche Herausforde¬
rung gegen Preußen, die in der ganzen Thätigkeit der Vereine und der in
ihnen wirkenden dünischen Beamten liegt, zu gewinnen.
Vor einem Jahre hielten die „Vereinigten südjütischen Vereine" ihre
Generalversammlung in Nyborg ab. Wie immer waren wieder einige nord-
schleswigsche Gäste zugegen. Die Hauptversammlung wurde im Festsanle des
Rathauses abgehalten. Es traten als Redner auf: Schulinspektor Peterse» aus
Nyborg, Bürgermeister Buch dort, Pastor Möller aus Slngelse, Propst Hjorty
aus Nhborg, Pastor Thomasfon aus Räubers, Hauptmann Rimestad ans Kopen¬
hagen und andre. Zum Schluß ihres Berichts über das zwei Tage dauernde Fest
sagt ein dänisches Blatt („Fyeus Stiftstidende") ganz offen: „Mit den Nncht-
schnellzügen reisten die meiste« Südjüten wieder heimwärts — hoffentlich viele
hübsche Erinnerungen mitnehmend von diesem kleinen Feste in Nhborg und
neue Aufmunterung zur Fortsetzung des Kampfes, in den sie unverschuldet
hineingezogen sind." Also zum Kampf gegen ihr eignes Vaterland werden
die Nordschleswiger durch dänische Geistliche, Bürgermeister, Hauptleute er¬
muntert. Welche Nordschleswiger zugegen waren und redeten, darüber schweigen
die Berichte. In einer ähnlichen Festivität in Slcigelse redeten der verstorbne
deutsche Reichstagsabgeordnete Gnstcw Johannsen und der jetzige I. Jessen,
der ein Hoch ausbrachte auf den König von Dänemark.
Nicht nur zu den Jahresversammlungen der s. 3. sondern auch sonst
werden Nvrdschleswiger nach Dänemark geladen und dort gefeiert. Diese „Ver¬
brüderungsfeste" sind in den letzten Jahren seltener geworden und erfreuen
sich weit geringerer Teilnahme. So beteiligten sich an einer im Juli d. I.
nach Nakskov auf der Insel Lolland unternommneu Demonstrationsreise nur
etwa 130 Damen und Herren. Es trat bei dieser Gelegenheit recht eine
Eigentümlichkeit hervor, die wert ist, hervorgehoben zu werden. Mitten in
dem Festrausch mit Prozession durch die fahneugeschmückteu Straßen, Aus¬
fahrt, Festessen, Ball usw. war ein Fcstgottesdienst, Gottesdienst um einem
Wochentage, veranstaltet worden wegen der anwesenden „Südjüten."
Diese Festgottesdienste sind eine ständige Programmnummer bei allen solchen
Festen. Welcher Art die Predigten bei diesen Anlässen sind, verrät uns eine
im Wortlaut vorliegende Predigt, die von Pastor Johannsen aus Svaninge ge¬
halten wurde über 1. Chron. 4. In dieser Predigt spricht er von dem kleinen
dänischen Volk, das „übermächtige Feinde zerstückelt," von der Art und Weise,
wie „mit den Brüdern und Schwestern südlich von den Grenzpfählen umge¬
gangen wird," von der „Scheide, die unsers Volkslebens Feinde gesetzt haben
und zwischen uns zu befestigen suchen," von einem erweiterten Lnndergebiet,
das Gott den Dänen schaffen solle, „nicht durch Lüge und Gewalt und Trug,"
wo das dünische Volk ein wahres, gesundes, edles, freies Volksleben entfalten
kann, „ob denn die Welt sich noch so sehr als ein Mörderstand geriert, wo
die Wahrheit gekreuzigt wird, und wo das Recht auf der Schwertspitze sitzt."
Kein Stand in Dänemark mischt sich so in die Angelegenheiten Nord¬
schleswigs, wie der der Geistlichen. So ist es eine Thatsache, daß in den
dänischen Kirchen allsonntäglich im Gebet der Nordschleswiger gedacht wird,
die Gott doch wieder mit Dänemark vereinigen wolle. Ein dünischer Bischof
hielt vor ein paar Jahren eine förmliche Kirchenversammlung ab zur Besprechung
der Hilfe, die man den Nordschleswigern bieten könnte.
Die meisten dänischen Flugschriften über Nordschleswig und zahllose
Zeitungsartikel sind von dänischen Pastoren verfaßt. Der verstorbne Pastor
Mörl-Hansen wandte sich 1889 in einem „offnen Brief" an die preußischen
Pastoren hier und forderte sie auf, gegen die bekannte Sprachenordnung zu
opponieren. Nur einmal hat sich die dünische Negierung veranlaßt gesehen,
gegen einen Geistlichen der dortigen Landeskirche vorzngchn. Der Pastor Otto
Rosenstand griff nämlich die hiesigen Geistlichen in so unerhörter Weise an, daß
sich die Gesandtschaft mit der dänischen Regierung in Verbindung setzte. Der
Kultusminister erteilte Roseustaud einen scharfen Verweis. Die Schrift war
aber von den 8. 8. herausgegeben, und man hätte annehmen dürfen, daß
nunmehr die dänische Regierung die Beamten veranlaßt Hütte, aus Vereinen
auszutreten, die ihr selbst Unannehmlichkeiten bereiten. Aber es ist nicht ge¬
schehn, und nach wie vor wenden sich dünische Geistliche an die preußischen
Unterthanen in Nordschleswig und versuchen eine Beeinflussung, wenn politische
Wahlen bevorstchn. Ebenso ungestraft befassen sich die übrigen dänischen Be¬
amten mit den Umtrieben zur Stärkung dänischer Nationalität im deutschen
Lande. So sprach der Amtmann von Ripen bei einem Fest sein Bedauern
aus, daß keine „Südjüten" zugegen wären. Ob eine bald darauf erfolgte
Versetzung des Herrn mit dieser Taktlosigkeit zusammenhing, wage ich nicht
zu behaupten. Im Jahre 1899 machten junge Mädchen von hier auf Ein¬
ladung „südjütischer Vereine" eine Reise nach Kopenhagen. Die dortigen
Zeitungen brachten Artikel mit der Überschrift „Die südjütischen Mädchen" und
erzählten, wie diese Gäste gefeiert worden waren. Wieder traten dänische
Staatsbeamte dabei hervor, so der Postmeister Demeter, Bürgermeister Neu¬
mann, Oberstleutnant Rasmussen, Amtsverwalter Funck in Frederiksborg. Da
wurde geredet auf die „südjütische Sache," auf den König usw. Daß bei allen
Agitationsreisen unsre Behörden deutlich gezeigt bilden, daß ihr dergleichen
mißliebig, daß sie mit Ausweisungen vorgegangen ist usw., alles dieses scheint
die dänische Regierung nicht haben bemerken zu wolle». Dadurch ist das
Verhältnis doch erst recht ein auf die Dauer unhaltbares geworden. Die
Beamten in Dänemark haben wohl darin ein gewisses Sicherheitsgefühl für
ihre verhetzende Thätigkeit gegen den Nachbarstaat gefunden, daß sie sich sagten,
offiziell erkenne ihre Regierung ja anch nicht die jetzige staatsrechtliche Stellung
des nördlichen Schleswigs an. Dünemark hat ja in den Herzogtümern bei
dem doch nicht geringen Schiffsverkehr in unsern Häfen nirgends eine Kon-
sularvertretung eingerichtet.
Hält sich so der nördliche Nachbar im Schmollwinkel, und läßt er seinen
Beamten freie Hand in einer unglaublich taktlosen Beteiligung an der staats¬
feindlicheil Agitation der nordschleswigschen Protestler, dann ist natürlich nicht
ausgeblieben, daß wiederum unsre Behörde Rückschlag auf Schlag erteilt hat.
Da werde» keine dänischen Schauspieler oder Rezitatoren oder Nuderklubs zu¬
gelassen, der Besuch von Dänemark ans in den nördlichen Kreisen wird streng
kontrolliert. Da werden die Teilnehmer an Verbrüderungsreisen oder an Ver¬
sammlungen jenseits der Grenze polizeilich notiert, die dünischen Unterthanen
im Dienst dieser Teilnehmer ausgewiesen usw.
Es ist das ein Krieg im Frieden, wie denn einer der dänischen Haupt-
agitatoren, der dänische Schulinspektor Joh. Ottosen, den jetzigen Zustand als
den dritten schleswigschen Krieg bezeichnet hat, derselbe Herr, der den neu¬
gewühlten Reichstagsabgeordneten Jessen als den „Vertreter Dänemarks in
Berlin" feierte — der Gipfel der Unverschämtheit.
Wir wollen bei diesen Verhältnissen gern mit besonnenen Dünen über¬
einstimmen und sagen, es sei wünschenswert, daß da eine Änderung eintrete.
Es fragt sich bloß, ans welche Weise. Hier setzt nun Birkedal in seinem Auf¬
satz ein. Seine Einleitung zeigt aber schon, daß er in denselben geschichtlichen
Irrtümern befangen ist wie seine Landsleute meistens, daß er dieselbe Hoffnung
hegt, wie diese. Und so ist es uns ganz verstündlich, wenn ihm von dänischer
Seite hier im Lande das Zeugnis gegeben wird, er fühle warm für die schief-
^igsche Sache und habe das uuter anderm gezeigt, als er Pastor war in Ripen.
birkedal sieht in den Ereignissen von 1864 eine Vergewaltigung Dänemarks
durch den Stärkern, der ihm ein „altes dünisches Kronland" entrissen habe. Er
erkennt nicht die Aufhebung des 8 5 des Prager Friedens an, weil dieser
unmöglich durch Übereinkunft der beiden Großmächte umgestoßen werden könne.
Er sieht die Möglichkeit, daß dieser Paragraph wieder anstehe, er bekennt, daß
solche Gedanken ihm mehr seien als Träumereien. Aber — das ist sein Leit¬
motiv — zur Zeit ist wenig zu hoffen, gar nichts zu erreichen. Und wenn
es so weiter geht, dann wird Nordschleswig ganz deutsch, ehe die „Träumereien"
Wirklichkeit geworden find. Darum muß es Dänemarks wegen anders werden.
Dänemarks wegen! Die dünische Nation ist in ihrer Existenz bedroht, wenn
Schleswig erst ganz dem Deutschtum gewonnen ist. Die Leute, die oft so zu¬
versichtlich über die Zähigkeit sprechen, mit der die dünisch gesinnten Nord-
schlcswiger ihre Nationalität verteidigen, dieselben Leute sind ganz hoffnungs¬
los, sobald sie sich denken, daß das eigentliche dänische Volk selbst seine Sprache,
sein Volksleben wahren soll. So schrieb der so chauvinistische Pastor Joh.
Clausen in dem Kopenhagner Blatt „Vort Forsvar": Es haben sich „Hoff¬
nungslosigkeit und der Geist der Mutlosigkeit auf einen großen Teil des Volks
gelegt. Es werden ihrer mehr und mehr, die hierin sicherlich mit Grund ein
Todeszeichen sehen, und die Angst zieht durch viele dünische Herzen, daß
Dünemark zum Tode verurteilt ist, daß seine Tage als selbständiges freies
Volk bald gezählt sind."
Daß die Königsau nicht „eine der Verdeutschung halt gebietende Scheide"
bilden würde, sondern daß das Deutschtum bald tausendfach nach Norden
züngeln würde, daß die dünische Sprache bald ein mit der Schwindsucht be¬
haftetes Wesen sein würde, sagt auch Dr. G. Brandes. Weil also dünische
Sprache und dünisches Volkstum bedroht sein werden in dem Augenblick, wo
das Deutschtum an der Königsau siegend anlangt, darum der heftige Kampf
der chauvinistischen Gruppe in Dänemark und hier, darum von der andern
Partei, deren Sprecher zur Zeit Affe Birkedal und I)r. Östrup in Dänemark,
die Frau Wildenradt-Krabbe in Hadersleben sind, der Ruf nach Annäherung und
friedlichem Anschluß an Deutschland. Wenn die Dänen zunächst den sow«
<iuo anerkennen, die heftige Tonart gegen Preußen-Deutschland aufgeben, dann
erhofft man Schonung der dänischen Nationalität in Nordschleswig, handels¬
politische Vorteile für Dünemark, besonders für die Ausfuhr seiner landwirt¬
schaftlichen Produkte nach dem deutschen Markte, und endlich vielleicht einmal
die freundnachbarliche Abtretung Nordfchleswigs. Das ist der Gedanke Virke-
dnls und Ostrups. Vor allen Dingen soll also in der Nordmark die dänische
Sprache neben der deutschen in Schule und Kirche, ja womöglich auch im Ge-
richtssaal bleiben oder eingeführt werden. Nordschleswig, das jn jetzt schon
stark national gemischt ist, soll das „Stoßkissen" bleiben zwischen Deutschtum
und Dänentum.
Man kann es dem Dänen nachfühlen, daß er um die Zukunft seines Volks-
tums besorgt ist, und kann es verstehn, daß er einen Plan fassen kann, wie
der Gefahr, die seiner Nationalität droht, vorgebeugt werden könne, aber ihm
weiter zu folgen ist denn doch für uns Deutsche unmöglich. Birkedal irrt sehr,
wenn er meint, die dänische Bevölkerung im nördlichen Schleswig sei leicht
zufrieden zu stellen. Frage er einmal den Abgeordneten Hauffer, ob ihm genug
ist mit etwas Schonung der dänischen Sprache. Nein, „Nur" wollen nicht
nur das Recht der dänischen Sprache, sondern „wir" fordern auch eine Ver¬
legung der Grenze nach Süden. Und leider ist der größte Teil der dünisch-
gesiunteu Bevölkerung durch alle möglichen Mittel in dem Wahne erhalten
worden, daß die Wiedervereinigung mit Dänemark nur eine Frage der Zeit
sei. Auch Birkedal selbst kaun sich ja nicht der leisen Hoffnung entschlagen,
und es ist also ihm nur deshalb um den augenblicklichen Friedensschluß mit
Deutschland zu thun, daß die Möglichkeit einer spätern Verbindung mit Däne¬
mark offen gehalten werde.
Kann ein Däne im Ernst verlangen, daß Preußen unter diesen Verhält¬
nissen dem Däneutum in Nordschleswig Einräumungen mache? Auf dem Ge¬
biet der Sprache wären sie sehr zum Schade» der Bevölkerung selbst, was ich
hier nicht weiter ausführen möchte. Aber auch sonst würde ein Preisgeben
der Nordmark zum „Stoßkisseu" auf unabsehbare Zeiten nicht eine Beendigung
des nationalen Kampfes bedeuten, sondern nnr eine Verlängerung. Wollen
die Dünen hier im Lande Ruhe und Frieden halten, dann fühlen sie gar
keinen Druck der festen Hand. Wollen die Dänen im „Königreich" ein besseres
Verhältnis mit Deutschland, daun mögen sie sich der Unterstützung unsrer
intrausigeuten Dänen enthalten, besonders aber möge man darauf Bedacht
nehmen, den dänischen Beamten aller Art die geradezu unausstehlichen Treibereien
zu untersagen. Die eigentliche Hilfsquelle der dänischen Wühlereien liegt im
Auslande, in Dänemark. Zu eiuer Besserung des Verhältnisses zwischen
Deutschland und Dänemark hat dieses ganz allein die Initiative zu ergreifen,
aber mit „offne» Briefen" an das deutsche Volk auf Grund Birkednlscher
Vorschläge läßt sich nichts erreichen.
ein Leser der letzten vier Aufsätze wird sich die Frage aufgedrängt
haben, ob nicht heute das Christentum gegenüber der atheistischen
Philosophie genau in derselben Lage sei, wie in Julians Zeit
dem Christentum gegenüber die Religion der Griechen; man liebt
es ja überhaupt, unser Zeitalter dem der römischen Kaiser ähnlich
SU finden. Aber die Ähnlichkeiten sind sehr oberflächlicher Art, und die Uu-
ähnlichkeiten überwiegen. Auf dem sozialen und dem politischen Gebiete be¬
schränkt sich die Ähnlichkeit darauf, daß auch wir starke Gegensätze zwischen
^rin nud Reich und einen raffinierter Luxus haben, daß in einigen Staaten
^le Neigung zum Cäsarismus und zum Imperialismus hervortritt, und daß wir
U> Deutschland nach der Ansicht mancher Leute ein wenig Byzantiner geworden
^n sollen. Sieht man jedoch genauer hin, so gleicht unsre heutige Welt der
kaiserlich römischen nicht im mindesten. Deren Gebiet war der kleine orvis
tsri-N-um, wie man übertreibend die Mittelmeerländer nannte, der heutige Erd¬
kreis umspannt die Oberfläche der Erdkugel. Die Bewohner jenes sogenannten
Erdkreises waren mit ihren Aufgaben fertig und hatten nichts weiter zu thun,
als die teils verwesenden, teils mumifizierten Reste ihrer Kultur gegen die
Barbaren zu verteidigen, heute sehen sich die Völker vor einer Menge neuer
Aufgaben, deren Lösung ihre ganze Kraft in Anspruch nimmt.
Mit dieser Thatsache steht die in den geschichtsphilosophischen Gedanken
niedergelegte pessimistische Auffassung nicht im Widerspruch. Dieser Pessimismus
besteht bloß darin, daß das Traumbild eines Himmels auf Erden zerstört
wird, den die Fortschrittsoptimisten von der Kulturentwicklung erwarten. Aber
den Untergang habe ich unsrer Kultur nicht prophezeit, sondern bei jeder Ge¬
legenheit als die Hauptwirkung des technischen Fortschritts hervorgehoben, daß
er durch die Umwälzungen, die er zur Folge hat, den Menschen fortwährend
neue Aufgaben stellt, sie zu deren Lösung, also zur Arbeit zwingt und durch
die Arbeit die Völker lebendig erhält. Alle Kulturvölker sehen wir heute in
fieberhafter Bewegung, in stürmischer Gärung, während die griechisch-römische
Menschheit der Kaiserzeit einem Manne glich, der schläft und sich nur regt,
um die störenden Fliegen abzuwehren: die Steuererheber und die Barbaren.
Alle Gelehrtcnarbeit bestand damals im ewigen Wiederkäuen überlieferter
Weisheit; heute müssen wir, wie schon Goethe geklagt hat, aller fünf Jahre
einmal umlernen, was sehr unbequem ist, aber vorm Einschlafen schützt. Dem¬
gemäß war die Grundstimmung der alten Welt pessimistisch, die der heutigen
ist optimistisch; denn wo sich die Verhältnisse bestündig ändern, da darf man
auch auf Besserung hoffen. Die Hoffnung mag in den meisten Füllen un¬
berechtigt sein, aber sie ermutigt zum Handeln und erzeugt Thatkraft. Damit
hängt zusammen, daß die edelsten Menschen der Cäscirenzeit Asketen wurden
und auf die Kindererzeugung verzichteten, was mit den elenden sozialen Ver¬
hältnissen zusammen die stete Abnahme der Bevölkerung zur Folge hatte,
während sich heute die Bevölkerung der meisten Kulturstaaten in dem Maße
vermehrt, daß wir uns zur Besiedlung aller noch dünn bevölkerten Länder
der Erde gezwungen sehen, was neue Schwierigkeiten und Verwicklungen und
damit eine unabsehbare Kette neuer Lebensaufgaben erzeugt. Und wenn im
Nömerreich das Land aus Mangel an Bedauern verödete und die nach ur¬
alter Schablone schläfrig weiter betriebnen Handwerke und Künste verkümmerten
und erstarrten, so sehen wir dafür bei uns die Landwirtschaft, durch ihre berühmte
Not gestachelt, sich immer mehr vervollkommnen, und die von der Konkurrenz¬
peitsche getriebnen Geistesarbeiter und Techniker immer neue Gewerbe und
immer neue Formen der alten erfinden. Es giebt mir ein Land, dessen
agrarische Zustände eine überraschende Ähnlichkeit mit denen des Cäsnrcnreichs
zeigen, das ist Rußland; nur daß dessen Bauernelend nicht durch das Absterben
einer alten Kultur verschuldet wird, sondern daraus entspringt, daß die Re¬
gierung einer der Kultur gänzlich ermangelnden Bauernschaft die Mittel zur
Befriedigung der Bedürfnisse des modernen Großstaats auspreßt. Was endlich
den modernen Luxus betrifft, so weckt er im Unterschiede zum antiken ebenfalls
die Lebensgeister, indem er zur vielseitigsten produktiven Thätigkeit, die hier
nicht beschrieben werden kann, teils anregt teils zwingt.
Nicht minder groß sind die Unterschiede nuf dein religiösen Gebiete. Ähnlich
ist unsre Zeit der damaligen darin, daß alle alten Formen des Glaubens und
des Aberglaubens wieder aufleben, daß die Religiousmengerei fleißig betrieben
wird, und daß dein alten Glauben ein neuer entgegentritt mit dem Ansprüche,
ihn zu entthronen. Aber der alte Christenglaube ist nicht so schwach, wie in
Julians Zeit der Glaube an den Olymp war, und der neue Glaube ist sehr
weit entfernt davon, mit dem Christenglauben in der Lebenskraft wetteifern
zu können; schon dumm weit entfernt davon, weil er nicht einer ist, sondern
ein Gewirr einander widersprechender und zum Teil einander feindlicher Mei¬
nungen. Der Hartmannische Idealismus ist gerade das Gegenteil des Hückelschen
Materialismus, unsre optimistischen Soziologen verabscheuen den Pessimismus
Schopenhauers, und ein schrofferer Gegensatz läßt sich gar nicht denken als
der zwischen Bebels Utopie und dem Übermenschen Nietzsches oder der Sozinl-
nristokratie eines Alexander Tille. So stehn der christlichen Kirche gegenüber
einerseits eine Menge Offiziere ohne Soldaten: Häupter von Philosophen-
schulen und Neligionsvcrbesferer — andrerseits eine Volksmasse, die den Himmel
auf Erden hofft, es aber zu einer lebenskräftigen neuen Religion nicht bringt,
weil sie nicht einmal über ein philosophisches, geschweige denn ein religiöses
Genie verfügt. Da aber nun einmal eine für Kulturzwecke gestiftete große
Gemeinschaft ohne eine Metaphysik nicht bestehn kann, so muß sie sich — darin
wirklich recht proletarisch — mit abgelegten Kleidern behelfen: mit den ver¬
alteten Lehren von „Bourgeois"-Philosophen.
Die christliche Kirche hat dieser kopflosen Masse und jenen Franetireurs
gegenüber zunächst ihren sehr soliden historischen Besitzstand an Gütern idealer,
Materieller und gemischter Art. Ihr materieller Besitz an Grundstücken, Kapi¬
talien und gesicherten Einkünften bei allen Konfessionen verleiht ihr Macht,
und was mehr sagen will, was ihr durch periodische Konfiskationen entzogen
Worden ist, wird durch neue Spenden ersetzt. Die Milliarden der französischen
Kongregationen sind ja wohl größtenteils nur in der Phantasie der Anti¬
klerikalen vorhanden, aber daß Tausende von Schulen, Krankenhäusern, Spitälern,
Missionsanstalten viel Geld kosten, ist unbestreitbar, und daß diese Geld¬
summen aufgebracht worden sind und wahrscheinlich auch in Zukunft werden
aufgebracht werden, ist Thatsache. Und auch was die Protestanten Englands,
Nordamerikas, Deutschlands für religiöse Zwecke und für im religiösen Sinne
geübte Werke der Nächstenliebe spenden, ist wahrlich nicht gering. Diese
Leistungen beweisen, daß die ideelle Wurzel, aus der dieser materielle Reichtum
hervorwüchst, noch nicht verdorrt ist, und will man diese Wurzel Aberglauben
Nennen, so hat nun, damit zwar ihren Wert herabgesetzt, ihre Lebenskraft aber
nicht geleugnet. Und welche Macht liegt in den viel hunderttausend Pfarr¬
sprengeln der Kirchen, einer Einrichtung, die das Heidentum nicht gekannt
hat! Der Einfluß der Pfarrgeistlichen, des Gottesdienstes und der Gemeinde-
Einrichtungen auf die Lebensweise, die Sitten, die Denkungsart und das Em¬
pfinden des Volkes hält in den meisten Staaten dem der weltlichen Verwaltung
und Schule das Gleichgewicht, sodaß der Staat leicht selbst in Gefahr gerät,
wenn es ihm nicht gelingt, sich mit der Kirchenverwaltung ins Einvernehmen
zu setzen. Wenn die Bevölkerungen ganzer Landschaften das Kirchegehn ver¬
lernt haben, so ist das noch kein Beweis dafür, daß sie mit der Kirche, mit
dein Christentum entschieden gebrochen hätten. Die Männer solcher Gegenden
wollen immer noch, daß ihre Weiber und Kinder Religion haben solle,?, und
sie selbst wollen meistens nicht auf die religiöse Weihe der wichtigsten Lebens¬
abschnitte verzichten. Ausgesprochne Feinde der christlichen Religion sind nur
die Sozialdemokraten. Diese machen aber in keinem Lande die Mehrheit aus,
und bei weitem nicht alle Genossen teilen den fanatischen Religionshaß der
Führer. Daß die Kirche seit etwa sechshundert Jahren auf allen Gebieten
des Kulturlebens die Führung verloren hat, bald keifend hinter der Fortschritts¬
armee einherhinkt, bald deren Lauf zu hemmen versucht, bald durch die Kon¬
kurrenz um die Volksgunst und den Trieb der Selbsterhaltung gezwungen sich
wieder an einzelnen Stellen zur Führung drängt, gereicht ihr nicht zur Ehre,
aber indem sie doch immerhin noch auch unter den heutigen Verhältnissen
Kulturarbeit zu leisten vermag und kein kleines Quantum solcher leistet, beweist
sie ihre Daseinsberechtigung, und daß sie sich uoch keineswegs überlebt hat.
Vor allem aber: sie ist nicht tot in dem Sinne, wie es im Anfang der
christlichen Ära der hellenische Polytheismus war, und sie kann in diesem Sinne
überhaupt uicht sterben. Der neuplatonische Versuch, den Olymp durch Um-
deutung in Metaphysik zu retten, mußte aus dem doppelten Grunde mi߬
lingen, daß der Neuplntonismus nicht echte Metaphysik sondern thevsophische
Schwärmerei war, und daß die griechischen Nationalgötter unmöglich die
Symbole der göttlichen .Kräfte und Kraftäußerungen für alle Völker und
Zeiten werden konnten. Die Lehren des Christentums dagegen sind Nieder
mit nationalen noch mit Zeitvorstellungen unlöslich verschmolzen und vertragen
sich mit jeder echten Metaphysik. Daß die Welt ihren zureichenden Grund
haben müsse, wird kein MetaPhysiker leugnen. Daß dieser Weltgrund sein
eignes, jenseitiges, von der Welt unabhängiges Leben hat, daß er bewußt ist
und die Welt in der Zeit erschaffe« hat, kann die Metaphysik weder beweisen
noch widerlegen. Nur das hat, wie schon bemerkt worden ist, der Meta¬
Physiker zu fordern, daß ihn die Kirche uicht zwinge, das Dreifaltigkeitsdogina
für mehr als ein schönes Symbol des innern Lebens der Gottheit und ihrer
Beziehungen zur Welt und zur Menschheit zu halten, daß er es dahingestellt
sein lassen dürfe, in welchem Maße das Symbol die Wirklichkeit ausdrückt.
Ähnlich verhält es sich mit dein christologischen Dogma. Da jede Wirkung
eine entsprechende Ursache voraussetzt, so kann es dem Denkenden gar nicht
einfallen, in Christus eine» gewöhnlichen Menschen, d. h. einen bloßen
Menschen sehen zu wollen. Zweifellos waren in ihm göttliche Kräfte wirksam,
die keinem andern Menschen verliehen worden sind, und die ihn befähigten,
der Mittelpunkt der Weltgeschichte zu werden. Die Art und Weise nun, wie
die Kirche diesen außerordentlichen Menschen beschrieben und sein Wesen definiert
hat, befriedigt das Volk und nötigt den Denker nicht zum Widerspruch; denn
dieser muß bekennen: ich vermag schon das Wesen des gewöhnlichen Menschen
nicht wissenschaftlich zu ergründen und zu analysieren, wie sollte ich die seit
zwei Jahrtausenden in der Menschheit mächtig fortwirkende Person Christi
begreifen können? Nur muß er sich wiederum ausbedingen, daß er nicht ge¬
zwungen werde, die zwei Naturen und die zwei Willen in der einen Person
»ut die Identität der göttlichen Natur in Christus mit der zweiten göttlichen
Person wörtlich zu nehmen. Das Dogma drückt ihm die unbestreitbare That¬
sache aus, daß in Jesus die Menschheit mit der Gottheit auf eine unbegreif¬
liche Weise vereinigt, daß im Menschen Jesus die Gottheit anders und
gewaltiger wirksam gewesen ist als in alleu andern großen und guten Menschen.
Das Wie dieser Thatsache bleibt uns selbstverständlich so verborgen wie das
Wie Gottes selbst und aller seiner Werke, den Menschen eingeschlossen. Aber
der gemeine Mann begreift diese Unmöglichkeit des Nichtbegreifens nicht, weil
er gewöhnt ist, Worte für Erklärungen zu halten. Darum will er ein be¬
stimmtes Wort haben; er fragt seine Kirche: Ist Christus wirklich Gott, oder
ist ers nicht? Und wenn er ihr treu bleiben soll, so muß sie ihm eine un¬
zweideutige Antwort geben. Daß diese Antwort uur in Worten besteht, die
dem Denkenden gar nichts sagen, davon hat er keine Ahnung. Der Denkende
darf es also, wie schon bemerkt wurde, der Kirche uicht übel nehmen, daß sie
das Bedürfnis des gemeinen Mannes befriedigt, aber die Kirche muß auf¬
hören, die Denkenden deswegen von sich auszuschließen, weil sie erkennen, daß
die Worte des Dogmas eben nur Worte sind. Sie wird sich mit der Zeit
dazu verstehn, wie sie anch schon hat aufhören müssen, die Denkenden zu ver¬
brennen.
Die Zahl der erklärten Feinde des Christentums, die in ihm mit den
französischen Encyklopädisten oder mit Nietzsche einen Schädling sehen, ist klein
geworden; sogar die Sozialdemokraten hassen zwar die Kirche, lieben aber
Jesus von Nazareth. Und wenn von den Gegnern der Orthodoxie die einen,
wie Harnack, zwar das christologische Dogma streichen, aber am Jesus der
Synoptiker festhalten, die andern, wie Ednard von Hartmann, zwar diesen
Jesus los werden, aber das christologische und das Trinitätsdogma — natür¬
lich nicht im Sinne der Orthodoxen — zur Grundlage der Religion der Zu¬
kunft macheu Wollen, so beweisen sie damit, daß unsre Kulturwelt von dem
nicht loskommen kann, den die erleuchtetsten Geister mit den Völkern seit
Jahrhunderten als den Mittelpunkt der Weltgeschichte anerkannt haben, und
daß „icht leicht ein bedeuteuder Geist das letzte Fädchen zerreißt, das ihn mit
jenem verbindet. Gegen das heute in der protestantischen Gelehrtenwelt viel¬
fach hervortretende Streben, das ganze Christentum ausschließlich auf die Ver¬
ehrung und die Nachfolge des historischen Menschen Jesus oder auf die Gottes-
^erehrnng in seinem Geist und Sinn zu beschränken, hat sich ein Mitarbeiter
der Preußischen Jahrbücher (Ferdinand Jakob Schmidt im Januarheft 1902)
w einem geistreichen Aufsatze gewandt. Chamberlain, der Verfasser der „Grund¬
lagen des neunzehnten Jahrhunderts," hatte eine Sammlung der Worte Christi
herausgegeben, aus denen er Stimme und Ton des wirklichen, des historischen
Tesus zu vernehmen glaubt. Schmidt führt nun aus: Der Versuch, aus deu
borhnndneu Quellen den historischen Jesus zu rekonstruieren, sei „auf der
ganze« Linie gescheitert," und die christliche Religion ausschließlich auf diesen
historischen Jestis zu stellen, anf seinen Erdenwandel, würde eine Verflachung
des Christentums bedeuten. Das Unternehmen sei unausführbar, weil die
Synoptiker gar nicht das Bild Jesu, souderu die Zustände der llrkirche dar¬
stellten. Die angeblichen Worte Jesu seien in Wirklichkeit Antworten der Vor¬
steher auf Fragen und Zweifel, die ihnen von der Gemeinde vorgetragen wurden.
Der lebende Jesus habe die Jünger so wenig zu fesseln vermocht, daß sie bei
der ersten ernstlichen Gefahr, die ihm drohte, alle fortliefen, zu ihrem Gewerbe
zurückkehrten und ihn halb vergaßen. Erst sein Tod habe ihnen die Augen
geöffnet, sei ihnen zur Auferstehung, zur Erlösung geworden. Dieses Er¬
wachen zu neuem Leben im Geiste Jesu sei so gewaltig gewesen, daß es ihnen
nicht allein Visionen vorgespiegelt, sondern auch die Kraft zum Glauben und
zur Gründung der Kirche verliehen habe. Diesem höhern Dnsein gegenüber
habe das historische Leben des Meisters, und was er etwa in seiner vergäng¬
lichen Gestalt aus zufälliger Veranlassung einmal gesagt und gethan habe,
keinen Wert mehr gehabt. Sein Tod habe sie ja gerade befreit von den
Banden des geschichtlichen Lebens; nicht der irdische Jesus, sondern erst der
gekreuzigte und der in ihrem Geiste nuferstaudne habe ihre Seelen befreit.
„Aus diesem auferstandnen, gegenwärtigen Geiste bemaßen sie des Lebens
Schritte, nicht aber gründeten sie es auf bloße, ärmliche Reminiscenzen an
geschichtliche Vergangenheit. Das Leben lag vor ihnen, nicht hinter ihnen.
Nicht der geschichtliche Jesus, sondern der im Geiste auferstandne war das Haupt
der Gemeinde; er leitete, tröstete, ermahnte sie und sprach zu ihr durch seine
Jünger." Alls dieser Gleichgültigkeit der Jünger gegen den historischen Jesus
erklärt es sich, daß wir nicht einmal von seinem Leiden und Sterben einen
zuverlässigen Bericht haben, lind das ist gut so. Der Mohammedanismus ist
dadurch der Versteinerung verfallen, daß die geschichtliche Wirksamkeit des
arabischen Propheten, und der temporäre Ausdruck seiner Lehren als das ein
für allemal Entscheidende festgehalten und so eine vertiefende Erweiterung von
innen heraus unmöglich gemacht wurde. Gerade darum sei die christliche
Religion die reinste und die lebensfähigste, „weil sie von vornherein die reine
Kraft des in ihr wirkenden Geistes von der lähmenden Fessel ihrer ersten ge
schichtlichem Ofsenbarungsform zu entbinden berufen war, sodaß dieser Geist
immer neue und wieder neue Formen aus sich heraus zu erzeugen vermochte,
ohne doch an irgend eine von ihnen dauernd gebunden zu sein." Alle andern
Religionsstiftungen hätten höchstens die Kraft zu einem Sprung auf eine
höhere Stufe gehabt, auf der die neue Religion dann verharrt sei. Die christ¬
liche Religion allein habe nicht bloß die Kraft zu einem einmaligen Sprunge
erzeugt, sondern die Energie zu einer endlosen Entwicklung. Alle Religion
sei nichts andres als Mittel und Ausdruck der Erlösung, d. h. der innern
Befreiung des Menschen, und das Christentum habe der Menschheit die Er¬
kenntnis erschlossen, daß diese Befreiung auf keiner Stufe der Entwicklung end-
giltig gegeben, sondern daß sie ein unendlicher Prozeß sei. Gewiß habe der
in den Jüngern wach gerufne Gottesgeist auch in dein Menschen Jesus gelebt
und durch ihn gewirkt, aber doch eben auch nur in der durch die Leiblichkeit
und die Zeitumstünde gegebnen Beschränkung. Deswegen sei nicht der irdische,
historische Jesus, sondern der gekreuzigte und auferstandne der Stifter des
Christentums geworden. Die göttliche Kraft Jesu sei zwar dieselbe gewesen im
Leben wie im Tode, aber lebend habe sie, weil durch die irdische Form ge¬
bunden, noch nicht gcistzeugend wirken können. Gelänge die Rekonstruktion
des historischen Jesus, und würde die Gestalt des Christentums danach be¬
stimmt, so wäre die Folge davon, daß wir entweder ein solches Christentum
ganz ausgeben müßten, oder daß es, falls wir es annähmen, ähnlicher Er¬
starrung versiele wie der Islam.
Wir lassen eine Meuge Fragen, zu denen diese Auffassung nötigt, dahin¬
gestellt sein, z. B. ob die Religion wirklich nur Mittel und Ausdruck der Er¬
lösung ist, und ob Religionen, die weiter nichts sind als Anbetung Gottes,
den Namen Religion nicht verdienen? Ob die Unzähligen, die in der christ¬
lichen Religion, so wie sie sie kannten, volle Befriedigung gefunden haben, die
der ein für allemal vollbrachten Erlösung gewiß waren und von einem unend¬
lichen Prozeß nichts wußten, keine echten Christen gewesen sind? Ob es nicht
mehliger wäre zu sagen, die sich immer gleich bleibende christliche Religion ge¬
nüge dem Menschen auf jeder Stufe der Kulturentwicklung, als die Religion
selbst als einem unendlichen Entwicklungsprozeß unterworfen darzustellen? Ob
der Unterschied zwischen Mohammedanismus und Christentum nicht viel tiefer
liegt als an der hier angegebnen Stelle, und zwar gerade in den historischen
Personen der beiden Religionsstifter? Ob nicht die Gleichnisse und die Sprüche
des Herrn, die beinahe zweitausend Jahre lang das Volk und die Gelehrten
^griffen und erbaut haben, und die sich durch eine nicht auszuschöpfende Tiefe
dor allen andern klassischen Reden auszeichnen, ob die nicht einen Klassiker im
strengsten Sinne des Wortes als Autor voraussetzen, und ob einer Gesellschaft
von Naturkindern, wie Schmidt die Jünger nennt, zuzutrauen ist, was sonst
nur ein hochgebildetes Genie leistet? Ob nicht die Annahme des Verfassers
die Wunderbarkeit des Pfingstwnnders ins Unglaubliche steigert? Die Grün¬
dung der Kirche durch die galiläischen Fischer ist unter allen Umstanden ein
!o großes Wunder, daß ihm gegenüber die Wunderthaten Jesu und seine leib¬
liche Auferstehung ihr Wunderbares verlieren. Aber wenn die Kraft, die sie
dazu befähigte, eine rein innerliche Wirkung des göttlichen Geistes gewesen ist,
Und die Person des Menschen Jesus gar nichts dazu beigetragen hat, von einem
überwältigenden Eindruck dieser Persönlichkeit keine Rede mehr sein soll, so
^ird dadurch das Wunder noch viel erstaunlicher. Hat aber der Mensch Jesus
^neu überwültigeudeu Eindruck hinterlassen, so werden sich den Jüngern auch
die Worte und Handlungen dieses Menschen tief und unvergeßlich eingeprägt
haben, sodaß wir also in ihren Schriften von dein historischen Jesus mehr
^ben, als Schmidt annimmt. Freilich ist auch dieses Mehr immer noch herzlich
^eilig, sodaß die Schwärmerei der zahlreichen persönlichen Liebhaber des Menschen
^est weit mehr dem Idealbild« gilt, das sich jeder nach seinem eignen Geschmack
^'°u ihm schafft, als der nun einmal uicht genau zu ermittelnder Wirklichkeit.
Endlich werden es Wohl die meisten Leser sonderbar finden, daß ein
Sender Mensch nicht geistzeugend soll wirken können. Daß der Meister,
Nachdem er gezeugt hat, durch den fortdauernden Einfluß seiner Persönlichkeit
"in Entwicklung des heranwachsenden Kindes hindern kann, und daß nament¬
lich Christus die Erde verlassen mußte, wenn seine Saat aufgehn sollte, ist
mie Sache für sich. Also auf das alles soll nicht eingegangen werden, aber
zweierlei ist so wichtig, daß dadurch die ausführliche Erwähnung Schmidts an
dieser Stelle gerechtfertigt erscheint. Seine Auffassung bedeutet die entschiedne
und endgiltige Absage der modernsten Wissenschaft an den „Weisen von Na-
zareth" der Nationalisten. Das Wesen des Christentums besteht nicht darin,
daß ein weiser Manu, der nur uoch ein wenig weiser und besser gewesen ist
als Sokrates, durch Wort und Beispiel als ein Lehrmeister künftiger Ge¬
schlechter bis heute wirkt, sondern darin, daß eine geheimnisvolle Persönlichkeit
durch ihren Tod der Menschheit eine neue Lebenskraft verliehen hat. Und
zweitens bedeutet diese Auffassung den entschiedensten Bruch mit dem prote¬
stantischen Schriftprinzip und die Rückkehr auf den katholischen Standpunkt;
die Rückkehr zu dem Glnubeu, daß der Geist Jesu in der Kirche lebt, ihr in
jedem Jahrhundert hilft, zu lehren und zu thun, was die Zeit erfordert, und
daß die Schrift selbst, wenn auch vielleicht das wertvollste, so doch eben mir
ein Produkt dieses in der Kirche waltenden Geistes ist. Selbstverständlich deckt
sich nicht etwa die Praxis der Papstkirche mit dieser katholischen Idee, denn
die Päpste und ihre Konzilien haben vieles gelehrt und angeordnet, was nicht
Ausfluß des göttlichen Geistes, sondern Volks- oder Zeitirrtum und dnrch das
hierarchische Interesse geboten war. Aber soweit sind wir heute, daß kein
protestantischer Philosoph und Theolog mehr nu die Buchstabeninspiration
glaubt oder das von der lebendigen Entwicklung der Menschheit losgelöste
tote Bibelwort für die alleinige Quelle aller Wahrheit hält. Vielmehr ist
man ganz allgemein, natürlich ohne es ausdrücklich zu sagen, zu der katho¬
lischen Idee zurückgekehrt, daß der göttliche Geist jeder Generation der Christen¬
heit zu der Erkenntnis verhilft, die sie braucht, ihren Glauben und ihre Liebes-
thätigkeit lebendig erhält und sie die den Zeitumständen angemessenen Ein¬
richtungen treffen lehrt. Und eben weil das Christentum die religiösen Be¬
dürfnisse der Völker auf jeder Stufe ihrer Entwicklung zu befriedigen vermagl
hat es von dieser Entwicklung nichts zu befürchten, und ist seine heutige Lage
der des griechischen Heidentums zur Zeit Julians nicht im mindesten ähnlich.
!s genügt nicht, die Musik breit und sicher zu fundieren; sie muß
auch richtig, d. h. so verwandt werden, daß sie ihre volle .Kraft
mach allen Seiten, wo sie gebraucht wird, und über das ganze
!Volk entfalten kann. Wir unterscheiden nach der Verwendung
Idie Musik als dienende und als freie Kunst. Sie dient überall,
wo sie sich außermusikalischen Zwecken unterordnet, sich in öffentliches und
bürgerliches Leben einfügt; sie ist frei, wo das musikalische Kunstwerk von allen
äußern Interessen gelöst rein und allein wirken soll. Zwischen diesen beide"
Gruppen hat sich nun in der Gegenwart ein Mißverhältnis ausgebildet. Die
Musik als freie Kunst wird zu hoch, als dienende wird sie zu niedrig einge¬
schätzt, die dienende gegen die freie zurückgestellt, in ihrem Wirkungskreis mehr
und mehr eingeengt. In dieser Entwicklung liegen sowohl für die Musik selbst
wie für die ' musikalische Kraft des Volks Gefahren. Jene bedarf wie alle
Künste des engen Anschlusses an Kultur und Leben, das Volk aber kann seine
künstlerische Hauptnahrung, die Liebe zur Kunst, den Sinn für sie nicht aus
Museen, Galerien und Kouzertsälen beziehn, sondern sie muß ihm auf Straßen
und Plätzen, in Kirchen so geboten werden, wie im Mittelalter, wie in Italien
noch heute; sie muß sich in seine Arbeit, in seine Erholung, in sein Stimmungs¬
leben ungesucht und reichlich einmischen. Als freie Kunst leistet die Musik
das höchste, was ihr technisch und geistig möglich ist, als dienende hat sie den
größten Teil der Menschheit zu Unterthnneu, trifft uns die empfänglichsten
Gemüter und wirkt und wirbt am weitesten. Das Richtige ist deshalb nicht
die Gleichstellung der beiden Gruppen, sondern die Bevorzugung der Musik
Ah dienender Kunst.
So halten es nicht bloß die heutigen Naturvölker, die die freie Kunst
selbst in der einfachsten Form als Unterhaltungsmusik ganz gegen das Arbeits¬
lied zurückdrängen, sondern auch bei den Kulturvölkern ist die längste Zeit
über das natürliche Übergewicht der Musik als dienender Kunst beachtet worden.
Die nltasiatischen Musikfeste und Moilstreanffnhrungen, von denen Felis und
Rowbothnn erzählen, sind Phantasiegebilde. Klar geht aus den Bilderquelleu
der Frühgeschichte des Orients mir die Musik beim religiösen Kultus, bei
Festen, bei Jagden hervor; eigen ist ihre Verwendung bei den Freuden und
Blühen der Toilette. Immer sind im Dienstpersonal, das an- und auskleiden
hilft, Spieler und Sänger. Auch die Griechen haben die Musik als freie
K'lust kaum gekannt. Bei Homer treten die Säuger beim Mahle auf, stellen
sich in den Dienst der Vaterlandsliebe, das Volk hört aus ihrem Munde
Sagen und Heldengeschichte. Die Hauptstellen für die Musik der Hellenen
sind Tempel, Theater, öffentliche Spiele, Heeresdienst; die reisenden dionysischen
Künstler gehören erst der Zeit des innern Verfalls an. Die Römer waren
s»gar gegen die Musik als dienende Kunst mißtrauisch, überwiesen sie deu
Fremden,' den Sklaven und den Freigelassenen; die Musikomauie ihrer Kaiserzeit
eine der deutlichsten geschichtlichen Wnrnnngen gegen übermäßiges und ziel¬
loses Musiziere». Vom Mittelalter sagt die Thatsache genug, daß es offiziell
"ur die Kirchenmusik gelten läßt. Die Änderung in der Verwendung der Musik
datiert von der Renaissance, die mit dem gesamten Geistesleben auch die Kunst
^el machte und dadurch die moderne Menschheit allmählich zu der Ansicht
gleitete, daß die Künste ihren Zweck in sich selbst trügen: l'art xour 1'art!
^'u siebzehnten Jahrhundert entsteht von den italienischen Akademien her das
Moderne Konzert, bleibt aber auch in den Musikkollcgs und ihren wöchent-
^chen Konzerten noch häufig mit der Tafel- und Gesellschaftsmusik verschwistert.
^»ter dieser Tradition ist noch das Trompetensignal von Beethovens Leonoren-
"Ubertnre falsch verstanden worden, sie lebt bis heute in dem Doppelcharakter
^'.zelner Institute als Konzertvereine und Ballgesellschaften.
Keineswegs gedachte das ältere Geschlecht dein Konzert den Zusammen¬
hang der Musik mit dem Leben, ihre Bedeutung für die gehobnen Stunden
des Tags und Jahreslaufs zu opfern. Nach wie vor blieb es die Haupt¬
aufgabe der amtlichen Musik, der Spielleute, die das vierzehnte Jahrhundert
aus dem Gauklertum gerettet und den Zünften angeschlossen, unter Turnern
und „Hausmännern" in städtischen Dienst gestellt hatte: am Morgen, am Mittag
und um Abend die Seelen aller, die körperlich oder geistig arbeiteten, aus der
Prosa der Werkstatt und des Amts mit frommen und fröhlichen Tönen hin-
wegzurufeu und frei zu macheu, an Fest- und Feiertagen auf dem Markt,
dem Kamp, dem Anger, dem Haag aufzuspielen, und den von Tagessorgen
entlasteten Gemütern die Freude zu mehren und zu veredeln.
Nicht bloß der Tanzwirt bestellte die Stadtpfeifcrei, auch jeder Bürgers¬
mann, der eine grüne, eine silberne, eine goldne Hochzeit, eine Taufe, eiuen
Geburtstag, eine Hansweihe feierte, der einen Besuch, eine Respektsperson,
einen Freund, eine Angebetete ehren wollte. Jeder wichtige Familienvorgang,
jede Ernennung und Beförderung wurde mit einem Ständchen begangen. Bei
herrschaftlichen Jagden, bei Kahnfahrten und Landpartien, überall wo eine
größere Gesellschaft zusammenkam, dürfte die musikalische Salbung nicht fehlen,
Fürsten nahmen ihre Kapellen mit auf Reisen. Bis zum letzten Gang nach dem
Grabe war die Musik die teilnehmende Freundin der Vorfahren, die Begleiterin
auf allen Lebenswegen. In den großen Städten konnten die zünftigen Jn-
strumentalisten den Straßen- und Hausdienst nicht bewältigen, neben ihnen
gingen Wilderer, in Wien einmal unter ihnen der junge Haydn „gafsatim."
Auch die großen und kleinen Schulchöre waren ebenso wie mit Kirchendienst,
mit regelmüßigen und außerordentlichen „Kurrenden" in Anspruch genommen,
zogen Sonntags und in der Woche zu bestimmten Stunden singend durch die
Hauptstraßen und vor die Häuser frommer Bürger, gehörten in jeder Familie
mit den Spielleuten zu den wichtigsten Gratulanten und Kondolenten und
waren besonders reich mit Stiftungen bedacht, die die Sterbetage einstiger
Musikfreunde durch Chorale und Motetten bei Laternen- und bei Fackelschein
in Erinnerung hielten. Der reiche musikalische Zuspruch von Fall zu Fall
genügte aber den Gemütsbedürfnissen der alten Zeit noch nicht, neben ihm
gingen noch große Generalspendungeu an den Quartalen und andern Terminen
her, während deren Spielchöre und Singchöre getrennt oder vereint jedem
Haus in der Parochie in wochenlangem Umzug ihre Aufwartung machten-
Mit der Beseitigung dieser alten Bräuche hat die Musik nicht bloß, wie
wir schon erwähnt haben, wichtige Organe verloren, sondern auch ihr Nutzen
ist eingeengt worden. Viele offne Herzen, in die sie tief und bleibend einzu¬
dringen vermöchte, entbehren ihres Segens, sie entbehrt ihrer Freundschaft,
die musikalischen Regungen, Augenblicke und Stunden, die auch im einfachsten
Lebenslauf auftreten, bleiben unbefriedigt. Die Musik fehlt da am häufigsten,
wo sie am nötigsten gebraucht wird, sie wird denen, die sie nicht jederzeit
aufsuchen können, entfremdet. Wer Hildesheim, wer Nürnberg, Danzig ge"
sehen hat, weiß, daß das Volksleben ärmer an Kunst überhaupt, ärmer
an Farben- und Formenfreude geworden ist, aber er sollte mich wissen,
daß die musikalischen Verluste besonders tief treffen. Mit den Künsten führen
auch Poesie und uoch mehr Religion über das Alltagsleben hinaus, aber die
Musik wirkt rascher als sie, greift da ein, wo andre ideale Mächte noch nichts,
fährt da fort, wo sie nichts mehr vermögen. Aus Seelsorge und Humanität,
um des Volks willen erhob die alte Zeit die Mttsikpflege zur Gemeindesache.
Aber auch die Musik zog daraus Vorteil, insbesondre die Koniposition Ein¬
fachheit und Natürlichkeit und den volkstümlichen Zug, den wir noch in den
Oratorien Handels, den Kantaten Bachs, den Opern Glucks und den letzten
Sinfonien Hcchdns bewundern. Die große Kunst der alten Zeit geht von Aller-
weltsgedanken, vou äußerster Schlichtheit der Formen aus in die Höhen und
Tiefen, die Kleinkunst bedenkt im Lied auch den Landmann und den Hand¬
werker, in der Suite knüpft sie an Spiel und Tanz an. Auch die Meister
stellen sich in diesen philanthropischen Dienst, noch die Wiener Klassiker, Schubert
eingeschlossen, schreiben sämtlich Märsche und Tänze.
Seitdem ist die Geringschätzung gegen einfache Musik bei den Komponisten
gewachsen, man ahmt wohl alte Volkslieder nach, aber man komponiert keine
frischen fürs heutige Volk. Das Streben nach hoher Kunst hat lange Zeit
alle Kraft absorbiert, bis Schumann wenigstens wieder an die Jngend und
an die Kinder dachte. Leider sind ihm die modernen Komponisten nicht gefolgt,
und gerade in der Hausmusik, wo noch heute der Ausgleich zwischen dienender
und freier Kunst keiner Schwierigkeit begegnet, ist das Mißverhältnis am
ärgsten. Die Liedkomposition, die im siebzehnten Jahrhundert, in den „Arien"
H- Alberts, in der „Musikalischen Ergötzlichkeit" I. Krügers und in andern
Hauptwerken fast ausnahmlos an Jahreslnuf, an Familienleben und Geselligkeit
anknüpft und die besondere Fälle gesteigerten Stimmungslebens bis auf die
Abschiedsszene der zur Universität ziehenden Söhne ausnützt, kennt heute kaum
uoch ein andres Thema als die Liebe. Auch die Jnstrumentalkomposition
fürs Haus arbeitet fast nur auf freie Kunst hin. Schon wer auf dem Klavier
etwas Weihuachtsmusik treiben möchte, ist in Verlegenheit ums Material. Das
Talent zum Fantasieren aber, das in der Hausmusik den Hauptbedarf an
dienender Kunst am einfachsten decken kann, wird bei Dilettanten überhaupt
uicht mehr, bei Musiker,: nur selten noch ausgebildet.
Der Musik ihren vollen Wirkungsbereich als dienender Kunst in der Öffent¬
lichkeit wieder zu gewinnen, sie hier mit dem bürgerlichen, dem politischen
Und dem religiösen Leben, mit Sitte und Kultur wieder so eng zu verbinden wie
^u alter Zeit, ist ausgeschlossen. Aber wohl ists möglich, manchen guten alten
brauch, der sich noch erhalten hat, vor dem Untergang zu retten und das
Prinzip um sich wieder zu Ehren zu bringen Wo noch Glockenspiele klingen,
"och Kurrenden singen, Türmer und Postillone blasen, der Nachtwächter Horn
Und Stimme übt, da ist die strenge musikalische Kritik nicht am Platze, sondern
die Liebe zum Volk. Wie auch dem Leiermann noch ein großer Kulturwert
für die Höfe der Großstädter zukommt, hat Heinrich Seidel in dem Gedicht von
"er „Musik der armen Leute" allerliebst bewiesen. Der unter den Gebildeten
wieder reger werdende Sinn für die Kunst des Volks knüpft am besten an die
alten Bräuche an. Die Städte, die Sonntags wieder aufspielen lassen und an
die Restaurierung der alten Stndtnmsikeu denke», die Kirchen, die bei Trauungen
und Taufen unentgeldliches Orgelspiel verordnen, sind auf dem richtigen Wege.
Unter den deutschen Fürsten hat König Max II. von Bayern durch seine Sorge
um Volksmusik ein vorzügliches Beispiel gegeben. Es ist nicht genügend ver¬
standen worden. Wenigstens hat die Königliche Mnsikschnle in München im
vorigen Jahre die im Interesse der Gcbirgsmusik erhellte Lehrerstelle für
Zither und Mandoline abgelehnt, weil den vorhandnen Kompositionen der
Kunstwerk abgebe. Unter den vorhandnen sind wahrscheinlich die Vivnldischen
Konzerte unbekannt gewesen, und es ist wohl auch nicht bedacht worden, daß
die Zukunft bringen kann, was der Gegenwart fehlt. Gegen alles, was zur
Musik als dienender Kunst gehört, ist die Mehrheit der deutschen Musiker
augenblicklich von einer falschen Vornehmheit erfüllt; einseitige Ansprüche an
interessante Arbeit und modernen Charakter verhüllen ihnen hier in ähnlicher
Art manches Bedeutende, wie sie lange Zeit zur Unterschätzung italienischer
und andrer ausländischer Musik verleitet haben. Auch die Furcht vor der
Trivialität kann übertrieben werden. Es ist falsch, wenn der gebildete Musiker
grundsätzlich Tafelmusiken und Gartenkonzerte verwirft. Sie beruhn auf
einem vortrefflichen Gedanken, und es ist Sache der Fachleute, dafür zu sorgen,
daß die Praxis nicht hinter der Idee zurückbleibt.
Die Stellen, an denen die Musik bis bellte noch in ihrem alten Ver¬
hältnis als dienende Kunst zur Geltung kommt, sind die Kirche, das Theater
und das Heer. Man dürfte die Tanzkunst anreihen, wenn es denkbar wäre,
daß sie jemals ihre Verbindung mit der Musik lösen könnte. Verluste siud
aber auch hier zu verzeichnen: die Menge von Arten hat sich stark vermindert.
An der Tanzmusik, die wir noch haben, muß die Übereinstimmung mit dem
Empfludungswcseu der modernen Menschheit, es muß die Lebendigkeit und
bis zur dramatischen Wirkung gesteigerte Beweglichkeit des Ausdrucks, es muß
die sinnliche Fülle, der Reichtum an feinen Zügen all dieser Kunst, im wesent¬
lichen ein Werk von Joh. Strauß, dem Vater und dem Sohn, gerühmt werden,
bedauert dagegen das ungesunde Raffinement und die Nervosität.
Von den genannten Hauptstellen ist die Kirche die wichtigste und älteste.
Bei allen Völkern und zu allen Zeiten hat die Musik im Dienst der religiösen
Kultur ihr höchstes geleistet. Insbesondre ist die Musik seit Gregor dem
Großen die Lieblingskunst der christlichen Kirche gewesen und bis an die neue
Zeit heran in allen Konfessionen, mit Ausnahme der Reformierten, geblieben-
Jahrhundertelang waren Tonkunst und Kirchenmusik identische Begriffe, und
auch in der Zeit, wo eine weltliche Musik emporstrebte, hat die Kirche noch
lange die Spitze behauptet, indem sie sich die neuen und reichen Mittel der Rivalin
aneignete. Die großen italienischen Kirchen hielten im siebzehnten lind acht¬
zehnten Jahrhundert eigne, berühmte Orchester, auch im protestantischen, deutschen
Gottesdienst blühten Kirchensonnte und Kirchenkonzert. Ein Bruchstück dieser
Kunst lebt heute noch in S. Bachs bekannter (Ane-omnz für Violinensolo; su'
ist als Kommnnionsmusik komponiert. Dann kam ein rapider Verfall, dem
erst die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Halt gebot. Nach dem Prinzip
historischer Rekonstruktion ist von da ab die katholische Kirche, dank ihrer
Organisation mit merkbaren Erfolg, auf den Gregorianischen Choral zurück¬
gegangen, die protestantische Kirche hat die Verbindung mit der Liturgie der
Reformationszeit wieder gesucht, ohne daß sich ein günstiges Ergebnis dieser
Versuche absehen läßt. Die liturgische Wissenschaft hat in den meisten Landes¬
kirchen vervollständigte, zum Teil nur mangelhaft vervollständigte Agenten
durchgesetzt, ein großer Teil der Geistlichen versteht ihren Zweck nicht und
kann sie nicht singen; jene hat Chorordnungen ausgearbeitet, die meisten Kirchen
haben keinen Chor, der Sonntag für Sonntag die Figuralmusik zu leisten ver¬
mag; in den Nenausgaben Tuuders, Hammerschmidts, H. Schützers, N, Abtes
und andrer alter Meister ist eine Musik wieder zugänglich, die auch für be¬
scheidne Dorfkirchen paßt, niemand benutzt sie. Der Geist Luthers, der un¬
musikalische Theologen nicht ansehen wollte, der Sparsamkeit an der Musik
für Schuarrhanserei erklärte, ist das nicht, sondern immer noch der alte, nur
auf die Predigt bedachte Rationalismus, unter dem ein wundervoller Bau in
Trümmer ging. Ohne Errichtung von besoldeten und disziplinierten, durch
freiwillige Kirchengesangverciue nicht ersetzbare, aber nicht unerschwingliche
Chöre, ohne umsichtige Instruktionen an Lehrerseminare, Gymnasien und
Universitäten droht die ganze Reform der protestantischen Liturgie zu scheitern
Und ein wichtiges Mittel der Erbauung und der Stärkung kirchlichen Sinns,
eine gute Gelegenheit zur innern und äußern Hebung der Musik verloren zu
gehn. Hier sind die Musiker nicht die Schuldigen, sie haben durch Wieder¬
belebung des kleinen Kirchenoratoriums für Nebengottesdienste redlichen Willen
der Kirche zu dienen bewiesen.
Am Theater handelt es sich nicht um die Oper, die ziemlich solange, als
sie besteht, zur freien Kunst gerechnet wird, sondern um die Zwischenaktsmusik
un Schauspiel, die seit Lessing ein Zankapfel ist. Männer, die sonst har¬
monieren, gehn auseinander. Wagner und Gutzkow verwerfen, Liszt und Laube
verteidigen sie. Da ist die Meinung Laubes, des Realisten, sehr wichtig.
Laube kannte die Zwischenaktsmusik vom Wiener Burgthcnter her, so wie sie
bon alters war, und wie sie sein soll: knapp in der Form, im Charakter
Epilog und Prolog zugleich, wie der antike Chor die Stimmung der Zuschauer
beruhigend, sammelnd, zum Kommenden überleitend. Solche Musik stellt der
Komposition anregende Aufgaben und thut der Würde der ausführenden
Orchesterkünstler keinen Eintrag. Zu bekämpfen bleibt lediglich die sinnlose
Verwendung von Tänzen und Sinfvniesätzen, der Brauch an sich ist ein schönes
Stück dienender Kunst.
Die Musik im Heere endlich ist in ihrer Entwicklung und in ihrem heu¬
tigen Zustand eins der angenehmsten Kapitel der neuen Musikgeschichte. Ihr
Schöpfer ist Georg Frundsberg, der Vater der Landsknechte, ihr Aufschwung
erfolgte in Deutschland während des achtzehnten Jahrhunderts. Da wurden
Merst aus der Handvoll Spielleute, die im Dreißigjährigen Kriege die Fähnlein
begleiteten, die stattlichen Hvboistenchöre, die für die deutsche Musik immer
Mehr Bedeutung gewinnen und das Interesse der Ausländer erregen. Burney,
der vergleichen konnte, war über die deutsche Militärmusik überrascht. Mit
ihm hebt auch Da». Schubart die Verdienste hervor, die daran Fürsten wie
der Landgraf Ludwig von Hessen-Darmstadt, ein ausgezeichneter Tambour,
hatten. Von der Berliner Negimentsmnsik aus machte Pepusch, von der
Hannöverschen aus W. Herschel sein Glück in England. In den Residenzen,
unterstützen sie die Opernkapellen und erweitern allmählich ihren Dienstkreis
bis zum heutigen Umfang. Die Entwicklung hat damit noch nicht abgeschlossen,
steht vielmehr neuerdings vor neuen wichtigen Aufgaben der Verbreitung des
Gesangs im Heer, der musikalischen Erziehung der Laicnkraft. Aber schon
das, was die Armee der Instrumentalmusik geholfen hat, ist außerordentlich
bedeutend. Seit sämtliche Kapellen der Infanterie, die der andern Waffen
zum Teil Streichmusik eingeführt haben, ist die Militürmusik für Deutschlands
Kunst eine Macht geworden. Die Militärkapellen haben den Ausfall der Stadt-
pfeifcreien einigermaßen gedeckt und ermöglichen Opern und Konzerte da,
wo sie sonst fehlen würden. Allerdings stehn sie für diese Aufgaben nur
soweit zur Verfügung, als das der Heeresdienst erlaubt. Aus diesem
Grunde darf nicht fest mit ihnen gerechnet und durch sie uicht der bürgerliche
Spielmannsstand zurückgedrängt werde». Sie sollen den Schwerpunkt in der
Militärmusik behalten, ihre Führer deren Geist vor Schaden durch Ccmcan-
mnsik behüten und durch einen Geschmack fördern, wie er in den Armee¬
märschen der Friedericianischen Zeit zu Hause ist. Das Weitere hat die
deutsche Musik als wertvolle Zugabe dankbar anzuerkennen und als Geschenk
des Offizierstandes zu würdigen. Durch seine Opferwilligkeit sind die Bataillvns-
musiken entstanden, die Hilfsmusiker der Regimentskapellcn, die Zulagen der
etatsmüßigen Musiker. Er allein vertritt auch noch prinzipiell die gute alte
Sitte, Ehren- und Freudentage, wichtige Vorgänge im Leben der Kameraden
und der Regimentsgemeinschaft, Kirchen- und Staatsfeste mit Musik zu feiern
und liefert damit den Beweis, daß es auch in der Gegenwart noch möglich ist,
von der Macht, die die Musik als dienende Kunst hat, reichlich Gebrauch zu
machen.
eher die mittlere Periode der Diluvialzeit hinaus verschwindet jede
sichtbare Spur der menschlichen Kunst, aber ihre Richtung kann
man doch noch viel weiter zurückverfolgen. Sie führt bis zu der
unberechenbar fernen Entwicklungsphase, wo die kindliche Hilfs¬
bedürftigkeit des Menschen unübersteigbare Schranken zwischen
dem Tier und dem Menschen zu errichten begann. Diese kindliche Hilfs¬
bedürftigkeit ist es, ans die man alle Fortschritte zurückführen kann, die das
menschliche Seelenleben über das tierische erhoben haben, die Unterscheidung des
Subjekts von den Objekten, die Entwicklung von der Wahrnehmung bis zum
Urteil und die begriffliche Trennung des Gefühls vou der Empfindung. Sie
hat den Menschen erst zum Menschen gemacht und eröffnet den unbegrenzten
geistigen Fortschritt, der mit innerer Notwendigkeit bei irgend einem Punkte
zu Kultur und geschichtlichem Dasein gelangen mußte.
Durch ein physisches Hindernis ist dem Tiere die Sprache nicht versagt.
Es hat die Elemente, aus denen die Sprache erwachsen konnte, die Gebärde, den
Ausdruck der Gesichtszüge, den Gefiihlston, die Warme, Stärke, Eile einer
Äußerung, aber es hat sie nicht zu der gesetzmäßigen Gliederung, zu dem mit dem
Wesen der geistigen Vorstellungsbewegnugen zusammenhängenden organischen
Aufbau entwickelt, der die eigentliche Sprache kennzeichnet. Die Anstrengungen,
die der Mensch machen mußte, diesen Fortschritt zu erreichen, hat das Tier auch
nicht nötig, weil es bei seiner frühern Selbständigkeit weit weniger mitteilungs-
und erziehungsbedürftig ist. Sein psychisches Leben entwickelt sich deshalb auch
nicht wie das des Menschen, sondern hat eine Stabilität, die es mehr dem
Wesen der Pflanzen als dem der Menschenseele nähert. Es spinnt, webt und
baut ohne Erziehung und Erfahrung. Die Jungen, die dem Einfluß der Eltern
entzogen werden, handeln genau wie diese und wissen sich zu helfen. Ebenso¬
wenig konnte es den künstlerischen Trieb wie der Mensch entwickeln, weil
diese höhere Entwicklung die Scheidung von Ich und Nichtich, von Subjekt
und Objekt voraussetzt. Diesen Fortschritt aber kann und konnte das Tier
nicht machen, weil es infolge seiner frühern Selbständigkeit in seinem Subjekt
befangen ist und nicht von der bloßen Erscheinung der Dinge oder der stummen
Anschauung zur Erkenntnis ihres Wesens fortschreiten kann.
Die kindliche Hilfsbedürftigkeit des Menschen aber machte eine längere
Lebensgemeinschaft der Mutter mit dem Kinde notwendig und veranlaßte den
geistigen Assimilationsprvzcß, dessen Inhalt Lehren und Lernen und dessen
älteste Träger die Mutter und das Kind sind. Mit ihr begann damals im
Leben der Menschheit die wichtige Entwicklungsphase, die sich noch heute im
Leben jedes Einzelnen vollzieht, wenn er als Kind auf Mutterarmen von
seiner tierischen Entwicklungsstufe zur menschlichen emporgehoben wird. Nur
wird es heute Mutter und Kind leichter gemacht als in den Zeiten, wo der
Mensch noch nicht Jäger, sondern Jagdwild war. Aber gerade die Not machte
erfinderisch. Sie schürfte die Mittciluugs-, Beobachtnngs- und Vorstelluugs-
gabe, nötigte zu logischen Reflexionen und bildete neben den physischen psychische
Bedürfnisse aus, die im Laufe unabsehbarer Zeiträume die Anlagen des Menschen
Weit über die tierische« Grenzen hinaus zur Entfaltung gebracht haben. Sie
kamen nicht bloß der Entwicklung des Verstandes, sondern auch der des Ge¬
mütes zu gute durch die Steigerung, die das Seelenleben erfuhr, wenn der
Schmerz der Trennung, die Lust des Wiedersehens, Sehnsucht, Hoffnung
und Sorge während der Abwesenheit immer »nieder Blut und Nerven in Er¬
legung brachte.
In diesen fernen Zeiten werden wir deshalb auch die wirklichen Anfänge
der Bildnerei suchen müssen. Als solche können schon die Zweige und Steine
gelten, die die Mutter dem Kinde zum Spielen zurichtete, um die Sehnsucht nach
ihr zu stillen. So kunstlos sie auch erscheinen, so offenbaren sie doch durch die
Schnitte und Risse, die sie geistigen Zwecken dienstbar machen, die höhere
menschliche Natur. Mit ihnen beginnt die Entwicklungsperiode der Kunst,
die als die erste bezeichnet werden kann und ihr Dasein der Sehnsucht oder
dem Verlangen nach einem Ersatz für die Wirklichkeit verdankt. Noch heute
ist dieses Motiv wirksam, wenn wir unsre Zimmer mit den Bildern der ab¬
wesenden oder abgeschiednen Lieben schmücken und die Erinnerung an wichtige
Erlebnisse und Landschaften durch bildliche Darstellungen uns gegenwärtig zu
erhalten suchen.
In damaliger Zeit trieb es den Jäger oder Fischer, den seine Thätigkeit
wochenlang von dem Gegenstände seiner Liebe entfernt hielt, zur Darstellung
der Geliebten in einem Objekt, durch das er sich einen Ersatz schaffen und
sein lückenhaftes Leben ergänzen wollte. Der Jäger und der Fischer in den
polaren und den tropischen Zonen, der gegenwärtig noch auf primitiver Kultur¬
stufe lebt, wiederholt immer wieder diesen Werdeprozeß der bildenden Kunst, wie
es die zahlreichen, in unsern Museen aufbewahrten weiblichen Figuren der
heutigen Naturvölker beweisen. Charakteristisch dafür ist es, daß das Weib
am Anfang der Kunst steht und das älteste erhaltene Kunstwerk der Welt eine
aus Elfenbein geschnitzte weibliche Gestalt aus der Mammutzeit ist. Es ist
dies ein in Südfrankreich 1894 gcfnndner weiblicher Torso, der durch mächtige,
etwas unbeholfne Formfülle ausgezeichnet ist und als Venus von Brassem-
pouy, wie man ihn nach dem Fundort genannt hat, gefeiert wird.
Dieses Verlangen war es denn auch, das uicht bloß den Kreis der Dar¬
stellung, sondern auch den der Interessierten erweiterte, wenn in den Zeiten
der Ruhe und des Mangels, die sich zwischen die Perioden des materiellen
Überflusses an Jagdbeute schoben, der Künstler die Tiere aufzeichnete und formte,
mit deren Anblick er sich lind andre ergötzte, besonders wenn die Jagd schlecht
war, und der Magen knurrte. Nur eine weitere Folge dieses Fortschritts
war es, daß sich neben dem Verlangen nach einem Ersatz für die Wirklichkeit
der Trieb zur Mitteilung geltend machte und den Künstler veranlaßte, neben
den Freuden der Jagd auch die des Kampfes durch die Scheinwelt der Bildnerei
an den Wänden seiner Höhlen oder Felsen den Genossen gegenwärtig zu er¬
halten.
Damit aber verlieren diese primitivsten Werke der Kunst immer mehr das
Gepräge allgemeiner Naturnotwendigkeit. Sie erhalten den Stempel geistig
bewußten Schaffens, wenn sie auch unter allen Zonen und Zeiten eine merk¬
würdige Übereinstimmung zeigen und entsprechend dem Kulturcharakter prä¬
historischer und primitiver Völker immer wieder Weiber, Jagd- und Kriegs¬
szenen zum Gegenstand ihrer Darstellung machen. Sie sind zwar nur ein
Stammeln gleich der Sprache, die sich damals von der tierischen Entwicklungs¬
stufe zu musikalischen Rhythmus und zur Betonung und Bildung der Vokale
und Konsonanten erhob, aber darum doch die Wurzel, aus der der Baum
erwuchs, der die Gebilde von individueller Freiheit zeitigen sollte.
Es sind danach dem Tiere unbekannte Impulse geistiger Art, die der
menschlichen .Kunst zum Dnsein verhalfen. Wie die Sehnsucht und die Lust
an der Mitteilung ein Erbteil sind, das der ganzen Menschheit mit der kind¬
lichen Hilfsbedürftigkcit zu teil wurde, so ist es auch die Kunst. Sie ist nicht
das geistige Eigentum gewisser Völker und Zeiten, sondern untrennbar ver¬
bunden mit dem Wachstum des menschlichen Geistes und greift mit ihren An¬
fängen zurück bis zum Ursprung der menschlichen Existenz. Darum erscheint
es auch uicht gerechtfertigt, die Kunst der Tiere als eine Vorstufe der mensch¬
lichen zu betrachten und, wie es geschehn ist, in einer Geschichte der mensch¬
lichen Kunst zur Darstellung zu bringen. Auch wenn der Nachweis gelange,
daß wir bauen, spinnen, weben, formen, bohren von den Tieren gelernt hätten,
würde dies nur für die Spiel-, Weh- und Baukunst, Ornamentik, Kosmetik,
Keramik und andre praktischen Interessen dienende Künste berechtigt sein. Die
Griffel-, die Meißel- und die Pinselkunst aber oder die Bildnerei gehören wie
die Poesie allein dem Menschen.
Der Kunsthistoriker wird also weder den Standpunkt wählen dürfen, der
die menschliche Kunst für eine Erscheinungsform der künstlerischen Kraft der
Natur erklärt, noch den nächst tiefer liegenden, der menschliche und tierische
Kunst umfaßt. Der für ihn gewiesene ist nur der anthropologische. Er läßt
zwar den bisher üblichen Standpunkt, von dem aus die Kunst mit den Orien¬
talen oder den Griechen beginnt, weit unter sich, aber auf seiner Höhe ent¬
springt die wahre Quelle der Kunst. Sie ist ein allgemein menschliches Be¬
dürfnis, nicht bloß eine individuelle, sondern auch eine soziale Erscheinung.
Die Kunstgeschichte muß deshalb ihre Darstellung nicht bloß auf die Kultur¬
völker beschränken, sondern über alle Völker der Erde ausdehnen.
Wissenschaften wie die Staats-, die Rechts- und die Sittengeschichte, die
Nationalökonomie, die Anthropologie und andre sind dieser Forderung auch schon
längst gerecht geworden, sogar die Religionswissenschaft hat die alten Bahnen
verlassen und im Geist ihres Begründers, der sich der unterschiedslosen Mensch¬
heit geopfert und der tief in der menschlichen Natur wurzelnden Idee der
natürlichem Gleichheit aller Meuscheu zum Siege verholfen hat, ihre Dar¬
stellung uicht mehr allein auf die höchste» und reichsten Entwicklungsformen
der Religion beschränkt, den Buddhismus, den Islam und das Christentum.
Sie hat sie vielmehr mit den niedern Erscheinungsformen, dem Fetischismus,
dem Totcmismus, dem Schnmcmismus, der Idolatrie und dein Polytheismus
in Verbindung gesetzt und sich sogar nicht gescheut, die zahlreichen Fäden auf¬
zudecken, die unsre religiöse Auffassung mit der von Völkern verbinden, die
wir Wilde zu nennen pflegen.
Die Verehrung von Schlangen, Krokodilen, Vögeln und andern Tieren
bei den Ägyptern, von Rindern bei den Griechen, der Vanmdienst in Assyrien,
die Dryaden Griechenlands, die heiligen Haine, Eschen, Erlen und Eiche» bei
den Germanen, die heiligen Seen, der Geist des Wassers in Schottland, die
Flußgötter und Nymphen der klassischen Völker, die Alsen oder Elfen und
Nixen der Germanen, die Anbetung der Meteorsteine und Hennen in Griechen¬
land, des schwarzen Steins in Phönizien und Arabien, der Steinsäulen in
Irland, England und Frankreich bis über die Zeiten des heiligen Patrick
Und Gregor von Tours hinaus, die Bestalischen Jungfrauen und die Heilig¬
keit des Feuers bei Perser», Grieche», Römer» »»d Preuße», die Menschen¬
opfer, die Anbetung der Himmelskörper und der Berge — das sind solche
Spuren einer Gottesverehrung, die aus der Urzeit stammen. bis weit in die
geschichtliche Zeit hineinreichen, und die uoch bei den zurückgebliebnen Völkern
der Gegenwart gefunden werden können.
Ähnliches nachzuweisen hat die Kunstgeschichte nicht versucht. Weder hat
sie die Kunst mit dem Wachstum des menschlichen Geistes noch mit dem der
menschlichen Kultur in Verbindung gebracht; weder hat sie die Fortschritte der
Technik aus kleinen Anfängen entwickelt noch die mannigfaltigen Erscheinungs¬
formen der Kunst aus den Wandlungen der menschlichen Kultur hergeleitet.
Sie wandelt vielmehr noch immer, wie Ernst Große sich ausdrückt, mit er¬
habnen Haupte auf dem alten Holzwege und hält sich mit vornehmer Zurück¬
haltung in den Grenzen, die der Grieche der Kunst und ihrem Wesen gab.
Das erscheint um so auffülliger, als alle andern Wissenschaften die auf ihrem
Gebiete tyrannisch gewordnen Kultnreinflüsse der Griechen schon abgestreift
haben, ohne deshalb der Pietütlosigkeit bezichtigt worden zu sein.
Längst ist die Autorität des Aristoteles und des Ptolemäus auf dem Gebiete
der Astronomie und der Geographie gebrochen, und der Glaube an die Ursprüng¬
lichkeit der griechischen Philosophie, für den noch Zeller jüngst so überlegen
eintrat, ist ebenso wie der an die Antochthonie der ägyptischen Kultur, für
die noch Erman in seinem bahnbrechenden Werke über Ägypten spricht, von der
Wissenschaft überwunden worden. Allein die Kunstgeschichte ist diesem be¬
freienden Zuge nicht gefolgt. Allerdings hat der Grieche zuerst über die An¬
fänge der Kunst nachgedacht, aber die Resultate, zu denen er gelangt, zeigen
deutlich, eine wie wenig begründete Anschauung er von der geschichtlichen
Entwicklung der Kunst und der Stellung, die er darin einnahm, hatte und
haben konnte. Er hat den Weg der Kunst nicht über die Grenzen seines
Vaterlandes hinausgeführt. Zeitlich verfolgte er ihre Anfänge nicht über das
siebente Jahrhundert zurück. Das Schmelzen und Schmieden der Metalle
wandten nach ihm zuerst Künstlerfamilien an, die er nach dem Schmelzen
Telchinen, nach der Handarbeit Daktylen nennt; die Holz- und die Thonplastik
waren nach ihm Erfindungen des Düdalus und des Butcides, die Malerei und
der Erzguß Erfindungen des Kleanthes aus Korinth und des Sonnicrs
Rhoikos. Ebenso sind ihm auch das Sägen des Marmors, das Loden des
Eisens, kurz alle technischen Fertigkeiten der Kunst Schöpfungen griechischer
Meister.
Das zeigt zur Genüge, wie sehr er das Verständnis für den Unterschied
der Kulturen, die sich einst auf seinem heimatlichen Boden begegnet hatten,
verloren hatte. Es hat aber dennoch nicht gehindert, daß die moderne Kunst¬
geschichte, wenn auch nicht die Technik, so doch die Kunst allein für den
Griechen in Anspruch nimmt. Darum blieb es auch ohne Einfluß auf ihre
Entwicklung, als die Kunst des alten Morgenlandes ans den Grüften am Nil
und Euphrat-Tigris zu neuem Leben erstand. Diese erhielt zwar einen Platz
in den Kunstgeschichten, aber nicht als die legitime Mutter der griechischen
Tochter, sondern als eine verstaubte Ahnfrau, mit der sie kein geistiges Band
mehr verknüpft. Die Erweiterung, die die Kunstgeschichte dadurch erfuhr, trug
deshalb auch nnr dazu bei, ihr die geschlossene Einheit zu nehmen, die sie
bisher gehabt hatte. Zu der occidentalen oder europäischen Kunst wurde die
orientalische hinzugefügt, aber nicht mit ihr organisch verbunden. Dazu kam
»och eine weitere Spaltung, als man die sumerisch-babylonische Kunst von der
ägyptischen isolierte und wie die griechische für autochthon erklärte. Seitdem
ist es üblich geworden, daß man in Kunstgeschichten von mehreren Anfängen
der Kunst spricht.
Und doch bietet gerade die Bildnerei ein noch sichreres Material als die
vergleichende Sprach- und Religionswissenschaft, wenn man beweisen will, daß
die ägyptische Kunst ebensowenig wie die griechische bodenwüchsig gewesen ist
und zu einer Zeit, wo noch die Giraffe und der Elefant in Ägypten heimisch
waren, schon auf einer hohen Entwicklungsstufe aus altchaldüischen Sitzen
über die Völkerbrücke von Suez in diese Oase Afrikas eingezogen ist. Schon
der Umstand, daß die Kolonisation Ägyptens von der Asien zugewandten Seite
ausging, spricht für diese Einwanderung, aber mehr noch das älteste ägyptische
Denkmal, ein kleines Sitzbild aus Granit. Es zeigt schon gleich den ältesten
Grabbauwerken und Reliefs der dem alten Reiche voraufgehenden Frühzeit
alle die Eigentümlichkeiten und Stilgesetze, die die ägyptische Kunst mit un¬
wesentlichen Umbildungen in allen spätern Kolossalstatuen und Bildern von
Göttern und Königen wiederholt. Unmöglich kann es also als ein Ausgangs¬
punkt der ügytischen Kunst betrachtet werden.
Ebenso weisen die Form der ältesten Keule, der Bau und die Ein¬
richtung der ältesten Grüber, die Art der Bestattung in bockender Stellung,
die den Toten angegebnen Schminktöpfchen mit grüner Farbe, vor allem
aber die Siegel, die den spätern Ägyptern fremd sind, unverkennbar nach
Babylonien. Für diesen Zusammenhang spricht auch der rege diplomatische
Verkehr, der zwischen den Herrschern am Nil und Euphrat-Tigris bestand
lind durch die zu Tell-Amarna jüngst ausgegrabnen Thontnfeln mit babylo¬
nischer Keilschrift eine unerwartete Bestätigung erhalten hat. Solchen That¬
sachen gegenüber erscheint es fast so, als ob man darauf wartete, daß ein
alter Ägypter auferstehe und den Hergang erzählten solle.
Ebenso wurden auch die mykenischen Funde, die den Stempel des Orients
an der Stirn tragen, nicht dazu benutzt, wie es die mythologischen und die
Sprachforschungen für die Religion und den Handel längst gethan hatten,
den Zusammenhang zwischen Orient und Occident auch für die Kunst zu be¬
weisen. Man schrieb sie vielmehr, um die Antochthonie der griechischen Kunst zu
retten, einer Vorblüte hellenischer Kunst zu, ohne die Kluft überbrücken zu
können, die zwischen ihr und der über tausend Jahre spätern Blüte liegt. Daß
alle jene Kostbarkeiten nur Produkte eiuer schon hochentwickelten Industrie und
Kunst sein konnten, darüber war kein Zweifel, ebensowenig über die That¬
sache, daß sie in einem Lande gefunden wurden, dessen Bewohner zu der Zeit,
wo sie angefertigt wurden, in den Kreis älterer Kulturvölker noch nicht hinein¬
gezogen waren. Sie boten in dieser Beziehung manchen Vergleichungspunkt
Mit dem Silberschatz, der wenig Jahre vor den mykenischen Funden am Gnlgen-
berge zu Hildesheini aufgedeckt worden war. Keinem Archäologen war es da
eingefallen, das Hildesheimer Tafelgeschirr für die einheimische Kunstübung
der Germanen in Anspruch zu nehmen; ausnahmlos aber erklärte man die
Kunstschätze von Mykenü für hellenisch. Darum gilt auch noch immer das
verstümmelte und verwitterte Hochrelief über dein Felsenthor von Mykenä, das
steigende Löwen zur Seite einer Säule darstellt und nach einem im Orient
althergebrachten Kunstmotiv dargestellt ist, in unsern Kunstgeschichten als das
älteste Denkmal der griechischen Kunst,
Wenn dennoch in letzter Zeit auch vereinzelt nicht nur die Bildnerei der
orientalischen, sondern auch die der Halbkultur-, der Natur- und der UrVölker, ja
sogar der Tiere in den Bereich der Kunstgeschichte gezogen wird, so ist man
damit doch nicht zu wesentlich andern Zielen gelangt. Weder wurden die Ent¬
wicklungslücken zwischen der orientalischen und der griechischen Kunst noch die
zwischen der akkado-sumerisch-babylonischen und der ägyptischen, noch weniger
die zwischen der geschichtlichen und der geschichtsloseu Kunst ausgefüllt. Für
diesen Mangel an inneren Zusammenhang bietet einen nur schwachen Ersatz der
Zuwachs an Stoffmassen. Sie machen unsre Kunstgeschichten zu nützlichen Nach-
schlagebüchcrn, die zwar Haufen von Bausteinen ansammeln aber nicht nach
architektonischen Gesetzen zu einem Neubau zusammenfügen.
Solange man sich wie in den Zeiten des Neogräcismus darin gefiel,
in schwindelerregenden Konstruktionen, denen jeder thatsächliche Unterbau fehlte,
deu Nachweis zu liefern, daß nur Eius das Schöne sein könne, und dieses
Schöne sich allein in der griechischen Kunst offenbart habe, mochte dies ge¬
rechtfertigt sein. Ein solcher Standpunkt entsprach Zeiten, wo die Kunst deu
Weg zum Volke noch nicht gefunden hatte, die Geschichte nur Raub- und
Dynastenstaaten kannte, und die menschliche Gesellschaft ständisch, religiös und
politisch weit mehr als heute zerklüftet war. Er wird aber nicht mehr der Er¬
weiterung gerecht, die im letztem Jahrhundert nicht bloß unser geistiger und
politischer Horizont, sondern auch der Begriff der Menschheit erfahren hat. Aus
den Raub- und Dynastenstaaten sind National- und Weltstaaten geworden, die
die entlegensten Weltteile in ihre Interessensphären hineinziehn und die Erd¬
bewohner zu einer organischen Einheit, zu einem gewaltigen Gesamtorganismus
umzugestalten streben.
Wir sind allgegenwärtiger geworden, seitdem uns die Schiffahrt alle Ozeane
wegsam, und der Telegraph alle Bewohner der Erde zu Nachbarn gemacht
hat, und sehen nicht mehr wie die Völker des Altertums oder des Mittelalters
in einer Volksindividualität oder einer Glaubensgemeinschaft die Menschheit.
Unser Blick richtet sich vielmehr hinaus auf alle Meere, Länder und Lebe¬
wesen und erkennt immer mehr, daß alle Menschen Glieder einer Kette sind,
und unsre Zivilisation mit der Wurzel bis zu den kulturfernsten, zurückgebliebnen
und bisher vernachlässigten Schichten der Menschheit hinabreicht. Kurz, wir
werden uns bewußt der individuellen Überhebung, mit der so viele Kultur¬
völker meinten, ihre politischen, religiösen und künstlerischen Bildungen seien
aus dem Boden ihrer nationalen Vorstellungen ohne jeden fremden Einfluß
erwachsen; und wir sehen nicht mehr Klüfte zwischen uns und den Ur- oder
Naturvölkern, sondern nur Gradunterschiede.
Darum können die Ansichten der Griechen, der Neogräeisten und der
modernen Kunsthistoriker über die Anfänge der Kunst mit Hindernissen ver-
gliche» werde», die, wie die Katarakte des Nils, bis in die jüngste Zeit
hinein den Zugang zu den wahre» Quellen der Kunst versperrt haben. Sie
bannen das Wesen der Kunst in die Grenzen bevorzugter Volksindividualitäten
und machen es abhängig von einem objektiven Schönheilsbegriff. Der Begriff
des Schönen ist aber subjektiv. Er ändert sich mit dem Vorstelluugsiuhnlt
und der Naturauffassung der Menschen und ist unabhängig von der Form
und dem Inhalt des Kunstwerks. Die Kunst ist also auch nicht das geistige
Erbteil bestimmter Völker, sondern eine allen Menschen angeborne Fähigkeit,
die wie das Handwerk durch Übung entwickelt wird, aber nicht durch praktische,
sondern durch geistige Motive in ihrer Entwicklung bestimmt wird.
Von diesem Standpunkt aus können die Gebilde des Diluvialmenschen
sehr wohl als die bescheidnen Ahnen unsrer größten Künstler gelten, da sie wie
diese dem ästhetischen Bedürfnis ihrer Zeitgenossen gerecht geworden sind und
dieselbe» Gefühle der Lust, der Erhebung und der Bewunderung hervorgerufen
haben. Auch sie setzen schon eine vieltausendjährige Entwicklung voraus, die
bis zu der Absonderung des Menschen vom Tiere zurückführt und die nebel¬
hafte Vergangenheit umfaßt, wo der Stab uoch nicht zur Lanze und der Stein
noch nicht zum Werkzeug geworden war. Wir könne» nicht mehr den Weg ver¬
folgen, den der Mensch hat zurücklegen müssen, bevor er auf die Höhe gelaugte,
auf der seine Kunst im Diluvialzeitalter erscheint. Nur als Vermutung ist
ausgesprochen worden, daß die kindliche Hilfsbediirftigkeit die Hauptursache
gewesen sein dürfte, der wir es verdanken, daß wir aus Tieren zu Mensche»,
aus Knechten der Natur zu Herren darin geworden sind. Unter den Fähigkeiten
aber, die sie entwickelte, wurde dem Urmenschen in seinem Kampf ums Da¬
sein gerade die bildnerische von ganz besondrer Bedeutung. Sie leitete ihn
an, seine eignen Organe durch Nachbildung zu verstärken und die Kraft des
Armes durch den Stock und die Lanze, des Armknochens und der Faust durch
die Keule, des Zahnes und der Zahnreihe durch Meißel und Säge, des Fingers
mit dem Nagel durch Bohrer und Schaber zu vervielfältigen. Damit erst wurde
dem an angebornen materiellen Waffen so armen Menschen die Möglichkeit
gegeben, die Herrschaft über das Tierreich zu erringen, die er schon in der
zweiten Hälfte dieser Periode hatte.
Diese zweite Hälfte der ersten Entwicklungsperiode der Kunst ist seit einem
Menschenalter in ein immer helleres Licht getreten durch die Funde, die vor¬
wiegend in Europa, außerdem aber auch in Nordamerika in steigender Anzahl
zu Tage gefördert worden sind. Schon vorhin wurde die sogenannte Venus von
Brassampony und eine Ritzzeichnung auf einem Nenntiergcweih erwähnt. Sie
liefern neben zahllosen Steinmesscrn, Pfriemen, Sägen, Lanzenspitzen, Äxten,
Nadeln, Pfeilspitze», Harpunen und Dolchen nur einen Teil der rundplastischen
Darstellungen, Skulpturen und Gravierungen und gehöre» mit diesen zwei
Perioden der palävlithischen Kulturperiode an, dem Mammutzeitalter, einer
wärmer» Vor- und Zwischenzeit mit freien Wohnplätzen in den Ebnen, und
dem Reuutierzeitcckter mit kaltem Klima und aus Höhlen stammenden Werk-
zcugformeu und Bildwerken.
Inhaltlich verraten sie alle den Kulturcharakter des Jägerlebens, der beiden
Zeitaltern gemeinsam ist, aber ihre Form zeigt deutlich die Fortschritte, die
auch in damaliger Zeit schon Handwerk und Kunst gemacht haben. Je nach¬
dem die Werkzeuge mit Schlagsteinen zugeschlagen, durch Druck zurechtge-
schnitten, durch Absplitterung gemuschelt, retouchiert oder mehr oder weniger
symmetrisch zugespitzt, die Umrißzeichnungen eingeritzt oder halberhaben heraus¬
gearbeitet sind, gehören sie ältern oder jüngern Entwicklungsperioden an. Auch
in Bezug auf den Stoff treten diese Fortschritte hervor, wie es der Übergang
von dem härtern Gestein zu dem bildsamern Horn und Knochen beweist.
Allerdings war die Feindschaft zwischen der Natur und dem menschlichem
Geiste damals uoch zu groß, als daß eine Vermählung beider, eine Darstellung
des Subjekts im Objekt, wie sie sich im eigentlichen Kunstwerk vollzieht, hätte
erfolgen können. Der Vorstellungs- oder Bewußtseinsinhalt war auch noch
zu beschränkt, als daß die künstlerischen Produktionen Übersetzungen in eine
persönliche und neue Sprache Hütten werden können. Man wird aber seine
Bewunderung diesen ehrwürdigen Werken ebensowenig versagen wie die Ur¬
ahnen, deren ästhetisches Lustgefühl sie erweckten, wenn wir bedenken, daß der
künstlerische Standpunkt, auf den sich ihre Verfertiger geschwungen hatten,
durch unermeßliche Zeiträume hindurch nicht überschritten worden ist. In dem
ganzen neolithischen Zeitalter, wo der Mensch vom Jäger- zum Nomciden-
tum vorschritt, an dem Hunde Zühmungsversuche anstellte und sich mit Hilfe
der Zähmung eine immer größere Anzahl von Tieren dienstbar machte, hat
die Kunst, wenn mau von der Glüttung der Steine und der weitern Aus¬
bildung der Keramik absieht, keine Erhöhung erfahren. Auch als man an¬
fing, sich durch künstlichen Anbau Vorräte zu verschaffen, die allmählich die
Zwingherrschaft des Hungers brachen und den Geist für höhere Interessen als
die Befriedigung dieses Tyrannen freimachten, werden die Fortschritte kaum
merklich.
Gerade die Entwicklung, die die Religion in dieser Zeit erfuhr, indem
sie von dem Fetischismus oder dem Angriff auf die Gottheit zur Idolatrie
oder der Unterwerfung unter die Gottheit vorschritt, war der bildenden Kunst
günstig. Aber sogar im Orient, wo zuerst die Götter aus gestaltlosen, großen
Dämonen oder Schattenbildern in menschlich fühlende und menschlich handelnde
Wesen von bestimmtem Charakter umgedichtet wurden, erhob sich die bildende
Kunst nur wenig über die des Diluvialmenschen. Auch der Ägypter blieb an
dem Typischen der menschlichen Figur haften und vermochte sich nicht zur
vollen Freiheit der Kunst zu erheben trotz der Fortschritte, die die Technik
mit der Bearbeitung der Metalle gemacht hatte. Über den Teilen des Körpers
erkannte er das Ganze ebensowenig wie der Ureuropäer. Darum überraschen
auch bei ihm ebenso wie bei diesem die Lebendigkeit und die Naturwahrheit
der Tierdarstellungen gegenüber der mangelhaften Wiedergabe des menschlichen
Körpers. Seine Reliefs aber, die ausnahmlos nur Umrißzeichnungen sind
und zur Zeichenkunst gehören, stellen zwar einen größern Kreis von Er-
scheinungen der Wirklichkeit dar, setzen aber keine höhere Entwicklung der
Griffelkunst Voraus, als sie im Diluvialzeitaltcr schon vorhanden war.
r hörte seine Schritte poltern auf der stetig bergan führenden,
steinigen Straße. Dann hörte er das Rauschen des Baches hart
an seiner Seite. Oben ans den Bergen stürzte er herab, von
Gefälle zu Gefälle, schmal nur, blank wie weißes Glas über seinem
Lager von Sand und Kieseln, und von zahlreichen kleinen Schützen
l aufgehalten und zum stauen gebracht, Bohlenstücken, hnudhoch
etwa, die eingetrieben waren, um Tiefe zu schaffen zum Wasserschöpfen.
Denn hier fingen seitlich die Gehöfte von Seitengoschen an.
Es war eine einzige Straße das Bachufer entlang. Bald lag drüben ein
Gehöft, bald hüben, je nachdem die Berglagerung Raum bot, und um mindestens
Steinwurfweite das eine vom andern entfernt. Eingebuchtet — angeklebt den
Bergen — dem Bergausatz, der abgeschachtet war, wie eine wehrhafte Ansiedlung
aufgesetzt. So viele Gehöfte es gab, soviel Schützen waren im Bach, und soviel
Brückchen führten hinüber. Eine Mandel Gehöfte etwa, das war der ganze Ort.
Ein paar neue waren darunter, um den alten war hier und da ausgebant und
erweitert worden. Zuletzt tauchte sein Gehöft auf, gut imstande gehalten, mit
neuer Schieferdeckung; aber doch wie eng und ärmlich gegen seinen jetzigen Besitz!
Vor jedem Gehöft hatte er ein paar Minuten gestanden, alles in Augenschein
genommen, was sich etwa verändert hatte, und was geblieben war. Er hatte auch
die Menschen betrachtet, die bei den Gehöften arbeiteten. Hier spülte eine Frau
die Wäsche für das Kindchen an der Bachschütze. Das konnte ihren hellen Haaren
nach eine Günther sein. Die Günthers waren also ans ihrem Grundstück verblieben.
Drüben besserte einer neben seinem Hause deu Weg aus, der vom letzten Unwetter
gelitten haben mochte, er trieb Stellen ein und packte Gestein darauf, Erdreich
wurde nachgeworfen. Man sah noch, wo es abgerutscht war, hart an der Scheunen¬
wand. Die ehemals hier gehaust hatten, waren schmalköpfig mit schwarzen Haaren
gewesen, der Mann bei der Arbeit war dick und hatte einen breiten Schädel.
Mochte ein Eingeheirateter sein. An der Röhrenleitung, seinem Gehöft gegenüber,
sah er Männer und Frauen beim Wasserholen. Fingerdick lief der Strahl in den
massigen Steintrog, der die Stelle des Reservoirs vertrat. Der Überschuß floß
durch eine unterirdische Leitung dem Bächlein zu.
Sein Gehöft! Wie ein fremder Bau stand es da, der dem Wandersmann
nichts zu sagen hatte. Die Wiedersehensfrende wollte nicht kommen. Die Wehmut
packte ihn nicht. Er setzte seinen Stock vor und pilgerte weiter.
Hier und da war noch ein schaffensmüder Fettstreifen in den dunkeln Fichten¬
bestand eingebettet; aber bald war nichts ringsum zu sehen, als die stillen, grünen
Berge, die heiligen, schwarzgrünen Fichtenflächen: wie ausgebreitete Riesenteppiche
mit Millionen eingewebter Wipfel streckten sie sich hin, bergan bergab. Vor ihm,
hinter ihm, zu beiden Seiten, wohin er blicken mochte, waldbcstandne, dunkle Berg¬
riesen. Der anstrebende Weg führte ihn weiter bergauf, bog sich, und neue Wald-
uud Bergkulissen waren vorgeschoben; er war vom Bachlanf abgekommen, nur der
stille, steile Weg lief in der Waldeinsamkeit dahin.
Und dann that sich die Waldeinsamkeit auf zu einer Waldwiese mit einer
Kirche und dem Gottesacker. Wunderbar feierlich hob sich der rote Steinbau von
den grünen Fichten ab, der rote, schlanke Turm aus dem Schutz der dunkeln Berg-
Häupter. Auf dem Gottesacker standen bescheidne Denkmäler von Hellem Sandstein
oder schmiedeeiserne Tafeln und Kreuze. Eine Mauer ans gebrochnen Steinen war
rundherum aufgeführt.
Jahr öffnete die Thür und trat ein. Es dauerte nicht lange, so hatte er das
Grab seiner Mutter gefunden: Hier schläft in Gott Renate Auguste Lydia Jahr
geborne Grunert. Der Hügel war verfallen und von Nasennarbc bedeckt, das Kreuz
war umgesunken. Er richtete es auf und versuchte, es tiefer in den Erdboden zu
lassen, schnitt und grub mit seinem Messer; aber der Erdboden war hart wie Stein,
sodaß er seine Arbeit einstellen mußte.
Und von seines Vaters Grab keine Spur. Doch um der Mauer lehnten alte
Grabsteine mit verwitterten Zuschriften. Der alte Mann ging von Stein zu Stein
und entzifferte mit vieler Mühe, bis er es auf einem Scherben fand: Adam Heinrich
Otto Jahr . . .
Er stand wieder vor der Scholle, unter der seine Mutter ausruhte, kniete
nieder und faltete die Hände, um sein Gebet zu sprechen. Statt dessen liefen ihm
die Thränen über die Wangen. In Abständen kamen sie herauf, als sei der Born
bald erschöpft, aus dem sie flössen. Nicht um dieses Wiedersehen nach so vielen
Jahren weinte er; er selber war ein alter Mann und stand dem Grabe näher als
dem Leben; nein, er weinte um diese Heimkehr, die er so heiß ersehnt hatte.
Er durchschritt die Grabreihen und studierte die Inschriften, stieg die Stufen
zum Kirchlein empor und feste sich nieder. Wie ein Traum zog es an seinem
wachenden Auge vorüber, wie er mit dem Schwiegersohn auf den Wagen gestiegen
war zur Reise in die alte Heimat; wie er angekommen und von Enttäuschung zu
Enttäuschung gewandert war; veränderte Ortschaften, veränderte Wege hatte er
vorgefunden, freilich alles zum Guten verändert.
Und dann die Meuscheu! Herbert Beckmnnn, sein Herzbruder, im Rausch vom
fallenden Baum erschlagen, nachdem er in unordentlichen Verhältnissen gelebt und
den Armeneid geleistet hatte. Nichts von ihm geblieben als ein Liebeskind, das
irrsinnig war.
Darauf dachte er an Schunkes, an Alma Diesel.
Hinter ihm die gelbgebeizte, spitzbogige, schwere Bohlenthür mit ihren reichen
Eisenbeschlägen und der schöne, schlichte Ban der roten Kirche, vor ihm der kleine
Friedhof mit seinen Kreuzen und Tafeln, den wohlgepflegten wenigen Gräbern der
letzten Generation und den verfallenden und verfallnen Rasenhügeln derer, die schon
länger ausrüsten von ihren Freuden und Lasten, und um ihn die grünen Berge
mit den unbewegten Fichtenwipfeln. Er saß mit gesenktem Kopfe, die Arme auf
den Schenkeln. Ranzen und Stock lagen neben ihm auf den Kirchenstufen. Vogel¬
laute drangen herüber, der Schrei der Rabenkrähe, der Ruf des Spechts. Sachte,
warme Sonne flutete hernieder.
Er dachte daran, wie der alte Scheckg mit seiner Hausfrau getanzt hatte. Das
war Priska gewesen. Wie sie dann an ihn herangekommen war, das Taschentuch
in den Händen und ihn gefragt hatte, sie habe gehört, er sei viele Jahre fort¬
gewesen . . . Und dann sah er den Pfeiff-Schneider mit seinen mächtigen alten
Fäusten auf dem Acker zupacken, und ihm fuhr durch den Kopf, was Emma von
der Werbung des Großvaters erzählt hatte. Du überfällst ja mich gar! hatte Priska
dem Dränger erwidert.
Und der alte Jahr dachte: Der zwingt auch mich mit seinen großen Fäusten.
Der trntzt mirs ab, der alte Halunke.
Er hörte es donnern und blickte ans; aber der Himmel war licht und voller
Sonnenstrahlen. Das Donnern verstärkte sich bald, eine Staubsänle hob sich vom
Wege und zog der Straße nach thalab. Danach war Ruhe und Windstille.
Jahr dachte doch an den Rückweg. Er wollte mir bis Seiteugoschen hinab
und in seinem ehemaligen Gehöft vorsprechen, möglicherweise auch noch hier oder
da anfragen, sodann in Göschen im Gasthof übernachten und ein einem der nächsten
Tage die Heimreise antreten. Inzwischen streifte er wohl durch die im Umkreis
liegenden Ortschaften, sagte dem oder jenem guten Tag, auch Priska. Ja, das
mußte er schon. Und er sah sie zwiefach, als Mädchen in der ersten Blüte ihrer
Jugendjahre, und als Greisin, die ihr Tagewerk vollbracht hatte, die ihre guten
Hände um einen unbändigen Menschen gelegt hatte, der stromab trieb. Wie hatte
der alte Scheckg gesagt, als er sie bedrängte? Ich kann mir das vürstelle, hatte
er gesagt, daß ich einen könnte überfallen und den windelweich hauen ans bloßen
Spaß an der Sache.
Als er die Kirchhofsthür hinter sich zuklinkte und nochmals sein Auge über
das Stück Frieden im tiefe» Walde schweifen ließ, über das rote Kirchlein mit
seinem schlanken Turm, der gelblichen schweren Bohlenthür, den kleinscheibigen,
hohen Kirchenfenstern, und über den Friedhof mit seinen Grabreihen, den ver-
wucherten dahinten und den freundlichen, gepflegten dem Eingang nahe, über die
hellen und die dunkeln Kreuzchen und Tafeln, über diese kleine Scholle der Ruhe,
des Erlöst- und Geborgenseins im tiefen Nest der stillen grünen Berge — als er
die Thür zuklinkte, stieg wieder eine Staubsäule auf und tanzte daher, hoch, steil,
in der Spitze ein wenig geneigt und nach unten sich verbreiternd und neuen Staub
aufhebend mit ihrer fahlen Schleppe.
Im Nu war alles in eiuen grauen Schleier gehüllt, Kirchlein und Berge und
das smmendnrchlenchtete Himmelsblnn, und als sich der Staub verzog, sah Adam
Jahr aus dem Bergschlupf hervor eine Frauengestalt treten und mit hastigen Schritten
daher kommen. Sie war nicht groß aber wohlgenährt, trug den Korb auf dem
Rücken, der von der vielen Tragelast so herübergebückt war, daß der Kopf Vorstand
wie bei einer Schildkröte. Das Gesicht war fahl und gelb, aber von großer Heiter¬
keit, an den nackten Füßen saßen breite, flache, schwarze Sammetschuhe. Wie eine
Kugel im Rollen, so kam sie daher, mit Schritten, die weit auslangten und ein¬
ander in unglaublicher Schnelle folgten. Der runde Rücken machte, daß mau nur
an eine Kugel dachte, wenn man sie sah, und daß man des Kopfes und der
Füße vergaß.
Guten Tag, schrie sie, es kommt nauf.
Jahr lief, was er konnte. Es sieht so, sagte er. Wo kommt Ihr denn her?
Ich bin Botenfrau und will auf Seitengoschen.
Seid Ihr da zu Hause?
Jnjn.
Laufen konnt Ihr! sagte er und lachte.
Sie ging ein wenig langsamer und sagte: Mein Vater hat immer gesagt:
Was soll das mit den schlunkrigen Gang; wie ma sich gewöhnt, so bleibt ma.
Immer trapp zu!
Damit geriet die Kugel wieder ins Laufen, und Jahr schrie, um sie aufzu¬
halten: Aber Ihr seid doch auch schon in den Jahren . . . he!
Dreiundsiebzg.
He! sagte er erbaut. Seid denn Ihr gebürtig aus Seitengoschen?
Ja, das is mei Ort. Mein Vater war der Schuster-Franz. Na und Ihr?
fügte sie und wandte den Kopf um die Schulter, denn sie war richtig vorüber ge¬
schossen. Euch kenn ich doch nicht. Und hier kennt ma sich doch einer den andern
in den Ordern.
Mein Ort ist aber auch Seitengoschen, und ich kenn dich satt. Er lief wie
seit vielen, vielen Jahren nicht mehr. Ich bin Adam Jahr; der erste Hof hier
gleich beim Nöhrechen is mir gewesen. Und du hast doch wohl bei mir gedient —
gelle? —
Sie blieb stehn, musterte ihn, indem sie den Kopf hob und senkte und sagte:
T gar! das bist du? Na willkommen dcrhäme. Jnjn, zur findt sich wieder. Aber
Wa müssen springen, 's Wetter ist gleich da.
Sie hielten Schritt, Jahr strengte sich bis auf den letzten Blutstropfen an,
denn er wollte sich nichts vergeben. So sausten sie bergab zwischen den steilen
Fichtenbergen. In eine Ecke ihres Korbes war der dicke Regenschirm gesteckt mit
handfester, über den Rand hinausragender Krücke. Wie eine Leben gewordne Zehn
liefen sie nebeneinander. Er aufrecht, lang und hager, sie kugelrund, mit dem
hängenden Kopf und den schleunigen kurzen Beinen.
Aber das Wetter war schneller als sie. Es donnerte über ihnen, nicht rin
dem Rollen und Krachen, unter dem der Erdboden zittert, sondern kurz und klatschend,
als werde ein Stoß irdener Teller auf einen Bort niedergesetzt, ein unheimliches
Geräusch, und dazu ein unheimliches, glasiges Licht aus weißdunstigem Himmel.
Dann kam der Regen, die Tropfen groß wie Erbsen und heftig aufschlagend wie
Schießkugeln. Als die beiden Menschen im ersten Gehöft untersprangen, waren sie
naß bis auf die Haut, der Weg sah aus wie ein Fluß mit strömendem Wasser,
und der kleine Bach rauschte hoch und ockergelb, und manch eines der darüber
führenden Vrückchen wurde gefährdet.
Die Frau untersuchte zunächst den Tragkorb, ging dann in die Kammer, aus
der sie im kurzen Rock mit geliehener Jacke, die an keinem Ende Paßte, zum Vor¬
schein kam. Jahns grauer Anzug samt dem Vorhemdchen hing schon auf der Stange
am Ofen, und er war statt dessen mit einer Weißen Arbeitshose und dunkler Woll¬
jacke vom Wirt bekleidet. Der Scheitel hatte sich auch verschoben.
Mine Eisermann, die Botenfrau, sagte: Jtze sieht er, so wie sichs gehört, zuvor
sah er so kerchlich. Aber der horcht nicht auf mich — gelle du?
Ich horch schon, antwortete Jahr.
Sie setzte sich auf die Bank an dem klotzigen, grünen Kachelofen, der vom
Kochen warm war. Jahr stand mitten in der Stube. Hier hatte er die fünf¬
undzwanzig ersten Jahre seines Lebens zugebracht. Er sah die Wände an, die Fenster,
den Ofen. Die Stube war tapeziert; zu seiner Zeit hatte sie grauen Anstrich
gehabt. Die Dielen, das Gebälk — das war das alte geblieben. Die Kacheln
auch, er erkannte die hübschen Eckkacheln mit den kleinen Säulen. Der Regen hatte
aufgehört, aber das fürchterliche Donnern setzte nicht ans, dieses unheimliche, klang¬
lose, kurze: Klack! klack! das wie verhaltenes Einschlagen klang.
Der Hofbesitzer, noch ein junger, stattlicher Mann mit einer saubern, frischen
Frau, ging unbekümmert ab und zu. Er wußte, wen er beherbergte, und wollte,
wenn er nachher den Gast durch die Wirtschaft führte, auch Ehre einlegen. Die
Frau kochte Kaffee. Die Fenster wurden weit aufgemacht, das Donnern war ver¬
hallt, die Sonne schien, der Weg draußen war wasserfrei. Aber der Bach rauschte
und sprang, und am Vrückchen stauten sich Scheiter und junge Fichtenstcimme oben
aus den Bergen, wo das Wetter seine beste Kraft entladen hatte.
Jahr ging hinaus und half dem Wirt, die willkommne Holzzufuhr bergen,
ehe sie Schaden anrichtete. Die Arbeit war nicht ganz leicht, die Zweige hatten
sich verflochten, und das Holz war ineinander geteilt wie eine wohlgebaute Barrikade.
Das Wasser staute sich und schoß über die Brücke.
Der Nachbar kam dazu und fragte: Was hast denn du itze für einen Tage¬
löhner?
Nun antwortete der Wirt: Ich hab gar einen vornehmen. Der hats in Mitteln,
daß er uns alle zwei thut auslaufen.
Darauf der andre: Mit der Garderobe sieht mans ihm ja nicht an, aber er
wirds schon in sich haben.
Der Wirt: Seine guten Sachen, die schont er derweile, die hängen bei mich
an'n Kachelofen.
Indessen arbeiteten sie. Die Barrikade bekam einen Riß, und das Wasser,
wie vom Schlauch getrieben, schoß dem Zuschauer an die Beine. Sie lachten, und
Aline Eisermann, die am Hofthor stand, mit ihrem reichlich kurzen Rock, schrie
hinüber: Das is Jahns Adam, dem früher hier der Hof gehört hat. Auf den
kannst du nicht zurücke denken, der is schon zuvor weg aus dein Orte!
^ Sie saß auch mit am Tisch, als die Hausfrau Kaffee und Tätscher auftrug,
^nhii mußte erzählen, weshalb er hergekommen sei, und wen er schon gesprochen habe.
Der Wirt lachte, als er den Namen Schurke aussprach, Aline aber rief heiter:
Die Fraue heißen sie den Franzosen, weil sie soviel schimpft. Die brummt den
!W>zen Tag. — Jujn, der ist er auch mal zu Gefallen gelaufen, sagte sie zum
^ire. Und den hängenden Kopf zu Adam Jahr gewandt: Gelle du?
Ja, das haben wir gemacht, sagte Adam Jahr mit leichtem Herzen.
Aline langte nach der Kaffeekanne und schenkte ein. Das wär keine gute Sache
geworden. Er hat das in der Gewohnheit gehabt, daß er immerwent propvniert
^t. Ich du dann gethan, als höre ich nichts. Aber das ist den ganzen Tag in
ewer Tour gegangen mit der Prvponirereie. Mich schvkeriert sowas nich, und ich
^'ar ja auch bloß Magd. Aber wenn er den Franzosen hätte geHeirat - gelle du?
Jan — — antwortete Jahr mit süßsauerm Gesicht. Wenn er sichs recht
überlegte, so war er ja wohl wirklich el» wenig rechthaberisch gewesen. Ja ja, sagte
^' hiernach merklich aufgeräumter, wen» man eben jung ist —
Aline, die vorgebückt breit am Tisch saß, fiel heiter ein: Da hat ma seine
fester, und wenn ma alt wird, da hat ma seine Gebrechen. Auf den Beinen, dn
'ses doch auch nicht mehr ganz richtig mit dir — gelle du?
Na du! Na du! eiferte Jah».
Habt Ihr sonst noch wen gesehen? Der Wirt schob ihm die Kaffeekanne hin,
^' solle zulangen.
Ach, die Menge, antwortete Jahr. Den Pfeiff-Schneider, den hab ich anch
getroffen, der ankerte, hatte eine Kuh und ein Pferd vorgespannt, an der Straße wars.
An der Ehm/°) sagte Aline.
Die Frau saß auf ihrem untergeschlagnen Bein, bückte sich über den Tisch und
Zeigte ihren Mann: Wen meint er denn?
No — sagte der, er wird doch Wohl den Tätscherbttcker meinen, den alten.
Jnjn, sagte Aline heiter, wenn von'n Pfeiff-Schneider gesproche wird, nachher
'>es der alte Scheckg gewasen.
Die Hausfrau aber sagte nun mit frischem Lächeln: Wiedersehen, das macht Freude.
Jahu strich mit der Hand gewohnheitsgemäß über sein Haar, fühlte, es war
^rr untereinander, sah auf die grobe Arbeitshose und die Wolljacke, die ihm der
^re geliehen hatte. Wie ein Arbeitsmann saß er am Tisch neben den andern.
Der Wirt saß oben an der Schmalseite in Hemdärmeln, breit aufgelehnt;
"eben ihm Jahr, danach Aline, die mit den Sammetschnhen schlenkerte, weil sie
^e Diele nicht erreichte, und zuletzt die Hausfrau in ihrem saubern, viel gewaschnen
^lciudruckzeug. Der Wirt sagte also: Wenn ma einen guten Rat will haben, da
"'uß ma bein alten Scheckg vorspreche. Der hat Verstand wie ein Schreiber,
^ weiß einem zu sagen, wie ma sich rucken und wenden soll. Der hat schon
'"«»es einen unterwiesen, wie er seine Wand soll machen, daß er keinem zu nahe
^et und kommt nicht mit den Gerichten in Bernburg. Und sonst auch in Ehe-
Men. Er hält auf die Weibsen. Das muß bei dem immer gesittet zugehn. Und
Aspekt haben sie vor ihm, das weiß er anzustellen. Sie haben ihrer drei Mädchen.
^'le hat nach Kölle geHeirat und eine nach Rasch, und die ältste hat die Wirtschaft.
Schwiegersohn is anch nicht zu verachten; aber das gewiefte Talente vom
Scheckg hat Weber nicht. Er hat aber was dazu gebracht. In, gegen den
^'u in dem Hanse kann ma nichts sage.'
Die Frau mischte sich wichtig ein: Von Nippen, da sprechen sie anch mancherlei,
^' geht bein Apostolschen. Hannfriede hat ihn angepackt, obs wahr ist. In, hat
/ gesagt, er ginge hin. Der turuf nicht überwinden mit Schunkens Linna. Ach,
'ud der ihre Mann, der hat sie nicht aus Liebe genommen, bloß ihrem Gelde
^gen, die ist neingerammelt ins Unglücke. Der hat gar eine leichte Seite.
Und endlich kam Aline wieder zu Worte; sie sagte- Das ist wahr, ich bin
nicht so weich, aber das hat mich gedauert mit Nippen. Na, der alte Scheckg,
der steht ihm bei, der wird ihm schon was anders verschaffe. — Wie ist denn
das mit Euch gewasen — gelle du? fragte sie. Dn war doch nie keine Einigkeit
mit dir und mit den Pfeiff-Schneider? Er hat den Humor gehabt, und du hast
keinen gehabt, und er hat ihn an dir wollt auslasse, und du hast dirs nicht wollt
gefallen lassen. Ihr wart alle beide nichts nutze. Ach, es ist wahr, der Thomas,
der hat immer gesagt: Die Menschen, die sind schon gut, wie sie sind, bloß ich
tauge nichts. Und dn, du hast gesprochen: Ich bin der einzigste von alle mittenander. —
Und sie sagte wieder voll heiterer Freundlichkeit: Gelle dn?
Adam Jahr setzte sich steif aufrecht und antwortete: Das muß ich sagen —-
du verputzt mich ja schöne! Damit tastete er nach dem Würstchen, um sein Haar
zu glätten.
Nun rief Aline verblüfft: Das gilt nichts, was ich rede. Und mit der alten
Heiterkeit fuhr sie fort: Mir haben uns geändert mit den Jahren.
Die Wirtin schob wacker die Kaffeekanne zu und schnitt vom Tätscher ub.
Aline sagte: Juju — ich hab das gewußt mit den Regen, daß der kommen
wird. Heute zu Morgen huppte e Frosch am Wege, und der war trocken. Wenn
ma gut Wetter hat, dann schwitzt der Frosch, dann ist er naß. Ich muß nunc
denn. Sie stieg aus der Bank und verschwand in die Kammer. Und da dauerte
es nicht lange, bis sie wieder zum Vorschein kam, jetzt wieder mit ihrem eignen
Zeug angethan.
Wie ist denn das? fragte sie, soll ich deinen Rock mit been Schneider nehmen,
er mag ihn cmfbügle, und die Hose auch —?
Na ja, nimm mit, sagte Adam. Lebt denn dein Mann noch?
Der is tot.
Ist er denn gut auf dich gewesen?
Juju, sagte sie. — Und nach einer Weile: Wenn die Gemeinde zusammen¬
kommt, die Hausbesitzer wollen beraten, und ich stell mich nicht ein, dann muß
ich Strafe bezahlen; geh ich aber hin und spreche für meine Sache, dann heißt
das, ich solle schweigen, Weibsen, die hätten nich mitzureden. Und so hat auch
mein Mann gesprochen. Wenn mir auch Recht hätten, hat er gesagt, mir dürften
doch nicht Recht behalten. Mann wär Mann. Der ging immer den Weibsen vor. —
Willst denn du mich nicht auch besuche?
Das kann geschehn.
Sie hatte ihren Korb auf dem Rücken, reichte die Hand, sagte schönen Dank
für genossene Kost und Unterkunft und wünschte Guten Tag miteinander.
Darauf richtete die Hansfrau das übliche Ersuchen: Balle wedder! — sie
möge bald wiederkommen.
Und nun sah man sie dahintraben, über das Brückchen und den Weg hinab.
Der Schirm ragte hoch aus dem Korbe auf, der Kopf hing uns die Brust, und
die Sammetschnhe flogen eifrig dahin, einer den andern überholend.
Die Botenfrau hatte ihn abgelenkt. Das Gleichnis vom Zöllner und Phari¬
säer fiel ihm ein. Er sagte sich zuletzt, ja, das werde schon zutreffen, er werde
auch wohl schuldig sein und nicht bloß der Pfeiff-Schneider. Und so feierte er
nun sein Wiedersehen mit dem alten Gehöft, auf dem schon seine Urgroßelter»
gesessen hatten.
Als der Schneider seine Sachen gebracht hatte, besuchte er die Nachbarn, und
zuletzt pilgerte er bergab nach Goschen ins Nachtquartier.
Die Sonne war schon seit einer Weile hinter den Bergen verschwunden, die
Stunde um Sonnenuntergang war nahe. Auf dem steinigen Weg, in den der
Regen bald versickert war, ging es sich dahin wie auf einer Tenne. Daneben
plapperte und sprudelte der Bach in seinein Wasserreichtum.
Es ging ihm nicht aus dem Sinn, was wohl der alte Scheckg von ihm
sprechen würde, wenn ihn einer um Adam Jahr liefragte. Der würde vielleicht
noch ganz anders Verfahren als Aline. Hier in Thüringen sprachen sie freier von
der Leber als bei ihm im Oderbruch,
Vorhin war er hier hinaufgestolpert mit seinem Kopf voll Gedanken, jetzt
blieb er stehn und sah danach, was sich an Feld und Forst verändert habe. Auf
den: Bergscheitel dahinten stand eine Reihe Wettersichten zwischen hoher Schonung.
Da war geholzt worden, sodann frisch eingeschont. Die Fichten waren als Samen-
trnger stehn geblieben und um das Wetter von der hohen Forst daneben abzuziehn.
Er dachte wieder an den alten Scheckg, der jedenfalls mit Pflügen noch vor
dem Unwetter fertig geworden war. Und während er noch an ihn dachte, hörte
er auch seine Stimme: Hcchüh! Scheckge! — Horch! — Horch! — Scheckge! —
Hu-e, du-e! Und wieder dachte er, was der Wohl sagen würde, wenn ihn einer
um Adam Jahr befragte.
Dann wurde es ihm leicht gemacht, denn als er heran kam, stieß gerade der
Graukopf seine letzte Furche herzu, erblickte ihn, schlenkerte die Leinen und schrie:
Habt Ihr alles richtg angetroffen?
Ja, schönen Dank, sagte Jahr und turnte auf den Acker hinauf. Der Spitz
und das Urenkelchen waren nicht da; vor den Pflug war nur die Kuh gespannt,
die aller drei Schritte stehn blieb.
Sie haben mich nunter geholt zu Mittge, erklärte der Graukopf, dem Pferde
wegen. Das hat mein Schwiegersohn verkauft, war schon e bischen alt. Wir
wollen e neues anschaffen. Er hat da was in Aussicht, einen Schimmel. Da kauft
er schon lange dran. Aber wenn er soll Geld ausgebe, dann ist das so, dann
Meidet er sich immer unpaß. Ich ha gesprochen, ich wills ihm eine Weile vor¬
schießen, er soll zupacken. Hu-e! Hu-e! Wo gehts denn itze hin?
nunter nach Goschen, antwortete Jahr, da will ich loschiere.
In Goschen, das ist doch mei Ort, da könnt Ihr doch auch mal bei mich
einkehren.
Ich hab schon dran gedacht, ich wollt vorsprechen. Ma hat noch mancherlei,
was ma gerne möchte wissen. Ich hab dahier noch einen gekannt, den hab ich
uicht mehr angetroffen, der hieß Adam Jahr und war in Seitengoschen zu Hanse,
leichte habt Ihr den auch gekannt - gelle?
Der Graukopf strich mit der Faust über den Mund und antwortete schlicht:
den hab ich gekannt. Der ist aber lauge fort aus dem Orte. Ma hat auch
uicht wieder was vou den gehört. Der wird itze wohl im Vollen sitzen. Ja,
sagte er und wischte wieder über den Mund, das war ein anständiger Mensch, der
Adam Jahr — fleißg - nie in Brand, daß er sich betrunken hätte. Ach, der
hat gar viel für mich gethan.
So — —? brachte Adam Jahr verblüfft heraus.
Ja!
So —---?
Ja. Und nun trieb er seine Kuh wieder an, und es klang: Horch! —
Scheckge! — Horch! - So ging es um ein paar Schritte dem Feldsaume zu.
Dann blieb die Kuh wieder stehn, und der Graukopf sagte: Wie die Kinder nu
not sind — wir durften ja nicht hehre beisammen komm, da hatten wir uns bei
^n Köpfen wir zweie. Ich war e heilloser Bengel, viel getaugt ha ich nicht.
>5es war hinterrücks. - Und dann hatte ich immer meinen Spaß dadran, wenn
einen konnte einen Puffen spiele. Ich ha zu wenig Schläge gekriegt in meinen
Zungen Jahren. Und Adam Jahr, der hat 'r zu viele gekriegt. Mir wegen hat den
leine Mutter balde zerpocht. Die war wie ein Mann in'u Hanse, die ließ ihm nichts
durchgehe. Und Adam, der war e sehr ordentlicher Junge, aber hitzig und eigen-
I", so war der. Hu-e! Hahns! Und wieder wurde die Furche ein paar
Meter weiter geschoben. Als die Kuh abermals stehn blieb, erzählte der alte Scheckg,
er seinen Freund Adam Jahr in die Saale getrieben habe.
Und ich lach zur eins und laß ihn beinah ersaufen, sagte er. Das war aber
uicht mit Bedacht geschehn, das war ans Unverstand geschehn. So schlecht war ich
doch nicht, daß ich das gewollt hätte. Und dann wuchsen wir aus allen Geschicke
und waren heiratsfähig. Und da ha ich ihm dann einen Freundschaftsdienst ge¬
leistet, für den ich freilich nichts gekonnt habe. Er lief dem Dietzel-Schmied seiner
Alma zu Gefallen, und die hatte es auf mich abgesehen, die wollte mich beleckere.
Wenn er den Franzosen geHeirat hätte, da wäre er in sei Unglück nein gesprungen.
Weiter hab ich nichts für den gethan, und das hab ich ohne meinen Willen gethan.
Adam Jahr zog sein Taschentuch, schneuzte sich und sagte: Er wird Euch auch
häuslich gekommen sein. Das ist nicht anders.
Der hat mir nichts gethan, antwortete der Graukopf. Na, Scheckge, horch!
Hnhiih! So kam die Kuh wieder in Gang, und die Furche wurde weiter gestoßen.
Jahr sah, daß der alte Scheckg besseres Zeug trug als am Morgen. Es siel
ihm auch auf, daß er nicht ganz so Pfiffig aussah. Jetzt trieb er und schlenkerte
die Leinen, wollte die scheckige zwingen, bis zum Ackersaum, wo dann die Arbeit
gethan war, auszuhalten. Aber die Kuh blieb stehn.
Der alte Scheckg sagte nun: Dann ist er fort. Weinte Eine Hinterrand, und
das war den Tätscherbäcker seine Priska. Ich wollte sie gerne trösten, aber sie
ließ sich nicht trösten. Das war mein Instinkt, daß ich von der nicht lassen konnte.
Der zu Gefallen bin ich gelaufen und gelaufen. Ich lief schon, als Adam noch in
seinen Orte war! Zuletzt hat sie gesehen, ich klammer mich feste, und sie wird
mich nicht los, außerdem, sie reißt mich in Stücke. Dn hat sie jn gesagt. Ist ihr
nicht leid geworden. No—o—o— Scheckge! — Scheckge!
Die Furche war zu Ende geankert. Der Graukopf hob die Pflugschar aus und
strängte ab. Dann half ihm Jahr, den Pflug auf ein Wägelchen schaffen, vor das
die scheckige zur Heimfahrt gespannt wurde.
Als alles soweit in Ordnung war, sagte der alte Scheckg, und ein Stück
Schalkheit sah wieder aus den überbnschten Augen heraus: Ich hab gedacht, der
seid Ihr selber, der Adam Jahr. Ihr habt so allerwent gefragt, daß es cvper
passen könnte. Priska sprach auch zu mir: Das ist er, den bringe mal mit. Wie
die Euch machten auf der Hochzg gesehen hat, da ist ihrs nein gefahren: Das ist
Adam Jahr! Und dann hat Emma gesagt, Ihr habt ihr erzählt, Eure Gegend,
die wäre platt wie e Tisch. Und das traf alles zu-----und auch sonst —
Und nun wurde sein Gesicht wieder verschmitzt, und er tastete nach dem Taschen¬
tuch, das er aus der Hose zog. Leichte hätt ich sonst hier nicht fertg gemacht,
hinte ----
Adam Jahr versetzte: Jn — das hat seine Richtigkeit--Ich hatte das mit
dem Heimweh gekriegt — — ich mußte mal wieder ein paar Berge sehen--
Da streckte der alte Scheckg die Hand aus und sagte: Willkommen drhäme.
Dank schiene.
Und dann sagte wieder der Graukopf, aber mit einem lauernden und doch so
wehmütigen Fuchsgesicht: Wiedersehen macht Freude! Zugleich kehrten sich beide
ab und machten sich zu schaffen, der alte Scheckg an der Kuh, Jahr am Pfluge-
Und just in dem Augenblick tauchte Rippe an der Wegbiegung auf mit seinem
ernsten Gesicht und seinen schönen, ruhigen Augen.
Ich ha ihn erwischt! schrie der alte Scheckg und fuhr mit der Faust über
seine Augen. — Na weißt denn du noch, wie sie als for dich gesagt haben? rief
er und packte Adam Jahr bei der Schulter: Blättchen-Grüne! Kam vom Karten¬
spielen; da hast du immer gesagt, dn thust ein Blcittchen Grüne her. — Aber du
loschierst bei uns, das lassen mir uns nicht nehmen! Jtze bin ich dreißig Jahre alt,
so bin ich aus dem Häusechen. Und das alles vom Fuchteln seiner Hände begleitet
und dem Recken und Znsnmmenschnellen seiner wackligen Gestalt.
Rippe lachte: Der Handel ist abgeschlossen, sagte er zum Großvater. Und zu
Adam Jahr: Wir haben ein neues Pferd gekauft, einen Schimmel. Er schüttelte
den Kopf. Das ist ein Tier wie ein Riese. Das sieht kraß mit den dicken Beinen.
Er faßte die Kuh bei den Hörnern und fuhr bergab.
Die beiden Alten gingen hinterher. Überall hatte der alte Scheckg was zu
zeigen und zu erläutern. Hier einen Streifen Feld, der in andern Besitz über¬
gegangen war, dn eine Waldparzelle, mit der sich irgend etwas geändert hatte. Dann
einen Steg, einen Berg, an die sich eine Erinnerung knüpfte. Rippe, der stetig
weiter ging, entschwand darüber ihren Augen.
(Schluß folgt)
Seit einer langen Reihe von Jahren ist
das Streben der russischen Finanzpolitik, deren Einfluß auf die allgemeine Politik
Rußlands von Jahr zu Jahr im Steigen begriffen ist, darauf gerichtet, ans den
drei Ländern: Deutschland, Frankreich und Rußland eine Art finanziellen Dreibund
herzustellen, worin Deutschland und Frankreich die Gebenden darstellen, während
sich Rußland ausschließlich die Rolle des Empfangenden vorbehalten hat. Diese
Konstellation war eingetreten, nachdem sich der frühere Darlehusgeber Rußlands,
England, im Jahre 1885 infolge des Vordringens der Russen in Afghanistan zürnend
zurückgezogen hatte und seither durch keine wie immer geartete Liebeswerbung des
russischen Finanzministers zu bewegen war, aus dieser Haltung wieder herauszu¬
treten. Nachdem im Jahre 1885 nach der Schlacht um Kuschk die Londoner Börse
eine Art Verbannungsdekret für alle russischen Werte im britischen Reiche erlassen
hatte, wanderten diese nach Deutschland aus und wurden schließlich durch den fran¬
zösischen Chauvinismus aufgenommen und auf eine noch nicht dagewesene Kurs¬
höhe emporgetrieben. Als Sicherheitsleistung für die ungezählten Milliarden, die
Frankreich dem russischen Alliierten gewährte (nun schätzt den Bestand russischer
Werte in Frankreich zwischen sieben und zehn Milliarden), wurde in Paris die
russische Freundschaft „hinterlegt." Aber die anfängliche Ergiebigkeit des französischen
Goldstromes war natürlich nicht für die Ewigkeit; die Fähigkeit Frankreichs, russische
Werte aufzunehmen, gab mit der Zeit deutliche Zeichen der Erschlaffung von sich,
und der russische Finanzminister, dem diese Zeichen nicht entgingen, sah sich ge¬
nötigt, sich nach andern Geldquellen umzusehen. Der russisch-deutsche Handelsver¬
trag machte diesen. Sorgen des russischen Finanzministers zunächst ein Ende; der
seit Jahren bei der russischen Emissionsthätigkeit schmählich übergangne deutsche
Kapitalist konnte aufs neue „zum Handkuß" zugelassen werden. Seitdem ringen
Deutschland und Frankreich um die Palme, das Geldbediirfnis Rußlands zu be¬
friedigen, während mau sich in England fortgesetzt die Taschen zuhält. Die eigent¬
lichen Ursachen, auf denen dieses „deutsch-französische Bündnis zur Linderung der
russischen Fiuanznot" beruhte, waren natürlich für die beiden Geber durchaus ver¬
schieden; in Deutschland war die treibende Kraft die Emissionsprovision des Ber¬
liner „Nussenkonsortiums," in Frankreich heißt er Elsaß-Lothringen. So unglaub¬
lich, so paradox es klingen mag: auf diesem Wort ruht auch die russische — Gold¬
währung. Denn wenn für Frankreich — derartige Andeutungen sind wiederholt
in französischen Blättern laut geworden — dieser Antrieb wegfällt, und wenn es,
anstatt zu geben, seiue Milliarden von Rußland zurückforderte, dann möchten wir,
wie man zu sagen pflegt, es nicht erleben, welchen Anblick die in den Jahresberichten
des russischen Finanzministers an den Zaren immer von neuem hervorgehobne
„metallische Überdeckung der Noten" bieten würde. Faßt man die Grundlagen
der russischen Währung ins Auge, so herrscht in Rußland so wenig die Gold¬
währung wie in Österreich-Ungarn, für dessen Währungsverhältnisse, ungeachtet
der im Jahre 1892 in Angriff genommnen „Valutareform," der Zwangskurs für
das Papiergeld das charakteristische Merkmal geblieben ist.
Die Beziehungen dieses merkwürdigen „Dreibundes" fanden eine ziemlich
schroffe Unterbrechung um das Jahr 1899/1900, als auf den europäischen Märkten
eine empfindliche Geldknappheit zu Tage trat, und weder Deutschland noch Frank¬
reich ihre seitherigen „Funktionen" dem russischen Reiche gegenüber zu erfüllen in
der Lage waren. Es blieb deshalb dem russischen Finanzminister nichts andres
übrig, als wieder einmal einen Fühler nach England auszustrecken. Im April
1899 veröffentlichten die „Times" einen geheimen Bericht des russischen Finanz-
ministers an das Ministerkomitee über die englisch-russischen Handelsbeziehungen,
worin gesagt war, daß England der einzige Markt sei, auf dem Rußland einen
Ausgleich für die Depression seiner Landwirtschaft finden könne. Zudem komme
England ebensosehr als Markt für die Unterbringung russischer Anleihen in Be¬
tracht, wie es vor den Wirren um der afghanischen Grenze der Fall gewesen sei.
Diese Umstände, sowie das damalige schutzzöllnerische Verhalten Frankreichs Hütten
ihn (Witte) veranlaßt, der Lage des englischen Marktes seine besondre Aufmerk¬
samkeit zuzuwenden. Diese Darstellung ist zwar vom russischen Finanzministerium demen-
tiert worden; nicht aber konnte die Thatsache dementiert werden, daß bald darauf
der Vertreter des Berliner Emissionshanses Mendelssohn & Co. nach London reiste,
um die dortige Finanzwelt für eine größere russische Anleihe — man sprach von
fünfzehn Millionen Pfund Sterling — zu interessieren. Wer sich darüber klar
ist, daß England dem russischen Reiche seine Kapitalkraft uur gegen greifbare
politische Konzessionen — Konzessionen mithin, die Rußland am allerwenigsten zu
gewähren geneigt ist — zur Verfügung stellen kann, wer sich des Umstandes be¬
wußt war, daß die Einführung einer großern russischen Anleihe an der Londoner
Börse unter wirklicher Beteiligung des englischen Kapitals ein politisches Ereignis
ersten Ranges gewesen wäre: die Wiedereröffnung des politischen Kontos, das im
Jahre 1885 von beiden Kontrahenten in brüsker Form geschlossen worden war,
konnte von vornherein nicht im Zweifel über den Erfolg einer Reise sein, die nur
ans dem Gesichtskreise eines durch „Provisivnsrücksichten" bestimmten Krämergeistes
der Berliner Emissionsfirma unternommen worden war. Am 27. Mai 1899 wurde
denn anch dem Vertreter der Berliner Emissionsfirma mit folgender Erklärung der
„Times" die Thür gewiesen: „Es möchte scheinen -....... schrieb das Blatt an diesem
Tage —, daß Rußland so sehr auf unsre Gutmütigkeit pocht, daß es glaubt, für
seine Zwecke britisches Kapital erlangen zu können, an dessen Verwendung in China
es uus hindert. Es darf angenommen werden, daß sich britische Kapitalisten mehr
als einmal oder zweimal bedenken, ehe sie ihr Kapital zu einem Zwecke hergeben,
der sich gegen sie selbst richtet." Das ließ um Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig!
man ließ die englisch-russische „Zweibundanleihe" auf sich beruhen und legte pro
t'orna eine russische Eisenbahnanleihe - - unter dieser Form borgt Rußland mit Vor¬
liebe - in Höhe von 2975000 Pfund Sterling auf. Mit noch nicht drei Mil¬
lionen Pfund Sterling, sage und schreibe sechzig Millionen Mark, war der Hei߬
hunger des englischen Kapitals nach neuen russische» Werten auf Jahrzehnte hinaus
befriedigt.
Ungleich bedenklicher als die geschilderten Schwierigkeiten in betreff der Geld¬
beschaffung war für die Kreise des russischen Finnnzmiuisters die politische Episode
im Jahre 1899, als der deutsche Kaiser in den nordischen Gewässern durch den
Besuch des Kriegsschiffes „Iphigenie" einen weitern Schritt zur Befestigung des
guten Eiuveruehmens zwischen Deutschland und Frankreich unternahm. Dieser Vor¬
gang, se, sehr er auch in der Richtung der allgemeinen Friedensideale der bekannt¬
lich von Rußland selbst einberufncu Haager Friedenskonferenz lag, war gleichwohl
in Petersburg mit steigender Unrnhe beobachtet worden, wo man sich unter keinen
Umständen mit Friedenskundgebungen befreunden Kumte, die die politischen Kreise
Rußlands zu stören geeignet waren. Ganz besonders verdrießlich aber war es,
daß in Anknüpfung an den Besuch des deutschen Kaisers an Bord des französischen
Kriegsschiffes „Jphtgemie" in gewissen Pariser Blättern (bor allem im „Matin"
und im „Figaro") von neuem das unleidliche Thema variiert wurde, zu welchem
Zweck eigentlich Frankreich dem russischen Reiche eine Milliarde nach der andern
zur Verfügung stelle, wenn man sich doch mit Deutschland auf guten Fuß stellen
wolle. Diese Deliberationen riefen in Petersburg starkes Unbehagen hervor; eine
Zuschrift, die der „Politischen Korrespondenz" im Angust 1899 aus Petersburg
zuging, ließ sich über den Eindruck, den die damaligen dentschfreuudlicheu Tendenzen
Frankreichs in Petersburg hervorriefen, n, n, wie nachstehend aus: „In dem Urteil
über die Bedeutung des jüngst stattgehabten Besuchs Kaiser Wilhelms 11. am Bord
eines französischen Kriegsschiffes lind des daran geknüpften Depeschenwcchsels zwischen
dein Kaiser und dem Präsidenten Lonbet hat sich hier ein Umschwung vollzogen.
Anfänglich hatten diese Vorgänge nnr eine» schwachen Eindruck hervorgerufen. . .
Die Äußerungen mehrerer französischer Blätter über die Episode anf der »Iphigenie«
haben jedoch in der öffentlichen Meinung Rußlands eine Schwenkung bewirkt.
Bei eiuer Gruppe französischer Politiker findet diesen Kundgebungen zufolge der
Gedanke einer engern Annäherung Frankreichs an Deutschland Anklang, und man
scheint hierbei in Paris nicht zu ahnen, daß ein derartiges Auftreten in Rußland
ebensolche Verstimmung hervorrufen muß, wie sie sich in Frankreich einstellen würde,
wenn etwa russische Blätter es angemessen fänden, sozusagen unter den Augen
der Franzosen die Ersprießlichkeit und die Bedingungen eines intimeru Anschlusses
Rußlands an Deutschland zu erörtern. Die Art und Weise, in der Wortführer
der neuen politischen Richtung im »Figaro« und »Matin« das französisch-deutsche
Einvernehmen dem französisch-russischen Bündnis aufgepfropft sehen möchten, und
die Argumente, durch die sie diesen Gedanken den Franzosen einleuchtend zu machen
suchen, rufe» hier nicht nnr in der öffentlichen Meinung, sondern auch in den
maßgebenden Kreisen einen seltsamen und zwar weder freundlichen noch imponierender
Eindruck hervor. . . . Denn es kauu in Petersburg nur peinliches Befremden und
Mißtrauen wachrufen, wenn much nur ein sehr kleiner Teil der Franzosen imstande
ist, so leicht vou einem Extrem zum andern zu schwcickeu und bald mit Petersburg,
bald mit Berlin zu liebäugeln." So die Zuschrift der „Politischen Korrespondenz."
Um allen Zweifeln ein Ende zu machen, fuhr Herr Deleasse im August 1899 nach
Petersburg. Am 5. August desselben Jahres verlieh ihm der Zar die Jnsignien
des Alexander-Newskij-Ordens in Diamanten. An der Berliner Börse wurde
damals berechnet, was diese Diamanten der französischen Republik wohl kosten würden.
Am 22. Mai 1901 endlich wurde die Rechnung in Paris präsentiert: an diesem
Tage wurde durch das Pariser Haus Rothschild eine vierprvzentige Anleihe von
424 Millionen Franken zum Kurse von 98'/^ aufgelegt. Damit War die Allianz ge¬
rettet, und das Phantom eines „deutsch-französischen Zweibuudes" versank in den
Abgrund.
In diesem Jahre nnn ist Deutschland wieder an der Reihe: Mitte März d. I.
stellte das uuter Führung des Hauses Mendelssohn Co. stehende Konsortium
bei der Zulassnngsstelle der Berliner Börse den Antrag anf Zulassung von
393 Millionen Mark vierprozeutiger russischer Staatsreute zum Bvrseuhaudel, und
kurz darauf wurde die Zulassung von der Berliner Zulassnngsstelle genehmigt.
Der Zweck dieses Auleheus, das durch deutsche Kapitalisten aufgebracht werden
soll, macht diese Transaktion zu einer der seltsamsten auf dem Gebiete des deutschen
Emissionswesens, er lautet kurz: die vorläufige Aufbringung der russischen Kriegs¬
kosten in China. Der offizielle Prospekt beginnt mit einem allerhöchsten Mas
an den russischen Finanzminister, unterzeichnet von Seiner Majestät dem Kaiser
am 1./14. März 1902: „Indem Wir es gemäß Ihrer im Finanzkomitee ge¬
prüften Vorstellung für gut erachtet haben, zur Realisierung der Nußland zu-
kommenden Entschädigungssumme für die während der Unruhen in China erlittenen
Verluste zu schreiten, befehlen Wir Ihnen usw/' Also: dasselbe Deutschland, das
vor zwei Jahren genötigt war, in Amerika 80 Millionen Mark aufzunehmen, Wird
heute aufgefordert, Rußland zur Deckung der Kriegskosten in China etwa 40V Mil¬
lionen Mark vorzustrecken, und diese Transaktion vollzieht sich unter der Ägide
einer ersten Emissionsfirma. Nach Z 36 des Börsengesetzes hat die Zulassungsstelle
die Aufgabe und die Pflicht, „Emissionen nicht zuzulassen, durch welche erhebliche
allgemeine Interessen geschädigt werden, oder welche offenbar zu einer Übervor¬
teilung des Publikums führen." Nun, man kann zweifeln, ob nicht allgemeine
Interessen geschädigt werden, wenn deutsches Kapital einem solchen Zwecke dienst¬
bar gemacht wird. Man wende nicht ein, daß an russischen Papieren noch nichts ver¬
loren worden sei; das ist erstens nicht zutreffend, denn Rußland hat im Jahre 1885
durch Einführung einer Kapitalrentensteuer in Vertragsbrüchiger Weise die Zinsen
zahlreicher Schuldtitcl herabgesetzt und erst fünfzehn Jahre später durch Ukas
vom 4. Dezember 1900 diese Maßnahme unter gewissen Bedingungen lediglich für
die vierprozentige Staatsrente wieder beseitigt — ein Vorgang, dessen Mitteilung im
Prospekt laut § 6 Ziffer 4 der Bekanntmachung von 11. Dezember 1896 be¬
treffend die Zulassung von Wertpapieren zum Börsenhandel gesetzlich vorgeschrieben,
in Wirklichkeit aber unterblieben ist. Jedoch das nur nebenbei; die prinzipielle
Bedeutung der Transaktion liegt in dein Umstände, daß den deutschen Kapitalisten
zugemutet wird, für einen solchen Zweck die Mittel aufzubringen. Mau kann es
der russischen Diplomatie von ihrem Standpunkt ans nicht verdenken, wenn sie die
Situation nach Kräften für ihre Zwecke auszunutzen sucht, wenn sie jede Annäherung
zwischen Deutschland und Frankreich zu verhindern und gleichwohl beide Länder für ihre
politischen Zwecke auszupressen sucht. Als befremdend aber muß es bezeichnet werden,
daß sich die Berliner Großfinanz für diesen Zweck von dem russischen Finanz¬
minister gebrauche» läßt. Die französischen Kapitalisten aber mögen sich die Kom¬
mentare ansehen, mit denen das Resultat der Subskription in Deutschland von der ma߬
gebenden russischen Presse, vor allem von dem „Journal de Se. Petersbourg" und von
dem finanzoffiziösen „Westnik Fiuaussow" begleitet worden ist, die den äußern Erfolg
der hundertfachen Überzeichnung — über die wirkliche Bedeutung einer derartigen
Subskriptionsmache glauben wir Kennern der Sache gegenüber kein Wort weiter
verlieren zu sollen — dazu benutzt haben, den Franzosen von neuem zu Gemüte
zu führen, daß Nußland in finanzieller Beziehung durchaus uicht auf Frankreich
angewiesen sei, und daß, so schrieb das „Journal de Se. Petersbourg," „unsre
Freundschaft mit Frankreich ausgezeichnete Beziehungen zu andern europäischen
Mächten zuläßt." Also: Rußland kann unbeschadet seiner Freundschaft mit Frank¬
reich mit andern Mächten „ausgezeichnete Beziehungen" unterhalten; Frankreich
aber — das erregt „peinliches Befremden" in Petersburg — sott nicht bald mit
Petersburg bald mit Berlin „liebäugeln." Liebäugeln darf Frankreich mit Deutsch¬
land nur zu einem einzigen Zweck: zur gemeinsamen Linderung der russischen
Finanzkalamitäten, zur gemeinsamen Befriedigung der ewig unbefriedigten Gelb¬
lich ürfnisse Rußlands!
Nun, die Franzosen mögen sehen, wie sie mit Rußland fertig werden; in
Deutschland thäte man gut, in dieser Beziehung ein wenig in die Fußstapfen Eng¬
lands zu treten, das trotz aller Vorstellungen des russischen Finanzministers kein
Verlangen trägt, die „ausgezeichneten Beziehungen Rußlands" ausschließlich in An¬
sehung der Emissionspolitik, und ohne Rücksicht auf das Allgemeininteressc des Landes,
kennen zu lernen. Aber was wissen unsre Finanzfirmen von solchen Rücksichten!
Vor einigen Monaten hat die „Kreuzzeitung" bei der Erörterung des Vörsengesetzes
mit einer gewissen Resignation erklärt, sie sei es müde, fortgesetzt den Mentor des
Publikums zu spielen; wenn dieses so viel Gefallen an dem bekannten: Nunciu»
vult, ävoixi fände — möge man es doch gewähren lassen! Wir vermögen weder
die Anschauungen des Blattes in betreff des Börsengesetzes noch seine Resignation
zu teilen, die übrigens eine gewisse Unterschätzung des eignen Einflusses zeigt.
Als anfangs der neunziger Jahre während der damals noch wenig befriedigenden
Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland von den Berliner Emissionsfirmen
der Versuch gemacht wurde, eine russische Anleihe in Berlin aufzulegen, erschien an
leitender Stelle der „Kreuzzeitung" ein Artikel nnter der Überschrift: „Kann es
wahr sein?", und gleich darauf folgte ein zweiter Artikel an derselben Stelle unter
der Überschrift: Mendelssohn, Warschauer 6- Co." Die Folge dieser Artikel war,
daß die Emission ins Wasser siel. Wenn sich das Blatt, anstatt die Börse summarisch
zu bekämpfen, die Erörterung der einzelnen finanziellen Vorgänge in sachlicher Weise
zum Prinzip machte, es würde dem Publikum ungleich mehr nützen, dem keine
für alle Zeiten festgelegte Schablone, sondern nur das von Fall zu Fall abgegebne
Urteil über die einzelnen finanziellen Erscheinungen etwas helfen kann. Es mag
sein, daß die erwähnte resignierte Stimmung des Blattes sein Stillschweigen anch
in dieser Angelegenheit erklärt; Thatsache ist jedenfalls, daß kritische Erörterungen
und gewisse Warnungsrufe gegenüber der letzten russischen Emission nur in liberalen
und demokratischen Blättern laut geworden sind. Und doch, so dünkt uns, wären
derartige Warnungen auch in andern Blättern am Platze gewesen. Denn es scheint,
um es zu wiederholen, weder die Aufgabe des deutschen Kapitals zu sein, die
Summen für die russischen Kriegskosten in China vorzustrecken, noch für die Inter¬
essen der Emissionsfirmen zu sorgen, während im übrigen das Geschrei über die
gegenwärtige „Geldflüssigkeit" die deutschen Kapitalisten niemals darüber zu beun¬
ruhigen braucht, daß sie beim Mangel einer russischen Anleihe in die schreckliche
Lage versetzt werden könnten, ihr Geld — nicht mehr los zu werden.
„Gemeinsame Feste sind des Volkes wertvollste Kleinodien,
und ihre Beförderung und Läuterung ist eine ernsthafte Aufgabe des Volkslehrers
und Staatsmanns, der Beruf jedes wahrhaften Menschenfreundes."
Mit diesen Worten des Montanus ist in einem höchst beachtenswerten Auf¬
sätze im 54. Jahrgange (1895) der Grenzboten der Niedergang unsrer Volksfeste
beklagt worden, und es sind dort auch zugleich Mittel und Wege angegeben worden,
die zur Wiederbelebung dieser „poetischen Blüte im Leben des Volkes" dienen
können. An erster Stelle fordert der Verfasser die Hebung und Veredlung des
Gemeinsinnes, der keine» Unterschied der Bildung, des Standes, des Berufs, der
Klaffen, des Ranges, des Reichtums und der Würden im Feste kennt, sondern wo
jeder sich frisch und frei als Mensch giebt, wo er es vor allem sein darf und sein
soll. Seit diesen Ausführungen ist eine neue Art von Volksfesten ins Leben ge¬
rufen worden, die erfreulicherweise immer weitere Ausdehnung zu finden scheinen
und sich zu einem großen Teile mit dem decken, was von unsern Volksfesten ver¬
langt werden muß. Es sind die Heimatfeste, die seit einigen Jahren in ver-
schiednen Städten der Provinz Sachsen gefeiert worden sind und eine kurze Be¬
sprechung verdienen.
Zuerst wurde im Jahre 1896 in der kleinen Stadt Duden a. d. Mulde das
fünfzigjährige Bestehn des dortigen Stadtparks gefeiert, der 1846 auf eiuer öde» Sand-
Wüste von zwei rührigen Naturfreunden — einem Forstinspektor und einem Gerichts¬
assessor — angelegt worden war und sich seitdem in eine herrliche Anlage ver¬
wandelt hatte. Zu diesem Feste stiftete der landsmännische Verein alter Dübener
in Berlin für die Anlagen ein Standbild der Germania; die Feier wurde mit
einem Festgottesdtenst eingeleitet, worin die Bedeutung des Tages für die Stadt
gebührend hervorgehoben wurde; bei der darauf erfolgenden Enthüllung des Stand¬
bildes hielten mehrere alte auswärtige Dübener Ansprachen, in denen sie der Treue
und Liebe zur alten Heimat gedachten, und so wurde aus dem Parkfest ein echtes
Heimatfest; alle Stände, so heißt es in den Festberichten, jung und alt nahmen
"n dem Heimatfeste, das jetzt alljährlich gefeiert wird, regen Anteil; die nnswär-
eigen Dübener finden sich mit ihren Angehörigen in großer Zahl ein; die alten Be¬
ziehungen werden aufgefrischt, und neue knüpfen sich an. Die zu diesem Zwecke
besonders erscheinende Festzeitung bietet den Gästen herzliche Grüße in Poesie und
Prosa, giebt geschichtliche Nachrichten über die Stadt und bringt kleine Scherze,
die sich auf das Fest beziehen. Zur Unterhaltung werden Volksbelustigungen der
verschiedensten Art — Preisklettern, Wettrennen, Sackhüpfen, Festreigen — ange¬
ordnet, und gut ausgeführte Festkonzerte und Bälle vereinigen die Teilnehmer zur
frohen Feier. Dabei sei erwähnt, daß die Seele und der Leiter des Festes einer
der Dübener Geistlichen ist, der ini Verein mit dein Bürgermeister und andern
Bürgern und Beamten die Veranstaltungen trifft, die Festzeituug mit geschichtlichen
Mitteilungen bedenkt und sich der Sache mit aufrichtiger Teilnahme und vollem
Herzen widmet, dafür auch von der Gemeinde gebührend geschätzt und geachtet wird.
Einen noch ausgeprägtem Charakter eines wahren Heimatfestes trug das
Fest, das Pfingsten 1899 in Zeitz gefeiert wurde. Der dortige Gewerbeverein
regte im Jahre vorher den Gedanken an, ein Heimatfest, d. h. in festlicher Um¬
rahmung eine Vereinigung aller auswärts lebenden Zeitzer in ihrer Vaterstadt zu
veranstalten. Mau plante das Fest nach dem Vorbilde eines Heimatfestes, das
die Stadt Münden in Hannover in großartiger Weise begangen hatte, und es
trat ein Festausschuß aus allen Schichten der Bevölkerung zusammen, der unter
der Führung und Leitung des Oberbürgermeisters das Fest vorbereitete. Dieses
selbst bestand aus einer Begrüßung der fremden Gäste am Vorabend mit Gesängen,
Vortrügen, Ansprachen und Aufführungen; am ersten Festtage zogen die Gäste
feierlich in die Stadt ein, beteiligten sich am Gottesdienst und wurden alsdann
von der Stadtvertretung mit warmen Worten begrüßt. Wie groß die Schar der
alten Zeitzer in diesen Tagen war, geht daraus hervor, daß bei dem historischen
Festzuge die Zeitzer Landsmannschaften aus Berlin, Chemnitz, Erfurt, Gera, Halle,
Hamburg, Leipzig und Magdeburg vertrete» waren. Es herrschte in der festlich
geschmückten Stadt eine wirklich von Herzen kommende Begeisterung über das
vollkommne Gelingen des Festes, eine Stimmung, der beim Abschied der Ober¬
bürgermeister beredten Ausdruck gab. Auch in Zeitz gab es Festschriften, Fest¬
berichte und Abhandlungen, die die städtische Geschichte betrafen.
In ähnlicher Weise wurde im Jahre 1901 ein Heimatfest in Mühlberg an der
Elbe vom Gewerbeverein angeregt und gefeiert. Mit dem Feste war eine Aus¬
stellung von Altertümern aus Mühlberg und der Umgegend verbunden, und eine
umfangreiche Geschichte des Diakonus behandelte die Geschichte und Denkmäler der
Stadt. Das Fest verlief ähnlich wie die andern; es waren viele alte Mühlberger
zu der Stätte ihrer Kindheit heimgekehrt und hatten an dem Wachstum der Stadt
ihre Freude gehabt. Eine weitere Frucht aber entwickelte sich aus der Altertums-
ausstellnng, indem daraus eine ständige Sammlung wurde, die auf dem Nathnuse
aufgestellt ist und schon ansehnliche Schätze aus den Familien und deren Rumpel¬
kammern enthält. Vor nicht langer Zeit endlich wurde infolge der dadurch ge¬
gebnen Anregung ein Verein für Heimatkunde gegründet, der die heimatliche Ge¬
schichte erforschen und fördern will.
Vor Wochen und Monaten wurde in mehreren Städten der Provinz Sachsen
der hundertjährige Gedenktag der Zugehörigkeit zu Preußen festlich begangen, und
auch diese Feier gestaltete sich zu einem Heimatfeste aus, wie ein solches in Mühl¬
hausen in Thüringen geradezu damit verbunden wurde. Ju Erfurt, Nordhausen,
Heiligenstadt, Worbis und Quedlinburg z. B. wnreu Veranstaltungen getroffen
worden, die auf ein wahres Heimatfest hinausliefen. Man hatte alles aufgeboten,
die Feier in würdiger Weise zu begehen, namentlich da die höchsten Provinzial-
beamten fast überall persönlich erschienen Waren und an den Festlichkeiten teilnahmen-
Die Stadtvertretungen einiger der genannten Städte spendeten bei dieser Gelegenheit
— das mag hier besonders hervorgehoben werden — größere Summen zu Museums-
zweckeu.
Nun hat man zwar schon weidlich über unsre fest- und jnbiläumsfrvhe ZM
geschnupft, geschrieben und gespottet, und wir wollen nicht etwa einer noch weitern
Ausdehnung von Festlichkeiten das Wort reden: es handelt sich für uns und jeden
wahren Volksfreund lediglich darum, die Volksfeste zu veredeln und zu vertiefen.
Es sollen wieder alle Volksschichten gemeinsam feiern, es soll wenigstens für einige
Tage im Jahre der Faden zerschnitten werden, der die einzelnen Stände bei uns
leider so scharf abgrenzt und trennt. Die Schützen, Sänger, Turner, Radfahrer usw.
sollen nicht mehr allein ihre Feste feiern, die sogenannten höhern Stände sollen
nicht mehr naserümpfend und spöttelnd um derartigen Festen Vorübergehn, sondern
sie sollen ins Volk hineingehn, das sie so gern zu Vorbildern nimmt und sich von
ihm leiten läßt. Wer schon jemals ein Volksfest in kleinern Städten, wo noch die
Persönlichkeit etwas gilt, mitgemacht hat, wird beobachten können, daß sich die
große Masse, der einfache Mann, zumeist anständig und gesittet benimmt, so lange
Persönlichkeiten in ihrer Mitte sind, die auch sonst im Leben irgend einen Einflns;
und eine gesellschaftliche Stellung innehaben. Und darin liegt gerade der Wert
der Teilnahme unsrer höhern Berufsklassen an den Volksfesten; sie unterdrücken
mit ihrer Gegenwart die Roheiten und Unschicklichkeiten, die sich leicht einstellen;
sie wirken erziehend auf das Benehmen des einfachen Mannes und heben zugleich
dessen soziale Stellung dadurch, daß sie sich mit ihm an einen Tisch setzen. Aber
anch für die höhern Klassen selbst, besonders für die Beamten unter ihnen, ist die
Mitfeier von Volksfesten nicht ohne Gewinn; sie lernen da manches kennen, was
für die Beurteilung des Volkslebens von Wichtigkeit ist; die Menschen sind bei
Festen weniger zugeknöpft als sonst, sie werden mitteilsamer, und so manche Seite
des Volkscharakters zeigt sich erst beim Feste im rechten Licht. Es giebt Landräte,
die mit Vorliebe Bauerujagdeu mitmachen, um die Leute ihres Bezirks dabei kennen
zu lernen. Sie thun gewiß recht daran; denn abgesehen davon, daß sie ihren
Bezirk mit den guten und schlechten Wegen bei solcher Gelegenheit in Augenschein
nehmen, ist der Landmann ans seinem heimatlichen Boden meist ein ganz andrer
Mensch als im engen staubigen Amtszimmer der Kreisstadt. Es wird ja soviel
darüber geklagt, daß die Beamten das Volk nicht versteh«, daß das Bureaukraten-
tnm von Jahr zu Jahr wächst, daß sich die einzelnen Berufsklassen immer mehr
absondern; um diesem Mißstände entgegenzuarbeiten, siud die Volks- und Heimat¬
feste so recht geeignet. In den vorhin genannten Städten, die ein Heimatfest ge¬
feiert haben, sind wirklich rührende Wiedererkennungsszenen alter Bekannten vor¬
gekommen, die sich seit langen Jahren nicht gesehen hatten. Das Verkehrsleben
würfelt heutzutage die Meuschen so durcheinander, daß es doppelt notwendig ist,
sich von Zeit zu Zeit einmal zu sammeln und zu vereinigen. Der eine hat in
der Fremde sein Glück gemacht, der andre ist in bescheidnen Verhältnissen in der
Heimatstadt geblieben, mancher hat keine andern Beziehungen mehr zur Heimat,
als die Gräber seiner Angehörigen, er ist dort fremd geworden, und doch hat ihn
der Aufruf zum Heimatfeste wieder zu der Stätte gelockt, wo er als Kind die
sorgenfreiste Zeit seines Lebens verbracht hat. Solche Vereinigungen müssen ver¬
edelnd und versöhnend wirken, falls sie über den Rahmen bloßer Trinkgelage und
-gelegenheiten hinausgehn und die höhern Stände sich nicht bloß aus höfischen
Anstands- und Nepräsentationsrücksichtcn, sondern mit dem Herzen beteiligen. Auf
diesem Wege können die schroffen Gegensätze zwischen Groß- und Kleinstadtleben, zwischen
Benmtenstolz und Volkstum. die gegenseitigen Vorurteile in sittlicher, gesellschaftlicher
und politischer Beziehung beseitigt oder wenigstens stark gemildert werden. Die
lnndsmännischen Vereinigungen in großen Städten, die so hingebungsvoll den Heimat¬
festen gefolgt sind, liefern den besten Beweis, daß das Bestreben noch vorhanden
ist, mit der Vaterstadt in geistigem Verkehr zu bleiben; es ist der alte Zug der
Sehnsucht nach der Heimat inmitten des großstädtischen Verkehrslebens, der wohl
beachtet und gepflegt werden sollte, und der von engherziger Krähwinkelei und
Kirchtnrmspolitik weit entfernt ist.
Die höchsten Provinzialbeamten haben in den Jubelstädten am Harz und in
Thüringen herrliche Worte von Vaterlands- und Heimntliebc gesprochen, und es
ist ihnen gewiß ernst mit ihren Reden gewesen, in denen sie das einmütige Zu¬
sammenwirken zwischen Negierung und Volk betont haben. Von oben her müssen
deshalb auch die Anregungen für die allgemeine Verbreitung der Heimatfeste kommen:
nicht in Form von Verordnungen und Verfügungen, sondern im Wege des persön¬
lichen Verkehrs. Die Regierungsbeamten haben dazu genug Gelegenheit; sie be¬
reisen ihren Amtsbezirk heutzutage mehr als früher, treten dabei mit den Bürger¬
meistern und sonstigen einflußreichen Persönlichkeiten mehr als je in nähere Be¬
rührung und können bei solchen Gelegenheiten den Anstoß zu ähnlichen Vereinigungen
geben, wie wir sie vorhin geschildert haben. Es giebt wohl in allen Städten
Eriuuerungstage, an die sich solche Heimatfeste anknüpfen lassen, und wo sie nicht
sein sollten, da bieten sich die vaterländischen Gedenktage dar, die allermeist dazu
geeignet sind. An vielen Orten werden Bismarcktürme gebaut, Bismarcksteiue gesetzt
und Bismarckdeukmäler errichtet: das ist eine von den rechten Gelegenheiten, ein
Heimatfest zu feiern und einen Erinnernngstag zu begehn, an dem das gesamte
Volk teilnehmen kann. Vielleicht ist die Zeit nicht mehr fern, wo wir Bismarck-
festspiele sehen, wie es jetzt Lutherfestspiele giebt; würdiger könnte das Andenken
an unsern deutscheu Nationalhelden nicht gefeiert werden als in Verbindung mit
einem allgemeinen Volks- und Heimatfeste.
Unsre schnell lebende
Zeit hat in den letzten Jahrzehnten auf medizinischem Gebiet eine gewaltige Um¬
wälzung hervorgerufen. Wie heute noch auf dem Lande, war früher der Hausarzt
eine Vertrauensperson bei fast allen Erkrankungen, und nur bei schwereren Fällen
wurde zur Konsultation ein andrer Arzt zugezogen. Jetzt ist das anders geworden.
Der Hausarzt selbst schickt seine Kranken zum Spezinlisteu, wenn ihm der Fall
irgendwie schwierig erscheint.
Es muß ja ohne Zweifel zugestanden werden, daß die Entwicklung der Medizin
in ihren SpezialWissenschaften nur willkommen zu heißen ist; denn daß der Arzt,
der in seiner Praxis immer uur einen bestimmten Teil des menschlichen Körpers
bei den verschiedensten Personen und ebenso verschiednen Berufszweigen zur Be¬
handlung bekommt, einen ganz andern Blick für Erkrankungen dieses Körperteils
haben wird, liegt auf der Hand!
Diese Erfahrungen unsrer Speztalisten werden in den Fachblättern nieder¬
gelegt. Damit, sollte man meinen, wäre der Wissenschaft genügt, und die hierdurch
deu andern Ärzten bekannt gewordnen Erfahrungen in der Behandlung bestimmter
Erkrankungen könnten von diesen in der Praxis Verwendung finden. Es ist aber
nicht so! Wir können zur Winterszeit, wenn die „Vortragomanie" in ihrer Blüte
steht, allwöchentlich in den Zeitungen größerer Städte die verschiedensten medizi¬
nischen Vorträge angezeigt lesen. Die Augen- und Ohren-, Nasen- und Rachenärzte,
die Magen- und Darmärzte, und welcher Spezialität sie angehören mögen, die
Nervenärzte nicht zu vergesse», sie alle hören sich gern reden. Natürlich nur, um
dem leidenden Zuhörer zu helfen und den gesunden — vor Erkrankungen zu be¬
wahren! Das wäre ja an und für sich ganz löblich und menschenfreundlich, würden
sich aber die Ärzte damit nicht ins eigne Fleisch schneiden? Ja, wenn es so wäre,
würden die Aufklärungen bald eingestellt werden, es geschieht aber zumeist gerade
das Gegenteil.
Der einem solchen medizinischen Vortrage anwohnende gesunde Zuhörer wird
den ihm gebotenen Stoff an der Hand von Konversationslexiken und andern auf¬
klärenden Büchern für sich so verarbeiten, daß er im Erkrankungsfalle zumeist schon
seinen Zustand genau keimen will und an sich hernmpfuscht, bis er dann doch zuletzt
deu Arzt zu Rat ziehen muß. Wie leicht aber wird der gesunde Mensch dnrch
Anhören von medizinischen Vorträgen zum eingebildeten Kranken! Die kleinste
Blähung wird als Nierenleiden betrachtet, an gewöhnlichem Husten will man schon
einen Lungenkranken erkennen, usw. Diese Leute sind nun „reif" für den Doktor,
und es wird — ihnen und ihrem Geldbeutel sicher geholfen.
Anders liegt es bei dem wirklich Kranken, der einen Vortrag über seine
Krankheit anhört. Ein solcher Patient wird nnr kränker, als er ist, er wird sich
leicht sagen, daß er nicht richtig behandelt worden, daß sein Leiden schwerer sei,
als es von ihm und seinem Arzt beurteilt worden ist, und der Leidende wird sich
und seine Umgebung noch mehr quälen, als er es wohl vorher schou gethan hat.
Das sind die öffentlichen medizinischen Vortrage mit ihren Folgen; schlimmer
ist es mit den zumeist im Brieffen in Zeitungen und populären Zeitschriften ge¬
brachten medizinischen Abhandlungen, die aufklärend wirken sollen. Das in den
Vorträgen dargelegte wird von dem Zuhörer mehr oder minder vergessen, was der
Kranke, der eingebildete Kranke und der Gesunde aber lesen, das bekommt eine
ganz andre Bedeutung und — Deutung.
Derartige Artikel kann man fast alltäglich in unsern gelesensten Zeitungen
finden, ebenso in den verbreiterten Zeitschriften wie Woche, Daheim und Garten¬
laube. Ich null hier nur einen in der Woche erschienenen Aufsah eines Berliner
Arztes über Neurasthenie als „Beispiel mit Folgen" anführen. Zur Zerstreuung
einer neurasthenischen Dame wurde dieser eine Nummer der „Woche" mitgebracht;
ihr Manu ging dann seinen Geschäften nach und war sprachlos, als er später nach
Hause kam und seine Frau in der höchsten Erregung antraf, und als sie ihn mit
den Worten begrüßte: „Da steht es: Neurasthenie führt zum Schluß immer ins
Irrenhaus, und mein Schicksal ist besiegelt!" Da sich die Patientin durch ihre»
Mann nicht beruhigen ließ, mußte in später Stunde noch ein Nervenarzt geholt
werden, nud lange dauerte es, bis sich die Kranke von diesem Nervenchoc erholte.
Eine solche negative Wirkung der Plauderecke „Was die Ärzte sagen" wird mir
wohl dieser oder jener bestätigen können.
Warum und wie ist nun so etwas in die Mode gekommen? Nun, das liegt
doch auf der Hand. — Es giebt im Deutschen Reiche so etwa 27 000 approbierte
Ärzte; diese Herren wollen sich doch beschäftigen, wollen leben, bekannt werden und
ihre Tüchtigkeit anerkannt wissen, und da es gottlob nicht proportional viel Kranke
giebt, verlegen sie sich aufs Schriftstellern und Vorträge halten.
Ich könnte einen mehr bekannten als berühmten Arzt nennen, der an der
Hand solcher Zeitungsartikel täglich schriftliche Anfragen von Patienten bekommt,
wie sie sich auf Grund des da und dort von ihm erschienenen Artikels verhalten
sollen, und jeder dieser Briefe wird mit der „Schreibmaschine" beantwortet, es
werden geeignete Verordnungen gegeben, und zum Schluß wird beigefügt: Für diese
schriftliche Konsultation berechne ich Mark 10.—. Man wird mir zugeben, daß
man da schou mit der Beantwortung von fünf Briefen ein gutes Geschäft macht.
Der Unsitte der öffentlichen ärztlichen Vorträge und ihrer Veröffentlichung in
populären Zeitschriften sollte von den Vorständen ärztlicher Vereine und der Ärzte¬
kammern entschieden entgegen getreten werden. Besonders sollte sich aber kein reeller
Arzt zu schriftlichen Behandlungen, ohne den Patienten vorher gesehen und ge¬
sprochen zu haben, bewegen lassen; dann wird sich das Ansehen der Ärzte, über dessen
Niedergang sie in ihren Fachblättern klagen, wieder hebe».
Mit keinem
modernen Schlagwort wird heutzutage ein ärgerer Mißbrauch getrieben, als mit
dem Worte „national," auch in Deutschland, vielleicht sogar besonders in Deutsch¬
land. Nachdem wir lauge Zeit entweder weltbürgerlich oder partikularistisch ge¬
dacht hatten, also politische Kinder geblieben waren, halten wir es jetzt, wo wir
endlich ein nationales Reich errungen haben und in der Welt etwas bedeuten, für
zeitgemäß oder vielmehr für eine nationale Pflicht, überall „national" zu sein und
das, was wir immer uoch nicht ganz gelernt haben, nämlich unsre deutsche Art
den Ausländern gegenüber hochzuhalten und in der großen Politik nur nach unsern
Interessen zu fragen, statt Gefühlspolitik zu treiben, wenigstens durch hochtönende
Worte zu ersetzen. Solche sind gut dazu, andre, die ebensogut „national," aber
andrer Meinung sind, einzuschüchtern und die urteilslose Meuge hinter sich herzu-
ziehn, aber nicht dazu, etwas zu beweisen. Mit dem Worte „national" läßt sich
jede Barbarei rechtfertigen. Im Namen der russischen Nationalität bestrebt sich
seit Jahrzehnten das Zarenreich, alle höhern Kulturen, die von „fremden" Be¬
völkerungen auf seinem Boden vertreten werden, auf das tiefere Niveau des Mos-
kowitertnms herabzuziehn, statt dieses emporzuheben, und alle die aristokratischen
Bildungen platt zu walzen zur einförmigen Ebne der russischen Demokratie, über
der dann einsam als einzige hohe Spitze die absolute Monarchie des Zarentnms
emporragt, ganz wie im Orient; im Namen der magyarischen Nationalität, der im
Reiche der Stephanskrone nur 46 Prozent der Bevölkerung angehören, drängt der
magyarische Staat Deutschen, Rumänen, Slowaken, Serben u. s. f. seine isolierte
Sprache auf; um ihrer nationale» Selbständigkeit willen stoßen die slawischen Stämme
Österreichs die deutsche Kultur von sich, ohne die sie doch gar nicht leben können.
Mit diesem „Nationalismus" verbindet sich hier also überall der Rückfall in die
Barbarei isolierter, kleiner Völkerschaften, die viel zu schwach dazu siud, eine eigne
Kultur aus sich heraus zu erzeugen, und deren Sprachen nicht nnr viel zu schwierig
sind, als daß sie von Fremden leicht gelernt werden könnten, sondern auch den
inner» Wert großer, weitverbreiteter Kultursprachen entbehren, die den Zutritt zu
eine reichentwickelten Litteratur eröffnen. Ohne die Kenntnis einiger moderner
Hauptspracheu ist man heute kein gebildeter Mensch im vollen Sinne; das Tschechische
oder Magyarische aber braucht niemand zu lernen, um ein gebildeter Mensch zu
sein. Das ist im Grunde der .Kern des modernen Völkerstreits im alten Österreich,
daß diese undeutschen Stämme für ihre Sprachen eine Gleichberechtigung fordern,
ans die sie kein inneres Recht haben.
Nun, wir Deutschen sind keine Tschechen und Magyaren und auch keine Russen,
wir sind ein großes selbständiges Kulturvolk vou etwa L8 Millionen Menschen
auf dein Erdball, von denen fünf Achtel im Deutschen Reiche vereinigt sind. Aber
auch wir dürfe» »icht vergessen, daß wir mit den übrigen Nationen Westeuropas
eine große Kulturgemeinschaft bilden und immer gebildet haben, daß wir mit ihnen
immer in regen:, geistigem Austausch gestanden haben, daß unsre Bildung auf der
gemeinsamen antiken Grundlage ruht. Es ist unser Stolz, daß wir diese verschiednen
Elemente uns innerlich angeeignet und sie nach unsrer Art umgebildet, zu Bestand¬
teilen unsrer Kultur gemacht haben; sie auszuscheiden, uns auf die „nationale"
Grundlage zurückzuziehn, wäre heute ganz unmöglich, denn diese Grundlage müßten
Wir in den Urwäldern und Blockhäusern des alten Germaniens suchen, und auch
dort würden wir schon römische Händler, römisches Gold und römische Kunst finden-
Alles, was unsre Bildung im Laufe zweier Jahrtausende an fremdem Gut in sich
aufgenommen hat, das gehört zu unsrer Kultur, das ist für uns nichts Fremdes
mehr. Darum erscheint uns heute das Bestreben, unsre Kunst „national" auszu¬
gestalten und die „antiklassische" Richtung unsrer führenden Künstler geradezu be-
denklich, wenn das alles mehr heißen soll, als das Bestreben, unsrer Eigentümlich¬
keit künstlerischen Ausdruck zu geben. Bei dem mangelhaft entwickelten Formensinn
der nordischen Völker — und alle Kunst ist zunächst Scholle Form, oder sie ist gar
keine Kunst — liegt die Möglichkeit uur zu nahe, daß unsre „nationale" Kunst ein¬
fach häßlich und plump, also barbarisch wird, weim sie sich lossagt vou dem Studium
einer reicher entwickelten, fvrmenschönen südländischen Kunst, und wenn unsre Litteratur
darauf verzichtet, Strahle« südländischen Lichts in unsern trüben Himmel einzulassen,
da»» wird sie abfallen von unsern größten Traditionen und uns keine Erhebung
bringen, sondern ein trübes Versinken in düstre pessimistische Lebensauffassung, wovon
wir schon reichlich genug haben.
Vollends gefährlich ist es, wenn nun gar auf dem Gebiete des Unterrichts,
vornehmlich des höhern Unterrichts, mit dem Schlagwort „national" operiert wird,
um die eine Richtung zu verwerfen, die andre als die einzig richtige oder wenigstens
weitaus bessere zu empfehlen. Dieses Schlagwort ist schon oft genug von den
„Realisten" als Sturmbock gegen das humanistische Gymnasium verwandt worden;
„weg mit dem Klassischen" ist auch sonst der Schlachtruf oft gewesen. Ein typisch^
und deshalb allgemein interessantes Beispiel für diesen Mißbrauch, aber schwer er-
klärlich ist es, wenn der Oberbürgermeister einer der grüßten und schönsten Städte
Deutschlands, die groß und schön geworden ist mis „eine vorgeschobne Kolonie des
Südens," »änlich Dresdens, in öffentlicher Beratung die Errichtung eines städtischen
Reformgymnasiums nach Frankfurter Art u. a, mit der Behauptung zu begründen
versucht hat, die humanistischen Gymnasien Dentschlnuds hätten ihre Aufgabe in natio¬
naler Beziehung nicht so erfüllt, wie wir es mis Deutsche hätten erwarten können.
Beweis: im Reichstag, in dem sich die Volksbildung widerspiegelt, findet die eine
mächtige Partei den Schwerpunkt ihres Denkens jenseits der Alpen, die andre ist
nationaler Bildung überhaupt hur. Andre Voller sind uns jedenfalls in der Pflege
des Nationalgefühls überlegen, die humanistische Erziehung hat also ihre „nationale"
Aufgabe nicht erfüllt. Folgerung: Dresden muß ein Reformgymnasium errichten,
das unsre Jugend in nationaler Beziehung jbesserj fördern wird. So sprach in
der Stadtvcrvrdnetenversannnlnng am 9. Oktober d. I. der Oberbürgermeister Beutler,
ohne gegen seine Behauptung Widerspruch zu finden, natürlich unter den „lebhafte»
Bravorufen" der Stadtvätcr. Nun, um ihm selbst scheint das humanistische Gym¬
nasium seiue „nationale" Aufgabe doch recht gut erfüllt zu haben, deun an natio¬
naler Gesinnung lassen seine Worte gewiß nichts zu wünschen übrig. Seitdem,
"tho seit etwa dreißig Jahren, ist es aber offenbar anders und schlechter geworden,
das humanistische Gymnasium hat — leider auch unter seinen Augen in Dresden —
diese nationale Aufgabe nicht mehr so recht gelöst, denn sonst könnten im Reichs¬
tag nicht Zentrum und Sozialdemokratie eine so große Rolle spielen. Wir bestreiten
keineswegs, daß sich im Reichstag die Volksbildung gewissermaßen widerspiegelt,
aber wahrhaftig nicht die Blüte der Intelligenz deutscher Nation, wie in dem ver¬
schrienen Frankfurter Professvrenparlament von 1848/49, sondern nur die politische
Bildung kommt in seiner Zusammensetzung zum Ausdruck, oder, was leider dasselbe
ist, die politische Unreife unsrer Wählerschaften. Sind denn die sozialdemokratischen
Abgeordneten alle oder nur größtenteils durch ein humanistisches Gymnasium ge¬
laufen, oder haben gnr die sozialdemokratischen Wähler ein solches besucht? Sind
die katholischen Gymnasien und Priesterseminnrien, auf denen die meisten Zeutrums-
untglieder gebildet sein werden, identisch mit den deutschen Gymnasien überhaupt?
Mit besser»! Rechte könnte mau die Volksschule für solche Wahlergebnisse verant¬
wortlich machen, denn aus ihr gehn die Massen der Wähler hervor. Ob unsre
katholischen Mitbürger den Schwerpunkt ihres Denkens, soweit es nicht religiöser
Art ist, wirklich jenseits der Alpen finden, untersuchen wir hier nicht, darauf wird
vielleicht ein Dresdner Katholik die Antwort geben. Doch es lohnt nicht, über eine
so sonderbare Begründung noch ein Wort zu verlieren. Aber weiter: andre Völker
sind uns in der Pflege des Nntionalgefnhls überlegen, und daran trägt die huma¬
nistische Erziehung die Schuld. In jedem leidlichen Gymnasialnnterricht wird man
doch wohl immer soviel lernen können, daß die Schwäche unsers Nationalbewußt¬
seins von ganz andern Dingen herkommt mis Von der humanistischen Bildung, daß
sie ans einer langen wirrenreichen Geschichte und auf einem, wie es scheint, unaus¬
rottbaren Charakterfehler der Deutschen, ihrer Neigung zum Partikulnrismus beruht.
Wer hat uus deun gehindert, schon im Mittelalter, auf der Höhe nationaler Macht,
une feste Reichsordnung zu schaffen? Lediglich wir selbst.
Der wohl auch erhobne Vorwurf, die humanistischen Gymnasien erzogen junge
Griechen und Römer — heute noch! —, ist geradezu lächerlich. Sie wollen ihrer
Aufgabe gemäß in die antike Kultur. allerdings mit einer gewissen Gründlichkeit,
die manchem lästig fällt oder überflüssig erscheint, als in die Grundlage unsrer
eignen, als Bestandteil unsrer eignen „nationnleu" Bildung einführen, keineswegs
ihr ein Vorbild für uns aufstellen; sie haben einen ausgedehntem Geschichts¬
unterricht als die Realgymnasien, der in Sachsen der mittelalterlichen und neuern,
^so doch größtenteils der deutschen Geschichte auf der Unterstufe zwei, auf der
Oberstufe drei Jahre widmet (also 5 von 9), sie pflege» die Kenntnis der deutschen
Litteratur und Sprache mindestens ebenso wie die Realgymnasien, sie feiern ihre
patriotische» Feste in demselben Umfange, was sollen sie denn sonst wohl noch thun?
Sollen sie die Irrlehren der Sozialdemokratie und die Ansprüche des Ultramon¬
tanismus kritisch behandeln oder noch mehr Feste begehn, während doch jedes
Übermaß abstumpft? Was sie aber auch gethan haben, für die Pflege des nationalen
Sinnes haben sie trotz alledem zu wenig geleistet. Das muß sich öffentlich und
von einer leitenden Stelle aus, unter dem Beifall einer Großstadtvertretung, das
deutsche humanistische Gymnasium sagen lassen, und also der deutsche Gymnasial-
lehrerstand. Der nämlich, und niemand sonst, ist in diesem Falle das deutsche Gym¬
nasium, er trägt die Verantwortung für seine Leistungen im Nahmen seiner In¬
stitutionen, denn für die Pflege nationaler Gesinnung gewähren diese Raum genug;
er ist also hier der schuldige Teil, er, dessen patriotische Gesinnung kein geringerer
als Fürst Bismarck in seiner Schlluhauser Stiftung vom 21. Mai 1885 mit den
ehrenvollsten Worten anerkannt hat! Er ist gut genug, bei allen möglichen patrio¬
tischen Veranstaltungen mitzuwirken und Reden zu halten, aber nicht sicher vor
schwerer Verkennung seines redlichen Strebens, worin er keinem andern Stande nach¬
steht; er hatte im Dresdner Stadtvervrdnetensanl nicht nur keinen Vertreter, wie
gelegentlich früher, sondern er fand in dieser schnltechnisch durchaus inkompetenten
Versammlung auch nicht einmal einen Verteidiger. So ist es ja immer: kein Jurist
und kein Mediziner läßt sichs gefallen, daß ein Laie in seinem Fache autoritativ
mitredet, aber in Schulsachen, auch in deu schwierigsten Fragen, glaubt sich jeder
berechtigt, von der dürftigsten Kenntnis der Verhältnisse aus zu kritisieren und
abzuurteilen.
Was da gegen das humanistische Gymnasium gesagt wurde, das wurde wesentlich
nur gesagt, um die Gründung eines Neformgymnasiums zu rechtfertigen, allerdings
des ersten in dem Staate, dessen König einst erklärt hat: „Gott erhalte uns die
humanistische Bildung! Ich werde für sie kämpfen bis an mein Ende." War das
nötig? Genügte es nicht vollständig, zu sagen: Wir brauchen sowohl ein huma¬
nistisches als ein Realgymnasium; zwei selbständige Schulen dieser Art sind uns
zu teuer, also wollen wir es einmal mit einem Neformgymnasium versuchen, das
beide Richtungen sozusagen vereinigt, und das sich anderwärts schon bewährt hat.
Ob das letzte wirklich der Fall ist, geht uns hier nichts an; die alten Ziele fest¬
zuhalten und dabei die Unterrichtszeit für die beiden antiken Sprachen um ein
Drittel zu verkürzen, scheint freilich ein schwer zu überwindender Widerspruch, aber
die Dresdner hoffen ihn ja überwinden zu können und mögen es in Gottes Namen
versuchen. Inwiefern aber eine Schulgattung, die das Französische so stark betont,
die nationale Gesinnung mehr fördern werde, als das humanistische Gymnasium es
thut und gethan hat, und warum sie dann „die klassische Bildung nicht beschränkt,"
sondern nur einen andern Weg einschlägt, um diese Bildung zu vermitteln, diese
Bildung, die doch so hinderlich'für die Pflege des Nationalgefühls" ist, das ver¬
Auch «ach dem amtlichen Wortlaut der fraglichen Rede, den
mir der Herr Oberbürgermeister Beutler infolge einer öffentlichen Erklärung des
Vorstandes des Sächsischen Gymnasiallehrervereins mitgeteilt hat, bleibt die An¬
klage gegen das humanistische Gymnasium, wie sie der vorläufige Bericht des
Dresdner Anzeigers vom 10. d. M. brachte, in voller Ausdehnung bestehn, nur
daß der Vorwurf der „Institution" nicht den Lehrern gemacht wird; das ändert
wenig, da die Institution doch eben von den Lehrern vertreten wird und ihnen
als etwas Wertvolles gilt. Immerhin ist die briefliche Versicherung des Herrn
Oberbürgermeisters, „daß eine Kränkung des Gymnafiallehrerstnndes weder beab¬
le nach frühern Bestimmungen für das Jahr 1903 in Aussicht
genommne amtliche Ermittlung der Bodenbenutzung im Deutschen
Reiche ist wegen der bevorstehenden Neuordnung unsrer Zoll-
politischen Beziehungen zum Auslande schon im Jahre 1900 ge¬
schehn. Die Ergebnisse sind jetzt vom Kaiserlichen Statistischen
Amte veröffentlicht worden.") Sie werden auf die Entscheidung der schwebenden
Zolltariffrnge kaum noch Einfluß haben, aber das vermindert ihren Wert nicht.
Ebensolche Ermittlungen sind in den Jahren 1878, 1883 und 1893 veran¬
staltet worden, sodaß man jetzt die Entwicklung durch einen Zeitraum von
22 Jahren verfolgen kann, und zwar für eine Periode, der die Agrarkrisis
Micr ganz besondern Charakter aufgeprägt hat.
Die Statistik der Bodenbenutzung erfaßt die Gesamtfläche des Deutschen
Reichs, deren Umfang sich nach der Aufnahme vom 1900 auf 54064785 Hektar
stellte. Diese Zahl stimmt weder mit den Ergebnissen der frühern Ermittlungen
der Bodenbenutzung noch mit den Feststellungen genau überein, die bei den aller
Senf Jahre wiederholten Volkszählungen vorgenommen werden. So ergab die
im Sommer 1893 veranstaltete Aufnahme 54043624 Hektar; das waren
267 Hektar mehr, als die Volkszählung vom 1. Dezember 1890 ergeben hatte.
Und die Volkszählung vom 1. Dezember 1900 ergab wieder 9467 Hektar
Mehr als die Aufnahme vom Sommer 1900. Die Verschiedenheiten erklären
steh in der Hauptsache durch Neuvermessuugen, Katasterberichtigungeu und
durch die Aufnahme früher nicht katastrierter Flächen. Der Gewinn dnrch
Anwachsen von Land an den Küsten ist verhältnismüßig sehr gering. Der
Gcbietzuwachs durch die Einverleibung Helgolands und durch einige Grenz¬
regulierungen mit der Schweiz seit 1878 belief sich noch nicht auf 70 Hektar.
Die jüngern Zahlen sind in der Regel als die richtigern anzusehen.
Hier tritt uns nun die verblüffende Erscheinung entgegen, daß die land¬
wirtschaftlich benutzte Flüche stetig abgenommen, dagegen die Nieder land- noch
forstwirtschaftlich benutzte Flache stetig zugenommen haben soll. Pessimistische
Gemüter könnten versucht sein, das als einen Beweis für die böse Wirkung
der Agrarkrisis zu betrachten, aber wenn man näher zusieht, so stellt sich dies
als unberechtigt Heralls. In Wirklichkeit hat die landwirtschaftliche Boden¬
benutzung trotz der Agrarkrisis vielmehr zugenommen, obgleich doch auch die
forstwirtschaftliche Fläche eine, wenn anch sehr geringe Ausdehnung aufweist.
Die weder land- noch forstwirtschaftlich benutzte Flüche setzte sich
bei den vier Aufnahmen folgendermaßen zusammen:
Die Flüche der Haus- und Hofrüume muß natürlich fortgesetzt zunehmen.
Die Abnahme von 1878 bis 1883 entspricht nicht der Wirklichkeit, sonder»
erklärt sich daraus, daß 1878 sehr vielfach kleinere sogenannte „Hausgürten"
zur Fläche der Halts- und Hofräume gerechnet worden waren, während sie
später zur „landwirtschaftlich benutzten Fläche" in der Rubrik Haus- und
Obstgärten usw. gezählt worden sind. Auch die Zunahme des von Wegen, Ge¬
wässern usw. — genauer: von Wegen, Friedhöfen, öffentlichen Parkanlagen,
Gewässern usw. — cingenommnen Areals kann nicht befremden. Die Abnahme
von 1883 auf 1893 beruht auf irrtümlicher Einbeziehung eines Teils des Od-
und Amianth im Jahre 1883. Zu beachten ist übrigens, daß anch der von
den Städten bedeckte Grund und Boden überall mit eingerechnet ist.
So bleibt die fortgesetzte starke Zunahme des „Ob- und Amianth"
allein als Rätsel übrig. Wie ist diese scheinbar so bedenkliche Erscheinung zu
erklären?
Um sie zu verstehn, ist hier schon ein Blick auf die Bestandteile der
landwirtschaftlich benutzten Fläche nach den Ergebnissen der vier Auf¬
nahmen zu werfen. Es kamen:
Nur die „geringern Weiden und Hurungen" haben also in der ganzen
Periode 1878/1900 abgenommen, und zwar fast in demselben Maße, wie das
,„Ob- und Urlaub" zugenommen hat. Nach den über die einzelnen Er¬
hebungen vorliegenden Berichten steht es fest, daß die Zunahme des „Ödlands"
— wie fortan kurz gesagt sein mag — fast ganz darauf zurückzuführen ist, daß
bei frühern Aufnahmen als „Hutuugen" — wie wir statt „geringere Weiden und
Hutungen" fortan sagen wollen — augemeldete Flächen bei spätern Ausnahmen
als „Ödland" bezeichnet worden sind. Eine besondre Definition von Ödland
war nicht gegeben, die Hutungen aber waren nach oben unterschieden von den
sogenannten „reichen Weiden," d.h. Weiden „von im Durchschnitt der Jahre
mindestens 15 Doppelzentnern Heuweidewert oder mindestens einer Kuhweide
lauf das Hektar." Was ist nun Hutung, was Ödland? Es ist klar, daß dem
Persönlichen Ermessen des zur Anmeldung berufnen Besitzers oder Gemeinde¬
vorstehers dabei von vornherein ein weiter Spielraum offen stand. Schon
die Aufnahme von 1883 führte zur Ausscheidung eines großen Teiles der
1878 als Hutungen bezeichneten Flächen und ihrer Einreihung unter das Öd¬
land. Eine veränderte Benutzung braucht dem nicht zu Grunde gelegen zu
haben. Für die Aufnahme von 1893 war die Rubrik Ödland durch den Zu¬
satz erläutert worden: „einschließlich der reinen Heideländereien und der weder
zum Ackerbau uoch als Grünland benutzten Moore" usw. Das hatte wieder
eine starke Überweisung von frühern Hutuugen an das Ödland zur Folge.
Die Verschiebung von 1893 bis 1900 ist, wie zu erwarten war, viel kleiner;
die Angaben waren richtiger, die Ergebnisse zuverlässiger geworden. Hier wird
man wohl auch in weiteren Maße an eine thatsächliche Veränderung in der
Vvdenbenutzung glauben müsse», die sich — wenigstens teilweise — schou aus dem
Rückgang der Zahl der Schafe in der ganzen Periode 1878/1900 erklärt.
Richtig beurteilt kann die seltsame Erscheinung der starken Zunahme des
Ödlands außerdem nur werden, wenn sie in den verschiednen Gebietsteilen
verfolgt wird. Nach dem Ergebnis der vier Aufnahmen wurden als Ödland
angemeldet:
Bei der schon erwähnten Unbestimmtheit der Grenzen zwischen Ödland und
Hutungen können überhaupt nur beträchtlichere Verschiebungen von 1883 an zu
denken geben. Von einer irgendwie bedenklichen Zunahme des Ödlands könnte
Aso nur in Schleswig-Holstein, Hannover und dem Herzogtum Oldenburg die
Rede sein. Hier sind die ausgedehnten Heiden, vor allem aber die Moore zu
Hause. Daß sie erst 1883, zum Teil sogar erst 1893 als Ödland angemeldet
worden sind, hat eigentlich allein die auffallende Zunahme des Ödlands und zu-
gleich die Abnahme der landwirtschaftlich benutzten Fläche zuwege gebracht. Daß
aus dieser Erscheinung auf eine Einschränkung der landwirtschaftlichen Boden¬
benutzung infolge der Agrarkrisis gefolgert werde» könnte, ist sonach ganz aus¬
geschlossen. Der landwirtschaftlichen Nutzbarmachung der ausgedehnten Moore
Nordwestdentschlcmds als Ackerland und als Wiese oder reiche Weide wird
bekanntlich vom Staat und von Privaten die größte Aufmerksamkeit geschenkt,
und die schon erzielten Erfolge berechtigen zu guten Hoffnungen. Wenn unter
dem Banne der lang dauernden Agrarkrisis das Tempo der Moorkulturarbeit
vielleicht langsamer ist, als man wünschen möchte, so ist das nur natürlich.
Die Statistik kann dafür schwer einen schlüssigen Beweis erbringen. Für die
dringend erwünschte Aufforstung möglichst weiter jetzt noch als Ödland oder
auch als Hutungen anzusehender Flächen kommen die Moore des besonders
waldarmen Nordwestens nach den bisherigen Erfahrungen weniger in Betracht
als die Heiden. Von den 1900 angemeldeten 2100000 Hektaren Ödland sind
bei der letzten Bodenbenutzungsaufnahme 351000 Hektar ausdrücklich als zur
Aufforstung geeignet bezeichnet worden. Es kommen davon 316000 auf das
Königreich Preußen, und zwar auf die Provinz Hannover 164000, und auf
das Herzogtum Oldenburg 23000 Hektar. Von den 1912000 Hektaren
Hutungen sind im ganzen 282000 als zur Aufforstung geeignet angemeldet
worden, wovon auf Preußen im ganzen 229000 kommen, und zwar auf
Hannover 47 000, auf Westfalen 36600, auf Rheinland 24000 und auf
Pommern 23000 Hektar.
Die forstwirtschaftlich benutzte Flüche — um dieser gleich hier kurz
zu gedenken - betrug im Deutschen Reiche
Sie ist also — trotz der landwirtschaftlichen Krisis - so gut wie unverändert
geblieben, obgleich sich die forstwirtschaftlichen Ertrüge im allgemeinen durchaus
nicht ungünstig entwickelt haben. Die Ergebnisse der besondern forstwirtschaft¬
lichen Erhebungen von 1900 sind noch nicht veröffentlicht worden. Von einem
nähern Eingehn auf die Bewaldungsverhültnisse wird deshalb hier abgesehen.
Um so mehr ist eine genauere Betrachtung der landwirtschaftlichen
Bodenbenutzung auf Grund der vier Aufnahmen von Interesse. War aus den
Veränderungen, die für die weder land- noch forstwirtschaftlich benutzte Fläche
in der Periode der Agrarkrisis von 1878 bis 1900 nachgewiesen worden sind,
auf eine Einschränkung der landwirtschaftlichen Bodenbenutzung nicht zu folgern,
so ist aus der Entwicklung, die die Anbauverhältnisse der landwirtschaftlich
benutzten Fläche in derselben Periode genommen haben, sogar auf eine Aus¬
dehnung der landwirtschaftlichen Bodenbenutzung im eigentlichen Sinne zu
schließen. Wenn man, wie es durch das oben Gesagte gerechtfertigt wird, die
sogenannten „Hutungen" ganz beiseite läßt, so betrug die landwirtschaftlich
benutzte Fläche im Deutschen Reiche
Das ist eine zwar stetige aber immerhin so geringfügige Zunahme, daß
daraus keine weitern Schlüsse gezogen werden können. Wie schon angegeben
worden ist, setzt sich diese Fläche zusammen aus Acker- und Gartenland, reichen
Weiden und Weinbergen, und zwar kamen
Auch in: einzelnen zeigen sich danach nur sehr unbedeutende Verschiebungen,
Schlüsse auf eine bedeutsamere Zunahme der Viehzucht die in der That
eingetreten ist — auf Kosten des Ackerbaues können aus diesen Angaben über
die Wiesen und reichen Weiden sicher nicht gezogen werden. Von einer Ver¬
schiebung in der Bodenbenutzung, wie sie sich in England in dem starken An¬
wachsen der ?grmg.n«zirt?Ästurs bei Abnahme des ^r-ibis I^mal in den letzten
Jahrzehnten vollzogen hat, ist in Deutschland gar keine Rede. Die geringe
Zunahme der Wiesen und reichen Weiden gegenüber den: Rückgang der Hu-
tungen und der Zunahme des Viehstapels ist sehr zu beachten.
Auch das Acker- und Gartenland, das heißt die dem eigentlichen Acker¬
bau dienende Fläche, ist im ganzen sehr wenig ausgedehnt worden. Die große
Steigerung der „landwirtschaftlichen" Bodcnbenutzung wird erst klar, wenn
man die einzelnen Arten der Benutzung des Acker- und Gartenlandes in Betracht
zieht. Nachstehende Zahlen geben ein Bild von ihrer Entwicklung. Es kamen
vom Acker- und Gartenlnnde
Bräche und Ackerweide zusammen sind also in den zweiundzwanzig
Jahren der Agrarkrisis von 3821000 auf 2 285 000 Hektar, also um 1536 000 Hek¬
tar oder 40 Prozent zurückgegangen. Diese Fläche ist dem Anbau vou Feld¬
früchten zu gute gekommen, und das bedeutet unzweifelhaft eine Intensivierung
des Ackerbaues. Ob sie überall im Interesse höherer Reinertrage — namentlich
auf schwereren Böden — angebracht war, kann zweifelhaft erscheinen.
Läßt man die besonders zu beurteilenden „Haus- und Obstgärten" außer
betracht, so machte die zum Anbau von Feldfrüchten benutzte Fläche aus
In der ganzen Periode 1878/1900 hat sich sonach eine Zunahme von
1482000 Hektar ergeben. Ans ein Jahr berechnet betrug sie in der Periode
1878/83 durchschnittlich 83400 Hektar; in der Periode 1883/93 durchschnittlich
58600 Hektar und in der Periode 1893/1900 durchschnittlich 68400 Hektar.
Die „Haus- und Obstgürten" sind eigentlich ein etwas dunkler Punkt
in unsrer Statistik der landwirtschaftlichen Bodenbenutzung, aber solche werden
niemals ganz vermieden werden können. Es sind nach dem Wortlaut des
Erhcbungsformulars darunter verstanden: „Haus- und Obstgärten (einschließlich
Baumschulen und privater Parkanlagen) und gartenmäßig angebautes Feld,
bei dem die den einzelnen Früchten gewidmete Flüche wegen zu starker Ver¬
mischung der Kultur nicht einzeln nachweisbar ist." Einmal gehören also
hierher alle städtischen und ländlichen Gärten und privaten Parkanlagen, auch
wenn sie nicht als „landwirtschaftliche" Bodenbenutzung anzusehen sind, dann
aber auch „Feld," das zum Anbau von allen möglichen Feldfrüchten (g. bis et
der letzten Übersicht) landwirtschaftlich benutzt wird. Diese Feldfrüchte sind
aber in den Nachweisungen, die die Statistik über deu Aubau von Getreide
und Hülsenfrüchten, Hackfrüchten und Gemüsen, Handelsgewächsen und Futter¬
pflanzen giebt, nicht enthalten. Man muß die „Haus- und Obstgärten" (s)
als das „Gartenland" von dem „Ackerlande," das die Benutzuugsarten
A bis k umfaßt, scharf unterscheiden. Das Gartenland ist natürlich stetig ge¬
wachsen. Die starke Zunahme von 1878 bis 1883 besteht aber uur auf dein
Papier, weil eben 1878 eine große Anzahl kleiner Hausgärten zu den „Haus¬
und Hofrüumen," dagegen von 1893 an zu den „Haus-und Obstgärten usw."
gerechnet worden ist. Wie das Gartenland im einzelnen benutzt worden ist,
wissen wir nicht. Namentlich fehlt auch jede Angabe über die Fläche, die
zum Obstbau verwandt wird, obgleich bei der letzte»? Aufnahme die Obst¬
bäume — Apfel-, Birnen-, Pflaumen- und Kirschbäume — gezählt worden sind.
Vorhanden waren danach im Deutschen Reich überhaupt 163389000 Obstbäume,
und zwar 52332000 Apfelbäume, 25116000 Birnbäume, 69393000 Pflaumen¬
bäume, 21548000 Kirschbäume. Der Obstbau wird in Deutschland im ganzen
noch arg vernachlässigt, obwohl die hier und da gemachten Versuche rationellen
Betriebs doch beweisen, daß fast in allen Teilen des Reichs recht gute Ertrüge
und Gewinne damit erzielt werden konnten. Hier kann das Gartenland, das
1900 im Deutschen Reiche 483000 Hektar, d. h. nur 1,84 Prozent des Acker-
nnd Gartenlands ausmachte, fernerhin ganz unberücksichtigt bleiben.
Von den obeugennunten vier Hauptarten der Feldfrüchte (Getreide und
Hülsenfrüchte; Hackfrüchte und Gemüse; Haudelsgewüchse; Futterpflanzen) haben
in den 22 Jahren von 1878 bis 1900 nur die Haudelsgewüchse an
Anbaufläche verloren. Im Jahre 1878 nahmen sie 418000 und 1900 nur
noch 188000 Hektar ein. Der Rückgang war stetig, und hier wird man frei¬
lich an eine starke „Tendenz" zur Abnahme glauben müssen, so vorsichtig
man auch im allgemeinen bei dem Herauslesen solcher „Tendenzen" aus der
Bodenbenutzungsstatistik sein muß. Der Anbau der verschiednen Feldfrüchte
kann in den einzelnen, nach unregelmäßigen Zwischenrüumeu herausgegriffnett
Erhebuugsjahren durch vorübergehende, rein zufällige Einflüsse so sehr lok
bestimmt worden sein, daß'auf eine dauernde Tendenz zur Zu- oder Abnahme
nicht ohne weiteres geschlossen werden darf. Bei der Abnahme der Handels-
gewächse kamen hauptsächlich folgende Feldfri'lebte in Betracht. Es waren an¬
gebaut mit
1878188:; 18!»:;1900
Hektar
Diesen Früchte» wird man Wohl auch für lange Zeit kein günstiges
Prognostikon stellen könne». Die ausländischen Produkte, die Ersatz biete»,
sind zu überlegen im Konkurrenzkampfe,
Anders steht es mit Hopfen und Tabak. Es waren bebaut
Hier ist von einem ausgesprochnen Verfall des Anbaus, wie er bei der
vorhergehenden Gruppe von Handelsgewächsen in die Augen springt, nicht die
Rede. Die nächste Bodenbeuntzungsstatistik kann vielleicht wieder eine Zu¬
nahme ergeben. Allerdings zeigen auch die alljährlich für die Erntestatistik
vorgenommenen Schätzungen der Anbauflächen der wichtigern Feldfrüchte beim
Hopfen seit einer Reihe von Jahren eine stetige Abnahme. Alles in allem
wird man den Anbau der Handelsgewächse nicht mehr, wie das früher ziem¬
lich oft und auch damals wohl irrtümlich geschehn ist, den deutschen Land¬
wirten als Universalmittel zu erhöhten Neinertägen empfehlen können, ohne
sich lächerlich zu machen.
Bei weitem die bedeutendste Rolle uuter den Benutzuugsarteu des Acker¬
lands spielt der Anbau von Getreide und Hülsenfrüchten, wobei zweck¬
mäßig zu unterscheiden sind: 1. der eigentliche Getreidebau, o. h. der Anbau
der „Hauptgetreidcarten": Weizen, Spelz und Einkorn, Roggen, Gerste, Hafer
Und Menggetreide; 2. die andern Getreidearten: Buchweizen, Hirse und Mais;
3. die Hülsenfrüchte (Erbsen, Linsen, Bohnen, Wicken, Lupinen), Mischfrucht
(mehrere Hülsenfrüchte im Gemenge) und uicht besonders genannte Arten von
Getreide und Hülsenfrüchten. Bei der Bodenbenutzungsaufnahme kamen
Es hat also mir der eigentliche Getreidebau eine stetige Ausdehnung er¬
fahren, während die beiden andern Benutzungsarten eingeschränkt worden find.
In der Gruppe „Hülsenfrüchte usw." hat der Anbau der vorwiegend zur
wenschlichcn Nahrung dienenden Erbsen, Linsen und Bohnen eine besonders
starke Einschränkung erfahren. Er ist stetig von 527 000 auf 263000 Hektar,
"tho um die Hälfte zurückgegangen, während der Anbau der übrigen zur Gruppe
^Hörenden Früchte, die teils zu Futterzwecken, teils mit zum Unterpflügen
angebaut werden, zugenommen hat. Ebenso ist der Anbau von Buchweizen
und Hirse von 262000 auf 121000 Hektar zurückgegangen, dagegen der Anbau
von Mais von 34 auf 55 Hektar ausgedehnt worden.
Für den eigentlichen Getreidebau liegen folgende Zahlen? vor. Es
waren bestellt
Die Gesamtzunahme in den 22 Jahren von 1878 bis 1900 betrug
806 000 Hektar und im Jahresdurchschnitt in der Periode 1878/83: 57 200 Hektar;
in der Periode 1883/93: 273000 Hektar und in der Periode 1893/1900:
35500 Hektar. Auch der Getreidebau im genauern Sinne hat also in der
Periode 1893/1900 nicht nur nicht abgenommen, sondern sogar noch starker
zugenommen als in dem Jahrzehnt 1883/93. Für Weizen, Spelz, Roggen,
Gerste und Hafer werden die Anbauslachen alljährlich für die Erntestatistik
geschützt. Die dabei gewonnenen Zahlen stimmen mit dem vorstehenden
Zahlenbilde darin überein, daß der Anbau von Weizen und Hafer ziemlich
stetig zugenommen hat, der von Roggen und Gerste bei unregelmäßigem
Schwanken im ganzen sich gleich geblieben ist, der von Spelz dagegen stetig
abgenommen hat. Beim Menggetreide scheinen veränderte Auffassungen bei
der Erhebung das Ergebnis stark beeinflußt zu haben. Leider kann man beim
Menggetreide ebenso wie bei der Gerste nicht sehen, wieviel davon zu Futter¬
zwecken — bei der Gerste auch zu Vrciuzwecken — angebaut worden ist. Es
ist das wohl bei weitem der größere Teil. Als Brodgetreide wird in Deutsch¬
land wohl von diesen beiden Getreidearten wahrscheinlich nur noch ein sehr
kleiner Teil, vom Hafer so gut wie nichts verwandt. Das verfütterte Quantum
Weizen und Roggen wird wohl das verbackne Quantum von Gerste, Hafer
und Menggetreide reichlich aufwiegen. Man kann füglich, ohne einen großen
Fehler zu machen, Weizen, Spelz und Roggen als das Brodgetreide schlecht¬
hin ansprechen. Vou dem dem Getreidebau gewidmeten Areal find sonach
angebaut gewesen
Von der Gesamtzunahme der Getreidefläche kamen 183000 Hektar dem
Brodgetreide, dagegen 624000 Hektar den andern Getreidearten oder —- ab¬
gesehen von der Braugerste — Futterzwccken zu gute. Die Brotgetreidefläche
hat um zwei Prozent, die Fläche der andern Getreidearten um elf Prozent,
die Getreidefläche überhaupt um sechs Prozent zugenommen. Auch die Ver¬
schiebungen im eigentlichen Getreidebau scheinen also überwiegend im Interesse
der Viehzucht geschehn zu sein, ebenso wie bei den Veränderungen im Anbau
von Hülsenfrüchten, Heidekorn, Mais usw. die Rücksicht auf die Erzeugung
vegetabilischer Menschennahrung hinter dem Futterzweck immer mehr zurück-
getreten ist. Das kann als Charakteristikum für die ganze Gruppe „Getreide
und Hülsenfrüchte" bezeichnet werden.
Der Zunahme der Anbaufläche des Brotgetreides um 2 Prozent steht eine
Zunahme der Brotesser im Deutschen Reich in der Zeit von 1878 bis 1900
um 27 Prozent gegenüber. Auf je 1000 Einwohner kamen Hektar:
Die Weizen- und Noggeuflliche war also am Ende der 22 Jahre für je 1000 Ein¬
wohnern um 28,3 Hektar oder 1,6 Prozent kleiner als zu Anfang. Wie das
Kaiserliche Statistische Amt mitteilt, kommen annähernd am Anfang und am
Ende der in Rede stehenden Periode (1878 bis 1900) in nachbenannten aus-
ländischen Staaten anf 1000 Einwohner an Weizen und Roggen zusammen
Held a r:
Diese Zahlen sind natürlich nur im Groben vergleichbar, weil die Anbau¬
statistik nicht überall nach denselben Grundsätzen und mit derselben Genauigkeit
gemacht wird. Immerhin ist zu sagen, daß sich im Deutschen Reich die Ver¬
hältnisse mit am günstigsten entwickelt haben. Es gilt dies auch für die Ernte¬
erträge auf das Hektar, obwohl die Erntestatistiken, wie es in der Natur der
Sache liegt, überall zu wünschen übrig lassen. Man sollte bei Schlußfolgerungen
aus ihren Zahlen immer sehr vorsichtig sein.
Über den Anbau von Hackfrüchten und Gemüsen liegen folgende Zahlen
vor. Es waren bestellt:
Die Gesamtzunahme in den 22 Jahren von 1878 bis 1900 betrug hier
1040000 Hektar, also um 577 000 Hektar mehr als die Zunahme der mit
Getreide und Hülsenfrüchten bebauten Flüchen. Von diesem Zuwachs kommen
allein 285000 Hektar auf den Anbau von Zuckerrüben zur Zuckerfabrikatiou,
der um 162 Prozent ausgedehnt worden ist. Im Jahre 1878 nahm er
0,68 Prozent, 1900 aber 1,75 Prozent des Acker- und Gartenlandes ein.
Wie es damit in Zukunft werden wird, macht zur Zeit den deutschen Wirt¬
schaftspolitiken besonders viel Sorge. Hoffentlich wird diese Kulturart mög¬
lichst bald in gesunde Bahnen geleitet werden, sollte das Reich auch für ab¬
sehbare Zeit auf jede Zuckerstcuer verzichten müssen. Der Anbau von Kar¬
toffeln hat sogar um 514000 Hektar zugenommen, was in Prozent allerdings
nur 18,63 ausmacht. Vielleicht wird auch hier die entstandne Überproduktion
an Kartoffelspiritus zu einer Einschränkung der Kartoffelflächc führen. Es
wurden zur Spiritusfabrikation im Jahre 1900 etwa 7 Prozent der Kartoffelernte
verwandt. Das ist wahrscheinlich mehr als in irgend einem andern Lande. Auf
je tausend Einwohner kamen 1900 im Deutschen Reiche 57,5 Hektar Kartvsfel-
land, in Österreich 44,5, in Frankreich 40,5, in Rußland 33,0, in Ungarn 30,6,
in den Vereinigten Staaten 13,8 und in Großbritannien und Irland 12,0 Hektar.
Leider ist nicht bekannt, welcher Teil der Kartoffelernte bei uns zum Bieh-
futter dient. Zweifellos ist es ein ganz bedeutender. Möglich ist es, daß auch
die Ausdehnung des Kartoffelanbaues zum Teil mit der verstärkten Viehzucht
zusammenhängt. Das ist jn auch in gewissem Sinne mit der Zunahme der
Zucker- und Spiritusfabrikation der Fall. Die Vergrößerung der Anbaufläche
der Hackfrüchte und Gemüse anßer den Zuckerrüben und Kartoffeln ist offenbar
weitaus zum größten Teil der Futterproduktiou zu gute gekommen.
Dazu kommt nun noch die Zunahme des mit Futterpflanzen bestellten
Areals von 2448000 auf 2657000 Hektar.
Fast ganz der Gewinnung von Biehfutter zu gute kommt auch die „Neben¬
nutzung" des Ackerlands. Bisher war nämlich nur von der „Hauptnutzung"
die Rede. Als Nebennutzuug (Vor-, Neben-, Nach-, Stoppclfrüchte) waren
Feldfrüchte aus dem Ackerlande angebaut worden im Jahre 1900 im ganzen
509496 Hektar gegen 559110 Hektar im Jahre 1893. Für 1878 und 1883
liegen keine damit vergleichbare Zahlen vor. Auch die Vergleichbarkeit der Zahle»
für 1893 und 1900 wird wohl nicht ganz einwandfrei sein. Wir wollen hier auf
jeden Vergleich verzichten. Mit Getreide — einschließlich Buchweizen, Hirse und
Mais — als Nebenfrucht waren 1900 nur etwa 11000 Hektar bebaut, davon
kaum 2000 Hektar zur Menschennahrung, der Rest zum Futter. Die als
Nebenfrucht angebauten Hülsenfrüchte nahmen 67000 Hektar ein, wovon 57 000
zum Unterpflügen bestimmt waren, der Rest fast ganz zum Grünfutter. Die
Hackfrüchte und Gemüse als Nebenfrucht machten 240000 Hektar ans, wovon
231000 auf Wafserrüben kamen, die Futterzwecken dienten, der Nest auf andre
Futterrüben. Auch die als Nebenfrucht angebauten Handelsgewnchse (7397 Hek¬
tar) waren fast ganz zum Futter bestimmt. Der vegetabilischen Menschennahrung
kommt die Nebennutzung des Ackerlands also so gut wie gar nicht zu gute.
Man wird also wohl mit Recht sagen können, daß die Entwicklung der
Benutzung des Ackerlandes, oder kürzer: die Entwicklung des Ackerbaues wesentlich
von dein Streben und dem Bedürfnis nach erhöhter Produktion animalischer
Nahrungsmittel beeinflußt worden ist. Nicht in der Weidewirtschaft, vielmehr
in der Stallfütterung hat sich bei uns die Zunahme der Viehwirtschaft voll¬
zogen. Und das scheint denn auch den natürlichen Verhältnissen Deutschlands
im Unterschiede von denen Englands zu entsprechen. Daraus wird man
aber auch entnehmen können, daß dem Übergang von der Produktiv:: vege¬
tabilischer Nahrungsmittel zur Viehzucht in der deutschen Landwirtschaft engere
Grenzen gezogen sind als in der englischen. Der Brotgetreidebau wird in
Deutschland vorläufig und vielleicht für immer die wichtigere Rolle spielen.
Auch daran ist — wie dies in den Grenzboten immer anerkannt worden
ist — nicht zu zweifeln, daß die deutsche Landwirtschaft, wenn sie wollte, im¬
stande wäre, den Brotgetreidebedarf des deutscheu Volks zunächst vollauf zu
decken. Es fragt sich uur erstens, wie lange noch bei fortdauernd starker Volksver-
mehrung; zweitens, wie zu der nötigen „Intensität" des Betriebs, die allein
solche erhöhte Brnttoerträge erzielen kann, alle Landwirre veranlaßt werden
sollen, solange das Ackerland im Privateigentum, und der Grad der Intensität
Privatsache bleibt; endlich und hauptsächlich drittens, ob diese erhöhte Inten¬
sität nicht eine solche Steigerung der Produktionskosten voraussetzt, daß die
Reinertrage Zimmer kleiner werden. Das scheint teilweise schon der Fall zu
sein, und darin liegt vielleicht die ernsteste Gefahr für unsre landwirtschaftliche
und volkswirtschaftliche Zukunft, mit höhern Getreidezöllen oder ohne sie.
lie geschilderten sattsam bekannten Vorgänge sind hier ausdrücklich
darum wieder betont worden, weil bestimmt darauf hingewiesen
werden soll, daß die gegenwärtig in der österreichischen Monarchie
herrschenden Wirrnisse keineswegs den Gegensatz zwischen Deutschen
l und Tschechen, sondern den Dualismus zum wesentlichen Ur¬
sprung haben. Wir wollen nun zwar nicht behaupten, daß ein wirtschaftlicher
Dualismus zwischen den beiden Reichshälften überhaupt eine politische Un¬
möglichkeit wäre, aber der jetzt bestehende ist darum ein Unsinn, weil er der
österreichischen Monarchie nicht nur keine feste Grundlage giebt, sondern ihr
diese ausdrücklich durch die Bestimmung entzieht, daß der Ausgleichsvertrag
aller zehn Jahre erneuert werden muß. Alle gesetzlichen und verfassungs¬
mäßigen Bestimmungen „auf Zeit" sind Unsinn. Die alten Diplomaten wußten
sehr wohl, warum sie ihre Verträge „auf ewige Zeit" abschlossen. Fürst Bis-
marck hat einmal ans der Reichstagstribüne als Kommentar hinzugefügt, daß
solche Verträge selbstverständlich nur so lange in Kraft blieben, als sich die
Verhältnisse, unter denen sie abgeschlossen worden seien, nicht grundsätzlich ge¬
ändert hätten. Tritt das letzte ein, so macht sich die Abänderung auf fried¬
lichem Wege oder durch Gewalt von selbst geltend. So ist der historische
Lauf immer gewesen. Der parlamentarische und der journalistische Witz des
vorigen Jahrhunderts hat sich dann an dem veralteten Ausdruck „auf ewige
Zeiten" geübt, es sind kurzsichtigere Anschauungen herrschend geworden, und die
Anzahl der Verträge und der Gesetze mit Bestimmungen über Verlängerungs¬
und Erneneruugsfristen auf Zeit hat sich gehäuft. Diese neue politische Technik
hat aber wenig ersprießlich gewirkt. Man braucht sich z. B. nur das gänzlich
unfruchtbare Gerede ins Gedächtnis zurückzurufen, das seit Jahr und Tag von
Freund und Feind an die im Frühling erfolgte Verlängerung des Dreibundes
geknüpft worden ist. Glücklicherweise betraf diese Angelegenheit nur Abmachungen
zwischen Diplomaten ohne berufsmäßige Einmischung der Parlamentarier und
ihrer Parteipresse. Um einen solchen Fall herauszugreifen, wollen wir auf
das unglückselige deutsche Sozialistengesetz hinweisen. Anstatt seinen Zweck, die
Sozialdemokratie einzudämmen, zu erfüllen, hat es gerade durch den Umstand,
daß aller zwei bis drei Jahre ein Kampf um seine Erneuerung geführt werden
mußte, der sozialdemokratischen Fraktion ans ihrer frühern mindern Geltung zur
parlamentarischen Gleichberechtigung verholfen, und man hat es schließlich ganz
und gar fallen lassen. Um der Bevölkerung größere Aufregungsperioden zu
ersparen, hat man in Preußen und in Deutschland die Wahlperioden ver¬
längert, den letzten Handelsvertrag auf zwölf Jahre abgeschlossen. Aber man
sehe jetzt, wie vor Ablauf des Vertrags alle politischen und wirtschaftlichen
Parteien erregt, alle reinen und unreinen Interessen entfesselt sind, Autorität
und gute Sitten gemindert werden — und dabei weiß doch jeder Einsichtige
im voraus, daß man sich schließlich im großen und ganzen ungefähr auf die
Regierungsvorlage einigen wird.
Solche erbitterte Kämpfe wirtschaftlicher und politischer Natur, die bei
der modernen Entwicklung des Parteiwesens von Fall zu Fall ungestümer
verlaufen müssen, schreibt der Dualismus nun aller zehn Jahre verfassungs¬
mäßig vor, beschwört sie über ein Reich herauf, das bei seiner völkerschaft¬
lichen Zusammensetzung und der ungenügenden Entwicklung des Gesamtgefühls
mit verdoppelter Sorgfalt vor allen erschütternden Verfassungskämpfen bewahrt
werden müßte. Diese wirtschaftliche Kündigungsklausel für jedes Jahrzehnt
war politisch nicht klug und nicht einmal nötig. Die erste Erneuerung des
sogenannten Ausgleichs ist im Jahre 1877 fast ohne Sang und Klang er¬
folgt: ein Beweis dafür, daß im großen und ganzen das Nichtige getroffen
worden war. Erst 1887 begannen ernstliche Kämpfe, denn wenn man jemand
um seine Meinung befragt, pflegt er eine zu haben, sagt schon Herbart in
seinen kleinen Schriften. Diese Kämpfe entstanden durch die Begehrlichkeit
der Magyaren und wurden infolge der Zerrüttung und der parlamentarischen
Schwäche Österreichs zu ihren Gunsten entschieden; sie erneuerten sich 1897
in erhöhtem Maße und haben den ganzen heutigen Wirrwarr angerichtet. Er
wird diesesmal aus naheliegenden Gründen noch einen einigenden Abschluß
finden, und gerade die trockne Offenheit, mit der man einander von beiden
Seiten deutlich ins Gesicht gesagt hat, man werde sich im Falle der Trennung
des einheitlichen Zollgebietes auch ohne die andre Reichshülfte zu helfen wissen,
wird diesen Ausgang fördern. Es wird eine Einigung über Ausgleich und
Zolltarif erfolgen, denn man ist auf keiner Seite ernstlich bereit, den Sprung
ins Ungewisse zu thun. Das bedeutsamste aber bei der diesmaligen Ent-
Wicklung der Angelegenheit ist die erfreuliche Erscheinung, daß sich in beiden
Reichshälften angesehene Stimmen dafür ausgesprochen haben, künftig müsse
der wirtschaftliche Dualismus zwischen Österreich und Ungarn zu einem
dauernden gemacht werden. Daß diese Änderung eine wirkliche „Staats¬
notwendigkeit" ist, glaube ich schon erwiesen zu haben, und es dürfte einer ge¬
schickten und energischen Regierung nicht schwer fallen, die bisher bei den
Ausgleichsberatungen gesammelten ungünstigen Erfahrungen zu benutzen, um
hüben wie drüben die auf einen dauernden Ausgleich gerichtete Strömung zu
fördern. Hierbei würde sich die Initiative und das thätige Eingreifen der
Krone empfehlen.
Dieselbe Einwirkung erweist sich ans andern Gebieten des Staatslebens
mindestens in ebenso nachdrücklicher Weise als dringend notwendig, wenngleich
der Dualismus auf Zeit das in einer verfehlten politischen Absicht und in
übereilter Weise eingeführte Hauptübel der österreichischen Monarchie ist. Aus
ihm leiten ja anch die Tschechen die Begründung ihres sogenannten Staatsrechts
her, indem sie sagen: Wenn durch die Revolution von 1848/49 das ungarische
Staatsrecht nicht verloren gegangen ist, kann auch das Recht der Wenzelskronc
durch die Schlacht am Weißen Berge nicht vernichtet worden sein. So hängt
sich immer ein nationaler Anspruch an den andern, wird zu einem ständigen
Streitpunkt in der Presse und einem gelegentlichen im Parlament, ohne jemals
zu einer Klärung zu gelangen, denn nur in zwei Punkten versteht man in
Wien keinen Spaß: wenn nämlich die Armee oder die Hoheit des Kniserhauses
angetastet wird; dann wird auch die unerschöpfliche Langmut des Kaisers
Franz Joseph zu Äußerungen und Entschlüssen veranlaßt, die an Entschiedenheit
und Klarheit nichts zu wünschen übrig lassen. Die Tschechen und auch Herr von
Szell konnten aus den letzten Jahren einiges Interessante hierüber erzählen.
Das Durcheinanderlaufen nicht nnerkcmuter nationaler Ansprüche, schiefer
Auffassungen des modernen Stnatslebens und gänzlich einseitiger Auslegung
der übrigens kaum gekannten Verfassung sind die hauptsächlichen Merkmale
des gegenwärtigen innerpolitischen Lebens in Österreich. Daß es so weit ge¬
kommen ist, war die notwendige Folge davon, daß man eben in Österreich
vier Jahrzehnte lang gar nicht regiert hat, sondern die innern politischen Er¬
eignisse sich nach einer niemals klar heraus gearbeiteten parlamentarischen
Schablone, der man gelegentlich auch einmal recht wenig Rücksicht erwies, ab¬
spielen ließ. Eine klare Verfassungspraxis hat es nie gegeben, ja man darf
behaupten, daß die Mehrzahl der Politiker, sogar der Abgeordneten und der
Minister, die Verfassung nur oberflächlich kennt, vielleicht kaum gelesen hat.
Die ganze Zeit hat in Österreich die Auffassung der hauptstädtischen Presse
über die Verfassung geherrscht, nach der sie eine parlamentarische sei, das Ab¬
geordnetenhaus also durch seine Mehrheit über den Bestand des jeweiligen
Kabinetts zu entscheiden habe. Diese Anschauung ist freilich schon längst unter
dem Ministerium Taaffe sei absurclum geführt worden, denn so oft auch damals
die Wiener Blätter nach irgend einer parlamentarischen Niederlage der Welt
verkündeten, das Ministerium sei gefallen, blieb es doch im Amte, weil es
das Vertrauen der Krone weiter hatte. Trotzdem scheint die Ansicht über den
parlamentarischen Charakter der Verfassung auch von den Ministerien geteilt
worden zu sein: dafür spricht wenigstens der Eifer der spätern Ministerien,
sich für ihr Programm eine vorherige Mehrheit zu sichern, bis diese Schacher¬
politik unter Badcni schließlich die dadurch politisch tot gemachte deutsche
Minderheit zur Obstruktion trieb. Seit dieser Zeit hat der vorausgehende
Majoritätshandel aufgehört, und thatsächlich hat das Ministerium Körber
gerade infolgedessen für seine Vorlagen größere Mehrheiten erzielt als je ein
Kabinett vorher. Wie man auch daraus wieder ersieht, ist eben bisher nicht
nach der Verfassung, weil überhaupt uicht, regiert worden; die Ursache dafür
liegt hauptsächlich bei der Krone und ihren verantwortlichen Ratgebern. Infolge
davon hat sich so eine Art allgemeiner Meinung gebildet: die Verfassung sei
schlecht, weil sie den Völkern den Frieden nicht gebracht und namentlich zur
Unterdrückung der Deutsche» beigetragen habe. Diese Begründung ist falsch,
obgleich die Thatsachen richtig sind. Die österreichische Verfassung ist wohl
ziemlich phrasenreich abgefaßt, aber sonst so gut oder so schlecht wie alle
andern Verfassungen. Vor allem trägt sie, wie alle deutschen Verfassungen,
einen rein konstitutionellen Charakter und weist namentlich der Krone eine
Reihe fest bestimmter Rechte zu, die aber nur wenig zur Geltung gebracht
worden sind. Einen wirklichen Verfassuugskampf, der über solche Dinge Klarheit
gebracht hätte, hat es niemals gegeben, dagegen hat das anspruchsvolle Ver¬
halten der einzelnen Nationen und die unberechtigte Kritik der Radikalen ein
Tohuwabohu geschaffen, das als Auffassung des verfassuugsmüßigeu Zustandes
gilt. Alls diesem Gebiet werden zukünftige Regierungen Ordnung und Klarheit
schaffen müssen, und dann wird sich herausstellen, daß es mit der jetzigen
Verfassung auch ganz gut gehn wird. Man muß nur endlich einmal regieren
wollen.
In einem Staate, der immer zwischen der zentralistischen und der födera¬
listischen Richtung hin und her pendelt, wie es in Osterreich seither gewesen ist,
gewinnt die Person des Monarchen noch eine ganz andre Bedeutung als bei¬
spielsweise in England. Kaiser Franz Joseph hat von jeher nach bestem Wissen
und Gewissen die Wohlfahrt der seiner Leitung anvertrauten Völkerschaften zur
Richtschnur seiner Politik gewühlt, mau darf also der weitern Entwicklung des
österreichischen Staatswesens mit größerer Beruhigung entgegensehen, nachdem
die Schwankungen nach der föderalistischen Staatsform hinüber aufgegeben Zu
sein scheinen, und man am zentralistischen Prinzip festzuhalten entschlossen ist.
Jeder föderalistische Versuch der österreichischen Regierung muß schließlich zu
Unzukömmlichkeiten und Schwierigkeiten führen. Nachdem man auch in ma߬
gebenden Kreisen an gewissen Vorgängen in der Armee hat erkennen lernen,
wohin dergleichen führt, scheint man endgiltig davon zurückgekommen zu sein-
Dazu war es allerdings die höchste Zeit, denn jeder neue Rückschlag nach der
föderalistischen Seite hin würde dann der notwendigerweise nachfolgenden Rück¬
kehr zum Zentralismus zu den natürlichen und den durch die bisherigen
Schwankungen erzeugten Schwierigkeiten nur noch neue schaffen, weil immer
wieder neue Rechtsansprüche geweckt werden. So wäre es für den Staat, aber
anch für die Tschechen hundertmal besser gewesen, Graf Hohenwart hätte das
bekannte kaiserliche Reskript nicht herausgegeben, wenn kurze Zeit darauf ein
Ministerium Auersperg folgen sollte, das dem böhmischen Landtag durch die
Einführung der direkten Neichsratswahlen auch das Recht der Beschickung des
Reichsrath nahm; selbstverständlich wäre es auch für den Staat wie für die
Tschechen heilsamer gewesen, Graf Badeni hätte die unhaltbaren Sprachen¬
erlasse nicht erst herausgegeben, wenn sie Graf Clary wieder aufheben sollte.
Es war die höchste Zeit und wird für sämtliche Völkerschaften erwünscht sei»,
daß diese krampfhaften Sprünge aufgehört haben, denen nur Mißtrauen in
das Wollen und die Kraft der obersten Staatslenker folgen muß. Wollen die
Habsburger ihren Platz dauernd behaupten, so dürfen sie ihr bisheriges Recht
nicht zu Gunsten irgend einer politischen oder parlamentarischen Einrichtung
aus den Händen geben, auch nicht die letzte Entscheidung über die wichtigsten
Staatsfragen den stürmischen Wogen der Parteipolitik anvertrauen, sondern
sie müssen selbst die Initiative ergreifen. In Österreich hat es den maßgebenden
Persönlichkeiten seit Jahrzehnten an diesen: energischen festen Wollen gefehlt:
man mochte wohl reiten, aber der Arm ließ die Zügel schleifen, bald ging
das Roß durch, bald graste es. Kam es einer gefährlichen Stelle nahe, so
wurde es wohl durch eiuen kräftigen Ruck in eine neue Richtung gerissen, aber
dann konnte es weiter dem eignen Willen nachgehn. Die Kraft zu reiten
war da, aber sie wurde nicht angewandt. Es ist aber Sache der österreichischen
Regierung, die durch eigne Verschuldung und Unterlassung eingerissenen Zustünde
zu ändern, eine Versöhnung der verschiednen Nationalitäten thatkräftig zu be¬
wirken, indem man endlich von der ideenlosen Fortwurstelpolitik abgeht. Bisher
hat man freilich immer das Gegenteil gethan. Die Freunde des Gesamtstaats
verleugnete man, weil man ihrer sicher war, und mit den Feinden wurde
Pcirlamentiert, weil man sie gewinnen wollte. Kein Standpunkt, keine Minister-
oder Parteienkombination wurden festgehalten, und deu Schluß machte jedes¬
mal ein eiliger Rückzug ohne Kampf. Wo der Hauptfehler liegt, habe ich
schou deutlich ausgesprochen. Aber einerlei, ob sie bisher ungeschickt oder kraft¬
los angefaßt wurde, die Aufgabe der österreichische» Negierung bleibt bestehn:
auf dem Boden dieses Staates deutsche und halborientalische Bildung zu ver¬
söhnen, den meisterloscn Völkern im Osten den Frieden zu bringen und sie zu
gewöhnen an den Segen einer gemeinschaftlichen Verwaltung und eines ge¬
meinsamen Heerwesens. Das ist eine Aufgabe, würdig und segensreich genug,
dem Staate, der sie löst, eine notwendige Stellung in der europäischen Völker¬
gesellschaft zu sichern. Es sind damit dem Staate Österreich Aufgabe» gestellt,
die ein sich in rein parlamentarischen Formen bewegendes Staatsleben nicht
lösen kann, die dem Absolutismus des achtzehnten Jahrhunderts vielleicht keine
Schwierigkeiten geboten Hütten; was aber damals versäumt wurde, das muß
jetzt nachgeholt werden, natürlich nicht mehr auf dem absolutistische» Wege,
dessen Zeitpunkt verpaßt worden ist. Wie die vier letzten Jahrzehnte dar¬
gethan haben, geht es durch rein parlamentarische Formen in keinem Falle, da
sich keine Majoritütshcrrschaft von Nationalität gegen Nationalität aufrecht
erhalten, und sich kein Volksstamm vom andern in seiner Entwicklung auch
mir behindern läßt. Dagegen ist die in Österreich thatsächlich bestehende kom-
stitutionelle Monarchie, die der Krone neben dem Parlament ausgedehnte
Rechte, namentlich der Initiative, einräumt, die geeignete Regierungsform, die
sich auch in Preußen ausgezeichnet bewährt hat.
Solange man in der Habsburgischen Monarchie nicht von der bisherigen
Regierungsmanier grundsätzlich Abstand nehmen wird, ist natürlich an eine
Besserung der Verhältnisse nicht zu denken. Wenn aber nicht alle Anzeichen
täuschen, so siud in den letzten drei Jahren wenigstens die ersten Anfänge
einer Änderung zu erkennen gewesein Mit der Methode, daß es hoffentlich
dein Baron T gelingen werde, was dem Grafen A nicht geglückt und woran
Fürst Z gescheitert war, hat man gebrochen und ist zum Beamtemninisterium
übergegangen. Das mit anerkennenswerter Geschicklichkeit amtierende Ministerium
Körber hat schon eine Dauer von dritthalb Jahren erreicht, und viele An¬
zeichen sprechen dafür, daß es einen sichern Rückhalt bei der Krone hat, deren
unmittelbare Einwirkung gegenüber dem österreichischen Parlament, gegenüber
den Tschechen und in neuerer Zeit auch bei den Ausgleichsverhandlnngen mit
Ungarn erfolgreich zu Tage getreten ist. Daß auf diesem Wege nicht nnr noch
mehr, sondern alles zu erreichen ist, werden genaue Kenner der österreichischen
Monarchie ohne weiteres bestätigen. Die Bedingungen für diese den Ver-
fassungsverhültnissen durchaus entsprechende Praktik der Regierung liegen dort
viel günstiger als anderswo. Zunächst ist der Einfluß der Krone bedeutender
als in andern Staaten — das gilt insbesondre auch von Ungarn; hieran
ändern einige antidynastische Skandale der Kvssuthianer ebensowenig, wie auf
der andern Seite das Gebaren der Schöuererianer. Weiter ist keine der
Nationen mächtig genug, sich in eine ernste Opposition gegen den Willen der
Krone einzulassen, da ohne deren Geneigtheit keine einzige auch nur einen
Bruchteil ihrer Bestrebungen durchzusetzen vermöchte. Schließlich haben die
parlamentarischen Zustände der letzten Jahre namentlich in Österreich den Ruf
nach einem liberalen Absolutismus immer hüusiger und nachdrücklicher erhoben;
selbstverständlich ist auch dieser Wunsch nur dahin aufzufassen, daß eine kräftigere
Betonung der Kronrechte eintreten möge, denn kein vernünftig urteilender
Politiker denkt heute nur einen Augenblick daran, daß ein absolutistisches
Regiment von Dauer sein konnte. Daß das entschiednere Betonen der Kron¬
rechte auch einige Schwierigkeiten und Verstimmungen mit sich bringen wird,
liegt auf der Hand, aber diese werdeu nicht schlimmer sein als der jetzige
Wirrwarr, der nur noch zunehmen wird, wenn der schon betretene Weg wieder
verlassen werden sollte. Und er wird doch einmal eingehalten werden müssen,
wenn nicht unter Kaiser Franz Joseph, dann unter seinem Nachfolger. Natür¬
lich wird man nur schrittweise vorgehn können und vermeiden müssen, alles
auf einmal erreichen zu wollen. Zunächst gilt es, den Ausgleich und den
Zolltarif für die Handclsvertragsverhandlungen zu Ende zu bringen, sowie
für die Zukunft ein stündiges Verhältnis zu Ungarn anzubahnen. Nach dieser
Richtung hin wird sich auch die einzig notwendige Änderung der verfasstmgs-
müßigen Bestimmungen nötig machen, im übrigen ist mit dem Bestehenden
ganz gut auszukommen.
Alle aus einer kräftigern Bethätigung der Regierungsgewalt erwachsenden
Schwierigkeiten werden nicht von besondrer Tragweite sein, am allerwenigsten
dem „Zerfall Österreichs" vorarbeiten. Man muß dabei doch die Frage auf¬
werfen: Wohin sollen denn die einzelnen Völkerschaften Österreichs fallen?
Für die Deutschvsterreicher und die Italiener allein Ware ein Anschluß an die
benachbarten nationalen Großstaaten möglich; was würde aber aus den Polen,
aus den Ungarn? — Die Tschechen spielen dabei keine Rolle, da sie von
selbst in den Machtbereich Deutschlands fallen würden. Man hat früher viel
von einer Teilung Österreichs zwischen Deutschland lind Rußland phantasiert.
Daß Deutschland davon mit gutem Grunde nichts wissen will, hat schon der
Nilolsbnrger Friede bewiesen; heutzutage, wo Rußland seine Kräfte auf ein
Jahrhundert in Asien festgelegt hat, ist gar nicht mehr daran zu denken. Es
giebt auch politische Hitzköpfe innerhalb und außerhalb Ungarns, die von einem
zukünftigen selbständigen magyarischen Königreiche schwärmen, aber die ein¬
sichtigen Führer der Ungarn haben selbst ganz genau erkannt, daß auch ein
„Königreich Ungarn" durch innere nationale Schwierigkeiten neben dein ge-
festeten Königreich Rumänien nur eine gefährdete Stellung einnehmen und
höchstens die unbedeutende Rolle eines Mittelstaates spielen würde. Die
Wahrscheinlichkeit für einen „Zerfall" Österreichs ist darum so gering wie
möglich. Übrigens weisen die Vorgänge des letzten Jahrhunderts mit uner¬
bittlicher Klarheit den historischen Grundgedanken auf, daß ebenso wie die
wirtschaftliche Entwicklung zum Großbetriebe hindrängt, auch die politische
Entwicklung immer mehr dahin geht, größere Staatengebilde und Staaten¬
bündnisse zu schaffen. Es wäre der reinste Anachronismus, sollte in solcher
Zeit Österreich auseinanderfallen. Weder Deutschland noch Rußland können
daran ein Interesse haben, können wünschen, daß sich Zustände, wie sie auf
der Balkanhalbinsel normal sind, bis über die Karpaten und bis zum Erz¬
gebirge verbreiten. Im Gegensatz zu weitverbreiteten Zeitungsmeinungen bin
ich der Ansicht, daß jeder Versuch der österreichischen Regierung auf strafferes
Zusammenfassen ihres Staatswesens in Berlin und Petersburg volle Zu¬
stimmung und im Falle des Bedarfs sogar thatkräftige Förderung finden werde.
Man hat seinerzeit behauptet, in den beiden Jahren 1849 und 1866 habe nur
die russische Intervention und die Mäßigung Vismnrcks Österreich gerettet.
Was davon richtig ist, führt aber doch zu dem Schlüsse, daß dieses Österreich
ein ganz besondres Reich sein muß, wenn die Staatsleitungen von Preußen
und Rußland für ihre damalige Handlungsweise besondre Gründe hatten.
Wir dürfen wohl ohne Widerspruch annehmen, daß diese Gründe, nachdem
Rußland und Deutschland große außereuropäische Aufgaben übernommen haben,
noch zu größerer Geltung gelangt sind. Heute gilt mehr als je, was Bismarck
in seinem politischen Vermächtnis gesagt hat: „Die Erhaltung der österreichisch¬
ungarischen Monarchie als einer unabhängigen, starken Großmacht ist ein Be¬
dürfnis des Gleichgewichts in Enropa, für das der Friede des Landes bei ein¬
tretender Notwendigkeit mit gutem Gewissen eingesetzt werden kann."
Schwierigkeiten, die sich nach außenhin fortsetzen könnten, wird ein öster¬
reichisches Kabinet nicht finden, eher wird es Unterstützung bei innern Schwierig¬
keiten haben. Solche braucht eine sichre Hand nicht zu fürchten. Aus deu
oben angeführten Gründen werden die Magyaren wohl einiges Getöse anheben,
aber schließlich vernünftigen Erwägungen nachgeben. Es bleiben dann die
Tschechen mit ihren Sprachansprüchen, die man künstlich großgezogen hat.
Die Angelegenheiten der deutschen Staatssprache wie auch der innern tsche¬
chischen Amtssprache ist einfach eine Machtfrage, auch die Badenischen Sprachen¬
verordnungen waren ein Ausdruck der damaligen MachtverlMtuisse. Es ist
unzweifelhaft, daß in einem „internationalen" Staate wie Österreich eine
amtliche Vermittlungssprachc und eine Armeesprache bestehn muß, und daß
diese nur die deutsche Sprache sein kaun und thatsächlich auch ist. Es wäre
wohl besser gewesen, Hütte man diese nnbestrittnc Thatsache verfassungsmäßig
festgestellt, aber jetzt wird doch viel zu viel Geschrei darüber erhoben, und die
Angelegenheit mit allerhand Dingen verquickt, die nicht zu ihr gehören. Das ist
auch in dem „Pfingstprogramm" der Deutschen geschehn. Die deutsche Ver¬
mittlungssprache ist eine Stnatsfrage und kann gar nicht auf dieselbe Stufe
gestellt werden, wie die tschechische Amtssprache in Mähren und Böhmen. Diese
haben die Tschechen sowieso, wo sie dazu die Macht haben, und die können sie
wieder verlieren, wie die Badenischen Sprachenverordnnngen wieder verloren
gegangen sind. Der ganze Sprachenstreit ist heute fast nichts mehr als ein
Streit um Veamteustelleu, die nicht mehr mit Deutschen besetzt werden können,
weil diese nicht für Nachwuchs gesorgt haben und es auch heute nicht thun.
Dabei wird auf deutscher Seite immer übersehen, daß gegen die daraus ent¬
stehenden Nachteile nationaler Natur der steigende Verkehr Abhilfe schafft. Ein
besondres tschechisches oder auch magyarisches Verkehrsgebiet mit eigner Sprache
ist unmöglich; je mehr sich der Verkehr entwickelt, desto mehr muß die deutsche
Sprache Handels- und Verkehrssprache werden, und die vou Tscheche« und
Magyaren dagegen errichteten Schutzwehren für ihre Sprachen, sowie das
Aufdrängen dieser Schranken an die Fremden werden von selbst wieder ver¬
schwinden, sobald der nationale Naptns erst vorüber ist.
In kleinlichen und lokalen Beamtenfragen verzehren die Deutschen in
Osterreich ihre Kräfte, ohne etwas zu erreichen, weil sie nie das Wesen der
Macht begriffen habe», sondern unter der Suggestion der hauptstädtischen
„Weltblätter" in achtundvierziger Jdeenkreisen dahinleben. Ob man in Öster¬
reich als herrschende oder oppositionelle Nation auftreten müsse, darüber ist
mau sich nie klar geworden, ebensowenig darüber, was national und was
liberalradikal ist. So will man die herrschende Nation sein, aber zugleich
Minister stürzen und die Armee beschneiden; zugleich von den deutschen Klerikalen
verlangen, daß sie in das dentschnationcilc Lager übertreten, während man den
Katholizismus in der erbittertsten Weise befehdet. Die Macht der Deutschen
in Österreich wird immer in demselben Maße wachsen, wie sich bei ihnen
politische Ideen entwickeln, die den Lebensbedingungen des Staates entsprechen,
wo allerdings viele Sprachen gesprochen werden. Mit der Macht der Deutschen
wird auch ihre Sprache wieder mehr zur Herrschaft gelangen, die nur zurück¬
gegangen ist, weil sie ihre politische Stellung im Staate nicht zu behaupten
verstanden haben. Jetzt gilt es wieder einmal, die Wirklichkeit ins Auge zu
fassen, ernst und sachlich zu Verfahren, vor allem aber die eignen Kräfte an-
zuspanneu und sich nicht durch die Hoffnung auf ein Almosen fremder That¬
kraft entsittlichen zu lassen. Es läßt sich den Deutschösterreichern nur em¬
pfehlen, daß sie nach Bismarcks Rat die eigne Geschichte lernen und aus ihr
ersehen, was sie thun und was sie lassen sollen. Mau muß fürchten, daß
sie auch bei einer neuen Wendung der österreichischen Politik, wie sie schon an¬
gebahnt ist und früher oder später fortgesetzt werden muß, wieder zu kurz
kommen werden, weil sie sich weiter in Spaltungen und Raditcilismeu ver¬
rennen werden, die noch nirgends und niemals zur nationalen Macht geführt
haben.
> eher die sich im stillen allmählich vollziehende Verminderung des
Auslands der britischen und der rassischen Grenzen in Mittelasien
gehn ab und zu von dort Nachrichten ein, die zu deuten geben.
Einerseits melden sie die Verstärkung der Garnisonen der dem
! wichtigen Herat benachbarten russischen Grenzplätze Trauskaspiens,
andrerseits teilen sie aus Indien mit, daß die Eingebvrnenregimeuter mit
neuen Modellen des Lee-Enfieldgewehrs bewaffnet werden, und daß moderne
Schnellfeuer-Feld- und Gebirgsgeschtttzc für die Artillerie in Aussicht genommen
sind. Auch darüber liegen Meldungen vor, daß die anglo-indische Regierung ihre
militärische Stellung an der Induslinic dnrch Umfassung der afghanischen Süd¬
grenzen sehr verbessert hat; denn von den neu erworbnen und neu gesicherten
Gebietsteilen in Knfiristan und in Beludschistnu ans flankieren die englischen
Truppenaufstelluugen des Grenzgebiets die Linie Kabul-Kandahar mit den im
Süden von ihr liegenden Pässen über das Suleimnugebirge; vor allen Dingen
aber eröffnet die Besitznahme von Chitral mit dem Thale des Kashkar, eines
Nebenflusses des Kabulstroms, mit Umgehung des den Engländern schon ein¬
mal verderblich gewesenen Khaiberpasses, den Zugang nach Djellalabad und
der Landeshauptstadt Kabul. Damit üben aber die Engländer einen Druck
auf den Emir ans, dem er sich nur schwer wird entziehn können.
Eine durch die Natur stark begünstigte und auch strategisch wertvolle Landes¬
grenze allein genügt jedoch nicht, das gewaltige indische Reich gegen äußere
Feinde zu sichern. Hierzu bedarf es auch einer starken, schlagfertigen und zu¬
verlässigen Operationsarmee, einer zuverlässigen und opferwilligen Bevölkerung,
wie eines nach strategischen Rücksichten richtig angelegten und zugleich leistungs¬
fähigen Eisenbahnnetzes. Gerade diese letzte Forderung füllt bei der Ver¬
teidigung Indiens um so schwerer ins Gewicht, als die andern nur be¬
dingungsweise erfüllt werden, zumal da der bei weitem größere Teil aller Feld-
Kuppen im Falle eiues Krieges mit Rußland in den Friedensgarnisonen nnr
schwer abkömmlich sein wird, und dn in Zukunft mehr als je mit eiuer mög-
liehen Erhebung der Tributärstaaten und der Bevölkerung, mindestens aber
der jederzeit unruhigen Bergvölker, gerechnet werden muß, besonders seitdem
das Ansehen Englands unter dem rücksichtslosen Vorgehn der Franzosen gegen
Siam schwer gelitten hat, und eine Beeinflussung dnrch russische und französische
Sendlinge auch wahrscheinlich ist. Gerade die Tributärstaaten und die Berg¬
völker beanspruchen schon im Frieden einen ganz bedeutenden Aufwand an
militärischen Kräften, was sich aus der Dislokation der anglo-indischen Armee
ergiebt.
Als im Jahre 1892 von englischer Seite zuerst die Verhandlungen über
eine Zusammenkunft des Höchstkommandierenden der auglo - indischen Armee,
Lord Frederic Roberts, mit dem Emir auf afghanischen Gebiet eingeleitet
wurden, von diesem aber jedes Übereinkommen mit großem Geschick hartnäckig
hintertrieben wurde, verhandelte England zugleich über den Anschluß Afgha¬
nistans an das indische Eisenbahnnetz.
Früher, so lange die englische Regierung einen Zusammenstoß mit Ru߬
land für unbedingt ausgeschlossen halten konnte, hatte das indische Eisenbahn¬
netz ausschließlich offensiven Zwecken zu dienen, es lag deshalb nahe, die
Hauptaufmarschlinien in der Richtung auf die afghanische Hauptstadt, auf
Peschawer zusammenlaufend, zu erbauen. Als aber später die Russen ihre
Grenzen bis auf 170 Kilometer vor die Thore von Herat vorgeschoben, Peudjeh
und Kerki zu wichtigen Stützpunkten umgewandelt, sich in der transkaspischen
Eisenbahn überdies eine neue Basis für eine energische Offensive gegen Süden
geschaffen hatten und sogar am Hofe von Teheran der russische Einfluß den
englischen mehr und mehr zu lähmen begonnen hatte, mußte vor allem die
Verteidigung der Jnduslinie berücksichtigt werden, deren Schwäche auf dem
linken Flügel, bei Herat und Kandahar, am Unterlaufe des Indus richtig er¬
kannt wurde. Es mußte also auch für einen entsprechenden Ausbau des Eisen¬
bahnnetzes etwas geschehn und viel Versäumtes nachgeholt werden.
Ein Blick auf die Karte lehrt, daß das gewaltige indische Reich nur zwei
durchgehende Eisenbahnlinien hat, die für eine Versammlung der Armee im
Jndusthale verwertet werden können, in ihrer Hauptrichtung auf Peschawer
zusammenlaufen, aber nur auf großen Umwegen und mit großem Zeitverlust
den Aufmarsch der Armee hinter dem linken Flügel der Jnduslinie, bei Sukknr,
ermöglichen. Von diesen beiden Bahnen begleitet die wertvollere Linie, Linie I,
das nordöstliche Grenzgebirge Indiens gegen China, den Himalaya, nachdem sie
das Küstengebiet des Meerbusens von Bengalen verlassen hat, in einem Ab¬
stände von etwa 300 Kilometern, zunächst im Thale des Ganges, später zwischen
diesem und seinem rechten Ueberflusse Jumna. Sie durchzieht Bengalen, die
Nordwestprovinzen, sowie das Pundjab bis zur Jndusgrenze und verbindet
den wichtigen Hafenplatz Kalkutta, die Städte Cawnpur, Delhi, Lahore, nach¬
dem sie bei Attok den Indus überschritten hat, mit dem festen Peschawer nahe
bei der afghanischen Grenze. Sie ist für die Verteidigung Indiens von be¬
sondern: Wert, weil in den von ihr berührten Provinzen verhältnismäßig große
Truppenmengen vereinigt sind, die aus politischen Rücksichten Abteilungen für
die Operationsarmee am leichtesten werden entbehren können. Schon im Frieden
stehen: 1. an der Jndusgrenze etwa 10900 Mann, 2. im angrenzenden Pundjab
etwa 43860 Mann, 3. in den Nordwestprovinzen und Audh 35310 Mann,
4, in Vengalen 9590 Mann. Dagegen wird nichts von den in Asscun und
Mittelindien garnisonierenden 13200 Mann, noch weniger aber von den in
Sikkim und Birma liegenden 23800 Mann für anderweite Verwendung ver¬
fügbar gemacht werden können.
Trotz ihrer strategischen Bedeutung ist diese Linie mit Ausnahme der
kurzen Strecke Kalkutta-Moghal-Sarah (zwischen Allahabad und Ghazipur
im Küstengebiet), sowie der in: Jahre 1891/92 vollendeten Strecke Lahore-
Badami (im Pundjab) durchgehends nur eingleisig erbaut, doch mit der in
Indien üblichen Gleisbreite von 1,68 Meter.
Auch die zweite weniger bedeutende Hauptaufmnrschlinie, Linie II, durch¬
läuft die ostindische Halbinsel in der Richtung von Süden nach Norden ihrer
ganzen Länge nach. Wie Linie I am Meerbusen von Bengalen beginnend,
zieht sie von Madras nach Bombay am Arabischen Meere, folgt bis Ahmedabad
der Meeresküste und wendet sich bei diesem Ort nach Delhi, kehrt jedoch,
noch etwa 80 Kilometer von dieser Stadt entfernt, bei Newari in die ursprüng¬
lich nördliche Richtung zurück, bis sie in gleicher Höhe mit Lahore, bei Raewind,
die in westsüdwestlicher Richtung von Lahore über Mullan und Sukkur nach
Kurachi, einem Hafenplatz nahe an der Jndusmündung am Meere, führende
Eisenbahn trifft. Von dieser zweigt sie nun bei Sukkur ab, überschreitet den
Indus und zieht über Rak, Shikarpur, Jacobabad und sibi nach Quettah
und Kila Abdullah. Wie wir schon bemerkt haben, ist sie der Linie 1 nicht
gleichwertig, obgleich sie die militärisch wichtigen Hafenplätze und die gleich¬
namigen Provinzen Madras und Bombay berührt, weil deren starke Friedens¬
besatzungen von 53000 Mann im Kriegsfalle dnrch die Überwachung der benach¬
barten großen Tributärstaateu Mysore, Haiderabad und Raiputana zum größten
Teil in Anspruch genommen werden dürften und voraussichtlich keine oder doch
Nur schwache Kräfte zur Operationsarmee abgeben können. Überdies ist ihre
Leistungsfähigkeit bis jetzt sehr gering. Abgesehen von einer kurzen Strecke
in unmittelbarer Nähe von Bombay, wo ein zweites Gleise gelegt worden ist,
hat sie durchgehends nur ein Gleise, das auf der Strecke Ahmedabad-Firozpur
nicht einmal das für Indien normale, sondern nur ein schmalspuriges von
einem Meter Breite ist.
Neben diesen beiden durchgehenden Hauptaufmarschlinien hat Indien
um Grenzgebiet schon jetzt eine Anzahl kurzer Zweigbahnen, die bei der Ver¬
eidigung der Jnduslinie wie der Hindukuschgrenze unzweifelhaft eine Rolle
spielen werden. Es sind dies: die schon früher genannte Linie Sukkur-Karachi.
Sie begleitet das rechte Ufer des Indus und ist besonders wichtig, weil sie
die Verbindung mit dem genannten Hafenplatz herstellt, wo voraussichtlich die
"on dem Mutterlande zu entsendenden Verstärkungen ausgeschifft werden dürften.
>in neuster Zeit ist sie noch wertvoller geworden, seitdem in England ein be¬
sondres Expeditionskorps für sofortige Verwendung im Auslande dauernd
bereit gehalten wird, dessen Verstärkung durch das erste Korps bei Bedarf
^gesehen ist. Leider ist sie auf dem rechten Jndusufer geführt und deshalb
im Kriege nur solange gesichert, als Quettah und Beludschistan behauptet
werden.
Ferner haben wir zwischen der Linie Lahore-Mullan und dem Eisen-
bahnnbergange bei Attok, jener parallel zum Indus ziehend, die Zweigbahn
Laka Mussa-Kundinl. Sie zweigt sich bei Lalla Mussa zwischen Lahore und
Rawak Pindi von der Hauptaufmarschliuie I ab, tritt bei 5Üandial in das
Thal des Indus und sucht mit einer Wendung gegen Südwesten bei Dem
Ghasi Khan oder bei Shershah den Anschluß um die Linie Lahore-Multan-
Sukkur wieder zu erreichen. Die letzte Teilstrecke ist erst im Jahre 1890, nach
Vollendung der Brücke über den Chenabfluß, dem Betrieb übergeben worden.
Nicht ohne Bedeutung für diese Bahn ist die erst in neuerer Zeit gebaute
Straße, die auf dem rechten Ufer über das Gebirge in der Richtung auf
Knndahar führt. Die zweite Zweigbahn ist die von Golra nach Kushalgar,
die bei Golra, einer zwischen Rawak Piudi und Attok liegenden Station der
Linie I, ausgeht und bei Kushalgar am Indus endigt, wo die Straßen vom
Knrrampasse von Kosak, Banuu und Dora Ismail Khan zusammenlaufen.
Außer den genannten Bahnen zweigen sich auf der Strecke Lahore-Rawak
Pindi der Linie I zwei kurze Numpfbahnen, die Linien: Amritzar-Pathankot
und Wazirabad-Sialkot-Jamu bis zur Grenze von Kashmir ab, denen uach
Lage der Verhältnisse in den Pamirländern eine strategische Bedeutung nicht
abgesprochen werden kann.
Wenn nach nlledem die Zahl der wirklich wertvollen Anfmarschlinien zur
Juduslinie und ebenso ihre Leistungsfähigkeit bis jetzt verhältnismäßig be¬
schränkt ist, so hat die anglo-indische Regierung unter dem Drucke der nach¬
teilig veränderten uulitürpvlitischen Lage in Zentralasien doch nicht gezögert,
sofort Hand an die Verbesserung und weitere Entwicklung des indischen Eisen¬
bahnnetzes zu legen. So hat man namentlich die vielfach bedenklichen Stei¬
gungen auf den Strecken sibi-Rasal der Eisenbahn Sukknr-Kill-Abdullah
und Rawak Piudi-Riwcil der Bahn Lnhvre-Rawak Piudi nach Möglichkeit er¬
mäßigt, die Zahl der Rangier- und der sonstigen Nebengleise auf den Stationen
sehr vermehrt, die Schienen der Linie Lahore-Sukkur durch solche stärkerer
Abmessung ersetzt, und auf der Strecke Lahore-Naewind derselben Linie sind
zwei Gleise gelegt, damit unter Berücksichtigung der früher angedeuteten
Friedensdislokation die Versammlung einer Armee auf dem rechten wie auf
dem linken Flügel der Jndnsgrenze, gegen Kcibnl wie gegen Knndahar
nach Möglichkeit beschleunigt werden kann. Dennoch genügen alle diese Ver¬
änderungen noch nicht annähernd, das Bahnuetz des nördlichen Indiens für
die ihm im Kriege zufallenden Aufgaben ausreichend geeignet zu machen, denn
immer noch zeichnen sich verschiedne Abschnitte des nördlichen Bahnnetzes durch
auffallend große Steigungen und starke Krümmungen ans. So betragen sogar
bei der abgeänderten Strecke Niwal-Rawak Pindi die Steigungen immer noch
1: 30, und die Krümmungen haben nur einen Radius von 300 Metern.
Es sind dies Mängel in der Anlage, die in dem übereilten Bau der Strecke
Riwcl-Peschawer infolge des Ausbruchs der afghanischen Kriege ihre natürliche
Begründung finden. Augenblicklich werden wieder Verbesserungen des Schienen-
Wegs vorgenommen, deren Beendigung jedoch immer noch einige Zeit in An¬
spruch nehmen wird. Allerdings waren auf der Strecke Rawak-Pindi Pe-
schawer weniger technische Schwierigkeiten zu überwinden, als auf der Strecke
Riwal Rawak-Pindi, zumal da die Steigungen nicht großer als 1:100 sind.
Über Peschawer hinaus ist die Bahn nur bis zur afghanischen Grenze,
bis Djumrad weitergeführt, wo sie in die Straße durch den Khmberpaß ein¬
läuft, die von den Engländern zur Zeit der afghanischen Kriege erbaut wurde
und von dem Emir, dem Vernehmen nach, bis Kabul seitdem in gutem Zu¬
stand erhalten wird. Die indische Negierung hat jedoch die nötigen Er¬
hebungen anstellen lassen, um die Bahn gegebnenfalls schleunigst bis Kabul
weiterführen zu tonnen. Diese Erhebungen sollen die großen Vorzüge des
Kabulthales für eine Linie über den Mullagoripaß über Lnndi und Kodak
ergeben haben.
Ähnlich liegen die Verhältnisse im westlichen Teil der Linie II. Auch
hier war die Strecke Lahore-Shikarpur bei Beginn des letzten afghanischen
Krieges noch an zwei Stellen unterbrochen, weil die Brücken über den Sutlej
und den Indus noch nicht fertig waren, ihre Weiterführung über Jacobabad
nach sibi sogar noch nicht einmal im Entwurf hergestellt worden war. Es
bedürfte deshalb eines ganz außergewöhnlichen Kostenaufwandes dafür, die Ar¬
beiten so zu beschleunigen, daß diese Linie bis sibi zum Juni 1880 dem Betrieb
übergeben werden konnte. Einzelne verunglückte Versuche sind dann die Ver¬
anlassung gewesen, daß von sibi aus zwei Linien in der Richtung auf Kan-
dahar weitergeführt wurden. Von diesen machte die eine, die im Flußbett
eines Bergstromes über deu Bolanpaß geführt ist, sehr umfangreiche Vor¬
arbeiten nötig, sodaß man diesen Bau zunächst mir provisorisch ausführte; durch
die Umstände war man aber schließlich gezwungen, ihn vollständig zu machen.
Die Schmalspurbahn wurde später ans normale Gleisbreite ausgebaut, und
die sehr starken Steigungen wurden ermäßigt. Dennoch sind diese immer noch
sehr bedeutend, 1 : 25, ebenso sind die Kurven sehr klein, bis zu Radien von
240 Metern. Mau hat sich infolge dessen sogar genötigt gesehen, in ver¬
schonen Abschnitten noch eine Mittelschiene einzusetzen.
Auf dieser schon ein und für sich manchen Unglücksfällen ausgesetzten
Linie veranlaßt die Regenzeit überdies noch jedes Jahr so zahlreiche Zer¬
störungen, daß die Wiederherstellnngskosten ungeheure Summen verschlingen.
So verschwanden z. B. im Jahre 1890 elf Kilometer Bahngleise vollständig,
^er Brücken wurden weggerissen und drei andre stark beschädigt. Die Aus¬
besserungen nahmen infolgedessen solchen Umfang an, daß man sich entschloß,
das Bolangcbirge in der Richtung von sibi auf Quettah zu umgehn, und
W Thale des Mashkefs im folgenden Jahre, 1891, den Bau einer Zweig¬
bahn begonnen hat. Nach ihrer Herstellung wird der Verkehr Indiens mit
dem südlichen Afghanistan und Quettah besser gesichert sein, dennoch wird der
wilitürische Wert der Strecke Sukkur in seiner Gesamtheit immer sehr gering
^n, weil sie nur von ganz kleinen Zügen, Gebirgszügen, befahren werden
kann. Es erklärt dies auch die verhältnismäßig starke englische Besatzung in
Quettah, die schon vor wenig Jahren über 7000 Mann zählte.
Die andre Linie, die ebenfalls von sibi aus nach Kandahar führt und
sich bei Bostan mit der Bahn über den Bolanpaß wieder vereinigt, überschreitet
das Harnaigebirge, hat aber keine stärkern Steigungen als 1 : 45 und keine
Biegungen unter 280 Meter Radius aufzuweisen. Der Kostenaufwand für
die erste Anlage war noch viel höher, als bei der Bahn über den Bolanpaß.
Immerhin ist der Betrieb beider durch die Notwendigkeit veranlaßt, für die
ungenügende Leistungsfähigkeit jeder einzelnen Ersatz zu schaffen. Dem Be¬
trieb wurden sie schon im Jahre 1887 übergeben.
Von dem Vereinigungspunkt beider Bahnen, Bostan, ziehn sie über das
Plateau von Pishin nach Kila Abdullah Khan und weiter zur afghanischen
Grenze, wo sie nur etwa 120 Kilometer von Kandahar entfernt, nachdem sie
noch deu Kojaktunnel durchlaufen haben, bei Chaman endigen. Kila Abdullah
Khan liegt nämlich am Südostabfall, Chaman am Nordostabsall des Kajak¬
gebirges, der 4150 Meter lange Tunnel 2500 Meter über dem Meeresspiegel.
Er wurde im Jahre 1887 begonnen und im September 1891 beendigt, ist
für zwei Gleise berechnet und hat neben einer Steigung von 1:1000 eine
Neigung von 1:40. Die Fortsetzung der Linie bis Kandahar ist ohne
Schwierigkeiten erfolgt. Auch hier wurde, ähnlich wie auf Linie I, das ge¬
samte Baumaterial am Westausgauge des Tunnels, bei Chaman, für alle
Fälle bereit gehalten.
Außerdem sind die meisten Bahnen des nördlichen Indiens ein der
afghanischen Grenze, die bisher schmalspurige Gleise hatten, mit alleiniger
Ausnahme der Strecken Ahmedabad-Firozpur der Linie II, Ajmere-Khandwa
und einzelner weniger wichtiger Nebenlinien auf das normale Gleise von
1,68 Meter gebracht, ebenso sind die meisten der gebauten oder projektierten
Linien auf dieselben Abmessungen berechnet worden. Dagegen werden sie,
wie die Mehrzahl aller indischen Bahnen, nur ein Gleise erhalten. Noch im
Jahre 1886 hatte das gesamte indische Bahnnetz nicht mehr als 1300 Kilo¬
meter zweigleisige Bahnen, die allein auf die drei Linien Kalkutta-Delhi,
Bombay-Madras und Kalkutta-Madras entfielen, also weniger strategischen
als vielmehr Verkehrszwecken zu dienen bestimmt waren. Die Zunahme der
Bahnen in den folgenden Jahren ist nur verschwindend klein.
Aus allem, was wir über das indische Bahnnetz gesagt haben, ergiebt
sich unzweifelhaft, daß es an schweren Übelständen krankt, deren größter für
die Sicherheit Indiens geradezu bedenklicher, in dem Fehlen jeder direkten
Verbindung der untern Jnduslinie mit dem mittlern Indien, namentlich aber
mit Bombay, gesehen werden muß, zumal da die einzige Verbindung und
diesem wichtigen Platze auf weitem Umwege durch eine Parallelbahn zur Lune
Delhi-Lcchore, dieser sehr nahe, hergestellt wird, die auf einer langen Strecke
nur als Schmalspurbahn gebaut ist. Allerdings lag ja, solange ein Zusammen¬
stoß mit Nußland vollständig ausgeschlossen erschien, ein dringendes Bedürfens
für den Bau einer solchen Linie nicht vor, deren Bau- und Unterhaltungs¬
kosten, da sie die große indische Wüste durchschneiden müßte, jedenfalls recht
bedeutend, deren Rentabilität aber aus demselben Grunde überaus gering s^N
Würde. Nicht unmöglich ist jedoch, daß auch politische Rücksichten gegen diesen
Bau gesprochen haben und auch ferner nicht unerwogen bleiben können, insofern
nämlich ein direkter Schienenweg vom untern Indus-Sukknr durch Mittelindien
nach Madras für den Kriegsfall mit Rußland möglicherweise nicht genügende
Garantien für die Sicherheit des Verkehrs bieten würde, weil er fast aus¬
schließlich durch das Gebiet der Tributnrstaateu Najputaun und Haidcrabad
geführt werden müßte.
Dennoch scheint man mit der Zeit unter dem Druck der Verhältnisse mit
allen ähnlichen Rücksichten gebrochen zu haben, denn eine Anzahl neuer Bahn¬
linien ist entstanden, andre sind beinahe vollendet oder in Vorbereitung.
Hierher gehören vor allem: 1. Eine Eisenbahn von Ajmcre, einer Station
der Linie II ans der Strecke Bombay-Delhi, dnrch die indische Wüste über
Bikaner nach Scunasata bei Bahawalpur, einer Station der Linie II auf der
Strecke Lahore-Sukkur. 2. Eine Verbindungsbahn zwischen Palanpnr, einer
Station der Linie II nördlich Ahmedabad, nach Haidcrabad am untern Indus
östlich Karachi. Die Strecke Haiderabad-Umarkot ist schon seit 1892 dem Be¬
trieb übergeben. Sie hat die für Judien normale Gleisbreite und stellt die
direkte Verbindung zwischen Karachi, Bombay und Madras her. 3. Die Linie
Phulem-Rewari. Sie stellt die vierte Verbindung zwischen beiden Orten
her und schneidet somit den weiten Bogen ab, den die Linie II hier bisher
machte. 4. Die Linie Delhi-Dadri-Jaisaliner-Uniarkot-Haiderabad. Sie kreuzt
die unter 1 aufgeführte Bahn Ajmere-Smnasate südlich von Bikaner, durch¬
schneidet gleich dieser die indische Wüste und stellt die direkteste Verbindung
der Linie 1 mit dem Gebiet des untern Indus und mit Beludschistan her.
Da die Linie Lnhore-Sukkur-Karachi sehr nahe nu den Indus geführt ist, die
untere Strecke Sukkur-Karachi sogar auf dem rechten Jndusnfer liegt, so kann
sie unter Umständen, sobald es sich um die Verteidigung der Jnduslinie selbst
handeln sollte, sehr gefährdet sein, sodaß sich die neue Linie um so wertvoller
erweisen wird. 5. Die Linie NajMrra-Batinda-Vahawalpnr, die auf der Strecke
Radjpurrn-Batinda schon seit lange besteht und die Linien I und II halbwegs
zwischen Delhi und Lahore verbindet. Man hat diese nun gegen Westen bis
Bahawalpur verlängert und dadurch eine weitere Aufmarschlinie von Linie I
zum linken Flügel der Jnduslinie geschaffen.
Alle diese Bahnbauten fassen ausschließlich deu Aufmarsch der Armee am
untern Indus, auf der Linie Sutkur-Dera Ghazi Khan, ins Auge; mau ist
jedoch nicht hierbei stehn geblieben, sondern hat auch eine Vervollständigung
der Bahnen am mittlern und obern Indus durchgeführt. So ist die früher
schon genannte Eisenbahn Kundial-Dera Ghnsi Khan des Judusthals, die
annähernd der Linie I parallel deren linke Nebenlinien Lahore-Multnn und
Lnla Mussa-Kundiam untereinander verbindet, über den letzten Ort hinaus nach
Gagau zur Linie Golra-Kushalgarh und nach Attok weiter geführt worden,
wodurch die direkte Verbindung zwischen Attok und Dem Ghasi Khan und
Sukkur hergestellt worden ist.
Allerdings ist diese letzte Linie mehr oder weniger zwecklos, weil sie zu ge¬
fährdet ist, sobald es sich um die Verteidigung der Jnduslinie selbst handelt.
Man scheint die Verteidigungslinie aber weiter vorwärts in das Suleimcm-
gebirge verlegen zu wollen, denn man hat auch auf dem rechten Jndusufer
Terrainstudien gemacht und die Linien Kalabagh-Baunn und von hier wieder
zurück zum Indus nach Dera Ismail Khan ins Auge gefaßt.
Hand in Hand geht hiermit die Frage einer dritten Merbrncknng des
Indus auf der Strecke Attok-Sukkur, die schon eingehend erwogen wird. In
Frage kamen vier Stellen: bei Knshalgarh, Kalabagh (demnächst Eisenbahn¬
station), Dera Ismail Khan und in der Nahe von Dera Ghasi Khan. Von
diesen wurden jedoch die beide» ersten Plätze, als zu nahe bei Attok liegend,
oder was wohl wichtiger sein dürfte, zu weit von der Linie Sukknr-Qncttah
entfernt, verworfen, man gelaugte aber auch bei den beiden andern zu keinem
abschließenden Resultat, sondern schlug vor, das Jndusbett bei Dera Ismail
Khan auf etwa 1000 Meter Breite einzudämmen und, bis eine Brücke er¬
baut werden konnte, vorläufig eine Dampffähre einzurichten, die mau, sofern
sich das Bedürfnis herausstellen sollte, vielleicht später auch bei Dera Ghasi
Khan herstellen will. Dennoch dürfte die Frage bald eine andre Lösung er¬
fahren.
Die großen, oben näher erörterten Unzuträglichkeiten, die auf Linie II
von dem Verkehr über das Botan- nud Hamaigebirge unzertrennlich sind,
haben nämlich die indische Regierung veranlaßt, auf die Auswahl einer kürzern
und bequemern Verbindung zwischen dem Indus und dem Plateau von Pishin
und von Quettah, den Schüssel zu den südlichen Pässen über das Suleiman-
gebirgc, bedacht zu sein. Eine solche ist denn auch in dem Thale des Flusses
Zhob gefunden worden, das ans der Gegend von Dera Ismail Khan an der
afghanischen Grenze entlang auf das gedachte Plateau führt. Die im Jahre
1891 begonnenen Vorarbeiten sind nahezu vollendet, sodaß in nicht zu ferner
Zeit der Eröffnung eines Schienenweges mit geringern Steigungen entgegen¬
gesehen werden darf, der der Negierung die nötigen Garantien für die schnelle
Versammlung ausreichender Streitlüste in diesem Grenzabschnitt zur Verteidi¬
gung des Plateaus von Pishin oder zur Besetzung Kandahars bietet.
ährend eines längern Aufenthalts in Frankreich habe ich immer
mit besonderm Interesse die Sitzungen in den Jnstizpalästen be¬
sucht, vor allem in Paris. Der Reisende, der kein Jurist ist,
wird sich hier meist damit begnügen, die wunderbare Sainte
Chcipelle zu besehen und einen flüchtigen Blick in die gewaltige
Salle des Pas-Perdus zu werfen, wo sich im schwarzen Talar eine zahllose
Schar von Advokaten ergeht. Aber es lohnt sich sehr, einen Schritt weiter
in die Sitzungsräume zu thun. Da hört man nicht nur ein gutes Französisch,
auch ein großer Teil des französischen Lebens spielt sich hier ab. Allerdings
thut man gut, die Bekanntschaft eines Advokaten zu suchen; denn die Sitznngs-
räume sind fast immer so überfüllt, daß man kaum etwas sehen und hören
kann, wenn einem nicht ein inaitrs, so ist der Titel des französischen Ad¬
vokaten, zu einem guten Platz ans den Bänken der Advokaten verhilft. Die
dichtgedrängte Menge besteht zum großen Teil aus Zuschauern, Denn der
Franzose nimmt ein lebhaftes Interesse um der Rechtspflege. Diesem Bedürfnis
entsprechend bringen die Zeitungen nicht nur ihre täglichen, etwas romantisch
ausgeschmückte« Berichte aus dem Palais de Justice, sondern auch Artikel über
den Vorsitzenden des Gerichts, den Staatsanwalt oder den Untersuchungsrichter,
Auch das Publikum der Cafes-Concerts und namentlich der Sommertheater
in den Provinzstädten liebt Gerichtsszenen auf der Bühne, besonders solche
Pikanter Art, und ergötzt sich an der karikierter Zeichnung der Richter. Leider
begnügt man sich nicht immer mit einem platonischen Interesse für die Rechts¬
pflege; die Presse greift bei auffallenden Verbrechen sogar oft in den Gang
der Untersuchung ein. Das Bedürfnis des Publikums unes neuen Mitteilungen
veranlaßt die Zeitungen, den Gang der Untersuchung beständig zu veröffent¬
lichen und häufig selbst eine private Untersuchung mit Zengeuvernehmuugeu usw.
zu führe». Ähnliches haben wir ja auch bei uns im Konitzer Prozesse erlebt,
aber die französische Presse z. B. im Humbert-Crawford-Prozeß hat denn doch
noch bei weitem die deutsche übertroffen. Insbesondre entfaltete der Matin
eine rege Thätigkeit, und sein Berichterstatter Mouton geriet dabei mit dem
Untersuchungsrichter Leydet hart aneinander. In der That hat eine solche
Einmischung der Presse seine großen Gefahren, denn die ständigen Veröffent-
lichungen über die Schritte, die unternommen sind, des flüchtigen Verbrechers
habhaft zu werden, dienen diesem oft dazu, sich der Verhaftung zu entziehn.
Ebenso gefährlich ist die private Vernehmung von Zeugen, namentlich wenn
Parteiinteressen in Frage stehn. Denn der Zeuge wird dadurch oft nach eiuer
bestimmten Richtung hin beeinflußt und verliert seine Unbefangenheit.
Dem lebhaften Interesse der Franzosen an der Rechtspflege und ihrem
Sinn für Formen entspricht es, daß sich die französische Justiz mit mehr Glanz
und Feierlichkeit umgiebt als die unsre. Die Justizpaläste sind meist sehr
stattliche Gebände und oft von großer künstlerischer Schönheit, wie z. B. das be¬
rühmte Palais de Justice in Rouen. In den Sitzungen selbst dient eine große
Anzahl uniformierter Gardiens zur Aufrechterhaltung der Ordnung und des
richterlichen Ansehens, Wirkungsvoll ist das Erscheinen des Gerichtshofs, den
ein Diener mit lauter Stimme: oour! ankündigt, und der von Anwälten,
Parteien und Publikum durch Erheben von den Sitzen feierlich begrüßt wird.
Die Hauptaufmerksamkeit richtet sich immer auf die Plaidoycrs der Anwälte,
und ohne deren schwungvolle, formvollendete Reden ist keine französische Ge¬
richtssitzung denkbar. Es ist in der That ein Genuß, ihnen zuzuhören. Aller¬
dings vermißte ich oft die juristische Schärfe, denn häufig reden sie nicht von
der That, die dem Angeklagten zur Last gelegt wird, sondern von seiner
schmerzgebengten alten Mutter oder seiner trostlosen jungen Frau und den un¬
glücklichen kleinen Kindern, von denen das jüngste erst einige Wochen alt ist.
Die Anwälte wenden sich mehr um das Gefühl als ein den Verstand, und man
hat die Empfindung, daß sie mehr für das Publikum als für den Richter
sprechen. Allerdings ist auch der französische Richter dem Appell an das Ge¬
fühl nicht unzugänglich und läßt sich vielleicht in seinem Urteil zuweilen mehr
durch Empfindungen als durch logische Schlüsse leiten. Mir ist ein Fall in
Erinnerung, wo zwei Deutsche wegen Diebstahls verurteilt wurden, und wo die
wenig freundliche Stimmung der französischen Richter gegen Dentschland recht
fühlbar wurde. Auch ein englischer Journalist, der mit zuhörte, faud, daß
gegen die Deutschen mit ziemlich viel Voreingenommenheit Verfahren wurde.
Am Schluß der Verhandlung ließ dann der Staatsanwalt zur großen Befrie¬
digung des Publikums den beiden Deutschen durch den Dolmetscher sagen,
wenn sie stehlen wollten, sollten sie in Deutschland bleiben und hätten nicht
nötig, nach Frankreich zu kommen.
Jedenfalls steht der französische Richter den Gesetzesparagraphen sehr frei
gegenüber. Insbesondre fiel mir auf, wie das Gericht die Höhe von Schaden¬
ersatzansprüchen glatt und schnell ohne langes Beweisverfahren nach seinem
Ermessen festsetzte. Gerade in diesem Punkte können wir von den Franzosen
lernen. Denn bei uns ist der Richter darin oft zu engherzig und verlangt
einen genauen zahlenmäßigen Nachweis, wie er vielfach gar nicht erbracht
werden kann, statt eine freie Würdigung eintreten zu lassen.
Das gerichtliche Verfahren hat im allgemeinen sehr viel Ähnlichkeit mit
dem deutschen, denn die französischen Einrichtungen haben den unsern ja auch
vielfach zum Vorbild gedient. Aber es finden sich doch einige interessante Ab¬
weichungen. So wirkt z. B. die Staatsanwaltschaft, die bei uns im wesent¬
lichen nnr in Strafsachen thätig ist, in Frankreich in ausgedehnter Weise in
Zivilsachen mit. Ihr steht das unbedingte Recht zu, in Zivilsachen ihre Mei¬
nung zu äußern, und in vielen Fällen muß sie es thun: so bei Ablehnung
von Richten:, bei Prozessen des Staats oder der Gemeinden. In solchen
Fällen giebt der Staatsanwalt seine Meinung am Schluß der Verhandlung
ab; nach ihm darf niemand mehr das Wort ergreifen. Hierin prägt sich noch
die ursprüngliche Stellung des Staatsanwalts aus, der als Vertreter des
Königs (prooursur an roi) ein Hüter des Gesetzes war. Diese Einrichtung ist
heutzutage offenbar veraltet, denn der Fiskus und die Gemeinden haben ihren
eignen juristischen Vertreter; aber sie bietet den Vorteil, daß der Staatsanwalt
nicht einseitig wird und zugleich Ziviljurist bleibt. In Frankreich findet denn
auch ein fortwährender Wechsel zwischen Richtern und Staatscmwülten statt,
wie die Persounluotizeu in den Zeitungen beweisen. Auch ist es vielfach üblich,
daß der junge Jurist seine Laufbahn bei der Staatsanwaltschaft beginnt.
Tiefgreifender sind die Abweichungen im Strafverfahren. Vor allen Dingen
giebt es in Frankreich keine Schöffengerichte. Während die Übertretungen vom
MAs ä<z xaix abgeurteilt werden, gehören sämtliche Vergehen zur Zuständigkeit
des aus drei Juristen gebildeten tribuiml oorrsotionnsl. Ob diese Einrichtung
wünschenswert ist, kann zweifelhaft sein. Denn die Schöffengerichte haben sich
bei uns im allgemeinen bewährt. Auch die gesamte Zeitrichtung geht dahin, daß
sich die Laien an der Rechtsprechung beteiligen. Ich erinnere nur an die Ge¬
werbegerichte, Kammern für Handelssachen, Jnnungsschiedsgerichte usw. In
der That ist eine solche Mitwirkung von Männern aus der Praxis vorteilhaft,
wenn man eine verständige Auswahl trifft. Jedoch darf man nicht soweit
gehn und Laien das Urteil allein überlassen, wie beim Schwurgericht. Es
waren allerdings vorwiegend politische Gründe, die im Jahre 1848 dazu ge¬
führt haben, die Schwurgerichte nach französischem Muster bei uns einzuführen.
Seitdem sind vielfach Bedenken gegen sie laut geworden. Auch in Frankreich
hat man teilweise schlechte Erfahrungen gemacht. So ereignete sich z. B. 1897
in Korsika folgender Fall. Der Bandit Renueci, der in der Stadt Bocognauo
einen Gerichtsvollzieher erschossen hatte, wurde ausnahmsweise gefaßt und vor
das Schwurgericht zu Bastia gestellt. In dem Augenblick, als sich die Geschwornen
zur Beratung zurückziehn wollten, überbrachte man dem Obmann einen Brief.
Hierin bedrohte der Onkel des Angeklagten, ein berüchtigter Bandit, den Obmann
und mehrere Geschworne mit dein Tode, wenn sie Neuueci verurteilten. Die
Geschwornen, Bauern aus der Umgegend, lebten in Furcht vor den Banditen.
Als sie deu Saal wieder betraten, lautete ihr Votum auf „nicht schuldig."
Der Fall machte damals großes Aufsehen, und vielfach forderte mau, durch
ein Gesetz die Schwurgerichte für Korsika in Marseille zu bilden. Richtiger
Wäre es, die Schwurgerichte zu reformiere» und einen Gerichtshof zu bilden,
an dem auch Juristen teilnehmen müßten, dein: diese werden von vornherein
dahin erzogen, sich nur unter das Gesetz zu stellen, und können deshalb den
subjektiven Einflüssen, wie Furcht oder Mitleid, eher das Gleichgewicht halten.
Einen Ersatz für das Fehlen der Schöffengerichte haben die Franzosen
w der unbedingten Zulässigkeit der Berufung gegen die Urteile des tribunal
vorrsotiormol, während wir in Deutschland noch immer auf die Einführung der
Berufung gegen die Urteile der Strafkammern warten. Überhaupt sind die
Garantien für den Angeklagten im allgemeinen noch größer als bei uns. Be¬
deutungsvoll ist namentlich das Gesetz von: 8. Dezember 1897, das jedem
Beschuldigten das Recht giebt, in Gegenwart eines Advokaten vernommen zu
werden. Auch ist der Verkehr zwischen einem Verhafteten und seinen: Anwalt
keiner Kontrolle unterworfen.
Bei der Vollstreckung der Strafen sind die Franzosen bestrebt, den Ideen
^r Humanität nach Möglichkeit Rechnung zu tragen. Durch Vermittlung
unsrer Negierung war es mir möglich, eine Anzahl französischer Gefängnisse zu
besehen. Von diesen sind die neuerbauten, besonders das Gefängnis in Fresnes
"el Paris mit allen den modernen Einrichtungen versehen, wie man sie etwa
befangnen zu gute kommen lassen darf. Vielleicht übertreibt man darin sogar
etwas. Jede Zelle hat Wasserleitung und elektrisches Licht. Durch gute Bade-
raume ist für die Reinlichkeit der Gefangnen gesorgt. Eine reichhaltige Bibliothek
steht ihnen nach der Arbeit zur Verfügung. In den Kellern des Gefängnisses
^gern viele Fässer mit Wein, der den Gefangne» mit achtzehn Centimes das
Liter berechnet wird. Natürlich erhalten ihn nur die Gefangnen, die sich gut
se'dren, und auch nur in beschränktem Maße. Dabei muß man ferner berück¬
sichtigen, daß der Wein ein Volksnahrungsmittel in Frankreich ist. Andrer¬
es ist die Behandlung ernst und streng. Jeder Gefangne hat seine Zelle
>ur sich und kommt mit den andern Gefangnen überhaupt nie in Berührung.
Man will ihn dadurch vor schlechtem Einfluß schützen und hat dieses Verfahren
der Einzelhaft für alle die Personen eingeführt, die zu geringern Strafen,
nämlich bis zu einem Jahre Gefängnis, verurteilt sind. In den ältern Ge¬
fängnissen ist dieses Verfahren allerdings noch nicht durchgeführt worden, so
z. B. gerade in Marseille, wo sehr viele schlechte Elemente zusammenkommen.
Es macht hier einen eigentümliche!? Eindruck, Franzosen, Deutsche, Italiener,
Spanier und Araber in buntem Gemisch zusammen eingesperrt zu sehen.
Bei der humanen Behandlung, die den Gefangnen in Frankreich zu teil
wird, muß mau jedoch bedenken, daß die schweren Verbrecher nicht im Lande
bleiben, sondern deportiert werden. Wie in den Strafkolonien die Behandlung
ist, entzieht sich der Kontrolle, und nur zuweilen bringen Gerüchte über das
fürchterliche Los der Verurteilten zu uns. Ich erinnere nur an die Erzählungen
über die Behandlung von Drehfus. Thatsache ist jedenfalls, daß die Franzosen
mit der Deportation keine kolonialen Erfolge aufzuweisen haben, wie etwa die
Engländer, die die Kolonisation von Australien dieser Einrichtung verdanken.
Einen erfreulichen Fortschritt hat man in Frankreich in der Behandlung
der Kinder gemacht. Während diese früher, und teilweise noch heute, in die¬
selben düstern Gefängnisse gebracht wurden wie die Erwachsenen und unter
derselben harten Behandlung standen, hat man sich davon überzeugt, daß dies
der Gesundheit der Kinder gefährlich ist und sie auch nur selten bessert.
Damm hat man jetzt den Anfang gemacht, Ackerbankolonien zu schaffen, wo
die Kinder im Freien arbeiten müssen und in strenger Zucht an eine nützliche
und gesunde Thätigkeit gewohnt werden.
Eine große Rolle in der französischen Justiz spielt der Anwaltstand. Er
ist gewissermaßen das Sprungbrett zu den höhern Staatsstellen. Aus den
Reihen der Anwälte gehn die Politiker und die Minister hervor. Es giebt
in Frankreich eine gewaltige Zahl von Anwälten, und da die bessern oft in
die Beamtenlaufbahn übergehn, so ist es natürlich, daß der zurückbleibende
große Nest nicht ganz so angesehen ist wie der Beamte, der nmssistrg.r-. Eigen¬
tümlich bei dem französischen Anwaltstande ist der Unterschied zwischen avouv
und Ävooat. Der avouv ist die eigentliche Partei im Zivilprozeß, ihm fällt
die Bearbeitung der Akten zu; aber er kann nicht vor Gericht auftreten, son¬
dern muß dies dem avoe^t überlassen. Eine ähnliche Trennung bestand früher
bei der Staatsanwaltschaft. Der xroeurour ^un^rg.1 hatte die Bearbeitung der
Akten, der g-von^t K«zu6rg,1 die Vertretung in der Sitzung. Nachdem man sich
von der Unzweckmäßigkeit einer solchen Arbeitsordnung überzeugt und bei der
Staatsanwaltschaft die Bestimmung aufgehoben hat, nimmt es wunder, daß
dieser Zopf beim Anwaltstande besuchn geblieben ist.
Von dem Anwaltstand völlig getrennt ist das Notariat. Diese Scheidung
haben wir ja auch teilweise in Deutschland. Ob sie zweckmäßig ist, kann
zweifelhaft sein. Jedenfalls wird der Rechtsnnwalt in der Ausübung der
freiwilligen Gerichtsbarkeit meist eine nützliche Ergänzung seiner Prozeßpraxis
sehen. Die Zahl der avouos und nowirss ist in Frankreich gesetzlich genau
bestimmt. Ihre Kundschaft ist ein Bestandteil ihres Vermögens, der an den
Nachfolger abgetreten wird. Kein s-poro oder Notar kann ohne die Abtretungs-
Urkunde eines bisherigen avou» oder Notars angestellt werden. Deshalb finden
wir die uns etwas fremd anmutende Erscheinung in Frankreich, daß sich ein
Notar oder g-vous die Stelle von seinein Vorgänger kaufen muß, falls er es nicht
vorzieht, dessen Tochter oder Witwe zu heiraten.
Wenn ich zum Schluß die Eindrücke zusammenfasse, die ich von der fran¬
zösischen Justiz erhalten habe, so geht mein Urteil dahin, daß die französische
Gesetzgebung im allgemeinen bestrebt ist, in der Entwicklung der Rechtspflege
nicht still zu stehn. Umwälzende Neuerungen sind zwar seit langem nicht
erfolgt, aber das ist auch nicht erforderlich. Die Franzosen haben schon seit
etwa hundert Jahren ein einheitliches Recht, das sich ruhig und gleichmäßig
weiter entwickelt, da der Richterstand von dem fortwährenden Wechsel der Re¬
gierung und der politischen Strömungen fast unberührt bleibt. Der französische
Richter scheint auch besonders befähigt zu sein, den sich ändernden Bedürfnissen
des praktischen Lebens gerecht zu werden. Freilich auch in Frankreich schilt
man über die Urteile, aber wo geschieht das nicht? Einer ist immer der
Unterliegende und mit dem Urteil unzufrieden. Zugehen muß man, daß die
Ausbildung der französischen Richter nicht so gründlich ist wie bei uns. Gleich
nach vollendetem Studium kann man Richter oder Advokat werden, während
bei uns noch eine mehrjährige Thätigkeit als Referendar und ein zweites
schwieriges Examen vorgeschrieben ist. Jedenfalls aber nimmt der französische
Richter eine hochgeachtete, viel erstrebte und viel beneidete Stellung ein. Daß
er bestechlich ist oder aus persönlichem Ehrgeiz falsche Untersuchungen führt,
wie es in dem Schauspiel „Die rote Robe" geschildert wird, glaube ich nicht.
Denn während man sich wohl erzählt, daß Abgeordnete oder höhere Staats¬
beamte ihre Stellungen dazu benutzen, ihren oder ihrer Verwandten persön¬
lichen Vorteil zu erreichen, habe ich nie gehört, daß in Frankreich ähnliche
Vorwürfe gegen den Richterstand erhoben worden wären.
is Goethe im Sommer 1786 von Karlsbad aus nach Italien
aufbrach, erging es ihm wie seiner Iphigenie, die an dem Ufer
von Tauris lange Tage steht „das Land der Griechen mit der
Seele suchend." Er schaute von den Abhängen der Alpen nach
den Fluren Italiens mit einer Sehnsucht hinab, wie sie kaum
ein andrer gefühlt hat. Die körperlichen Übel und die seelische Niedergeschlagen¬
heit, die ihn in Weimar quälten, hatten in dem Grade zugenommen, daß er
sich davon befreien mußte, wenn er weiter leben und weiter wirken wollte.
Dazu kam sein heißer Durst nach der Kunst, deren heilig Brit. wie es in
seinem Tagebuche heißt, er in die Seele prägen und zu stillem Genusse be¬
wahren wollte. Und doch blieb er seinen Freunden in der Heimat treu; für
sie wollte er Natur. Kunst, Land und Leute kennen lernen und in seinen
Briefen widerspiegeln. Deshalb finden wir in den italienischen Briefen keine
eigentlichen Reiseberichte, die man ans einer Reise in Italien zu eignem Zwecke
nachschlagen könnte, aber wir finden das wichtigste Stück seines Lebensbildes,
worin sich der Umschwung seines ganzen Wesens, seine künstlerische und seine
dichterische Wandlung vollzog. Wer diese Briefe wiederholt liest, wird unwill¬
kürlich an die Worte in Goethes „Gedichten" erinnert:
Aus der frischen, klaren Sprache weht uns ein unvergänglicher Zauber
entgegen, wir atmen den Duft des im Sonnenglanze vor seinen Augen da¬
liegenden Landes, wir fühlen den wonnigen Rausch, der ihn erfaßte, wenn er
frei von allen Fesseln die wunderbare Schönheit der Natur und der Kunst¬
schätze in allen ihren einzelnen Formen schauen und aus warmem Herzen mit
frischer Anschaulichkeit wiedergeben durfte.
Der Ruf des jungen Dichters war längst in Italien verbreitet, deshalb
wurde er von den Italienern mit Bewundrung aufgenommen. Aber auch seine
Landsleute wollten nicht zurückstehn. Von ihnen sagt der Dichter an 4. Ja¬
nuar 1787, sie seien wie mit einer Stimme für ihn und würden, wenn er nur
ein wenig einstimmte, hundert Thorheiten mit ihm beginnen und ihn zuletzt
auf dem Kapitol krönen, worauf sie schon im Ernst gesonnen hätten. Darum
sah sich Goethe zeitweilig genötigt, sein Inkognito aufzugeben, damit es ihm
nicht wie dem Vogel Strauß ergehe, der sich für versteckt hält, wenn er den
Kopf verbirgt. So begrüßte er den Fürsten Liechtenstein und hörte dort, daß
der Dichter Abbate Monti eine Tragödie Aristodemo geschrieben habe und sie
ihm vorzulesen wünsche. Goethe ließ die Sache anfangs fallen, ohne sie ab¬
zulehnen, aber er fand den Dichter einmal bei dem Fürsten, und das Stück
wurde vorgelesen. Zugleich wurde ihm zu verstehn gegeben, der Dichter des
Werther würde es wohl nicht übel nehmen, wenn er in der Tragödie einige
Stellen seines trefflichen Buches benutzt finde.
Vincenzo Monti war etwa fünf Jahre jünger als Goethe; er war 1754
bei Fusignano im Gebiete von Ferrara geboren, kam 1778 nach Rom als
Sekretär des Don Lnigi Braschi, des Neffen des Papstes Pius des Sechstel
Dort schrieb er, durch'Alfieri begeistert, die Trauerspiele Galeotto Manfred:
und Aristodemo. Weil er sich als Geistlicher trug, wurde er Abbate Monte
genannt. In seinem Aristodem benutzte Monti die Darstellung des Pausn-
iiias (IV, 9 ff.). Nach dieser Quelle beschlossen die Messenier während des
ersten messenischen Krieges 743 bis 724 v. Chr., als sie von den Spartanern
hart bedrängt waren, die meisten Städte zu verlasse» und sich auf die Berg¬
feste Jthome zurückzuziehn, zugleich aber auch den Gott in Delphi um Rat
zu fragen. Apollo antwortete, sie sollten eine Jungfrau aus dem Geschlechte
der Äpytiden opfern; wenn aber die durch das Los bestimmte Jungfrau nich
geweiht werden könnte, dann sollten sie ans demselben Geschlecht die Tochter
des Mannes wählen, der sie freiwillig zum Opfer anbiete. Wenn sie dies
ausführten, würden sie den Sieg gewinnen. Das Los traf die Tochter des
Lyziskus, aber der Vater floh mit ihr zu den Spartanern. Da bot Aristo-
demns, der aus demselben Geschlecht stammte, seine Tochter freiwillig als Opfer
dar. Ein Messenier, der die Jungfrau liebte und sie retten wollte, offenbarte
dein. Vater, daß seine Tochter ihr Magdtum verloren habe und deshalb zum
Opfer nicht mehr fähig sei. In seinem aufwallenden Zorn ermordet Aristo¬
demus seine Tochter, erkennt dann aber, daß die Aussage ihres Bräutigams
erlogen ist. Der Seher verlangt um ein andres Opfer, aber der König
Euphaes setzt in der Volksversammlung den Beschluß durch, daß der Befehl
des Orakelspruchs durch den Tod des Mädchens erfüllt sei, und daß, was
Aristodemus gethan habe, für sie genug sei.
Nach dem Tode des Euphnes wurde Aristodemus zum König gewählt.
Aber bald verkünden göttliche Vorzeichen den unglücklichen Ausgang des
Kampfes mit den Spartanern, dazu erschüttert den König ein furchtbares
Traumgesicht, worin ihm seine Tochter erscheint. Als er sieht, daß das
Vaterland verloren ist, und daß er seine Tochter umsonst geopfert hat, tötet
er sich im letzten Jahre des Krieges auf dem Grabe seiner Tochter, nachdem
er, wie Pausanias erzählt, alles für die Rettung seines Vaterlands gethan
hat, was menschliche Kraft vermag.
Um diese Erzählung zur Tragödie geeigneter zu machen und die tragische
Wirkung zu erhöhen, nahm Monti einige Änderungen vor. In der Tragödie
beschließt der Vater den Tod seiner Tochter nicht aus Vaterlandsliebe, sondern
aus Ehrsucht. Obwohl das Los von neuem über die Wahl des Opfers ent¬
scheiden soll, will er seine Tochter freiwillig opfern, um die Stimmen des
Volkes bei der Königswahl für sich zu gewinnen. So erscheint er schuldiger,
und die Gewissensbisse, die ihn peinigen, werden natürlicher. Auch vollbringt
er die gransame That im geheimen, nicht wie bei Pausanias vor dem Volke,
er erzwingt vielmehr die Verschwiegenheit der Seher. Dadurch erscheint der
Gram über seine That, die er in der Tragödie fünfzehn Jahre lang allein
für sich getragen hat, natürlicher und packender. Dazu erdichtet Monti den
Tod der Mutter, die sich in rasendem Schmerz über der Leiche der Tochter
mit demselben Schwerte tötet, unter dessen Streichen ihre Tochter siel. Bei
Monti schließt Aristodemus Frieden mit den Spartanern durch Vermittlung
des Lysander. Das Volk jubelt bei dieser Nachricht auf, nur Aristodemus
hat keinen Teil an dieser allgemeinen Freude. Der Gram und die Gewissens¬
bisse über den geheimen Mord seiner Tochter haben seinen Geist zerrüttet,
das Gespenst der Gemordeten, das ihn unaufhörlich in furchtbarer Erscheinung
verfolgt und Sühne heischt, nimmt ihm den letzten Rest seiner Kraft und seiner
Besinnung, sodaß er sich auf dem Grabe der Tochter tötet.
Wenn wir die Berührungspunkte in der Tragödie und in Werthers Leiden
Ms Auge fassen, so finden wir in beiden Stücken dieselbe Empfindsamkeit, die
in der völligen Herabstimmung aller sittlichen und physischen Kräfte besteht,
dieselbe Weichheit, die immer von Thränen überquillt und vor jeder Berührung
mit der wirklichen Welt zurückflieht, dieselbe Todessehnsucht und Verzweiflung
am Leben, sodaß sich der Held den Tod mit eigner Hand giebt, Auch im
einzelnen finden sich einige Übereinstimmungen, die zuweilen merkwürdig sind.
Als Werther durch seine Leidenschaft für Lotte innerlich zerrüttet ist, fühlt er,
daß ihm nur Thränen Linderung verschaffen können. Darum sagt er von sich
am 3. November- „Der ganze Kerl vor Gottes Angesicht steht wie ein ver¬
siegter Brunn, wie ein verlechzter Eimer! Ich habe mich oft ans den Boden
geworfen und Gott um Thränen gebeten, wie ein Ackersmann um Regen,
wenn der Himmel ehern über ihm ist und um ihn die Erde verdurstet." Ähn¬
lich sagte Aristodem IV 2, daß ihm die Bangigkeit das Herz zersprengt, wenn
er es sich nicht dnrch Weinen erleichtert. Werther nennt am 8. Februar einen
neuen Tag, wenn die Sonne morgens aufgeht, ein himmlisches Geschenk, aber
dieses Geschenk sei für die Menschen nur dazu da, einander Gesundheit, guten
Namen und andre Güter zu rauben. Ähnlich fragt Aristodem II 5 in seiner
Unterredung mit Lysander, warum der Himmel uns das Geschenk des Lebens
nur dazu gegeben habe, uns zu hassen und zu würgen.
Als Werther mehr theoretisch den Selbstmord verteidigt, erwidert Albert,
er vermöge es sich nicht vorzustellen, wie ein Mensch so thöricht sein könne,
sich zu erschieße». Aber Werther giebt sich nicht gefangen, sondern erwidert,
die menschliche Natur habe ihre Grenzen, sie könne Frende, Leid, Schmerzen
bis auf einen gewissen Grad ertragen und gehe zu Grunde, sobald der über¬
stiegen sei. Ähnlich ruft der treue Gonipp dein Aristodem die Mnhuuug
zu, sich die so schauderhafte Thorheit des Selbstmordes ans dem Sinne zu
schlagen. Ähnlich wie Werther erwidert much Aristodem, er habe die Leiden
so lange ertragen, als sein Mut sie an Größe übertraf, aber min sei er der
Schwächere geworden; seine Leiden würden vom Übermaße des Schmerzes
überstiegen, darum erliege er. Als Werther noch gnr nicht Lotte kannte, hatte
er schon manches erfahren, was ihn in seiner Empfindsamkeit quälte, darum
ermahnte sein Freund Wilhelm ihn brieflich, das Vergangne zu vergessen.
Werther antwortet am 4. Mai, der Freund habe Recht, der Schmerzen wären
weniger unter den Menschen, wenn sie sich nicht mit so viel Emsigkeit der
Einbildungskraft beschäftigten, die Erinnerungen des vergangnen Übels zurück¬
zurufen, eher als eine gleichgiltige Gegenwart zu ertragen. Ebenso ruft
Gonipp im dritten Akt, Szene 7 dem Aristodem zu, er möge die Erinnerung
meiden, für immer vergangne Dinge vergessen und nicht durch quälende Er¬
innerung seine Wunden größer machen.
Werther schreibt ant 30. August: „Ich sehe dieses Elends kein Ende als
das Grab." Auch Aristodem ruft aus, daß die Menschen unglücklich sind
und sonst nichts Gutes haben als den Tod.
Als Werther seinen Tod beschlossen hat, schreibt er in sein Tagebuch:
„Zum letzten male schlage ich diese Augen auf. Sie sollen ach! die Sonne
nicht mehr sehen." Als er Lotte zum letzten male besucht, liest er ihr seine
Übersetzung Ossians vor, die letzten Worte daraus mit gebrochner Stimme:
„Morgen wird der Wandrer kommen, kommen, der mich sah in meiner Schön¬
heit, ringsum wird sein Auge im Felde mich suchen und wird mich nicht
finden." In ebenso sentimentaler Anwandlung sagt Aristodem zu Gonipp,
morgen werde die Sonne aufgehn, die von ihrer Höhe sonst ihr Licht auf
seine Größe warf, in diesen Hallen werde ihr Strahl ihn suchen und nur den
Stein sehen, der ihn deckt.
Am meisten fällt die Ähnlichkeit in folgendem Punkte auf. Wilhelm hat
Werther, wie aus den Briefen vom 3. September und 20. Dezember hervor¬
geht, wiederholt aufgefordert, den Ort zu verlassen, damit er sich in neuer
Umgebung zerstreuen und Lotte vergessen könne. Lotte selbst sagt zu ihm bei
der vorletzten Unterredung: „Gewinnen Sie es über sich! Eine Reise wird Sie,
muß Sie zerstreuen!" Ebenso sagt der treue Gonipp zu Aristodem, Zeit und
Entfernung werde den Aufruhr seiner Seele beschwören. Er möge diesen Ort
verlassen, wo so viele Gegenstände seinem Schmerze neue Nahrung geben.
Der König solle mit ihm vereint ganz Griechenland besuchen, die Städte und
ihre Sitte» sehen, auf hundert Weisen werde er dann beschäftigt und zerstreut.
Die Aufforderung an Werther, auf Reisen zu gehn und sich dadurch zu zer¬
streuen, erscheint natürlich und der modernen Auffassung angemessen, nicht so
bei Aristodem. Es ist eine starke Zumutung für die Zuschauer, zu glauben,
daß man in den Zeiten, die an der Grenze des heroischen Zeitalters liegen,
in dem durch fortwährende Fehden und Kriege zerrütteten Griechenland eine
Erholungsreise antreten, die Städte und ihre Sitten kennen lernen könne,
um sich zu zerstreuen. Wir sehen, daß Monti durch die Gewalt, die Werthers
Leiden auf die Geister seiner Zeit ausübte, stark beeinflußt wurde. Goethe selbst
hatte diese sentimentale Richtung längst überwunden, der Schatten seines Helden
der Empfindsamkeit war für ihn in weite, kaum noch sichtbare Ferne gerückt.
Zudem hatte er sich in seinem Werther als den rechten Meister gezeigt, er
hatte die eignen zerrissenen Gefühle, Stimmungen und Erlebnisse in die reinere
Sphäre der allen Zeitgenossen eigentümlichen Richtung erhoben und gerade
dadurch sich selbst geheilt und seiner Zeit das zauberkräftige Mittel gegeben
„zu fliehen aus der Sinne Schranken in die heitere Freiheit der Gedanken."
In seiner Beschreibung der Kampagne in Frankreich sagt er mit Recht,
Werther habe keineswegs eine Krankheit, ein Fieber erregt, sondern nur das
Übel aufgedeckt, das in jungen Gemütern verborgen war. Wir müssen darüber
staunen, daß diese krankhafte Richtung auch in Italien Boden oder doch Ver¬
ständnis fand, und können Goethe versteh», wenn er in Rom am 23. November
1786 nach der Vorlesung des Aristodem ausruft, selbst in den Mauern von
Sparta könne er den erzürnten Manen des unglücklichen Jünglings nicht
entgehn. Der Dichter hat wiederholt irrtümlich Sparta genannt, wahrend
Messene der Schauplatz der Handlung in der Tragödie ist.
Goethe sagt von dem Stücke, es habe einen sehr einfachen, ruhigen Gang;
die Gesinnungen wie die Sprache seien dem Gegenstande gemäß, kräftig und
doch weichmütig, die Arbeit zeuge von einem sehr schönen Talent. Nach der
Vorlesung verfehlte er nicht, alles Gute und Lobenswürdige hervorzuheben,
während die Anwesenden mit südlicher Ungeduld mehr verlangten. Als er
aufgefordert wurde, den Erfolg des Stückes vorher zu sagen, entschuldigte er
sich mit seiner Urkunde des Landes, der Vorstellungsart und des Geschmacks,
feste aber hinzu, er verstehe nicht recht, wie die an Abwechslung gewöhnten
Römer sich an dein edeln, ruhigen Gang einer ununterbrochen fortgehenden
Tragödie ergötzen könnten, auch schiene ihm der Selbstmord ganz außer dem
Kreise italienischer Begriffe zu liegen. Am 4. Januar 1787 schreibt Goethe,
dem Dichter sei bange wegen des Erfolges, und er habe Ursache dazu, denu
es sei ein unbändiges Publikum, das von Moment zu Moment amüsiert sein
wolle, und das Stück habe nichts Brillantes. Endlich wurde Aristodem
glücklich und mit großem Erfolge aufgeführt. Die einflußreichen Verwandten
Montis und die deutsche Künstlerbank ließen es unter Goethes Einfluß nicht
an lautem Beifall fehlen.
Wie lebhaft sich Goethe dieser Vorgänge und seiner Mithilfe bei der
ersten Aufführung des Stückes noch im höhern Lebensalter erinnerte, tritt uns
aus einer Stelle in „Des Epimenides Erwachen" Theaterprogramm II ent¬
gegen. Er betont dort, daß es wirklich eine Wohlthat sei, die man einem
großen Publikum erzeuge, wenn man es zu seinem Besten aufklärend bearbeitet.
Dann fährt er fort: „Ich war in Rom, als Abbate Monti seinen »Aristodem«
wollte vorstellen lassen. Ich wohnte einer Vorstellung bei und war uuter
denen, welche zweifelten, daß das Stück greifen könne, weil die Italiener den
Selbstmord für die größte Absurdität halten und sich nicht in die Lage setzen
können eines Königs, der sich aus Gewissensbissen entleibt. Die Wohlwollenden
wurden daher einig, sowohl die alte Mythe als die neue Bearbeitung in allen
Gesellschaften zur Sprache zu bringen. Vielleicht hätte auch ohne dies das
Stück, welches sehr gut geschrieben und trefflich aufgeführt war, auch nicht
weniger von Nepoten begünstigt, sein Glück gemacht; aber wir andern bildeten
uns ein, durch unsre freundliche Einwirkung so viel beigetragen zu haben, daß
der Beifall einstimmig und leuchtend war."
Den Aristodem gab der gefeierte Zcmarini, dessen Darstellung Monti
selbst den Erfolg, den das Stück in Rom fand, in erster Reihe zuschrieb.
Auch in andern Städten, besonders in Parma, fand die Tragödie günstige
Aufnahme und ist auch heute in Italien noch nicht vergessen; man zitiert sogar
nicht selten Stellen daraus. Es ist bekannt, daß Frau von Stael-Holstein
in der Korinna (VII, 2) und Simvnde de Sismondi in seiner I^ittöraturs an
inicti als l'ünroxe diese Tragödie zu den besten italienischen Dramen zählten.
Monti blieb mit Goethe in dauernd freundlicher Beziehung und schickte
ihm 1812 seine Übersetzung der Ilias. Goethe sagt in einer Notiz, die er
sieben Jahre später niederschrieb, Monti kämpfe eifrig und kräftig auf der
klassischen Seite. Die Beziehungen Goethes zu Monti und seinem Aristodem,
so geringfügig sie auch zu sein scheinen, sind für uns nicht ohne Bedeutung,
weil sie uns zeigen, in welchem Umfange die krankhafte Wertherstimmung selbst
in Italien Verständnis fand. In diesen kurzen Bemerkungen tritt uns der
Meister entgegen, der auch scheinbar unbedeutenden Ereignissen und Begegnungen
Leben und Bedeutung zu geben versteht.
Wenn sich sein Standbild, das ihn auf der Sonnenhöhe seines Lebens
und Dichtens darstellen soll, als hochherziges Geschenk unsers Kaisers in Rom
erhebt, dann soll es in seiner plastischen Schönheit dem Beschauer zurufen,
was die Menschheit diesem Genius verdankt, der sich aus eignem Zwiespalt
zur innern Einheit durchgekämpft hat und uns zur idealen Höhe emporführt,
wo das Verworrene schwindet und sich in Harmonie auflöst. Dann werden
auch seine Beziehungen zum Abbate Monti wieder aufleben, der zu ihm mit
Vewundrung aufsah und die Anregungen, die er ihm verdankte, offen und
ehrlich bekannt hat.
ieses Herrentum unter den Farbigen hat für jeden Weißen etwas
berauschendes an sich. Diese Macht, die nicht durch Geld gekauft,
nicht durch Gewalt erzwungen worden ist, sondern jedem, der
aus den engen Verhältnissen Europas kommt, jedem siebzehn¬
jährigen Kaufmannsjüngling, der vielleicht bisher nur gehorcht
und nie befohlen hat, zufüllt, als ein Vorrecht des Blutes und der Abstammung
der geringwertigem Nasse gegenüber, schürt in jeder Brust ein Hochgefühl,
das Entbehrungen, Gefahren, Siechtum und früher Tod, die feindlichen Mächte
in den Tropen, nicht herabstimmen. Es soll der Zauber der Geschichten des
Dichters Rudyard Kipling sein, daß er den Hochgenuß dieses Herren- und
Erobererlebens des Weißen in allen Erdteilen mit der Poesie der Gefahr, der
natürlichen Roheit und Ursprünglichkeit zu schildern weiß. Denn auch der
geringste englische Soldat ebenso wie der einfachste Matrose unsrer Handels¬
schiffe nimmt an diesem Herrentum der Weißen voll Anteil.
Es ist die ungebündigte Willenskraft, die hier besungen wird. Es giebt
heute Dichter und Verherrlichen der Willenskraft, wie es früher Dichter der
Liebe gab. Kein schöneres Gewächs wächst auf Erden, als ein hoher, starker
Wille. Kraft haben, einen ganzen Willen lang zu wollen. Diese Worte sind
von Nietzsche.
Wenn etwa heute ein hochgelehrter, vornehmer, feinfühliger, weichmütiger
Inder die Poesie Nietzsches kennen lernen würde, etwa wie er die ferne, schöne
Zeit besingt, wo ein Volk noch den Mut hatte, über ein andres Volk Herr
sein zu wollen, oder wenn er seine Lehre von der Herrenmornl kennen lernte,
zumal in ihrer Verballhoruisieruug und Popularisieruug, würde er ausrufe«:
Diese blonde Bestie, dieses lachende, thatenfrohe Barbarenvolk, das jede alte
Kultur über den Haufen rennt, diese Herreumenschen, die kein Recht außer
ihrem Willen kennen, sie sind nicht ein Zukunftsbild, wie der Dichter meint,
sondern wir Inder kennen sie. Seit hundert Jahren sind sie unsre Herren,
und wir die Opfer ihres Übermuts, der sich mit seiner Eroberungslust jen¬
seits von Gut und Böse glaubt. Dieser Dichter giebt nur Stimme den
Thaten seiner Zeit.
Alle farbigen Völker könnten diesem Inder zustimmen. Denn überall
sind sie die Beute der Herrschsucht der Weißen, die ihre Grenze bisher nicht
wu menschlichen Widerstand, sondern nur an dem Widerstand der Elemente
der klimatischen Verhältnisse, der Ausdehnung wegeloser Erdteile und ihrem
eignen gegenseitigen Neide findet. In Pflanzungskolonien läßt der Weiße
den Farbigen für sich arbeiten, in Handluugskolonien zwingt er ihm die
Gesetze seines Handels auf. Manche Völker zwingt er, ihre Häfen ihm zu
offnen, mit ihm zu handeln, sich Eisenbahnen baue» zu lassen, wenn sie es
anch gnr nicht wünschen, und zwingt sie, Volksgifte wie Opium und Schnaps
einzulassen, die sie gerade ausschließen möchten. Also auch den friedlichen
Handel treibt er mit der Waffe in der Hand. Wo er den Staat selbst in
seine Gewalt genommen hat, wie in Indien, da verbraucht er die öffentlichen
Einkünfte nach eignem Erobererrecht. Und wo die Eingebornen sich das Joch
auf keine Art überwerfen lassen wollen, da rottet er sie ans, wie die Indianer
in Amerika, und wenn sie auch eiuen ganz andern Erdteil bewohnten.
Man würde mich falsch versteh», wenn mau meinte, ich wollte diese Er¬
oberungswut unsrer Nasse anklagen. Die Schwäche der farbigen Völker recht¬
fertigt vielleicht nicht die Herrschaft der weißen, aber sie macht sie unvermeidlich.
Unsre Pflicht ist nur, daß die Herrschaft der Weißen gerecht und menschlich
sei. Wenn das Herrengefühl einen Europäer allzusehr berauscht und ihn zu
Thaten hinreißt, die nicht zu billigen sind, so nennt man das Tropenkoller.
Der Tropenkoller hat nichts zu thun mit krankmachenden Wirkungen des
Klimas, Sonnenstich und ähnlichen physisch entstandnen Zustünden der Un¬
zurechnungsfähigkeit, sondern ist eine Art Cäsarenwahnsinn, der katastrophen¬
artige Ausbruch eines starken Willens, der keine Schranken mehr sieht. Es
muß ja auf manche, zumal junge Gemüter demoralisierend einwirken, wenn sie
menschliche Wesen nnter sich sehen, die durch ihre Schwäche zur Knechtung
immer wieder auffordern. Junge Offiziere haben doch schon zu Hanse gelernt,
Menschen zu befehlen und die Würde des Befehlenden zu wahren. Junge
Kaufleute aber werden dnrch keinerlei Zwang angehalten, die Selbstzucht des
Befehlenden zu lernen. Besonders aber im Innern Afrikas, als einziger Be¬
fehlshaber, von dessen Leben hundert andre Leben abhängen, kann ein Mann
zu der Überzeugung einer Herrschaft über Leben und Tod, die niemand ver¬
antwortlich ist, und zu solchen Thaten, wie Peters, kommen. Man sagt, daß
man sogar den Missionaren eine Art chronischen Tropenkollers anmerkt, nämlich
einen Hochau, der, außer Verkehr mit seinesgleichen gesetzt, jede Unsicherheit
und Bescheidenheit verlernt hat. Ich spreche das nicht aus eigner Erfahrung-
Wie sehr aber der Neger selbst schuld ist an dem Hochmut der Weißen, indem
er gar uicht anders kann, als dem Weißen das Herrenrecht über sein arm¬
seliges Leben entgegentragen, kann ich wieder mit einer kleinen Geschichte be¬
weisen.
Auf der Reise um Afrika hatten wir als Passagiere ein paar Dutzend
Neger an Bord, die man als Arbeiter nach dem Kongo geworben hatte, und
nachdem sie ausgedient hatten, nun nach ihrer Heimat Abessinien und Somali-
land oder vielmehr nur nach dem Hafen Aden znrückschaffen ließ. Viele von
ihnen waren in dem ungewohnten feuchten Klima erkrankt. Einer hatte Bauch¬
wassersucht und mußte mehrere male von mir operiert werden. Nach der
Operation sollte immer einer seiner Landsleute ihn pflegen. Als das zum
erstenmal geschehn sollte, hatte ich den Führer der Neger, einen Araber, be¬
auftragt, einen Mann zu stellen. Er antwortete aber: Doktor, du mußt das
selbst thun, die Abessinier »vollen nicht, sie sind Hunde, Ich ließ also die
Landsleute des Operierten antreten und fragte, wer deu Kranken Pflegen
wollte, Sie erklärten alle: Ich nicht, ich nicht, wir sind alle selber krank.
Es blieb also nur übrig, einen auszuwählen, und zwar nahm ich, um ihnen
nicht zu viel zuzumuten, täglich einen andern, den ich folgendermaßen in seine
Pflichten einweihte. Erst bekam er vor versammelter Front zwei Ohrfeigen,
dann wurde er vor das Lager des Kranken geführt und erhielt in dessen
Gegenwart wieder zwei Ohrfeigen, und da er nach einigen Stunden gewöhnlich
nnsgerissen war, so holte ich ihn zurück und gab ihm nochmals zwei. Diese
Verständigung hatte auch den Vorteil, daß ich keine Dolmetschcrhilfe brauchte.
Noch nach vielen Tagen war diese Einrichtung unentbehrlich. Jeder wußte,
was er zu thun hatte, wenn ich ihn morgens aufsuchte. Aber keiner über¬
nahm das Amt ohne feierliche Einführung. Erst nach sechs wirklichen Ohr¬
feigen, die sie ohne bedeutende Gegenwehr annahmen, waren sie der Über¬
zeugung, böß der Bana Doktor es auch diesesmal wieder ernst meine,
Wir sind kraft unsrer Religion der Überzeugung, daß alle Menschen
gleich sind, und daß wir nicht das Recht haben, unsersglcichen zu unsern
Sklaven zu machen. Je näher man aber den Dingen in der Wirklichkeit tritt,
um so mehr muß man auch an diesen Satz allerlei Abers hängen. In irgend¬
welcher Form entsteht die Knechtschaft des Negers immer wieder von neuem.
Daran ist die Schwäche des Negers noch mehr schuld, als der Übermut der
Weißen. Die Neger sind thatsächlich dem Weißen nicht gleich. Sie verhalten
sich zu ihm, wie ein fünfzehnjähriger Knabe zu einem Erwachsenen. Ein
Knabe hat bei uns auch nicht alle Rechte eines Erwachsenen. Er wird nicht
zum Eid zugelassen, er hat nicht freie Vermvgensverfügung, darf nicht frei
heiraten, er kann zur Arbeit in die Lehre aufgethan werden, vom Vater und
vom Meister geschlagen werden, von Gerichts wegen in Zwangserziehung ge¬
nommen werden, wenn er arbeitsscheu ist, er kann aber auch vom Gericht
gegen deu Mißbrauch der elterlichen Gewalt geschützt werden. Auch der Eid
eines Negers kann vor Gericht nicht gleich dem eines Weißen gelten. Diese
Fiktion besteht allerdings bei den Gerichten der englischen Kolonien, weil sie
von der öffentlichen Meinung des Heimatlandes erzwungen wird. Aber in
der Ausübung ist sie unmöglich. Wenn ein Weißer schwört, so wird es ein
Eid oder ein Meineid, wenn aber ein Neger schwört, so wird es unter zehn
Fallen neunmal ein Falscheid. Denn ein Neger kennt nicht von Jugend auf und
°urch jahrtausendelange Tradition die Heiligkeit des Eides. Daran können
tench ein paar Jahre Christenlehre nicht gleich etwas ändern.
Auch ob es für die Neger einen Arbeitszwang geben soll, darf wohl er¬
logen werden. Ein Neger hat nicht den zehnten Teil der Bedürfnisse, die
unsre Arbeiter haben. Er braucht kein festes Hans, keine Heizung, keine warme
Kleidung für den Winter, keine kräftige und teure Fleischnahrung. Der hohe
Gewinn, der im Tropenhandcl gemacht wird, erlaubt es in den tropischen
Küstenstädten, beim Lösche» und Laden der Schiffe ziemlich hohe Löhne zu
zahlen, und der Arbeiterinangel zwingt dazu. So kommt es, daß der Neger,
wenn ich mich recht erinnere, eine Mark täglich bequem verdient. Diese eine
Mark deckt ihm die Bedürfnisse einer ganzen Woche. Er braucht also nur ab
und zu zu arbeiten, daß er reichlich versorgt ist. Das überflüssige Geld giebt
er in Putz aus oder, was schlimmer ist, in Schnaps, den er teuer bezahlt.
Daher der lukrative Schnapshandel. Er bringt wieder ein, was in Arbeits¬
löhnen zu viel ausgegeben ist.
Hiernach ist doch wahrscheinlich, daß ein gewisser Arbeitszwang sehr
nützlich wäre. Er würde die Arbeit billig und den Schnnpsverkehr unmöglich
machen, und dem Schwarzen nicht so viel Geld in den Schoß werfen, womit
er nichts anzufangen weiß. Durch die Hüttenstcuer in unsern Kolonien wird
auf Umwegen ein Arbeitszwang ausgeübt. Ich würde aber auch einen offnen
Arbeitszwang, eine Art Hörigkeit für gerechtfertigt halten. Es ist noch nicht
hundert Jahre her, daß von unserm Landvolk Zwangsgesindedicnst und Fronten
verlangt wurden. Die Hanssklaverei in dem ehemals muhammedanischen Ost¬
afrika, die jetzt abgeschafft werden soll, ist eine solche Hörigkeit, das notwendige
Zubehör einer noch halb feudalen Gesellschaftsverfassung. Wißmann will all¬
gemeine Dienstpflicht der Eingebornen, weniger zur Verteidigung des Landes,
als zu Wegebanten, Urbarmachung, Ackerbauversucheu. Morgen hält es anch
für wünschenswert, daß den Negern eine Arbeitspflicht aufgelegt wird, weil
der leichte Verdienst sie sonst geradezu zur Faulheit erzieht, und Stöcker hat
neulich im Reichstage gesagt: Wenn man wählen soll zwischen Schnaps und
Sklaverei, so ist Sklaverei besser für den Neger. Der Schnaps ist nun gerade
die fast unvermeidliche Folge eines freien Arbeitsverhältnisses bei hohen Löhnen
für den Neger. Wenn aus unsern Kolonien mehr werden soll, als ein wildes
Stückchen Afrika, worin einige Kaufleute Küstenhandel treiben, wenn aus ihnen
Kulturländer werden sollen, wie Indien und China, so heißt es arbeiten; denn
alle Kultur entsteht nur durch Arbeit. Wenn nun gearbeitet werden muß, s"
muß der Neger arbeiten lernen; denn die Weißen können dort nicht alle Arbeit
leisten und werden immer nur seltne Gäste in jenen Ländern sein. Wenn der
Neger arbeiten soll, so genügt es nicht, daß man ihn bekehrt und tauft und
ihn dann mit allen persönlichen Freiheiten beschenkt, die wir uusersgleichen
bis vor hundert Jahren vorenthalten haben. Zur Arbeit gehört nun einmal
Zwang, entweder der Zwang drohender Entbehrungen, wodurch die nordischen
Völker zur Arbeit erzogen sind, und wodurch alle Kulturvölker bei der Arbeit
erhalten werden, oder der Zwang der Gesetze und Strafen, wie beim Schnl-
jungen, so beim Neger. Sonst werden die Segnungen unsrer christlichen
Kultur für deu Neger unfruchtbar bleiben, wie es bisher seit Jahrhunderten
die Berührung mit jedem Kulturvolk für die Neger in ihrer Heimat wenigstens
gewesen ist. Die Arbeitsverfassung soll zugleich auch eine Schutzverfassung
für die Farbigen sein und soll den besten auch Stellungen einräumen, die sie
den Weißen nahe stellen. Die Christenlehre allein aber ist wohl ein zweifel-
Haftes Geschenk an die Neger. Darin denke ich wie der Afrikaner Paffarge
(Buch über Adamaua). Wenn aber die Missionare anders denken, so liegt es
vielleicht nur daran, daß sie den Tropeueuroväcru Rechte über die Person der
Neger nicht gönnen oder nicht anvertrauen zu dürfen meinen. Sie fürchten
vielleicht mit Recht, daß Übermut und kurzsichtiges Geschäftsinteresse ans der
le Sonne war untergegangen, als sie das Thal erreichten, ihre Feuer¬
zeichen waren über den Himmel ausgestreut; mit zartem Gelb tauchten
sie in den Wolkenballen auf und dunkelten bald zu lohenden Rot,
als stehe der Himmel in Flammen.
Der alte Scheckg blieb stehn. Weißt denn du, was hier Passiert ist?
Jahr nickte.
Hier wurf, wo dn ins Wasser gestürzt bist. Das ist eine lehrreiche Stelle
für mich. Hier geh ich kaum ein paarmal vorüber, dann bleib ich stehn und be¬
tracht mir die Stelle und simpeliere, was da alles hätte passieren können. Er wies
hinüber. Sie standen doch noch ein wenig hoher und sahen das Wasser der Saale
wie von Millionen kleiner Wellchen bedeckt; denn der Wind blies dem Lauf ent¬
gegen und kräuselte die Oberfläche.
Adam Jahr kam nun mich zum Sprechen. Das freut mich doch, sagte er,
daß ich dich hab angetroffen. Nu bringen mir unsre alte Sache ins Gleiche und
machen einen Strich durch. Wir sind in den Jahren, wo wir keine Feindschaft
weiter haben dürfen. Und wegen was? he! Wir sind nicht viel wert gewesen,
du nicht, und ich auch nicht. Wer hat denn mich geheißen, daß ich meine Angen
auf dem Rücken habe? Die hat ma vorne im Gesichte, daß ma sieht, wo an hin¬
springt.
Sie standen nebeneinander, sahen ans das Wasser, uns die Wiesen, auf den
stolzen Bergzug gegenüber, ans die Ortschaften am Saalelnuf; sie zählten deren
vier, zwei stromauf und zwei stromab, immer zwei und zwei einander gegenüber
"n beiden Seiten des Flusses.
Adam Jahr fing von neuem an: Ich hab erzählen hörn, daß du in gutem
Ansehen, bist, und daß dirs auch sonst gut geht. Ich hab euch ja auch gesehen auf
^r Hochzg — und du hast mirs auch gesagt. Das freut mich wirklich! auch nicht
bloß dir halben, auch deiner Frau halben. Ich hab viel an die gedacht.
Der alte Scheckg schwieg.
Na--sagte Jahr, und dann schwieg auch er.
Der alte Scheckg wischte rin seiner großen Hand über sein Gesicht, daß es
ganz darunter verschwand. Ein Seufzer löste sich ihm. Zuerst--Er schwieg
Wieder.
Jahr wartete.
Man zieht nicht so leichte seinen alten Adam aus, wie man sich denkt, wenn
non seine Vorsätze thut fassen. Ist ein schweres Stück Arbeit, man gewöhnt sich
anders, als wie mans im Tempermente hat. Ich bin auch unterlegen. Ich hatte
das noch in den Knochen mit der Sitzerei, und um hingegen mußte ich den ganzen
Tag feste in der Ökonomie angreife. Ist mir nicht leicht geworden. Und die
Dummheiten, die laßt ma erst gar nicht leichte. Sie hat anch mußt leiden. Jn'n
Gasthofe, da retten sie auf mich, ich sollt mich nicht laßt unterkriegen. Ich holte
zuletzt doch übern Durst getrunken. Zu Hause torbierte ich nunc die Frau. Dn
kam der Schwiegervater und sagte: Was soll denn das heißen? Die hat dir doch
nichts gethan, daß dn so spuken thust? — Wie zur alleine sind, da spricht sie ein
Wort, ich sollte gut auf den Vater sein. — — — Dann ists losgegangen — —
Am Morgen, wie ich wach bin, da is mirs doch, ich hab was angericht, ich hab
meine Frau geschlagen. Und ich weiß noch, sie hat sich laßt schlagen, wie ich
wollte, und hat keinen Ton von sich gegeben. Da sehe ich den Strick anch noch
auf dem Stuhle liegen; und ich nu unus aus das Bette und thu den Strick ver¬
stecken. Nu mache ich meine Arbeit, und meine Frau macht ihre Arbeit — hatte
einen Streifen übers ganze Gesichte. Zur Vater hat sie gesagt, das wäre von
der Happe, die hätte sie gestoßen. Ich ha sie nicht konnt angucken. Ich dachte:
Du bist auf sie eingedrungen wie e Hund, sie soll dich nehmen, sie hat sich deiner
nicht erwehren können. Das ist nun ihr Lohn, daß sie dich genommen hat. Ach,
und was hatte ich dem Mädchen versprochen, wie ich sie wollte halten! Und dann
dacht ich: Das wird sich schon wiederhole. Den Weg, den der Teufel einmal ge¬
gangen ist, den geht er öfter. So hab ich stille meine Arbeit gemacht und bin
dann sachte fort. Du bist für nichts nutze, sagte ich for mich, du hängst dich auf.
Deine Frau, die hat bloß Gutes für dich, und du vergriffst dich an ihr. Und sie
ist in guter Hoffnung, und da hast dn nicht dran gedacht, du verfluchter Wanst,
der du bist. Was soll denn dich überhaupt zurückehalten, wenn nicht das? So
bin ich hin in unser Holz, und da hab ich mich aufgehängt. — — — Na, ich
bin dann wieder wach geworden und lag mittelwent auf dem Erdboden, und sie
tanzte bei mich und rette auf mich. Wir haben beide geweint. Ich hab vor ihr
auf meinen Knieen gelegen und habe ihrs nbgebitt, es foll nicht wieder vorkommen.
Nachen keine Silbe weiter, die langen Jahre nicht. Sie hatte eine Unruhe gehabt,
ich war fo stille vor mich hin gewesen. Und da war sie mir nach und hatte mich
denn auch gefunden.--Wenn das nu wieder wollte in mich neiufahreu, nachher
hab ich gedacht: Warte mal, du verfluchter Wanst, dich häng ich wieder auf! —-
Ist ja keine ganz schlechte Todesart nicht; aber ich hab lange Pein am Halse ge¬
habt, das hatte schmählich gedrückt. — Er wischte wieder mit der Hand über sein
Gesicht. Und als er die Hand sinken ließ, stand der alte schalkhafte Scheckg da
mit den verschmitzten, klugen Augen. Von da an ist meine Ehe in Frieden und
Einigkeit verlaufen. Ich ha nach der Frau gehört und nicht nach den Saufsäcken
in'n Wirtshause. Und da weiß kein Mensch was davon, ich hab es bloß dir mit¬
geteilt. — Ich möchte schon nochmal zurücke und möchte mein Leben noch einmal
durchmachen, sagte er, aber bloß von der Fichte an, wie mirs Priska vergeben
hatte, und ohne Pristan, da möcht ich nicht zurück. Na — indessen — die Jungen,
die wollen auch mal dazu kommen. Bis itze geht das ja, da sind wir ihnen noch
von großen Nutzen, wir verbrauchen das nicht, was wir einbringen. Ich ackre
noch, bessere auch mal das Zeug aus. Nein — die wünschen uns nicht hin ans den
Gottesacker. Nu wollen mir gehn.
Als sie unterwegs waren, ergriff Scheckg wieder das Wort: Dir ist es immer
gut gegangen — gelle?'
Jahr rciusperte sich und faßte hinter den Taschenriemen. Er wollte anfangen
Wir halten vier Pferde, acht Kühe, sechs Stücken Jungvieh. . . aber er rüusperte
sich statt dessen wieder. Er wußte nicht, was er erzählen sollte. Er fing endlich
an: Ich habe viel Glück gehabt mit meinem Schwiegersohn, das ist ein gewiefter
Mann, der hat Charakter, und Fritze, mein Enkelsohn, der ist ihm wie aus den
Augen geschnitten. Der sagt, wenn er mal heirat, seine Fran muß immerwent
bei ihm heizen, bei seinem Herzen, beim Kopfe nicht. Das ist ein Bursche, den
möcht ich dir mal weisen, das ist mein Stolz, der Bursche. Der ist mir gestern
früh nach über den Acker. Glückliche Reise, Großvater! schreit er. So erzählte
er weiter. Plötzlich unterbrach er sich und sagte: Was ist denn das, sie sprechen,
Rippe geht bei den Apostolischen?
Mail kann in der Kirche beten und auf dem Felde beten, erwiderte der Grau¬
kopf, ich habe keine Angst den halben.
Sie standen vor der Thür und warteten, der Schwiegersohn, ein großer
hagrer Mensch mit scharfem Auge und schnellen Worten, die Tochter, immer noch
eine hübsche Frau, gemessen und voller Würde; Emma und Rippe.
Weber trat vor und sagte: Willkommen in der Heimat.
Danke schön.
Willkommen auch bei uns, sagte die Frau.
Danke schön.
Emma sagte: Ich kenne den Vetter schon, ich bin schon mit ihm gegangen.
Zuletzt trat die alte Priska aus dem Hause in frisch gewaschnen Rock, mit
frisch gewaschner, hellblauer Leinenschürze, ein neues Tuch von brauner Wolle mit
bunten Blumen in der Runde um den Kopf gebunden. Der Rock fiel schlank
hinunter, nicht ganz bis zu den Knöcheln, die Haltung war doch ein klein wenig
geneigt von den Hüften aus; aber sie konnte sich auch gerade halten, die Gro߬
mutter Priska. Jetzt aber duckte sie noch ein wenig mehr herüber als gewöhnlich,
die Wangen waren gerötet, aus den Augen sprach eine stille, verlegne Neugier, und
sie lächelte voller Frende.
Ich heiß dich auch willkommen, Adam.
Ich dank dir schön.
Sie standen eine Weile und sprachen nichts; Tochter und Schwiegersohn und
Enkelkinder sahen zu mit lachenden Gesichtern.
Dn loschierst bei uns, sagte sie, das haben mir schon ausgemacht. Oder hast
du dirs anders vürgenommeu, zu übernachten?
Ich wollte im Gasthof schlafen, gab er zur Autwort.
Da ereiferte sie sich: Das geben mir nicht zu! Du schläfst bei uns. Raum
haben mir doch. — Emma hat schon überzogen — gelle, Emma? Das wär noch
schöner, du wirst doch bei deinen Freunden bleiben. . .
Ich nehme das mit Dank an, sagte er. Und dann kam wieder eine Pause.
Er war ergriffen. Diese alte Frau, die viel einfacher daher ging als seine Frau
und seine Tochter daheim, die rührte an sein Herz. Er schneuzte sich. Ich freue
mich doch, daß ich dich so gut antreffe, sagte er.
Ach--
Ja, ich hab dich doch geliebt. Er wollte scherzen.
Nein, sagte sie treuherzig, das hast du nicht.
Und er: Kommt mir doch bald so vür. Aber setzt scherzte er nicht.
Sie führten ihn durch Haus und Stalle und Scheune. Das neue Pferd war
ein Tier, groß und schwer wie ein Elefant. Sie wollten schlagen; das Holz hatte
schon seinen Käufer; da brauchten sie das starke Pferd zu den Holzfuhren.
Der Schwiegersohn war ein hitziger Mensch, nie aus dem Orte fort gewesen;
nur die Militärzeit hatte ihn hinaufgebracht. Er hatte nicht gelernt, sich zu fügen
oder mit seiner Meinung zurückzuhalten. Aber dem Schwiegervater gab er doch
uach, wenn der sich gelassen und verständig einmischte.
Sie hatten aufgetragen, was sie irgend in der Küchenkammer hatten. Emma
hatte auch eine Kanne Bier geholt.
Der alte Scheckg sagte: Nu haben mir uns auf der Hochzg getroffen, und
nacher bist du mit Emman gelaufen und hasts doch nicht gewußt, mit wem dus
Su thun hast. Wovon habt ihr denn geredt, ihr zweie? War doch ganz einfach,
du hättest e bischen gefragt. Aber so ist das im Leben, einmal kriegt man die
Pappe vonnander und einmal nicht; ma schweigt, wenn ma sollte reden, und komm
ma redt, da redt ma auch nichts Gescheits.
Ja, sagte Adam Jahr, das ist so mit den aufgelegten Namen. Sie haben
dich Scheckg geheißen und Tätschcrbäcker geheißen und Wiedersehn,
Äh, siel der alte Graukopf ein, sie sprechen auch Weber auf mich, meinen
Schwiegersohn halben, und auf den sprechen sie wieder Pfeiffer, mir halben. Wie
ist dirs denn mit der Frau Schurken gegangen? Hat denn da dei Herze nicht
gepocht, du sollst acht geben?
Das hat nicht gepocht, sagte Adam Jahr.
Der alte Scheckg riß seinen Mund auf und lachte, daß es wieder raschelte
wie von gedrücktem Papier. Die drei Alten saßen nebeneinander; wenn sie lachten,
sahen sie ans wie die Kinder mit ihrem zahnlosen Munde.
Jahr erzählte von seiner Frau, wie ruhig und verständig sie sei, von der
Tochter, die gern ein Wort zuviel spreche, vom Schwiegersohn und von Fritzen.
Er hat mir auch Grüße aufgetragen, sagte er zur alten Priska, ich hab die
Grüße auch schon ausgericht.
Und Emma rief mit strahlenden Augen: Mich hat er laßt grüße, Großemutter.
Ja, er hat gesagt, ich soll die schönen Mädchen in Thüringen grüßen.
Emma sah enttäuscht aus. Da faßte sie Rippe beim Kopf und sagte lachend: Wo
kann er denn dich laßt grüße, du dummer Schnabel? Der weiß doch nichts von
dir. Aber wenn er von dir was wüßte--— el jo! Und nun lachte der
eruste Mensch wie ein Knabe.
Ja, wenn der von dir was wüßte, wiederholte der alte Jahr in Sinnen,
das könnte einen Brand geben! So eine meint der, Wie du bist — so jung und —
na, ich will nichts verraten — so fürs Gemüte. Der hätte sollen mitkommen!
Ich steh dir bei, Emma; ich gebs zu; der Schwiegersohn auch. Ach, daß ich den
nicht mitgebracht habe, den Burschen. Dann könnten mir uns nachher immer was
erzählen von Thüringen, vom roten Hügel und vom Weißen Berge und von der
Hünenburg und von den Jrrteichen und vou der Haugeiche. Ach, das wär schöne.
Und er erzählte eifrig von seiner Wirtschaft, von den Gebäuden, dem Viehbestand,
dem Feld und den Wiesen. Auch, daß der Schwiegersohn Staatspapiere im Kasten
habe. Nu haben wir zwei Kinder, und ihr habt zwei Kinder, jedes hat einen
Jungen und ein Mädchen, da müßten mir doch die Kinder zusammenschmeißen!
Er erzählte von der Enkeltochter, die keinem Fräulein etwas nachgebe.
Weber stand auf und sagte lustig: Jtze haben wir so einen lieben Freund zu
Gaste, da lassen wir was drcmfgehn. Is uoch ein Fläschchen Wein da von der
Tciäfte — von der Taufe der kleinsten Priska, die mit dem Spitz auf dem Acker
gesessen hatte, während der alte Scheckg Pflügte. Er kam mit der Flasche und
den Gläsern und sagte: Rune können mir „Bügel hoch!" leben!
Rötlichgelb floß der Wein in die Gläser.
Vom Forstmeister Johannesbeerwein, sagte der alte Scheckg. Wie Feuer trank
sich der Wem.
Der alte Scheckg sagte: Von der Abreise wollen wir nichts wissen — du
bleibst dahier, und wir machen mal einen Spaziergang in die Berge, und Weber
spannt mal an, und wir fahren mal aus, du und ich und die Großemutter und
Emma. Und Rippe fährt. Webers bleiben zurücke und halten Haus. Und morgen
zu Abende gehn wir bein Balbier und lassen uns verputze. Da is immer dicke
voll am Sonnabend ahmte. Da zahlt ma seinen Fünfer, und dann darf ma in
den Büchern lesen, die er hat. Und machen lassen mir uus rasieren, aber von
der Frau. Das ist ein Genuß, wenn einem die mit ihren weichen Patschechen thut
ankommen. Ich laß mich immer von der Frau balbieren.
Indem klopfte es an die Thür, und ein dunkler Kopf mit einem, gelben Gesicht
schob sich herein. Wie auf eiuen Stock gesteckt kam der Kopf zum Vorschein,
hinterher ein kugliger Leib, deu zwei eilige Füße auf flachen, schwarzen Sammet-
Schuhen trugen. Einer Kugel gleich war er mitten in der Stube, nicht rund von
Fettpolster», nur rund von der eingedrückten Brust und dem hernnsgewölbten Rücken
und den eilfertig vorgeschobnen Füßen. Gunnnbend beisammen.
Geh her! schrie der alte Scheckg, iß mit. Setz dich nieder.
Und Aline ereiferte sich voll Heiterkeit: Nu wollte ich euch Nachricht bringe
von Adam Jahr, und da ist er dahier zu Gaste. Aber ich weiß noch mehr zu
erzählen, ich bin in Wißberg bei Atman gewesen. Ich hatte ihr noch was abzn-
gebe. Ich bin nun hin und habe zu ihr gesagt: Weißt denn du das schon, daß
Adam Jahr retour is? Der ist gekommen, der wollte dich wieder sehen, dem
hat die alte Liebe keinen Frieden gelösten. — Wie sieht er denn? fragt fie mich. —
Ach, der sieht schöne, spreche ich, e bischen dürre. Du hast ihn doch schon gesehen,
spreche ich auf sie, er hat euch doch helft euer Rad anmachen. — Das is der gc-
wnsen — spricht sie — so — so — na! — Und Schurke, der wollte sich huckig
lachen. Äh! das Würschtbrötchen! Der ist faul über und über. Er saß am
Fenster und stemmte auf.
Sie war glücklich zu dem alten Scheckg in die Bank geklettert, stemmte, um
dein Würschtbrötchen nachzumachen, den Ellbogen auf deu Tisch und legte den
Kopf in die Hand. Da der Kopf nnn aber ziemlich tief saß, so gab es eine
Linie, die ungemein komisch wirkte.
Emma saß neben der Großmutter. Vetter, sagte sie, ich hör Euch zu gerne
erzählen von Eurer Heimat. Das möcht ich einmal sieh, wie das ist, wenn kein
Berg da ist. Es kommt doch auf die Menschen an, mit wem daß ma zusammen
ist. Wenn ich einen hätte, den ich gern möchte, ich wollt auch auf dem platten
Lande lustig sein. Wie alt ist denn Euer Schwiegersohn?
Jahr antwortete pfiffig: Fritze ist dreiundzwanzig Jahre.
Weber lachte laut, schlug mit der Faust auf den Tisch und sagte: Emma, dich
steck ich mens.
Die alte Priska sagte: Das ist mei Kind, die Emma. Sie sagte es zu Adam
Jahr, der ihr gegenüber saß.
Der erzählte nnn, wie Fritze aussah, strich mit der Hand um Kinn und
Wangen und fühlte den Bartstoppeln nach; seine ruhigen Augen hatten einen Aus¬
druck heitrer Wehmut.
Und dann machte er wieder Pläne. Schöne! sagte er, ich will noch ein paar
Tage zugeben, aber dafür nehme ich Emman mit. Soll euch nichts kosten. Die
Fahrt trage ich. Ich komme auch sonst ans. Ja, das machen wir! Werden sich
schon gefallen, die jungen Leute. Und machen macht sich leichte auch das mit
Nippen.
Der alte Scheckg machte sein Fuchsgesicht und schrie: Die Flasche is leer! Ich
^ni mal in der Küchenkammer zugucke, mag noch eine dort sein von der Tääfte.
Rippe ging hinaus. Eine Weile lehnte er am Hofthor, dann ging er den
Fahrweg zurück in die Wiesen. Ein Fisch sprang im Wasser. Er ging hinüber und
wartete, der Fisch solle wieder aufschnellen. Plötzlich drehte er sich um, warf sich
gegen die Weide, als ringe er mit jemand. Er seufzte und weinte, setzte sich nachher
Weg an die Berglehne nud sah zum Himmel hinauf mit seinem klaren Blau
und dem Flimmern seiner Sterne.
Als er wieder in die Stube kam, hatte der Wein gewirkt. Der Gast sah
^iter aus mit leicht umnebelten Angen, und der Großvater ließ sich von der
Schalkheit treiben. Du siehst wie der Herzog, so fein bist du in der Kluft,
>"gte er.
Aline sagte: Mich hats gezittert durch und durch. Ich habe mir ein Parchen-
hemde gelöst, und das weise ich Atman, sie solls betrachte. — Hast denn du nicht
satt andre? spricht sie auf mich. — Die hab ich, sage ich, aber mit den Jahren,
da will mans wärmer haben, sage ich. — Ich leiste mir das nicht, blött sie auf
mich. — spreche ich, teuer find die ja nicht, und ich habe schon eins. — Da
meint sie, das wäre doch satt gewesen, und ich hätte mich damit behelfen können. —
Was brauchst du ihrer denn zweie, redt sie auf mich. — Eins, sage ich, muß ich
aufm Zaune haben und eins aufm Leibe. — Wenn mans aber nicht in Mitteln
hat, redt sie for mich. — Das mach ich nicht mit, spreche ich, die Mode: Wenn
der Zaun eins hat, dann hat der Leib keins, und wenn der Leib eins hat, dann
hat der Zaun keins. Das habe ich in Mitteln, daß ich mir zwei Parchenhemden
kann lose. — Die hat kein Gemüt. Die hätte dich wollt tvrbiere, wenn du die er¬
wischt hättest. — Aber der horcht nicht auf mich, der Adam — gelle du?
Er sagte, er höre alles, was sie spreche. Und sie fing nach einer Weile
wieder von Schunkes an. Die Frau hatte ihren Hund, der eine Wurst aus der
Küchenkammer gestohlen hatte, unbarmherzig geschlagen. Der sah wie e Blutstücke,
sagte Aline, der lief auf drei Beinen. Das ist doch schöne, wie wir hier sitzen,
wir bilden eure Korperation für uns alleine.
Emma sagte zur alten Priska: Komm mal wegen dem Vetter seiner Kammer,
ich will dir was weisen.
Sie gingen zusammen in die Fremdenkammer. Dann traten sie vors Haus
und setzten sich auf die Bank. An der Hauswart standen Rosen, noch voller Knospen
und Blüten.
Die alte Priska sagte: Du mußt dirs nicht so merken lassen, daß dirs drum
zu thun ist, den jungen Mann wegen. E Mädchen muß einen Burschen nicht
nachlaufen, die muß sich suchen lassen.
Ach, Großemutter, ich will mich ja auch suchen lasse, erwiderte Emma, und sie
sagte es mit so eigner Betonung, daß die Alte lachte.
Ich versteh schon, du denkst bloß ans Finden. E Mädchen, das muß aber
sittsam sein, das ist nicht anders-
Das will ich auch, ich will Euch keine Schande machen. — Aber das hört
sich doch schöne, wenn der Vetter erzählt---—
Ja, der weiß seine Rede zu setzen, sagte die alte Priska.
Kann sei, wir gefallen uns nicht, Großemutter. Ich bin noch jung. Ich
kann warten. Und ich hab doch sonst keinen gerne wie Rippe; ach, der dauert
mich, Großemutter.
Ja, der muß sein Leiden durchkämpfen.
Aber wenn der Vetter erzählt, hauptsächlich vou Fritzen, dann geht mirs eisekalt
durch und durch.
Ja — ja — Kann sein, du läßt dich beleckere, sagte die alte Priska, von
der Eitelkeit, dem Hause wegen und dem Vieh wegen und dem Gelde wegen.
Ach, nicht doch, Großemutter.
Aus der acht darf mans ja nicht lassen.
Nein, Großemutter — mit den beiden Pferdechen — gelle?
Was macht ihr hier draußen, ihr Weibsen? fragte der alte Scheckg, der
mit Adam Jahr herausgetreten war.
Adam Jahr sagte: Das soll man mal betrachten: hier blühen noch die Rosen,
und wir haben Frost gehabt----
Er sah zu den Bergen hinauf, wandte sich und sah nach der Bergkette drüben.
Ist dirs denn hehre verändert vvrgekomm? fragte die alte Priska.
Das ist doch Thatsache, antwortete Adam Jahr. Ist vieles anders geworden.
Sie haben Verbesserungen vorgenommen. Es hat mich doch beinahe geballert, ich
bin »aufwärts geschritten, und der alte Schlagbaum war nicht mehr da. Es ist
ja nach der Richtigkeit, daß mit solchen Sachen aufgeräumt wird, die den Verkehr
hindern; bei uns sind sie auch abgeschafft, die Chansseehäusechen. So was hat
keinen Bestand, da simpelieren sie immer noch was bessers zusammen. So auch
mit der Eisenbahne. Es hat mich beinahe geschmerzt, wie die hier im Thale lief
mit ihrem dreckgen Qnalme. Und die Weibsen mit ihren Körben und ihren Korb¬
tüchern und ihren Korbbändern, die hüpften nein in den Zug, und die Straße
war wüste und leer, wo sie sonst dahinschossen. War doch schon, wenn sie weg
machten ihrer funfzehn, zwanzig Menscher auf einmal und versperrten die ganze
Straße, daß ma nicht vorüber konnte. Ich hab höchstens sechse auf meinem ganzen
Wege angetroffen. Und an eiuer hab ich bloß meine Freude gehabt.
Vetter, sagte Emma vom Bändchen aus, wenn ich, und ich komme mit, ich
dunkel immer meinen Korb auf — gelle?
Der Vetter fuhr fort: Das hat mir auch nicht gefallen, der Wechsel mit der
Garderobe. Das ist nichts for c Thüringer Weibsen, die Uuddrchen, die sie itze
einziehn. Ach, meine Mutter, wenn die zur Kirche ging an Feiertagen, da zog die
ihren seidnen Kittel an, war zehn Ellen weit, und die seidne Schürze und das
seidne Brusttuch und den schwarzen Tuchmantel mit dem breiten Kragen, und die
Haube mit der großen Schleife mittelwent auf dem Kopfe, und mit dem goldnen
Haubenboden und den breiten Schärpenenden hinten an der Haube. He! Das sah
»ach was! An die vordersten Bänder war Spitze dran genäht, waren doch ihrer
sechs Stück Bänder epper, über den Rücken weg bis zu den Knieen. So ein
Weibsen mit dem Rocke und dem Mantel und der Haube, die sah breit wie zwei
Mannzen. So gehört sich das zwischen den Bergen. Und beim Tanze, wenn mir
die Weibsen schwenkten, da sahen sie striemig mit ihren Röcken, einer von rotem
Tuch und einer von weißer Leine und wieder einer von rotem Tuch und eiuer
von weißer Leine, mater dreie die Sache mit dem roten Rocke und mit dem weißen,
und alle zehn Ellen weit. Das war e schöner Anblick. Itze gehn sie dürre wie
die Stängelchen.
Die alte Priska sagte: Das war eine Last mit den Hauben, die druckten am
Kopfe, feste mußte man sie binden, daß sie nicht weg rutschten. Die hat balde
keine mehr umgethan. Sie haben sich von den Bändern Schürzen laßt mache.
Und mit den weiten Röcken! Das ist auch hinderlich, ma muß die schleppen. Ma
hat ofte satt um Leben zu schleppen. Ich nicht, ich hätte die schon konnt schleppen.
Auch bei der Arbeit, man ist leichter so.
Kann sein, sagte Adam Jahr. Am mehrsten hat minds aber doch gedauert
mit den Menschen. Wir haben keine bleibende Statt, heißt das in der Bibel.
Wenn man aber han kommt nach fufzg Jahren, und es haben sich ihrer gar viele
aus dem Staube gemacht, das schmeckt bitter. Ich hab noch euch zwei —---
Der alte Scheckg spuckte aus. Das ist nicht anders. Was von Fleisch ist, das
ist der Vergänglichkeit anheimgegeben, das muß weichen. Aber der Geist bleibt.
Die Berge, die stehn auf ihren? Flecke, und die Saale, die läuft wie vordem rab
"uf Jena und auf Halle, und das Temperment von den Leuten hat sich auch nicht
verändert: wir juchzen noch und sprechen noch, wie es unsre Großeltern haben ge¬
halten. Wir betrügen nicht, aber wir machen unsre Winkelzüge; wir arbeiten, wir
müssen arbeiten. Wir kommen auch von der Stelle, wenn wir das unsrige zu¬
sammen halten. Wir sind leichte auf den Beinen, das kommt von den Bergen
^r, und leichte im Sinn, das kommt auch vou den Bergen her. Und dann haben
wir Gemüt, das haben wir. Wenn mir jung sind, sind mir hitzg, das ist nicht anders,
und dann sind mir auf die Weibsen, daß mir die beleckern, das ist anch nicht anders,
^ber in allen andern Dingen sind wir dem Wandel unterworfen. Das wäre auch
reine Sache, wenn sich nichts hätte ändern solle», und unsre Weibsen sprangen itze
daher wie Eva im Paradiese mit dem Pummeranzenblatte.
Es war doch e Feigenblatt, Großemutter, sagte Emma leise.
Die alte Priska verhüllte ihr Gesicht mit den Händen und kicherte.
Der alte Scheckg aber sagte: Das ist auch ein Stücke Geist, was dich Her¬
getrieben hat. Wir hängen an unsern Orte, wo wir zu Hause sind, wo wir
ungeratene Jungens waren — und Burschen, die den Mädchen zu Gefallen
uefen. Ja, das ist so. Und mit den Burschen und Mädchen! Wie ich meine
-priska geHeirat habe, da habe» mich die Burschen aus ihrem Orte schmählich ver¬
hauen. Und wenn Fritze noch kommt, Emman wegen, nachher wird er seine Tracht
Hiebe much besehen. Unsre Emma, das ist kein Mädchen, bei der sie sichs gefallen
lassen, wenn ä Bursche aus nein andern Orte kommt und holt sie weg. Das ist
auch Geist.
Ja, das ist Thatsache, sagte der alte Jahr. Und Fritzen wegen — so feierlich
wird das nicht gemacht, der wird sich seiner Haut schon wehren.
Na ja, sagte der alte Scheckg. Wird doch auch das eine und das andre sein,
was du so hast angetroffen, wie dirs gefällt.
Das habe ich, bestätigte der Gast. Ich habe ofte dran zurückgedacht, wie ich
fortgemacht bin. Da fuhr vor mir her auf dem Wege vor meinem Geschirre ein
Mädchen, die hatte eine Ziege in ihrem Kastenwagen. Ich hab immer gewünscht,
der mondes gut gehn. . . Und das ist eingetroffen.
Sie schwiegen.
Im Hause hatte es schon eine Weile minore, jetzt schnellten ein paar schwarzer
Sammetschuhe zur Thür heraus, und Aline Eisermann sagte: Ich muß itze han.
Hast du was auszurichten an Atman? Die hat mich bestellt, sie hat was rcm-
zuschaffen. Das ist iekel Neugier, die will was von Adam Jahr wisse. Horchst
denn du auf mich, Adam?
Ich horch, Aline. Was will die von mir wissen?
Die möchte itze noch hören, wie schön sie ist. Sie lachte voll Heiterkeit, und
noch unter dem Lachen schoß sie davon und verschwand bald wie eine schwarze
Kugel in der Dunkelheit.
Die Männer gingen ein paar Schritte die Straße hinab, blieben stehn und
sprachen aufeinander ein. Dann gingen sie weiter in der Gasse, die sich hier
aufthat, und die in einen engen, sich zwischen hohen Bergen hinziehenden Fahrweg
ausmündete. Der Weg war schluchtnrtig. Die Berge waren mit Fichten bestanden.
Gras und Kraut bedeckte den Erdboden nahe am Wege. Sah man in die Höhe,
so erschaute man ein schmales, schwarzblaues sterndurchsticktes Band — den Himmel.
Die Luft war kalt und feucht und drückte herab.
Hier, wo es so dunkel war, daß sie einander kaum sehen konnten, standen sie,
sprachen aufs neue, und jeder erzählte — Weber, Jahr, der alte Scheckg. Jahr
blieb dabei, Emma solle Fritzen, und Rippe solle seine Enkeltochter heiraten.
Sie singen an zu frieren und gingen heim. Der Nachtwächter endete, erhob
seine Stimme und rief: Die Glocke hat zwölf geschlagen.
Emma leuchtete dem Vetter in die Gaststube. Die stärksten Betten hatte sie
aufgeschichtet, die gewichtigsten Überzüge von eigen gemachtem Gespinst mit ge¬
häkelten Zwischensätzen hatte sie übergezogen, das Laken schloß unten eine breite
gehäkelte Spitze ab. Eine kleine Gardine war am Fenster. Über dem Bett hing
ein Engelskopf in einem vielzackigen Stern, der von gelblichem Häkelgarn ge¬
sponnen war.
Sie sagte: Gute Nacht, Großvater.
Gute Nacht, Emma; na, ich bin auf deiner Seite.
Sie huschte hinaus und schämte sich, daß ihr die Thränen in die Augen
kamen. Sie wußte, daß ein Mädchen sittsam sein müsse, und sie hatte sich doch
aufgedrängt. Jawohl, sie hatte den Vetter Großvater geheißen. Ihre Freundinnen
fielen ihr ein, die schon alle ihren „Hämführer" hatten, mit dem sie abends Hinans¬
gingen. Der Bursch umfaßte das Mädchen. So schritten sie dahin. Hin und
wieder blieben sie stehn zum Küssen. Der erste Liebesgram stieg in dem schönen,
großen, blonden Mädchen auf, und es war Liebesgram um einen, den sie noch
nicht kannte.
Inzwischen ging der Gast zur Ruhe, löschte das Licht und wälzte sich in den
fürchterlichen Betten umher, die ihn zu ersticken und zu erdrücken drohten. Er
richtete sich auf und schnappte nach Luft. Sodann hieb er auf die Ecken des Kopf-
Asiens ein, die spitz wie Zipfelhauben hoch standen Endlich stieg doch der Schlaf
zu ihm herab.
Die Erde atmete Ströme tun herbem Duft aus. Auf den Wiesen lagen
silbrige Nebel wie breite Wasser. Und die Saale rauschte, und es war, als flössen
alle diese Wasser und erfüllten die nächtliche Stille mit ihrer geheimnisvollen, ein¬
tönig sehnsüchtigen Musik.
Kaltes Fahlgrau kroch über die fröstelnde Erde, als Jahr aus tiefem Schlaf
erwachte. Ihm war heiß, und der Kopf war ihm wüst. Da tastete er nach dem
Feuerzeug und machte Licht an, stieg dann aus dem Bett und nahm den Wasser¬
topf, um seinen Durst zu löschen.
Zuletzt steckte er den Kopf aus dem Fenster und sah nach deu Bergen. Sie
waren mit durchsichtigen feinen Nebelschleiern verhängt, die sich zu verhüllenden
Tüchern verdickten vor den hintern, sonst hervorlugeuden Zügen. Das beginnende
Dämmerlicht hatte etwas Trauriges und Todes. Aber Jahr hatte die Konturen
seiner Berge gesehen und kehrte befriedigt in sein Bett zurück.
Ihm ging doch so allerlei durch den Kopf — die Gestalten seiner Gastfreunde
traten vor ihn hin, und ihm fiel ein, was sie verabredet hatten.
Was hatte ihm denn im Kopfe gespickt . . . Nie würde sich seine Enkeltochter
hergeben in dieses bescheidne, arbeitreiche Leben. Und er durfte es auch nicht
wünsche», so wohl ihm Rippe gefiel.
Aber Emma! ja! Wenn er die mit heinibringen würde. Die ließ Fritze
nicht wieder weg. Der Hausbau war auch gleich zu eiuer Wohnung noch für
Fritzen eingerichtet. Abends würden sie dann zusammensitzen, würden von Goschen
und Seitengoschen erzählen, von den Bergen und der Saale, von seineni alten
Freunde Scheckg und der Großmutter Priskn. Und die neue Enkeltochter würde
sein .Und sein. Er würde alle Tage die vertrauten thüringischen Laute hören.
Die Bilder verschwammen vor seiner Seele, und er schlief wieder ein.
Als es damals daheim festgesetzt worden war, daß er reisen sollte, hatte
Fritze ein Summen und Pfeifen erhoben von einer wohlbekannten Melodie. Kam
der Großvater in seine Nähe, so hatte er seinen Singsang und sein Gepfeife an¬
schwellen lassen. Zuletzt sang und flötete das ganze Hans, die Enkeltochter, die
Mägde, der Knecht — alle sangen und pfiffen sie das Lied vom Wanderburschen
mit dem Stab in der Hand, der wieder heimkehrte aus dem fremden Land.
Wie er nnn jetzt in den dicken Betten schwitzte, darin versank, von den
ungefügen Kopfpvlstern herabrntschte und sich wieder hinaufarbeitete, da woben die
halbwachen Sinne ein reizendes Märchen daraus. Ihm träumte, er sei wieder
jung und kumme in den Bergen, steige bergauf und schreite bergab. Und immer
wieder rutschte ihm der Schlaf über den Kopf, wenn er schon dicht am Erwachen
war. Bei dem Steigen und Schreiten fing er schließlich an zu singen. Hörte
bald auch eine Stimme, die ihm antwortete. Sah den Pfeiff-Schneider, der ihm
auf hoch gelegnen Wege entgegen kam. Und sie sangen und schrieen beide, was
sie konnten, das Lied vom Wanderburschen. Einer aber überschrie immer den
andern.
Des Schläfers Gesicht rötete sich, und es drang schwer atmend, stoßweis aus
seinem Munde hervor:
Nun wurde erwach, rieb seine Augen und hörte eine Stimme herausbringen:
Wirst denn du heute überhaupt uicht wach werden, du Langschläfer?
Er stutzte, stieg aus dem Bette, machte das Fenster auf und rief mit blinzelnden
Augen dem alten Scheckg zu, der unten stand: Ich komm schon.
An den unseligen Burenkrieg hängt sich
für Deutschland etwas wie ein Fluch. Zunächst ist er dadurch für uns verhängnisvoll
geworden, daß er bei uns einen allgemeinen Rückfall in eine leidenschaftliche Gefühls-
pvlitik veranlaßte, der beweist, daß wir seit der „Battenbergerei" von 1886, bei der
sich Fürst Bismarck in so scharfen Widerspruch mit der „öffentlichen Meinung" setzte,
gar nichts gelernt haben. Den Buren gebührt wahrhaftig alle menschliche Teilnahme
und jede materielle Unterstützung zu rein Humanitären Zwecken, aber eine deutsche
Nationalsache ist die Burensache niemals gewesen, das muß mit aller Bestimmtheit
ausgesprochen werden. Zu einer solchen aber versuchte man sie zu machen, namentlich
im Lager der „Altdeutschen," wie denn diese wenigstens teilweise dcizn neigen, die
berechtigten Bestrebungen nach Kräftigung des Bewußtseins der geistigen Zusammen¬
gehörigkeit zwischen den Völkern deutscheu Bluts auch auf das politische Gebiet zu über¬
tragen, als ob eine jahrhundertjährige politische Entwicklung mit feurigen Wünschen
aus der Welt geschafft werden könnte und das Deutsche Reich in seinem gegenwärtigen
Umfange ein zufälliges flüchtiges Gebilde, eine „Eintagsfliege" sei, wie es einmal
die „Altdeutschen Blätter" nnverzeihlicherweise nannten. Aber im Ernstfalle würden
sogar die Deutsch-Österreicher die Zumutung, ihre Landschaften in Provinzen des
Deutschen Reichs zu verwandeln, mit einem millivnenstimmigeu Nein beantworten,
bei den deutschen Schweizern hat das republikanische Staatsgefühl das deutsche
Nationalgefühl verdrängt, die baltischen Deutschen sind durch geographische und wirt¬
schaftliche Beziehungen unzertrennlich rin Rußland verknüpft und diesem ans den¬
selben Gründen unentbehrlich, die Holländer haben ihre ruhmvollste Zeit gerade in
der Trennung vom Reiche durchlebt und sich mit klarem Bewußtsein zu einer selb¬
ständigen kleinen Nationalität ausgebildet. Kurz, nirgends ist in absehbarer Zeit
zu erwarten, daß sich diese peripherischen Volksteile, die früher einmal zum Reiche
gehört haben, dem heutigen Deutschen Reiche wieder anschließen werden, und es
ist Thorheit, auf solche Hoffnungen irgendwelche politische Berechnungen zu be¬
gründen. Vollends die niederländischen Kolonisten in Südafrika, die, wie sie selbst
sagen, auch französisches Blut in den Adern haben, die soll man nicht für deutsche
Volksgenossen ausgeben wollen. Die ferne Möglichkeit, sie uuter deutsches Pro¬
tektorat zu stellen und somit näher an uns heranzuziehn, hat sich seinerzeit nicht
in Wirklichkeit verwandeln lassen und ist jetzt verloren. Ihre nationale Zukunft
liegt jetzt im engen Zusammenschluß mit ihren Stammverwandten im Kapland und
in Untat unter englischer Herrschaft. Kommt es dazu, dann werden sie ihre Nationalität
sicher behaupten und in dem künftigen südafrikanischen Staatenbunde vielleicht der¬
einst noch eine entscheidende Rolle spielen können; von Dentschland haben sie in
politischer Beziehung nichts zu erwarten, und wir nichts von ihnen. Auch die wirt¬
schaftliche Wiederherstellung ihres verwüsteten Landes, die viele Millionen in An¬
spruch nehmen wird, können die Buren vernünftigerweise nur von England erwarten;
die paarmalhunderttausend Mark, die der deutsche Burenhilfsbund gesammelt hat,
sind dazu nicht bestimmt und wären auch nur ein Tropfen auf einen heißen Stein.
Wenn man nur endlich jetzt, wo die Sache entschieden ist, diese Sachlage be¬
greifen wollte! Es scheint aber nicht so. Mit sehr gemischten Gefühlen haben wir
dem Empfang der Burengenerale in Berlin zugesehen. Wir gönnen den helden¬
mütigen Streitern jede Ehre und jede Ermutigung, aber wir können nicht finden,
daß die überschäumende Begeisterung dieses Empfanges mit unsrer nationalen Selbst¬
achtung im Einklang stehe. Fremde Generale wurden geehrt, als ob es deutsche
Feldherren wären, die für ihr Vaterland die glänzendsten Siege erfochten hätten.
Was bleibt denn dann noch übrig für siegreich einziehende Landsleute? Soweit
durfte die berechtigte menschliche Sympathie niemals gehn. Aber freilich, trotz alles
Ableuguens ist es doch gar keine Frage, daß an dieser wie an der begeisterten
Aufnahme der Haß gegen England, den eine unbesonnene Presse auch jetzt noch
beflissen nährt, einen sehr reichlichen Anteil hatte. Käme es auf die deutsche Volks¬
stimmung und ihre Äußerungen politisch mehr an, als es leider nach Lage der Sache
der Fall sein kann, so würde dieser Empfang auch politische Bedenken erregen kennen,
»ut wir würden uns in die Stimmung der Engländer uns gegenüber ungefähr
versetzen können, wenn wir uns vorstellen wollten, wie wir es aufgenommen haben
würden, wenn etwa 1871 besiegte französische Generale oder Staatsmänner, etwa
Gambetta oder Thiers, die doch auch wenigstens glaubten, für eine gerechte Sache
ausdauernd gekämpft zu haben, in London mit solchem Enthusiasmus begrüßt worden
wären. Aber das wichtigste ist nicht die thatsächliche Demonstration gegen England,
mit dem wir doch, wie schon oft in den Grenzboten ausgeführt worden ist, natür¬
lich mit voller Wahrung unsrer nationalen Würde, notwendigerweise wieder in
ein vernünftiges Verhältnis kommen müssen, sondern die damit trotz aller Kaiser-
Hochs verbundne, vielen vielleicht unbewußte, von gewisser Seite aber unzweifelhaft
beabsichtigte und geschickt gelenkte Demonstration gegen den Kaiser.
Wir beklagen es aufs tiefste, daß es dem Kaiser unmöglich gemacht worden
ist, die Burenführer zu empfangen. Es würde damit der Hetzpresse, die seit Jahren
an der Arbeit ist, dem deutschen Volke Mißtrauen gegen die Politik des Kaisers
einzuflößen und ihn im Gegensatz zu der „Volksempfiuduug" zu bringen, wirksam
begegnet worden sein. Aber wir verwahren uns entschieden gegen den taktlosen
und unpatriotischen Versuch, ihn oder die Reichsregierung für das Scheitern dieses
entgegenkommenden Akts und für die Folgen verantwortlich zu machen. Nachdem
die Burengenerale seine selbstverständlichen Bedingungen für den Empfang an¬
genommen hatten, war die Aufstellung einer neuen Forderung und die damit aus-
gesprvchne Ablehnung der Audienz eine schwere Kränkung für den Kaiser, sie mag
veranlaßt worden sein, von wein sie will (von den Bureugeueralen selbst schwerlich) i
es war selbstverständlich, es war das Mindeste, daß die amtlichen Kreise die Buren¬
führer ignorierten, und daß der Kaiser seinen Offizieren und Soldaten jede Be¬
teiligung an den Empfangsfeierlichkeiten verbot. Das sagt das einfachste Schicklich-
keitsgefühl, und es wäre wohl zu erwägen gewesen, ob unter diesen Umständen
nicht der ganze Besuch der Generale besser unterblieben wäre. Statt dessen ist das
Scheitern des Empfangs Anlaß zu neuer Verhetzung geworden, ein trauriges Zeugnis
für unser nationales Selbstgefühl, das für eine Kränkung des Neichsoberhaupts so
wenig Empfindung hat und sich ohne Besinnen auf die Seite Fremder stellt! °"
Zur Organisation der Wasserwirtschaft. Nach zehnjähriger Arbeit hat
der durch Königlichen Erlaß vom 28. Februar 1892 berufne „Ausschuß zur Unter¬
suchung der WasserverlMuisse in den der Überschwemmungsgefahr besonders aus¬
gesetzten Flußgebieten" seine Thätigkeit am 27. Mai 1902 beendigt. Als dauernde
Gaben hat er uns das auf seine Veranlassung Von H. Keller bearbeitete Monn-
mentalwerk über die preußischen Ströme und ihre Gebiete mit Ausschluß des Rhein¬
gebiets, sowie die auf seine Anregung geschaffne Landesanstnlt für Gewässerkunde
hinterlassen. Außerdem aber hat er selbst durch seine sorgfältig vorbereiteten und
begründeten Erklnrnngen eine außerordentlich nutzbringende Wirksamkeit ausgeübt.
Aus fünfunddreißig Mitgliedern, nämlich sieben Verwaltungsbeamten, elf Wasser¬
bauingenieuren (darunter drei anßerprenßischen) und siebzehn Parlamentariern und
wissenschaftlichen Autoritäten bestehend, hat er vor allem das nach den großen Hoch¬
wässern der achtziger und neunziger Jahre erwachte Mißtrauen gegen das in Preußen
"»gewandte Verfahren der Flußregnlierungen und Kannlisiernngen beseitigt und
vielmehr die Beibehaltung der allgemeinen Grundsätze dieses Verfahrens ausdrück¬
lich empfohlen — im Hinblick auf die vorhergegangnen heftigen parlamentarischen
lind teilweise maßlosen Preßerörterungen ein hoher Triumph für die preußische
Wasserbautechuik.
Sodann hat der Ausschuß die Frage, welche andern Maßnahmen gegen Hoch¬
wassergefahr und Überschwemmungsschäden für die Zukunft getroffen werden können,
für jedes Flußgebiet gesondert in eingehenden Berichten beantwortet. Er erörtert
und empfiehlt in besondern einzeln namhaft gemachten Fällen als technische Ma߬
nahmen die Anlage von Hochwassersammelbecken, die Freihaltung des Hvchwasser-
betts von Anflandnngen, Holzbestäuden und Gebäuden, den Umbau einzelner Brücken
und Deiche, die Verhinderung von Seitenströmungen, die Sicherung abbrüchiger
Ufer, die Verdauung von Runsen, ferner Eissprengungen, Hvchwassermcldnngen
und Hochwasservoraussagen.
Er erörtert sodann einzelne Maßnahmen der Gesetzgebung und Verwaltung
für die Erhaltung und Ausdehnung der Wälder, für die Förderung der Flußregu-
liernngen, Feststellung des Umfangs der Unterhaltnngspflicht, Einrichtung einer aus¬
reichenden technischen Aufsicht, Bildung von Schaukommissiouen u. a. und schließt
seinen letzten Bericht mit den Worten: „Die Übertragung der gesamten Wasser¬
wirtschaft in Preußen auf eine einheitliche Zentralbehörde unter gleichzeitiger Organi¬
sation der Wasserwirtschaft in den Mittelinstanzen und die Vorberatung und Aus¬
führung aller Maßnahmen der Gesetzgebung und Verwaltung auf wasserwirtschaft¬
lichem Gebiet durch die zu schaffende Zentralbehörde ist die unbedingte Voraussetzung
für den Erfolg aller zukünftigen Maßregeln. Es erübrigt, die in frühern Gutachten
vvrgeschlagnen einzelnen Maßnahmen zu wiederholen, solange dieser Grundstein
für eine gedeihliche Entwicklung des Wasserrechts und der Wasserwirtschaft nicht
gelegt ist."
Diese Erklärung wird von nus um so freudiger begrüßt, als sie mit den auf
S. 513 Ur. 9 d. I. der Grenzboten gemachten Ausführungen völlig übereinstimmt.
Hoffen wir, daß sich mich der Herr Finanzminister, der dem Ausschuß seinerzeit selbst
angehört hat, dein Gewicht dieser sachverständigen Stimmen nicht verschließt, denn es
sind ja darunter Namen der hervorragendsten Parlamentarier, Techniker und Ver¬
waltungsbeamten ans allen Ministerien. Hoffen wir ferner, daß bei der Neu¬
organisation der Generalkommissionen diese Erklärung die gebührende Beachtung
findet und demgemäß die Inständigkeit der geplanten Landeskulturbehvrdcn die Ein¬
heitlichkeit der Wasserwirtschaft nicht völlig und dauernd zerreißt.
In Ur. 41 der Grenzboten unternimmt es
Herr M. E, meinen in Heft 29 erschienenen Aufsatz zu berichtigen. Ich hatte
meine Mitteilungen dort als Ergebnis eingehender Studien bezeichnet, die ich in
meinem Buche über „Entwerung und Eigentum" niedergelegt Hütte, und nahm auf
diese Schrift unter genauer Titelaugabe ausdrücklich Bezug. Ich hätte daher wohl
erwarten dürfen, daß bei Versuchen, mich zu berichtigen, meine dort gegebne aus¬
führliche wissenschaftliche Begründung berücksichtigt werde. Denn in dem lediglich
berichtenden Greuzbotenaufsatz mußte ich das schwere Rüstzeug der Quellenforschung
natürlich beiseite lassen. Die von Herrn M. E. angeführten Stellen aus dem
Schulchan Aruch sind mir, wie sich mein Herr Gegner bei Lektüre meines Buches
überzeugen kann, nicht unbekannt; sie widerlegen mich durchaus nicht. Denn ich
habe nie behauptet, daß der Talmud oder irgend ein jüdisches Rechtsbuch die
Hehlerei als erlaubt bezeichnete, sondern nnr, daß sie dem Erwerber gestohlener
Sachen einen Anspruch auf Ersatz des Kaufpreises gewährten. Und dieser Rechts-
satz wird vom Talmud (Baba Kama f» 115») in der That mit dem Bestreben
nach Erleichterung des Verkehrs gerechtfertigt. Daß Erwerb um einen Hehlcrpreis
den Käufer des Lösuugsanspruchs verlustig mache, behauptet Herr M. E. selbst
nicht (vergl. Schulchan Aruch, Choschen Hemischpat 35V 8); der Erwerb von
einem notorischen Diebe hat diese Wirkung zwar nach dem Talmud und dem
Sahuichen Aruch, nicht aber nach dem im Mittelalter unter den deutscheu Juden
geltenden, aus dem Talmud abgeleiteten Rechte. Dieses ist uns überliefert in der
Glosse des Rabbi Mose Jsserles zum Schulchan Aruch. Dort wird zu Choschen
Hemischpnt 368 allgemein der Grundsatz aufgestellt, das; der Käufer gestohlener
Sachen sie stets nur gegen Ersatz des Kaufpreises zu restituieren habe, und zu
356 ^ 2 wird auf Grund der für Deutschland maßgebenden Autorität des R. Ascher
und R. Jizhak entschieden: „Auch bei einem notorischen Diebe trifft jene zur Sicherung
des Geschäftsverkehrs getrvffne Anordnung zu, und der Eigentümer muß dem Knnfer
den Kaufpreis erstatten, es sei denn, daß der Käufer wußte, daß er gestohlenes
Gut kauft; denn dann muß er es ohne Entgelt zurückgeben" Das wurf was ich
Dr. Herbert Meyer
Der berühmte Ethnograph Professor Retzius
hat, wie wir der „Deutschen Rundschau für Geographie und Statistik" entnehmen,
im Laufe der letzten Jahre vergleichende Untersuchungen über die Nasseeigenheiteu
und die Körperbildung bei den verschiednen Vevölkernngsgruppen Schwedens angestellt.
Die Versuche ergaben, daß die Bewohner der nördlichen Provinz Dnlarne (Dale-
karlien) unter den schwedischen Bevölkcrnngsgrnppen die relativ größte Reinheit
des alten germanischen Rassetyps bewahrt haben. Namentlich im Umkreis des
Sees Siljcm, im Mittellauf des Dal-Elfs und dort vorzugsweise wieder im Gebiete
der Gemeinden Floda, Leksand, Rättvik, Orsa, wies die Bauernbevölkerung eine
hervorragende Gleichförmigkeit in der Gesichtsbildung und der allgemeinen Körper-
entwicklung ans. Professor Retzius glaubt jedoch annehmen zu müssen, daß die Kopf¬
form der Dalbewohncr, die fast ausschließlich auf dvlhchvkephale Schädelbildung hin¬
wies, im allgemeinen zwei Varianten erkennen lasse, nämlich eine Langschädelgruppe
mit breiterer und eine andre mit ovaler Gesichtsfläche (die erste im Leksandbezirke,
die andre hauptsächlich im Morngebiete). Im übrigen waren bei beiden Gruppen
die entscheidenden Rassethpeu vollständig gleich. So zeichnen sich die Dalbewohncr
"vereinstimmend durch lichte Haarfarbe, hellblaue oder stahlgraue Augen, gerade
Nasen und zurückgeneigte Stirn aus; ferner überschreitet die Körperlänge stetig
tels sogenannte Mittelmaß und läßt sich im Durchschnitt auf 170 Centimeter an-
Neben. Allen Dnlbewvhnern ist große Freimütigkeit und offne Ehrlichkeit
des Auftretens zu eigen, daneben anch stark entwickeltes Selbstgefühl und
ausgeprägter Sinn für Humor (Mutterwitz). Als Ursache für die von den
andern Schweden teilweise abweichenden Eigenschaften und Merkmale der Dalrasse
betrachtet Professor Retzius vorzugsweise die Entlegenheit der Provinz Dnlarue und
die Abgeneigtheit der dortigen Bevölkerung, mit den übrigen Teilen des Landes
w lebhaftem Verkehr zu treten. — Von Rechts wegen soll man also die Persön¬
lichkeiten zur Repräsentation Wagnerischer Götter- und Heldengestalten ans Dale-
lnrlien beziehn; aber die Charaktereigenschaften der „großen Freimütigkeit und offnen
Ehrlichkeit des .Handelns" müßten die Wotan, Loge, Hagen für das Spiel zu Hanse
l
Wer sich ein getreues Bild vom Aussehen der berühmten
"Marskanäle" verschaffen will — die ja seit ihrer Entdeckung einen ganzen Wust
"bentenerlicher Erklärungsversuche hervorgerufen haben —, der thue nichts weiter,
"is sich eine Tasse recht heißen Kaffees oder auch Thees kochen zu lassen und d,e
Oberfläche des Getränks — wenn sie vollständig zur Ruhe gekommen ist! —
von der Seite gegen das Licht zu betrachten. Der aufsteigende Dampf hat nämlich
die Eigenschaft/sich in geradlinigen Rissen zu spalten, die auf der Oberfläche der
Flüssigkeit ein ganz täuschend ähnliches Bild der „Mnrsknrte" hervorbringen.
Wenn ich wagen wollte, aus dieser Erscheinung zu den vielen gelehrten Er¬
klärungen des berühmten Problems noch eine laienhafte hinznznkvnstrnieren — so
w"'re das jn anmaßend - - aber vielleicht gar nicht so sinnlos. Wie wäre es
^"u, wenn der Mars nnn eben sozusagen aus dem Zustande des Kochens in
den des Erkaltens zu trete» im Begriff wäre — wenn er, wissenschaftlicher ge¬
sprochen, aus dem gasförmigen in den glühend-flüssigen überginge und dabei
gleich meiner Kaffeetasse Dämpfe ausströmte? Es muß jn nicht gerade Wasser sein,
was da verdunstet. — Aber den Mars mit einer Kasfetnsse zu vergleichen — wie
Vor
kurzem ist in dem Verlage von Bernhard Tanchnitz in Leipzig eine Sammlung
der Dichtungen des Königs Johann von Sachsen erschienen, die sicherlich
in weiten Kreisen große Freude hervorrufen wird. Ein Teil der Gedichte ist zwar
schon 1878 in dem Charcikterbilde des Königs, das der Staatsminister Dr. von Falken¬
stein herausgegeben hat, veröffentlicht worden. Vermehrt und vervollständigt hat
das dort Gebotene dann der Vorsteher der Sekundvgenitnrbibliothek Geheimer Hof¬
rat Petzholdt in seinem Buche „Aus dein Nachlasse des Königs Johann von Sachsen"
(Dresden, 1880) und in einer Reihe kleinerer Veröffentlichungen in Zeitschriften
und Zeitungen. Da diese aber zerstreut und dem großen Publikum nicht leicht
erreichbar sind, blieb immer der Wunsch bestehn nach einer zugänglichen vollständigen
Sammlung. Dieser Wunsch ist nun durch die Königin Carola erfüllt worden,
und zwar nicht bloß auf ihre Anregung, sondern unter ihrer thätigen Mitwirkung:
sie nennt sich selbst als Herausgeberin nicht nur auf dem Titelblatt, sondern auch
in dem kurzen Geleitswort, das sie dem Buche mitgegeben hat: „Jn dankbarer
und verehrnngsvvller Erinnerung an den teuer«?, geliebten Verstorbnen im An¬
schluß an seinen hundertjährigen Geburtstag zu wohlthätigen Zwecken herausgegeben
von Carola, Königin-Witwe von Sachsen." Natürlich hat die hohe Fron einen
sachkundigen Helfer gehabt, der sich nicht genannt hat, ans dessen Feder aber das
Vorwort geflossen ist, das über die Entstehung des Buches kurz berichtet.
Was der Sammlung noch besondern Wert verleiht, ist das, daß sie sich nicht
darauf beschränkt hat, das früher zerstreut Veröffentlichte zu vereinigen, sondern daß
sie auch eine Anzahl bisher noch unbekannter Gedichte (vierundzwanzig) hinzugefügt
und die Texte der schon bekannten zum Teil berichtigt hat nach einer Handschrift,
die nnvermuteterweise im Goethe-Schiller-Archiv in Weimar zu Tage gekommen ist.
Goethe hatte im Jahre 1829 den Wunsch geäußert, die Gedichte des Prinzen Johann
kennen zu lernen. Der sächsische Gesandte am großherzoglichen Hofe in Weimar
übernahm die Vermittlung, und „ein sehr sauber geschriebnes Manuskript mit zwei-
undzwanzig Gedichten des Prinzen wurde an Goethe gesandt." Dieses Manuskript
wurde im Februar d. I. dem Prinzen Johann Georg von Sachsen bei einem Be¬
suche des Goethe-Schiller-Archivs vorgelegt. Eine genaue Durchsicht, die dann vor¬
genommen wurde, ergab uicht nur manche Textverbessernngen zu den bei Falken¬
stein und Petzholdt abgedruckten Gedichten, sondern auch elf bisher uoch uicht bekannte
Dichtungen aus der Jugendzeit des Prinzen. In der vorliegenden Sammlung
sind die vierundzwanzig neu hinzugetummenen mit einem Stern bezeichnet. Welche
davon aus der an Goethe gesandten Handschrift stammen, und welche Gedichte
überhaupt diese Handschrift enthält, erfahren wir nicht. Doch ist ihr höchst wahr¬
scheinlich entnommen eine interessante Beigabe zu der vorliegenden Sammlung'
ein Faksimile des schönen Gedichts, das Prinz Johann ans die Geburt seines ersten
Sohnes, des Prinzen Albert, gedichtet hat.
Der bekannte Lyriker Karl Angust Förster (gestorben 1841 als Professor am
Kadettenhause in Dresden), unter andern, der Verfasser des Gedichts „Erinnerung
und Hoffnung," dessen Anfangszeiten (Was vergangen, kehrt nicht wieder usw.)
znhligemal angeführt und benutzt worden sind, hatte das frohe Ereignis der Geburt
des Prinzen dnrch einen poetischen Glückwunsch „Lcnzesfreude" gefeiert. Diesen be¬
antwortete Prinz Johann mit dem Gedicht, das in der vorliegenden Sammlung unter
der Überschrift „Vatergedanken am 2!;. April 1828" wieder abgedruckt und zu¬
gleich in einer getreuen Nachbildung der Handschrift des Prinzen (doch wohl aus
dem Goethe-Schiller-Archiv) beigegeben ist.n
Die Schriftzüge des Prinzen werden Ungeübten ans den ersten Blick nicht gaz
leicht leserlich erscheinen. Aber in wenig Augenblicken hat man sich eingelesen, und
Wie es dem Verfasser dieser Zeilen gegangen ist, wird es jedem gehn: er wird zu¬
nächst die Handschrift mit Hilfe des Drucks lesen, bald aber das Verfahren um¬
kehren und den Druck mit Hilfe der Handschrift lesen, denn er gewahrt zwischen
beiden — auffällige Abweichungen!
Das Gedicht hat fünf Strophen von je acht Verszeilen, Strophe 2, Zeile 1
bietet der Druck überwacht, die Handschrift unerweckt, Zeile 3 der Druck ver¬
steckt, die Handschrift verdeckt. Strophe 3, Zeile 8 liest mau im Druck: als
mächtgeu Hort, in der Handschrift: als sicherm Hort. Strophe 4, Zeile 7
heißt es im Druck Macht, in der Handschrift Nacht. Strophe 5, Zeile 2 hat
der Druck: Wände' er dankend seinen Blick, die Handschrift: Wandte dankend
sich sein Blick. Man sieht ja nun sofort, daß zwei von diesen Abweichungen
nicht verlesen sein können, nämlich die in Strophe 3 und 5. Das Gedicht ist
zuerst 1851 in den „Hamburger litterarischen und kritischen Blättern" abgedruckt
worden, und so, wie es dort steht, haben es Fnlkenstein und Petzholdt nachgedruckt.
Wahrscheinlich geht jene erste Veröffentlichung auf eine Handschrift des Prinzen oder
auf eine Abschrift zurück, in der die angeführten Abweichungen wirtlich gestanden
haben. Dann haben aber die Lesarten der faksimilierten Handschrift unzweifelhaft
mis beabsichtigte Verbesserungen des Dichters zu gelten, und das sind sie auch. Die
Abweichungen der Strophen 2 und 4 aber lassen sich nur so erklären, daß die
bisherigen Drucke durch Lesefehler entstellt sind. In Strophe 4 muß es unbedingt
heißen: der Vorurteile Nacht, denn die Nacht ist dem Lichte der Erkenntnis
gegenübergestellt. In Strophe 2 aber giebt überwacht überhaupt kein Sinn, es ist
unzweifelhaft verlesen für unerweckt; dasselbe gilt von versteckt und verdeckt.
Wir möchten also bitten, das schöne Gedicht, das sicherlich auch in Zukunft
in geschichtlichen Darstellungen wie bei festlichen Anlässen noch oft angeführt werden
Wird, nur in der Form anzuführen, die die faksimilierte Handschrift bietet, und
W der es lautet:
Der Verfasser verwendet ein großes und gutes Stück Arbeit an eine Schrulle.
Er kritisiert in seinem 092 Seiten starken, gediegen ausgestatteten Buche die be¬
stehende Produktionsordnung, und zwar ganz vortrefflich, und malt dann den kom¬
munistischen Zukunftsstaat. Und zwar behandelt er diesen nicht als unterhaltende
Utopie, konstruiert ihn auch nicht, wie Thüren seinen isolierten Staat, um an dem
selbstverständlich unrealisierbaren Muster volkswirtschaftliche Gesetze zu demonstrieren,
was wissenschaftlich zulässig und unter Umständen sogar notwendig ist, sondern er
glaubt, daß wir diesen seinen Staat in nicht zu ferner Zukunft wirklich haben
werden, und beschreibt die Stufen, über die wir aus dein Gegenwartsstaat in ihn
hineingelangen sollen. Eine solche Illusion konnte man dem phantasievollen Drechsler¬
meister Bebel vor neunzehn Jahren verzeihen; wenn ihr heute ein, wie es scheint,
akademisch gebildeter Manu unterliegt, so macht das einen peinlichen Eindruck.
Übrigens bekämpft Reval die Sozialdemokratie, weil sie das Privateigentum nicht
energisch und unbedingt genug verwirft, weil sie staatsfeindlich ist (er sieht im
Staate die Organisation der Gesellschaft, die allein dem Einzelnen Leben und Wohl¬
fahrt sichern könne, und wünscht nicht eine Weltrepublik, sondern will die historisch
gewordnen Staaten fortbestehn lassen), und weil sie dem Unterschiede der Begabungen
und Leistungen zu wenig Rechnung trägt. Solchen Leuten, die in unsrer heutigen
Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung nicht die zur Zeit allein mögliche Form des
seiner Natur nach mit unheilbaren Übeln behafteten Menschendaseins sehen, sondern
sie für ideal halten, kann man das Buch immerhin empfehlen.
Der Verfasser hat nicht die Absicht, die vielen vorhandnen Meinungen über
das Wesen der Seele durch seine eigne zu vermehren. Vielmehr geht er kritisch
vor und behandelt in überaus klarer Darlegung und mit Hilfe einer streng natur¬
wissenschaftlichen Methode die Frage, ob mau von denselben als richtig anzuerken¬
nenden Voraussetzungen ausgehend, auf denen der gegenwärtige Materialismus fußt,
zu der Leugnung der Seele kommen müsse. Hierbei werden wohl alle in Betracht
kommenden Ansichten über das Wesen der Seele besprochen. Der Verfasser findet,
daß die Naturwisscnschcift, die sich mit Vorliebe die exakte Wissenschaft nennt, in
ihrer Methode manchmal doch nicht exakt genng ist, der Gefahr zu entgehn, ihren
eignen Boden zu verlassen und auf Irrwege zu gerate», und wird durch die Über¬
zeugung von der Unmöglichkeit einer unmittelbaren Fernwirkung und durch die
Thatsache von der Einheit des Bewußtseins zu der Annahme gebracht, daß es eine
selbständige, Substanzielle, mit dem Gehirn in genauer Wechselwirkung stehende, in
sich einheitliche und darum unsterbliche Seele gebe. Das Buch sei alleu, die sich
über die vorgenannte Frage, die sicher zu den wichtigsten der derzeitigen Kultur
gehört, unterrichten wollen, bestens empfohlen.
erner Sombarts Werk: Der moderne Kapitalismus
(Leipzig, Duncker und Humblot, 1902; 1, Band XXXIV und 669,
2, Band VIII und 646 Seiten) ist schon deswegen, weil es die
UnHaltbarkeit vieler herrschender Meinungen aufdeckt, so wichtig,
daß jeder Gebildete den Hauptinhalt kennen muß. Wir suchen
ihn unsern Lesern zu vermitteln, soweit es in den gezognen Grenzen möglich
ist, und heben besonders solche Ergebnisse der Forschungen des Verfassers
hervor, die mit unsern eignen bisherigen Ansichten im Widerspruch stehn.
Die Einleitung handelt von der Organisation der Wirtschaft, macht den
Unterschied von Betrieb und Wirtschaft klar, erläutert das Wesen der Fabrik
und lehrt, wie sich die verschiednen Wirtschaftsstufen, Wirtschaftsarten, Wirt¬
schaftsformen und Wirtschaftsperioden voneinander unterscheiden. Das Wesen der
Fabrik ist „die Objektivierung des Produktionsprozesses, seine völlige Loslösung
von den lebendigen Menschen, seine Übertragung auf ein System lebloser Körper."
Durch Maschinerie und wissenschaftliches Verfahren überwindet sie die quali¬
tative wie die quantitative Beschränktheit des individuelle» Arbeiters. „In
einem etwas kühnen Bilde gesprochen: die Fabrik ist das Werkzeug des kollek¬
tiven Gesamtarbeiters, mittels dessen er Kraft, Feinheit, Sicherheit, Schnelligkeit
über die Schranken des Organischen hinaus zu entwickeln vermag. Des Ge¬
samtarbeiters, der in der Fabrik allein noch waltet; denn das ist, negativ
ausgedrückt, Charakteristik^ der Fabrik, daß in ihr für irgend welche Ent¬
faltung individuell-persönlichen Wirkens kein Raum mehr ist. Deshalb stellt
die Fabrik die konsequenteste Durchbildung des Prinzips gesellschaftlicher Pro¬
duktion dar, ohne doch als die höchste Form der Betriebsanordnung überhaupt
gelten zu dürfen, die vielmehr in zwei Gestaltungen zu jeweils höchster Voll¬
endung gelangt: in Fabrik und Manufaktur." Die verschiednen Wirtschafts-
"reen lassen sich in zwei Hauptgruppen zusammenfassen, je nachdem sie der
Bedarfsdeckung oder dem Erwerb, der Reichtumsvermehrung dienen, chrema-
tistisch sind. „Daß natürlich alle Produktion am letzten Ende durch individuelle
Konsumtionsmöglichkeit beschränkt ist, also schließlich auch alle Produkte per¬
sönlichem. Bedarf dienen, ist selbstverständlich. Es ändert aber nichts an der
Thatsache, daß in der Erwerbswirtschaft bestimmend für das Wirtschaftssubjekt
niemals ein objektiver Bedarf an Gebranchsgütcrn, sondern immer nur die
Aussicht auf Gewinn ist." Es sind vier Arten von Bedarfsdeckung zu unter¬
scheide», die sieben verschiedne Wirtschaftsnrten begründen. Der eigne Bedarf
wird durch eigne Arbeit gedeckt in der urwüchsigen Geschlechterwirtschaft, in
den slawischen Hauskommuuiouen, in vereinzelten Eigenwirtschaften (z. B. von
Hinterwäldlern) und in Bewirtschaften. Der eigne Bedarf wird durch fremde
(Sklaven-) Arbeit gedeckt in der gruudherrschaftlichen oder Oikenwirtschaft. Der
fremde Bedarf wird durch eigue Arbeit gedeckt in der Tauschwirtschaft, namentlich
in der Stadtwirtschaft, und „Deckung des fremden Bedarfs dnrch fremde Arbeit
würde das Prinzip eines Wirtschaftssystems sein, wie es in einem sozialistisch
organisierten Gemeinwesen höherer gesellschaftlicher Ordnung herrschen müßte."
Da der Verfasser zunächst beschreiben will, wie der moderne Kapitalismus
entstanden und zum Siege gelangt ist, der Kapitalismus aber in der Land¬
wirtschaft eigentümliche Widerstände zu überwinden hat und eigentümliche Formen
annimmt, so soll die agrarische Produktion in einem dritten Baude besonders
behandelt werden, und die beiden vorliegenden Bände beschränken sich auf die
städtische, die gewerbliche Produktion und den Handel. Das erste Buch des
ersten Bandes ist darum dem Handwerk gewidmet.
Handwerk ist nach Svmbnrt „die Wirtschaftsform, die hervorwüchst aus
dem Streben eines gewerblichen Arbeiters, seine zwischen Kunst und gewöhn¬
licher Handarbeit die Mitte haltende Fertigkeit zur Herstellung oder Bearbeitung
gewerblicher Gebrauchsgegenstände in der Weise zu verwerten, daß er sich
durch Austausch seiner Leistungen oder Erzeugnisse gegen entsprechende Äqui¬
valente seinen Lebensunterhalt verschafft." Manches, was man sich als
charakteristisch für den Handwerker anzusehen gewohnt hat, wird verworfen,
z. B. daß der Handwerker für Kunden arbeite; auch ein Krupp arbeitet nur
für Kunden, nicht für den Markt. Charakteristisch für den Handwerker ist nur
zweierlei. Erstens, daß er ein standesgemäßes Einkommen anstrebt: „nicht
weniger, aber auch nicht mehr," daß er nur „seine Nahrung" haben will, daß
also sein Vermögen nicht den Kapitalcharakter trägt, denn das Kapital im
modern technischen Sinne wird nicht dazu verwandt, seineu Besitzer zu er¬
nähren, sondern sich selbst zu vergrößern, neues Kapital zu schaffen. Die
zweite Eigentümlichkeit des Handwerks ist, daß jeder, der es ausübt, darin
seine Persönlichkeit bethätigt. Es ist eine Thätigkeit, „die sich soweit aus¬
dehnt, als die einzelne Hand zu herrschen und zu schaffen vermag." Die Be¬
schränktheit dieses Vermögens zwingt zur Berufsgliederung. Das Werk des
Handwerkers aber ist der getreue Ausdruck seiner Persönlichkeit. „Handwerker¬
ware ist bei aller Trnditivnalität des Verfahrens doch immer individuelles
Werk. Es trügt ein Stück Seele in die Welt hinaus. Von den Leiden und
Freuden seines Schöpfers weiß es zu erzählen. Kommt auch nicht jedes paar
Schuhe zustande, wie es der Sachs in der Johannisnacht zusammenschlügt ^
Einflüsse mannigfacher Art werden sich immer bemerkbar machen: jeder Ärger
über das Kind, jeder Zank mit der Frau." Nicht „die Volksseelen der ger¬
manischen Stämme, in deren Tiefe die Genosfenschaftsidee ihre Wurzel habe,"
hat die Zunft erzeugt, sondern diese ist aus der Natur des Handwerks und
aus seinen Bedürfnissen überall hervorgewachsen, wo es Handwerker gab. Daß
die Zünfte ursprünglich liberal gewesen sind, daß, wo die Bedingungen für
das Handwerk vorhanden sind, dieses keiner gesetzlichen Schutzmaßregeln bedarf,
und daß, wo jene nicht vorhanden sind, diese nichts nützen, haben wir oft
gezeigt, und Sombart zeigt dasselbe. Die natürlichen Bedingungen, die dem
Handwerker im frühern Mittelalter sein behäbiges Auskommen und wachsenden
Wohlstand sicherten, waren: die langsame Volksvermehrung und der Abfluß
etwaiger ländlicher Überschnßbevölkernng nach den östlichen Kolonialgebieten;
beides beschränkte die Zahl der Handwerker ein paar Jahrhunderte lang in
dem Grade, daß keine Konkurrenz ihre Monopolpreise bedrohte. Und bei
dem niedrigen Stande der Technik war auch keine Gefahr vorhanden, daß bei
gleichbleibender Arbeiterzahl die fortschreitende Produktivität der Arbeit die
Warenmenge Hütte vermehren und dadurch Verbilligung erzwingen können.
Der Handwerker verfuhr empirisch; sein Verfahren war ein Knnstverfahren,
die Ausübung einer Kunstfertigkeit, die auf der persönlichen Erfahrung von
der Zweckmäßigkeit gewisser Verrichtungen ruhte. Er arbeitete nach Regeln,
die er von eigner Erfahrung abgeleitet oder von seinem Lehrmeister er¬
halten hatte. Der Erfolg der Arbeit hangt ganz von seiner Persönlichkeit,
von der Beschaffenheit seiner geistigen Anlagen, seiner Augen, Ohren und
Hände ab. Seine Kunst stirbt mit ihm, soweit er sie nicht auf Lehrlinge über¬
tragen hat, die sie ohne wesentliche Änderung weitertreiben. Das empirische
Verfahren übt einen sehr guten Einfluß auf den Charakter, indem es den
Berufsstolz und die Standesehre erzeugt, die beide immer mit einer mühsam
erworbnen Kunst verbunden sind. Solche Kunst wurde sogar, namentlich
die Baukunst, zum eifersüchtig bewahrten Mysterium erhoben, dessen würdige
Priester die Eingeweihten waren. „Daß eine Düngerfabrik, eine Anstalt zur
Herstellung des besten Haarwassers oder der haltbarsten Pneumatik ähnliche
Seelenstimmungen weder im Unternehmer noch im Arbeiter zu erzeugen ver¬
mögen, ist handgreiflich." Aber technisches Wissen und Fertigkeit werden beim
empirischen Verfahren nur laugsam und wenig vermehrt. Der Handwerker
hat keinen Anlaß, seine Erzeugnisse besser machen zu wollen als sein Lehr¬
meister. Etwaige Verbesserungen werden dem Zufall verdankt; und wenn
ninerer Drang einen Ehrgeizigen oder einen begabten Grübler treibt, da bleiben
seine Versuche „ein ungeschicktes Herumtasten und Herumprobieren im Dunkeln,
ohne klares Bewußtsein einer bestimmt zu lösenden Aufgabe." So konnte es
^so zu einem verbesserten Verfahren, das die Produktivität gesteigert hätte,
uicht kommen; die Erzeugnisse des Handwerkers blieben teuer, die Schwierigkeit
des Transports schützte ihn auch vor auswärtiger Konkurrenz, und kein Mode¬
wechsel raubte ihm seine sichre, fest umgrenzte Kundschaft, seine „Nahrung."
Die Versorgung entfernter Märkte betraf fast nur Spezialitäten, deren Her¬
stellungsart lange Geheimnis blieb, sodciß auch diese auswärtige Kundschaft
gesichert war. Diese glückliche Zeit dauerte bis etwa 1300. Dann beginnt
^ Zeit, wo die Handwerker von der Konkurrenz bedrängt werden, und das
Handwerk zuletzt nur durch „Hilfskonstruktivuen" über Wasser gehalten wird,
die Zeit, die, wie im zweiten Buche gezeigt wird, sehr langsam — es waren
500 Jahre nötig — den Kapitalismus gebiert.
Seine Geburtsstätte ist der Handel. Aber nicht etwa der mittelalterliche
Warenhandel. Sombart weist nach, daß dessen Umsätze lächerlich gering waren.
So z. B. erscheinen 1303 nicht weniger als 47 hanseatische Wollhändler in
Boston, dem englischen Hauptausfuhrhafen für Wolle, von denen der bedeutendste
91 Sack kauft, während sich 35 in 305 Sack teilen; „jeder einzelne von diesen
ist also nach England gereist, um weniger als 20 Doppelzentner Wolle nach
Hause zu bringen." Und auch der Verdienst war gering, weil der bedeutende
Unterschied zwischen dem Einkaufs- und dem Verkaufspreise größtenteils von
den hohen Transportkosten verschlungen wurde. Ja diese Händler sind gar
nicht einmal auf hohen Gewinn ausgegangen. „Es giebt nichts Thörichteres,
als das Mittelalter mit kapitalistisch empfindenden und ökonomisch geschulten
Kaufleuten zu bevölkern." Der mittelalterliche Warenhändler war ein Hand¬
werker, der geradeso wie die übrige» Handwerker eben nur seine Nahrung haben
wollte und im „gerechten Preise" den Lohn für die von ihm geleistete tech¬
nische Arbeit: Verpacken, Begleiten der Warmhalten, Zumessen mit der Elle usw.
empfing. Gelegentlich fabrizierte er auch noch eigenhändig, z. B. als Weber.
Die eigentlich kaufmännischen Leistungen sind Kalkulation und Spekulation,
durch die man einen Markt zu gewinnen, zu behaupten und zu beherrschen
sucht; die Waren an den Mann zu bringen, das ist die Aufgabe des modernen
Kaufmanns. Dieser entsteht darum erst auf dem übersetzten Markt. Der mittel¬
alterliche Händler, der einen festen Kundenkreis bediente, konnte keiner werden;
er brauchte nicht zu kalkulieren und zu spekulieren, und er that es nicht. Die
Natur des mittelalterlichen Handels drückt sich auch in den bekannten Rechts¬
formen, z. B. im Zinsverbot aus: es darf keinen Geschüftsgewinn, sondern nur
Arbeitslohn geben, Lohn für Arbeit, die zum Zweck der Bedarfsdeckung ge¬
leistet wird. Bedeutende Handelsoperationen werden im Mittelalter nur von
Nichtkaufleuten ausgeführt: von Ratsherren und Bürgermeistern, von Fürsten,
von weltlichen und geistlichen Grundherren. Sie alle treiben gelegentlich Handel,
weshalb in den Quellen manchmal alle Patrizier, alle Vollbürger einer Stadt
Kaufleute heißen. Mit der Hervorhebung dieser Thatsache ist Sombart der
„Genesis des modernen Kapitalismus," die er im zweiten Buche darstellt, schon
ganz nahe gekommen.
„Kapitalismus heißen wir eine Wirtschaftsweise, in der die spezifische Wirt¬
schaftsform die kapitalistische Unternehmung ist. Kapitalistische Unternehmung
aber nenne ich diejenige Wirtschaftsform, deren Zweck es ist, durch eine Summe
von Vertragsabschlüssen über geldwerte Leistungen und Gegenleistungen ein
Sachvermögen zu verwerten, d. h. mit einem Aufschlag (Prosit) dem Eigen¬
tümer zu reproduzieren. Ein Sachvermögen, das solcher Art genutzt wird,
heißt Kapital. ... Es ist vor allem wichtig, zu erkennen, daß für jede in
der kapitalistischen Unternehmung entfaltete Thätigkeit nicht mehr der quanti¬
tativ und qualitativ fest umschriebne Bedarf einer Person oder einer Mehrheit
von Menschen richtunggebend wirkt, sondern daß Quantum und Quäle der
Leistungen nur noch unter dem unpersönlichen Gesichtspunkt einer Verwertung
des Kapitals betrachtet werden dürfen. In der Überwindung der Konkretheit
der Zwecke liegt die Überwindung ihrer Beschränktheit eingeschlossen. Die Zwecke
der kapitalistischen Unternehmung sind abstrakt und darum unbegrenzt. ^Des¬
halb u. a. mißbilligte Aristoteles die Chrematistik, die er der Ökonomik, der
Bedarfsdeckung entgegensetzte.^ Indem wir diese fundamentale Eigenart der
kapitalistischen Unternehmung feststellen, wird ersichtlich, daß wir sie als den
vollendeten Typus der Erwerbswirtschaft charakterisieren. Wie entscheidend
wichtig aber die in der Zwecksetzung der kapitalistischen Unternehmung vorge-
nommne Verselbständigung des Sachvermögens ist, geht von vornherein ans
der damit bezeichneten Thatsache hervor, daß in ihr die Möglichkeit einer
Emanzipation auch von den Schranken des individuellen und damit zufälligen
Könnens und Wollens überhaupt eingeschlossen liegt. Dasein das Wirtschafts-
sübjekt — der kapitalistische Unternehmer — gleichsam nur der Repräsentant
seines Sachvermögens ist, so ist es auch vertretbar. Nicht sein individuelles
Können entscheidet notwendig über die im Rahmen der kapitalistischen Unter¬
nehmung vollzogne Thätigkeit, wie etwa im Handwerk j gemeint ist wohl: über
den Erfolg dieser Thätigkeit^, sondern die durch Nutzung des Sachvermögens
ausgelösten Kräfte und Fähigkeiten andrer Personen sz. B. der von den Aktio¬
nären besoldeten Direktoren und Technikers. In diesem Umstände liegt die
Erklärung für die ungeheure Energie, die alle kapitalistische Wirtschaft zu ent¬
falten vermag." Die Thätigkeit des kapitalistischen Unternehmers oder seines
besoldeten Vertreters ist erstens disponierend-organisierend, zweitens kalkuln-
torisch-spetnlativ, drittens rationalistisch. Das dritte will sagen, „daß das
Handeln der kapitalistischen Unternehmer ein bewußtes Handeln nach Gründen
ist- Zur Begründung ihrer Handlungsweise bedürfen sie aber einer Aufdeckung
der kausalen Beziehungen, einer Ordnung der Dinge nach der Kategorie von
Ursache und Wirkung. Diese Eigenart der kapitalistischen Denkweise wird dann
die mächtigste Förderin einer rationalistischen, insonderheit kausalen Betrachtung
der Welt; die spezifisch-moderne Weltauffassung, die auf dem Postulat strikter
Kausalität aufgebaut ist, ist aus innerst kapitalistischen Geist geboren. Es wird
zu zeigen sein, daß die ersten, in dem bezeichneten Sinne modernen Geister
dies waren und sein konnten, weil sie Kaufleute waren. >Diesen Nachweis
scheint mir Sombart schuldig geblieben zu sein.j Die moderne Naturwissenschaft
selbst ist aus dem Hauptbuche geboren worden." Die Mutterschaft erlaube ich
wir zu bezweifeln, aber daß das Kapital die Amme der modernen Naturwissen¬
schaften gewesen und heut ihre Nährmutter, oder etwas anders aufgefaßt, ihr
Brodherr ist, das kann allerdings niemand bestreiten.
Zwei Voraussetzungen mußten erfüllt werden, wenn der Kapitalismus
entsteh» sollte: es mußten große Vermögen in Geldform aufgehäuft werden,
und es mußte der kapitalistische Geist vorhanden sein. Die Geldform war
notwendig, denn nur bei ihr „ist die dem Wesen der kapitalistischen Unternehmung
eigentümliche Rechenhaftigkeit des wirtschaftlichen Gebarens, ist die ungehinderte,
unausgesetzte, auf ziffermäßiger Feststellung von Leistung und Gegenleistung
^rechnete Vertragschließung, die den Kern der kapitalistischen Unternehmung
bildet, denkbar." Das Kapital in diesem Sinne geht von der Geldform ans
und kehrt durch alle Verwandlungen, die es im Verlaufe des Unternehmens
durchmacht, in die Geldform zurück. In der Untersuchung der Art und Weise,
wie Kapitalprofit möglich ist, weist Sombart die Marxische Mehrwertlehre
zurück. Ausbeutung der Lohnarbeiter kommt vor, gehört aber nicht zum Wesen
des Kapitalismus. Den Arbeitern braucht nichts entzogen zu werden; sie können
sogar höhern Lohn für ihre Leistungen bekommen, als sie erlangen würden,
wenn kein kapitalistisches Unternehmen vorhanden wäre. Wohl aber müssen
die selbständigen in Not geraten oder ihre Selbständigkeit verlieren, wenn
kapitalistische Unternehmungen entstehn sollen, weil diese sonst keinen Lohn¬
arbeiter finden würden. Den Kapitalprofit zahlt die Kundschaft des Unter¬
nehmers, entweder die Massenknndschaft einer dichten Bevölkerung, sodaß er
aus kleinen Beträgen zusammenrinnt, oder ans hohen Aufschlägen, die reiche»
Kunden zugemutet werden können. Reiche Kunden sind aber solche, die nicht
mit eigner, sondern mit fremder Arbeit bezahlen. Wie die erste große Differen¬
zierung der Arbeit in Urproduktion und Gewerbe voraussetzt, daß die Arbeit
des einen Bauern produktiv genug geworden ist, zwei Familien zu nähren,
so setzt der Kapitalismus einen Grad von Produktivität voraus, der die Ein¬
schränkung der im engern Sinne produktiven Thätigkeit auf einen Teil der
Volksgenossen zuläßt. Es muß Menschen geben, die nicht mit produzieren,
sondern nur konsumieren, und zwar Luxusgegenstände konsumieren. Die Kapi¬
talisten gehören selbst mit zu dieser Menschengattung, womit natürlich nicht
gesagt ist, daß sie sämtlich unproduktiv sein müßten; den Anteil, den viele von
ihnen als Organisatoren und Leiter von Unternehmungen an der Produktion
haben, unterschützen bekanntlich Marx und seine Schiller.
Das Kapital im Sinne Sombnrts ist nun also, wie er nachweist, nicht
im mittelalterlichen Warenhandel entstanden. Größern Gewinn hat dieser
nur solchen Personen abgeworfen, die schon reich waren, ehe sie gelegentlich
Handelsgeschäfte machten. Ans die tiefste und letzte Quelle des Reichtums,
d. h. des Privatbesitzes an Reichtum, die vorgeschichtliche Okkupation oder
Raub ist, will er uicht zurückgehn. Er bleibt bei den Quellteichen stehn, die
im historischen Lichte daliegen. Diese sind die Apostolische Kammer, die be¬
sonders reichlich durch die Kreuzzugszehnten gespeist wurde, die Geldschätze der
Könige von Frankreich und England, die Rentenkammern der Ritterorden, der
ländlichen und der städtischen, der weltlichen und der geistlichen Grundherren.
Bischöfe und Klöster waren genötigt, ihre Nentenberechtigungen in die Geldform
zu verwandeln, weil sie in dieser ihre Zahlungen nach Rom leisten mußten. Ans
diesen Quellteichen fließt der Gvldstrom den Ahnen des spätern Kapitalisten¬
geschlechts zu, teils auf legitimen Wegen, indem die Bankiers, Münzmeister,
Steuererheber, Steuerpächter, Rentmeister und sonstigen hohen Beamten Ge¬
halt und Ertraganteile beziehn, teils auf dem illegitimen Wege des Wuchers.
Und für beide Arten von Bereicherung gilt wieder der Spruch, daß nnr dem
gegeben wird, der schou hat. Obwohl es Sombart nicht für unmöglich hält,
daß hier und da auch aus kleinen Anfängen große Vermögen entstanden seien
(gerade bei dem größten Vermögen der vorkapitalistischen Zeit, dein der Fugge^
ist es der Fall), so bestreitet er doch entschieden, daß es die Regel gewesen
sei. Zu großen Geldmännern schwangen sich im allgemeinen nur städtische
Patrizier auf, und diese waren die Nachkommen der ursprüngliche,, Vollbürger
und Grundbesitzer des städtischen Weichbilds; durch die mit der wachsende»
Bolkszahl steigende Grundrente waren sie reich geworden. Die Geldaristokratie
des ausgehenden Mittelalters ist also nicht durch eine Differenzierung des
Hnndelsstandes in Krämer und Großhändler entstanden, sondern ist ein Teil
der grundbesitzenden Geburtsaristokratie, eine Klasse von thäti xosÄäsntss, die
ihren Besitz dem Erbrecht verdanken. Auch der Wucher bereicherte nur, wenn
er von schon Vermögenden im großen betrieben wurde. Wer mit ein paar
hundert Gulden anfing, der wurde durch den ersten Zinsenausfall, durch den
ersten Verlust der vorgestreckten Summe auf den Ausgangspunkt seiner Thätig¬
keit, in die Vermögenslosigkeit zurückgeschleudert. Die Naturgeschichte des mittel¬
alterlichen Wuchers haben wir bei andern Gelegenheiten zur Genüge behandelt.
Sombart beleuchtet die unlösliche Symbiose von Jude und Kavalier mit manchen,
hübschen Beispiel. Der weibliche Kavalier ist die Dame. Eine solche in
Schwabenland verkaufte ein Dorf, um sich fürs nächste Turnier ein blaues
Sammetkleid anschaffen zu können.
Auf diesen Wegen, nicht durch deu Warcnhandel, strömt in der Stadt Geld
zusammen, und erst nachdem dieses geschehn ist, vom vierzehnten Jahrhundert
ab, nimmt auch der Warenhandel größere Dimensionen an und wird er gewinn¬
bringender. Jetzt sangen die vornehmen Geldhändlcr, die bis dahin nur ge¬
legentlich Kanfmannsgeschüfte gemacht hatten, den Handel berufsmäßig zu
betreiben an. Die Zahl der alteingesessenen Geschlechter wird verstärkt durch
die in Italien erzwungne, in England (wo bloß London in Betracht kommt)
freiwillige Einwanderung des Landadels in die Städte. Der Reichtum der
spätmittelalterlichen Städte ist also der Hauptsache nach angesammelte Grund¬
rente, und es war weit weniger die günstige Vcrkehrslage als die Lage
in einer fruchtbaren, wohlcmgebanten Gegend, was einer Stadt zu Wachs¬
tum und Reichtum verhalf. Deshalb wurden die oberitalienischen Städte
so reich, und in Flandern die binneulündischen wie Upern und Gent früher
als Brügge. Die florentinischen Familien, aus denen die großen Bankiers
hervorgingen, die Bardi, Peruzzi, Frescobaldi, sind reich geworden, weil sie
den Grund und Boden von Oier' Arno besaßen, auf dem sich eine rasch¬
wachsende gewerbtreibende Bevölkerung ansiedelte. Ans den beschriebnen Wegen
sind in den Truhen städtischer Großhändler, Bankiers und Unternehmer
die aus der Römerzeit stammenden Edclmetallschütze zusammen geflossen samt
denen, die der mittelalterliche Bergbau dazu erwarb, denn auch der Kuxe der
kleinen Gewerken bemächtigten sich sehr bald die großen Geldleute.
Eine noch mächtigere Gold- und Silberader bohrte die Koloninlwirtschaft
"n; zunächst die in der Levante. Nicht mit mühsamer Arbeit wurde sie aus¬
gebeutet, sondern mit unverblümten Raub. Venedig und Genua sind die
Lehrmeister der Methode gewesen, nach der dann später die Portugiesen,
die Spanier, die Holländer, die Engländer auf dem durch die Entdeckungen
erweiterten Ausbeutungsgebiete gearbeitet haben. „Palästina und Syrien waren
unter deu Segnungen der ein halbes Jahrtausend dort heimischen Kultur
der Araber zu einem wahren Paradiese erblüht. Die Zeitgenossen der Kreuz¬
fahrer finden gar nicht Worte genug, den überquellenden Reichtum des
Landes zu schildern. Und dazu ein musterhafter Anbau ringsum," Diese
Länder, außerdem Kleinasien, die Balkanländer samt Griechenland, die Inseln,
das Nordufer des Schwarzen Meeres wurden nun von den Westeuropäern
ausgeraubt durch das Medium der Kreuzfahrerstanteu und der Handels¬
kolonien, Die Niederlassungen der Genueser, Pisaner, Florentiner waren
so wenig bloße Faktoreien wie die der Venetianer, von denen jn allgemein
bekannt ist, daß sie ein im Verhältnis zu ihrem winzigen Staate gewaltiges
Reich beherrscht haben; sondern jeder Kaufmann bekam eine bestimmte An¬
zahl von Bauern und Gewerbtreibenden — sowohl im byzantinischen wie
im arabisch-türkischen Teil der Levante war die Industrie hoch entwickelt —
als „Lehnsleute" zugeteilt, denen natürlich nicht die Pflicht der Heeresfolge
auferlegt wurde, sondern die als Hörige für ihre „Lehnsherren" arbeiten
mußten, und die mit unmenschlicher Härte ausgebeutet wurden. Nach dem
Muster dieser italienischen Niederlassungen haben später die Spanier in Amerika
ihre Encomiendas und noch später die Holländer und Engländer ihre indischen
Kompagnien eingerichtet. Auch die Sklnvenwirtschaft der Byzantiner und des
Kalifats wurde fortgesetzt, und es wurde ein schwunghafter Sklavenhandel be¬
trieben; besonders mit Kriegsgefangnen, nur natürlich nicht mehr mir christlichen,
sondern mit sarazenischen. Andre Gelehrte haben geglaubt, es habe sich bei dem
mittelalterlichen Sklavenhandel der Italiener nur um eine gemütliche Haus¬
sklaverei gehandelt (über diese berichtet eine Schrift von Dr. Agostino Zanelli,
die Sombart nicht zu kennen scheint); vielmehr habe dieser Sklavenhandel dem¬
selben Zweck gedient wie später der amerikanische, der grenzenlosen Bereicherung
der großen Kaufleute.
Wie dann die Portugiesen, die Spanier, die Holländer und die Eng¬
länder die italienische Methode aus Indien und Amerika angewandt haben,
ist bekannt. Außer dem Raub schlechthin, besonders dem Raub von Edel¬
metall, der Verurteilung der Eingebornen zu Zwangsarbeit und der Sklaven¬
wirtschaft wurde auch der Handel benutzt, aber ein Handel, bei dem der Euro¬
päer sowohl als Käufer wie als Verkäufer den Preis machte. Man bezahlte
die Gewürze der Eingebornen entweder mit Silber nach einer willkürliche»
Taxe oder mit europäischer Schundwarc, z. B. alten Kleidern, und man zwang
sie, Gegenstände, die sie nicht brauchen konnten, wie Spitzen, Stiefel, Bücher,
zu den unsinnigsten Preisen zu kaufen: ein Paar alte Stiefel um 300 Dukaten-
Die Sklaverei aber hat bekanntlich nicht allein durch die Sklavenarbeit, sondern
auch durch den Sklavenhandel gewaltige Reichtümer aufgehäuft. Man hat viel
von der UnProduktivität der Sklavenarbeit gesprochen, und es ist richtig, daß der
Sklave weniger und schlechter arbeitet als der freie Eigentümer des Landguts oder
der Werkstatt; aber unrentabel ist sie nicht. Weniger rentabel als freie Arbeit
nur dann, wenn diese sogenannte freie Arbeit ist, wenn, wie der von Röscher
als Hauptautorität für Kolonialwifsenschaft geschützte Merivale schreibt: vbsn
tuo xressure ok xopuls-lion mcweos ers<zmem de> oKor iiis serviess, »3 no
äoss W x>,U old oountriss, lor llttlo nor« denn naturlü Minimum ok vgZös,
sodaß die Lohnarbeit wohlfeiler zu stehn kommt als die Sklavenarbeit, die
dann auch noch durch die Erschöpfung des Sklavenmarktes verteuert werden
kann. Diese ist auch einigermaßen eingetreten, weil die Urbevölkerung Nord¬
amerikas ausgerottet, die Südamerikas, Afrikas und des asiatischen Archipels
stark vermindert worden war; namentlich waren viele Millionen Neger ver¬
braucht worden. „Wir siud reich geworden, weil ganze Rassen für uns ge¬
storben, ganze Erdteile für uns entvölkert worden sind." Dazu sind uralte
Zivilisationen vernichtet, ist der Boden dnrch Raubbau nnsgesogen, die Flora
und die Fanna ausgerottet worden. „Wo der Fuß des Europäers hingetreten
ist, da ist das Land verödet, ist der Pflanzenwuchs verdorrt." Als Gewährs¬
männer werden Peschel, Friedemann, Beer, A. von Humboldt und Bokemeyer
zitiert. Dieser schreibt über die Naubwirtschaft der holländisch-ostindischen
Kompagnie: „Das ausschließliche Streben nach Gewinn hatte dahin geführt,
die Außenbesitzungen völlig zu erschöpfen; die radikalen Mittel, die man an¬
wendete, endeten überall mit dem Elend der betroffnen Länder; die Besitzungen
waren ausgeraubt, und die Völker aus die tiefste Stufe der Armut herab¬
gedrückt. Noch einmal trat eine vorteilhafte Periode ein, als das noch un-
geschwüchte Reich Mataram (Java) der Kompagnie zum Opfer fiel. Kon¬
tributionen und gezwungne Lieferungen om, nists oder zu äußerst niedrigen
Preisen füllten aufs neue die Kassen der Kompagnie, bis auch diese letzte Quelle
mehr und mehr zu versiegen begann und gleichfalls der Erschöpfung anheimfiel."
So wurde die eine Voraussetzung des Kapitalismus: ein großer Edel¬
metallschatz, geschaffen, aber es fehlte uoch die andre: der kapitalistische Geist.
Die Geldgier, die durch den Anblick von Goldschätzen und durch die Gelegenheit
zum Raub erregt wurde, war dieser Geist noch nicht. Der Geist des Mittel¬
alters war, aller brutalen Habsucht von Einzelnen und ganzen Korporationen
ungeachtet, von der einen Seite gesehen, wie schon hervorgehoben wurde, christ¬
lich, indem er den Arbeitslohn für die einzige erlaubte Erwerbsform hielt, von
der andern Seite gesehen antik und ritterlich, indem er es für unanständig
und uiffein hielt, zu verdienen, wenn man das zum standesgemäßen Leben
erforderliche Einkommen hatte. Müßiggehn war für den Adel Pflicht, war
Bedingung des Eintritts ins städtische Patriziat. Die Ansicht, daß das Geld
nur zum Ausgeben da sei, und daß der Thaler keine Junge Hecken könne,
also auch von Rechts wegen nicht dürfe, gehört beiden innerlich verwandten
Lebensauffassungen an. Auch die Konquistadoren wußten es noch nicht anders:
hatten sie genug zusammengeraubt, so setzten sie sich zur Ruhe und verthaten
den Raub. Die Spanier sind nnn solche Hidalgos geblieben bis auf den
heutigen Tag, und deshalb sind die Edelmetallschätze durch ihr Land nur hin-
durchgestrvmt, ohne es dauernd zu bereichern. Im Norden ist der kapitalistische
^eist, nachdem er sich in den italienischen Städten halb unbewußt geregt
hatte, allmählich zu sich selbst gekommen, zuerst vielleicht in Jakob Fugger,
von dem sein Neffe Anton erzählt, Herr Jörg Thnrzo habe sich zur Ruhe
gesetzt und jenen aufgefordert, ein gleiches zu thun; der aber habe geantwortet,
das sei Kleinmut; er selbst habe viel einen andern Sinn, »volle gewinnen,
dieweil er könne.
In plebejisch nüchternen Seelen entwickelte sich dieser Geist (wie denn auch
die Fugger von niedrer Abkunft waren), und zuerst an Stammfremden, die
auszubeuten mau sich kein Gewissen machte, wie bei den Juden und in
Kolonien. Die kaltblütige Verständigkeit der Nordländer begünstigte seine Ent¬
wicklung. Calvin hatte, im Gegensatz zu dem altmodischen Luther, den Satz auf¬
gestellt: «mis clnbitat, xstmumiri verum inrckils esse-?, hatte also gemeint, das
Geld dürfe nicht müßig liegen, müsse sich vermehren, und diese Meinung wurde
gewissermaßen ein Gruudbestandteil der kalvinistischen Religion. Gothein be¬
merkt in der Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwalds: „Wer den Spuren kapi¬
talistischer Entwicklung nachgeht, in welchem Lande Europas es auch sei, immer
wird sich ihm dieselbe Thatsache aufdrängen: die kalvinistische Diaspora ist
zugleich die Pflanzschule der Kapitalwirtschaft. Die Spanier drückten sie mit
bittrer Resignation dahin aus: die Ketzerei befördert den Handelsgeist." Der
Handel wird nun kapitalistisch, schon bei den italienischen Großhändlern des
vierzehnten Jahrhunderts. „Mehr und mehr tritt die persönlich-technische Arbeit
des Kaufmanns zurück; er hört auf, seine Warenzüge selbst zu begleiten; die
Vermögensdisposition wird Inhalt seiner Thätigkeit." Eine Klasse von Hand¬
werkern nach der andern sinkt zu Hausindustrielleu herab, die für große Ver¬
leger arbeiten.
Trotzdem aber, daß die beiden Voraussetzungen des Kapitalismus schon im
sechzehnten Jahrhundert vorhanden sind, gelaugt er erst im neunzehnten zum
Dasein, u. a. darum, weil bis dahin die Edclmetallschätze unproduktiv angelegt
werden — die Geldleute leihen den Päpsten ans Kreuzzüge, den Städten auf
ihre unzähligen Fehden, dann vom sechzehnten Jahrhundert ab den Großmächten
auf ihre dynastischen und ihre Handelskriege, und all dieses Geld geht verloren,
das vielmal akkumulierte Kapital wird immer wieder zerstreut —, und weil
die konkurrierenden Völker einander den Raub abjagen: vom italienischen,
portugiesische», spanischen und deutschen Reichtum bleibt gar nichts, vom fran¬
zösischen und holländischen wenig übrig.
(Schluß folgt)
le faulige Gärung, die deu ungeheuern russischen Volkskörper
ergriffen hat, ist ein so merkwürdiges Schauspiel, daß sie auch
denn unsre Aufmerksamkeit fesseln würde, wenn sie nicht von so
großer praktischer Bedeutung für uns Nachbarn wäre. Zwar sind
die geographisch-ethnologischen Ursachen der Fäulnis so allgemein
bekannt, wie die geographischen Ursachen der mit dein innern Zustande so auf¬
fallend kontrastierenden internationalen Machtstellung Rußlands, aber wir sind
doch dankbar für jeden Veitrag, der uns eine tiefere Einsicht in diesen Zustand
erschließt und im einzelnen zeigt, wie er geworden ist. Russen sozialistischer
Richtung haben uns viel gelehrt, aber auch in den Kreisen des gemäßigt
konservativen Gelehrtentums fehlt es nicht an einsichtigen Männern, die über
die Geschichte ihres Volkes unbefangen urteilen. Ein solcher ist Paul Mi-
lukow, der Skizzen Russischer Kulturgeschichte herausgegeben hat. Die
deutsche Überhebung vou E. Davidson ist bei Otto Wigand in Leipzig er¬
schienen. (Der erste Band 1898, der zweite 1901.) Der Verfasser bekennt sich
in der Vorrede zu der deutschen Ausgabe und im Schlnßkapitel des ersten
Bandes zu Grundsätzen und Anschauungen, die nur als gesund bezeichnen
müssen. Er verwirft sowohl die Beschränkung der Geschichtschreibung ans
ideenloses Stoffsammeln, wie die subjektive Willkür vieler Geschichtsphilosophcn.
Er erkennt mit den Marxisten an, daß der historische Prozeß als Einheit auf¬
gefaßt werden muß, und daß in ihm das Ökonomische als eine Hauptmacht
wirkt, aber er gesteht dem Psychischen eine vom Ökonomischen unabhängige
Bedeutung zu und sieht im historischen Prozeß das Ergebnis zweier Ent¬
wicklungsreihen, der materiellen und der geistigen, die ineinander eingreifen.
Er erkennt mit den russischen Nationalisten an, daß die russische Kultur grund¬
verschieden ist von der westlichen, aber er leugnet, daß ihre Eigentümlichkeiten
durchweg lobenswürdig und wünschenswert seien, und er erinnert daran, daß
die westliche Kultur keineswegs ein einheitlicher Begriff ist, da auch jedes
Mittel- und westeuropäische Volk seine Eigentümlichkeiten hat. Er bekennt mit
den „Westlern," daß Rußlands Zustände heute noch primitiv sind, und er hat
in seinem ganzen Buche ausführlich gezeigt, wie in Rußland alles: die Be¬
freiung des Bodens von Wasser und Eis, die Besiedlung, der Ackerbau und
jedes weitere Kulturelement, teils um Jahrtausende, teils um Jahrhunderte
später gekommen ist als im übrigen Europa, aber er zieht daraus nicht mit
diesen Herren die Folgerung, daß das russische Volk nun nachträglich dieselben
Entwicklungsstufen in derselben Reihenfolge erklimmen müsse wie der Westen,
was schon darum unmöglich sei, weil jedes westliche Volk seine besondre Ent¬
wicklung durchgemacht habe. Der Gang der Entwicklung werde in Rußland
wie in jedem andern Lande durch drei Mächte bestimmt: durch die der Menschheit
immanenten Gesetze, die für alle Völker gleichmäßig gelten (sodaß also z. B.
dieselben ökonomischen Verhältnisse und dieselben psychologischen Beweggründe
überall dieselbe Wirkung hervorbringen); durch die geographischen und histo¬
rischen Verhältnisse (die Milukow nicht sehr glücklich das „Milieu" nennt) und
durch den Einfluß einzelner Personen. Die erste dieser Mächte erzeugt Ähnlich¬
keiten, die zweite die Verschiedenheiten der Völker und ihrer Geschichten, die
dritte das Zufällige darin.
Ein unbedingt sicherer Führer ist Milukow trotz seiner gesunden Grund¬
sätze und seines Freimuth keineswegs. Er behandelt ganze weite Gebiete von
Erscheinungen sehr summarisch, besonders überall, wo er der Gegenwart nahe
kommt, die in einem zu ungünstigen Lichte darzustellen er sich sorgfältig hütet.
Und manchen Umstand von höchster Wichtigkeit verschweigt er ganz, so die
Korruption des Beamtenstandes, und daß es Ausländer, Germanen gewesen
sind, die Rußland politisch organisiert haben, und denen Rußland bis ans
den heutigen Tag alles verdankt, was es an politischen Einrichtungen und
ein Kulturgütern hat. Aber durch seine Darstellung schimmern überall die
zwei Charaktereigenschaften des russischen Volkes, auf die man alle seine weniger
lobenswürdigen Eigentümlichkeiten zurückführen kann: seine Passivität und seine
Gleichgiltigkeit gegen die Kulturgüter. Wie weit man diese beiden Temperaments¬
fehler selbst wiederum auf geographische und historische Verhältnisse zurück¬
führen kann, wird wohl niemals klar gemacht werden können; sicher ist nur,
daß diese Verhältnisse den Russen die Überwindung ihrer Fehler, wofern sie
überhaupt möglich fein sollte, bisher außerordentlich erschwert haben. Sollte
die moderne Verkchrstcchnik der Unwegsamkeit Rußlands eine Ende machen,
eine Gedankenzirkulation nach westeuropäischem Muster in Gang bringen, eine
vollständige Umwälzung des primitiven Bauernlebens zugleich ermöglichen
und erzwingen, so würde das wohl nicht ohne Einfluß auf den Volkscharakter
bleiben.
Jeder Geist bedarf, wenn er die Bahn der Kultur beschreiben soll, der
Weckung durch einen schon wachen Geist. Das gilt vom Volksgeist wie vom
Einzelgeist. Aber daß sich ein Volk nur auf Stöße von außen hin bewegt,
und daß die Bewegung ein Jahrtausend lang Raumbewegung bleibt, ohne
Kulturbewegung zu werden, dafür sind die Russen das einzige Beispiel in
Europa. Freilich, eine Art von Raumbewegung haben sie ohne Anstoß von
außen vollführt, denn der Hunger zwingt natürlich auch sie. In dem Maße,
wie entweder die bloß okkupatorische Aneignung der Naturgüter durch Jagd,
Fischfang und Honiggewiunung in einem Landstreifen aufhörte, oder der Acker
durch Raubbau ausgesogen war, wurde ein angrenzender wüster Landstreifen
nach dem andern besiedelt. In dieser Weise haben auch die Russen kolonisiert,
und der Verfasser stellt dar, wie diese zonenweis ausgeführte Kolonisation
Hand in Hand mit der Landesverteidigung süd- und ostwärts fortgeschritten
ist. Aber es ist eben nur der Zwang zur Landesverteidigung gewesen, was
die Fürsten zu Leitern des Kolonisationswerkes machte, und bis auf Peter den
Großen haben sie sich auf die militärische Organisation und die dafür nötige
finanzielle Ausbeutung des Stmnmlandcs und des stetig hinzuwachsenden Neu¬
erwerbs beschränkt. Von einer Kulturarbeit, wie sie Karl der Große, die
sächsischen Kaiser, der englische Alfred, unterstützt von den in klösterlichen Bil¬
dungsanstalten ihren Kulturdünger befriedigenden Söhnen und Töchtern des
Adels geleistet haben, ist bei den russischen Fürsten keine Spur zu bemerken.
Soldaten und die Mittel zu ihrem Unterhalt beschaffen, darauf beschränkt sich
ihre Regierungsthütigkeit; von Volksbildung, Pflege der Landwirtschaft und
der Gewerbe, ja sogar von Justiz wissen sie nichts. Und auch nach Peter
dem Großen, nach der philosophischen Katharina und dem humanen Alexander
ist der russischen Staatsverwaltung dieser Charakter geblieben; denn Militär,
Marine und die diesen beiden dienende Finanzverwnltung überwiegen in dem
Grade, daß für Kulturbestrebungen nur ein kümmerlicher Nest von Geld und
Beamtenarbeit übrig bleibt. Einigermaßen kann man ja diesen Charakter der
Kulturlosigkeit, dem die russische Geschichte tausend Jahre lang treu geblieben
ist, aus geographischen und historischen Verhältnissen erklären. Die Athener
haben zwar der Demeter in den Eleusinien einen großartigen Kult eingerichtet,
aber Athene, die Spenderin des Ölbaums, als Gründerin ihres Gemeinwesens
verehrt. Darin liegt ein tiefer Sinn. Hugo Delff, ein wenig bekannter, gcist-
und gemütvoller Geschichtsphilosoph, hat vor längerer Zeit nachgewiesen, daß
es nicht schon der Ackerbau, sondern erst die Baumpflege ist, was den Menschen
an den Boden fesselt und die eigentliche Kultur begründet. Die Mittel- und
nordeuropäische Kultur ist von dem Großgut der Könige, Fürsten und Klöster
ausgegangen, das nach römischem Muster mit rationellen Ackerbau den Garten-
uud Weinban verband. So lange die Germanen nur einen Ackerbau kannten,
wie ihn Cäsar beschreibt, konnten sie halbe Nomaden bleiben, und das sind
die Russen bis heute geblieben, zunächst doch wohl aus dem Grunde, weil in
Mittel- und Nordrußland der Kürze des Sommers wegen weder Wein noch
Obst (die Kirschen etwa ausgenommen) reift, die Baumpflege also, die den
Pfleger jahrelang an einen Ort bindet, niemals heimisch geworden ist.
Fehlt die Kultur, so fehlen auch die Stände, denn diese sind Genossen¬
schaften zur Pflege eines Kulturzweigs. Daß die einzelnen Kulturzweige,
namentlich die Wissenschaften und die Industrie, in Nußland nicht aus dem
Volke hervorgewachsen, sondern von den Fürsten aus dem Westen importiert
worden sind, ist allgemein bekannt; Milnkvw zeigt außerdem, daß auch die
Kulturträger, die Stände, nicht dem Volksboden entsprossen, sondern von oben
herab zwangsweise geschaffen worden sind. Zunächst der Adel. Die Land¬
wirtschaft warf im Norden nicht so viel ab, daß der große Gutsbesitzer ein
herrschaftliches Leben hätte führen können. Er begab sich an den Hof eines
Fürsten — nach Herstellung des Einheitsstaats des Fürsten — und wurde
dessen Diener. Für die Landesverteidigung reichten diese freien Diener nicht
hin. Der Fürst warb Männer, auch aus dem Stande der Knechte, für seinen
Dienst und wies ihnen statt des Soldes Staatsländereien an. Zu dieser ad-
lichen Kavallerie kamen später Schützen (die Strelitzen), die besoldet werden
mußten. Jede fernere Erweiterung des russischen Gebiets zwingt dann zur
Errichtung neuer Regimenter, und der Sold kann nur aus Steuern bestritten
werden. Zur Steuer wurden anfänglich auch die Gutsbesitzer herangezogen,
die dienstpflichtigen nicht ausgenommen; bald aber erlangten diese Steuerfreiheit,
und dn sie vorzugsweise in den gefährdeten Grenzgebieten ansässig waren, so
ergab sich im siebzehnten Jahrhundert eine eigentümliche Verteilung der Staats¬
lasten: der Süden leistete vorzugsweise den Kriegsdienst, der Norden zahlte
die meisten Steuern. Aber je mehr die von der Verteidigung zur Eroberung
übergehende Politik der Zaren Infanterie und Artillerie auszubilden zwingt,
desto bedeutungsloser wird die adliche Kavallerie. Die Adlichen entzieh» sich
allmählich der Dienstpflicht, diese wird den Bauern und Gewerbetreibenden,
also den Steuerzahlern, aufgebürdet, den frühern Dienstpflichtigen aber bleibt
das Privileg der Steuerfreiheit. So war ein Adel zwangsweise geschaffen
worden. Denn die Dienstpflicht war mit der Zeit auch den Gutsbesitzern auf¬
legt worden, die sich nicht freiwillig zum Dienste meldeten- Man hatte sie
Zur Regelung der Dienstpflicht ebenso einer Zwangsorganisation unterworfen,
wie die Bauern zum Zweck der Steuererhebung. Beide Stände mußten Ver¬
treter wählen, die aber nicht etwa die Rechte ihrer Wähler zu vertreten hatten,
sondern der gewählte Bauernstarost hatte nur die Steuern unter die Mitglieder
seiner Gemeinde zu verteilen, und der vom Adel gewählte Okladtschik hatte zu
bestimmen, bei welcher Truppengattung und wie lange jeder Adliche seines Be¬
zirks dienen sollte.
Man sieht, die Geschichte des russischen Adels hat eine gewisse Ähnlichkeit
mit der des germanischen Feudaladels, aber zu dessen politischer und sozialer
Bedeutung hat er sich niemals aufgeschwungen. Niemals hat er einen festen
Wall gebildet zwischen dem Fürsten und den gemeinen Unterthanen, niemals
durch ständische Rechte den Fürsten eingeschränkt und so die moderne Reprä-
seutativv ersass ung vorbereitet, niemals auch in seinen einzelnen Gliedern durch
rationellen Betrieb der Landwirtschaft oder durch eine sich bis zum wohlgeord¬
neten Kleinstaat erweiternde musterhafte Gutsverwaltung Kulturgüter geschaffen.
Das einzige Element des Adels, das ihm wenigstens einige Selbständigkeit
dem Fürsten gegenüber hätte verleihen können, die Nachkommenschaft der Teil¬
fürsten, die Bojaren, wurde teils durch Hinrichtungen ausgerottet, teils durch
die Konfiskation ihrer Güter, wofür man sie mit Besitzungen an den äußersten
Enden Rußlands entschädigte, teils durch Zwangsmaßregeln wie Internierung
an bestimmten Orten aller Macht beraubt. Das Ansehen des einzelnen Adlichen
hing nicht von seiner Zugehörigkeit zu seinem Staude und zu eiuer gewissen
Rangstufe dieses Standes ub, sondern von der Höhe des Gehalts, den er als
Staatsbeamter bezog. So bestand dieser durch Regierungsmaßregeln geschaffne
Adel ans zusammenhanglosen Atomen. Der Dienst in der Garde, meint der
Verfasser, und die Rolle, die diese Garde in den Palastrevolutionen und in
der Politik der letzten Jahrhunderte gespielt habe, sei es gewesen, was ihm
doch zuletzt Staudesgeist und Kraftbewnßtsein eingeflößt habe. Und zugleich
bekam er auch eine materielle Grundlage, die eine starke Interessengemeinschaft
erzeugte. Seitdem in Nußland die europüischeu Lebensformen eindrangen und
sich einiger Wohlstand verbreitete, sing die Landwirtschaft um, zu rentieren,
und der Boden, den die Adlichen von Steuer und Dienstpflicht frei besaßen,
bekam Wert. Die adlichen Grundbesitzer wurden wohlhabend und viele von
ihnen reich, namentlich durch die Freigebigkeit der Kaiserin Katharina II. und
ihrer Nachfolger, die Hunderttausende von „Seelen" — der Boden erschien
immerhin noch so wertlos, daß er als bloßes Zubehör zu den Leibeignen be¬
handelt wurde — an ihre Günstlinge verschenkten. So war der Adel nun
zwar endlich ein Stand geworden, aber noch keine Kulturmacht. Die Herren
vergeudeten ihren Reichtum, belasteten ihre „Seelen" mit Hypotheken und ver¬
wandten die aufgenommenen Gelder nicht produktiv, sondern auf unsinnigen
Luxus. Als ihnen die Bauernbefreiung die leibeignen Arbeiter entzog, und
sie sich nun als selbständige Unternehmer auf die eignen Füße stellen und die
Konkurrenz von Angehörigen andrer Stände bestehn sollten, da gingen viele
von ihnen zu Grunde. Vor der Bauernbefreiung besaß der Adel 105 Millionen
Dessütinen. Davon behielt er 78 Millionen; 1892 hatte er nur noch 57 Mil¬
lionen; 21 Millionen waren, obgleich ihm die Regierung mit der Adelsbank
zu Hilfe kam, in den Besitz von Bauern, Kaufleuten und Gewerbetreibenden
übergegangen.
Auch die Stadt ist ein Kunstprodukt der Regierung. Der Verfasser über¬
sieht bei der scharfen Formulierung des Gegensatzes zwischen der westeuropäischen
und der russischen Stadt, daß auch zur Gründung der Städte nördlich von den
Alpen der Anstoß vielfach von oben gekommen ist. Aber mehr als des ersten
Anstoßes hat es allerdings nicht bedurft, eine Entwicklung einzuleiten, die die
Gewerbetreibenden zwang, sich in Städten zu sammeln und in selbständigen
Gemeinwesen zu organisieren, die mit den aus dem Altertum stehn gebliebner
Städten Italiens zusammen nicht allein die Ersatzleute der alten Polis in den
Zeiten der Barbarei, die Mönche, überflüssig gemacht, die Technik, die Künste
und Wissenschaften fortgebildet, sondern auch die Vorbilder des modernen
Staates und die geistigen Kräfte, sowie das Geld zu seiner Aufrichtung und
Vollendung geliefert haben. Solche Städte hat es in Nußland niemals ge¬
geben, mit Ausnahme etwa der Handelsrepublik Nowgorod, die, was Milukow
nicht erwähnt, bis zum Verlust ihrer Freiheit ohne Zweifel eine wirkliche
Stadt gewesen ist. Die einzige natürlich gewachsene Großstadt des Reiches,
Moskau, ist bis in den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts ein ungeheures
Dorf geblieben; sie war sozusagen der Gutsbezirk der Zarenburg. Die übrigen
Städte waren Festungen, die die Fürsten zu Militär- und Vcrwaltungszwecken
bauten. Städtisches Gewerbe gab es nicht, und es konnte auch von selbst
keins aufkommen, weil die meisten Bauern, durch die lange Winterruhe ge¬
zwungen, sich auf Gewerbe verlegten, und ihr Hausfleiß den Bedarf des Volkes
an Gewerbeerzeugnissen vollständig deckte, die Kaufmannschaft aber zwar die
fremden Kaufleute: Hanseaten, Engländer, Holländer zu verdrängen suchte, jedoch
nicht daran dachte, selbst Exporthandel zu betreiben. Die von der Regierung
angelegten Städte bestanden aus dem Gorod (der Umzäunung) oder dem Kreml,
worin die Soldaten und die Beamten wohnten (die darin liegenden Bürger- und
Bauernhöfe wurden nur als Zuflucht im Kriege benutzt), und den Vorstädten.
Um den Gorod herum entstand zunächst der Pvssad, die Kaufmannstadt, und
in einem dritten Ringe, den Sloboden (Freibezirken) ließen sich die Hand¬
werker nieder — nicht freiwillig; sie mußten zusammengetrieben werden, und
da es nicht gelang, alle die Ortschaften zu bevölkern, die man zu Städten
bestimmt hatte, so sah man sich genötigt, viele wieder von der Liste zu streichen.
Jeder Stadtbürger hatte Acker, viele waren nichts als Bauern und wurden
amtlich als solche in den Stenerlisten geführt.
Der Hauptgrund, Ansiedlungen zu schaffen, deren Bewohner zu einem
großen Teil Gewerbe betrieben, war, daß man diese höher besteuern konnte
als die Bauern, und deshalb städtische Steuergemeinden bilden mußte, weil
es in Rußland eine andre Form der Steuererhebung als die durch „Last¬
gemeinden" nicht gab. Die Gemeinde haftete für alle ihre Lastparzellen, das
heißt die Zahlungsfähigen und die sich fassen ließen, mußten nicht bloß für
sich selbst zahlen, sondern auch für die Zahlungsunfähigen und für die Ent¬
flohenen. Es war dies die Verwaltungsform, die im römischen Reiche unter
d^n spätern Kaisern Landwirtschaft und Gewerbe zu Grunde gerichtet und die
Provinzen entvölkert hat, und sie hat in Rußland ähnlich gewirkt bis auf
den heutigen Tag; mir daß den russischen Flüchtlingen die ungeheure Größe
des Reiches bisher immer noch die Möglichkeit offen gehalten hat, nach Osten
hin auszuweichen, ohne das Vaterland zu verlassen. Die Negierung suchte
der Flucht dadurch vorzubeugen, daß nicht allein die Rückkehr aus der Stadt
aufs Land, sondern auch die Übersiedlung aus einer Stadt in die andre ver¬
boten und jedermann an seinen Wohnort, an sein Gewerbe gebunden wurde.
So schuf man zwangsweise einen Stand von Stadtbürgern, von Kaufleuten
und Gewerbetreibenden. Diese wurden als Dienstleute des Zaren angesehen;
aller Dienst bestand darin, daß sie höhere Steuern zahlten als die Bauern,
und den Kaufleuten wurde noch der zweite sehr beschwerliche Dienst auferlegt,
die Steuern einzuziehn. Ans diesem Dienst entwickelte sich die städtische Selbst¬
verwaltung, da die Regierung fand, daß die Wojewoden, die bis dahin das
Geschäft der Steuereinziehung geleitet und sich dabei bereichert hatten, über¬
flüssig seien und selbstgewählte Vertreter der Kaufmannschaft die Arbeit wohl¬
feiler machen würden. Die Kaufleute waren nicht sehr entzückt von der Ehre,
die man ihnen erwies, denn ihre Selbstverwaltung beschränkte sich darauf, daß
sie Steuern, zu deren Einführung sie nicht mitgewirkt hatten, repartieren und
eintreiben und sie teils an die Staatskasse abführen, teils auf Zwecke ver¬
wenden mußten, über die sie uicht zu bestimmen hatten. Übrigens gewährte
ihnen ihr Stand nicht einmal Rechtsschutz vor deu Gewaltthaten des Adels,
geschweige denn Privilegien. So kümmerten sie sich denn auch so wenig wie
möglich um ihre kommunalen Obliegenheiten: die Wähler wählten nicht, der
Rat versammelte sich nicht, und der geschäftsführende Ausschuß war nichts
als eine Negierungstanzlei. Das blieb so bis zu der Städteordnung von 1870,
über die Milukow nicht berichtet. Sie hat die Befugnisse der Kommune er¬
weitert und wird die Entfaltung eines wirklichen kommunalen Lebens er¬
möglichen, für das zuletzt auch einiges Material vorhanden ist. Denn die von
der Regierung importierte Industrie hat nicht allein Reichtum, sondern auch
Intelligenz unter den Kaufleuten und Gewerbetreibenden verbreitet, die reichen
Bürgerlichen kaufen Adelsgüter, und aus den Kaufleuten, Fabrikanten, Litteraten
und den Edelleuten, die ihre Güter verkauft haben und in die Stadt gezogen
sind, erwächst jetzt ein wirklicher dritter Stand.
Bauern brauchte die Regierung nicht zu schaffen, denn fast das ganze
Volk bestand aus solchen; sie machten vor zweihundert Jahren 97 und machen
heute noch 80 Prozent der Bevölkerung aus. Aber der Bauernstand ist
gleich den übrigen Ständen ein Kunstprodukt. Die bäuerliche Organisation,
die Landgemeinde, ist von der Regierung geschaffen worden, und zwar gleich
allen andern Organisationen und vor diesen zum Zweck der Steuererhebung-
Die russische Landgemeinde ist Steuergemeinde, „Lastgemeinde," sonst nichts,
und die Negierung, so weit sie sich auf den Bauern bezieht, ist jahrhunderte¬
lang eine Jagd auf wilde Gänse gewesen. Alle Regierungsinaßregeln hatten
nur den Zweck, der entlaufenden Steuerpflichtigen habhaft zu werden und sie
an deu Boden zu fesseln. Die Gutsbauern wurden ganz und gar den Guts-
herren preisgegeben und zu Leibeignen gemacht. Die Freibauer» im Norden
aber, wo es wenig große Güter gab, und die zur Landesverteidigung an¬
gesiedelten Kolonisten des Südens wurden in Staatssklaven verwandelt.
Familienbesitz und Erbrecht wurden abgeschafft, Verkauf, Kauf, Hypotheken-
weseu und Tauschrecht aufgehoben, die Bauern ihres Privatbesitzes beraubt;
dieser wurde in Staatseigentum verwandelt, und der Bauer, der den Acker
bebaute, in dasselbe Verhältnis zum Staate versetzt wie der leibeigne Guts¬
bauer zum Gutsbesitzer.
Der Gcmeindecicker wurde in „Lastparzellen" geteilt, deren Zahl nach der
Kopfzahl zu bemessen war, sodaß der Wechsel dieser Zahl zur periodischen
Neuverteilung zwang. Auf diese Weise ist der Mir entstanden, der so wenig
eine urrussische Nationaleinrichtnng ist, daß seine Anfänge nicht hinter das
achtzehnte Jahrhundert zurückgehn, und daß ihm die Baktern bis in die
dreißiger Jahre des neunzehnten Widerstand geleistet haben. Auch die Adels-
bnuern haben niemals vergessen, daß der Boden ursprünglich ihren Vätern
gehört hatte. Sie ließen sich den Frondienst, den sie dem Gutsherrn zu
leisten hatten, gefallen als eine Staatslast, da der Gutsherr dem Staate zu
dienen hatte, also seinen Acker nicht selbst bewirtschaften konnte. Als nun
Katharina II. 1785 den Adel vou der unentgeltlichen Dienstpflicht befreite,
glaubten die Bauern, damit seien auch sie von ihren dem Adlichen zu
leistenden Diensten befreit und wieder in den vollen freien Besitz ihres Ackers
gelangt. Sie waren überzeugt, daß die Befreinngsurkunde ausgestellt sei und
nur von den Gutsbesitzern geheim gehalten werde, und sie sahen in der
Emanzipationsnrkunde von 1861 nichts als die endlich erfolgte Anerkennung
ihres guten Rechts.
Indem die russische Regierung, anstatt der Landwirtschaft zur Über¬
windung der primitiven Stufe, auf der sie heute noch steht, behilflich zu sein,
sogar durch ihre unvernünftige Steuerpolitik und durch deu Mir schwer zu
brechende Fesseln angelegt hat, hat sie in einem fort die Hennen geschlachtet,
ehe diese dazu kamen, die goldnen Eier zu legen, die sie recht gut legen
konnten. Im sechzehnten Jahrhundert sollen sogar Gebiete, die nördlich von
der Schwarzerdczonc liegen, das zwanzigste, ja das dreißigste Korn getragen
haben, jetzt ist man im Schwarzerdcgebiet froh, wenn man das fünfte Korn
erzielt. Auf die bekannten Zustände der Bauernbevölkerung Rußlands, die
jüngst wiederum durch blutige Aufstände beleuchtet worden sind, brauchen
wir nach dem Bericht über die letzten Hungersnöte im 49. und 50. Heft des
Jahrgangs 1900 nicht mehr zurückzukommen. In Übereinstimmung mit allen
Sachkennern findet Milukow eine Hauptursache des Bauernelends darin, daß
bei der Befreiung die Hufen zu klein gemacht worden sind; das ist auf
Drängen des Adels geschehn, der sich sagte, daß er für seine Güter keine
Lohnarbeiter bekommen würde, wenn die Bauergüter groß genug wären, eine
Familie zu erhalten. Die Adclsbauern bekamen höchstens vier Dcssätinen,
biete aber nur eine Dessätine und noch weniger (1 Dessätine — 109,25 Ar);
die Apanagcbauern und die Staatsbauern wurden besser ausgestattet, jene mit
Zwei bis sechs, diese mit vier bis zehn Dessatinen. Schlägt man nun noch
de» geringen Ertrag des russischen Ackers an, so sieht man, daß es Bauern
i'on der sozialen Lage unsrer mittlern deutschen Bauern in Rußland gar
"übt giebt, und daß „Rnstikale," wie wir sie haben, von fünfzig bis hundert
Hektar eines Bodens, der seine 2000 Mark für den Hektar wert ist, nicht
vorkommen können. Es scheint sich übrigens jetzt eine solche Klasse bilden zu
wollen. Der Bankrott vieler Adlichen und die Flucht gepeinigter Steuerzahler
machen beständig Land frei, und die intelligenter« und rührigern unter den
am besten ausgestatteten Staatsbauern machen sich die Gelegenheit zu nutze.
Ob dieses Emporsteigen einzelner schon einen Umfang angenommen hat, der
zu Hoffnungen auf eine bessere Zukunft berechtigt, darüber haben wir vor¬
läufig noch nirgends, auch nicht bei Milukow, zuverlässigen Aufschluß ge¬
funden.
(Schluß folgt)
er Artikel über Marokko in Heft 41 der Grenzboten veranlaßt
mich, die darin behandelten Fragen von einer andern Seite zu
beleuchte».
Wenn Vismarck gesagt hat, wir seien im Mittelmeer nicht in¬
teressiert, so muß man das doch wohl so verstehn, daß wir die
Mächte, die ans irgend welchem Übermut unsre Mittelmeerschiffahrt schädigen
wollten, nicht im Mittelmeer aufzusuchen brauchten, um uns solche An-
rempeluugen zu verbitte». Weil wir keinen Grundbesitz am Mittelmcergestade
zu halten und zu verteidigen haben, stehn wir allerdings den Machtfragen im
Mittelmeer ferner und gleich giltiger gegenüber, als jede andre europäische
Großmacht, aber deshalb darf es uns nicht gleichgültig sein, wer Herr im Mittel¬
meer ist; namentlich, wenn es eine Macht ist, die uns oder unsern beiden
mittelländischen Bundesgenossen unfreundlich gesinnt wäre.
Erwägt man die zukünftig möglichen Machtverschiebungen, so muß man
ins Auge fassen, ob der jetzige seepolitische Zustand überhaupt gesund und
für uns und unsre Bundesgenossen besonders vorteilhaft ist. Besteht jetzt
etwa ein seepolitisches Gleichgewicht im Mittelmeer? Dürfte wohl England
die Hand auf Ägypten halten, wenn es sich nicht seines Übergewichts dort
ganz genau bewußt wäre? Man darf nicht vergessen, daß Ägypten schon mit
französischem Blute getränkt worden war, ehe die Engländer überhaupt etwas
im Mittelmeer zu suchen hatten. Die Franzosen empfinden es als die ver¬
hängnisvollste Niederlage seit Waterloo und sedem, daß sie Ägypten haben
im Stich lassen müssen, und daß sie den Engländern keinen Widerstand leisten
konnten. Die moralische Niederlage von Faschoda ist ein Glied derselben
Kette: Frankreich fühlt sich zu schwach im Mittelmeer. Damals, im Jahre 1882,
als England Ägypten besetzte und einige Schwierigkeiten im Sudan hatte,
waren die Franzosen in Tunis beschäftigt, das ihnen von England ein Jahr
vorher als Beruhigungshappen (Kompensationsobjekt nennen es die Diplomaten)
überlassen worden war; kürzlich, als die Franzosen die Insel Mytilene be¬
setzen wollten, verhinderte England diese ihm unangenehme Festsetzung der
Franzosen vor den Dardanellen: daraus folgt klar, daß England heute viel
stärker ist, und seiner Mittelmeerherrschaft viel sichrer als vor zwanzig Jahren;
deshalb braucht es heute auch keinerlei Zugeständnisse mehr an Frankreich zu
machen. Das Geheimnis dieses Wandels der Dinge liegt lediglich in der
Flottenkraft beider Machte. Im Jahre 1881 hatte das englische Mittelmeer¬
geschwader 5 Linienschiffe und 1 Küstenvanzerschisf, während allein das
französische Geschwader vor Sfax 6 Linienschiffe und 4 Panzerkreuzer zählte.
Nach den Flottenlisten standen insgesamt den Franzosen damals 21 Linienschiffe
und 11 Küstenpanzerschiffe und Panzerkreuzer zur Verfügung, wahrend die Eng¬
länder in ihrer Flotte nnr 19 Linienschiffe und 8 Küstenpanzerschiffe hatten. Die
Franzosen haben Tunesien also gerade zu der Zeit ihres verhältnismäßig besten
Flvttenstandes genommen und mußten trotzdem als Preis dafür Ägypten den
Engländern überlassen; das erklärt, wie wenig sie sich sogar in ihrer besten
Zeit als Herren des Mittelmeers fühlten. Damals konnten es die Franzosen
ganz gut auf einen englischen Angriff ankommen lassen; ja sie hätten zweifel¬
los bei etwas Thatkraft die Herrschaft im Mittelmeer und damit auch Ägypten
erkämpfen können. Aber da ihnen wohl freies Spiel in Madagaskar und
Tvngking versprochen wurde, versäumten sie infolge des lockenden größern Ge¬
winns im fernen Osten, sich ihre heimischen Gewässer von ihrem alten Erb¬
feinde frei zu halten. Die Engländer aber waren viel gescheiter; ehe die
Franzosen erkannten, daß sie irre geführt worden waren, daß 1'g.da,näoii av
l'L^xtö 1a l?i'g.nos ötM uns äölÄtö xröL<zus irrexarMs <ig ig, Nation,
se ig plus tunsst« Hu'olle- M LLLu^of äsvni8 'Watörloo et 8<zag.u — schufen
die Engländer mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit eine mächtige Flotte
zur Deckung und Sicherung der vielen überseeischen Eroberungen der letzten
Jahrzehnte. Den 33 Linienschiffen von 336670 Tonnen Wasserverdrängung,
die die Franzosen heute haben, stehn nicht weniger als 56 englische Linien¬
schiffe insgesamt von 751685 Tonnen, also von mehr als doppelter Größe
gegenüber. Innerhalb der letzten zwanzig Jahre hat England die Kraft seiner
Flotte also etwa verdreifacht, während die französische Flotte nur gerade für
den nötigsten Ersatz veralteter Schiffe gesorgt hat, wenigstens im Linien¬
schiffbau. Noch schlimmer fällt der Vergleich zwischen den gepanzerten und den
„geschützten" Kreuzern beider Seemächte aus; 104 englische mit 523187 Tonnen
Wasserverdrängung gegen 33 französische mit nur 131937 Tonnen, also der
Zahl nach 3:1, der Stärke nach aber 4:1. Daraus geht hervor, daß Frank¬
reich allein und auch mit der für den Seekrieg im Mittelmeer zweifelhaften
russischen Unterstützung nur geringe Aussichten hat, Englands Vorherrschaft
dort zu brechen.
Bei alledem darf man nicht vergessen, daß gerade für den Schwächern
sehr viel davon abhängt, über welche strategischen Hilfsmittel, namentlich also
über welche Flottenstützpunkte er verfügt. Sicherlich haben die Engländer
einen strategischen Fehler gemacht, daß sie Tunesien mit dem unvergleichlich wert¬
vollen Hafen von Biserta den Franzosen überließen; einmal, weil dieser schnell
geschaffne wunderbare Flottenstützpunkt die sichere Verbindung zwischen Gi¬
braltar und Malta stark bedroht, und ferner, weil die günstige Lage von Biscrta
zu einer Fußaugel für den italienischen Stiefel geworden ist. Mit andern Worten:
je allgemeiner in Italien die bedrohliche Wichtigkeit von Biserta erkannt wurde,
um so mehr erkaltete dort die alte allzu uneigennützige Freundschaft für Eng¬
land. Freilich bemühen sich die Engländer auch heute noch, die schöne ita¬
lienische Flotte in ihr Kielwasser zu zwingen, und versäumen keine Gelegenheit,
mit ihrem Mittelmeergeschwader aufzufahren, wenn etwa ein paar französische
Schiffe einen nachbarlichen Höflichkeitsbesuch in einem italienischen Hafen machen.
Aber gerade die viel mißdeutete Annäherung Italiens an Frankreich in der letzten
Zeit zeigt deutlich, daß die Italiener kein Verlangen danach tragen, Englands
schon vorhandnes Übergewicht im Mittelmeer noch zu verstärken; welchen Dank
sie von England zu erwarten haben, wissen sie seit ihrem erythräischen Mi߬
geschick ganz gut. Italiens Seemacht hat im Mittelmeer genau dieselbe Be¬
deutung, wie die deutsche Seemacht in den nordischen Meeren; sie ist stark
genug, von beiden Parteien geachtet und ungeschoren zu bleiben, wenn sie
sich frei hält und weder von England noch vom Zweibunde ins Schlepptau
nehmen läßt.
Die Entfernung zwischen Toulon und Biscrta, den wichtigsten französischen
Stützpunkten, ist kaum halb so groß wie die zwischen Gibraltar und Malta;
das ist sehr viel wert für die Franzosen, genügt aber doch nicht dazu, mit
der schwächer» französischen Flotte die englischen Streitkrüfte im Schach zu
halten und den Nachschub englischer Kriegsschiffe durch die Straße von Gi¬
braltar hinein zu hindern. Also auch unter der Voraussetzung, daß Italien
neutral bleibt, ist im Mittelmeer zur Zeit kein Apolitisches Gleichgewicht vor¬
handen; von Gibraltar bis nach Port Said und bis zu den Dardanellenschlössern
darf nichts geschehn, was England nicht paßt; die Mittelmeerstaaten sind
nicht Herren ihres eignen Gewässers. Das ist nichts neues, und doch denken
wenige daran, wie ungesunde Zustände das erzeugt, weil die geduldige Menschheit
es längst als Dogma gelten läßt, daß England alle Meere beherrscht. Ein
Artikel der Täglichen Rundschau (Ur. 471) sagt: „Wir können ebensowenig
zulassen, daß das Mittelmeer ein lateinischer, wie daß es ein englischer See
wird." Das ist ein ganz nutzloser Lufthieb. Mit seiner Flotte und durch seine
ausgezeichneten Stützpunkte in Gibraltar, Malta und Ägypten beherrscht Eng¬
land eben thatsächlich das Mittelmeer ebenso, wie es die Nordsee und andre
Meere beherrscht. Warum können wir denn aber nicht zulassen, daß das Mittel¬
meer „ein lateinischer See" würde? Was könnte uns das wohl schaden?
Nachbarn auf dem europäischen Festlande entscheiden ihre Streitfragen mit¬
einander doch nicht in blauer Ferne? Wenn wirklich einmal eine lateinische
Seemacht ihre Seegewalt gegen unsre Seeschiffahrt im Mittelmeer mißbrauchen
würde, wozu gar keine Veranlassung vorliegt, nun, so sind wir ihr ja zu Lande
nahe genug, um uns das ebenso höflich wie deutlich zu verbitten; ganz die¬
selbe Überlegung gilt natürlich auch für unsre Bundesgenossen Italien und
Osterreich, denen es doch auch viel leichter ist, sich als Glieder des Dreibunds
mit Frankreich oder Spanien, als mit England auseinanderzusetzen, oder viel-
mehr friedlich und ohne Nachteil für sich selber zu einigen. Jede Schwächung
der englischen Seeherrschaft in irgend einem Meere bedeutet doch ganz folge¬
richtig eine Stärkung für jede andre Seemacht; sogar die Vereinigten Staaten
von Amerika müssen es als Vorteil empfinden, sobald sich für die Engländer
die Schwierigkeit mehrt, ihre alte Vormachtstellung im Mittelmeer zu halten.
Also wenn dieses wirklich „ein lateinischer See" werden würde, so hätte das
für alle Seemächte mit Ausnahme vou England nur Vorteile; aber so weit
ists ja noch gar nicht, ein Bündnis zwischen Frankreich und Spanien ist nur
ein kleiner Schritt auf dem Wege zur Erfüllung dieses für ganz Festeuropa
wünschenswerten Zustandes.
Für England ist die Seeherrschaft im Mittelmeer tausendfach wichtiger,
als der Besitz der Goldgruben im Transvaal; wer um diese unfruchtbaren
Metallklumpen drei Jahre lang eiuen sehr teuern Krieg zu führen willens
war, der wird auch seine schöne Mittelmeerstellung nicht freiwillig und still¬
schweigend aufgeben, denn wenn er es thäte, würde er nicht mir stark im An¬
sehen verlieren, sondern seine mächtigen Handelsinteressen in der Levante und
dazu noch den bequemen Seeweg nach Indien für die eigne Schiffahrt aufs
Spiel setzen. Es ist also anzunehmen, daß England alle Kraft dafür einsetzen
wird, sich nicht aus dem Mittelmeer verdrängen zu lassen. Die Folge eines
französisch-spanischen Bündnisses wird also für die europäischen Großmächte
eine Verschiebung des politischen Brennpunkts nach Süden zu sein; das aber
wird weder uns noch unsern Bundesgenossen schaden können.
Wenn zwei Staaten ein Bündnis schließen, so thun sie das aus berechtigtem
Eigennutz und nicht, um dritten damit zu nützen. So ists auch hier: Frank¬
reich wie Spanien haben gleich große Vorteile von einem politischen Zusammen¬
schluß zu erwarten. Spanien bedarf dringend des Schutzes für seine Kolouial-
reste und für die Balearen, denn es ist selbst so gut wie ohne Flotte und
deshalb vom guten Willen oder von der Willkür der Seemächte abhängig.
Frankreich muß seine seestrategische Stellung noch stärken, um der englischen
Mittelmeerflotte die Seeherrschaft streitig macheu zu können; Port Maison auf
Minorca, Cartagena und Ceuta sind dafür wie geschaffen. Cadiz und Ferrol
aber würden die Verbindung des französischen Nordgeschwaders mit den Mittel-
meerstreitkräften sichern und zugleich recht lästige Hindernisse für den englischen
Seeverkehr zwischen Großbritannien und Gibraltar sein. Frankreich ist reich
genug, den Spaniern mit seinem Gelde eine neue Flotte bauen zu helfen,
und die französischen Kanonen wären imstande, vom Lande aus Gibraltar den
Spaniern wiederzugewinnen. Wer aber wissen will, wie schwer die stolzen
Spanier noch heute das Bewußtsein drückt, daß der herrliche Felsen seit zwei
Jahrhunderten in englischem Besitz ist, der frage in Algesiras nach; da wird
ihm Auskunft darüber werden. Noch im Jahre 1894 gab die spanische Re¬
gierung dem Statthalter von Algesiras zugleich den Titel eines Statthalters
^ „zur Zeit freilich noch in englischem Besitze befindlichen Gibraltars"; das
laßt trotz der spanischen Vorliebe für lange Titel wohl tief genug blicken.
Wenn es eines Tages mitten im Frieden der englischen Mittelmeerflotte be¬
liebte, sich in Port Mahon festzusetzen, wäre keine andre Macht imstande,
diesen Gewaltstreich zu verhüten; das weiß man in Spanien so gut wie in
Frankreich, und in beiden Ländern kennt man den unvergleichlichen strategischen
Wert dieses prächtigen Kriegshafens sehr genau. Englische Strategen aber
schützen Port Mensor höher als Malta, denn sie wissen, daß dieser Platz die
bedenkliche Lücke zwischen Gibraltar und Malta ausfüllt und die französische
Verbindung zwischen Toulon und Biserta empfindlich stört. Port Mensor in
englischer Gewalt würde nach französischem Urteil, dem man sich unbedingt
anschließen muß, die volle Alleinherrschaft Englands im Mittelmeer bedeuten.
Wäre aber Port Mahon erst englisch, dann würde es in kurzem den Kanarischen
Inseln ebenso gehn. Grund genug für Spanien, sich nach einem starken Freunde
umzusehen, der imstande wäre, beizeiten die bedrohten Inseln zu schützen;
bedroht ist aber Port Mahon schon jetzt, weil die Augen der englischen Stra¬
tegen längst darauf gerichtet sind, weil also nur eine passende Gelegenheit
zur Ausführung des Schlages abgewartet wird.
Aber England hat noch mehr Wünsche, die Spaniens Besitz bedrohen.
Weil man auch in England weiß, daß für die heutige Artillerietechnik die Be¬
schießung Gibraltars von Algesiras aus möglich ist, sucht man nach einem
strategisch gleichwertigen Hafen, der aber weniger gefährdet ist. Tanger wie
Ceuta würden, wenn gehörig ausgebaut, dieser Bedingung entsprechen. Des¬
halb verbat sich die englische Regierung schon vor den? spanisch-marokkanischen
Kriege 1859 eine Festsetzung der Spanier in Tanger. Englische Strategen
halten sowohl Tanger wie Ceuta für strategisch wichtiger als Gibraltar; Nelson
selbst hat schon Tanger als die notwendige Ergänzung von Gibraltar erkannt.
Je kräftiger sich nun Englands Mittelmeerstelluug entwickelt, um so stärker
wird die Gefahr, daß Ceuta oder Tanger oder beide Häfen der Kette englischer
Flottenstützpunkte angereiht werden. Wiederum Grund genug für Spanien,
beizeiten mit einem starken Freunde Gegenmaßregeln zu treffen; denn wer
überhaupt historische Ansprüche achtet, der darf es den Spaniern nicht ver¬
denken, wenn sie auf dem mit ihrem Blute reich getränkten Boden des nörd¬
lichsten Zipfels von Marokko nicht Fremden Vorrechte einräumen möchten.
Spanien allem ist aber gegen Marokko zu Lande wie gegen England zur See
zu schwach, als daß es seine berechtigten Wünsche auf marokkanischen Land¬
besitz zur Geltung bringen könnte; sein Anschluß an Frankreich macht es ihm
vielleicht möglich, gemeinsame Unternehmungen gegen den kriegerischen Sultan
erfolgreich durchzuführen, ohne daß es dabei Englands Einspruch zu fürchten
hätte. Um aber ganz Marokko zu erobern, dazu würde» mehr Streitkräfte
eingesetzt werden müssen, als Spanien und Frankreich für diesen immerhin
nicht dringend nötigen Kriegszug verfügbar haben; man würde und müßte sich
also mit der Besetzung und der zweckmäßigen Teilung der marokkanischen Nord¬
küste begnügen, auch schon darum, weil man es vermeiden wird, andern Gro߬
mächten ins Gehege zu kommen.
Nun ist durchaus nicht zu verkennen, was der Grenzbotenartikcl in Ur. 41,
die Tägliche Rundschau in Ur. 375 und Ur. 471 nachdrücklich betonen, daß
Deutschland in Marokko gewichtige Interessen hat; der Grenzbotenartikel meint,
wir müßten dazu beitragen, daß Marokkos Unabhängigkeit erhalten bleibe,
und eine so wichtige Position wie Tanger dürfe nicht in Frankreichs Hände
übergehn, wenn nicht große Nachteile für Deutschland hervorgerufen werden
sollten. Die Tägliche Rundschau sagt etwas dunkel, das Reich würde sich auch
durch die neue (französisch-spanische) Allianz an der Durchführung seiner marok¬
kanischen Politik nicht irre machen lassen; damit kann doch nur die friedliche
Handelspolitik gemeint sein, in der uus, beiläufig bemerkt, neuerdings besonders
Österreich erfolgreich zu verdrängen beginnt. Die deutschen Handelsinteressen
liegen aber da, wo die leidlichsten marokkanischen Häfen sind, nämlich an der
Westküste, außerhalb des Mittelmeers. Diese Häfen sind durch das französisch-
spanische Bündnis nicht bedroht, vorläufig wenigstens nicht; denn vorläufig
fragt es sich noch sehr, ob überhaupt England dulden würde, daß sich die
Franzosen in Tanger festsetzen.
Unser Einfluß ans die Gestaltung der Dinge in Marokko ist jetzt sehr
gering, während er offenbar sofort gewichtiger würde, wenn die beiden mächtigsten
Nebenbuhler vor den marokkanischen Küsten, Frankreich und England, ungefähr
im Gleichgewichte zu einander stünden. So lange aber England die un¬
eingeschränkte Vormacht im Mittelmeer behält, so lange bleibt ganz sicher auch
Deutschlands Einfluß in Marokko sehr gering. Rafft sich jetzt Frankreich
im Bunde mit Spanien wirklich nach langem Schlafe zu thatkräftiger See-
Politik im Mittelmeer auf, dann wird es auch Deutschlands Interessen an der
atlantischen Küste Marokkos zu nahten verstehn und sich unsre wertvolle Freund¬
schaft zu erhalten suchen.
Noch heute gilt das Wort William Pitts: „Ohne Englands Erlaubnis
darf auf dem Meere keine Kanone abgefeuert werden"; jede seepolitische Macht¬
verschiebung, die die Wahrheit dieses Sprüchleins in Zweifel setzt, ist ein
Gewinn für die nichtenglische Welt. Deshalb braucht ein Bündnis zwischen
Frankreich und Spanien Deutschland keine Sorge zu bereiten.
le zahlreichen Angriffe, denen die Künste von Sokrates bis auf
Rousseau immer wieder ausgesetzt waren, haben im Grunde nur
der freien, von Kultur und Leben losgelösten, selbstherrlichen
Kunst gegolten. Das Beispiel von D. F. Strauß ist nicht der
einzige Beweis dafür, daß auch unsre Zeit wieder stark geneigt
^se, von der freien Kunst zu viel zu erwarten. Weder dem Gebildeten, noch dem
^»gebildeten, niemand kann sie den Glauben ersetzen, und sogar das unbestreit¬
bare Maß veredelnder, befreiender, erhebender Macht, das sie hat, hängt davon ab,
daß sich die Seele zur rechten Zeit und an der rechten Stelle an sie wendet.
Was insbesondre die Musik als freie Kunst betrifft, so giebt es nnr einen
Platz, der ihr ganz gehört. Das ist das Lehr- und Studierzimmer. Hier
hat der Unterricht dafür zu sorgen, daß Formen und geistiges Vermögen der
Tonkunst erfaßt, beherrscht und weiter gebildet werden. Schon in der Haus¬
musik muß die Herrschaft der freien Kunst beschränkt, dem Stimmungsleben
des Hauses angepaßt oder nach Bildungszwecken geregelt werden. Dazu bedarf
es nur der Einsicht der Musikfreunde.
Schwieriger ist es, der Musik als freier Kunst in der Öffentlichkeit die
richtige Stellung zu wahren. Unsre Zeit kennt sie hier in den Formen der
Oper und des Konzerts.
Wie sich das Theater des Altertums und des Mittelalters von Kultus
und Kirche aus entwickelt hat, so ist auch die Oper als dienende Kunst ins
Leben getreten. Sie hat ein reichliches Menschenalter laug ausschließlich
als Schmuck höfischer Feste gedient und war auch, als von der Mitte des
siebzehnten Jahrhunderts an öffentliche Opernhäuser mit häufigen, regelmäßigen
Vorstellungen entstanden, in der Wahl der Aufgaben noch lange durchaus
gebunden, nämlich mit der Schule, mit Künsten und Wissenschaften überhaupt
zur Mitarbeit an den Bestrebungen der Renaissance verpflichtet. Erst vom
achtzehnten Jahrhundert an kommt sie allmählich zu der heutigen Freiheit, in
der sich Fidelio und Meistersinger mit der Fledermaus ablösen, in der sich die
Buntheit der geistigen Interessen der Gegenwart widerspiegelt. Ohne Zweifel
leidet das deutsche Opernwesen an dieser Mannigfaltigkeit der Anforderungen.
Sie beeinträchtigt die Leistungsfähigkeit der Institute und ihrer Künstler, dem
Publikum vermindert sie den ästhetischen Nutzen des Theaters. Ganz läßt
sich dem nicht abhelfen. Aller freien Kunst geht, wenn sie ans Erwerb ange¬
wiesen ist, die Weihe verloren. Aber es wäre viel gebessert, wenn in unserm
Opernbetrieb allgemein eine reichere Arbeitsteilung durchgeführt werden könnte.
In den größern Städten haben wir sie hier und da schon in der Art, daß
für ferisse Oper, für komische und für Posse besondre Institute bestehn. Für
weniger volkreiche Plätze, für mittlere und kleinere Städte, die mit einer
eignen Oper sehr häufig über ihre Kräfte gehn, empfiehlt sich die Errichtung
von Wanderopern, wie sie im achtzehnten Jahrhundert mit Kräften ersten
Ranges — einem Gluck als Kapellmeister, einer Mingotti als Primadonna —
Europa durchzogen. Als weiteres Ziel muß aber ins Auge gefaßt werden,
daß wir unsre Opernhäuser des Charakters als geschäftlicher Unternehmungen
entkleiden und ihre Wirksamkeit unter Schillersche Ideen stellen. Unausführbar
ist dieser Gedanke nicht. Die Parlamente dotieren die Hoftheater, die Stadt¬
gemeinden bauen der Oper Häuser und unterstützen ihren Betrieb, die Gunst
des Volkes spricht aus der dem Leistungsvermögen der Süngerschulen voraus¬
geeilten Vermehrung der deutschen Opernbühnen im neunzehnten Jahrhundert.
Vor dem Konzert hat die Oper nicht bloß den reichlichern, durch den
größern Bedarf nahegelegten Zufluß öffentlicher Mittel und Sympathien
voraus, sie übertrifft es auch bei weitem an Einfluß und Organisation-
Überall sind Opernvorstellungen viel zahlreicher als die Aufführungen großer
Konzertwerke, i» die Oper geht auch der Arbeitsmann, unsre Sinfonie- und
Chorvereine rekrutieren sich nur aus den Kreisen höherer Bildung. Die
Kouzertinstitute stehn jedes für sich in der Welt, die Operndirektionen arbeiten
in Fühlung mit einander, das Opernpersvnal ist genossenschaftlich durch ganz
Deutschland verbunden, im Avancement und in andern Existenzfragen viel
besser gesichert als der Konzertmusiker, Die Mehrzahl nimmt diese Unter¬
schiede wie Naturgesetze, nur wenige denken um die Frage, ob eine Gleich¬
stellung von Oper und Konzert, den beiden Hauptformen der Musik als freier
Kunst, wünschenswert und möglich sei. Zu den wenigen, die sie sich vor¬
gelegt und bejaht haben, gehörte König Georg V. vou Hannover. Es war
alles zur Errichtung eines Königlichen Konzerthauses mit eignem Orchester
und besoldeten Chor eingeleitet, durch das sowohl das Oratorium wie die höhere
Instrumentalmusik zunächst in der Landeshauptstadt so zur Geltung kommen
sollten, wie im Hoftheater die Oper, als der Krieg von 1866 ausbrach. Die
musikalische Welt im allgemeinen glaubt die weitere Entwicklung des Konzerts
sich selbst überlassen zu dürfen. Sind doch während der letzten Menschenalter
bedeutende Schwierigkeit überwunden, die alten oollöZm musieg. und ihre
Orchesterdilettanten wenigstens zum Teil durch neue Konzertvereine und Berufs¬
musiker ersetzt worden. Der Staat hat dabei nichts, geschäftlicher Geist nur
wenig gethan, fast alles war das Werk reiner Kunstliebe der Musikfreunde.
Ihr darf auch ferner vertraut werden, doch nur, wenn die Aufgaben, die die
Zukunft an Fördern und Verhüte» stellt, allgemein erkannt sind.
Förderung verlangt der weitere Ausbau des deutschen Konzertwesens.
In den Großstädten handelt es sich darum, die blinde Konkurrenz durch den
Zusammenschluß der vorhandnen künstlerischen und materiellen Kraft zu ersetzen
und zu einem Betrieb zu gelangen, bei dem die große Kunst des Konzerts nicht
länger hinter dem Musikdrama quantitativ oder qualitativ zurücksteht. Wohl
haben Berlin, Wien, Leipzig, Frankfurt, Köln, Hamburg und andre Plätze viel
mehr Konzertabende als Opernabende, aber das Mißverhältnis bekundet sich
darin, daß bei den meisten Hofkapellen und den ebenbürtigen Stadtorchestern die
Konzertthätigkeit nur einen Anhang bildet. Es liegt also die Notwendigkeit
vor, viel mehr selbständige Konzertorchester bester Qualität zur Verfügung zu
stellen, und zwar darf diese Aufgabe nicht Agenten und geschäftlichen Unter¬
nehmern überlasten bleiben.
Noch schwieriger wird es sein, die mittlern und kleinern Städte, in denen
heute das Virtuosenkonzert dominiert, wieder so mit großer Tonkunst zu ver¬
argen, wie das in der Zeit der „wöchentlichen Konzerte" der Fall war. Sogar
in Universitätsstädten und reichen Handelsemporien kämpft sie zuweilen um
die Existenz, hängt dnvou ab, daß einflußreiche Persönlichkeiten, hervorragende
Organisationstalente sür sie eintreten. Bei diesem Zustand darf sich die deutsche
Musik auf die Dauer nicht beruhigen. Holland und die Schweiz haben, jenes
durch seine Maatschappij, diese durch ihren Allgemeinen Musikverein gezeigt, wie
hier Landesarbeit dem örtlichen Vermögen vorgehn und nachhelfen muß. Von
einem größern Verband aus die einzelnen Glieder zu kräftigen, war seinerzeit
"und bei uns ein Hauptanlaß zur Gründung der Musikfeste, insbesondre der
rheinischen.
Zu verhüten gilt es eine falsche innere Entwicklung des Konzerts. Hier
hat es, nur von wenigen bemerkt, schon längst den richtigen Weg an zwei
wichtigen Punkten verloren. Der eine ist das Verhältnis von Vokal- und
Instrumentalmusik, der andre der Charakter der Programme.
Daß die Instrumentalmusik immer weiter vordringt, die Vokalmusik zurück¬
weicht, ergiebt sich schon aus der Kompositionsstatistik. Vor hundert Jahren
noch zeigten sich beide Gruppen im ziemlichen Gleichgewicht, im Jahre 1896
dagegen standen 6867 deutschen Instrumentalwerken 3756 vorwiegend kleine
Vokalkompositionen gegenüber. Nur das Lied blüht, in Oratorium und Cantate
stockt die Produktion, der Stil hat an Sicherheit der Formen und noch mehr
an Voknlität eingebüßt, und darüber ist dem deutschen Chorverlag der in der
Periode Hahdn-Mendelssohn so wichtige englische Markt verloren gegangen.
Das liegt zum Teil an äußern Umständen, an Organisativnsmängeln, in der
Hauptsache aber ist diese Erscheinung das Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses,
der im siebzehnten Jahrhundert beginnt. Nach Jahrtausenden der Unterdrückung
gelangen die Instrumente ans einmal mit der Einführung von Monodie und
Oper zu derselben Wichtigkeit wie die Menschenstimme, begleiten sie als .Kame¬
raden; ihre selbständige Mitwirkung ist der wesentlichste Zug im neuen Gesaug¬
stil, in der nuovL inusiode. Als dann am Ende des achtzehnten Jahrhunderts
Oper und Oratorium und damit die höhere Vokalkomposition in den Nieder¬
gang der alten Kulturideale, der Bibel und der Antike, hineingezogen wird,
geht die Führung in der Tonkunst an die Instrumente über; aus den ehe¬
maligen Heloten werden Tyrannen. Vergebens haben R. Wagner, G. Gervinus,
Ed. Grell und andre einsichtige Kenner vor der Überschätzung der reinen In¬
strumentalmusik gewarnt. Ihre Vorherrschaft scheint durch Beethoven für
ewige Zeiten gesichert zu sein, und die Mehrheit der heutigen Musiker sieht mit
A. Rubinstein in der Vokalmusik eine Kunst zweiter Klasse. Auch das Konzert
hat sich dieser Anschauung anbequemt. Orchesteraufführungen und Chorauf¬
führungen verhalten sich wie 4:1; die seinerzeit von I. Brahms in den Wiener
Gesellschaftskonzerten, von Wüllner im Kölner Gürzenich vertretenen Bestre¬
bungen, auf den sogenannten gennschten Programmen der Gesangmusik wieder
einen breitern Raum zu gewinnen, sind nicht durchgedrungen, die Dirigenten
und die Vereinsvorstände haben sie kaum beachtet, die Komponisten haben nicht
verstanden, wozu das Schicksalslied, die Rauie, der Parzengesang und die
Harzreise auffordern wollten. Nun soll man zwar nicht Instrumentalmusik
und Vokalmusik gegeneinander ausspielen, denn sie befruchten einander und
teilen die Ernte. Aber noch viel weniger soll man ruhig zusehen, daß die
Vokalmusik großen Stils verdirbt, während die Instrumentalmusik wuchert.
Es hat seinen Grund, wenn Altertum und Mittelalter der selbständigen In¬
strumentalmusik Schranken zogen, und die Gegenwart irrt, wenn sie ihr die
Musik als freie Kunst ohne weiteres aushändigt. Bei den meisten Menschen
knüpfen die ersten tiefen musikalischen Eindrücke nicht an Lieder ohne Worte,
sondern an Gesangstellen an. Dem Verein von Ton und Wort verdanken
wir die Monteverdi, Händel, Mozart, Wagner. Um ihrer selbst und um des
Volkes willen darf die Musik das Band nicht zerreißen, das sie in der Vokal-
komposition sicher mit dem allgemeinen Geistesleben verknüpft. Wird der Ton¬
kunst der instrumentale Teil unterbunden, so ist immer noch ein Jvsquin,
ein Lasso, ein Palestrina möglich; um den vokalen Teil gekürzt, stirbt sie oder
artet aus.
Schon heute sehen geistvolle Musikfreunde die Anzeichen dieser Aus¬
artung in dem Charakter der neusten Jnstrumentalkomvosition, in ihrer Hin¬
neigung zu Programmen und zu Tonmalerei. Da liegt jedoch die Ausartung
weniger auf der Seite der Kunst als der Kritik. Diese arbeitet mit einem
falschen Begriff vom Wesen der Instrumentalmusik. Es giebt keine absolute
Musik, sondern die Musik ist eine geborne Hilfskunst, von jeher und überall
aufs Anlehnen und Beleben, auf außermusikalische Unterlagen und Stützen
verwiesen. Ihre höchste, ihre unvergleichliche und dämonische Kraft entfaltet
sie im Dienen, im Dienst von fertigen Texten und Dichtungen oder im Dienst
von ungeschriebnen Ideen. Die letzte Aufgabe füllt der Instrumentalmusik
zu. Jede gute Jnstrumentalkomvosition ohne Unterschied von Zeit und Form
geht von Ideen, von Stimmungen und Vorstellungen aus, die dem geübten
Musiker wenigstens im Umriß klar erkennbar sind und sein müsse:,. Wie
könnten sonst Dirigenten und Lehrer über den Bortrag aufklären, den Geist
des Ganzen und der einzelnen Stellen wahren? Jede gute Orgelfuge, jede
Klaviersonate, jedes Konzert und jedes Orchesterwerk hat einen Inhalt, der
ein Niederschlag innerer Erlebnisse oder äußerer Eindrücke ist, jedes gute Jn-
strumentalstück ist entweder innere oder äußere Programmmusik. Beethovens
fünfte Sinfonie z. B. gehört zur ersten, seine sechste, die Pastorale zur zweiten
Gruppe, Schuberts C dur-Sinfonie zu beiden. Der einen Jdeeuquelle können
ebenso große Kunstwerke entspringen, wie der andern. Im allgemeinen jedoch
ist bisher die Vorliebe für äußere Programmmusik ein Merkmal geistig ärmerer
Zeiten, eine Eigentümlichkeit von Entwicklungs- und Übergangsperiodeu gewesen.
Dem entspricht es, daß sie in der Gegenwart wieder merklicher vordringt. Die
Musik wird von ihr auf die Dauer ebensowenig überflutet werden, wie die
Malerei als Kunst jemals in bloße Farbenstudien auslaufen kann. Einstweilen
rühren die musikalischen Sezessionisten mit ihrem Schilderungseifer und ihrem
Realismus den inhaltlosen und zwecklosen Formalismus heilsam auf.
Der Komposition hat also die Bevorzugung der Instrumentalmusik im
Konzert noch nicht erkennbar geschadet, wohl aber dem Publikum. Der Durch¬
schnitt der Abonnenten ist dem starken Verbrauch von Sinfonien und ähnlichen
Kompositionen, vor die es in den sogenannten gemischten Konzerten gestellt
wird, nicht gewachsen. Die humoristische Kritik, der Goethe im Prolog zum
»Faust" das Theaterpublikum unterzieht, paßt auch auf den Konzertsaal. Die
große Instrumentalmusik, darüber darf man sich nicht täuschen, verlangt Kenner¬
schaft und gründliche Vorbereitung, sie will im großen und kleinen, im ganzen
und einzelnen genau so verstanden sein wie eine Dichtung. Unter dieser Be¬
dingung kann sich eine gute Jnstrumentalkomposition mit einer bedeutenden
Dichtung an geistiger Ausbeute sehr wohl messen. Wenn französische Schrift¬
steller immer wieder das Eindringen der Musik in ihre Salons deshalb be¬
klagen, weil sie dem Gedankenaustausch nichts biete, so beweisen sie damit
nur, daß sie arge Dilettanten sind. Die Instrumentalmusik setzt Hörer voraus,
die die Sprache der Musik im allgemeinen sicher gelernt und die Werke,
im besondern die zur Aufführung bestimmten, studiert haben. Solche Hörer
sind die Regel in den Soireen der Streichquartette. Unter den Abonnenten
der sogenannten großen Konzerte haben wir in Deutschland glücklicherweise
überall eine Anzahl Musikfreunde, die den Sinfonien der Klassiker und der
Modernen als wirkliche Kenner gegenüberstehn und bis in die verstecktesten
kleinen Züge alle Feinheiten der Komposition oder der Ausführung empfinden.
Aber sie machen nur selten die Mehrheit aus. Überall mischen sich mit ihnen
zahlreiche Hörer, die hauptsächlich ihre Billets absitzen, die keine Hausmusik
getrieben, keine musikalische Bildung erworben, die nicht einmal das Ohr ge¬
schult haben, und noch viel mehr, die diese Bedingungen mit ungenügenden
Versuchen erfüllt glauben. Darum kommen so viele aus den Konzerten, die
sich über die Kunstwerke nur mit vagen Jnterjektionen zu äußern wissen.
Beredt, begeistert oder entrüstet sind sie über Ausführung und Persönlich¬
keiten; hier auch, wenn es sich um Fragen handelt, die sich ihrem Urteil
vollständig entziehn. Im übrigen rechtschaffne, aber Czerny und Bach ver¬
wechselnde Konzertbesucher gewöhnen sich im Laufe der Zeit, ihre Langeweile
zu verheimlichen, abzustreiten, schließlich die Kenner zu spielen, und gelegentlich
sitzen sie über eine Tausigsche Chopinbearbeitung mit zu Gericht. Das sind
Verhältnisse, die zunächst für Lustspiele und für neue I^kttrss ^ersanes Stoff
bieten. Aber es ist doch auch eine betrübende Erscheinung, daß die Zahl der
Heuchler und der Unmündigen unter den scheinbaren Freunden der Instrumental¬
musik so groß ist. Es muß da mit dem Konzertbesuch in den Familien strenger
genommen werden, der Privatunterricht muß besser vorbauen, und drittens muß
auch das Konzert selbst der Thatsache mehr Rechnung tragen, daß das heutige
Deutschland für die Vorherrschaft der Spielmusik doch nicht reif ist. Der ge¬
schichtlichen Entwicklung zum Trotz haben wir den Raum für Vokalmusik im
Konzert wieder zu erweitern und ihre Pflege auf kräftigere Schultern zu legen,
als sie unsre Dilettantenvereine und Liebhabcrchöre durchschnittlich bieten.
Sie sind für die Popularisierung großer Werke, für die Verbreitung leben¬
diger musikalischer Bildung zu wichtig, als daß man ihre Beseitigung wünschen
könnte, auch ist es nicht ausgeschlossen, daß sie in der Zukunft, auf die wir
jedoch nicht warten können, noch die Hoffnungen erfüllen, die vor hundert
Jahren bei ihrer Gründung gehegt wurden. Visher haben sich bei der Mehr¬
zahl die Kinderkrankheiten nur immer verschlimmert: die Not um Männer¬
stimmen, die Ungleichheit in der Vorbildung erschwert die Arbeit und drückt die
Leistungsfähigkeit herab. Als die Hauptträger der höhern Vokalmusik haben sie
sich als unzureichend erwiesen- Ein Sinfoniekonzert kostet durchschnittlich drei
Proben, für ein Chorwerk muß soviel Wochen oder Monate probiert werden-
Wenn wir wieder Oratorienkomponisten von der Bedeutung und der Frucht¬
barkeit eines Caldara, eines Händel oder auch nur eines Rolle haben wollen,
so müssen wir ihnen vorher wieder Chöre aus besoldeten Berufssängern stellen,
wie sie das achtzehnte Jahrhundert an allen Kirchen bot. Ihre Kopfzahl
braucht nicht größer zu sein als die unsrer Opernchöre und unsrer Orchester;
die Massenbesetzung ^ die durch die Dilettantenchöre zum Gesetz geworden ist,
mag den Musikfesten vorbehalten bleiben. An dem einen Ende gestützt, wird
sich die Vokalmusik uach den andern Seiten wieder erheben, Solocantate und
Madrigal werden wieder erwachen, und neue Strome musikalischen Lebens Haus
und Gesellschaft erfrischen.
Die Bedeutung, die gute Programme für das Konzert haben, wird all¬
mählich von Kritik und Fachleuten mehr und mehr erkannt. Die Güte eines
Programms liegt in dem geistigen Zusammenhang der zu Gehör gebrachten
Werke, und dieser Zusammenhang muß ebenso zwischen den Konzerten einer
Saison wie zwischen den Nummern des einzelnen Konzerts bestehn. Das ist
eine einfache Forderung des guten Geschmacks; die Geschichte kennt ihre Be¬
rechtigung genügend an. Soweit wir über die Akademien des siebzehnten
Jahrhunderts, über die ihnen folgenden Musikkollegien und andre Vorläufer
des heutigen Konzerts unterrichtet sind, tragen sie samt und sonders einen
lehrhaften Charakter, die Kunstbildung überwog vollständig den Kunstgenuß.
Der Hauptmasse nach handelte es sich um Novitätenkonzerte, um das Einleben
in die bedeutendsten neuen Erscheinungen im dramatischen Sologesang, in Cantate,
Kammerkonzert, Kammersonate, auch Sinfonie; um die Bekanntschaft also mit
ausschließlich moderner Kunst. Daneben bildeten sich zunächst nur spärlich be¬
sondre Vereine von Fachmnsikern, die die Notwendigkeit erkannten, auch für die
übrige außerkirchliche Musik einzutreten: in London die Nusiog.1 ^vtiauarimr
Looiot^, durch die in England das Madrigal bis heute lebendig geblieben ist,
in Leipzig Mitzlers Musikalische Gesellschaft, die Musikwissenschaft pflegte, in
Paris die Looi6t6 as8 vonoerts spiriwels, in Wien ihr folgend die Ton-
künstlersozietüt zur regelmäßigen Aufführung von Oratorien, die ja früher als
geistliche, halb kirchliche Musikdramen zur dienenden Kunst gerechnet worden
waren. Erst gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts werden diese Be¬
strebungen zusammengefaßt. Die Konzerte sollen nach Forkel für die Musik
die Museen und die Galerien vertreten, die letzte und höchste Stufe musikalischen
Unterrichts, große und glänzende Festveranstaltungen der freien Kunst sein.
Bunte Programme, Musikvortrnge ohne leitende Ideen sind nach seiner Meinung
nicht Sache des Konzerts, sondern der Tafelmusik, der Gesellschafts- und Ge¬
legenheitsmusik in Haus und Öffentlichkeit. Nach diesen Forkelschen Forderungen
hat das Konzert lange gearbeitet, sich durch den Lehrzweck sogar bestimmen
lassen, aus fremden Gebieten, aus der Oper Fragmente, aus der Kirche, also
aus dem Bereich der dienenden Kunst, Messen und Psalmen herüberznnehmen,
wenn bedeutende Werke am Ursprungsort nicht genügend zur Geltung kamen.
Auch noch im neunzehnten Jahrhundert beschränkten sie sich dabei wesentlich
auf moderne Produktion, bis auf einmal die alte Musik allgemein im Werte
stieg und in den dreißiger Jahren zu „historischen Konzerten," deren vereinzelte
Spuren sich schon im siebzehnten Jahrhunderte finden, drängte. Felis ging
damit in Paris voran, für Mendelssohn wurden sie in Leipzig das Haupt-
Kittel, Bachsche Orchesterkompositionen und Konzerte wieder zu Ehren zu bringen,
.aus neuerer Zeit sind die Erfolge allgemein bekannt, die Karl Riedel in Leipzig,
Emil Bohn in Breslau, A- Gevaert in Brüssel, die die Sänger von Se. Gervais
in Paris auf diesen: Weg errungen haben. Die Programme, die nach einem
geschichtlichen oder einem ästhetischen Plan angelegt sind, die die Kultur- und die
Zeitbcziehungeu ausnutzen, mehren sich offenbar. Es finden häusiger Auffüh¬
rungen sämtlicher Beethovenscher Sinfonien, sämtlicher sinfonischen Dichtungen
Franz Liszts statt, Orchesterdirigenten, Klavierspieler, Sänger widmen ganze
Konzertabende einem einzelnen Komponisten, die Chvrvereine bringen Wcihnachts-
musiken und Passionen an die rechte Stelle im Jahre, suchen auch den Anschluß
an andre Kirchenzeiten und ihre Gedankenkreise. Ob es möglich sein würde,
schon heute auf die bunten Programme mit ihrer Mischung großer und kleiner
Formen, schwerer und leichter, gedankenvoller und tändelnder Kunst ganz zu
verzichten, wird von vielen Praktikern verneint. Die Versuche bedürfen großer
Vorsicht, weil wie die Musikschulen auch die meisten Konzertinstitute, anders
als Museen und Galerien, von Besuch und Einnahme abhängig sind. Als
in den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts zwischen die Sinfonie
und andre Werke großer Kunst das kleine Lied zugelassen wurde, geschah dies
in der Hoffnung auf größere Popularität der Konzerte. Dieses erste Zu¬
geständnis an weniger gebildete Musikfreunde, das die Hvfkapellen zum großen
Teil bis heute verschmäht haben, hat aber soviel weitere nach sich gezogen, daß
die Konzerte ihren Charakter bedenklich verändert haben. Unsre Großväter
begnügten sich damit, daß ein bestimmtes Solofach auf Jahrzehnte an den¬
selben Virtuosen vergeben war. In Leipzig spielte Friedrich Schneider, der
Oratorienkomponist, solange er hier war, alle Klavierkonzerte, die Violin¬
konzerte der Konzertmeister, die Gesangsoli waren lebenslänglich oder für eine
Reihe von Wintern noch bis in die sechziger Jahre denselben Künstlern über¬
tragen; Berühmtheiten ivie Paganini oder Liszt hatten Schwierigkeiten, zum
Auftreten zu kommen. Heute sind wir nahe daran, die Künstler über das
Kunstwerk zu stellen, sogar die Dirigenten wollen genannt sein, das persönliche
Element demoralisiert das Konzert. Aus diesem Grunde allein schon empfiehlt
es sich, seine Lehrbedeutung allgemein wieder stärker zu betonen. Aber auch
das Talent, Programme zu entwerfen, hat sich stark vermindert. Schon
Mendelssohn hielt, wie wir aus seineu in Briefen vorliegenden Reformplänen
wissen, die Stileinheitlichkeit der gemischten Konzerte für gefährdet. Mittler¬
weile ist das Maß von Freiheit und Mannigfaltigkeit, von Rücksichten ans Nei¬
gungen und Fähigkeiten eines gemischten Publikums, das ein Programm allen¬
falls erlaubt, der Mehrheit der Dirigenten unklar geworden. Mit einem Leip¬
ziger Konzert, das am Ende der sechziger Jahre „Schön Ellen" von Bruch mit
dem Requiem von Brahms zusammenstellt, einem New-Uorker aus den acht¬
ziger Jahren, wo auf Bachs Cantate: „Nun ist das Heil und die Kraft" ein
Schubertsches Impromptu folgte, sind keineswegs die schlimmsten oder nur ver¬
einzelte Fülle herausgegriffen. Die Mehrzahl der Programme wird nach den
Kräften, die gerade bei der Hand sind, nach Rücksichten auf verfügbare Probezeit
und aufs Vereinsbudget entworfen, und wenn dabei die Nennte Sinfonie in die
Gesellschaft Dcwidofsscher oder Fitzenhagenscher Cellvetuden gerät, merken nur
wenige den Jahrmarktsgeist und schütteln das Haupt. Solche planlose Pro¬
gramme leiten aber geradezu den schwächern Teil des Publikums an, sichs mit
schwer verständlichen Jnstrumentalkompositionen leicht zu machen und sich ans
Äußerliche zu halten. Die Kunst begiebt sich ihres erzieherischen Einflusses,
das Konzert wird halb zur Farce und verdient die Geringschätzung, mit der
es N, Wagner und Ed. Grell betrachtet haben.
Der Grundgedanke, der zu diesem Verfall der Programme geführt hat,
ist falsch. Die Kunst darf der Schwäche nicht entgegenkommen, sondern sie
muß ihr etwas zumuten. Nicht bloß Auserwählten, sondern schlechthin dein
ganz überwiegenden Teil der Musikfreunde gegenüber kann sich das Konzert
ganz ruhig auf den Wahlspruch lips sovsrg. sse- vsrum Muäiuiu verlassen.
Nach allen vorliegenden Erfahrungen stoßen Programme, die schöne Werke
uach Gattungen, nach Schulen, nach Ländern und Zeiten ordnen, nicht ab,
sondern sie ziehen an. Das Publikum ist doppelt dankbar, wenn sich mit
dem ästhetischen Ertrag einer Aufführung, mit der Erbauung oder Erheiterung
durch die Kunst Belehrung und ein weiteres geistiges Element verknüpft, ein
sinnvoller Zusammenhang macht es sogar für minder bedeutende Werke
empfänglich. Dieser Weg, den Wert der Konzerte zu erhöhen, ist aber überall
gangbar, und er ist unerschöpflich an Ergebnissen. Ebenso wie er zu großen,
befreienden Ferublickeu über Länder und Zeiten führt, vermag er die Heimath¬
liebe zu vertiefen. Er ist unabhängig von großen und kleinen Mitteln, auch
eine bescheidne Liedertafel, wenn sie den rechten Dirigenten hat, kann ihn
gehn; es läßt sich uns ihm sogar viel an kostspieligen Solisten ersparen. Nur
dreierlei setzt er voraus: daß die leitenden Persönlichkeiten über eine umfassende
Litteraturkenntnis und geschichtliches Wissen verfügen, daß in den Programmen
Monotonie vermieden wird, und daß drittens Werke, denen der künstlerische
Gehalt fehlt, ausgeschlossen bleiben. An diesem dritten Punkt scheitern häufig
historische Konzerte, noch häufiger darau, daß sie Werke ius Programm nehmen,
die uicht ins Konzert gehören, sondern wie die Schützschen Passionen in den
Gottesdienst oder um andre Stellen dienender Kunst, die die Gegenwart nicht
mehr kennt, sie scheitern endlich daran, daß die Dirigenten den Stilgesetzen und
der Technik der alten Musik fremd gegenüberstehn.
Die Programmfrage im Konzert ist ebenso wichtig für seine Wirkung
wie das richtige Verhältnis zwischen Vokal- und Instrumentalmusik, sie läßt
sich aber leichter, ohne jeden Aufwand neuer Organe lösen. Sie ist im Grunde
eine Konservatoriumsfrage; wenn die Musikschulen ihre Zöglinge, voran die
künftigen Dirigenten, mit einem weitern Gesichtskreis und mit mehr Geschmack
ausstatten, wird sich die Reform von allein vollziehn.
Bis dahin werden wir auch gut thun, uns mit den neuerdings immer
energischer verlangten Volkskonzerten nicht zu übereilen. Gewiß, es ist aus
philanthropischen und politischen Gründen gleicherweise zu wünschen, daß die
Nation auch künstlerisch zusammensteht, aber es ist bei unsern Wirtschaftsver¬
hältnissen nicht durchführbar. Volksbibliotheken soll man gründen soviel wie
möglich, aber schon die Museen und die Galerien kommen dem eigentlichen Volk
nur mit den Düsseldorfern und mit ihrer Verwandtschaft, jedenfalls nur mit
dem kleinern Teil ihrer größten Schätze zu nutze. Noch bedeutender ist die
Kluft, die in der Musik den Werkmann von seinem Herrn trennt. Sie klafft
heute weiter als je und als natürlich. Aber niemals wird man sie dadurch
verringern oder überbrücken, daß man dem Volk einfach eine billigere Ausgabe
unsrer Abonnementskonzerte zugänglich macht. Auch wenn diese von Mängeln
freier wären, als sie sind, taugte ihre Anlage nicht für das Volk. Trotz des
Napoleonsinvaliden, dem bei W. von Lentz der Schlußsatz der fünften Sin¬
fonie ein Vivs l'einxsrsur entlockt, können Bcethovensche Sinfonien nicht
volkstümlich werden. Auch Haydnsche nicht. Man erzählt uns von dem Bei¬
fall, den sie finden, von dem Ansturm auf die billigen Billets; man über¬
sieht aber, daß an diesem Erfolg das Gefühl sozialer Befriedigung, die Er¬
regung über die neuen Bilder des stattlichen Orchesters, des rätselhaften Takt-
stöckchens, des sauer arbeitenden Virtuosen einen Anteil hat, und daß sich die
künstlerischen Eindrücke in der Regel, wo nicht auf den akustischen Teil, auf
die einfachsten Partien und auf Stücke, die an wirkliche Volksmusik anklingen,
beschränken. Auch die eingünglichsten und schönsten Melodien bleiben wirkungs¬
los, wenn sie in langen Sätzen, in kunstvollerer Verarbeitung auftreten. Die
engere Fühlung mit dem Volk liegt sehr stark auch im Interesse der Kunst;
sie hat ehemals auch der deutscheu Musik sehr wohl gethan, ist ihr aber mehr
abhanden gekommen als der ausländischen. Sie kann und muß wiedergewonnen
werden, aber erreichen läßt sich das Ziel nur auf Wegen, die über das Gebiet
der dienenden Kunst führen. Die sozialistische Presse zeigt besondern Eifer
für Theater und Konzerte, wir haben aus Fabrikarbeitern gebildete Männer¬
chöre, die sehr gut singen, nicht unmöglich wäre es schließlich, daß das Volk
auch an der Pflege des Oratoriums und der großen Vokalmusik mitwirkend
oder zuhörend reger teil nähme. Aber in ihrem vollen Umfang läßt sich die
freie Kunst den arbeitenden Kreisen nicht zu eigen machen, sie müßten denn in
die Lage gesetzt werden, reichlich Hausmusik zu pflegen. Wer Musik für das
Volkswohl wünscht, helfe ihr wieder zu einem breitern Platz im Volksleben!
Nach den vorhergegcmgnen Darlegungen wird die Behauptung nicht über¬
trieben erscheinen, daß sich in der Fundierung und in der Verwendung der
Musik starke Mißstände und Lücken gebildet haben, daß das musikalische Er¬
ziehungswesen und die soziale Lage der Musiker viel zu wünschen lassen, daß in
der musikalischen Versorgung von Volk und höherer Gesellschaft falsche Wege
gegangen werden, daß infolge alles dessen der Nation am vollen Segen der
Tonkunst mannigfacher Abbruch geschieht, daß an Stelle des Nutzens hie und da
Schaden tritt. Immer ist die Hauptursache: die Musiker haben versäumt zu
handeln und einzugreifen, ja mehr noch: sie haben verlernt, sich umzusehen
und zu rede». Mit dem Wegfall geordneter Vertretungen von gemeinsamen
Interessen ist ihr Staudesgewissen ermattet und eingeschlummert. Wir können
die alten Zeiten nicht zurückbringen, wo Kirchen und Behörden das Wohl der
Musik aus sich nahmen, den Stadtpfeifern die Zahl der Lehrlinge und Gesellen
vorschrieben, Einkünfte und Leistungen regelten, wo Reichtum und Wohlstand
produzierende und reproduzierende Kunst freigebig förderten, wo die Gesetze
Meister und Pfuscher schieden, Zünfte und Pfeifertage Ordnung und Ehrbar¬
keit zu wahren suchten. Auch andre Stände haben mit den Folgen der freien
Konkurrenz, mit ihren Vorteilen und Nachteilen zu rechnen. Die meisten haben
das gethan. Die Anwaltskammern, die Juristentage, die Vereine und die Ver¬
sammlungen der Ärzte haben fast amtliche Bedeutung, die Lehrerschaft treibt
mit Erfolg innere und äußere Politik, die Gewerbe verschaffen sich bei Regierungen
und Landesvertretnngen Gehör; die Musiker aber sind organisationslos geblieben.
Nur zwei bis drei Klassen des so reich verzweigten Berufs haben sich zum
Zusammenwirken in wichtigern Existenzfragen ermannt. Im allgemeinen äußert
sich seine kollegiale Kraft nur in kleinsten Dosen, orchestcrweise oder in ähnlichem
lokal beschränktem Verband. Solche Ausnahmen abgerechnet steht der deutsche
Musiker mit seinen Plänen und seinen Nöten jeder für sich allein; das einzige
Mittel, sich mit Gesinnungs- und Leidensgenossen zu verbinden, bietet sich ihm
in der Zeitung, einer an und für sich nnr zum Anregen geeigneten, bei der
herrschenden Parteizerklüftung doppelt schwachen Instanz. Diese Orgcmisations-
losigkeit hat Machtlosigkeit nach sich gezogen und was noch schlimmer ist:
Resignation und Gleichgiltigkeit. Die Mängel des Schulgesangs, des musi¬
kalischen Privatunterrichts, der Musikschulen, der Weiterbildung der Fach¬
musiker, ihrer Erwerbsverhältnisse, der häuslichen und der öffentlichen Musik,
des Chorwesens, des Konzerts liegen so sehr zu Tage, daß sie keinem ge¬
bildeten Musiker entgehn können. Die Mehrzahl hat sich aber, unbequemer
und aussichtsloser Agitation abhold, daran gewöhnt, geschlossenen Auges an
ihnen vorbeizugehn, sich auf den engen Kreis individueller Pflichten und Nei¬
gungen zu beschränken und alles, was diese nicht unmittelbar berührt, sich
selbst oder der Schriftstellerei vou Fach zu überlassen. Der Korporationsgeist
ist einem Egoismus gewichen, der auch unmoralische Mittel nicht scheut; wir
siud zu wilden, hünfig die tüchtigsten Kräfte lähmenden Zuständen gekommen.
Vielleicht klopft eines Tages die Not, die sich einzelnen Musikzweigen längst
Merkbar gemacht hat, bei allen an und zwingt zum Gemeingefühl. Das Natur¬
gesetz, nach dem mit dem Stand auch der Einzelne leidet, erschwert schon jetzt
dem Musiker den Lebensweg mehr als andern Kulturdienern; sein Los ist un¬
sichrer, karger sind ihm staatliche Vorteile und Ehren zugemessen. Es kann
"ber eine Zeit kommen, wo auch in Deutschland die Musik nicht mehr die
Kunst der Mode ist, wo sie, wie in Frankreich vordem und heute, zum
Aschenbrödel wird. Schon darum ist es dringlich, daß die Musiker aus der
Anarchie und dem Geratewohl heraus in irgend einer Weise zu einer Regierung
und zur Ordnung ihres Reiches kommen. Daß diese Notwendigkeit hie und da
erkannt worden ist, beweisen die vorhandnen Tonkünstlervereine. Sie sind nicht
bloß zu Bildungszwecken ins Leben gerufen worden, sie bieten auch die durchaus
wichtige und unentbehrliche Grundlage einer Standesorganisation und brauchen
uur in ganz Deutschland durchgeführt zu werden, wenn man die Position der
Musik wesentlich stärken will. Da sie aber nur lokal wirken können, genügen
sie nicht allein; neben und über ihnen bedarf es einer Zentralvertretung des
Musikerstandes, seiner Ideen und Interessen. Auch diese Forderung ist alt,
sie hat vor fast einem halben Jahrhundert zur Gründung des „Allgemeinen
Deutschen Musikvereins" geführt. Bekanntlich geht die Idee noch auf R, Schu¬
mann zurück, und als der Verein unter Liszt und Brendel im Jahre 1859
wirklich ins Leben trat, umfaßten seine Statuten die gesamten künstlerischen
und materiellen Interessen der deutschen Musik so vorzüglich, daß er bestimmt
schien, bis in die fernsten Zeiten über ihr als menschliche Vorsehung zu walten.
Leider ist das Institut teils durch die Ungunst der Zeit, teils durch eigne
Schuld verhindert worden, jemals die übernommnen Aufgaben vollständig
zu lösen.
In dem Augenblick, wo der Verein seine Wirksamkeit begann, tobte der
Streit um die sogenannte Zukunftsmusik am heftigsten. Es war für ihn Pflicht,
diese neue Kunst zum Wort zu bringen, aber er verdarb es dadurch von vorn¬
herein mit ihren Gegnern und versäumte die in der gleichzeitig eintretenden
Bewegung für Bach, für Händel, für alte Musik überhaupt, reichlich gebotene
Gelegenheit, sie zu versöhnen. Die allgemeine Teilnahme war dadurch aus¬
geschlossen, der deutsche Musikverein wurde ein Kampf- und Parteivcrein. Als
solcher hat er zum Sieg der neudeutschen Schule sehr viel beigetragen, auch
die Kenntnis ausländischer Musik verdienstlich vermittelt und manches junge
Talent gefördert. Aber er fand nicht rechtzeitig weitere Arbeitsfelder und
erregte schließlich mit seinen Festen nur das Interesse der Festgeber und weniger
treuer Stammgäste. Ein Hauptstück der Vereinsthätigkeit, der sogenannte
Musikertag, auf den die Statuten die Erörterung von Zeitfragen verwiesen,
war, von jeher schlecht geleitet, schon bald ganz weggefallen.
Die Geschichte dieses Allgemeinen Deutschen Musikvereins ist hier erzählt
worden, weil sie lehrreich ist, und weil der Verein, wenn auch einflußlos, noch
besteht, also für die Verwirklichung musikalischer Standesvertretung einen
willkommnen Anhalt bietet. Von dem neuen Vorstand, den er sich jüngst ge¬
geben hat, wird es abhängen, ob das Institut der deutschen Musik das wird, was
es ursprünglich wollte, und was sie braucht: das Zentralorgan ihrer Selbst¬
verwaltung. Wenn die Fehler der Vergangenheit in Zukunft vermieden, wenn
die Aufgaben, die für die deutsche Musik vorliegen, auf allen Gebieten, auch den
scheinbar fernern und künstlerisch unbedeutendem umsichtig in Angriff genommen
werden, wäre es nur in der Ordnung, daß mit der Zeit für die wichtige Mission
des Vereins der ganze Stand einträte. Daß die neue Führung für die Interessen
der Komponisten vorgegangen ist, daß sie den Programmen der letzten Fest¬
aufführungen ein bestimmtes Gepräge gegeben hat, muß das Vertrauen erwecken,
daß sie beide Jnterefsenseiten zu überwachen weiß. Auch die Konzerte des
Vereins sind noch nicht überflüssig geworden; es wäre im Gegenteil zu wünschen,
daß sie häufiger stattfanden und in der Thätigkeit von Zweigvereinen ein Echo
erweckten. Stoff liegt in überreicher Menge vor, nicht bloß in modernen Kom¬
positionen, sondern auch in schwebenden Stilfragen alter und neuer Musik.
Alle die Liszt-, Wolf-, Bach- und Händelvereine beweisen nur, daß der All¬
gemeine Deutsche Musikverein vordem seine Schuldigkeit nicht gethan hat. Von
größerer Wichtigkeit jedoch als selbst das musterhafteste Konzertieren ist die Neu¬
belebung des Musikertags. In ihm ist das Organ vorhanden, das der Verein,
wenn es ihm gelingt, sich die Mehrheit der gebildeten deutschen Musiker ein-
zureihen, zur Information und Repräsentation haben muß. Die gesamte musi¬
kalische Schulung, das Konzertwesen, die Musik in der Kirche, im öffentlichen
Leben, die Musik als dienende und als freie Kunst ist ihm anzuvertrauen, ihm
fällt die Verantwortung für die Bildungsfragen, für die wirtschaftliche und die
soziale Wohlfahrt der Musiker ebenso zu wie die Sorge, daß die Wirkuugsbahn
der Musik nicht grundlos beschränkt werde, daß alle Formen ihrer Verwendung
im rechten Verhältnis zu einander stehn, daß dem Volk das Maß von Musik
zuteil wird, auf das es Anspruch hat, daß das Konzert seinen Zweck erfüllt,
daß jede Art von Unterricht das leistet, was ihr zugewiesen ist. Als beratende
und beschließende Körperschaft steht der Musikertag vor einer ungeheuern Fülle
wichtiger Aufgaben. Er hat auszugleichen, was drei Generationen versäumt
und verbrochen haben, und braucht dazu eine Regierungsweisheit, in der sich
mit großem Blick über die gesamte Lage und Arbeit des Standes eingehendste
Spezialkenntnis der verschiedensten Reviere vereint. Nur eine Leitung, in
der neben der eigentlichen Tonkunst auch Volksschule, Gymnasium, Universität,
Kirche, Kommunalverwaltung, Presse, musikalischer Verlag und Handel, Jn-
strnmentenbcm überlege» vertreten sind, wird diesen vielfältigen Bedarf decken
können. Der eingerissenen Verwilderung zu steuern, muß er auch als Dis¬
ziplinarbehörde das Recht haben, käufliche Referenten und ihre Auftraggeber
zur Ordnung zu rufen und jeder Art von Ehrlosigkeit zu steuern. Das sind
große Anforderungen, aber keine unausführbaren. Für eine solche Zentral-
vertretnng bieten den Musikern die andern Stände Muster genug. Die wirkliche
Schwierigkeit liegt nicht darin, einen Musikertag einzurichten, sondern darin,
ihm Autorität zu verschaffen.
Hier ist der Punkt, wo die Einsicht und der gute Wille des Standes am
Ende seiner Macht steht, wo er ohne Unterstützung des Staates nichts aus¬
richtet. Schon früher wird er wahrscheinlich dieser Hilfe bedürfen. Denn von
der Einigkeit der Musiker, die die Voraussetzung eines Allgemeinen Deutschen
Musikvereins und seines Musikertages ist, sind wir bei dem fast vollständigen
Mangel an Standesgefühl und um Einsicht für Standesinteresfen noch sehr
fern. Noch zeigt sich nirgends auch nur die Spur einer Agitation, die Musiker
unter einen Hut zu bringen, zum Beitritt zu einem Allgemeinen Verein zu
bewegen.
Da wäre, wie bei Kindern, ein sanfter Zwang eine Wohlthat. Eine
Petition von einer Anzahl namhafter Musiker an die Landtage oder an den
Reichstag gerichtet, würde diese Wohlthat, daß nämlich den deutschen Ton¬
künstlern eine Standesorganisation vorgeschrieben wird, erbitten können. Der
einfachere Weg wäre, daß die Regierungen aus freien Stücken die Angelegen¬
heit vor die Parlamente brächten. Ihr Recht zum eignen Vorgehn ist an
und für sich unbestreitbar, und thatsächlich bekennt in Deutschland jeder Staat
dadurch eine Verpflichtung, für die Musik zu sorgen, daß er sie unter die
obligatorischen Fächer der Volksschulen und der höhern Lehranstalten auf¬
nimmt. Einzelne Regierungen gehn noch weiter, indem sie Orgelrevisoren,
Prüfungskommissionen für Musiklehrer an Seminarien, hier und da auch für
musikalische Privatlehrer bestellen, an den Universitäten die Musikwissenschaft
zulassen, zeitweise wichtige musikalische Unternehmungen mit Zuschüssen unter¬
stützen. In Österreich verfügt das Kultusministerium über besondre Fonds
zur Förderung junger Komponisten, ihnen hat die musikalische Welt einen
Goldmark, einen Dvorak mit zu verdanken. Preußen hat wiederholt die
Kirchenmusik in besondre Obhut genommen, für ihre Angelegenheiten In¬
spektoren und Kommissare, darunter Zelter und C. von Winterfeldt, ernannt,
in Berlin und in größern Provinzstädten eigne Schulen für Organisten und
Kantoren errichtet. In der Königlichen Akademie der Künste hat die Musik
die ihr gebührende Stellung gefunden, sie verfügt hier über eine nach jeder
Richtung den Charakter des Staatsinstituts tragende Hochschule. Die große
Bachausgabe ist zum großen Teil das Werk des preußischen Kultusministeriums,
die neuen „Denkmäler deutscher Tonkunst" gehn unmittelbar von ihm aus;
schon hat sein Beispiel in Bayern Nachfolge gefunden. Die außerordentlichen
Aufwendungen, die die deutschen Regierungen für Musik bewilligen, stehn,
summiert, dem ordentlichen Musikbudget des französischen Staates, das in dem
^nnuairs as wnsiauiz so stattlich aussieht, kaum nach.
Jedenfalls beweisen die aufgezählten Fälle hinreichend, daß der deutschen
Musik an den entscheidenden Stellen Wohlwollen entgegengebracht wird, und
daß die Musiker keinen Grund haben, sich gegen die bildenden Künstler zurück¬
gesetzt zu fühlen. Zwar baut ihnen der Staat keine Akademien und Museen,
ermuntert und stützt sie nicht mit großen Aufträgen, aber nirgends ist auch
für die Musik ein ähnliches Staatspatronat erbeten oder gar als Lebens¬
bedingung nachgewiesen worden. Auch in Zukunft wird die Musik den Finanzen
des Staats nicht beschwerlich zu fallen brauchen. Der Stand ist in der Lage,
wie bisher so auch ferner die nötige Arbeit allein zu leisten und die Betriebs¬
mittel aufzubringen. Aber es ist eine Existenzfrage für die Musik, daß der
Staat den Stand mit seiner Autorität, mit seiner Polizeigewalt unterstützt,
daß er die Berufsmusiker erst in einen wirklichen, organisierten Stand sammelt,
sei es gütlich oder zwangsweise. Es ist dann Sache der Vertretung dieses
Standes, die Angelegenheiten, die sich durch die Musiker und die Musikfreunde
allein nicht erledigen lassen, ordnungsmäßig den Regierungsorganen zu unter¬
breiten. In der Hauptsache werden sie sich auf das Bildungswesen beschränken-
Immerhin aber benötigt das Verhältnis eine Kraft, die von Staats wegen die
Musik im Lande von hoher Warte aus überwacht. Die Kultusministerien
würden deswegen gut thun, dem vortragenden Rat für bildende Kunst, der
wohl nirgends in den größern Ländern fehlt, in einem musikalischen Fachmann
einen Kollegen zu geben. Die materiellen Werte, mit denen der Staat an der
Musik beteiligt ist, bieten ja zu einer solchen Neuerung keine Veranlassung-
Wohl aber die moralischen. Der ungeheure Einfluß, den die Musik auf den
Charakter des Volks ausübt, rechtfertigt es, ja er nötigt dazu, daß der Staat
ihre Pflege nicht bloß beachtet, sondern daß er die Kontrolle und die Verant¬
wortung übernimmt. Es hat sich als unthunlich erwiesen, die Musik den Musikern
zu überlassen. Aber auch wenn der Musikerstand in künftiger Zeit an Umsicht
bedeutend zunehmen sollte, bedürfte es einer Instanz, die über ihm und über
allen einseitigen Neigungen stehend die Entwicklung der Tonkunst im Zusammen-
sang mit der Kultur und dem gesamten Geistesleben hält. Diese Instanz zu
stellen, ist die musikalische Aufgabe der Kultusministerien. Da sie sich nach den
bisherigen Erfahrungen weder durch gelegentliche Befragung von einzelnen
Autoritäten oder von Kollegien, noch durch das ständige Referat eines Dilettanten
genügend lösen läßt, so empfiehlt es sich, mit der Anstellung eines den weit
verzweigten Organismus der Tonkunst beherrschenden, vom allgemeinen Ver¬
trauen getragenen Musikrats wenigstens einmal einen Versuch zu machen.
Auf die Errichtung einer solchen Stelle beschränken sich die Opfer, die die
Musik von Staat und Land erbittet.
Die an die Spitze dieser Schlußbetrachtungen gestellte Frage findet also
ihre Antwort durch die Formel: Stand und Staat!
rofessor Dr. Kohl veröffentlicht unter dem 30. Oktober dieses Jahres
eine Erklärung, worin er mit Entrüstung die in Professor Lorenzens
Buch „Kaiser Wilhelm und die Begründung des Reichs" enthaltene
Behauptung zurückweist, daß der im zweiten Bande Seite 116/7 der
„Gedanken und Erinnerungen" stehende, die Stellung des Kronprinzen
zur Kaiserfrage behandelnde Passus einer in den „sogenannten" Tnge-
ouchblä'elem Buschs vom 10. Februar 1889 enthaltenen Stelle entnommen und somit
ohne Fürst Bismarcks Vorwissen oder Zustimmung in das Buch gekommen sei.
Die ein wenig an die berühmten Beteuerungen Johann Maria Farinas, gegen¬
über dem Jülichsplcch, erinnernde Veröffentlichung würde an sich die Grenzboten
nicht berühren, da es „ernsthaften und objektiven Historikern," wie sich Professor
Kohl ausdrückt, und wie es beide Professoren zweifelsohne sind, vorbehalten bleiben
nuiß, die Streitfrage, wer von ihnen dem Publikum das „allein echte" liefert, unter
sich auszumachen. Da aber Professor Kohl bei der Zurückweisung der von Professor
?orenz ausgesprochnen unfreundlichen Vermutung — übrigens, wie er hervorhebt, in
Übereinstimmung mit diesem — die Bnschischen Tagebuchblätter als das „Elaborat eines
untergeordneten Geistes," als „eine trübe und unlautere Quelle" bezeichnet, so darf
das — Busch ist tot und kann sich nicht selber wehren — hier nicht ohne Ent¬
gegnung bleiben.
An der Bezeichnung „Elaborat" braucht man ja an und für sich keinen An-
ktoß zu nehmen, da das Wort Elaborat nur in gehässigen Munde die Neben¬
bedeutung des Mühseligen und peinlich Zusammengeschleppten hat. Ebensowenig wie
es die beiden ernsthaften und objektiven Historiker irgend jemand verübeln können,
wenn er ihre hier in Frage kommenden Bücher als Elaborate bezeichnet, ebenso¬
wenig wird mit diesem Fremdwort, für das die deutsche Sprache bekanntlich mit
°em ehrlichen und zu keiner höhnischen Nebenbedeutung veranlassenden Ausdruck
„Arbeit" aushelfen kann, dem Toten zu nahe getreten. Auch an dem „untergeordneten
leiste" braucht man nicht zu mäkeln, da es sich bei der Unterordnung offenbar
"ur um einen Vergleich zwischen Bismarck und Busch, im ganzen Leben aber nicht
um einen solchen zwischen Professor Kohl und Busch handeln kann. Wenn der
Umstand, daß das Wort „untergeordnet" der Feder Kohls entflossen ist, irgend
lemcind auf den Gedanken bringen sollte, daß er sich Busch dein Professor Kohl
gegenüber als untergeordneten Geist vorzustellen habe, was dieser schwerlich becib-
fichtige haben kann, so würde er wohlthun, die beiderseitigen Leistungen auf den
zugesetzten Spiritus hin zu vergleichen. Der Beruf des ernsthaften und objektiven
Historikers stellt an die Fähigkeiten und die Charaktereigenschaften des Mannes
andre Anforderungen als der des Schreibers politischer Artikel für die Tagespresse:
deshalb kauu der ernsthafte und objektive Historiker eine sehr hohe Meinung von
sich haben, ohne deshalb in der für die Bescheidenheit des wahrhaft feinen Mannes
schmerzlichen Notwendigkeit zu sein, auf einen Mann wie Bismarcks „Büschlein"
als auf einen „ihm" untergeordneten Geist hinabzusehen.
Wogegen hier protestiert werden soll ist die Bezeichnung: „trübe und unlautere
Quelle." Wer nicht mit geistiger Blindheit geschlagen oder sonst hoffnungslos
voreingenommen ist, muß ganz im Gegenteil nach Durchsicht der Buschischen Auf¬
zeichnungen zu der Überzeugung kommen, daß er es bei Busch mit einer durchaus
klaren und lautern Quelle zu thun hat, und wenn die beiden Herren Professoren
diesen Eindruck nicht gehabt haben, so thut einem das ebensowohl ihretwillen als um
der auf ihren Namen schwörenden willen leid. Den Ruf und das Andenken Buschens
kann das uicht gefährden. Über Buschens Glaubwürdigkeit zu disputieren, würde
unter solchen Umständen zu nichts führen: man kann nur auf die Tagebuchblätter ver¬
weisen und jeden unparteiischen Leser fragen, ob er bei deren Durchsicht den Ein¬
druck gehabt hat, aus trüber und unlauterer Quelle zu trinken, und ob der Mann,
der mit naiver und geradezu kindlicher Harmlosigkeit jede Gelegenheit erwähnt, bei
der er sich durch Mangel an „Welt" in den Augen Bismarcks oder seiner Um¬
gebung eine leichte Blöße gegeben hat, ihm den Eindruck eines gewissenlosen und
nicht vielmehr eines erstaunlich zuverlässigen Berichterstatters gemacht hat. Die
Art, wie Busch in seiner Verehrung für den großen Mann sein Verhältnis zu ihm
und seinen Beruf als Berichterstatter auffaßt, braucht nicht jedem wohlthuend und
sympathisch zu sein. Als einen des Brauchs und der Vorurteile der großen Welt
etwas unkundigen und in seinem Auftreten deshalb nicht immer glücklichen Mamelucken
Bismarcks könnte man Busch zur Not schon bezeichnen hören, ohne davon so em¬
pfindlich verletzt zu werden, wie durch das aus dem dazu am wenigsten berufnen
Munde gefallue Wort „Parasit," aber an der Treue und der Zuverlässigkeit der
Buschischen Berichte über das, was ihm der große Kanzler gesagt, und was er in
dessen Umgebung gehört hat, zu zweifeln, ist einem unmöglich. Für die geradezu
goldne Glaubwürdigkeit spricht sowohl die Schärfe der Buschischen Beobachtung wie
die merkwürdig geschulte Treue seines Gedächtnisses und eine Virtuosität in der Wahl
des Ausdruckes, die auch der leisesten Schattierung gerecht wird und somit jedes
mögliche Mißverständnis auszuschließen scheint.
Und wie nun? Professor Kohl ist über die Möglichkeit, daß ihm Professor
Lorenz andeutungsweise in den unverdienten Verdacht versuchter Fälschung und er¬
sonnener Lüge gebracht haben könnte, vollkommen außer sich, und bei der Abwehr
des ihn so tief verletzenden Vorwurfs trägt er doch kein Bedenken, dem Toten
das nachzusagen, was er als Beschimpfung des Lebenden von sich abweist. Busch
giebt auf Seite 268 ff. des dritten Bandes der Tagebuchblätter auf das ausführlichste
an, an welchem Tage, zu welcher Stunde, unter welchen Umständen und zu welchem
Zwecke Bismarck ihm die auf den Kronprinzen und dessen Ansichten über die Kaiser¬
frage bezüglichen Mitteilungen gemacht habe. Ur. 8 der Grenzboten vom Jahre 1339
enthält den auf Grund der Bismarckischen Instruktionen von Busch aufgesetzten, auf
den Wunsch und unter direkter Beteiligung des Kanzlers zweimal abgeänderten
Artikel. So klar, lauter und zwingend das alles dem Unbefangnen erscheint, Pro¬
fessor Kohl, den ernsthaften und objektiven Historiker scheint es nicht zu befriedigen.
Alle, die mit der Vorbereitung und der Aufzeichnung der Bismarckischen Denkwürdig¬
keiten zu thun gehabt haben, unter ihnen in erster Reihe Lothar Bucher, bestätigen
die bei einem Manne von Bismarcks Lebhaftigkeit überaus begreifliche Thatsache, daß
sich der Vergangenheit angehörende Einzelheiten nach Ort und Zeit, mitunter auch
in sonstiger Beziehung in seiner Erinnerung heute so, morgen etwas anders zeigten
und gruppierten. Das geht uns allen so, nur daß die leichten Abänderungen, mit
denen wir uns ein Erlebnis oder eine psychologische Erscheinung in der Erinnerung
zu verschiednen Zeiten vergegenwärtigen, bei uns, die wir keine Bismarcke sind,
nicht viel ausmachen, und daß sie uns deswegen auch nicht nachgerechnet werden.
Statt nun einfach zu bestätigen, daß der in den „Gedanken und Erinnerungen"
enthaltene, von Lorenz verdächtigte Passus authentisch ist und sich, was an sich
die Glaubwürdigkeit dieser Bestätigung nur erhöhen würde, mit der Bnschischen Dar¬
stellung deckt, wobei dem Leser überlassen bliebe, sich die scheinbare Diskrepanz der
kronprinzlichen und der Bismarckischen Darstellungen so oder so zu erklären, zieht
Professor Kohl aus purer Freude um Verurteilen vor, die Gelegenheit beim Schöpfe
zu nehmen und Busch etwas auszuwischen, indem er die Glaubwürdigkeit der von
diesem mit allen Einzelheiten geschilderten Unterredung in Zweifel zieht. Busch
soll das, was er Bismarck in den Mund legt, ans den Diktaten Bismarcks, wie
sie ihm Lothar Bucher zugänglich gemacht hatte, ausgezogen und dann der Wahrheit
zuwider als direkte Mitteilung des Kanzlers an ihn ausgegeben haben.
Wie kommt Professor Kohl zu dieser abgeschmackten Verdächtigung? Man
kann sich des Gedankens nicht erwehren, daß der ernsthafte Historiker seine Objektivität
so weit getrieben habe, sich gar nicht um den im Februar 1889 erschienenen Grenz¬
botenartikel zu kümmern. Er hätte doch sonst sehen und wissen müssen, daß dieser Ar¬
tikel („Die Kaiserfrage und die Geffckenschen Tagebuchblätter"), den Bismarck gesehen,
abgeändert und schließlich gebilligt hatte, der also jedenfalls dessen Erinnerungen
und damaligen Ansichten entsprach, und den Busch nun und nimmermehr ohne
ihm erteilte spezielle mündliche Instruktion hätte abfassen können, in der Haupt¬
sache schon alles enthält, was später sowohl die „Gedanken und Erinnerungen" als
auch die Buschischen Tagebuchblätter über den Gegenstand gebracht haben, daß also
Busch für diese nicht erst aus einem ihm mitgeteilten Manuskripte, das im Februar 1889
noch gar nicht existierte, zu schöpfen brauchte.
Wir wollen den Spieß nicht umdrehn und behaupten, daß Herrn Professor
Kohl eine absichtliche Verdrehung der Thatsachen vorzuwerfen sei; nur nehmen viel¬
wehr an, daß der ernsthafte Historiker wirklich keine Ahnung von dem Grenzboten¬
artikel und seiner Beweiskraft sowohl für die Stelle der „Gedanken und Erinnerungen"
Wie für die in Buschens Tagebuchblättern hat; er hat sich weder um diese noch um
den Grenzbotenartikel gekümmert. Das aber bezeichnen wir als eine Leichtfertig¬
keit, die sich wunderlich ausnimmt neben der Gehässigkeit dieses unmotivierten und
on soir, von soir! Da wären wir wieder in Deutschland.
Mit diesen Worten sprang Jean Leporö aus dem Frankfurter
Harmonikazug und schüttelte dem großen, blonden jungen Mann, der
ihn erwartet hatte, kräftig die Hand.
Willkommen, sagte der und betrachtete den feingliedrigen Jüng¬
ling mit einer leisen, mißtrauischen Spannung. — Ehrlich gestanden:
ein unerwarteter Gast.
Leporü lachte; ein Hauch von Verlegenheit ging dabei über sein hübsches, offnes
Gesicht. Er griff nach Handtasche und Schirm, ließ die Augen über die Menschen-
sulle des Bahnsteigs schweifen und sagte endlich: Wie spricht euer großer Poet und
Weiser, der für alles ein Sprüchlein hat? — Man glaubt zu schieben, und man
Wird geschoben.
Also wider Willen?
Ob., ob! x^s an Wut! Gern, von ganzem Herzen. Aber obwohl ich gern komme
und mich nach dem alten Erfurt und den holden Jugendeseleien — so sagt ihr
doch? — gesehnt habe, ich Ware wahrscheinlich doch aus lauter lieber Bequem¬
lichkeit in Paris geblieben — wenn nicht —
Er brach ab, gab einem Dienstmann Schein und Tasche, brannte sich eine
Cigarette an und sah sich um. Dann fragte er: Doch zu Fuß? Die drei Jahre
erscheinen mir wie eine Ewigkeit; ich muß sehen, ob noch alles auf seinem Platze steht.
Hier draußen in der Stadt, wie drinnen bei euch in dem kleinen lieben Hause.
Robert antwortete nur mit einem Kopfnicken. Stumm gingen die beiden jungen
Männer zum Bahnhof hinaus.
Fünf Jahre hatte Jean LeporL in Erfurt gelebt, um ein tüchtiger Gärtner
zu werden und dem Testament seiner Großmutter mütterlicherseits zu entsprechen,
einer Deutschen, die ihrem Liebling für den Fall des Gehorsams ein reiches Erbe
ausgesetzt hatte.
Diese deutsche Großmutter hatte in jungen Jahren ihren Bertrand Beauregard
aus Paris geheiratet. Sie war sehr glücklich mit ihm gewesen, und die Fremde war
ihr zur Heimat geworden — bis „der große Krieg" kam, und in seinem Gefolge
die bittre Völkerfeindschaft.
Seitdem war Frau Beauregard sowenig in Paris wie in Deutschland daheim
gewesen; ein scharfer Riß ging durch ihr Herz, und die unheilbare Wunde schmerzte
bei der leisesten Berührung. Ungelebt konnte sie ihr Leben nicht machen, deshalb
hoffte und dachte sie nichts als Versöhnung: es mußte doch wieder werden können,
wie es gewesen war. Sie suchte Samenkörner der Liebe auszustreuen, aber es
war eine vergebliche Saat, denn jedes begütigende Wort wurde ihr als Siegerhochmut
ausgelegt. Nach und nach verstummte sie denn und setzte ihre Hoffnung auf die
künftigen Geschlechter.
Diese Hoffnung hatte ihren letzten Willen diktiert. Sie verpflichtete Jean zu
sofortiger Abreise nach Erfurt und schrieb ihm den Bildungsgang der künftigen
Jahre vor. Auch die Familie, in der er leben sollte — entfernte Verwandtschaft —,
war genannt und unterrichtet worden.
Wenn er nur in Erfurt ist, wird er uns schon lieb gewinnen, redete sie sich
vor. Seit den siebziger Jahren sagte sie wieder „uns," bis dahin hatte sie von
„drüben" geredet.'
Kurz vor dem Tode der ^r^na msrs os,xrioisuss war Jean sechzehn Jahre
alt geworden. Er brannte auf das Abenteuer: Deutschland, Erfurt, die Stadt
der ragenden Türme, die in den Dämmerungsgeschichten der fremden Großmutter
eine spukhaft Phantastische Beleuchtung gefunden hatte, die Gärtnerei, die allezeit
seine Leidenschaft gewesen war, alles das lockte mächtig, und da es eine reiche Erb¬
schaft galt, hatte man ihn ziehn lassen, obwohl des Vaters Mutter, die Großmama
Lepore, täglich aufs neue behauptete, er werde nicht wieder heimkommen, denn die
Deutsche» würden ihn unauffällig vergiften: sie hätten es auf die Vernichtung der
Franzosen abgesehn und betrieben sie noch heute im kleine» ebenso heftig, wie ehedem
im großen.
Aber Jean fürchtete sich vor nichts in der Welt; nicht einmal vor der deutschen
Sprache, von der mancher verklärende Strahl durch seine Kinderstube geflogen war,
wenn Großmama Beauregard Märchen erzählte. Als ein hübscher, frischer Junge war
er damals um einem Spätnachmittag um dieselbe Zeit wie heute, in Erfurt eingefahren.
Das hellbraune Haar, schlicht und dicht, sollte durchaus von der deutschen Gro߬
mutter stammen; das viel dunklere Schnurrbärtchen, das sich erst im Schatten des
Erfurter Doms entwickelte hatte und jetzt in voller wohlgepflegter Pracht die Lippen
zierte, die fo gern lachten, hatte er vom Vater Leporü, und die Herzkirschenaugen
erst recht. Jeder sagte das, nachdem der behäbige Pariser Spießbürger im Laufe
des zweiten Jahres einmal dagewesen war, ponr satistairs ü son äsvoir.
Jean gefiel den Verwandten, und die Verwandten gefielen ihm — sehr sogar;
er hätte die Lehrzeit ganz gern ins sechste Jahr hinein ausgedehnt, aber das litt
der Vater nicht, wegen des Tropfens deutschen Bluts, der sowieso schon in dem
Gamin spuke und mit nichten obenauf kommen dürfe.
Merkwürdig, das; Jean trotz dieses Vielbeklagten Tropfens das gastliche Deutsch¬
land in Paris so schnell und so völlig wieder hatte vergessen können. Wie in einen
Abgrund versank die Großmutter Beauregard, die deutsche Luft und die deutsche
Freundschaft. Versank und ruhte. Paris verdrängte sie mit seinem Lärm und seinem
Glanz, seiner Lust und seinem Rausch, mit seiner Eile und seinem bunten, erregenden
Wechsel. Nur hatte all dieses flirrende, verwirrende Gaukelwerk dreier vollgenossener
Jugendjahre nichts umzubringen vermocht, lediglich geschlummert hatten die Erinne¬
rungen im Grunde seiner Seele, und jetzt kamen sie zurück: Kinderstubeuerinnerungeu
und Lehrjahrertnnerungen, die sich merkwürdigerweise immer vermischten, obgleich
sie in Wirklichkeit durch Raum und Zeit so scharf voneinander getrennt gewesen
waren — aber sie hatte« doch beide einen deutschen Klang und deutsche Farbe.
Nun sollte er alles wieder haben: die grauen Straßen, die arbeitsvollen Gärten,
die alte Schulstube, das lauschige, wuchernde Grün der Himbeerhecken, den Feier-
cibeudfrieden der großen Hasellaubc vorm Haus, die behagliche Ruhe des Erfurter
Mütterchens und die herbe, kindliche Unbekümmertheit der Väschen, an die er kaum
noch zu glauben vermochte nach den Erfahrungen seiner letzten Jahre, die ihm so
viel elegante, kokette Mvdevüvpchen über den Weg geführt hatten.
Auf die Mädchen war er überhaupt sehr neugierig, wie die sich entwickelt
haben mochten in drei langen Jahren, und wie sie ihm gefallen würden, nachdem
er die große Welt gesehen hatte.
Wie ein lebendig gewordnes Märchenbuch stiegen sie ans seiner Erinnerungs¬
schatzkammer auf. Rotkäppchen, das Nachbarskind, allezeit rund und lustig; dessen stolze
Schwester, die sich selbst für ein Schneewittchen hielt, weshalb sie von den necklustigen
Jungen „böse Frau Königin" genannt wurde; die ebenso alte Base Lisa, die sie
zum Dornröschen machten, weil ihr spitzes Zünglein in hundertjährigem Schlafe
gezähmt werden müsse.
Bubenspäße; aber Jean LeporL lachte auch heute uoch fröhlich auf, als er an
die Wortgefechte dachte, in denen er zunächst immer den kürzern gezogen hatte,
denn Lisa-Dornröschen sprach ein ganz muntres Französisch, behauptete aber seine
ausländischen Bosheiten nicht zu verstehn, und sein Deutsch war erst nach und nach
kampffähig geworden.
Ist Dornröschen jetzt sanfter als ehedem? fragte Jean aus seiner Erinnerungs¬
wallfahrt heraus den schweigsamen Begleiter.
Braut, antwortete der, heimliche Braut! — und wartete auf die um unumgäng¬
liche Frage: Wessen denn? aber die blieb aus. Jean dachte schon wieder an andre
Knabenfreuden.
Da blieb Robert mit plötzlichem Entschluß stehn. Sie waren gerade mitten
auf dem Domplatz, wo immer Fremde zu Aufblick und Umschau stehn blieben, aber
sie achteten nicht auf den gotischen Riesen, der seine Arme zum Himmel streckte,
sie waren beide weit ab mit ihren Gedanken. Lepore' lag so tief im Banne der
deutschen Luft, daß ihm gar nicht auffiel, wie stumm sie einander minutenlang gegen¬
über standen.
Robert suchte und fand das rechte Wort nicht; endlich begann er zögernd:
N»es eins, Jean, ehe wir nach Hause kommen — uns freut dem Gedenken, aber —
wir wundern uns doch auch — es ist so lange her — weshalb bist du denn jetzt
auf Reisen, nachdem du so lange gezögert hast? Wolltest du dir nicht in Enghien
les bains einen Garten kaufen?
Jean sah seinen Begleiter mit einem drolligen Ausdruck von Verlegenheit an.
Also du befiehlst mich immer noch wie ehedem zur Beichte, Robert, und vor geuau
dasselbe ernsthafte Gesicht wie den Schuljungen und Lehrling, den du nuf einer
Nuschelei zu ertappen meintest?
Jetzt errötete Robert. Nein, Jean, gewiß nicht! Teilnahme, ehrlich warme
Teilnahme an deinem Ergehn und an deinen Plänen. Du sollst kein Wort sagen,
wenn es dir unbequem ist.
Thorheit! Natürlich dürft ihr alles wissen. Ich denke nicht daran, etwas
zu verheimlichen. Aber vorwärts dabei! fuhr Jean fort und schob seinen Arm in
den des Vetters, der ungefähr zugleich mit ihm zu den Verwandten gekommen war
und seither noch nicht wieder ans Abschiednehmen gedacht hatte.
Wir können das im Gehn abmachen, meine Geschichte ist kurz. — M bion —
Jean hielt nun aber doch wieder inne und fand den Anfang nicht so leicht;
er warf die Cigcirette zu Boden, trat mit dem Absatz den glimmenden Rest tot
und sagte noch einmal: M visu. — Dann sprach er sehr schnell: Nichts war es —
rein gar nichts. Das winzige Steinchen, über das schon Armeen in Sieg oder
Niederlage gestolpert sind — Villaut.illÄg'E, die ganze Sache. Eine lustige Cour-
macherei, wie man das so macht, wenn man jung ist und auf einmal die Welt sieht,
und die hübschen Mädchen einen anlächelt. Sie war ein nettes Ding, aber mein
visux fand nichts an ihr, und Großmama wollte nichts von ihr wissen. Ich könnte
ja trotzdem: ich habe mein Beauregard-Erbe, ich handelte um meinen Garten — aber
Großmutterthränen, Vaterpredigten, das Achselzucken von sechs hübschen Cousinen —
schließlich — ich fand doch eigentlich selbst nichts an ihr. Man lacht doch mal und
schenkt ein paar Blumen, ohne gleich ans Heiraten zu denken, also reiste ich davon.
EntalltiI1a,g'6 doues 1'kKg,ire.
Wirklich nichts andres? fragte Robert mit einer Stimme, die nicht ganz
rein klang.
Desto Heller und lustiger antwortete Jeans Lachen.
Robert hätte um eigentlich zufrieden sein können, er kam aber nicht so schnell
von dem Heiratsthema ab.
Du machtest also ein Ende und gingst? fragte er noch einmal schwerfällig.
Ich ging. Das heißt, ich fuhr nach Eughieu les bains, und nachdem ich mich
dort versichert hatte, daß mir der Garten übers Jahr gehören werde — ein Pracht¬
gärten —, ließ ich mir von Großmutter und Vater zu der Reise zureden, die ich
nur allzu gern unternahm. Großmutter Leporü schenkte mir sogar das Reisegeld.
Ich fuhr zuerst nach Nizza und San Nemo — herrliche Gärten, sag ich dir! —
und machte GeschäftSstudieu. Auch amüsierte ich mich nebenbei von Bad zu Bad
die Niviern entlang, bis — nun, bis mir auf einmal die Erfurter Glocken zu kräftig
in den Ohren klangen — Nichtsthun macht Heimweh.
Und sie?
Wer?
Die Kinderei?
Ach so! Die hat sich im Augenblick getröstet. Aber Robert, ober s,mi, was
denkst du denn? Das war doch selbstverständlich! Ich hatte ihr doch nichts weis
gemacht. Und wenn sie sich selbst innerlich etwas weisgemacht hätte, wäre ich armer
Kerl doch nicht etwa Schuld gewesen! Nur Närrinnen hängen ihr Herz an einen
Mann, der nichts von ihnen wissen will,
Hin, Närrinnen. — Und hast du vielleicht irgendwo anders eine solche Närrin
gefunden oder gebunden?
Jetzt blieb Jean stehn, machte seinen Arm frei und sah zu dem großen Vetter
hinauf. Wirklich und wahrhaftig, der gestrenge Beichtvater von anno dazumal,
wo die Fragen etwa lauteten: Gewiß hast du dem Maikäfer ein Bein ausgerissen!
obgleich mir auch derartige Scheußlichkeiten nie in den Sinn kamen. Nein, Hoch¬
würden, ich habe nirgends gefunden und bin nirgends angebunden und denke so frei
und ledig zu bleiben wie möglich. Wenn ich jetzt noch zehn Jahre gearbeitet habe,
kann ich Ansprüche machen, und das werde ich. Ich suche mir dann das Beste
aus, zehn Meilen in der Runde — eine Vornehme mit guten Verbindungen, die
Geld hat und schön ist und mich liebt und mir alle Wünsche an den Augen ab¬
sieht und sehr jung ist. Man muß seinen Vorteil verstehn.
Robert ging Plötzlich sehr schnell, er fragte nichts mehr — das war ja un¬
gefähr so, wie er es dem oberflächlichen Jenn zugetraut hatte. Lisa sollte das gleich
hören und seine Menschenkenntnis bewundern.
Sie warten zu Hause, sagte er laut.
Sie warteten mit guten Gedanken und fröhlichen Gesichtern: Koffer und Tasche
waren schon da als Vorläufer, und drei Buben stürmten dem französischen Vetter
mit Hallo durch den Vorgarten entgegen. Einen nach dem andern fing Jean auf,
schwang ihn hoch und setzte ihn wieder auf den Sand; seine Augen schweiften dabei
weiter, dem Hanse zu.
Dort stand in der Thür Lehm — Dornröschen, die heimliche Braut, und winkte
mit der Hand; aus der Haselbuschlnnbe kamen Vater und Mutter Langner heraus.
Der Vater groß und breit wie Vetter Robert, die Mutter klein und fein gleich
der Kranä' mörv Beauregard.
Jean wurde begrüßt wie ein lieber Sohn, der ans der Fremde heimkehrt, und
ließ sich das mit Behagen gefallen — die Augen aber schweiften noch immer umher.
Einmal blieben sie am Nachbarzann haften, dort schimmerte rosa ein Mädchenkleid
zwischen den Büschen; und jetzt schob sich auch een Köpfchen neugierig durch den
blühenden Jasmin hindurch — Rotkäppchen — nur Rotkäppchen.
Grüß Gott, Rotkäppchen! Hat dich der Wolf noch nicht gefressen? rief Jean
über den Zaun.
Ich Halts mit dem Jäger, antwortete Rotkäppchen und tauchte wieder in ihr
duftiges Versteck uuter.
Jean lachte, daß die weißen Zähne unter dem Schnurrbart vorblitzten, fuhr
aber hastig herum, als eine Mädchensttmme rief: Da ist der Kaffee!
Lisa wars mit dem Tassenbrett.
Und da ist dein Lieblingskuchen.
Goldnes Väschen!
Still! — ich habe nichts vergessen. Dorniges Väschen soll das heißen! und
jetzt mußt du schnell machen, wenn dn dir vor dem Kaffee die Hände waschen
willst — dein altes Zimmer steht bereit.
Mit zwei Sprüngen war Jean in der Hausflur. Dann ging er langsam.
Ein köstliches Hetmatgefühl kam über ihn, liebe, bunte Erinnerungen drangen auf
ihn ein; von jeder Treppenstufe, aus jedem Winkel redeten sie zu ihm, und die fünf
Erfurter Jahre schienen ihm viel reicher als die sechzehn, die er vorher in Paris
verbracht hatte. Wie kam das nur? Weil er zu Hause allein gewesen war? Weil
er hier allezeit Gefährten für Lust, Tollheit und nachdenkliche Stimmungen ge¬
funden hatte?
Die Augen schweiften wieder. Er sah in die Küche hinein, über deren Herd
sich der altertümliche, nicht mehr benutzte Rauchfang breitete Wie in einer Hexen-
Hütte; er sah in den Spinnwinkel der Magd, deren letzter Rocken unter dem roten
Band beinahe abgesponnen war — alles leer. Er schaute drüben in das Zimmer
hinein, wo gegessen wurde, und das zwischendurch Arbeits- und Spielraum der
Kinder war. Die große Tafel trug manchen Verzweiflungsklecks ans der Zeit seiner
ersten deutschen Studien, die büschlichen, grünen Gardinen hingen noch — aber
"lief war leer.
Er lief die Treppe hinauf — einen Blick in Mutters Zimmer: die alten Familien¬
bilder grüßten ihn von der Wand herab — aber nirgends ein Laut. Er nahm im
Sprunge die Stufen zum zweiten Stock: offne Thüren, laue Sommerluft, Duft von
Rosen und Jasmin durch weit offne Fenster über Gänge und Treppen fließend —
"ber alles still und öde.
(ütMös.u ägtssto.
Noch einmal sah er si es nach allen Seiten um und neigte lauschend den Kopf,
dann trat er in sein Zimmer und beeilte sich wieder hinabzukommeu.
Behaglich wars in der alten Laube wie ehedem; die Haselnüsse rundeten sich
schon, und die Menschen plauderten ohne Stocken, als habe man erst gestern so zu¬
sammengesessen. Fünf fröhliche Jugendjahre durchlebten sie zusammen in treuer Er¬
innerung, die drei flotten Pariser mußte Jean sich abfragen lassen.
Nur war er hie und da nicht ganz bei der Sache — die Angen wenigstens
liefen alle Wege entlang, glitten von Thür zu Thür und schienen jede Hecke durch¬
dringen zu wollen.
Und wie Jean nmherschaute, so beobachtete Robert unverwandt des fremden
Vetters Gesicht.
Das war ja unnatürlich; er mußte doch endlich von ihr reden, nach ihr fragen!
Merkwürdig, daß sich die andern so gar nicht wunderten, daß er sie nicht erwähnte. —
Ja so — die dachten natürlich, dieses Thema sei auf dem Wege vom Bahnhof
schon gründlich abgehandelt worden. Gut so! — auch er würde ihm gewiß nicht
entgegenkommen, ihm nichts leicht machen. Wenn eine so einfache Frage ihm sauer
wurde, so mochte ers nur aushalten; am Ende mußte er doch fragen, und dann
sah man, was für ein Gesicht er dazu machte.
Aber Jean Lepore fragte nicht. Er aß und trank und war liebenswürdig —
nichts weiter.
Erst als er gegen Abend mit den drei Jungen allein war, wie ehedem das
ganze Volk auf der großen Schaukel schwingend, da fragte er in die grünen Wipfel
hinein, durch die sie flogen:
Wo steckt denn die Grek?
Oho! — nein so was! — er weiß nicht, wo die Grek steckt?
Doch bei der Muhme!
Vou wegen dem schlimmen Arm.
Die kann sich nicht rühren.
Und braucht ihre Hilfe.
So? — Die Schaukel flog immer höher. Nachher, ganz oben im Grünen,
sagte Jean: Da konnte auch lieber Lisa gehn, die ist doch alter und geschickter.
Alle drei Buben lachten wiederum Hohn ob Jeans Unwissenheit. Das kam
davon, wenn man drei Jahre weg blieb, da wußte man nachher die einfachsten
Dinge nicht.
Lisa ist doch Braut!
Geheimnis! aber wir merken alles.
Robert sagte auch gleich, Grete müsse gehn.
Und Grek ist doch kein Schaf mehr.
War sie nie, bemerkte Jean mit erneuter Schwungkraft, war ein fideles Huhn.
Ja, das schon; aber ich meine mit wirtschaften!
Die bäckt jetzt Kuchen!
Viel mehr Rosinen nein wie Lisa.
Ja, die Base hats gut, mir wär Grete auch lieber.
Tiefe Seufzer kamen aus allen drei Bubenherzen, und Jean hemmte die Schaukel.
Sofort verflog die Wehmutstimmung der Knaben, sie bettelten stürmisch um neuen
Schwung.
Jean besann sich einen Augenblick, dann fielen ihm noch ein paar Fragen ein,
die sich oben im Grünen leichter stellen ließen, als unten Aug in Auge mit den
Schlauköpfen. Er willfahrte also und setzte die Schaukel wieder in Bewegung.
Da hatte er ja den ersten Ast wieder, da den zweiten, und nun streichelten
ihm die kühlen Blätter das heiße Gesicht.
Wie lange ist die Grete schon fort?
Seit drei Tagen.
Seit Vieren.
Nein; ich weiß es genau. Sonntag früh kam dein Anmeldebrief, Jean, und
wir sprangen deckenhoch vor Frende, und Montag kam der Brief von der Muhme,
daß ihr eins helfen solle, und Grete that mir gleich so unmenschlich leid, weil sie
fort mußte, wo du kamst; denn wo du bist, ists allemal fidel.
Zweistimmig brummten die Brüder Beifall.
Norei bien, antwortete Jean, dann pfiff er einen langen Ton hinaus in das
Blättergewirr. — Fortgeschickt, aus dem Weg geräumt von diesem Robert, der sie
wahrscheinlich heiraten wollte, und nicht leiden, daß der Jngendgespiele mit ihr
lachte, lachte, wie man sonst mit keinem Menschen auf der Welt lachen konnte, so
herzlich. Aber warum hatte sie sich wegschicken lassen, da sie wußte, daß ihr Spiel¬
gefährte kam?
Jean wollte eben in weitem Satz von der ausschwingenden Schaukel springen,
da fiel ihm noch etwas ein.
Bei der Muhme in Trockenborn? fragte er.
Dreistimmiges Ja erscholl, da stand er auch schon auf der Erde, und kein
Betteln der Buben lockte ihn wieder hinauf. Die Gedanken flogen weit in die
Ferne. — Er war einmal mit bei der Muhme in Trockenborn gewesen, zu irgend
einem ländlichen Fest, ganz im Anfang seiner Erfurter Zeit. Vater, Mutter, die
beiden Büschen, die Kinder, Robert und er, eine übermütige Gesellschaft, bereit so
viel Kirschen und Kuchen zu vertilgen, wie sichs nur irgend zu Ehren einer wohl¬
habenden, ländlichen Gastfreundschaft schickt. Und die Muhme war eine wohlhabende
Frau: was Besseres. Draußen in der Welt verheiratet gewesen und als Witwe
wieder heimgekommen; wollte aber nichts sein als eine Bäuerin, und das stand
ihr wohl. Fülle, Gesundheit und Behagen hatte die städtischen Gäste an jenem
Tage umgeben, als Jean zum erstenmal fidel mit der Grete gewesen war.
Bis ins kleinste getreu bewahrte seine Erinnerung jene Stunden und den
Teich, an dessen Rand sie gute Kameraden geworden waren. Grün umbuscht, grün
überwachsen von Entengrütze, grün eingehegt von weich gewellten Hügeln hatte er
bor ihnen gelegen, und auf dem Wasser und am Ufer hatten sich die Enten mit
ihren gelben, wuseligen Sprößlingen vergnügt.
Die Enten sehen, an dieses Gafsenliedchen denken und lossingen war eins für
den Knaben Jean gewesen; dabei machte er mit den Armen groteske Fliegbewegungen
und gakelte ganz wie eine deutsche Ente.
Helians hatte das Väschen gelacht, das elfjährige Ding, das ihm bis dahin aus
dem Wege gegangen war, wie einem Tanzbären, dem nicht ganz zu trauen war.
Eh du! ich glaub, du weißt trany-us? hatte der Jean von damals gefragt.
So viel doch! antwortete Grete, sobald sie einmal mit Lachen aufhörte.
Bald merkten sie, daß man sich wunderschön verständigen konnte, wenn man
"und eigentlich kein Wort von dem kannte, was der andre sprach, und daß sich nie
leichter lernt, als wenn man gar nicht zu lernen meint — ehe eine halbe Stunde
vergangen war, saug Grete so kunstgerecht wie ein Pariser Gassenjunge das Hu
viens.r<z, äsployaut Los -ülos, und ging mit dem großen Pariser Vetter durch dick
und dünn.
Trotzdem hielt sie ihm an demselben Tage auch die erste Moralpredigt
die kleine Kröte. Jean behauptete in Neckstimmung immer, Grete und Kröte nicht
recht auseinander halten zu können. Gegen Abend wars gewesen; sie standen an
der Muhme Zaun, und die dicke Nachbarin trieb ihre sechs Kinder vorbei: nach
rechts und links rufend, winkend, wackelnd. Da hatte der schlimme Bub die Arme
wieder ausgebreitet zu grotesken Bewegungen und das erfolgreiche Liedchen be¬
gonnen: oll eimarÄ —
Aber dieses mal war Grete ernsthaft geblieben. Nicht! sagte sie leise. Du
bist häßlich, wer ein gutes Herz hat, spottet nicht — und Jean war verstummt.
So war der erste Kameradschaftstag gewesen, und so wars geblieben: allzeit
lustig, außer wenns was abgegeben hatte — und nun war sie weg, davongelaufen
vor ihm!
Ah Mademoiselle Marguertte, dieses mal waren Sie häßlich!
Marguerite mochte sie nicht leiden; aber gerade deshalb kams ihm auf die
Lippen. Marguerite, Marguerite — du kleine Kröte.
Verstimmt ging Jean durch den Garten; er wäre am liebsten sofort wieder
abgereist. Das Heimtückische, das Heimliche und dieses nicht von ihr reden, das wars,
was ihn erzürnte, sonst nichts. Erfurt war auch ohne das Gretel Heimat und
Erinnerung und ein Ort, wo man im Vorbeigehn lernen konnte.
In der Laube saß die Mutter und winkte ihm. Er setzte sich zu ihr mit
der festen Absicht, nicht von Gretchen zu sprechen, und doch war sein erstes Wort:
Warum habt ihr sie fortgeschickt?
Mutter wußte gleich, wen er meinte: sie streichelte ihrem wilden Jungen die
Hand und antwortete: Hat mir selber leid gethan, und dem Gretel nicht minder.
Sie hatte sich hellauf gefreut, als dein Brief kam. Aber was sollten wir thun? Die
Muhme war allzeit gut gegen uns und schreibt, es gehe nicht allein — und dn
Gretel ihr Patenkind ist — hoffentlich dauerts nicht lange.
Das kam so natürlich bekümmert zu Tage, daß Jean anfing, seine Gedanken vom
aus dem Weg räumen thöricht zu finden. Außerdem würde es ja nicht lange dauern.
Er war vergnügt und guter Dinge, brachte die Jungen mit seineu Schnurren
in fröhlichen Übermut, und als die schlafen gegangen waren, erfreute er die Eltern
rin dem Bericht von seiner Arbeit und seinen Plänen.
Vater Laugner nickte bedächtig mit seinem buschigen Haupt. Brav, brav! hat
alles Hand und Fuß — Großmutter Benuregnrd wird ihre Freude an dir haben.
Das schien beinah so, denn sie wanderte über Nacht durch Jeans Zimmer
und hatte die Grete am Arm; beide sahen so heiter aus, wie mans nur wünschen
konnte. Aber nachher lief ihnen auf einmal die kleine Pariserin über den Weg,
die kleine Eidechse, und rief mit dem feinen hohen Stimmchen: IZuk^uM^M —
IZnkantillÄAo — NntAntill^ö —
Natürlich, sagte Jean und schlug die Augen auf, Grek ist auch un Nnka,ut,i11».ssö,
aber es giebt halt behagliche Kindereien.
Die Sonne schien; die großen, bunten Bilder neumodischer Blumenkreuzungen,
die der Oheim zu Winterszeiten sorgfältig umrahmte, sahen leuchtend von den
Wänden herab — Jean dachte an Erdmischungen und Samenauswahl, an künst¬
liche Färbungen und Veredlung, er sah seinen Garten in Enghien les bains, wie
er in zehn Jahren sein würde, wenn Lepore ein berühmter Gärtner war, und
sprang leichtfüßig aus dem Bett. Wer etwas erreichen will, hat immer Eile.
Er war drei Tage lang sehr fleißig und sehr lustig, besuchte seine alten
Lehrherren, schnüffelte in Erfurts Mustergärten herum und hatte alle Gedanken im
Geschäft.
Feierabends saß er in der Hasellaube und ließ sich von Mutterchen verhätscheln.
Es war sehr behaglich in dem alten Erfurt, mit oder ohne die Grek — wenn sie
nicht heim kam, hatte sie ganz allein den Schaden.
Am Sonntag morgen freilich wußte er uicht recht, was er mit sich anfangen
sollte. Sonst war er da mit Greten in den Dom gegangen; das heißt sie waren
alle zusammen gegangen, aber Grete war auch beim Kirchgang die Hauptperson
gewesen wie überall sonst, Grete mit den großen, andächtigen Augen. Das wars! —
er mußte sich jedesmal wieder darüber Wundern, daß die Schelmenaugen so an¬
dächtig zum Himmel aufschauen konnten.
Mit dem frühsten schlenderte Jean hinauf in den Garten und rührte sich nicht,
als die Buben nach ihm riefen. — Er mußte einmal still für sich nachdenken.
Er lag im Gras, der Duft der ersten Himbeeren lag in der Luft, in den
wohlgepflegten Apfelbäumen schwollen die Früchte. Und es war doch gut in Erfurt,
und er dachte nicht daran, abzureisen oder sich über etwas zu ärgern, er wollte
einfach warten, bis die Grete zurückkam. Neugierig war er nur, was sein Vater
zu dem Haken sagen würde, den der leichtfüßige Sohn von der Riviera nach Norden
geschlagen hatte. Heute konnte der Erfurter Brief in Paris ankommen, heute zur
Sonntngsüberraschung.
Freuen würde sich sein Vater nicht. Er hatte eine wunderliche, uneingestnudne
Angst vor Deutschland — er hätte es nie zugegeben, aber heimlich war er von
der unbedingten Sieghnftigkcit dieses plumpen Volkes überzeugt — was Deutsche
wollten, erreichten sie. Natürlich durch Verrat, Betrug und List — ja, aber sie
siegten, man war wehrlos dagegen.'
N»i. ,jo no lo eriuns xas, moi js Iaimo, dachte Jean und lachte leise vor
sich hin.
Da raschelte es am Zaun. Er sah ans; ein leichtes Kleid schimmerte, eine runde,
rosige Hand machte sich mit den Zweigen zu schaffen: das war Rotkäppchen.
Unwillkürlich sprang er uns, schlich hinüber und faßte das Händchen. Strauchdieb!
Ein leiser Schrei antwortete, die Hand versuchte sich schüchtern zu befreien,
gab aber den Widerstand schnell auf. Oh, Monsieur Jean, Sie sind es? Sind
Sie immer noch da?
Immer noch? Und weshalb nennst dn mich Sie — mich alten Spielkameraden?
Oh, Monsieur Jean, ich bin doch nun eingesegnet — und man muß sich so
sehr vor Ihnen in acht nehmen.
Jean machte ein verdutztes Gesicht. Vor mir in acht nehmen? —
In Paris würde er es tüchtig übel genommen haben, wenn einer daran
gezweifelt hätte; hier am Haselzaun seiner Bubenspiele, im Himbeerduft, der ihn
umschmeichelte, wie ehedem, wenn er mit Grete und Lisa pflücken durfte, verstand
er Rotkäppchen gar nicht.
Erst als sie fortfuhr: Ja, vor allen jungen Männern, die Herzkirschenaugen
haben, sagt Großmutter, zumal vor den Franzosen, und erst recht vor Parisern.
Er lachte wieder, ließ aber die kleine Hand los. Vo^W, voyox! das sagt
Großmutter alles? Rotkäppchen! Großmütter wissen nur Bescheid in ihren eignen
Jugendjahren — damals wird es so gewesen sein — heutzutage ist es ganz anders.
Die freien Händchen bogen die Zweige vollends auseinander, ein rundes, vom
Eifer gerötetes Mädcheugesicht schaute durch den grünen Rahmen, und eifrig rief
der kleine, weichgebogne Mund: Großmutter sagt es nicht allein, auch Robert —
Robert? Denkt nicht daran.
Doch, Robert! und Lisa nickt dazu.
Lisa? Weil sie dich necken will.
Und die Muhme in Trockenborn muß es wohl auch glauben.
Die Muhme in Trockenborn? Jean zog die Brauen zusammen, sein Übermut
war verflogen. Was weiß die Muhme in Trockenborn von Parisern, vor denen
wan sich in acht nehmen muß! sagte er hochmütig.
Rotkäppchen wurde immer heißer und eifriger. Sie muß doch; Robert war
1" bei ihr.
Robert?
Freilich; am Sonntag, gleich nachdem Ihr Anmeldebrief herein war. Es hieß
nur, er sei über Land; am Abend aber stand er mit Lisa dort bei den Rosen und
^zählte ihr alles. Er war bei der Muhme gewesen, um sie aufzustacheln, und
^adlig am nächsten Morgen kam der Brief, der um die Grete bat.
Der Muhme Arm ist lahm!
Weiß nicht, Robert hats angestellt. Sie muß ihm das schon geglaubt haben,
was er von den Parisern gesagt hat.
Unsinn!
Und Grete doch auch, denn gleich reiste sie ab.
Vi-Mo!
Jean ließ Rotkäppchen stehn, wo sie stand, nicht einmal ans Adieusagen dachte
der höfliche junge Mann. Die Zweige schnellten zusammen, er lief hinter die Büsche,
wo keiner ihn sehen konnte, stieß den Fuß heftig in den weichen Grund und ballte
die Hände.
Häßlich, unglaublich, empörend! Eine gemeinsame Verschwörung, die Grete
fortzuschaffen um seinetwillen — als ob er der Grete etwas zuleide thun würde,
seiner allerbesten Spielgrete! Lächerlich. Aber Lisa und Robert hatten es erfunden,
die Muhme hatte es geglaubt, die Eltern hatten eingewilligt, und Grete — Grete
mußte nun doch längst wissen, daß die Muhme sie nicht brauche, längst erkannt
haben, daß man sie unwürdig anführe — oder — das wäre nun schon das Tollste
gewesen —, wenn auch sie geglaubt hätte, man müsse sich vor ihm in acht nehme»,
vor ihm, ihrem gehorsamen Ritter und Spielkameraden.
'
osu K8t tvox, von L8t trox! sagte er heftig vor sich hin; gleich darauf
schüttelte er den Kopf. — Unmöglich.
Und doch: sie war gegangen und kam nicht zurück — davon ließ sich nichts
abstreichen. Wenn er wenigstens gewußt hätte, ob der Muhme Arm wirklich —
plötzlich lächelte er, das Lächeln ging in ein Lachen über, erst leise, dann immer
fröhlicher. Er brauchte ja nur hinüberzufahren nach Trockenborn und nachzusehen;
er war sein eigner Herr, der Weg zu dem kleinen Ententeich war frei, die ganze
Welt war frei, die Grete war frei — es ging keinen was an, wenn er ihr guten
Tag sagte und dabei ein wenig länger in die grauen Sammetaugen guckte als in
andrer Leute Augen; sie war ein kluges Mädchen, sie wurde verstehn, was es mit
solcher Kinderfreundschaft auf sich hatte, und sich harmlos freuen wie er selber.
Sie würde! Sie war nicht wie die andern; nicht eitel, nicht eingebildet, nicht ge¬
ziert, nicht anspruchsvoll — ein Prachtkerl war sie, Erfurt war ohne sie gnr nicht
auszuhalten.
Jean lief durch den Garten, über die Hausflur, in die Küche hinein. Da stand
Mutterchen am Herd und sah ihm freundlich entgegen.
Du bist doch immer noch mein wilder Junge; kommst da herein, als wärs
vor acht Jahren, und du wolltest rufen: Wo ist Grete, die schlimme Kröte?
Er lachte, wurde etwas verlegen, setzte sich dann vor das Spinnrad und zupfte
am Rocken.
Die Mutter ließ Butter in der heißen Pfanne zischen und sah abwechselnd auf
den Herd und auf den Pflegesohn.
Du, sagte sie endlich, Rike wird nett brummen, wenn du den Flachs verwirrst.
Er schiens aber gar nicht zu hören, wie er es auch nicht ganz genau wußte,
was ihm zwischen die unruhigen Finger gekommen war.
Grete, du schlimme Kröte, Grete, du blauer Stern.
Wie er gelacht hatte, als der lange Student sie den blauen Stern genannt
hatte. Dieser Unsinn. Und wie der dann wild geworden war und dem phan¬
tasieloser Franzosen mit himmelstürmeuder Beredsamkeit auseinandergesetzt hatte, daß
sie einer wäre, und warum sie einer wäre!
Der lange Student konnte nun schon Pfarrer sein. War er nicht in der
Trockenborner Gegend zu Hause gewesen? Je nun, das konnte schon sein, warum
denn nicht, Grete sollte keine alte Jungfer werden; Jean wollte gern auf ihrer
Hochzeit tanzen. Nur das eine mußte er noch ergründen, ob sie um Roberts
falsches Spiel gewußt hatte, dann konnte er ruhig weiter reisen — dann war er
mit Erfurt und allen Kindereien der Welt fertig.
Mutterchen, ich will auf ein paar Tage in die Berge; dein wilder Junge
muß sich bewegen. Sag den andern einen schönen Gruß. Dienstag oder Mittwoch
bin ich zurück.
Sie redete ihm nicht drein, lobte das Wetter und füllte ihm ein Feldfläschchen-
Schade, dachte sie, während er oben seine Hcingetnsche vollpackte, ich dachte, er würde
mehr nach der Grete verlangen.
Adieu, Mütterchen, sagte Jean in ihre Gedanken hinein. Adieu!
Schreib uns 'ne Karte vom Jnselsberg.
Erst unterwegs, als er auf die vorbeihuschenden Telegraphenstangen sah, siel
ihm ein, wie sie auf den Jnselsberg kommen konnte. Jean hatte irgend einmal in
diesen vier Tagen gesagt: dort hinauf muß ich auch noch! Nun nahm sie es für
eine ausgemachte Sache, zumal da er gerade den Eilzug nach Westen auf dem
Bahnhof erreichte. Er aber wartete mit leidlicher Geduld auf den nächsten und
ließ sich von ihm nach Osten und dann saalanf führen. Camburg, Dornburg, Jena —
breites Thal, niedre Hügel, eigensinnig geformte kahle, grane Häupter zum
Himmel aufschiebend, nur hie und da durch bunte Sandsteinstreifen phantastisch be¬
lebt. Die Sonne spielte mit vielfältigen Tönen über dem Rot, Grün und Weiß
des Bodens, über den satten Wiesen der Uferaue, über den glänzenden Blättern
der Erle, auf den Burgen in der Hohe und den winzigen Kirchen im Thal.
Göschwitz—Papiermühle—Roda — das Thal wurde eng, Kiefern und Fichten
stiegen die Berge hinan, tief unten im Zeisgrund an dem kleinen Bache rauschte das
Bucheulnnb — nnn war man im Walde!
Jean stieg aus und begann zu wandern. Langsam erst im Vollgenuß des
glänzenden Sommertags, schneller und schneller dann, daß er atemlos um die letzte
Kehre der Landstraße bog.
Da war ja das Dörfchen, Jean stand still und atmete tief. Eine ferne Glocke rief
in kurzen, hellen Tönen ihre Sonntagsmahnung über die Baumwipfel, vou dem
Anger herüber klang das Schwatzen der Gänse, zur Seite uuter der Linde sangen
Mädchen und Burschen das schone Lied von Rinaldo Rinaldini: Schlief der Räuber
allerkühnster,, bis ihn feine Rosa weckt. Es hallte weithin durch die Bäume, und
dann folgte ein Helles Juchzer, begann beim hohen A und stürzte so tief hinunter,
als es die jubelbedürftige Kehle ermöglichen konnte.
Jean lächelte. Nun »vollen wir fröhlich sein, recht fröhlich!
stimmte er vor sich hin, lachte hell uns, als ihm einfiel, was der Pariser da ge¬
sungen hatte, und rief wieder deutsch in den Wald hinein: Nun wollen wir fröhlich
sein! Dabei lief er wie einer, der große Eile hat.
(Schluß folgt»
hat unser Freund und Mitarbeiter
Professor Kaemmel in den „Dresdner Nachrichten" Bemerkungen veröffentlicht, die
wir hier abdrucken möchten, weil die Sache mich für andre Kreise wichtig ist als
die Dresdner und auch unsre Leser interessieren wird. Er sagt:
Nach dem Beschlusse des Rats und der Stadtverordneten wird Dresden zu
Ostern 1903 ein Neformgymnasinm, im wesentlichen nach dem Vorbilde des Frank¬
furter Goetheghmnafinms, erhalten. Indem wir mit der vollendeten Thatsache
rechnen, möchten wir doch »usem frühern Dresdner Mitbürger» noch einmal kurz
auseinandersetzen, was sie von der neuen Anstalt zu erwarten haben dürften, soweit
die Organisation in Betracht kommt.
In der Stadtverordnetensitzung vom 9. Oktober ist die Ansicht ausgesprochen
worden, daß eine solche Anstalt ihren Zöglingen es leichter mache als das alte
humanistische Gymnasium, und daß es ganz besonders geeignet sei, den nationalen
Sinn zu entwickeln, da die antiken Sprachen erst später begonnen würden, während
das Deutsche einen größern Raum einnehme. Das ist nun in der That das her¬
vorragendste Kennzeichen des Reformgymnasiums. In Frankfurt beginnt das La¬
teinische, statt in Sexta, erst in Untertertia mit zehn Wochenstunden und verfügt in
allen Klassen im ganzen über 51 Stunden, gegenüber den 71 bis 73 Stunden
des (sächsischen) humanistische» Gymnasiums; der Dresdner Plan setzt es mit neun
Stunden in Untertertia an und giebt ihm im ganzen fünfzig Stunden. Das
Griechische setzt in beiden Plänen mit acht Stunden erst in Untersekunda ein und
hat im ganzen 32 Stunden, gegenüber den 40 bis 42 Stunden der ältern Schule.
Da nun, wie ein Blick in den Frankfurter Jahresbericht lehrt, die Ziele des Ne-
formgymnasinms in den klassischen Sprachen genau dieselben geblieben sind, so muß
es mit geringerer Stundenzahl dasselbe leisten, was bisher mit einer größer»
Stundenzahl geleistet wurde, es muß also seine Schüler viel schärfer anspanne»,
und die Arbeit, die bisher sechs oder neun Jahre erforderte, in vier oder sechs
Jahre» leiste». Eine Erleichterung also wird das neue Dresdner Gymnasium
keineswegs bringen; es wird insofern eine wesentliche Erschwerung herbeiführe», als
das reifere Alter zwar schneller faßt, aber die Gedächtniskraft schon »icht mehr so
stark ist, wie im Alter von neun bis zwölf Jahre», »ud vor allem das Gedächtais
setzen die Anfangsgründe jeder Sprache in Bewegung, denn eine Sprache besteht
in Wörtern und Formen, die nicht begriffen, sondern gelernt werde» müssen. Ein
richtiger, normaler Sextaner verspeist das alles mit Leichtigkeit und mit Freude
n» den Stunden, es giebt deshalb gnr keine» lohne»dern und erfreulichem Unter¬
richt als den lateinischen in der Sexta, und in keinem Jahrgange macht der Junge
so rasche Fortschritte. Ein Tertianer steht der grundlegende» Gedächtnisarbeit schon
weniger naiv und aufnahmefähig gegenüber, und ein Untersek»uba»er, der mit Sie
angeredet wird und unter Umstände» schon anfängt, den jungen Herrn zu spiele»,
wird a» bei» Lerne» griechischer Wörter und Forme» »och viel geringere Fre»de
habe», namentlich dann, wenn er die Schule mit den: Reifezeugnis für Oberselnnda
zu verlassen gedenkt.
Also leichter macht das Neformgymnasium seine» Schüler» die klassischen
Sprachen durchaus nicht; es ist keineswegs eine Schule für durchschnittlich oder gnr
für schwach Begabte, und am wenigsten will dies das Gymnasium in Frankfurt
sein. Nun wird man einwenden: die grammatische Schulung, die bisher in den
unterste» Klassen das Lateinische gab, wird nunmehr durch das Französische ersetzt,
das für Frankfurt in Sexta, Quinta und Quarta mit je sechs Stunden, in Dresden
etwas abweichend mit fünf, sechs und sieben Stunden angesetzt ist, während es im
humanistische» Gymnasium erst in Quarta mit fünf Stunde» beginnt und in Unter¬
tertia noch mit drei Stunden fortgesetzt wird, im ganzen aber es auf achtzehn
Wochenstunden bringt, gegenüber den 31 Stunden des Reformgymnasiunis. Mit
diesem Einwände wird freilich zugleich zugestanden, daß das Französische »»gefahr
ebenso schwer ist wie das Lateinische, also auch keineswegs eine Erleichterung ge¬
währt. Es hat namentlich im Verbum eine sehr reich entwickelte, also schwierige
Formenlehre, es macht dagegen, da ihm die Kasusendungen fehlen, die Formen des
Substantivums und des Adjektivunis viel weniger kenntlich als das Lateinische, es
hat einen starken Unterschied zwischen Schriftbild und Wvrtklcmg, der dem Anfänger
als etwas Unnatürliches erscheint und ihm mannigfache Schwierigkeiten bereitet; es
hat endlich in Wortstellung und Syntax viel rein Konventionelles. Obendrein liegt
ein gewisser Widerspruch darin, die französische Tochtersprache vor der lateinischen
Grundsprache zu lehren, von den abgeschliffue» Formen der ersten a«f die vollere
Form der zweiten, aus denen jene erst abgeleitet sind, zurückzugehn, von g-mmous
zu Aing.mus, von Sujet, zu LMeotuw, von noir zu uiZkr. Der natürliche Gang
ist doch der historische.
Dazu kommt noch ein andrer Umstand, und damit sind wir bei der Ansicht
angelangt, daß der Lehrplan des Reformgymnasiums die Entwicklung des National¬
bewußtseins in besonderm Maße verbürge. Haben wir Deutschen wirklich Ursache,
das Französische als die Grundsprache unsrer höhern Bildung, die französische Kultur
als die höchst entwickelte zu behandeln? Sie ist nur eine von den modernen Kul¬
turen, keineswegs die Grundlage der gesamten europäischen Kultur, wie die antike;
sie hat die beherrschende Rolle im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert gespielt,
aber sie spielt sie heute nicht mehr; vom Standpunkte der Weltstellung ans ist heute
die englische Sprache und Kultur wichtiger. Es ist barer Unsinn, zu sagen, daß die
humanistischen Gymnasien junge Griechen und Römer erzogen; es ist aber, namentlich
bei unsrer deutschen Anschmiegsamkeit an das Fremde, sehr wohl möglich, junge
Deutsche zu künstlichen Franzosen oder Engländern zu erziehen. „Die Proben gcbens."
Und eine Schule, die dem Französischen eine so starke Stellung einräumt, seine
Stundenzahl nahezu verdoppelt und es zur Grundlage der grammatischen Bildung
macht, die soll besonders berufen sein, zu nationaler Gesinmmg zu erziehn? Im
Deutschen und in der Geschichte aber unterscheidet sich der Frankfurter Lehrplan
insofern gar zu seinen Ungunsten von dem des humanistischen Gymnasiums in
Sachsen, daß er dem ersten Fache allerdings 27 statt 25, aber dem zweiten (die
Erdkunde inbegriffen) 26 statt 28 Stunden zuweist. Deshalb will Dresden die
Gesmntstnndenzahl im Deutschen auf 34 steigern.
Weiter haben die Stadtverordneten in Dresden beschlossen, für die drei untern
Klassen des neuen Gymnnsinms nicht den Frankfurter Plau, sondern den des Reform¬
realgymnasiums in Dresden-Neustadt einzuführen. Danach beginnt das Französische
in Sexta mit 5 Stunden, hat in Quinta 6, in Quarta 7 Stunden; die Grund¬
sprache aber, an der die Grammatik eingeübt wird, ist das Deutsche mit 7 Stunden
in Sexta, mit ki Stunden in Quinta, mit 5 Stunden in Quarta. Demgegenüber
muß hervorgehoben werden, daß die Zergliederung der Muttersprache zu gramma¬
tischen Übungszwecken sehr leicht dazu führen kann, den Schülern die Freude an
der Muttersprache, die ihnen immer etwas Ehrwürdiges sein soll und nicht zum
«ol'ML vllo werden darf, gründlich zu verleiden, ohne ihnen die Entschädigung zu
geben, die der grammatikalische Unterricht in einer fremden Sprache gewährt, die
Freude am Neuen. Kurz, die Erwartung, das Reformgymnnsinm sei in hervor¬
ragendem Maße geeignet, das Nationalgefühl in unsrer Jugend zu stärken, ist
ebenso unberechtigt, wie die, daß es ihr die klassischen Sprachen leichter mache.
Nicht so sehr auf die Lehrpläne, als auf den patriotischen Geist der Lehrer kommt
es überhaupt allenthalben an, und die humanistischen Gymnasien dürfen sich rühmen,
dnß sie ihre Jugend zu einer Zeit, wo weder von einer deutschen Nation noch von
deutschem Patriotismus die Rede sein durfte, am Beispiele der Griechen und der
Römer zur Vaterlandsliebe erzogen haben.
Zum Schlüsse noch eins. Der Lehrplan des Neformgymnnsiums ist, was jetzt
gern vergessen oder absichtlich verschleiert wird, gar nicht ans pädagogischen Be¬
dürfnissen erwachsen, sondern aus der rein praktischen Rücksicht, die Entscheidung
über die Zukunft des Knaben möglichst weit hinauszuschieben und ihm den Über¬
gang zu einer andern Schnlgattung zu erleichtern. Die Ausdehnung der Berechti¬
gungen der Realgymnasien hat die Bedeutung dieser Rücksicht schon wesentlich
vermindert, anderseits wird das Dresdner Reformgymnasium Nachteile mit sich
bringen, die jenen Vorteil mindestens aufwiegen. Denn seine Schüler werden auf
kein nudres humanistisches Gymnasium Dresdens oder Sachsens übergehn können.
Ein Reformquartaner z. B. kann nicht ohne weiteres in die Untertertia eines Gym¬
nasiums alter Art aufgenommen werden, weil ihm das Lateinische völlig fehlt, ein
Obertertianer nicht in die Untersekunda eines solchen, weil er noch gar kein Griechisch
und nicht genügend Lateinisch getrieben hat. Bei dem heutzutage doch oft genug
vorkommenden Wechsel des Wohnsitzes in der Großstadt wie im Lande wird sich
dieser Nachteil bald höchst empfindlich geltend machen.
Der vorstehende Aufsatz hat (zusammen mit dem Maßgeblichen
„Nationale Bildung und humanistisches Gymnasium" in der vorigen Nummer der
Grenzboten) eine Reihenfolge von Artikeln unter dein Titel „In Sachen des Ne-
formgymnasiums" in Ur. 298/300 des „Dresdner Anzeigers" veranlaßt. Ihr Ver¬
fasser ist, wie aus der Unterschrift erst des letzten Artikels hervorgeht, Herr Ober¬
schulrat Professor Dr. Theodor Vogel, Rektor eines Neformrealgymnasiums, der
Dresdner Dreikönigsschule, uicht eines humanistischen Neformgymnasiums, wie für
Fernerstehende bemerkt sei, also in der vorliegenden Frage mindestens ebenso sehr
Partei, als irgend welcher Vertreter des humanistischen Gymnasiums der ältern
Art. Da er, ohne sie zu nennen, auf meine beiden Artikel und namentlich auf den
vorstehenden fortwährend Bezug nimmt, so sehe ich mich im Interesse der Sache
zu folgende» Bemerkungen veranlaßt.
1. Mein erster Satz, das Neformgymnasium mache es seinen Schülern uicht
leichter, sondern eher schwerer, findet in dem Dr. Anz. durchaus Bestätigung und
weitere Begründung, die sich auch auf die Arbeit der Lehrer erstreckt.
2. Mein Zweifel, ob eine höhere Schule, die das Französische zur Grund¬
sprache mache, in besondern: Maße eine Pflegestätte für nationale Gesinnung sein
werde, wird nicht widerlegt, kaum gestreift. In der Frage über die Verwendung
der Muttersprache als grammatischer Grundlage in den untersten Klassen steht
Ansicht gegen Ansicht, und ich fühle mich uicht veranlaßt, die meinige, daß eine
solche Verwendung das Deutsche zum eorxus vllo mache, zu ändern.
3. Mein Bedenken, daß das Dresdner Neformgymnasium seinen Schülern den
Übergang auf jedes andre sächsische humanistische Gymnasium nahezu unmöglich
mache, wird nicht widerlegt, sondern als eine „unbefugte Warnung," als ein „von
auswärts" gemachter „Versuch," „die Väter junger Zuluufsjreformlgymnasiasteu zu
beunruhigen" und der neuen Schule Steine in den Weg zu werfen, zurückgewiesen.
Da Dresden weder ans einer einsamen Insel liegt noch ein souveränes Gemein¬
wesen ist, sondern ein Teil Sachsens und Deutschlands, so halte ich mich hier wie
in jeder andern gymnasialen Frage, wo es sich, wie in dieser, nicht um ein lokales,
sondern um ein sächsisches Schulinteresse handelt, für vollkommen befugt, mein Urteil
abzugeben, es mag gefallen oder nicht, und ich werde mich durch derartige parti-
kularistische Vorbehalte darin nicht stören lassen. Steine in den Weg zu werfen
hatte ich gar nicht nötig, die liegen sowieso schou da, ich habe nur schwachsichtige
Leute auf sie aufmerksam gemacht. An das Dresdner Reform realgymnasinm habe
ich dabei natürlich gar nicht gedacht, denn das hat mit der vorliegenden Frage nichts
zu thun.
4. Der Versuch, das humanistische Reformgymnasium Frankfurter Art als deu
einzigen Weg zur Rettung der humanistischen Schulbildung im zwanzigsten Jahr¬
hundert zu preisen und die gewissermaßen drohende Warnung vor weiteren „starren
Festhalten an dem zu ganz andern Zeiten aufgestellten Lehrgange," da spor wem
und wo?j der Vorschlag gemacht werden würde, „die Zahl der Humangymnasien
mit den Minoritätsverhältnissen der Gymnasiasten, die zur Theologie respektive s!j
Jurisprudenz übergehn wollen, in Einklang zu bringen und entsprechend zu ver¬
mindern," oder gar das Griechische in ein Wahlfach zu verwandeln, müssen auch
dem Gutmütigsten und Vertrauensseligsten die Angen öffnen. Es handelt sich also
gar nicht mehr darum, einem neuen Versuche — denn weiter ist es trotz alles
Selbstlobs noch nichts — Boden zu erkämpfen, sondern das alte humanistische Gym¬
nasium zu vernichten, um das „Reformgymnasium" als die alleinige humanistische
Schule in Deutschland aufzustellen. Daher die Selbstüberhebung der Neuerer, ihre
Methode, ihren Lehrgang als der einzig wahren zu preise» und die Anhänger der
ältern als rückständige Pedanten der erleuchteten öffentlichen Meinung zu denun¬
zieren. Es zeigt sich weiter, daß auf dem Wege der Konzessionen kein Ausgleich
zu erreichen ist, und kündigt sich vielmehr ein neuer erbitterter Schulkrieg an. Des¬
halb ist es auch eine Täuschung der Reformer, zu glauben, daß das „Reform¬
gymnasium," indem es alte Hauptpositionen giebt, für die Feinde der humanistischen
Bildung etwas andres sein werde als eine Vorstufe zu ihrer gänzlichen Vernichtung.
Die Anhänger dieser Bildung werden sich das gesagt sein lassen. Sie lassen sich
auch dadurch nicht schrecken, daß es jetzt schon etwa fünfzig „Refvrmgymnasien"
in Deutschland giebt, denn das sind weitaus der Mehrzahl nach Reformreal¬
gymnasien, auf denen die Zukunft der humanistischen Bildung in keiner Weise beruht.
"
5. Wenn die „Altphilologen," die man bisher „klassische Philologen nannte,
bei diesem ihnen anfgezwnnguen Kampfe „auch ihre Standesinteressen" vertreten,
also „kaum objektiv urteilen" können, so würden jenes die „Neuphilologen" und
Mathematiker mindestens in demselben Grade thun und mindestens ebensowenig
objektiv sein. Es ist aber überhaupt ein höchst unglücklicher und schlechthin ver¬
werflicher Gedanke, diese Gruppen als „Stände" zu bezeichnen und sie sich im
„Kampfe" die „Herrschaft im Gymnasium" streitig machen zu lassen. Das beweist
nnr, wie weit die „Vertreter der modernen Fächer" vielfach schon das Gefühl der
Zusammengehörigkeit mit den „Altphilologen" verloren haben, und wie sehr bei
ihnen der „Fachpartiknlarismns" zu überwiegen droht, in gänzlicher Verkennung
ihrer Aufgabe. Deal die Schule und die Schüler sind nicht um des „Faches"
willen da, sondern das Fach wird gelehrt um der Schüler willen, im Rahmen
der Aufgabe, die der Schule von der Unterrichtsbehörde gestellt ist. Dieses Bewußt¬
sein der gemeinsamen Aufgabe zu erhalten und, wo nötig, den Fachpartikularismus
energisch niederzuhalten, das ist eine der erstell und unerläßlichsten Pflichten des
Rektors.
6. Was endlich die nun wohl zur Genüge besprochue Rede des Herrn Ober¬
bürgermeisters Beutler am 9. Oktober betrifft, zu deren nachträglicher Motivierung
die Aufsätze im Dr. A. teilweise geschrieben sind, so ist es bei ihrer Kritik keines¬
wegs „ganz übersehen worden," daß sie „unvorbereitet aus dem Stegreif gesprochen
Und durch Bemerkungen der Vorredner hervorgerufen war." Beides war schon
uach dem vorläufigen Bericht vollkommen klar. Die „heftigen Aussprachen" aber,
die sie veranlaßte, galten lediglich der Abwehr eines durch nichts provozierten, un¬
gerechtfertigten und haltlosen Ausfalls auf die Leistungen des humanistischen Gym¬
nasiums.
Von Zeit zu Zeit tauchen in der Tages¬
presse Geschichten über Lehrer auf, die in irgend einer Weise ihre Aufsichtspflicht
verletzt haben und darum haftpflichtig gemacht werden sollen. Die Berichte gehen
f"se regelmäßig in die Schulblättcr und die pädagogischen Zeitschriften über, werden
dort unter der Rubrik Rechtskunde besprochen, und so erfährt jeder Lehrer, was
°s mit der Haftpflicht auf sich hat. Der neuste Fall dieser Art machte vor kurzem
die Runde. In der Parochie Valpriehansen bei Uslar fand Mitte August ein
Missionsfest statt; durch Rundschreiben wurden die Lehrer aus vier Dörfern von
dem Ortsschulinspektvr aufgefordert, ihre Schulkinder uach dem am AbHange der
Bramburg liegenden Festplatze zu geleiten. Während der Feier hatten sich drei
zehn- bis elfjährige Jungen heimlich entfernt und ihren Spielplatz auf die Geleise
der etwa zehn Minuten entfernten Kleinbahn verlegt. Hier lösten sie die Bremsen
der mit Basaltsteinen beladnen Bahnwageu, sodaß sich diese in Bewegung setzten,
mit ungeheurer Geschwindigkeit thalab fuhren und dann am Bahnhof in den Ab¬
ladeplatz stürzten. Dem Eigentümer entstand ein Materialschaden von fünf- bis
sechstausend Mark. Dn die Eltern der Kinder unvermögend sind, so will die
Nrma den Lehrer dafür ersatzpflichtig machen, da er die Kinder nicht genügend
beaufsichtigt habe. Die in Aussicht stehende Ersatzklage soll für die Lehrerschcift
von Bedeutung sein.
Es soll hier nicht auf die rechtliche Seite der Haftpflicht eingegangen werden,
denn es ist bekannt, daß die Lehrer nur für solche Schäden in Anspruch genommen
werden können, die sie selbst verschuldet haben, und dieses Verschulden muß ihnen
nachgewiesen werden. Der Beschädigte hat durch die beigebrachten Beweise zur
Überzeugung des Richters darzuthun, daß der Lehrer eine pflichtwidrige Handlung
oder Unterlassung begangen, die den schädigenden oder rechtswidrigen Erfolg her¬
beigeführt hat, und bei der er bei pflichtmäßiger Aufsicht hätte voraussehen können
und müssen, daß sie Schaden verursachen würde. Dabei wird nicht peinliche, über¬
triebne Achtsamkeit, sondern die übliche gewöhnliche Sorgfalt erwartet.
Das gesamte Nechtsverhnltnis ist gegen die frühern Bestimmungen im großen
und ganzen nicht geändert, und doch ist es merkwürdig, daß es jetzt in den Zeitungen
vou Haftpflichtfälleu in Schulsachen wimmelt, während z. B. in den siebenundvierzig
Bärbel? der Reichsgerichtsentscheidungcu kein einziger Fall eines Entschädigungspro¬
zesses gegen einen Lehrer vorkommt, wie Landgerichtsrat Dr. Haase in Halle a. d. S.
in einem Aufsatz über die Haftpflicht der Lehrer im ersten Hefte des Preußischen
Volksschülarchivs S. 6 festgestellt hat. Durch diese Haftpflichtfälle ist in die Lehrer¬
kreise eine Beunruhigung hineingetragen worden, die sehr nachteilig wirken muß
und auch schon die Aufmerksamkeit der Schulbehörden auf sich gelenkt hat. In
demselben Hefte des Volksschularchivs ist eine Verfügung der Königlichen Regierung
in Frankfurt a. d. O- über die durch das Gesetz geordnete Ersatzpflicht und das
dadurch angezeigte Verhalten der Lehrer abgedruckt is. 21), worin versucht wird,
die Lehrer zu beruhigen. Denn heißt es weiter: „Es kann nicht für zulässig er¬
achtet werden, daß die Lehrer aus übertriebner Ängstlichkeit den Bereich ihrer
amtlichen Bethätigung eigenmächtig einschränken und sich in gewissen Fällen des
Schullebens der durch den Beruf gebotnen Mitwirkung entziehn. Wenn hierzu
stellenweise der Ansatz gemacht worden ist und z. B. beim Turner die Geräte¬
übungen ausgesetzt oder ungebührlich eingeschränkt worden sind, wenn andre die
Teilnahme an Schulfestlichkeiten versagt oder den Ernst der Schulzucht pflicht¬
widrig abgeschwächt haben, so hegen wir doch zu dem gesunden Sinne unsrer Lehrer¬
schaft das Vertrauen, daß dieser Weg bald allgemein als nicht gangbar erkannt
werden wird, und daß wir der Notwendigkeit, einer derartigen Verirrung durch
ernste Maßnahmen der Dienstdisziplin entgegenzuwirken, werden überhoben bleiben."
Schließlich wird in dieser Verfügung den Lehrern aufgegeben, jeden Fall der
etwaigen Ersatzpflicht der Regierung sofort zu melden, damit diese nötigenfalls den
Kvmpetenzkonflikt erheben, also vom Oberverwaltungsgericht zuvor feststellen lassen
kann, ob sich der Lehrer der Unterlassung einer ihm obliegenden Amtshandlung
schuldig gemacht habe.
Eine ähnliche Verfügung hat die Regierung in Schleswig erlassen, und auch
die in Kostin hat besonders darauf hingewiesen, daß die Haftpflicht schon immer
bestanden und das Bürgerliche Gesetzbuch durchaus nichts neues bestimmt habe. Sie
überläßt es den Lehrern, sich gegen etwaige Schadenersatzansprüche zu versichern.
Die Beunruhigung ist also zweifellos da, und das ist bedauerlich, da darunter
ebenso zweifellos die Schulausflüge leiden werden. Man legt jetzt so großen Wert
auf den Anschauungsunterricht, auf die Heimatkunde und ans die körperliche Pflege
des Kindes. Alles das leisten zum großen Teil diese beliebten Schulwandrungen.
Der Lehrer zieht mit seiner Klasse unter Trommeln und Pfeifen frühmorgens zum
Thore hinaus; mau merkt deu Kindern die Freude nu den Angen an, es erschallen
die gelernten Lieder hier in der freien Natur und der reinen Luft noch einmal
so laut und fröhlich, wie im dumpfen Schulzimmer, die Brust weitet sich dabei,
und das Frühstück schmeckt den Kleinen besser als drinnen auf dem Schulhof. Auch
der Lehrer, wenn er eine nur halbwegs rege Natur ist, geht bei solcher Wnndrung
mehr ans sich heraus, er erzählt die Geschichte dieser oder jeuer Merkwürdigkeit
am Wege — es brauchen ja nicht immer Burgen und Schlösser zu sein —; er
erklärt die Himmelsrichtungen, den Stand der Sonne, die Baum-- und Strauch¬
arten, bestimmt seltnere Pflanzen: kurz er läßt einmal den gestrengen Pädagogen
zu Hause und ist ein fürsorglicher Vater aller seiner Kinder, der ihren Sinn für
das Gute und Schöne, für die Natur wecken will.
Da tritt nun die Furcht vor der Haftpflicht dazwischen; aus allen Teilen
Deutschlands berichten die Zeitungen derartige Fälle, die auf Schnlausflügen passiert
find, und die Folge ist die Ängstlichkeit und Scheu, die den Lehrer unwillkürlich
beschleicht, wenn er einen Ausflug mit seinen Kindern machen soll. Gerade der
Fall aus Valpriehausen, wenn er sich so zugetragen hat, wie berichtet wird, ist
bezeichnend. Der Lehrer hat einen dienstfreien Sonntag und wird mit seinen
Schulkindern von dem Ortsschulinspektor herangezogen, dem Missionsfeste beizu¬
wohnen. Das ist an sich recht schön und billigenswert: aber bei solcher Gelegen¬
heit, wo viele Erwachsene zusammenkommen und vier verschiedne Schulen anwesend
sind, wo der Lehrer auch auf den Missionsgottesdicnst hören soll, da geht ihm die
Übersicht über seine Schulkinder gar zu leicht verlöre«. Ohne eine Kritik dieses
Falles üben zu wollen, muß man sagen, daß es geradezu unmöglich ist, sofort zu
übersehen, ob einige Kinder fehlen, sich seitwärts in die Büsche geschlagen haben und
sich eine andre Unterhaltung suchen, als gerade das Anhören einer Missionspredigt.
Und so ist es in den meisten Fällen: der Lehrer kann nicht wie in der Schule
die Kinder auf engem Raume zusammenhalten, und es giebt immer einige unter¬
nehmungslustige Jungen, die sich der Aufsicht gern entziehen und auf eigne Faust
Abenteuer suchen. Das wissen die Lehrer selbst am besten, und deshalb nimmt es
nicht wunder, wenn sie mit den Ausflügen am liebsten gar nichts mehr zu thun
haben wollen, um sich nicht der Gefahr der Haftpflicht auszusetzen. Sie verlieren
die Freudigkeit an den Wandrnngeu, mich wenn sie sich dnrch Versicherung gegen
Haftpflicht mit dem eignen Geldbeutel eine gewisse Sicherheit wenigstens erkaufen
können. Daß darin Wandel geschafft werden muß, liegt ans der Hand. Die Be¬
ruhigungsverfügungen der Regierungen allein werden es ebensowenig thu», wie die
bon mehreren Seiten schon ins Werk gesetzten gegenseitigen Versicherungen größerer
Lehrerverbände, die ohne größere fortlaufende Geldopfer nicht besteh» können.
Die Grenzboten haben schon wiederholt, z. B. im 54. Jahrgang (1895) — Prügel¬
strafe — in Schulfragen klärend gewirkt und einen Meinungsaustausch hervorge¬
rufen, der von den Schulblättern dann beachtet worden ist. Vielleicht gelingt es
"und in dieser äußerst wichtigen Frage der Haftpflicht, eine Verständigung herbei¬
zuführen, ohne die schöne Einrichtung der Schulausflüge aus Furcht vor den etwaigen
Schadenersatzansprüchen fallen zu lassen. Es wäre beklagenswert, wenn man den
Kindern diese alte Sitte nehmen müßte, nnr weil man Unfälle, die nnter besondern
Umständen eintreten können, vermeiden möchte.'
Jeder Sterbliche muß der
Unzulänglichkeit der Menschennatur seinen Tribut zahlen, und so sind denn Goethe u. a.
in unglücklichen Stunden Worte über Christus und Christentum entschlüpft, die nicht
aus seinem unsterblichen Teil stammen, die aber gewissen untereinander sehr ver-
Ichiednen Leuten den erwünschten Beweis geliefert haben, daß der größte deutsche
^eist zu deu unversöhnlichen Todfeinden unsrer Religion gehöre. Wer ihn jedoch
Wirklich kennt, der weiß, daß er nicht allein zeitlebens tief religiös gewesen, sondern auch
W den Sinn des Christentums tiefer eingedrungen ist als Tausende von Theologen
Und Hunderttausende von frommen Seelen. Es ist deshalb nicht so ungereimt, wie
die Fanatiker von rechts und links behaupten werden, wenn einer von denen, die
aufrichtig wünschen, daß der modernen Welt das Christentum erhalten bleibe, dessen
^gemäße Gestalt bei Goethe zu finden glaubt. Karl Trost berichtet über seinen
6und in der Schrift: Goethe und der Protestantismus des zwanzigsten
Jahrhunderts. (Berlin, Alexander Duncker, 1902.) Im Mittelpunkt selner Be¬
trachtungen steht folgender Ausspruch Goethes: „Suchte man vor allem dem Volke
das nahe zu bringen, was im Christentum geliebt und gelebt werden soll, legte
man sich über die Mysterien ein unverbrüchliches, ehrerbietiges Stillschweigen auf,
ohne die Dogmen mit verdrießlicher Anmaßung, nach dieser oder jener Linie ver¬
künstelt, irgend jemandem Wider Willen aufzunötigen, oder sie wohl gar durch un¬
zeitigen Spott oder vorwitziges Ableugnen bei der Menge zu entehren und in
Gefahr zu bringen, so wollte ich selbst der erste sein, der die Kirche meiner Neligivns-
verwandten mit ehrlichem Herzen besuchte und sich dem allgemeinen praktischen Be¬
kenntnisse eines Glaubens, der sich unmittelbar an das Thätige knüpfte, mit ver¬
gnüglicher Erbauung unterordnete. Je tüchtiger nur Protestanten in edler Ent¬
wicklung voranschreiten, desto schneller werden die Katholiken folgen." So reich
Goethe ist, das Christentum ist noch reicher; deshalb giebt es außer dem von
Trost gewiesenen Wege noch unzählige andre, die in sein Inneres führen. Der Masse
wird der Glaube, „der sich unmittelbar um das Thätige knüpft," eben durch das
Thätige, durch die Übung der christlichen Charitas, heutigentags vorzugsweise in
der Gestalt wirksamer Sozialpolitik, am leichtesten vermittelt. Aber die Denkenden
bedürfen allerdings auch einer Vermittlung durch den Intellekt, und für viele ist
unstreitig Goethe der geeignetste Vermittler. Nicht für alle; Hilty z. B., dem
Tausende als ihrem Führer folgen, kann Goethe nicht leiden. Der Ideen- und
Wirkungskreis des Christentums hat Raum für beide, und unser Volk kann keinen
von beiden entbehren. Der kleinen Schrift von Trost wünschen wir die weite Ver¬
breitung, deren sich die ganz anders gearteten und doch demselben höchsten Zweck
dienenden Schriften Hiltys schon längst erfreuen, und wünschen anch den Unter¬
nehmungen des Verfassers glückliche» Erfolg. Von der Religionsnot unsers Volkes
tief ergriffen, will er eine „Deutsche Gesellschaft für religiöse Kultur" stiften und
als deren Organ eine Halbmonatschrift „Neue Ziele" für die Pflege lebendigen
Christentums herausgegeben. Der Goetheschrift ist ein Aufruf angehängt, der Gleich¬
gestimmte auffordert, ihren Beitritt zu dem neuen Bunde zu erklären.
Von Rudolf Presber. Berlin, Verlag der
Luftiger Blätter. Es giebt gegenüber den Thorheiten des Lebens in Theater, Kunst
und Litteratur eine mit Strenge abweisende Kritik, die auf das bessere und ver¬
nünftigere Publikum abwehrend und bewahrend wirken kann, während sie ans die
übrigen und namentlich auf die von ihr betroffnen kaum einen Eindruck machen
wird, weil diese sagen: Ihr versteht uns gar nicht. Einem .Kenner dieser Thor¬
heiten gegenüber, wie es der bekannte Berliner Kritiker ist, hat diese Einrede keinen
Boden, und darum ist seine Kritik wirksamer, zumal wenn er sie so scheinbar un¬
interessiert und harmlos und für alle Teile unterhaltend und belustigend führt, wie
in diesen gewandt geschriebnen kleinen Erzählungen, in deren Mittelpunkt jedesmal
eine komische Figur fleht. Eine Primadonna (die Diva), ein Dichterjüngling, ein
Jubiläumsheld, eine Tante aus der Provinz, der Berlin gezeigt wird, und ähn¬
liches. Besonders hübsch wirkt die Anknüpfung an studentische Erinnerungen, des
weitern giebt sie auch dem Leser das angenehme Gefühl, nicht einen halbfertigen
Journalisten vor sich zu haben, sondern einen unterrichteten Mann. Alles andre
versteht sich bei Presber vou selbst, auf seine gesunde und sichere Grundrichtung
mag noch einmal hingewiesen werden. Im übrigen haben wir von ihm eine zu gute
Meinung, als daß wir dieses Büchlein für mehr ansehen möchten als eine Abschlags¬
zahlung. Ave pluribus inixarl
in Anschluß an den sehr beachtenswerten Artikel „Unsre polnische
Frage" in Ur, 31 der Grenzboten möchte ich mir folgende Be¬
merkungen erlauben. Seit Monaten tauchen in der Tagespresse
Mitteilungen über Vorschläge der zuständigen preußischen Mini¬
sterien auf, den Gehalt der in der Provinz thätigen Beamten
zu erhöhen, aber überall begegnet man in Beamtenkreisen einem ungläubigen
Lächeln über die Ausführbarkeit dieser Gehaltsanfbesseruugspläue. Von manchen
Seiten hört man sogar über die Nutzlosigkeit einer etwaigen Aufbesserung
spotten, denn „was uus der Staat giebt, wird uns sofort von den Haus¬
wirten durch Mictstcigerung, von den städtischen Schul- und Kircheubehörden usw.
durch Erhöhung der Beitrüge und Abgaben genommen werden."
Die Grenzboten haben seit lange wiederholt ganz vorzügliche und von
hoher Sachkenntnis zeugende Artikel über „die Polenfrage" gebracht, aus
denen ich einige Stellen zum Verständnis meiner Vorschläge anführen möchte:
»Eine größere Zuwanderung in ein erobertes Gebiet findet nur dann statt,
wenn die wirtschaftlichen Bedingungen dafür sprechen, sonst wird die Zu¬
wanderung im wesentlichen auf Beamte und Soldaten beschränkt bleiben."
Unsre Vorfahren sind nicht aus idealen Gründen zur Besiedlung und
Germanisierung von Pommern, Brandenburg, Schlesien, Österreich usw. aus-
gezogen, sondern weil die wirtschaftlichen Bedingungen in den fremden Landes¬
teilen günstiger waren als in der alten Heimat. Das muß man im Auge
behalten, wenn man den heutigen germanischen Zuzug nach der Provinz Posen
leiten und fördern will. Kein Ansiedler, kein Fremder kommt hierher, weil
^ hier, einer idealen Regung seines Herzens folgend, das Deutschtum fördern
will, sondern es sind lediglich materielle Gründe, Aufbau einer selbständigen
Existenz, billigere Landpreise, zeitigere Anstellung, schnelleres und besseres Vor¬
wärtskommen usw., was maßgebend ist.
Noch vor wenig Jahren konnte mau auf Grund der in den Tages¬
zeitungen veröffentlichten Beamtenversetzungen genau verfolgen, wie z. B.
Juristen ihre erste Anstellung als Richter in der Provinz Posen annahmen,
damit sie heiraten konnten, und wie sie sich nach drei, spätestens fünf Jahren,
wenn die Gelegenheit es ermöglichte, in ihre oft recht weit entfernte Heimat-
Provinz versetzen ließen. Ein früherer Oberpräsident der Provinz Posen sagte
mir vor Jahren einmal, es wäre gar zu schlimm, daß kein Beamter in der
Provinz Posen bleiben wolle. Ich erlaubte mir die Bemerkung, daß sich dem
ja abhelfen ließe, und entwickelte auf ferneres Befragen die nachstehenden Ge¬
danken:
Man nehme in die Provinz Posen nur die anerkannt und erprobt
tüchtigsten Beamten (geschähe jetzt schon, wurde bemerkt; doch würden da ja
leider immer noch „Versehen" gemacht); man verspreche den Beamten schwarz
auf weiß, wenn sie zehn Jahre fleißig und zur Zufriedenheit hier gewirkt
haben, sie in gleicher Eigenschaft in ihrer Heimatprovinz unterzubringen und
ihnen bei der Pensionierung drei Jahre, nach fünfzehnjähriger Arbeit in der
Provinz Posen fünf Jahre doppelt anzurechnen, wie etwa den Marineoffizieren,
die einige Jahre auf der ostasintischen Station zu leben gezwungen waren, so
würden wir hier in der Provinz Posen einen stabilen tüchtigen und berufs-
frcudigcu, keinen fluktuierenden oder, was noch schlimmer ist, stagnierenden Be¬
amtenstand haben. Ein Beamter, gleichviel welcher Art, ob von der Steuer,
der Post, der Justiz, der Schule oder auch ein Offizier, der sich auf „zehn Jahre
Posen" verpflichtet, muß dieses Vertrauen zu seiner Person als eine Auszeich¬
nung ansehen; er wird sich, falls er noch unverheiratet ist, eine Frau aus seiner
Heimat mitbringen und sich Wohl oder übel so behaglich wie möglich für die
zehn Jahre einrichten. Sobald er mit den Verhältnissen bekannt geworden ist,
wird doch bei manchem der Gedanke aufsteigen — schon im Interesse seiner
Frau —, seine Sippe, im guten, alten Sinne des Wortes, näher zu haben;
da kann ein Bruder oder ein Schwager vorhanden sein, der sich als Kaufmann
etablieren, als Gutsbesitzer oder Pächter niederlassen will; man keimt nun die
Verhältnisse, kann ihm raten, Fingerzeige geben, ihm beim Ankauf behilflich
sein, kurz, wenn das Ende der „zehn Jahre Posen" naht, dürften doch wohl
über die Hälfte der als tüchtig erkannten Beamten hier bleiben; wer trennt
sich denn gern von einem Freundeskreise, von seinetwegen herzugczognen Ver¬
wandten, von der Scholle, wo die Kiuder geboren und gediehen sind, wo man
nützlich für den Staat gewirkt und von seinen Vorgesetzten Anerkennung gefunden
hat? Zu Hause siud Verwandte und Freunde verzogen oder gestorben — kurz
manche Beamtenfamilie bleibt ganz in der Provinz oder noch auf fünf oder
zehn Jahre, was für das Deutschtum, für das amtliche Wirken von dem
größten Nutzen ist. Mit dieser Familie aber bleiben dann die herbeigernfnen
und seßhaft gemachten Verwandten, kurz das Deutschtum wächst nicht bloß,
es stärkt sich gegenseitig und breitet sich aus, und die Aussicht, daß sich ein
Beamter uach der aufreibenden Thätigkeit in der Provinz Posen schon zeitiger
zur Ruhe setzen, etwa mit 60 statt ö5 Jahren seine Pensionierung beantragen
und vou der so höchst mühseligen Arbeit an seinem Lebensabende ausruhen
kann, wird doch viele tüchtige uicht bloß herbeiziehn, sondern auch dauernd
a» die Provinz fesseln. Wer sich nicht bewährt oder vor Ablauf der zehn
Jahre zurück will, den versetze man schleunigst zurück ohne Umzugskvstcn und
ohne die doppelte Anrechnung von drei Jahren, denn ein unzufriedner und da¬
durch lässig werdender Beamter schadet hier durch ferneres Bleiben mehr, als
er nützt, und Ersatz wird sich leicht finden, da der Ehrgeiz, in der Provinz
Posen verwandt zu werden, was soviel als „tüchtig" bedeutet, zumal mit den
günstigen Pcnsivnsbedingungen, viele vorzügliche und pflichttreue Kräfte, und
auf diese kommt es an, anlocken wird,
„Die Lösung unsrer polnischen Frage von heute ist die Niederwerfung
der polnischen Bewegung auf preußischem Voden, und das ist zunächst eine
Politische, nicht eine wirtschaftliche Aufgabe," sagt der Verfasser um Schlüsse
des Grenzbotenartikels vom 31, Juli. Zur Lösung dieser Aufgabe aber
ist es nötig, ein tüchtiges Beamtentum mit seinen jahrelangen Erfahrungen,
seiner nicht leicht zu erwerbenden Personenkenntuis durch verbriefte Ver¬
günstigungen und Vorteile hier festzuhalten, denn der Pole weiß ganz genau,
daß der fortwährende Beamtenwechsel für seine verschlagnen Machinationen
vom größten Vorteil ist; darum seine Miniernrbcit, sein Bestreben, durch Nadel¬
stiche einem pflichttreuen, eifrigen, weder dem Spiel noch dem Trunke oder
den Tafelfreuden zugänglichen Beamten das Leben hier so sauer wie nur
möglich zu macheu; darum das Kunststück, Verleumdungen, Verdächtigungen,
direkte Angriffe im Abgeordnetenhause spielen zu lassen, bis der unbequeme
Beamte selber um seine Versetzung nachsucht, die ja schließlich, namentlich
wenn am Orte keine Höhen? Schulen sind, in eine Gymnasinlstadt als Be¬
lohnung gewährt wird. Ehe sich nun der Nachfolger einarbeitet, die so
nötige Personenkenntnis erwirbt, hat das Polentum einen großen Vorsprung
gewonnen, mancherlei ist unter der Hand möglich gemacht worden, was bei
der Kenntnis der Verhältnisse unter dem frühern Beamten gar nicht denkbar
gewesen wäre.
Dies führt mich zu dem Kapitel von den fortwährenden Versetzungen; in
kleinern Orten, namentlich in denen ohne Gymnasium, fluktuiert thatsächlich
das Beamtentum unaufhörlich. Man schaffe hier endlich stabilere Verhältnisse.
Es könnte dies dadurch geschehn, daß man eine Anzahl von kleinen Ghmnasien
aufhöbe, oder besser, die drei untern Klassen — Sexta, Quinta, Quarta — ge¬
wissermaßen als „Untergymnasium" bestehn ließe und außerdem noch derartige
Untergymnasien" überall in den kleinen Örtchen einrichtete, wo es für die dort
ur einer gewissen Anzahl stationierten deutschen Beamtenfamilien notwendig er¬
scheint. Zeigen sich die Kinder solcher Beamtenfamilien für die Tertia reif,
so nehme man den Eltern die Sorge und lasse ihre Kinder, ähnlich wie in
Schulpforta, wo das Gymnasium erst mit Tertia beginnt, gegen eine mäßige
Zahlung (150 Mark bis 300 Mark jährlich, unter gewissen Umständen ganz
frei) in Konvikte eintreten, die man hauptsächlich für Beamtenkinder an drei
oder vier Voll- oder „Obergymnasien" der Provinz einrichte. Dort mögen
sie sreie Verpflegung, freies Schulgeld, freie Bücher und Obdach erhalten, nur
sür Wäsche und Kleidung hätten die Eltern zu sorgen; Mädchen könnten vom
zehnten oder zwölften Lebensjahre an in ähnlicher Weise in Posen und Brom-
berg untergebracht werden, ohne daß sie die Verpflichtung übernehmen müßten,
sich als Lehrerinnen ausbilden zu lassen. Es würde diese staatliche Fürsorge
für die Fortbildung von Beamtenkindern in unsrer Provinz der für Osfiziers-
söhne in den Kadettenhäusern entsprechen. Was dem einen Stande recht ist,
ist andern Ständen billig. Von Schulpforta heißt es, daß die dort gebildeten
und erzognen spätern Beamten zu den tüchtigsten des preußischen Staates ge¬
hören. Wohlan, man schaffe sich für die Provinz Posen eine ähnliche Möglich¬
keit, tüchtige Beamten, die ans guten Beamtenfamilien stammen, heranzuziehn.
Dies würde das „zahlreiche, tüchtige, sozial und sittlich musterhafte und der
Regierung und der deutschen Sache zuverlässig ergebne Beamtenpersonal"
liefern, das, wie der Herr Verfasser in Ur. 31 treffend sagt, „gefunden und
geschaffen werden muß"; „das wird viel Geld kosten, aber es muß sein!"
Die über die Provinz Posen so zahlreich wie nirgends ausgestreuten Gym¬
nasien haben bis jetzt nur dem Polentum Nutzen gebracht; für das in den
kleinen Gymnasialstädtchen vorhandne „Deutschtum," bestehend aus fünf bis
zehn Beamtenfamilien — dein Landrat, drei bis vier Richtern, Sekretären, Post-,
Steuerbeamten usw., von denen ein Teil, wie leider die meisten Gymnasial¬
lehrer der Provinz, unverheiratet ist —, genügt zunächst ein „Untergymnasium"
vollständig, und für die durch Aufhebung der Klassen von Tertin bis Prima
gemachten Ersparnisse richte man in geeigneten, hauptsächlich deutschen Stüdteu
Konvikte ein.
Der Herr Verfasser sagt ferner sehr richtig: „Je zuverlässiger die Herren
— Beamten, Lehrer usw. — siud, um so schwieriger und unangenehmer ist
ihre Lage. Gute Gehalte, gute Wohnungen, Ausstattung der ganzen äußern
Lage mit reichlichen Vorzügen aller Art sind natürlich nötig. Je dichter sie
im Polnischen sitzen werden, um so erträglicher werdeu sie leben, um so zu¬
verlässiger werden sie bleiben trotz der Versuchungen, die stündlich von polnischer
Seite an sie herantreten. Man sorge für ihre Geselligkeit untereinander" usw.
Ein höherer, aus Westfalen nach Posen gekommner Beamter kennzeichnete mir
gegenüber vor etwa zwanzig Jahren, als ich erst kurze Zeit in der Provinz
war, sehr treffend die Verhältnisse mit den Worten: „Im Posenschen herrscht
Gesellschnftlichkeit, aber keine deutsche Geselligkeit." Ich habe in den zwei
Jahrzehnten oft an diesen Ausspruch denken müssen, wenn ich an den ver¬
schiednen Orte», wo ich mit meiner Familie von „Amts wegen" lebte, die so¬
genannten „Abfütterungen" mitmachte, und ich habe gefunden, daß er heute
noch ebenso richtig ist wie damals. Fand man sich zu einer oder einer audern
Familie nach mehrfachen, Zusammentreffen sympathisch hingezogen, und begann
allmählich ein gemütlicher, ungezwungen geselliger Verkehr — ohne Karten¬
dreschen bis nach Mitternacht! —, so wurde er plötzlich durch die Versetzung
eines Mitgliedes beendet. Etwa aller fünf Jahre wechselte in den kleinern
Orten fast das ganze Beamtentum; eiuen passenden Umgang für die Kinder
zu finden, Jugendfreundschaften zu schließen, war unmöglich, die neuen An¬
kömmlinge hatten entweder noch keine oder viel zu kleine Kinder. Von den
polnischen Kindern mußte man die seinen fernhalten, da sie teils meist ans
den untergeordnetsten Verhältnissen stammten, teils auch viel zu alt aufs Gym¬
nasium kamen; zwölf- bis vierzehnjährige in Sexta, achtzehn- bis neunzehn¬
jährige in Tertia waren die Regel, ein günstiger Einfluß von so alten, mit allen
Hunden gehetzten, schon rauchenden, saufenden Schlingeln auf ihre jüngern
deutschen Mitschüler war untürlich ausgeschlossen. In den Gymnasien rein
deutscher Provinzen find natürlich derartige Verhältnisse gar nicht denkbar, weil
durchschnittlich die Schüler einer Klasse gleichaltrig sind.
Man kann es z. B, einem Amtsrichter nicht verdenken, wenn er alle Hebel
in Bewegung setzt, rechtzeitig aus der Provinz herauszukommen; denn hat er
hier vier Stunden in deutscher Amtssprache mit den Parteien verhandelt, so
beginnt hinterher nochmals in polnischer Sprache vier Stunden dasselbe. In
einer deutschen Provinz hat er mithin nur die halbe Zeit nötig, bekommt den¬
selben Gehalt und lebt in angenehmem geselligen Verhältnissen, namentlich auch
was die Wohnung anbetrifft. In ähnlicher Lage sind mehr oder weniger die
übrigen Beamten in unsrer Provinz, um schlimmsten die „bestgehaßtesten" Be¬
amten, die Kreisschnlinspektoren. Die Wohnungsverhältnisse spotten meist jeder
Beschreibung; auch im kleinsten Neste findet man bei den wenigen Beamten-
Wohnungen fast immer einen drei-, auch vierfenstrigen „Salon," einen Niesen-
raum zum Tanzen für die einzige, alljährliche „Abfütterung" berechnet, dagegen
fehlt überall eine Speisekammer, meist auch ein Raum sür das Mädchen. Am
schlimmsten sind die Beamten daran, die ein Bureau haben müssen; sie sind
der Gnade des polnischen oder jüdischen Wirts vollständig preisgegeben und
zahlen meist das doppelte bis dreifache von dein an Miete, oft sogar noch
mehr, was sie an sogenanntem Wohnungsgcldznschuß vom Staat erhalten,
denn erstens sind andre passende Wohnungen gar nicht vorhanden, sodann will
niemand mit dem ganzen Aktenapparat umziehn, weil jeder hofft, bald durch
Versetzung aus den gräßlichen Zuständen erlöst zu werden. Hier müßte vor
allem Wandel geschafft werden, zur deutschen Behaglichkeit gehört um einmal
eine gemütliche Wohnung mit etwas Garten. In ganz kleinen Nestern baut man
auch schon für die Beamten Häuschen mit Gurten, aber auch in Mittelstädten
und größern Orten müßte man für Beamte, die einen Aktenapparat halten und
Publikum bei sich einlassen müssen, um staatliche Häuserbanten denken; solche
Beamte sind der Kreisbauinspektor, der Gewerbeinspektor mit Alten und Schreibern,
der Kreisschulinspektor, der Katasterkontrolleur, die Steuer- und Distrikts¬
beamten usw. Sie müssen sich jetzt überall mit sehr teuern, ganz miznlünglichen,
fürchterlich unpraktischen Mietränmen behelfen und schweben oft in Angst, von
einen, Offizier aufgenietet zu werden, der, frisch aus dem Westen hierher ver¬
hetzt, eine größere Wohnung braucht, über genügende Geldmittel verfügt, deu
Beamten gegenüber aber noch durch Servis außer dein Wohnungsgeld viel
besser gestellt ist. Ich kenne einen Kreisbauinspektor, in dessen Wohnung man
>Nlr durch das Bureau oder durch die Küche kommen kann, dabei gehört dieses
Quartier noch zu den besten und begehrtesten. Ein Kreisschulinspcttor muß
Leute durch das Wohn- und ein Schlafzimmer führen, wenn er in sein mit
^keen vollgestopftes Amtszimmer kommen will, oder er müßte sie durch die
Küche und zwei Schlafzimmer führen. Eine Speisekammer fehlt ihm, dafür muß
^ sich gefallen lassen, daß seine Frau ein Fliegenschränkchen in sein Bureau
letzt, denn auf der Hausflur ist nicht Raum, es würde auch bald erbrochen
und alles daraus gestohlen werden; im Keller können wegen der vielen Ratten
nur Kohlen aufbewahrt werden. Dabei ist das Quartier trotz seines hohen
Preises von allen, die kein Bureau zu halten gezwungen sind, wegen seiner
schonen Lage sehr begehrt, und manche Familien warten sehnsüchtig ans die
Versetzung des Inhabers,
Solche unwürdige Zustände von Unbehaglichreit könnte ich viele an¬
führen ; sie müßten für Beamte mit amtlichen Akten schleunigst durch fiskalische
Bauten beseitigt werden, wenn sich die nach Posen versetzten Beamten in
den unangenehmen, aufreibenden Verhältnissen der Provinz behaglich fühlen
sollten. In der Stadt Posen sind bei den fast unerschwinglichen Mieter für
die Beamten, auch für die höhern, ganz traurige Wohnungsverhältnisse; man
sorge schleunigst dafür, daß drei bis fünf Jahre bei der Pensionierung doppelt
gerechnet werden, dann werden sich tüchtige, zuverlässige höhere Beamte ohne
Vermögen gewiß nicht viel besinnen, dort zu bleiben und sich mit Hilfe des
neubegründeten Beamtenwohnungsbauvereins ein Haus zu bauen. Es müßte
auch jetzt bei der Entfestigung der Westseite Posens ein Gelände zu einer
Häuserkolonie für Beamte, die sich ein Heim bauen wollen, frei gelassen, und
für eine kleine Summe jedem Beamten ein Bauplatz zugänglich gemacht werde».
Mit der Erhöhung der Beamtengehalte für die Provinz bleibe man uns
fern, da nach dem allgemeinen Urteil damit ein Strebertum schlimmster Sorte
hergelockt würde, das mau dann nicht wieder loswerden kann. Eine trübe Er¬
fahrung hat man doch schon in den achtziger Jahren mit auswärtigen Lehrern
gemacht, die mit dreihundert Mark „Germanisationszulage" angelockt wurden, sich
nur selten bewährten und sich vielfach unfähig, anmaßend und unzufrieden zeigten.
Welcher Unterschied soll z. B. bei einer Zulage zwischen Beamten gemacht werden,
die in dem berüchtigten Kreise Wreschen in den unerquicklichsten Verhältnissen
treu ihres Amtes walten, und den Beamten, die in dem angenehmen Kreise
Fraustadt leben; zwischen denen im Kreise Strelno ohne höhere Schule, mit ent¬
setzlichen Wegen, und denen im Kreise Meseritz, wo es, wie im Kreise Schwerin,
kein Polentum giebt, das Schwierigkeiten macht und oft mehr als diplomatische
Geschicklichkeit und Energie verlangt; ferner zwischen denen von Adelnau ohne
Eisenbahn und denen von Schneidemühl! Diese geplanten Zulagen würden
nur Erbitterung und Unzufriedenheit in den einzelnen Kreisen und Benmten-
kategorien hervorrufen und die unablässige Sehnsucht, aus den aufreibenden
Verhältnissen dieser Provinz herauszukommen, steigern.
Wenn ein tüchtiger, gewissenhafter Beamtenstand für die Provinz Posen
geschaffen werden, und stabile, nicht fluktuierende oder stagnierende Zustände
hervorgerufen werden sollen, so bringe man 1. ein Gesetz ein, das für die
Beamten der Provinz Posen günstigere Pensionsverhältnisse anordnet, den»
nur stehn hier vor dem Feinde und werden früher wie anderswo in Gesund¬
heit und schaffensfreudiger Thatkraft aufgerieben. 2. Man hebe die vielen
kleinen, nur dem Heranbilden des Polentums dienenden Gymnasien auf und
gründe mit dem ersparten Gelde Konvikte zu fast kostenloser Unterbringung
und Ausbildung von Beamtenkindern, wenn man tüchtige Beamte in der Provinz
und namentlich an Orten ohne Gymnasium jahrelang festhalten will. 3. Mau
hunc den Beamten, namentlich denen mit Akten, sobald wie möglich behagliche
Wohnungen mit etwas Garten und begünstige durch Hergabe von Land und
durch Vorschuß zu 1'^ bis 2 Prozent die Beamten, namentlich der Stadt
Posen, die sich seßhaft machen wollen.
IN achtzehnten Jahrhundert beginnen die Hemmungen zu schwinden.
Die Kriege werden seltner und weniger blutig, der Seuche» er¬
wehrt man sich, die Volkszahl steigt, und das Freilnnd, wohin
bis dahin bedrängte Existenzen ausweichen konnten, wird knapp;
im neunzehnten Jahrhundert geht es auch in Nordamerika zu
Ende. Nun bleibt den Entwurzelten nichts mehr übrig, als im Dienste des
Kapitals ihr Brot zu suchen. Um 1750 ist in England, durch die Aufrichtung
des Julikönigtums in Frankreich, nach der Umwälzung voll 1848 in Deutsch¬
land der Sieg des Kapitalismus entschieden. Fortan gilt die Losung: DurielriWs?.-
vou8! Im Beginn des neunzehnten Jahrhunderts war Deutschland noch ein
Bauernland, und auch noch im Jahre 1843 machte die landwirtschaftliche Be¬
völkerung in Preußen noch über 61 (in Bayern beinahe 66), die stoffverarbeitende
Bevölkerung, die gewerbthütige im engern Sinne, wenig über 23, die handel¬
treibende kaum 1 Prozent der Bevölkerung aus. Die Organisation des Handwerks
bestand noch unversehrt, die Hausfrau spann, webte und schneiderte noch und
goß die Talgkerzen fürs Hans noch selbst, sodaß „der Charakter des deutschen
Wirtschaftslebens um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, also am Ende
der frühkapitalistischen Epoche fPeriode!j, nicht so arg verschieden war von dem,
den das Wirtschaftsleben um 1350 oder wenigstens um 1450 trug." Erst 1850
beginnt die ungeheure Wandlung, „die uns in fünfzig Jahren weiter vom Aus¬
gangspunkte entfernt, als es früher fünfhundert Jahre vermocht hatten." Sie
hatte sich ja in einzelnen Symptomen angekündigt, die große Wandlung. Zwar
^e Eisenindustrie war noch sehr schwach. Anfang der vierziger Jahre gab es
un Siegener Lande noch keinen Kokshochvsen, und der deutsche Hochofen pro¬
duzierte jährlich 7000 Zentner — der englische 70000, der heutige deutsche
618000; und die Zahlen des damaligen Auslandhandels verleiten dazu, die
^»twicklungsreife dieser Periode zu überschätzen. Weil damals der Seeweg
noch der einzige bequeme und wohlfeile, der Transport zu Lande beschwerlich,
kostspielig und stellenweise unmöglich war, machte damals die Ausfuhrmcnge
^inen viel größern Teil der heimischen Produktion aus als heute. Die Textil¬
industrie, die Hernbdrückung vieler Handwerker zu Magazinlieferanten und die
Steigerung der städtischen Grundrente, die zur Bodenspekulation verleitet, das
waren die Gebiete, auf denen sich die Übermacht des Kapitals zuerst empfind¬
lich bemerkbar machte. Selbstverständlich haben die Eisenbahnen, die in den
herziger Jahren ansingen, für den Verkehr Bedeutung zu erlangen, den Prozeß
mächtig beschleunigt. Die Schneidermeister von Prenzlau petitionierten 1847
um das Verbot oder die Einschränkung der Wanderauktionen mit Kleidern.
Seitdem die Bahn fertig sei, bezögen die Wohlhabenden mehr und mehr ihren
Bedarf aus der Hauptstadt; durch die Auktionen verliere das Handwerk nun
auch noch die Kunden der mittlern und der untern Klassen. „Mit dem feinen
Instinkte des Reaktionärs von Geblüt fand Bismarck die Bedeutung der revo¬
lutionären Umgestaltung heraus, die sich hier vorbereitete, und Warute seine
Kollegen in der zweiten Kammer davor, sie durch eine gewerbefreiheitliche Gesetz¬
gebung zu begünstigen. Ganz nach Carlyle-Kingslcyscher Art ruft er ihnen
zu: Ich glaube, es möchten uns unsre wohlfeilen Röcke aus dem Kleiderläden
zuletzt unbehaglich auf dem Leibe sitze», wenn ihre Verfertiger daran zweifeln
müssen, sich auf ehrliche Weife zu ernähren."
Die nun folgende Darstellung der Umgestaltung stützt sich ebenso wie der
ganze zweite Band zu einem großen Teil auf die unsern Lesern bekannten
„Untersuchungen über die Lage des Handwerks ii? Deutschland," an denen
übrigens Sombart gelegentlich, z. B. in einer Anmerkung auf S. 521,") scharfe
Kritik übt. Die historische Thatsache ist ja im allgemeinen jedermann bekannt,
aber auch der Unterrichtete, der Sombart zur Hand nimmt, wird finden, daß
sie ihm erst durch dessen Darstellung im einzelnen klar und verständlich wird.
Wir können daraus nur ein paar Stellen hervorheben, die große Erscheinungs¬
gruppen und zugleich die Auffassung des Autors charakterisieren. Vor Acht¬
undvierzig gab es in Deutschland noch kein Klassenbewußtsein, weder unten
noch oben. „Wenn die Arbeiterschaft revoltiert und nicht nur gegen Maschinen
eifert oder Salons der Fabrikanten demoliert, so tritt ganz besonders der un¬
entwickelte Stand ihres .Klassenbewußtseins in die Erscheinung. Dann erheben
sie Forderungen, lassen Ideale durchblicken, die noch völlig der Welt des Hand¬
werks angehören. Es genügt zum Beweise, auf die Bestrebungen der deutscheu
Arbeiterschaft in der 1848 er Bewegung hinzuweisen, die, von ganz wenigen
Gebieten abgesehen, in denen schon der Geist Marxens zu wirken begonnen
hatte, durchaus einen gesellenhaften Charakter trägt, wo es sich um Fabrik¬
arbeiter handelt, einen zünftlerischen, wo Hausindustrielle die Fordernden sind.
Dasselbe gilt von der Klasse der Unternehmer." Auch daß es uoch keine
Unternehmerklasse gab, beweise der Verlauf der 1848er Bewegung. „Eine
Revolution, inszeniert von der wildgewordnen Boutique der Hauptstadt, ge¬
tragen von kleinbiirgerlich-professoralen Schönrednern und im Entstehn schon
niedergeschlagen von den Bajonetten eines feudalen Königtums, war uur mög¬
lich in einem Lande, dem das eigentliche Rückgrat bürgerlicher Revolutionen,
eine zielbewußte Jndustrieunternehmerklasse noch fehlte. Gewiß waren schon
reiche Unternehmer vorhanden, aber sie gehörten meist dem Handelsstande an-
Wo wir eigentliche Industrielle finden, stellen sie meist noch jenen Typus des
Knallprotzen dar, dem das Parvenutum aus allen Poren schwitzt: die erbärm¬
lichste Karikatur, noch ohne recht eignes Leben, ein Zwitter zwischen Prolet
und Patrizier, unheilvoll vor allem für die ästhetische Entwicklung auch der
gewerblichen Produktion: die berühmte erste Generation industrieller Unter¬
nehmer, von denen kein Land verschont geblieben ist. Aber neben diesem doch
immerhin schon echten Uuternchmerthpus wimmelt es von allerhand halb¬
kapitalistischen Gebilden" wie kleinen Fabrikanten, Industrie treibenden Guts¬
besitzern. Das mag alles wahr und richtig sein, nur wissen wir uns keines
Falls zu entsinnen, wo die echten Unternehmer vom Schlage Krupps und
Morgans die eigentliche biirgerliche Revolution gemacht Hütten.
Obwohl die Umwälzung jetzt auch in Deutschland vollzogen ist und der
Kapitalismus das Handwerk besiegt hat, wird die Wirklichkeit vielfach noch
durch allerlei Schein, Spiegelfechterei und Illusionen verdeckt. Da sind z. B.
die großen Bauunternehmer, die sich Baugewerkmeister nennen und sich auf Kon¬
gressen als ehrbare Handwerksmeister gebärden. Das sei uur ein politischer
Trick. „Wer das Vergnügen hat, die Hauptredner auf diesen Versammlungen
Persönlich zu kennen, der muß die Disinvoltura bewundern, mit der sich diese
schweren Jungen bescheiden in das schlichte Gewand des Handwerkers alten
Schlages zu hüllen versteh»." Dann wird oft Handwerk mit Handarbeit ver¬
wechselt. Daß auch der Hörige des KoufektionärS mit der Hand arbeitet, macht
ihn noch nicht zum Handwerksmeister. Sombart vermag im ganzen deutschen
Vaterlande nur noch zwei wirkliche Schneidermeister zu entdecken, und zwar im
äußersten nordwestlichen Winkel des Reichs. Bei eifrigerm Suchen würde er
doch vielleicht uoch einige gefunden haben; einen im Osten, der noch dazu aus
vier Brüdern besteht, können wir ihm nachweisen. Endlich wird oft die Lage
des Handwerks mit der des Handwerkers verwechselt. Gerade in einem ab¬
sterbenden Gewerbe kann sich der geschickte oder kapitalkräftige Meister auf
Kosten seiner ürmern oder weniger findigen Konkurrenten leicht zum kleinen
Fabrikanten emporschwingen, der dann immer noch als Meister gilt. Oder es
gehn die meisten Mitglieder eines Gewerbes zu Grunde, und das versetzt dann
die übrigbleibenden in eine behagliche Lage, aber das Gewerbe selbst ist schwach
und unbedeutend geworden. Die Flucht in die Kleinstadt oder aufs Land
würde den Handwerkern nichts nützen. „Wir sehen den Bauern seine Kleider
beim Jude» in der nächsten Kleinstadt kaufen und die Möbel aus dem Magazin
beziehn, dieselben Möbel, die vielleicht der Gevatter Handwerker ans dem Dorfe
eben erst in die Stadt zum Mngazininhaber gefahren hat. Der Bauer gewöhnt
sich an den Emailtopf und die Petroleumlampe ebenso leicht wie an die im
Laden fertig gekauften eisernen Geräte und ledernen Pferdegeschirre. Ja, man
ist versucht, zu sagen, dus Blatt habe sich gewandt: die größere Stadt sei ein
sichreres Feld für die Bethätigung des Handwerks geworden, als es die Klein¬
stadt und das platte Land sind. Die rasche Nettgestaltung des gelverblichen
Lebens in den Großstädten schafft in jedem Augenblick Arbeitsgelegenheiten
"an, deren sich der gewandte Handwerker bemächtigen kann; namentlich auf
dem Gebiete der Baugewerbe, bei der Installation von Gas- nud Wasser¬
leitungen usw. fallen immer wieder Brosamen für Handwerker ab."
Unter den eigentümlichen Erscheinungen, die der Sieg des Kapitals in
Breslau und Berlin wie in London und Paris hervorbringt, ohne daß die
Beteiligten an dem einen Orte eine Ahnung davon haben, was an den andern
Orten vorgeht, führt er das Verhökern von Möbeln ein, „Das Bestreben
des Kapitals, das Risiko auf den Arbeiter abzuwälzen, hat nämlich bei einigen
Arten von Möbeln — ganz geringer Ware, die vollständig fungibel ist und,
weil von jedem Tischler herstellbar, in stets hinreichender Menge angeboten
wird — >die Händler bestimmt.j von irgend welcher festen Bestellung abzusehen
und das Angebot im eignen Laden abzuwarten. Dn fertigt denn der Tischler die
Woche über Möbel einer bestimmten Gattung, für die er noch keinen Abnehmer
weiß, und fährt mit ihnen am Sonnabend von Magazin zu Magnziu, seine Ware
feilbietend," Hier erreiche, bei scheinbarer Freiheit, die sich im niedrigen Verkaufs¬
preise ausdrückende Abhängigkeit ihren höchsten Grad. Man wisse ja längst, daß
gleiche Ursachcnkomplexe überall gleiche Wirkungen erzeugten, „aber das Entzücken
des sozialen Forschers ist darum nicht minder groß, wenn er ihnen begegnet." —
Die Statistik giebt über die Lage des Handwerks keinen sichern Aufschluß
und führt nur irre, wenn mau sie nicht durch die Beobachtung des Lebens er¬
gänzt und berichtigt. Sie sagt uus zwar, daß im Königreich Preußen 1846
auf 12,2, im Jahre l895 schon ans 6,5 Einwohner ein Gewerbthütiger in
der Industrie kam, aber sie sagt uus nicht, wie sich die Gewerbthätigeu auf
die handwerksmäßige und die kapitalistische Produktion verteilen, da sie die
Betriebe nach der Größe einteilt, die nicht entscheidet. Sie hat im ganzen
Deutschen Reiche mir 70634 hnusiudustrielle Schneider ermittelt, während
vielleicht Berlin und Breslau zusammen allein so viel haben, und wahrscheinlich
der allergrößte Teil der als Schneider in Kleinbetrieben angeführten 376228 Be¬
triebsinhaber nichts anders sind als Hnnsindustrielle. Auf Grund einer
Wahrscheinlichkeitsrechnung kommt Sombart zu zwei Millionen Erwerbsthätigen
im Handwerk gegen sechs Millionen, die im Bereich des gewerblichen Kapita¬
lismus arbeiten. Dem Rückgänge der Handwerker in der Zahl entspricht der
Rückgang in der sozialen Bedeutung: in Einkommen, Vermögen und Intelligenz.
In alle dem bleiben sie hinter den Berussstünden, die den neuen Mittelstand
ausmachen: den Gastwirten, Händlern und Agenten, deu Staats- und Gemeinde¬
beamten, den Lehrern, den Angestellten kapitalistischer Unternehmungen ebenso
zurück wie die Junker hinter der Bourgeoisie. Das Handwerk als soziale
Klasse ist keine Macht mehr; es löst sich ans; „die Rodomontaden der Schreier
auf den Handwerkerkongressen dürfen uns über diese unzweifelhafte Thatsache
uicht hinwegtäuschen."
Der zweite Band zeigt, wie die Thatsache geworden ist, und daß bei der
Natur des Kapitalismus, nachdem er einmal entstanden war, die Dinge nicht
anders verlaufen konnten, als sie verlaufen sind. In drei Büchern wird dar¬
gestellt: die Nenbegründung des Wirtschaftslebens durch das neue Recht und
die neue Technik (hier wird das Wesen des Maschinenbetriebs, der modernen
Chemie und des rationellen Verfahrens im Gegensatz zum empirischen erklärt)
und der neue Stil des Wirtschaftslebens, dann seine Neugestaltung durch die
moderne Landwirtschaft und die Auflösung der alten bodenständigen WirtschaftS-
vcrfassung, durch die Verstädterung des Volkes, durch Ausweitung und ner-
dichtung des Konsnms, durch Verfeinerung, Vereinheitlichung und Mobilisierung
des Bedarfs und durch Neuorgauisierung des Absatzes, endlich die Theorie
der gewerblichen Konkurrenz. Ein paar Stichproben mögen von Auffassung
und BeHandlungsweise eine Ahnung geben. Unter den treibenden Kräften der
neuen Entwicklung ist das Verwertungsstreben des Kapitals die gewaltigste.
Dieses Streben fand bis zum Krach von 1873 in der Spiritnsbrennerei und
Zuckersiederei, in der Montan-, Eisen-, Textil- und Lederindustrie hinreichende
Befriedigung und hatte in den übrigen Zweigen dein Handwerk nur einzelne
Teile weggenommen, die es für den Export verwertete, wie die Konfektion,
die Schweizer Uhrenindustrie, die Wiener Schuhmacherei, die Berliner Tischlerei.
Die Depression von 1873 bis 1895 verstopfte dem Kapital den weitern Zufluß
zu diesen Aulagcfeldern und zwang es, andre Verwendungsarten aufzusuchen,
das Handwerk ans allen seinen Gebieten zu verdrängen.
Der neue Stil des Wirtschaftslebens wird charakterisiert dnrch die Über¬
windung der Materie, des Raumes und der Zeit, durch die rasende Be¬
schleunigung des Tempos und deren bekannte physiologische und psychologische
Wirkungen und dnrch das Gegenteil dieser Überwindung, die wachsende Herr¬
schaft der Sache über die Person, indem immer mehr die Menschenarbeit dnrch
Maschinenarbeit ersetzt wird, die vorgethane Arbeit über die lebendige, die
Vergangenheit über die Gegenwart Macht erlangt. Die Tempobeschlennignng
wird unter anderm an der Textilindustrie und dein Getreidehaudcl gezeigt.
Marx rechnet im Kapital noch mit sechs- bis achtwöchigen Bmunwollen-
trcmsporteu, ebenso langen Nücksenduugszeiteu, großen Lagern und langen
Produktionszeiten, bringt deshalb sehr lange Umschlagsperioden heraus. Heute
kauft der englische Spinner den Rohstoff allwöchentlich in Liverpool gegen
bar oder kurzes Ziel und verkauft sein Garn zwei bis dreimal in der Woche
an der Börse vou Manchester. Geradezu wunderbar aber nimmt sich der
Gctreidehandel aus. Sobald der Elevatorbesitzcr in Newyork abends die
Übersicht vou deu Tageseiulaufen der Landclevntoren empfangen hat, tele¬
graphiert er seine Vertanfsoffertcn in die Welt hinaus. Am nächsten Morgen
findet er die Antworten vor. Die Verschiffung wird sofort vorgenommen, und
zugleich mit ihr ein Wechsel ans den Käufer gezogen und beim Bankier dis¬
kontiert; der Unischlag des in diesem Geschäft angelegten Kapitalteils dauert
nicht langer als zwei bis drei Tage.
Außer den bekannten Änderungen der Gesetzgebung, die einen großen Teil
drr kleinbäuerlichen Bevölkerung entwurzelt haben, führt Sombart noch einige
Ursachen an, die bisher wenig oder gar nicht beachtet worden sind. Die
kapitalistische Großindustrie und die Großgutswirtschaft haben zusammen nicht
allein die kleinen Brennereien und Brauereien, die Handwebereien und andre
ländliche Hausindustrien vernichtet, es ist auch mit der Großindustrie selbst
eine für unzählige ländliche Existenzen verhängnisvolle Änderung vorgegangen.
An der frühtapitalistischen Zeit war sie dezentralisiert. Man legte die Fabriken
gern auf Dörfern und in kleinen Städten an, weil man dort wohlfeile Arbeits¬
kräfte fand, und so wurden die Eiuncchmen der ganz kleinen Besitzer durch
den Nebenverdienst einiger Familienglieder in der Fabrik wenigstens bis zum
Existeuzminimum ergänzt. Viele Industrien aber sahen sich an Orte gebunden,
die ihnen Wasserkraft, Holz und allerlei Rohstoffe lieferten. Vor allein die
Eisenindustrie, die vor der Erfindung des Kokshochvfens zur Herstellung ihres
Rohmaterials Holzkohle brauchte. „Da wurden von den überall verbreiteten
Eisenerzgruben und aus den durch die Wälder zerstreuten Köhlerhütten die
Rohstoffe fnhrenweise zu den romantisch am rauschenden Waldbach gelegnen
Eisenhütten gebracht, die, wenn sie vollständig waren, aus dem Hochofen, dem
Pochwerk und verschiednen Hämmern (Stadtbanner, Blechhammer, Zain- jStab-j
Hammer), wohl auch einer Gießerei bestanden. Da war es, wo der Märker
Eisen reckt: der Meister mit ein paar Gesellen, den getreuen Knechten der
Ballade. Und noch zahlreiche andre frühkapitalistische Industrien verdankten
ihre Entstehung dem Holzreichtum mancher Gegenden und waren deshalb über
das flache Land zerstreut: so alle Holz verarbeitenden Industrien im engern
Sinne, wie die Schnitzerei und die Anfertigung von Holzgeräten. Dann aber
auch die Pottaschesiedereien, die vor der Verwendung von Soda das gebrauche
liebe und in Färbereien, Glashütten, Leiuwaudbleichen, Fayencefabriken, Seifen¬
siedereien usw. verwandte Alkali lieferten: die Pottasche. Ferner sind von
den zuletzt genannten Industrien selbst Glashütten, Porzellan- und Fahence-
fabriken echte Kinder des Waldes." In derselben Zeit um, wo sich die In¬
dustrie aus dieser Abhängigkeit vom Fundort ihrer Rohstoffe befreite und den
ärmern Dorfbewohnern den Nebenverdienst raubte, gerieten diese noch durch
einen andern Umstand in Not. Die Friedensjahre von 1816 bis 1845 haben
unserm Vaterlande die stärkste Volksvermehrung beschert, die wir kennen. Die
Bevölkerung auf dem heutigen Reichsgebiet wuchs von 24,8 auf 34,4 Millionen
an, d. h. sie vermehrte sich um 38,7 Prozent, während sie sich im folgenden
Menschenalter, von 1845 bis 1875, nur um 24,1 Prozent, und sogar im
Menschenalter des größten Aufschwungs, von 1865 bis 1895, nur um
31,8 Prozent vermehrte. Wenn die ländliche Bevölkerung in einer Zeit, wo
ihrem ürmern Teile durch die „Bauernbefreiung" der Grundbesitz und die
Nutzung des Gemeindelandes, durch die steigende Rentabilität der Landwirt¬
schaft die Naturallvhnuug und durch die Umwälzung der Industrie der gewerb¬
liche Nebenverdienst genommen wird, wenn sich diese Bevölkerung in einer
solchen Zeit anch noch dazu auf das anderthalbfache vermehrt, so entsteht
natürlich relative Übervölkerung. Eine reiche Litteratur bezeugt die damalige
Not. „Alles wirkte somit zusammen, das Bedürfnis nach einem Abstrom eines
Teils der Landbewohner wachzurufen. Das Land drängt seine Kinder fort,
und Bevölkerungsschichten, die seit Jahrhunderten so fest an ihrer Scholle ge¬
klebt hatten wie mir irgend ein Bodengewüchs, sie kommen in Bewegung.
Scharen auf Scharen lösen sich los und wandern fort. Und diese Riesen-
Volksbewegung, von der man mit Recht gesagt hat, daß im Vergleich zu ihr
die sogenannte Völkerwanderung ein Kinderspiel gewesen sei, wenn man die
in Bewegung gesetzten Volksmassen in Betracht zieht, diese Bewegung scheint
nun kein Ende nehmen zu wollen, anch jetzt, wo von einer Überschußbcvölkerung
auf dem Lande schon lange keine Rede mehr ist."
Der Verstädternngsprozeß veranlaßt Sombart, eine Naturgeschichte der
modernen Stadt zu schreiben. Die von Ackerbürgern bewohnten Landstädte
früherer Zeit waren nach ihm noch keine wirklichen Städte. Die Stadt im
ökonomischen Sinn ist eine Ansiedlung von Menschen, die für ihren Unterhalt
auf die Erzeugnisse fremder landwirtschaftlicher Arbeit angewiesen sind. Das
Maß ihrer Wachstnmsmöglichkeit hängt von der Große des Überschusses ab,
den die landwirtschaftliche Bevölkerung erzeugt. Für den Entstehungsort der
Stadt und ihre Entwicklung zur Großstadt ist die geographische Lage nicht in
dem Grade entscheidend, wie man berühmten Geographen geglaubt hat. Mutter
der modernen Stadt ist die Handelsstadt, die aber ihrer Natur nach nicht
Riesenstadt werden kann. „Der Laie pflegt sich nicht klar zu machen, daß
von dem Warenstrom, der durch eine Stadt hindurchgeht, noch kein Sperling
in dieser Stadt leben kann, es sei denn, er pickte sich sein Futter ans den
Getreide- und Erbsensäcken heraus." Das aber, was hängen bleibt, der Kauf¬
mannsprofit, steht im umgekehrten Verhältnis zum Wertquantum; heut bleibt
von der ganzen Milliarde weniger zurück als vor einigen Jahrzehnten von der
halben. Voll den nnttelalterlichen Handelsstädten ist keine sehr groß geworden;
Wohl aber ist das nicht wenigen Residenzstädten geglückt. Wie bei den ersten
Ansätzen zur Reichtnmsanhänfnng spielte auch bei der Entstehung der Gro߬
städte Hof- und Grundadel die Hauptrolle. Um die Trias von Grnndrentnern,
Staatsrentnern und Großfinanzlern, zu denen sich natürlich der Kaufmann
als vierter gesellt, gruppiert sich zunächst ein Haufe vou Schmarotzern, Klienten,
Künstlern, Advokaten, dann die entsprechende Zahl Gewerbtreibender, besonders
solcher, die dein Luxus dienen. In London ist zwar der Handel hinzugekommen,
aber was seinen Reichtum begründete, war zunächst das Zusammenströmen des
Landadels, der sich in der Hauptstadt Paläste baute und dort seine Einkünfte
verzehrte. Berlin verdankt sein erstes Wachstum demselben Umstände, nur daß
es damit wegen der Armut der Mark Brandenburg entsprechend langsam ging.
Im Jahre 1783 machten der Hof, die Bedienten, das Militär und die Be¬
amten mit ihren Angehörigen zwei Fünftel der 141000 Seelen betragenden
Gesamtbevölkerung aus. In einen, reichern Lande würden die 56000 „Söld¬
linge" eine viel größere Zahl von Gewerbetreibenden in Nahrung gesetzt und
d'c Einwohnerzahl auf 300000 gebracht haben. Berlin ist bekanntlich erst
durch die Industrie Millionenstadt geworden, und diese ist um überhaupt in
der Zeit des Hochkapitalismus die eigentlich großstadtbildende Kraft. Auf
welche Weise sie wirkt, das muß man in dem Buche selbst lesen. Nur das
eine erwähnen wir noch, daß die Industriestädte einerseits einzuteilen sind in
Primäre (von der Industrie geschaffne) und sekundäre (durch sie nur vergrößerte),
andrerseits in industrielle Teilstädte, die bloß von Industriearbeitern bewohnt
werden, sodaß uur ein Teil des in ihnen erzielten Unternehmergewüms von
ihrer Bevölkerung verzehrt wird — ein andrer Teil vielleicht in weit ent¬
fernten Residenzen —, und industrielle Vollstädte, in denen der am Ort ver¬
diente Unternehmergewinn ausgegeben wird. Solche setzen Ring an Ring an
und wachsen sich zu Nieseustüdten aus. Primäre Industriestädte wie Königs¬
hütte bleiben gewöhnlich industrielle Teilstädte (wir würden sie lieber reine
Industriestädte nennen), anders ausgedrückt- Proletarierstädte. Bei der Dar-
Stellung des Anteils, den die Eisenbahn an der Umwälzung gehabt hat, ist es
auffällig, daß List nicht erwähnt wird, dem niemand glauben wollte, als er
die Wirkungen voraussagte, die Sombart beschreibt. Das Erfreulichste im
Unterschiede zwischen unsrer und der vormärzlichen Zeit, die heutige Üppigkeit
und der Reichtum gegenüber dein Armeleutegeruch, der damals auch uoch den
höhern Staatsbeamten anhing, wird sehr kräftig hervorgehoben, und das
heutige Berlin >V wiederum, wird noch beigefügt, habe eiuen Armeleutegeruch,
wenn man es neben Nordamerika hält; die dortigen Hauseinrichtungen, Toiletten
und Gastmähler seien Märchen aus Tausend und Einer Nacht. Bon deu
romantischen Feinden der modernen Entwicklung, wie Ruskin und Morris in
England, Riehl in Deutschland, heißt es, sie hätten als Don Qnixotes die
junge, gesunde Generation mit einem Keim vou Dekadenz angesteckt.
In dein Abschnitte, der von der Umgestaltung des Bedarfs handelt, wird
u. a. das Wesen der Mode erörtert. Schon Mercier (1' 1814) war über ihren
raschen Wechsel erstaunt. Trotzdem sei man versucht, zu behaupten, ihr innerstes
Wesen habe sich erst seit einem Menschenalter voll entfaltet; jedenfalls habe
sie jetzt erst die Macht erlangt, einen solchen Einfluß aus das Wirtschaftsleben
auszuüben, daß sie in die Nationalökonomie gehöre. Das Eigentümliche der
heutigen Mode sei, daß sie sich auf eine unübersehbare Fülle von Gebrauchs¬
gegenständen erstrecke (hier Hütte Sombart mich noch erzählen sollen, wie sich
fast alle illustrierten Zeitschriften der Reihe nach dazu bequemt haben, den
Jugendstil anzunehmen), daß nicht mehr jedes Land, jeder Ort, jeder Stand
seine besondre Mode habe, sondern daß ein und dieselbe Mode „mit der Aus¬
dehnungsintensität der Gase" die ganze Kulturwelt durchdringe, und daß ihr
Wechsel ein geradezu rasendes Tempo angenommen habe. Die Geschäftsinhaber
müßten sich, wie im „Konfektionär" geklagt wird, das Hirn zermartern, das
Blut aus den Nägeln fangen, um dem vom Neuerungsfieber ergriffnen Publikum
zu genügen und um — die .Konkurrenten zu schlagen. „Der Absatz wird zu
einem Problem."
Dieses Problem führt uns noch einmal zum Handwerk zurück. Im drittel?
Buche wird ihm jede Hoffnung abgeschnitten. „So lange es an der einen
Stelle in der Stadt nur darum bessere oder billigere Semmeln giebt, koan
der Meister Kunz eine ordentliche Frau hat und selbst das Backen in Frank¬
reich oder Italien gelernt hat, oder der Schneidermeister Fips die besten und
billigsten Anzüge liefert, weil er gerade das Zuschneiden versteht, aber ein
schlechter Rechner ist und von seinem ererbten Vermögen zusetzt, solange giebt
es keine Konkurrenz als soziale Erscheinung. Sie wird erst möglich, wenn
Überbietnng bei der Warenlieferung und Unterbietung im Preise in jedem ein¬
zelnen Falle von deu Zufälligkeiten des Persönlichen befreit sind." Der kapi¬
talistische Betrieb (der technisch nicht Großbetrieb zu sein braucht, sondern sich
in eine Anzahl Kleinbetriebe, z. B. Schneiderwerkstätten, gliedern kann) liefert
ganz allgemein in einer solchen Menge und Güte und zu einem so niedrigen
Preise, daß das Handwerk mit ihm nicht konkurrieren kann, und darum ist
dieses verloren. Was die Güte der Waren betrifft, so ist sie für den Handwerker
Ehren- und Gewissenssache, für das Kapital nicht, da dieses jn als ein totes
Ding weder Ehre noch Gewissen hat, und in der Thut hat es nicht blos;
anfangs gute Handarbeit durch schlechte Fabrikerzeugnisse verdrängt, sondern
kommt auch heute noch schlechtem Geschmack und kleinen Geldbeuteln mit leichter
Ware und Surrogaten gefüllig entgegen. Aber die Anforderungen des guten
Geschmacks nud des Reichtums kann heute dennoch nur das Kapital befrie¬
digen; der Handwerker kann es nicht, n, a, deswegen, weil ihm dieses das
Rohmaterial und die guten Arbeiter nimmt. Der kleine Tischler kann Nieder
teure ausländische Hölzer kaufen noch sein Holz lagern und austrocknen lassen,
Und der tüchtige Geselle flieht ans der schauderhaften Werkstatt und der arm¬
seligen Wohnung des Meisters in die Fabrik, die ihm schöne, freundliche und
gesunde Arbeitsrüume, geregelte Arbeitszeit, guten Lohn und im übrigen Frei¬
heit gewährt. Dem Meister bleibt nur der Schund. Doch anch von weniger
tüchtigen und von ungelernten Arbeitern stehn dem Kapital jederzeit so viele zur
Verfügung, als es braucht. Daß es die Arbeiter differenziert, für alle Be¬
gabungen von der höchste» künstlerischen bis zu der des Lastträgers und des
Schmutzansfegers Verwendung hat und jeden Mann' an seinen richtigen Platz
stellt, gehört zu den Elementen seiner Macht. Unter dreißig Schneidern oder
Schustern ist immer nur einer, der gut zuschneiden lernt, wie es unter je
dreißig Billardspielern immer nur einer zur Meisterschaft bringt. Darum ist
unter dreißig selbständigen Schneidern nur einer ein vollendeter Meister, die
andern 29 machen ihre Sache teils mittelmüßig, teils schlecht, Arbeiten da¬
gegen alle dreißig für einen Konfektionär, und schneidet der eine, der es kann,
für die andern 29 zu, so kann jedes Stück ihrer gemeinschaftlichen Arbeit gut
ausfallen.
Sehr ausführlich wird gezeigt, wie eitel die Hoffnung auf die RettungS-
«redet ist, die „Professorenheit" erdacht hat. Renaissance des Kunsthandwerks
ist Phrase, wie Sombart an den „Vereinigten Werkstätten" zeigt, die er in
München studiert hat. Er hat dort gelernt, daß gerade die höchsten Ansprüche
künstlerischer Inspiration im Kunstgewerbe jede handwerksmäßige Produktion
ausschließen. Hervorragende Künstler entwerfen die Skizzen, die natürlich gut
^zahlt werde»; Zeichner, deren jeder auf einen bestimmten einzelnen Künstler
gedrillt ist, führen die Skizzen aus, und die Handarbeiter, die danach den
Gegenstand herstellen, müssen sich sklavisch an die Vorlage halten und dürfen
nicht das Kleinste ändern. Der Künstler bestimmt auch, welches Material,
welche Art Holz oder Faden, welche Farbe für jeden Teil jedes Stücks ge¬
wühlt werden soll. Als Ideal der Werkstatteiurichtung erscheint den, Künstler
'.ein Troß höchstspezialisierter Qualitätsarbeiter, deren jeder wenn möglich eben¬
falls nur auf einen Künstler und eine Vorrichtung eingeübt ist, z, B, auf
Jntarsiaarbeit für Pancock." Der Grundgedanke der neuen Ordnung ist, es
dahin zu bringen, „daß ein Geist nicht nur für tausend, sondern für zehn¬
tausend, für hunderttausend Hände genüge." Weiter wird nachgewiesen, daß
Handwerkern auch die Kleinmotoren, die kleinen Arbeitsmaschinen und die
gemeinsame Benutzung größerer Kraftquelle» nicht helfen können, und endlich wird
die Hoffnung uns die genossenschaftliche Selbsthilfe zerstört. Der Kredit gehört
M den kräftigsten Hebeln des Kapitalismus, nud Kreditvereine wirken darum
nur auflösend auf das Handwerk; sie helfen den schon gut situierten Hand¬
werkern, sich auf Kosten ihrer schwachem Genossen zu kleinen Fabrikanten
emporzuschwingen. Ganz ebenso wirken Rohstoff- und Magazingenossenschasten.
Bei der Landwirtschaft wirken Einkauf- und Absatzgenossenschaften in ganz
andrer Weise, weil Düngemittel wie Milch fnngible Waren sind, bei jenen
kein Einkaufender zu kurz kommt, bei dieser nicht unterschieden wird, was der
einzelne Bauer dazu liefert. Dagegen geraten die Handwerker um das bessere
Brett, um die bessere Rindshaut in Streit miteinander, und im Magazin gehn
nur die gut gearbeiteten Stücke weg, die schlechten bleiben stehn. Daher kommt
es denn, daß die noch ziemlich jungen landwirtschaftlichen Genossenschaften blühn,
während die über fünfzig Jahre alte Genossenschaftsbewegung unter deu Hand¬
werkern in kümmerlichen Versuchen stecken geblieben ist und nichts Nennens¬
wertes geleistet hat. Wenn sich immerhin noch eine beträchtliche Anzahl von
Handwerkern hält, so ist das nach Sombart auf folgende „Hemmungen" des natür¬
lichen Entwicklungsprozesses zurückzuführen. Es giebt noch eine Menge „Knltur-
barbaren," die sich mit schlechten Handwerkserzengnissen begnügen. Viele Hand¬
werker vermögen wohlfeiler als die Fabrik zu liefern, weil sie sich eine nnter-
mcnschliche Wohnung und überhaupt die härtesten Entbehrungen gefallen lassen.
Andre vermögen unter dem Herstellungspreise zu verkaufen, weil sie, namentlich
als Hausbesitzer in kleinen und Mittelstädten, von ererbten Vermögen zehren;
mich wohlfeil wohnende Dorfhnndwerker vermögen sich zu halten. Endlich
verlegen sich die meisten auf Lehrlingsausbeutung, genauer gesagt auf die Aus¬
beutung „jugendlicher" Arbeiter, die vor dem Gesetz als Lehrlinge gelten, in
Wirklichkeit aber keine sind. Sombarts Endergebnis lautet: das Handwerk
wird sein Dasein so lange weiter fristen, als der Staat diese Ausbeutung ge¬
stattet, und als nicht durch zweckmäßigere Einrichtungen für den gewerblichen
Unterricht gesorgt ist.
Da Sombart, wie er ausdrücklich sagt, die neue Gestalt des Wirtschafts¬
lebens nur darstellen, uicht werten will, so haben wir keinen Anlaß, bei dieser
Gelegenheit zu wiederholen, wie wir diese Gestalt und namentlich den heutige»
Reichtum in Hinsicht ans Moralität, Ästhetik und Glück würdigen. Nur über
den Gegensatz zur vormärzlichen Zeit und über die Bestandteile des heutigen
Reichtums muß etwas gesagt werden, woran Sombart zu erinnern vergißt.
Aus der Not der vierziger Jahre darf nicht geschlossen werden, daß die alte
Wirtschaftsverfassung an sich unfähig gewesen sei, die Bedürfnisse einer dichter»
Bevölkerung zu befriedigen. Die Einwohnerzahl war, wie Sombart — als
der erste, soviel wir wissen — hervorhebt, so ungewöhnlich rasch gewachsen,
daß es bei jeder Wirtschaftsvcrfassimg schwierig gewesen sein würde, die Erwerbs-
gelegenheiten im entsprechenden Maß und Tempo zu vermehren, und dazu
kam eine Reihe von Mißernten, die Sombart nicht erwähnt, und die Hungers¬
not erzeugen mußten, weil die neuen Verkehrsmittel noch nicht allgemein ein-
geführt und die ihnen entsprechenden Verkehrsformen noch nicht vorhanden
wäre». Mit den: Siege der modernen Technik war die Neichtnmsvermehrung.
als unvermeidliche Wirkung gegeben. Zwar wurde sie von den Hemmungen
aufgehalten, die aus den Widersprüchen der kapitalistischen Wirtschnftsvcrfassnng
entspringe, die Marx zuerst aufgedeckt hat, und die auch Sombnrt andeutet,
aber sie ganz zu vereiteln, dazu reichte doch die Kraft dieser Hemmungen nicht
hin; es war unmöglich, daß die verhnndertfnchte Produktivität die Gütermasse
oder, was dasselbe ist, die Einkommen nicht verdoppelte, jn verzehnfachte. Aber
selbstverständlich besteht der vergrößerte Einkommcnteil hauptsächlich aus Ge¬
werbeerzeugnissen und aus Diensten, die die Technik leistet: aus schönern Woh¬
nungen, aus schönerer und reicherer Wohmmgsansstattung, aus reichlicherer
und mannigfaltigerer Kleidung, aus Büchern, Zeitungen, Kunstwerken und
andern Bildungsmitteln, aus Bequemlichkeiten und Luxus, namentlich aus
Reise- und Veleuchtungsluxus, Dagegen ist von den zwei wesentlichsten Ein-
kommengütern das eine, die Nahrung, nicht wesentlich vermehrt, das andre,
die Wohnung, wenigstens in Beziehung auf den Raum, für die Mehrzahl der
Menschen verkürzt worden. Über die Wohnungsnot, die ein stehender Be¬
ratungsgegenstand der Behörden ist, braucht nichts gesagt zu werden. Was
aber die Nahrung") betrifft, so hat zwar die Verkehrstechnik alle wohl¬
habenden Völker von der Gefahr akuter Hungersnöte für immer erlöst und
unsre Kost durch die Einfuhr neuer Nahrungs- und Genußmittel verbessert,
aber daß die Ernührungsfrage für die ganze Kulturwelt befriedigend gelöst
sei, kann man nicht sagen. Jn Rußland und Indien, die wenigstens mittelbar
zu unserm .Kulturkreise gehören, hungern jahraus jahrein ein paar hundert,
in Spanien, Italien und Galizien ein paar Dutzend Millionen. In den
übrigen europäischen Kulturstaaten ist zwar die Zahl der Hungernden relativ
kleiner, die der gut Genährten relativ und absolut größer geworden als in den
vierziger Jahren — dank dem heutigen Getreide- und Viehhandel; aber die
Landwirte erklären, wenn die Wohlfeilheit der Lebensmittel fortdauere, so müßten
sie alle zu Grunde gehn, und ist das auch wahrscheinlich Übertreibung, so
entbehrt es doch sicherlich nicht jeder Begründung. Was aber die Industrie
betrifft, so wird „das Problem, die Ware an den Mann zu bringen," täglich
unlösbarer. Eben, da wir dieses schreiben, lesen wir in der Frankfurter Zeitung
einen Stimmungsbericht aus London vom 17. Oktober: Brot, Fleisch und
Kohlen werden immer teurer, die Löhne sinken, die Gewerkvereine zählen 5 Prozent
Arbeitslose, die Metzger der Arbeiterviertel schließen ihre Läden, weil die Ar¬
beiter kein Fleisch mehr kaufen können. So sieht sich die Kulturwelt von drei
Problemen bedrängt: dem Absatzproblem, dem Problem des ländlichen Grund¬
besitzes und dem der Spaltung des stärksten Bcrufsstandes in zwei feindliche
Organisationen: die Unternehmertrusts und die Gewerkvereine.
Daß die heutige Wirtschaftsverfassung etwas völlig Neues, in keiner frühern
Zeit dagewesenes ist, muß jedem klar werden, der Sombarts Werk liest. Die
drei Probleme aber lassen es unmöglich erscheinen, daß dieses Neue so lange
dauern könne wie etwa die Feudal- oder die Zunftverfassung. Sombart hebt die
drei Probleme nicht ausdrücklich hervor, deutet aber an, daß sich das Wirt¬
schaftsleben mit reißender Schnelligkeit weiter umgestaltet — einem Ziel ent-
gegen, über das er wohl in den Bünden, die noch folgen sollen, Vermutungen
anstellen wird. Wir hatten unsre philosophische Ansicht, daß der Fortschritt
nicht in der Verdrängung jedes Alten durch ein Neues, sondern in der steten
Bereicherung des Daseins durch das Hinzuwachsen von Neuem zum Alten be¬
stehe, auch auf das Wirtschaftsleben angewandt und die Hoffnung ausgesprochen,
es werde — zunächst für uns Deutsche unter Beihilfe einer kräftigen Kolonial¬
politik — gelingen, neben den neuen großkapitalistischen Unternehmungen die
selbständigen Kleinbetriebe in der für eine gesunde Struktur des Volkskörpers
angemessenen Zahl zu erhallen. Wir bekennen, daß Sombart diese unsre Hoff¬
nung, wenigstens was den Handwerkerstand betrifft, wankend gemacht hat.
Seine Darstellung der gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Zustünde
prangt in blühendem Rosa. Das ist nicht zu verwundern, denn die Ausarbeitung
seines Werkes fällt doch jedenfalls der Hauptsache nach in die Periode der
letzten Hochkonjunktur: 1895 bis 1900. Sollte er in den nächsten Bänden
das Kolorit aus dem fröhlichen ins gräuliche abdomen müssen, so würde ihn
das nicht in Widerspruch mit seiner Grundansicht verwickeln; vielmehr würde
er in der kurzen Dauer des Aufschwungs und in der Depression, die ihn ab¬
gelöst hat, nur die Wirkung der verborgnen Maschinerie sehen, die zu rascheren
Vorwärtsschreiten zwingt — einem Ziel entgegen, das dem Bebelschen Ideal
ähnlicher sein dürfte als dem unsern.
er zweite Band von Paul Milulows Skizzen russischer Kultur¬
geschichte (mit einer die Entwicklung der Kirchenkuppel dar¬
stellenden Tafel) behandelt in drei Kapiteln Religion und Kirche,
Kirche und Kunst, Schule und Bildung. Wir versuche:» die
Hauptergebnisse des ersten Kapitels zusammenzufassen. Die
Russen blieben, nachdem sie getauft worden waren, vorläufig reine Heiden-
Das Christentum ihrer Mönche bestand in Kasteiungen. Sie nahmen es damit
sehr ernst und kämpften tapfer gegen den Teufel, d. l>. gegen die Natur¬
triebe. Der Teufel erschien ihnen in vielerlei Gestalten, beim wenn sie durch
Fcistcu und Wachen übermäßig geschwächt waren, hatten sie Halluzinationen-
Denken und Studieren wurde für äußerst gefährlich gehalten, und der Bauer
gar konnte nicht einmal das Vaterunser beten; das galt ihm als eine sehr
hohe Wissenschaft, die nur den Fürsten und den Geistlichen zieme. Die
Frömmigkeit der russischen Mönche steckte in den Beinen und im Magen. Ein
orientalischer Patriarch und sein Begleiter, die eines ihrer Klöster besuchten,
mußten bekennen, daß ihnen das dortige Leben zur Folter geworden sei; sie
hatten in der Kirche acht Stunden auf einem Fleck stehn müssen und waren
vom Fasten ganz schwach geworden. Aber auch die russischen Mönche selbst
hielten das auf die Länge nicht aus. Sie sanken von der Höhe ihrer ur¬
sprünglichen Heiligkeit herab und lebten wie das Volk, ohne dieses bedeutend
emporzuheben. Nur in eiuer Beziehung that das Volk einen Schritt vor¬
wärts: es fand Geschmack am Kultus und fing an, über die Bedeutung der
Zeremonien nachzudenken. Und da sich die Geistlichen der leichtern Art Heilig¬
keit, die in der Verrichtung der rituellen Handlungen bestand, mit wachsendem
Eifer ergaben, so fanden sich Geistliche und Laien allmählich im Kultus zu¬
sammen; man konnte nun sagen, daß das ganze russische Volk den christlichen
Glauben wenigstens äußerlich angenommen habe. Diese ihre ungemein sichtbare
und hörbare Frömmigkeit imponierte den Russen dermaßen, daß sie sich ein¬
bildeten, sie seien die einzigen wahren Christen auf Erden; das westliche
Christentum haßten sie geradezu, aber auch das ihrer Bekehrer, der Byzantiner,
schätzten sie gering; sie machten sich eine Legende zurecht, wonach sie den
Glauben nicht aus Konstantinopel, sondern vom Apostel Andreas empfangen
hätten. Moskau wurde ihnen das dritte, das eigentliche und vornehmste Rom,
und als Konstantinopel in die Hände der Türken fiel, sahen sie darin die ge¬
rechte Strafe dafür, daß der dortige Patriarch das Konzil von Florenz besucht,
und daß sich die Griechen zur Union mit den Lateinern bereit erklärt hatten.
Der Metropolit Jsidor von Kiew, der der Einladung nach Florenz gefolgt
war, wurde abgesetzt. (Daß gerade dieser russische Bischof mit Eifer für die
sehr wenig dauerhafte Union thätig gewesen ist, erwähnt der Verfasser nicht.)
Im Jahre 1589 machte sich die russische Kirche formell unabhängig von Byzanz,
indem sie sich ihren eignen Patriarchen gab, der in innigster Harmonie mit
dem Kaiser regierte. Die Theorie von den zwei Himmelslichtern, wobei das
geistliche die Würde der Sonne für sich in Anspruch nahm, und von den zwei
Schwertern fand auch in Nußland Eingang, aber zu einem ernstlichen Konflikt
zwischen den beiden Gewalten kam es nicht, weil sich der Patriarch in der
Praxis dem stärkern Mitregenten zu fügen pflegte, was seinem Ansehen in den
Augen des Volkes nicht schadete, weil dieses in seinem Kaiser den einzigen
wahren Kaiser, den Kaiser der Welt, den Herrn der ganzen Christenheit verehrte.
So vollendete sich der in Byzanz entstandne Cäsaropapismus, und drei
Hierarchen des sechzehnten Jahrhunderts, der Abt Joseph Sanin und die Metro¬
politen Daniel und Makarins, paßten zuletzt auch die Theorie der Wirklichkeit
ein. Zugleich sorgten sie dafür, daß die Seelen vor jeder Versuchung zur Auf¬
lehnung geschützt blieben. Sie prägten den Geistlichen, die sie erzogen, den
Grundsatz ein, daß die Frömmigkeit in der genauen Beobachtung des Ritus
und in der Bewahrung des Althergebrachten bestehe, eignes Meinen aber die
Urhunde und die Quelle aller Übel sei. Eine Gelehrsamkeit, die Wert haben
solle, müsse reines Buchstabenwissen sein und das Nachdenken wie die .Kritik
ausschließen. Die Vernünftigkeit des Glaubens, so lehrte die Orthodoxie, darf
nicht bewiesen werden; die Griechen wie die Lateiner, die sich auf ein solches ratio¬
nalistisches Verfahren eingelassen haben, sind Ketzer geworden; nur mit Schrift¬
steller darf bewiesen werden, und zwar nur den Feinden des orthodoxen
Glaubens gegenüber. Auf den Buchstaben des Textes kommt alles an, sowohl
beim Gebet wie beim Lehren. Ein Chronist notiert als wichtiges Ereignis:
„Im Jahre 6984 (seit Erschaffung der Welt; es ist das Jahr 1476) haben
einige Philosophen angefangen zu singen: O Gott, erbarme dich, statt bloß:
Gott, erbarme dich." Zwei Lehren Daniels: daß beim Bekreuzen zwei Finger
gebraucht werden müßten, und daß es Abfall vom Glauben sei, wenn sich ein
Mann den Bart scheren lasse, sind auf einem Konzil dogmatisiert worden.
Dem Buchstabenkult machte die geistliche Akademie zu Kiew Opposition,
deren Mitglieder fanden, daß die Texte der heiligen Bücher außerordentlich
von einander abwichen, und daß man ohne Kritik den richtigen Text nicht zu
ermitteln vermöchte. Der Patriarch nitor bekannte sich zu ihren Grundsätzen
und ließ die Texte nach den griechischen Originalen verbessern; mit Unwillen
lasen die Altgläubigen jetzt Tempel und Kinder, wo vordem Kirche und Knaben
gestanden hatte. Im Jahre 1600, sagte man einige Jahre später, sei die
römische, im Jahre 1595 die kleinrussische Kirche abgefallen, 1666 werde die
großrussische abfalle». Ju diesem Jahre wurden wirklich die Gegner der
Neuerung auf einer Kirchenversammlung verurteilt. Das Volk blieb dem treu,
was es für den alten Glauben hielt, und erwartete den Untergang der Welt.
Es spähte nach den Vorzeichen und sah endlich in Peter dem Großen den
Antichrist. Man berechnete, daß dieser 1699 erscheinen müsse. Das russische
Jahr begann damals noch mit dem 1. September. Sechs Tage vorher, am
25. August 1698, kam Peter von seiner Auslandsreise heim, begab sich nicht
nach dem Kreml, um die Heiligenbilder zu begrüßen, sondern in die deutsche
Vorstadt zu seiner Maitresse, verbrachte die folgende Nacht mit einem Trink¬
gelage, schnitt am Tage darauf einigen Bojaren die Bärte ab und ließ die
übrigen rasieren. Bei der Neujahrsfeier mußten seine Narren unter dem Ge¬
lächter der Ausländer die letzten Bärte abschneiden. Sodann wurden Strelitzen
geköpft; Hinrichtungen und Gelage wechselten ab. Zu allen andern Freveln
fügte er noch den, daß er die Zeitrechnung nach Erschaffung der Welt durch
die mich Christi Geburt ersetzte und dabei, wie die russischen Kalendermacher
behaupteten, acht ganze Jahre stahl. Die Welt ging nun zwar nicht unter,
aber daß der Antichrist regiere, davon blieb die Masse der Altgläubigen über¬
zeugt. Mit der Zeit schwächte sich dieser Glaube dahin ab, daß der Teufel
nicht in einer Person verkörpert sei, sondern unsichtbar durch die weltlichen und
die geistlichen Beamten herrsche. Die Kirche war zu Grunde gegangen, und
man mußte sich ohne Priester behelfen. Den schwächer» Seelen erschien jedoch
dieser Zustand unerträglich. Leute, die für einen Buchstaben zu sterben bereit
waren, sollten nun zeitlebens die Sakramente und den Gottesdienst entbehren.
Deshalb trennten sich von den Priestcrlosen die Priesterlichen, die in der halben
Welt nach rechtmäßig geweihten, nicht abgefallnen Bischöfen suchten, von denen
sie sich Bischöfe und Priester könnten weihen lassen, fanden auch solche und
brachten es zu einer eignen Hierarchie, die sie schließlich in die orthodoxe
Kirche zurückführte. Die Schismatiker wurden von Katharina II. und Alexander I.
geduldet, vou der Zeit Nikolaus II. ab verfolgt, wenn auch nicht so grausam
wie im Anfange der Bewegung, wo ihnen der Scheiterhaufen drohte. Diesen
bereiteten sich viele selbst, da sie das Warten auf den Weltuntergang satt be¬
kamen und es einfacher fanden, sich die Himmelspforte durch deu Feuer- oder
den Wassertod eigenmächtig zu erschließen. Sogar die Kinder sangen: Wir wollen
ins Feuer gehn, im Himmel werden wir goldne Hemden, rote Stiefel, Honig,
Nüsse und Äpfel bekommen; verbrennen wir uns lieber selbst und verbeugen
wir uns nicht vor dem Antichrist! Zwanzigtausend Schwärmer sollen sich da¬
mals verbrannt haben. Übrigens gab es zahllose Streitigkeiten und Spaltungen
unter den Schismatiker», Unter anderm stritt man über die Ehe; die Extremen
behaupteten, unter der Herrschaft des Antichrist sei Unzucht besser als Ehe,
denn jene sei zwar Sünde, aber eine Sünde, die durch Buße getilgt werden
könne; durch die außerkirchliche Eheschließung dagegen würden sie sich das
Priestertum anmaßen, und dafür gebe es keine Vergebung.
Durchaus verschieden von den fanatischen Hütern des Altertums sind die
Sekten, da sie neue Religionsbegriffe einführen und das Christentum zu ver¬
geistigen streben. Die Anregung zur Settiererei ging von eingewanderten
Polnischen und deutschen Protestanten aus, die in der Eucharistie nur Brot
und Wein sahen, die Heiligenbilder für ruchlose Götzenbilder erklärten und
statt der Beichte die Änderung des Lebenswandels empfahlen. Ein Knecht,
Theodosius der Krumme, predigte, die Unterschiede der Konfessionen hätten
nichts zu bedeuten; alle, die das Wort Gottes recht verstünden, sie möchten
Russen, Tataren oder Deutsche sein, seien Brüder; die Sakramente seien über¬
flüssig, ebenso die Lehrer, da Christus der einzige Lehrer sei; wahre Christen
hätten keine Obrigkeit, führten keinen Krieg und besüßen alle Güter gemeinsam.
Eine Sekte nannte sich Chlysten (Christen), weil sie das untergegangne Christen¬
tum wiederhergestellt zu haben glaubte. In einem Bauer erschien Christus
leibhaftig, und eine mit ihm herumwandernde Frauensperson wurde als Gottes¬
mutter verehrt. Viele dieser geistigen Christen verwarfen die Ehe; da sie aber
nicht selten in das Gegenteil von Askese verfielen, so unternahm im achtzehnten
Jahrhundert eine neue Sekte, die der Skopzen, eine Radikalkur, indem sie
ihren Mitgliedern die Pflicht auferlegte, sich der Zcugnngsfühigkeit zu berauben.
Um dieselbe Zeit entstand die Sekte der Dnchoborzen. Einer ihrer Zweige,
der von Jekaterinoslaw, brachte es unter dem Einfluß der westeuropäischen
Mystik zu eiuer wirklich vergeistigter Lehre, die dem Gnostizismus verwandte
Züge ausweist. Im Gefängnisse haben einige dieser Leute 1791 ein Glaubens¬
bekenntnis aufgesetzt, das sie den Behörden überreichten. Die Seelen der
Menschen sind nach dem Ebenbilde Gottes erschaffen; Verstand, Gedächtnis
und Wille entsprechen den drei Personen in Gott, Ein Teil dieser Seelen
fiel ab und wurde zur Strafe in die materielle Welt verbannt. Die äußern
Ordnungen dieser Welt sind notwendig, damit sich das verdorbne Geschlecht
nicht ganz dnrch Laster und Verbrechen vernichte. Die sich aber nach dem
Vorbilde Christi, der verkörperten göttlichen Weisheit, erneuert haben, bedürfen
weder der bürgerlichen Ordnungen noch der kirchlichen Zeremonien. Befreiung
ans dein Kerker des Leibes ist das Ziel des irdischen Lebens. Die Bibel
legen die Dnchoborzen allegorisch aus. Obwohl sich ihre allegorische Schrift¬
deutung zuletzt in läppische Worrspiclerei verlor und die Sekte stellenweise
sittlich verwilderte, haben sich die Dnchoborzen doch um die geistige Weckung
und die sittliche Hebung des Volks verdient gemacht. Unter Alexander I., der
dem Minister für geistliche Angelegenheiten und für Volksaufklürung auch die
Pietisten und Mystiker unterstellte und das Protektorat einer Bibelgesellschaft
annahm, wurden die Sekten hoffähig; der Kaiser besuchte sogar die der Re¬
sidenz benachbarte Skopzenansiedlung, deren eigentliches Mysterium er nicht
gekannt zu haben scheint, und die Damen am Hofe führten die heiligen Tanze
der Chlysten auf. Lange vor Tolstoi haben die Duchoborzen gelehrt, daß die
Christen keine Steuern zahlen, keiner Obrigkeit gehorchen und auch zur Ver¬
teidigung des Vaterlands nicht in den Krieg ziehn dürfen. Während das
Schisma der Altgläubigen nnr die Bauern und die Kaufleute ergriff, haben
sich an der Sektiererei Volk und Intelligenz gleichmäßig beteiligt. Doch auch
jenes, obwohl dein starrsten Bnchstnbeuglauben entsprungen, bedeutet einen
Fortschritt, weil es das Volk zur Selbständigkeit im religiösen Leben er¬
zogen hat.
Der Hierarchie steht auch der nicht schismatische Russe gleichgiltig gegen-
über. Der Pope wird nur als Schreiber geschätzt, wenn er schreiben kann:
zu ihrem Bedauern fanden die Bauern in der Zeit, wo sie noch ihren Popen
selbst wählten, nur ausnahmsweise einen schreibkundiger Mann, den sie dem
Bischof zur Weihe präsentieren konnten. (Mit diesem Zustande vergleiche man
den Englands, wo im dreizehnten Jahrhundert anch im kleinsten Dörfchen die
Gntsrechnung auf das sorgfältigste geführt wurde.) Den Diakon aber schätzte
man nur, wenn er die Gemeinde, um die Wette mit der großen Glocke, dnrch
seineu gewaltigen Baß erbauen konnte. Die Popen galten als eine — und
zwar als die unterste — der erblichen Rangklassen, von denen die Amtsführung
als Dienstpflicht gefordert wurde; erst das Jahr 1869 befreite die Söhne der
Kirchendiener von dem Zwange, wider ihren Willen das väterliche Gewerbe
zu betreiben. Die überzähligen Sprößlinge des Standes waren bis dahin zu
Soldaten gemacht worden, und die Flucht in den Soldatenstand war der
einzige Ausweg aus einem Elend, das manchem noch schlimmer erschien als
das Soldatenclend, da der Geistliche anch vor Prügeln nicht sicher war und,
um nur kümmerlich leben zu können, wie der ärmste Bauer ans dem Acker
arbeiten mußte. „Gelehrte," d. h. in einem geistlichen Seminar ausgebildete
Popen, giebt es seit dem achtzehnten Jahrhundert, aber erst 1814 wurde die
Vorbildung im Seminar für die Geistlichen obligatorisch gemacht. (Bis dahin
war also der russische Klerus ungefähr so beschaffen, wie der fränkische unter
Karl dem Großen.)
Was die Kirchenverfassung betrifft, so erleichterte das Schisma dem ge¬
waltthätigen Peter die gänzliche Beseitigung der Patriarchalgewalt. Anstatt
des russischen Papstes regiert seitdem der Heilige spröd oder vielmehr der
Oberproturatvr, der den Kaiser im spröd vertritt nud Staatsminister ist. Eines
obersten Glaubensrichters bedarf die russische Kirche uicht, deun es giebt für
sie keine theologischen Fragen; sie ist niemals der gemeinsamen Sünde der
protestantischen und der römischkatholischen Kirche, dem Nationalismus verfallen,
sondern hat sich immer nur die Aufgabe gestellt, deu überlieferten Buchstaben
zu bewahren. Einzelne theologische Schulen haben allerdings teils katholische,
teils protestantische Grundsätze angenommen, und die protestantische Richtung
wurde sogar von dem liberalen Alexander I, begünstigt. Nikolaus I. brach
auch auf diesem Gebiet mit der Politik seines Bruders und hob sofort nach
seinem Regierungsantritt die Bibelgesellschaft auf. In den letzten fünfzig Jahren
hat sich die orthodoxe Kirche, d. h. die kaiserliche Regierung, fleißig aufs Be¬
kehrer verlegt und 1172758 Seelen gerettet. 580000 der Bekehrten waren
Protestanten, Katholiken und unierte. Sehr zart deutet Milukow die Art der
Bekehrung an: „Nur 110000 von diesen, 75000 Katholiken und 35000 Pro¬
testanten, betrachtet der Verfasser dieser Statistik als Frucht der Missionspredigt;
die Bekehrung der übrigen 470000 führt er mit Recht mehr auf national-
Politische Ursachen als auf religiöse zurück. Hierzu gehört die Bekehrung der
250000 unierten im Jahre 1875, die Bekehrung von 100000 Esthen und
Letten aus dem Protestantismus und der Übertritt vou fast ebenso viel Katho¬
liken nach Unterdrückung des polnischen Aufstands von 1863." Sektierer wurden
311279 bekehrt, die übrigen Bekehrten waren Juden und Heiden. Ob die
Bekehrung der Sektierer ausschließlich der Missionspredigt zu verdanken ist, oder
ob auch bei ihnen „national-politische Ursachen," in knutenschwingenden Kosaken
verkörpert, mitgewirkt haben, wird nicht gesagt. (Über das Hineinknuten von
50000 Unierteu in die orthodoxe Kirche haben der britische Generalkonsul in
Polen, Kolonel Mansfield, und der Gesandte Lord Augustus Loftus an ihre
Regierung am 29. Januar 1874 und am 29. Januar 1875 amtlich berichtet.)
Wenn wir die kirchliche Entwicklung Rußlands mit der des Auslands
vergleichen, so finden wir freilich eine gewisse Ähnlichkeit insofern, als sich mit
der Zeit auch in Nußland der Denkgeist geregt, Kirche und Dogma kritisiert
hat, aber diese Bewegung ist doch außerordentlich spät und nicht ohne Anregung
vom Westen her in Fluß geraten, und die russische Kirche hat weder als Volks¬
erziehungsanstalt gewirkt, wie im frühen Mittelalter die Kirche des Westens,
noch einen Reichtum wissenschaftlicher und künstlerischer Schöpfungen hervor¬
gebracht wie der Protestantismus, noch erweist sie sich heute sozial wirksam
wie beide abendländische Konfessionen. Der Verfasser schließt den Band mit
folgender Gegenüberstellung Rußlands und des äußersten Westens, deren Be¬
urteilung wir den Lesern überlassen: „Die britische Religion hat den britischen
Geist erzogen und ist mit ihm groß geworden — hier liegt das Geheimnis
der Vorherrschaft der religiösen Ideen bei den modernen Briten. Die fran¬
zösische Religion dagegen machte große Anstrengungen, die moderne wissen¬
schaftliche Entwicklung zu hemmen; daraus erklärt sich die Feindschaft der Fran¬
zosen gegen die Religion. Die russische Religion hat weder das eine noch das
andre versucht; sie regte den Geist nicht zur Thätigkeit an, sie verfolgte ihn
aber auch nicht. Deshalb blieb das Verhalten des intelligenten Russen zur
Religion so, wie es sich aus der russischen Geschichte ergab — gleich giltig."
Ob der gebildete Russe auch heute noch gleichgiltig gegen die Religion ist?
Das deutlich zu sagen, mögen Milukow gewichtige Gründe abgehalten haben,
besonders wenn er mit dem Universitätsprofessor Miljukvw identisch sein sollte
(russische Eigennamen werden auch in gut geleiteten Zeitungen manchmal heute
so, morgen anders geschrieben), der voriges Jahr verhaftet wurde, weil er dem
Zaren eine Petition voll Professoren gegen die Behandlung der Studenten über-
sandt hatte. Erwin Bauer hat in seiner 1901 bei Gräser in Annaberg i. Erzgeb.
erschienenen Broschüre: Russische Studenten ausgeführt, daß es sich bei
den Studentenkrawallen nicht um Jugendstreiche handelt, sondern daß sie die
Symptome einer revolutionären Strömung sind, die die ganze Intelligenz und
einen großen Teil des Volks erfaßt hat, die im Unterschied von dem so ziemlich
vcrschwundncn Nihilismus ein positives Ziel: die Herstellung einer Verfassung
und eines gesetzliche,: Zustands, erstrebt, und die sich nicht bloß gegen die ver¬
derbte und willkürliche Beamtenschaft, sondern auch gegen die Kirche richtet,
seitdem diese nach dem Programm Alexanders III. als Werkzeug zur Aus¬
rottung der westindischen Ideen gemißbraucht wird.
Aus dem zweiten Kapitel von Milukows Buche heben wir nur den richtigen
Gedanken hervor, daß in der ersten Hälfte des europäischen Mittelnlters alle
bildenden Künste verfielen mit Ausnahme der christlichen Architektur, die, vom
ersten Augenblick an originell, stetig vorwärts schritt, und daß sich diese Kunst
sogar in Nußland selbständig entwickelte, obwohl dort, abgesehen von der
niedrigen Kulturstufe des Volks, das Christentum erst zu einer Zeit eingeführt
wurde, wo schon alle Künste byzantinisch geworden waren. Und zur Charakteristik
des russischen Unterrichtswesens führen wir aus dem dritten Kapitel einiges
Anekdotische an. Es klingt wie ein schlechter Scherz, wenn man vernimmt,
daß die Semiramis des Nordens am liebsten alle Kinder von vier Jahren ab,
„ehe sie die Jmmoralitüt gelernt haben," in Internate gesperrt und jedem Ein¬
fluß der Familie entzogen hätte, um ein neues sittenreines Volk zu schaffen.
Die Petersburger Universität hatte schon Peter der Große mit Hilfe des
Philosophen Wolff begründet. Ins Leben trat sie erst nach des Kaisers Tode —
mit siebzehn ausländischen Professoren und acht ebenfalls aus dem Aus¬
lande bezognen Studenten; die Professoren Vertrieben sich die Zeit damit, ein¬
ander gegenseitig Vorlesungen zu halten. Die ersten Volksschulen hatte die
Polizei zwangsweise zu füllen, und wie am Ende des achtzehnten Jahrhunderts
die in Mittelschulen gebildete Beamtenschaft ausgesehen haben mag, kann man
aus dem Gesuch eines jungen Adlichen schließen, der schreibt, die russische Schrift
und Grammatik kenne er teilweise, die übrigen Wissenschaften zu erlernen sei
er nicht imstande, deshalb wünsche er in den Staatsdienst zu treten. Die
Universitäten füllten sich nach 1830, als die von der Negierung ins Aus¬
land geschickte«, in Dorpat, in Deutschland und in Paris ausgebildeten jungen
Russen zurückkehrten und auf den heimischen Lehrstühlen begeistert die Ideen
des Westens verkündigten. Ihnen strömte die eindrucksfähige russische Jugend
in hellen Haufen zu, und bald wurde der Regierung angst und bange vor
dem erwachten mächtigen Bildungstriebe des Volkes, den zu wecken sie sich
hundert Jahre lang vergebens abgemüht hatte.
Am Schlüsse des ersten Bandes wendet sich der Verfasser gegen die
Nationalisten, die Peter den Großen anklagen, daß er das eben erst den
Kinderschuhen entwachsende Rußland in den Anzug eines Mannes habe stecken
wollen, und die unaufhörlich die russischen Traditionen predigen. Diese Predigt
bedeute doch, daß sie einen Erwachsenen wieder in die Windeln legen wollten,
was noch widersinniger sei als das Verfahren des Zaren Peter, und die
Nationalisten selbst sähen sich in Stunden ruhiger Überlegung zu dem Ge¬
ständnis genötigt, daß Rußland eigentlich keine Knlturtraditionen habe. Damit
gesteht aber Milukow seinerseits, daß die russische Kulturgeschichte nur eine
Geschichte der russischen Unkultur ist, und wenn er zuletzt die Hoffnung aus¬
spricht, sein Volk werde es jetzt endlich zur Selbsterziehung, zum bewußten
stetigen Fortschritt bringen und so eine Kulturtradition schaffen, so versteht
sich das zwar bei einem patriotischen Russen von selbst, aber die Aussichte»
auf Erfüllung dieser Hoffnung sind sehr gering. Die Russen haben lauge
genug Anregungen vom Westen her empfangen; wenn sie in den letzten zwei
Jahrhunderten eines beständigen Wechselverkehrs mit dem Westen ihre Barbarei
noch nicht zu überwinden vermocht haben, so scheint das zu beweisen, daß sie
dazu aus eigner Kraft nicht fähig sind. An Intelligenz fehlt es ihnen so
wenig wie an ästhetischer Begabung; das beweisen ihre zahlreichen Gelehrten
und Künstler. Ungeborne Willensschwäche ist schuld daran, daß es die Slawen
ohne deutsche Hilfe und Leitung weder zu einer vernünftigen Staatsordnung
noch zu einem gesunden Wirtschaftsleben und zu einer Kultur bringen, die diesen
Namen verdient.
urch das Anwachsen der gesetzlichen Krankenversorgung haben sich
die Arbeitsgebiete für den Pflegedienst so stark vermehrt und
vergrößert, daß die Ausdehnung der Pflegeverbände nicht Schritt
zu halten vermochte, obwohl sich jetzt weit mehr junge Mädchen
diesen? Beruf zuwende», als noch vor einem Jahrzehnt. Die
evangelischen Diakonissenhänser besonders bleibe» im Wächst»,» zurück. Der
Zustrom der jungen Kräfte — und unter diesen ganz besonders der aus ge¬
bildeten Familien kommenden — wendet sich überwiegend den freiern Ver¬
bänden zu.
Das muß sehr bedauert werdeu, deun das evangelische Diakonisscntum
ist seit 1836, wo Pastor Fliedner in seinem Pfarrgarten zu Kaiserswerth ihm
das erste kleine Heim baute, eine Quelle unermeßlichen Segens für die ganze
evangelische Welt gewesen und muß auch als Mutter all der jungem mehr
oder weniger selbständigen Pflegeverbände angesehen werden. Ein Lob unsrer
Diakonissen ist wohl überflüssig. Die schwarzweiße Straßentracht und die
gütigen Friedensgesichter unter der Haube dürften selten andern Empfindungen
begegnen als denen der Achtung und des Vertrauens. Auch beweist die starke
Nachfrage nach Diakonissen bei den Gemeinden, Krankenhäusern, Kliniken und
kranken Privatpersonen, welche Wertschätzung ihre besondre Art genießt.
Der Krankendienst besteht zum größten Teil ans Handlungen, bei denen
Genauigkeit im „Was — Wie — Wann" von entscheidender Wichtigkeit ist. Be¬
sonders die Spitalpflege hängt ihrer Natur unes sehr vou Zufälligen und Un-
^
berechenbaren ab. Durch viele neue Aufnahmen, durch Häufung schwerer
Pflegen, durch neu hinzutretende mühselige und zeitraubende Behandlungs¬
arten usw. wird die gewöhnliche Eile und Sorge hänfig außerordentlich vermehrt.
Da es sich nicht um wegschiebbare Dinge, sondern um kranke Menschen handelt,
scheint oft jede der gleichzeitigen Forderungen des Augenblicks die dringendste zu
sein; sie können auch einer tüchtigen Schwester einmal über den Kopf wachsen.
Fernstehende ermessen schwerlich, wie groß in solchen Füllen die Versuchung sein
kann, von der Pflicht abzulassen. Man könnte sich helfen, indem man dies
unterließe, jenes aufschöbe, ein andres sich vereinfachte. Man könnte das oft
thun, ohne daß es die Ärzte oder die Kranken bemerken; es brauchte keine
schlimmen Folgen zu haben, oder uur geringe, und diese würden dann anders
erklärt werden. Man denke an die chirurgisch Behandelten, für die alles von
der allergrößten Sauberkeit abhängt, denn das Schlimme für den Verletzten
ist nicht seine Wunde, sondern die Gefahr der Verunreinigung! Wenn in einem
Krankenhause jahrelang bei Operationswnnden kein Fall von Wundfieber ein¬
trat, so weiß der leitende Arzt, daß er eine treue Operationsschwester hat.
Beim Gegenteil aber kaun er sie nicht ohne weiteres der Pflichtvergessen¬
heit zeihen.
Die Schwester braucht einen doppelten innern Halt: die Liebe und die
Wahrhaftigkeit. Sollte in einem Augenblick der Drangsal der erste reißen, so
wird noch der andre sie vor Unrecht bewahren: wenn sie nicht lügen, nicht
tauschen, verheimlichen oder bemänteln kann, so kann sie auch diese folgen¬
schweren kleinen Verschuldungen nicht begehn. Eine Arbeit, deren Wert und
Ehre allein die Treue im Kleinen ist — eine unscheinbare, oft unkontrollier¬
bare Treue —, wird ohne Zweifel von solchen am besten gethan, die sich über
ihre Vorgesetzten hinaus noch einem verantwortlich fühlen, der ins Verborgne
sieht. Das Diakonissenhaus erprobt seine Schwestern in mehrjähriger Novizen¬
zeit und verpflichtet sie danach vor dem Altar im Anschluß an die Feier des
heiligen Abendmahls zur treuen Wartung ihres Berufs. Ja, das evangelische
Diatouissentum steht so hoch und in der öffentlichen Achtung so fest, daß es
wohl eine Untersuchung der Gründe verträgt, weshalb gebildete Mädchen, auch
solche vou kirchlich-christlicher Gesinnung meist andre Verbünde vorziehn. Mit
dem Folgenden möchte eine gewesene Diakonisse, die wegen Pflichten in der
eignen Familie freiwillig zurückgetreten ist, eine Seite beleuchten, vou wo aus
dem Werk vielleicht Nutzen kommen könnte.
In der letzten Zeit ist zuweilen das Materielle der Frage sehr hervor¬
gehoben worden. Der Arbeiter ist seines Lohnes wert; aber diesen Lohn so
hoch zu bemessen, daß er zur Versuchung wird, um seinetwillen allein den
Beruf zu ergreifen, erscheint im Pflegedienst bedenklich. Dieser fordert prak¬
tischen, aber verbietet materiellen Sinn. Wenn irgend ein Beruf, so verlangt
er einen hohen Idealismus, den der christlichen Nächstenliebe. Zwar wird
niemand behaupten, daß ein guter Gehalt der Nächstenliebe Abbruch thue — man
gönnt solchen anch dem Lehrer, dem Arzt und dem Prediger, ohne sie
deshalb für Mietlinge zu halten —, doch kann man gewiß nichts dagegen
einwenden, wen» die Diakonissenanstalten an der freien Dankes- und Liebes-
thütigkeit um Christi willen festhalten und nicht mehr gewahren, als den be¬
scheidnen Unterhalt und die Versorgung im Alter. Das genügt für die Frau,
die ohne wirkliche eigne Sorge leben will. Manche, die Eltern oder Ge¬
schwister unterstützen naß, ist deshalb zwar genötigt, sich anderswo hinzu¬
wenden. Doch werden gerade junge Madchen aus höhern Ständen hierdurch
mutmaßlich am wenigsten abgeschreckt; sie haben meist andre Gründe.
Die evangelischen Diakonissenhänser sind Nachbildungen der Genossen¬
schaften katholischer Ordensschwestern. Sie danken ihnen bewährte Grundsätze,
aber sie verraten ihre Abstammung im äußern Zuschnitt des Anstaltslebens
wie in der Erziehung ihrer Schwestern noch durch so manche Anklänge an
eine katholisch-asketische Weltbetrachtung, daß man wohl von einem Rest von
Katholizismus in ihnen sprechen kann. Die Diakonissencrziehnng stellt die
höchsten, fast übermenschliche Forderungen und hindert zugleich die Benutzung
der Quellen, die den Angehörigen andrer Berufe reiche Erfrischung und Stär¬
kung spenden. Sie verlangt manche Opfer, die das christliche Liebeswerk als
solches nicht fordert, Opfer um des Opfers willen.
Auch der Fernstehende erkennt das zum Teil. Wo sieht man die Diako¬
nissen? Bei der Arbeit und in den Gottesdiensten und auf den dazu nötigen
Hin- und Rückwegen; selten ans einem Spaziergange, selten an einer Kunst¬
oder andern Bildungsstätte, selten in der Geselligkeit! Und doch gehören Natur,
Kunst, Geschichte der Gegenwart, Litteratur und eine edle Geselligkeit zu den
Freuden, die much der ernste Christ in der freien Welt als Gottesgeschenke
ehrt und gebraucht und als Ausgleich für seine Berufsarbeit durchaus uicht
entbehren möchte. Bei den Diakonissen wird der Verzicht darauf teils durch
direktes Verbot bewirkt, teils durch die Bemessung ihrer Arbeit. Dieser Ver¬
zicht jedoch, der mit Gaben und Liebe für den Krankendienst nichts zu thun
hat, bedeutet für gebildete Schwestern weit mehr, als für junge Mädchen ohne
wesentliche geistige Bedürfnisse.
Grundsätzlich ist den Diakonissen bekanntlich der Besuch von Theatern
u»o Konzerten verboten. Nur geistliche Musikaufführungen, d. h. solche, die
ein religiöser Text über jeden Zweifel erhebt, siud ihnen unverwehrt. Damit
bleibt das Gewaltigste und Herrlichste, was die Musik bietet, zum großen Teil
draußen. Der Leiter einer großen Klinik, der es sehr väterlich und gütig mit
seinen Schwestern meinte, stellte, weil zwei von ihnen sehr musikalisch waren,
an ihr Mutterhaus das Ersuche», ihnen das Hören guter „weltlicher" Kon¬
zerte zu erlauben, aber er wurde abschläglich beschieden. Weil man befürchtete,
daß einzelne Unerfahrne oder Schwestern mit ungenügendem Takt die Freiheit
mißbrauchen könnten, mußte die Sache ganz und sür alle verboten bleiben.
Die Diakonissenhänser nehmen Mädchen von achtzehn bis vierzig Jahren
als Probeschwestern ans. Arbeitertöchter und Damen aus gebildeten Familien,
ganz unerfahrne und solche, die vielleicht eine längere Reihe von Jahren in
selbständigen, verantwortungsvollen Lebensstellungen gewesen sind, in denen
sie andre leiteten. DaS sind gewaltige Unterschiede, die zwar den Rang und
Wert der Persönlichkeiten nicht berühren, aber für das Eingewöhnen und für
die spätern Leistungen viel bedeute». Alle solle» sich i» dieselbe Erziehung
schicken, die der Form nach den „Kleinsten" eingepaßt ist. (Um der Kürze
willen sei es erlaubt, von „Kleinen" und „Großen" zu sprechen.) Die „Kleinen"
können sich nicht dehnen, deshalb müssen die „Großen" sich bücken. Das ver¬
ursacht diesen aber über die Eingewöhnung in das Anstaltslebcn und den
Krankendienst hinaus Schwierigkeiten und innere Kämpfe, von denen die „Kleinen"
nichts wissen.
Ein fünfnnddreißigjühriges gebildetes Mädchen, das fast ein Jahrzehnt
einen großen Landhaushalt geleitet hatte, erhielt zu Beginn ebenso wie
jede Diakonissenschülerin die genauste Anweisung durch die Probemeisteriu, in
welcher Weise sie ihre Sachen in die verschiednen Schubladen ihrer Kommode
hiueinzuordnen habe. Der von Zeit zu Zeit angestellten Kommodenrevision,
die den Beweis des Gehorsams liefern sollte, entging sie nur durch Znfnll.
Auch die ältesten Probeschwestern wurden ausdrücklich angehalten, die Briefe,
die sie abzusenden wünschten, zur Kontrolle (allerdings verschlossen!) in das
Zimmer der Probemeisterin zu legen. Eine Probeschwester, die in der Anstalt
schon bei Gottesdiensten und Andachten an Orgel, Harmonium und Klavier
Beweise ihrer Sicherheit und ihrer genanen Kenntnis der gottesdienstlichen
Musik gegeben hatte, mußte an dem Unterricht im Choralsingen regelmäßig
teilnehmen, den der Organist gab, um die Schwestern mit den gebräuchlichen
Kirchenmelodien bekannt zu machen. Obwohl es sehr schwer hielt, die dazu
nötige Zeit dem Dienst abzusparen, erlangte sie von der Probemeisterin keinen
Dispens, wohl aber später von der Oberin. Bei den weiten Altersgrenzen
für Probeschwestern kann es vorkommen, daß eine Vierzigjährige in einer
sechzehn Jahre jüngern eingesegneten Diakonisse die Vorgesetzte zu ehren und
Befehl und Tadel von ihr auch in der Form hinzunehmen hat, die die Hast
eingiebt.
Das führt zu mancherlei Demütigungen, die den Jüngsten und denen,
die ans dienendem Stande kommen, erspart bleiben, und soweit birgt die schein¬
bare Gleichheit der Behandlung doch eine starke Ungleichheit. Ja, es liegt
etwas Unnatürliches darin, gereifte Menschen zu behandeln, als seien sie eben
erwachsen, und Gebildete mit Weltkenntnis, Erfahrung und Wissen, als Hütten
sie das alles nicht, sie zu zwingen, sich innerlich in diesen Standpunkt hinnnter-
zuleben. Eine Schwester soll Herzensdemut haben; aber schwerlich haben von
Menschen auferlegte Demütigungen jemals einen Menschen demütig gemacht.
Auch ob ein Mensch das Recht habe, dem andern dergleichen aufzuerlegen,
scheint sehr fraglich; es wird wohl selten in der Liebe und in der Wahrheit
gethan. Die Unterschiede in den Persönlichkeiten der Probeschwestern berühren
das Wertverhültnis vor Gott und Menschen nicht im mindesten, aber ebenso¬
wenig kann man sie einfach beiseite schieben.
Geistige Bildung und eine feine, gute Erziehung werden im Pflegedienst
allgemein als sehr erwünscht angesehen. Echte Bildung giebt eine ernste Auf¬
fassung der Lebeuspflichteu und hält Verachtung der Arbeit fern. Sie ver¬
ursacht zwar geistige Bedürfnisse, aber macht in den materiellen sogar unab¬
hängiger. Sie giebt einen tiefern, weitern Blick für alle Lebensverhältnisse,
Selbstbeherrschung, Sicherheit, Gewandtheit, Menschenkenntnis, die oft not-
Wendige Fähigkeit der Beeinflussung kranker Gemüter, eine angenehme Form,
die auch dem Zusammenleben der Schwestern zu gute kommt; ja sie giebt
wirkliche Hcrzcnsbeschcidenheit. Der „Herzenstakt, der alles ersetzt," wird oft
in einen gewissen Gegensatz zur höhern Bildung gestellt. Freilich kaun er fast
alles ersetzen, aber durch diese wird er sicherlich entwickelt und veredelt. Die
Kranken kommen aus der Welt und gehn in sie zurück, und sie siud Menschen
der verschiedenartigsten Bildung und Vergangenheit. Die Diakonissen arbeiten
deshalb nicht nnr mit Hand und Fuß, sondern auch mit allein Geistigen, was
sie haben. Auch das Büchlein des Diakvnissenpfcirrers und Rektors Meyer
„Von den Diakonissen und ihrem Beruf. Eine Unterweisung" (München, Beck,
1892) erkennt den Wert einer „edeln, durch Unterricht erworbnen Bildung" für
Diakonissen ausdrücklich an. Nun ist „Bildung" ein fließender Begriff und
wird gewiß nicht durch einen bestimmten Besitzstand von Kenntnissen gegeben,
jedoch ein untrügliches Kennzeichen sind ohne Zweifel geistige Bedürfnisse.
Ein Beruf, der Gebildete hemnziehn soll, muß ihnen als solchen die
Daseinsbedingungen gewähren. Man kam? nicht dauernd ausgeben, ohne
einzunehmen. Die sogenannte geistliche Nahrung im engern Sinne kann nur
die Seele ganz befriedigen. Aber der Geist braucht eine mannigfache Zu--
sammcnsetzung seiner Nahrung — und mau braucht sich deshalb nicht einmal
zu entschuldigen; denn wem nach dem Psnlmenwort die Erde des Herrn ist,
und „was darinnen ist," für den ist das ganze Wissensgebiet geheiligt. Die
bescheidnen Bemühungen der Nichtgelehrten, sich mit einzelnen Zweigen ver¬
traut zu machen und vertraut zu erhalten, sollte man auch bei Diakonissen
nicht als nutzlosen Vorwitz behandeln. Man sollte ihnen mit etwas freier
Zeit die Möglichkeit geben, sich auch in dieser Richtung nach Bedarf zu er¬
frischen und zu sättigen oder in der Natur draußen Erauickuug einzusammeln.
Diakonissen können und brauchen nicht „geistlicher" zu sein als die Geistliche»,
und wenn sie sich erfrischen, so wird sich ihre Kraft mehren. Wenigstens auf
den Naturgenuß würde wohl keine freiwillig verzichten, wenn es auch
Schwestern geben mag, die im übrigen in der Selbstkasteiung halb unbewußt
etwas Löbliches sehen und so gewissermaßen der Anstaltsordnung entgegen¬
kommen.
Die Krankenpflege stellt ihrer Qualität uach sehr hohe Anforderungen an
die Hingebung, Geduld, Selbstverleugnung. Treue und an die Körperkraft,
daran läßt sich nichts ändern. Aber die Quantität zu bemessen, steht bei den
Leitenden. Bei der Übernahme eines Krankenhnnses kann man ein Durch-
schnittsmaß der Arbeit berechnen, Epidemien, große Unglücksfälle und mancherlei
Unvorhergesehenes werden oft genug einen Strich durch die Rechnung machen.
Aber doch wäre es möglich, die Zahl der Schwestern so zu bemessen, daß
ihnen unter normalen Verhältnissen täglich ein wenig freie Zeit und hiu und
wieder el» ganzer Sonntag bliebe. Sollten nicht genug Schwestern gestellt
werden können, so wäre es möglich, durch bezahlte Privatwärterinnen oder
gewöhnliche Arbeitsfrauen die Lücke auszufüllen.
Nicht als ob die Reiniguugsarbeiten zu gering wären; die Kranken¬
pflegerin thut viel niedrigere Dienste. Ja sie wird jene meistens sogar
als eine gewisse Erfrischung empfinden, insofern als sie sie zeitweise aus den
Krankensälen herausführen. Wenn es sich aber um ein Zuviel der Pflichten
überhaupt handelt und um eine thatsächliche Überbürdung, so darf man gewiß
unterscheiden zwischen den Arbeiten, die durchaus eine Diakonisse fordern, und
denen, die auch von jeder andern tüchtigen Arbeiterin verrichtet werden können.
In der Macht des Mutterhauses liegt es, bei den Kontrakten dafür zu sorgen,
daß die Diakonissen an Leib, Seele und Geist keinen Schaden nehmen. Bei den
Behörden und den Gemeinden ist der Wunsch verzeihlich, mit wenig Personal
möglichst viel Arbeit zu verrichten; wenn aber das Mutterhaus diesem Wunsch
entgegenkommt, so überflügelt es den eignen Opfersinn seiner Schwestern, und
es geschehn oft falsch angebrachte Aufopferungen der Schwestern um einer
öffentlichen Kasse willen.
Es liegt in der Art des Berufs, daß er keine Sonn- und Festtage frei¬
läßt, denn die Kranken dürfen dann nicht schlechter versorgt werden als all¬
tags. Und wenn die Neinigungsarbeiten an diesen Tage» auch möglichst
beschränkt werden, so drängt es wohl jede Schwester, die Festtage für die
Kranken dadurch auszuzeichnen, daß sie sich diesen mit mehr Muße als sonst
widmet. Es bedürfte der Warnungen des erwähnten Dinkonissenbüchleins
vor Freundschaft, Korrespondenz, vertrauter Aussprache, weltlicher Lektüre
und andern Freuden nicht; die Arbeit beschränkt gewöhnlich das alles auf ein
Minimum oder hindert es ganz. Auch der tägliche Spaziergang, der für
die in Privatpflege arbeitenden Schwestern ausbedungen wird, bleibt in der
Spitalarbeit Illusion. Die Schreiberin dieser Zeilen machte an einem Sonntag
des Juni ihren letzten Spaziergang als Probeschwester, der vorletzte hatte sie
durch eine Schneelandschaft geführt. Dabei lagen durchaus keine ungewöhn¬
lichen Behiuderungen vor.
Wer sich die Mühe nimmt, das genannte kleine Buch, das ein Leitfaden
für den Diakonissenunterricht sein will, zu prüfen, und wer besonders die
tzH 6 bis 18 und 28 aufmerksam durchliest, der wird die Segensmacht deS
Dialonissentums in ihren Ursachen begreifen, aber er wird auch deu Eindruck
von einer asketischen Lebensauffassung erhalten, die in einem evangelische»
Mutterhause befremden muß.
Zuletzt sei es nur erlaubt, noch etwas rein Äußerliches zu erwühueu, das
aber vielen Schwestern zwecklose Schwierigkeiten bereitet: die die Ohren be¬
deckende Hunde. Man hört schlechter unter ihr — nicht bloß, weil der Schall
dnrch den Leinenstoff hindurch muß, sondern anch weil dieser bei jeder Kopf¬
bewegung ein Rauschen und Knistern vollführt. Das Rufen oder Klingeln der
Kranken, das Beobachten der Atmung bei manchen Patienten, die leisen Befehle
des Operateurs, das matte Sprechen Schwerkranker fordern ein besonders
scharfes Gehör. Diese Haube paßt für eine Nonne, bei der die Tracht auf
Tötung der Sinne hinwirken soll; evangelische Diakonissen brauchen alles zum
Dienst des Nächsten! Manche Schwester sieht man im Opercitionssaal und
anderswo verstohlen die Mütze ein wenig von den Ohren zurückziehn, obwohl es
nicht sein darf. Außerdem wirkt diese Haube schlecht auf die Kopfnerven und ver¬
ursacht denen, die gewöhnt gewesen sind, den Kopf kühl und frei zu tragen, leicht
Kopfschmerzen, besonders in der Sonnenhitze und außerhalb des Hauses, wo noch
die schwarze wollne Kappe darüber getragen werden soll. Zum Glück sieht man zu¬
weilen Diakonissen, die dem Selbsterhaltungstrieb gehorchend die schwarze Kappe
abgenommen haben und sie in der Hand tragen. Manche klagen in der ersten
Zeit über innerliche Ohrenschmerzen und über Wundwerden der Ohrmuscheln.
Die über die Ohren schließende Haube mit der Kinnschleifc ist allen Dia¬
konissenanstalten gemeinsam. Bis auf ein oder einige Mutterhäuser des Roten
Kreuzes haben alle andern Pflegeverbände Dienstabzeichen, die die Ohren frei¬
lassen. Allerdings sind einige sogar kleidsam, doch könnte mau ja diese ge¬
fährliche Eigenschaft much trotz Freilasseus der Ohren vermeiden.
Wenn die Diakonissenanstalten über Mangel an Schwestern klagen, und
wie ni großes süddeutsches Haus in seinem neusten Flugblatt sogar darüber,
daß „Pfarrfrauen für Unternehmungen des Roten Kreuzes und seiner inter-
wufessionellen Bestrebungen mit einer Wärme eintreten, deren sie sich einem
Diakonissenhause gegenüber alsbald entäußern," so sollten sie doch auch die
Winke, die darin liegen, nicht verachten, besonders nicht, wenn diesen von
evangelischen Christen das Wort geliehen wird, die von der Unersetzlichkeit
des Diakvnissentnms tief überzeugt sind. Oft und bereitwillig gestehn die Mutter¬
häuser „Schwächen, Verfehlungen und Unvollkommenheit" in ihrer Arbeit zu.
In der "Ausführung durch die einzelnen Menschen sind solche selbstverständlich,
in der Verfassung eines Werks dagegen brauchte ein erkannter Mangel nicht
fvrtzubestehn. Möchten die Vorstände der evangelischen Diakonissenanstalten
auf der nächsten Kaiserswerther Konferenz doch miteinander prüfen, ob nicht
in der Erziehung und Stellung ihrer Schwestern ein nutzloser katholischer
Gedanke fortwirkt! Nach Luther ist der „Christenmensch ein Herr aller Dinge,"
und Paulus giebt ihm seiue zwar streug bedingte, aber herrliche Freiheit in
dem Wort „Alles ist euer — ihr aber seid Christi."
Die Punkte, wo man ohne tiefgehende Neuerungen wohl bessern könnte,
sind nach meiner Ansicht folgende: Herabsetzung der Altersgrenze fiir die Auf¬
nahme von Probeschwestern auf das fünfunddreißigste Lebensjahr, Unterscheidung
der Erziehung, keine andauernde Überlastung mehr. Erteilung einer Voll¬
macht an die Oberschwestern auswärtiger Stationen, den unter sie gestellte»
Schwestern den Besuch guter Konzerte oder andrer öffentlicher Veranstaltungen
z» erlauben. Abänderung der Haube in eine Kopftracht, die die Ohren freiläßt.
Die Erfüllung des erstgenannten Wunsches würde die wirklichen Gegen¬
sähe zwischen den Probeschwestern mildern. Zum zweiten Punkt giebt der
evangelische Diakonieverein die Erläuterung. Dieser teilt seine Schwestern
"ach Vorbildung und nach späterer Verwendung ein, ohne damit ein Wert¬
urteil z» fällen oder Parteilichkeit walten zu lassen.
Zu Punkt 3 und 4: Entweder durch Aussendnng genügender Pflege¬
kräfte ans die Stationen oder durch Hinzuuchmcn bezahlter Hilfe im Orte
selbst würde sich eine tägliche freie Zeit als Regel für normale Kmnkeuver-
hältnisse wohl ermöglichen lassen. Diese freie Zeit würde denen, die ein Ver¬
langen danach haben, erlauben, sich an den geistigen Interessen andrer ge¬
bildeter Christen zu erquicken oder an der Natur, die ulleu gleichviel giebt.
Auch sollte der leitenden Schwester einer auswärtigen Station wohl genügende
Einsicht zugetraut werden können, daß man ihr bei den außerhäuslichcn Er¬
holungen die Entscheidung über „Erlaubt" und „Unerlaubt" überließe.
legensätze berühren sich; auch der Literarhistoriker weiß von solchen
Fällen zu berichten. Wer würde nicht bei einer rein summarischen
Kenntnis der Biographie und der Werke von Elizabeth Barrett-
Browning die Möglichkeit einer gewissen Geistesverwandtschaft
! zwischen ihr und ihrer französischen Zeitgenossin George Sand
energisch von der Hand weisen? Und dennoch wird der sorgsame Leser von
Aurora I-Ligb. einen bestimmten Einfluß der französischen Nomantikerin ver¬
spüren und es begreiflich finden, daß der Enthusiasmus der englischen Dichterin,
durch langjährige Lektüre immer stärker angefacht, gerade in der Zeit, in der
sie ihre „Novelle in Versen" schrieb, zu wiederholter persönlicher und herz¬
licher Begegnung führte.
Von vaterländischer, d. h. englischer Seite fand Elizabeth Brownings Be¬
geisterung für George Sand wenig Nahrung. Unter den Freunden, denen sie
1850 aus Paris über ihr Zusammentreffen mit der gefeierten Schriftstellerin
brieflich berichtete, wurde sogar eine recht kleinliche Art von Kritik laut.
Mrs. David Ogilvh bekundete unverhohlene Entrüstung über die Freude, die
ein Kuß von den Lippen George Sands der Elizabeth bereitet hatte. Sie
nahm nicht Anstoß, mit echt insularer, prüder Bedenklichkeit die geniale Französin
ans das niedrige Niveau von Thackerahs Heldin Rebecca Sharp (in Vanih'
?g.ir) hinnbzudrücken und somit Elizabeth Browuiugs hochsinnige Anschauung
schonungslos zu verurteilen. Man hat es ihr in England nie verziehen, daß
sie weder die Jnsclpolitik ihrer Landsleute teilte, noch bei der Beurteilung
des Privatlebens bedeutender Persönlichkeiten den allgemein üblichen moralischen
Wertmesser anlegte. Aber in ihrer ausgesprochen Vorliebe für George Sand
ließ sie sich deshalb niemals beirren.
Diese Vorliebe ist nicht vorübergehender Art, sondern tiefwnrzelnd und
langjährig. Schon im Jahre 1845 erklärte sie in einem Briefe an Mr. Chorley
(vom Athenäum), daß ihr Madame Düdevant die höchste Bewundrung ein¬
flöße. Il N^äainö Ouclkvant is not tbs ur8t l'ouato Mniu8 ot' a,n^ oountrv
or ug's, I reallz? av not lcnov vllo is. Ihr Freund und Kritiker hatte freilich
wenig Sympathie für zeitgenössische französische Romandichter übrig. Es be¬
fremdete ihn sicherlich, daß Elizabeth an George Sand den Adel der Gesinnung
rühmte — g-rantinA' gli dirs coll auel xsrilous fern? — nMous38S8 ana roMnö836S
"niob mÄl«z of ro^^l. Drei Jahre später gedenkt die Dichterin in ihren so
glücklich veränderten Lebensverhältnissen, unter Italiens Himmel, gestärkt in
ihrer früher so gefährdeten Gesundheit, als treulich geliebte und geschätzte
Gattin, der Dankesschuld, die sie aus frühern trüben Tagen an französische
Schriftsteller abzutragen hat. Während sie in London dauernd ans.Kranken¬
zimmer gefesselt war, hatte sie sich manche Stunde der Einsamkeit und der Me¬
lancholie mit der Lektüre Balzacs und George Sands, sowie tue like imworlÄ
iinxrovriEtiös verschönt. Sie erinnert sich nun voll Rührung, wie viel Farbe
und Frische ihr Leben in dieser trübseligen Periode aus solchen Romanen ge¬
schöpft hat, wennschon das „liebe diskrete" England solchen Lesestoff für
Frauen mißbillige. Das idyllische Leben, das das englische Dichterpaar in
der Casci Guidi zu Florenz führte, hatte leider unvermeidliche Schattenseiten,
die erst durch den Weltverkehr unsrer Tage beseitigt worden sind. Um die
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war es für die in Italien weilenden Aus¬
länder nicht leicht, sich über hervorragende Neuigkeiten vom Büchermarkte
schnell zu orientieren. Das Ehepaar Browning klagt in manchem Briefe über
diese leidige Abgeschlossenheit vom litterarische!, Weltverkehr. Im Winter 1848
erfreuen sich die beiden Gatten noch immer an Andre und Leone Leoni,
forschen brieflich in England nach neuern Publikationen George Sands und
bedauern, daß sie trotz vieler Mühe und Nachfrage „Lucretia" nur vom Hören¬
sagen kennen Nur für die fast fanatische Form, die der republikanische «sozia-
Usmus der französischen Dichterin im Nevolutionsjahr annahm, fehlt der treuen,
ja blinden Bewundrerin Napoleons (als solche hat sich Elizabeth Browning
>a lange Zeit ans Rücksicht auf Italiens Eiuheitskämpfc gefühlt) jedes Ver¬
ständnis. George Sand, schreibt sie 1849 aus Lucca, is vrowolv vritiug' d-murs
wo Rgcks, vvdiell, eonsickerinZ tds stato ot' partios in I'ranLö, äoos not
reÄIy A'los ins a lÜAÜör opimon ok Iior intolligsnoc; or virtno. Ihre Ab¬
neigung gegen den Sozialismus bekennt die Dichterin, die mit Leib und Seele
Demokratin ist, in überaus drastischer Form. Sie erklärt, daß sie lieber unter
dem Absolutismus eines Nikolaus vou Rußland leben wolle, als in einer
Fouriermaschinc, in der sie sich ihre Individualität durch eine soziale Luft-
Pumpe aussauge'
n lassen müsse. Trotz dieser tiefgehenden Meinungsverschiedenheit
erlischt ihr Interesse an der großen Bannertrügeriu des französischen Sozia-
Usmus nicht. Ein wiederholter Aufenthalt in Paris in den Jahren 1851
und 1852 erfüllte ihren brennenden Wunsch, George Sand von Angesicht zu
Angesicht zu sehen. Zum Vermittler wurde Mazzini, der das englische Dichter-
Paar mit einem Empfehlungsschreiben an seine „Übersetzerin" versah. Die
Vielgefeierte und Vielgcschäftige hielt sich in dieser Zeit jedoch immer nur
wenig Tage in Paris ans, hauptsächlich der Thenterproben zu ihren Stücken
wegen. Erst unes verschiednen mißlungnen Versuchen gelang es, Mazzinis
Brief in George Sands Hand zu befördern, und diese ließ sich alsbald trotz
'hrer Abneigung gegen Fremdenbesuche zu einem freundlichen Billet herbei:
U^clÄmo, ^'imrai 1'Iwiui«zur alö von« rooevoir Äinmnolu; xroodg-in mo LÄvinö 3.
^ sse ig sg^et ^our aus xuis8s xassor vno? moi, ot svooro n'en suis xas
!rv8oiuniLnt osrtmno. N-ris ^'^y ksr»i tollomgut mon P088it1s, c^no torno
olons rü'^ aicisiA xsut-Ztrs un xsu. ^.Frösx iriills rölinzroiriroiits as eesur,
ainsi <^U6 Nonsionr Lrovning-, c^us ^'öspörg voir s.oso vous, xour 1a 8^mpg,tuis
<^us vous in'ÄoooräsZ!. ?aris, 12 tgvrisr 52. (?sorg's L^na.
Die Freude über die erste Zusammenkunft spiegelt sich in verschiednen
Briefen Elizabeths. Wie seltsam und eindrucksvoll muß der Kontrast zwischen
den beiden so grundverschiednen genialen Frauen auf Robert Browning ge¬
wirkt haben. Der sanfte Liebreiz seiner zarten Gattin überbrückte sofort die
althergebrachte Kluft zwischen englischer Steifheit und französischer Jmplllsivität:
sie suchte ihrer langjährigen Verehrung durch einen Handkuß Ausdruck zu ver¬
leihen. Aber George Sand that ihr mit dem energischen Ausrufe: N-iis iron,
s«z iis vsnx xas! Einhalt und drückte einen Kuß auf ihre Lippen. Das aus¬
führliche Porträt, das uns Elizabeth Browning von der großen Nomandichterin
entworfen hat, verdient es, in weitern Kreisen bekannt zu werden. Ihren
Freunden beantwortet sie natürlich auch die wichtige Frage, ob George Sand
nach ihrer Ansicht schön ist. „Sie ist ziemlich breit gebaut für ihre Größe,
nicht groß, sie trug eine Art graues Sergekleid mit Jacke, der Mode ent¬
sprechend, am Halse geschlossen und mit schlichtem Leinwandkragen und Ärmeln.
Ihr Haar war unbedeckt, auf der Stirn in glänzend schwarze banäsaux ge¬
scheitelt und am Hinterkopfe aufgesteckt. Augen und Stirn sind edel, die Nase
ist von etwas jüdischem Schnitt; das Kinn fällt ein wenig ab, und der Mund
ist nicht angenehm, obwohl ausdrucksvoll und blitzartig durch die vorstehenden
weißen Zähne zu einem Lächeln erhellt. Das Gesicht hat nichts Liebliches,
verrät aber große moralische und geistige Fähigkeiten, nur kann es niemals
ein schönes Gesicht gewesen sein, was mich sehr überraschte. Der Haupt¬
unterschied gegen junge Tage ist wahrscheinlich, daß die Wangen beträchtlich
voller sind als früher, doch wird der Typus dadurch natürlich nicht geändert.
Ihr Teint ist tief olivenfarben. Ich bemerkte, daß ihre Hände klein und wohl¬
geformt sind. Wir saßen vielleicht dreiviertel Stunden oder länger bei ihr;
während dieser Zeit erteilte sie zugleich Rat und Anweisungen an ein paar
junge Männer, die zugegen waren, indem sie in vollem Vertrauen auf uns
Namen naunte und sich auf Vorkommnisse bezog. Sie schien thatsächlich der
»Mann« der Gesellschaft zu sein, und der tiefe Respekt, der ihren Worten
entgegengebracht wurde, machte auf mich großen Eindruck. Wie man aus den
Zeitungen ersehen kann, kam sie nach Paris, um den Präsidenten zum Nutzen
und Frommen einiger Freunde aufzusuchen, und ihre Vermittlung war auch
von Erfolg gekrönt. An ihrem Benehmen und ihrer Unterhaltung fällt die
absolute Schlichtheit auf. Ihre Stimme ist leise und hastig, ohne Nachdruck
und viel Modulation. Mit Ansnahme eines einzigen strahlenden Lächelns
war sie ernst — sie sprach aber auch von ernsten Angelegenheiten, und viele
ihrer Freunde sind im Unglück. Doch mußte es auffallen (sowohl Robert als
ich sahen es), daß allem, was sie sagte, sowohl ihrer Güte als ihrem Mitleid
ein Strom der Geringschätzung unterlief. Sie verschmähte es ganz augen¬
scheinlich, Gefallen zu erregen; diese Frau hatte sicherlich niemals auch nur
einen Schimmer vou Koketterie. Sie ist so durchaus frei vou Affektiertheit
und Selbstbewußtsein, daß sie fast geringschätzig erscheint. Aber sie gefiel mir.
Ich liebte sie nicht, aber ich fühlte die glühende Seele dnrch die stille Ge-
messenden und war über George Sand nicht enttäuscht. Als wir uns zum
Aufbruch anschickten, sagte ich unwillkürlich: xour 1a clsrnims toi«, und
da lud sie uns ein, unsern Besuch am nächsten Sonntag zu wiederholen, indem
sie sich entschuldigte, daß sie selbst, von dringenden Verpflichtungen in An¬
spruch genommen, uns nicht besuchen könne. Sie küßte mich wieder, als wir
fortgingen, und Robert küßte ihr die Hand."
Das vor den Augen des Lesers erstcmdne Bild wird durch andre Berichte
Elizabcth Brownings nicht eigentümlicher. Es fordert zum Vergleiche heraus
mit Paul de Müssets jugendglühendcr Schilderung in Imi se, Nie, insbesondre
auch mit dem plastischen Gepräge, das Georg Brandes leider nicht aus per¬
sönlicher Anschauung dem genialen Frauenkopf aufgedrückt hat. Wir können
immerhin getrost annehmen, daß das englische Frauenauge, trotz der großen
Vewunderung der geistigen Fähigkeiten, dem französischen Schönheitsideal nicht
vollständig gerecht 'zu werden vermochte. Die Frage liegt nahe, welchen Ein¬
druck die gebrechliche Erscheinung der englischen Dichterkollegin, die. mit Ne-
spirator und warmen Hüllen ausgestattet, der scharfen Februarluft Trotz ge¬
boten hatte, um ihre Lieblingsschriftstellerin persönlich zu begrüße», auf George
Sand in ihrer majestätischen Kraftfülle gemacht haben mag. Ahnte sie, was
diese fast durchsichtige Gestalt für ein reiches sensitives und oft kühnes Dichter¬
gemüt barg, oder sank diese doch denkwürdige Begegnung für sie alsbald aus
ihrem bewegten Lebensstrudel in das Meer der Vergessenheit? Welchen Stoff
zu reichlichem Nachdenken hätte ihr überdies eine so harmonische Dichterehe
bieten können!
Im Jahre 1845, also vor der persönlichen Bekanntschaft, hatte ihr Eliza-
beth Browning zwei schöne Sonette gewidmet; das eine ^ vosirs, das andre
^ K<z<zoA-riiticm betitelt. Beide zeugen von hohem psychologischen Verständnis
einer solchen Gegenfnßlernatur. Das erste der beiden Gedichte scheint mir das
wertvollere zu sein: man möchte fast annehmen, daß es unmittelbar nach der
Lektüre von I.61in entstanden sei. Der innere Zwiespalt, der sich in diesem Werke
wie ein furchtbarer Aufschrei kundgiebt, wird von der englischen Dichterin in einem
plastisch wirkenden Gleichnisse veranschaulicht. Die Seele George Sands ringt
""t den Löwen ihrer aufrührerischen Sinne, ihnen verächtlich Trotz bietend
ana Änsvörs roar lor roar spirits <um! O möge ein wunderwirkender Donner
über dem tosenden Zirkus dahinrollen und den starken Schultern der Ringenden
zwei Schwingen, leuchtend rein wie Schwanenflttgel entwachsen lassen, damit
die Arena ein heiligeres Licht durchströme. Der Wunsch, dieses besondre kühne
Genie frei von den Flecken irdischer Leidenschaften zu scheu, beschließt das kraft¬
volle Sonett. Ans diesen Versen klingt ein hochsinnig geläuterter Widerhall
englischen Vorurteils gegen die menschlichen Verirrungen George Sands. Das
zweite Sonett greift den Wunsch des ersten auf: Warum müht sich dieses
weibliche Genie, den Flittertand und die Armspangen abzustreifen, die von
schwächern Frauen in der Gefangenschaft getragen werden? Durch die starke
Raume des Dichterfeuers glüht doch allen sichtbar das Frauenherz, das gleich
dem lang flutenden Frauenhaar die trotzige Verleugnung der Frauennatur
Lügen straft. Möge dieses große Herz immer reiner und höher klopfen, bis
Gott an den himmlischen Gestaden jeden Unterschied des Geschlechts auslöscht!
Für die Krankenstubenatmosphäre, der die beiden Gedichte entstammen,
sind diese dichterischen Äußerungen ein Zeugnis, daß echte, selbständige Urteils¬
kraft den Triumph des Geistes über körperliche Leiden erringt. Diese divi-
natorische Begeisterung für die edlern Regungen George Sands stimmt zu der
spätern Schilderung des persönlichen Eindrucks. Die Züge dieses Antlitzes
widersprechen sich, aber Stirn und Augen verraten adliche Gesinnung.
Die Flecken, die an dieser genialen Frauenhand haften, haben Elizabcth
Browning nicht zurückgescheucht. Ihre vornehme Ignorierung unvermeidlicher
Schattenseiten und zeitgenössischen Klatsches sichern ihrer eignen Gedankenwelt
positiven Gewinn. Ihre physische Schwäche macht sie in hohem Grade ab-
hängig von den Einflüssen selbstgewählter Lektüre. In Aurora I^oiAll, der
Dichtung, an der sie während ihres Pariser Aufenthalts arbeitet, hat sie die
Eindrücke, die aus den Werken von Zeitgenossen, insbesondre auch von George
Sand, auf sie übergingen, verarbeitet und mit Kraft von ihrem Geiste neu be¬
seelt. Die Tendenzen der französischen Umstürzlern! erscheinen freilich durchaus
geläutert. Elizabeth Brownings Heldin Aurora kämpft für Befreiung ihres
Geschlechts von mittelalterlichen Traditionen, aber dank einer frühzeitigen Er¬
kenntnis ihrer persönlichen Menschenwürde kann sie dem reinen Zuge ihres
Herzens folgen, ohne mit den Forderungen der Sitte und der bürgerlichen Ge¬
sellschaft in Konflikt zu geraten. Aurora Leigh steigt auf die Schultern der
unglücklichen Jndiana, der bedauernswerte« Valentine, sie schmiedet sich, dank
ihrer eignen Kraftentwicklung, ein menschenwürdigeres Glück. Dieses wunder¬
same Evangelium von der freien Selbstbestimmung der Frau ersteht über den
Trümmern, die George Sand beherzt aus den morschen Pfeilern wankender
Gesellschaftsordnung zusammengefegt hat: ein reiner Phönix steigt ans der Asche
des revolutionären Feuers!
> n der Muhme Haus sunt er verschlossene Thüren, auch der Garten
war leer. Jean sass schon von weitem, rüttelte aber doch an dem
Gatter. Drüben im Gemüsefeld, die kleine, in sich zusammengekrochue
Gestalt, das würde die Muhme sein — die war auch nicht jünger
geworden seither. Den linken Arm trug sie in der Binde, mit dein
«rechten pflückte sie Schoten in die heranfgebundne Schürze. Grete
war nicht zu sehen.
Sonntag Nachmittag? Sie würde doch nicht da drüben gewesen sein unter
der Linde bei den juchzenden Sängern? — Verdrießlich schlenderte Jean die Lehne
hinab nach dem Ententeich, dem Begründer ihrer Kinderfreundschnft.
Aber da saß sie ja! Natürlich! auf dem alten Bänkchen zwischen den Weiden-
biischen saß sie. Der Hut lag im Gras, die schlanken, gebräunten Hände hantierten mit
Stricknadeln, die Augen gingen über die grüne Wasserfläche hin, wo Enten ihre
Grütze schlabberten und zwischendurch wohlgefällig mit den aufwärts gerichteten
Schwänzchen wackelten.
Gretel lächelte; ganz leise bewegten sich ihre Mundwinkel — ob sie an damals
dachte? Da mußte Jean auch lachen, und lachend sang er die Lehne hinab: Vn
viwxu-A äsplo^-me öff aÜW —
Ein leuchtendes Rot schoß in des Mädchens Wangen. Sie fuhr von der Bank
auf und wandte den Kopf, das Strickzeug fiel ins Gras.
Du! rief sie, du! — Ich wußte ja, daß du kommen würdest!
Mit ausgestreckten Händen lief sie ans ihn zu die Rasenlehne hinauf, und er
breitete seine Arme weit aus. Wie es tum, wußte keins von beiden, aber sie lag
Plötzlich an seiner Brust, und er küßte sie herzhaft auf den Mund.
Liebe, alte Grek. Nicht wahr, wir zwei sind gute alte Freunde? Kinderfreunde!
Kinderfreundschaft hält am festesten von allen Dingen auf Erden. Da kennt man
sich so genau und versteht sich nie falsch. Gelt, liebe alte Grek?
Sie nickte ihm schweigend zu; was sollte sie reden? Er sagte ja alles, und
er sprach noch ebenso gut deutsch wie damals, als er von ihr gegangen war.
Er aber zog ihren Arm durch den seinen und führte sie zum Bänkchen hinunter.
Da bin ich also!
Ich wußt es ja, sagte sie noch einmal mit strahlendem Lächeln. Nun saßen
sie nebeneinander und sahen sich an. — Hatte sie wirklich ein paar Tropfen in
den Sammetaugen?
Nein nein, visu wsrei! Die Grete weinte nicht, konnte ja nicht weinen.
Das war ja eine solche Wohlthat gewesen: lachen oder ernsthaft sein, nichts andres —
reine Thränenweide — visu msrei.
Sie lächelte ja anch jetzt. Die Hände auf den Knieen verschränkt, saß sie da,
sah ihn an und fragte ihn aus.
Was mußte er da uicht alles berichten; Dinge, auf die er selbst gar nicht
geachtet hatte, wurden ihm abgefragt, und manchmal hob sie den Zeigefinger der
Rechten und sagte: Du! du! du! da bist du ein Strick gewesen! — Klar in den
Augen blieb der warme, tiefe Willkommeuglnuz.
Mitten hinein in den Bericht klang der Muhme Ruf: Grete! Gretelcheu!
Bleibst du über Nacht? fragte sie schnell.
Ob ich bleib!
So trag dein Zeug ins Gnsthans, ja? Und dann komm herüber — komm bald!
Er gehorchte. Er hatte es ja selber eilig genug.
Als er bei der Muhme eintrat, wußte die schon Bescheid. Das freundliche,
kluge Bnuerngesicht sah ihn prüfend um: Was wollte er? Meinte ers ehrlich? Was
führte ihn in die Waldstille? Jean brachte es zu keinem ernsthaften Wort vor diesem
klugen Gesicht, und je länger er saß und schwatzte, desto mißtrauischer und nach¬
denklicher wurden die alten Augen.
Nur Grete saß zufrieden da in ihrer stillen Heiterkeit: er war gekommen, sie
hatte es ja gewußt.
Wann reist er wieder ab? fragte die Muhme am Abend, als Grete ihr beim
Ausziehn half.
Er bleibt schon ein paar Tage.
Das verscheuchte der alten Frau den Schlaf. Er blieb! Das Gretel freute
l^es darüber, sie waren beisammen, früh, mittag und abend — gerade das hatte der
^e^Robert doch verhindern wollen! Mußte sie das uicht nach Erfurt hinunter
Zweimal stand sie ans und horchte an Gretels Thür. Das erste mal war die
sf.atentochter "°es auf; es raschelte drinnen, und ein leises Singen klang heraus,
^"nz leise, aber doch zum versteh«, sang sie das alte Volkslied:
Hin, hin, brummte die Muhme und kroch wieder ins Bett.
Als sie das zweite mal horchte, wars still im Kämmerchen, sie hätte keine
Störung mehr zu fürchten gehabt; nur fühlte sie sich jetzt selber so schläfrig —
gleich brauchte sie wohl nicht zu schreiben. Aber morgen natürlich. Sollte sie umsonst
einen lahmen Arm bekommen haben? Umsonst nnter die Komödianten gegangen
sein? Umsonst sich mit Lügen abgegeben haben? — Schreiben mußte sie — aber
bis morgen hatte es wohl Zeit.
Sie kroch zum dritten mal ins Bett; schlief gut, wachte davon auf, daß Grete
im Garten sang, und hörte Jeans Stimme dazwischen. So früh am Tag hatte es
ihn schon herübergetriebeu. —
Er war da und blieb da. Wo Gretel schaffte, stand er ihr gegenüber; er
fütterte die Enten, er pflückte Bohnen, er begutachtete das Mastschwein, er sah dem
Saftkochen zu, er dokterte scheltend an dem kranken Apfelbaum herum und zog zu
Feld gegen Schädlinge, die sichs im Garten heimisch gemacht hatten. Zwischendurch
fragte er so etwa allstündlich einmal nach der Muhme Arm, wobei sich seine Mund¬
winkel immer ein wenig zu Spott und Schadenfreude verzogen, während die Stimme
gar treuherzig klang, wenn er die Erkundigung damit beendete, daß er sagte: Ja ja,
so'n Arm im Sommer, das ist ein Schaden.
Gerade, als ob er Bescheid wisse, der Sappermenter! dachte die Muhme mit
dem schlechten Gewissen.
Aber über Mittag, wo Jean ins Gasthaus gegangen war, fragte die Muhme,
die doch auch recht hatte: Wann reist er denn nun?
Weiß nicht, Muhme; fragst ihn vielleicht, antwortete das Patenkind und schlüpfte
hinaus nach dem Herd.
Die Muhme brummte; am liebsten hätte sie der Grek eine Rede gehalten, wie
alte Muhmen sie für leichtsinnige junge Mädchen schon im Vorrat fertig haben:
von der Unzuverlässigkeit des Mannsvolks, und daß dem Besten nicht zu trauen sei,
geschweige denn so 'nein Franzos. — Nur stand ihr Roberts Rede noch zu deutlich
im Gedächtnis: Sie liebt ihn nicht, Muhme — gar nicht—, sie weiß nichts von
dergleichen, ist immer lustig, wies nur ein freies Herz fertig bringt; drum redet
ja nicht gegen oder für den Jean — am besten nehmt ihn gar nicht in den Mund.
Sie soll eben weg, damit sie sich nicht verliebt und nachher dasitzt und sich grämt,
wenn der Luftikus wieder fortfliegt und sich anderwärts einen goldnen Vogel fängt.
Wie er damals ging, nicht ein Jahr, dachte ich, werde ers aushalten ohne die
Grek; statt dessen sind viertehalb übers Land gezogen, ehe ihm einfiel, nach den
alten Freunden zu scheu. — Und kommt er um seiner jungen Freundin willen, das
werd ich schnell merken; im Notfall frag ich ihn gründlich aus. Erfahr ich dabei
etwas gutes, dann machen wir uns allesamt auf uach Trockenborn, und an deiner
Entcnpfütze können sie Verlobung feiern.
So hatte der kluge Robert gesprochen, und nun war Jean doch allein auf¬
getaucht, und von Verlobung war keine Rede. Aber der Grete gegenüber wollte
die Muhme folgsam die Zunge hüten, lieber ihn selber nachher mal sachte beiseite
nehmen und sagen: Wenn du morgen zurück fährst nach Erfurt, da geb ich dir
Kirschen mit.
Leicht machte es ihr das junge Volk nicht, solche diplomatische Wendung an¬
zubringen. Das lief immer hin und her; als wolle er den Garten in vierund-
zwnnzig Stunden zu einer Musteranlage machen, so schaffte Jean, rot und heiß,
in Hemdärmel», und Grete ging ihm lachend und leuchtend zur Hand.
Das mochte noch gehn, man hatte sie dabei jederzeit vor Augen, wenn nur
das Kauderwelsch nicht gewesen wäre, worin sie sich vor der Muhme hörenden
Ohren die staatsgefährlichsten Geheimnisse anvertrauen konnten. Einmal Deutsch,
einmal Französisch, bunt durcheinander, oder auch glatt hintereinander fort, wie die
gedruckten Bücher; dann plagte die Muhme allemal der verdrießliche Argwohn, das
Französische müsse was Schlimmes sein. Natürlich, nur Deutsch taugte was, alles
andre war vom Übel, alles, soweit die Sonne schien. Warum hatten sie das Mädel
die bösartige Sprache lernen lassen?
Und nun gar die fremden Liedchen, die so weich klangen, als wären sie die
richtigen Herzverführer.
Wie Grete lachte, lachte in Hellem Übermut, und in den Kehrreim einfiel,
den Jean bramarbasierend mit Trommelbcwegungen begleitete: Mu plan Mu plan
plan, ra—xlan xwn Mu plan —
Du weißt es noch? fragte er vergnügt.
Alles, antwortete sie ernsthaft. Soldaten haben wir gespielt, einig sind wir
gewesen, gestritten haben wir uns. Darauf saug sie selbst mit weicher Stimme:
und sang die drei Strophen der Chansonette glatt durch, ohne daß ihr ein Wort
fehlte.
Merkwürdig, Jean hatte sie einmal — er wußte den Tag noch genau —
gesungen und seinen Spott mit dem Liede getrieben. Es sei unwahrscheinlich: das
Mädchen, das eine Fülle von Schätzen verschmähe, um einem Verbannten ins Elend
zu folgen, gäbe es nicht. Und Grete hatte mit Leidenschaft für das Mädchen ge¬
fochten, hatte seinen Unglauben an die Treue der Mädchen heftig gescholten.
Jetzt schien sie Zwist und Widerpart vergessen zu haben. Sie freute sich an
dem Liedchen, und ihre Stimme schwebte lieblich auf den Schlußzeilen hin:
Sans amour! hallte es zum kleinen Haus hinüber.
Wenn das nicht bedenklich war, dann stimmte keine Naturgeschichte mehr: die
Muhme kam in den Garten und humpelte mißtrauisch näher.
Ra—ta Mu plan plan plan! trommelte Jean ihr übermütig entgegen.
Sie wollte von den mitzunehmenden Kirschen anfangen, aber wie sollte einer
dem Tausendsassa beikommen, der sich hinter sein Parlezvous versteckte, wenn ehr¬
liches Deutsch ihm unbequem wurde?
Die Muhme ging unverrichteter Sache ins Haus zurück und schrieb ehren
Brief; mochte das eine leidige Arbeit sein, sie schrieb, es war ihre Pflicht: Es soll
einer kommen. Ich bin euerm Windhund nicht flink genug.
Als eine halbe Stunde später die Karriolpost durchs Dorf fuhr, bekam sie
diesen Brief mit auf den Weg, und am andern Mittag schon brachte ein Jagd¬
wägelchen Lisa, Robert und die drei jubilierenden Buben vor das Häuschen der
Muhme.
Die war froh. Jean Lepore lachte hell auf. Schutzmannschaft, Grete! sagte
er, aber sie hörte es gnr nicht, sie flog auf Lisa zu, umarmte die Schwester zärtlich
und flüsterte: Du löst mich ab. nicht wahr? Du willst nun bet der Muhme bleiben,
das ist lieb von dir. Ich möchte heim.
Lisa sah sich verlegen nach Robert um. Sie hatte sich sorgfältig vorbereitet,
was alles etwa zu sagen sei. aber diesen Irrtum Gretes hatte keines vorausgesehen,
und er lag doch eigentlich so nahe.
Robert stand schon vor Jean. Da, sagte er mit der bevormundenden Miene
von ehedem, bei ist ein Brief deines Vaters, und wenn dn ihn gelesen hast, dann
mache dich reisefertig, wir fahren um fünf zurück.
Jean lachte hellauf, dachte: Ich bin doch kein Jahrkind, das man gegen
seinen Willen einpackt. Schön, daß ich euch um fünf wieder los bin! und ging in
die Laube, um seinen Brief zu lesen.
Da stand nun so ungefähr, was er erwartet hatte, nur viel schroffer und
kräftiger — Sofort nach Hause kommen — ungesunde Bummelei — Zeit und
Gefühle wegwerfen — Zukunft gefährden — sich deutsche Sentimentalität an¬
färben — sich von den deutschen Füchsen fangen lassen. Und weshalb? Um ein
paar lustiger Bubenjahre willen, die den sogenannten Verwandten gut genug bezahlt
wordeu wären. Dieses Erfurt könne ihm doch nichts sein als linear>Ms.ß's.
Der ganze Brief erzürnte Jean, dieses Wort aber fuhr ihm wie eine scharfe
Nadel ins Herz — er hatte Erfurt selbst so genannt, gewiß, aber von andern
klang es doch recht anders — häßlich tlangs da, und als sei er selber das Hä߬
liche. Überhaupt Erfurt, Erfurt sollte niemand schelten, nicht einmal sein Vater,
der es ja gar nicht kannte. Erfurt war keine Gefahr, mochte es ihn festhalten oder
ihm nur eine liebe Erinnerung bleiben; Erfurt war ihm Jugend Frohsiunsqnelle,
Gesundheit — ihm war, als sei er schon in diesen paar Tagen ein reicherer
Mensch geworden.
''
'In incmtoncls. vsux «zus tu rsutrös tout Äo fullo et (zaliZ,diinävnuant. tondo
mu'dis snMg'so tu. eng promottos alö us xlus Miiuus remoktrs Iss xiecis clans col,t,o
vitio as malheur. Lies Z'fus-Iid, sont trop uns xour toi. L'ils vonlsnt to marier,
e'sse uni<zmömgnt, xour msttro le s'i^pin sur 1^ kortumz alö es> Al-Änämörö gri no
etoit, pss tour 6oluz.ppsr.
Auch das noch! Das galt Greten, das schwärzte seinen guten Kameraden an.
Nein nein! Das konnte er nicht dulden, durfte er gar nicht! Seine Erfurter
sollte keiner beargwöhnen. Die harmlose Grek, den ehrenhaften Vater, die gold¬
herzige Mutter! Das war Irrtum, das war Verleumdung!
Eine Stunde lang saß Jean in der kleinen Lattenlaube auf der Holzbank, die
ihm zu niedrig war, die Arme auf den klapprigen Tisch gestützt, den Blick hinaus
aus dem dämmrigen Blätterlicht in das reine Blau des Sonnenhimmels gerichtet,
das immer tiefer wurde, je länger man hineinsah. Die Bienen summten um die
Geißblnttblüten, vom Hang herüber klang das Zirpen zahlloser Grillen.
In dieser Stunde durchlebte Jean Jahre; nicht solche, die gewesen waren, in
freundlicher Erinnerung, nicht solche, die da sein würden, in goldner Hoffnung —
Gegenwart war sein Denken, aber es brachte ihn um Jahre vorwärts; nur wars
kein leichtes, lustiges Dahinstürmen, das in: Flug seine Bahn nimmt, Tasten wars
und Suchen uach Weg und Richtung, und als die gefunden waren: Kampf, heißer
Kampf mit kunstvoll geschmiedeten Plänen und den Licblingshosfnuugeu des Vaters
daheim. — Hätte er gegen den Vater nicht den Brief zu Hilfe gehabt, den Brief,
der die unschuldigen Freunde kränkte, die Abwehrenden wären noch schwerer zu be¬
siegen gewesen. So kam gegen alle Bedenken immer wieder obenauf: Sie haben
dir Unrecht gethan, Grete! wenn sie dich nur erst sehen, wenn sie dich begreifen
lernen, wird sie Scham über ihren Irrtum befallen. Die Reiche, Schöne, die
nach zehn arbeitsvollen Jahren den berühmten Gärtner belohnen sollte, verschwand
aus Jeans Träumen. Er sah Greten in Paris unter den Cousinen, neben dem
Vater, sah sie draußen in Enghteu zwischen den Rosenhecken — er konnte sich das alles
gar nicht mehr ohne Greten vorstellen. Mit einemmal? Nein, es war schon immer
so gewesen, nur hatten ihn Trägheit und Scheu vor dem Kampfe, den er eben
jetzt ausfocht, veranlaßt, daran vorbeizuseheu.
Die Jungen kamen in den Garten gerannt, guckten in die Laube und schrieen:
Da sitzt er ganz einschichtig! Lauf lieber mit uns an den Teich! Da ists fein!
Jean stand langsam auf; er kehrte aus der andern Welt in die kleine Laube
zurück. Die Bienen summten, die Grillen zirpten.
Dieses mal müßt ihr allein gehn, sagte er freundlich und strich dem Nächsten
über den glatten Blondkopf,
Geradezu gönnerhaft, behauptete Franz draußen. Die Muhme hat ihn ver¬
tauscht, ist gar nicht mehr der lustige Jean,
Dumm! pflichtete Fred bei.
Dann laßt ihn bloß laufen; brauchen wir ihn etwa? Nee — Kaulquappen
fang ich auch noch alleine, vollendete der Dritte den Scheltgesang der Abgeblitzten.
Als die Jungen davongerannt waren, trat Jean ans der Laube und ging
den Weg zwischen den Buchsrabatten entlang; ehe er aber das Gatter erreicht
hatte, verlegte ihm Robert den Weg. Er sah so zornig aus, wie es dem ruhigen
großen Robert nur möglich war.
Ich denke mir, dein Vater schreibt so ungefähr dasselbe, was wir wünschen.
Redet er nicht vou Abreisen? Nun also — ich sah es dir an. Warum bist du
gekommen? Um ein fröhliches Herz traurig zu machen, um deine Unwiderstehlichkeit
zu genießen? Grete ist für dich nur wieder Nnka>ut>iIIg>M, uns ist sie zu lieb dazu.
Eine Flamme schoß Jean in die Stirn. Osriccinemsuk! sagte er mit dem Ver¬
suche zu spotten und wollte Robert den Rücken kehren. Der aber stand breit vor
ihm und redete feierlich weiter:
Und wenn du in so und so viel Jahren das reichste Mädchen zehn Meilen
in der Runde heimführst —
Quasselei, sagte Jean, und da Robert, als breites Hindernis, den schmalen
Gartenweg versperrte, drehte er sich um, schwang sich über den Zaun und ging
nach dem Ententeich, von dem die Kleider der Schwestern heranfschimmerten.
Grete saß auf dem Bänkchen wie am vorigen Sonntag, als er angekommen
war; die Hände hatte sie auf den Knieen gefaltet, den Blick starr auf das grüne
Wasser gerichtet. Lisa sprach eifrig und heftig auf sie ein.
Die brauen Unheil! war Jeans erster Gedanke. Seine Schritte bergab wurden
noch länger; hinter ihm drein langsam bedächtig, als sei die weiche Nasenlehne eine
Dolomitenwand, folgte Robert, verdrießlicher Gedanken voll.
Als Jean zu den Schwestern trat, wollte Lisa weghuschen; er faßte aber ihre
Hand und sagte kurz: Bleib — du magst der Grete selber sagen, wie ihr sie zum
besten gehabt habt, nicht ich — aber hören will ich es — damit nicht wieder eine
^uge mit unterläuft.
Lisa sah hilfesuchend zu Robert hinauf. Grete schien Jean gar nicht gehört
AU haben, verstanden wenigstens hatte sie ihn nicht. Mit einem Ausdruck hilfloser
Müdigkeit sah sie ihm ins Gesicht, als ob sie etwas ganz fremdes, nnlebendiges
^trachte, sodnß er die Thräne, die jetzt wirklich in ihrem Auge saß, durchaus uicht
°uf sich zu beziehen wagte.
Endlich sagte sie: Nicht, du gehst mit den Geschwistern nach Erfurt zurück;
du machst der Muhme zu viel Unruhe, sie hat sich beschwert, mich aber braucht sie
«och. Wir müssen nus lebewohl sagen. Du wirst kaum wieder nach Erfurt kommen,
wenn du erst in Enghien deinen Garten hast; laß dirs recht gut gehn im Leben
und schreib wenigstens Neujahr, damit — damit —' man doch weiß, daß dn noch lebst.
Das klang alles so gar nicht wie die Grek, so fremd, so eingelernt — richtig!
^ wars: eingepaukt hatten sie ihr die kühle Rede; nur zuletzt war noch ein
sonst " ^doch dazugekommen, und dieses Eigne war auch anders gewesen als
, up — sentimental, beinahe sentimental. Es war die höchste Zeit, daß sie fort
">n aus dem gefühlvollen Deutschland.
Du hörst, um was Grete dich bittet, sagte Robert in das Schweigen hinein,
absind ^ Zorn, und zornig rief er: So? und damit soll ich mich
! '°en lassen? Soll gehn wie ein Zweijahrbübchen, das einen Klaps bekommen
^ ' ^ du alle gute» Bissen allein haben willst?
aus- ^ /? ""^ ^ Hitze bis an die Kehle und er stieß einen Zornesruf
' ^a faßte nach seiner Hand, schmiegte sich beschwörend an ihn, zu Jean aber
Grenbote
sagte sie vorwurfsvoll: Wie kannst du — wo er mein Bräutigam ist! wie kannst
du meinen Bräutigam so kränken!
Nicht einmal zum Wundern kam Jean. Das, was die beiden jetzt allein bei
ihm voraussetzten, streifte nicht einmal seine Gedanken, sie hätten ihre vorwurfsvolle
Entschuldigung sparen können: Dn interessierst dich so wenig für Lisas Brautschaft,
sonst wüßtest du längst vou unsrer Verlobung.
Natürlich, dann ist es ja gut so — Lisa ist deine Braut, also kümmere dich
um Lisa.
Grete ist seit dieser Verlobung meine Schwester.
Richtig, richtig! Und seine Schwester rettet man vor dem leichtsinnigen Franzosen.
Jean, sagte Grete traurig.
Grete! sie haben dich belogen und betrogen; sie haben die Muhme zum
schwindeln angelernt — die Muhme ist nicht krank, Robert war bei ihr, um sie
zu bereden.
Gretens Augen wurden groß. Angstvoll, heftig rief sie: Nein!
Ja! Rotkäppchen hat mirs gesagt. Mutter weiß nichts davon, aber die beiden
da wollten vereiteln, daß wir uns sähen, daß wir uns unsrer alte« Kinderfreundschaft
freuten.
Daß er dir das Herz bräche, wollten wir verhüten, rief Lisa schluchzend.
Grete machte eine hastige Bewegung — still — o nur stille sein!. Unverwandt
hatte sie die Angen auf Robert und Lisa gerichtet, deren verlegne Gesichter zu¬
gestanden: Es ist so, Jean spricht die Wahrheit. — Sie wurde blaß bis zu den
Lippen.
Mich weggeschickt? Weil ich Jean nicht sehen sollte? Die Muhme uicht hilfs¬
bedürftig? — ganz leise kamen die Worte über die blassen Lippen, als würden sie
in einem schweren Traum gesprochen.
Rotkäppchen hat die Beratung gehört und mir alles verraten.
Jetzt war Grete erwacht. Rotkäppchen? Die kleine Nachbarin mit den alt¬
klugen Reden und den neugierigen Augen wußte das und beredete das? und dachte
sich noch zehnerlei dazu? Und sie mußte stillhalten, denn jedes Wort machte das
Übel ärger! Und Jean hatte das gehört! Was mochte der jetzt vou ihr glauben
und denken? Und ihre eigne Schwester hatte ihr das angethan! O ihr! rief sie,
ihr! Wie konntet ihr nur!
Lisa wollte sich verteidigen: Lutantill^go nennt ers, wenn ihn jemand lieb hat.
Ob Grete das noch gehört hatte, wußte keins, sie stand schon ans dem Rand
der Nascnlehne und ging schnellen Schrittes dem Hause zu.
Muhme, begann sic atemlos, ist es wahr? Dein Arm ist nicht krank?
Der Muhme stieg das Blut ins Gesicht. El — nun, ich meine schon — Rheuma¬
tismus hatt ich all das Frühjahr.
Aber du kannst allem hantieren?
Gretes emporgchobne Augenbrauen, der ganze schmerzlich gespannte Ausdruck
des jungen Gesichts machte der Muhme Lügenknnst völlig zu schänden. In, ja doch,
stotterte sie, ich kauu schon.
Ein schwerer Atemzug, ein wehmütiges, schnell verschwindendes Lächeln, dann
sagte Grete: Also reif' ich mit heim, Muhme, nichts für ungut. Ihr hättet mir
das nicht anthun sollen.
Als sie hinaus war und oben im Kttmmercheu schon mit ihrem Koffer klapperte,
stand die Muhme noch immer mitten in ihrer Stube. Endlich schüttelte sie den
Kopf, nahm die Binde vom Arm und legte sie in die Truhe.'
Ja doch, ja doch! 'S is heute noch akkurat wie vor fufzig Jahren; s Dümmste
is allemal 's Lügen — allemal, allemal. Da hat der Teufel von Anfang an die
Finger im Brei — nun mögen sie ihn in Erfurt aufessen, ich habe genug davon.
Der Muhme Gäste fuhren beide mit heim, es war eine stille, verdrießliche
Fahrt, trotz Waldluft und Sommerschöne. Manchmal nahm einer der drei Buben
den Anlauf zu einem Witz, aber der Wiederhall fehlte so vollständig, daß der Unter¬
nehmer der großen That sich unwillkürlich verlegen umsah und schnell wieder ver¬
stummte.
Mutterchen zu Hause kam ihrer Grete mit einem Freudenruf entgegen, aber
auch der fand keinen Nachhall; der behaglichen, kleinen Frau wurde im Laufe des
Abends sehr unbehaglich zu Mute. Doch war ihre Art nicht, vor dem hellen Haufen
mit Gewissensfragen in jemand zu dringen, und ihre allezeit obenauf bleibende
Freundlichkeit machte anch heute das Beisammensitzen erträglich.
Erst als sie zum gute Nacht sagen ins Schlafzimmer der Töchter trat, fragte
sie: Was hats denn heute für Unheil gegeben?
Zunächst kam gar keine Antwort, dann klang es von Lisas Bett her wie
Schluchzen: das war immer am einfachsten und bequemsten. Endlich sagte Grete:
Sie dachten, ich sei von Wachs, Mütterchen; da ich aber von Stahl bin, schmolz
ich nicht an ihrem Streichholzfeucrwerk, nur sie haben sich die Finger verbrannt.
In Gretes Stimme war ein harter Klang, der die Mutter so fremd an¬
mutete, wie die bilderreiche Sprache, aber da sie dem Kinde nicht beizukommen wußte,
ergab sie sich in Geduld und hoffte auf den morgenden Tag. Hatte sie sie erst allein,
dann würde sich das harte Herz unter der Mutterhand schon wieder aufthun.
Der Schritt der Mutter verklang draußen, im Zimmerchen wurde es still.
Plötzlich klang zwischen dem Schluchzen von Lisas Bett herüber: Ich wollte, Jean
nähme dich mit nach Paris. Das kann ja reizend werden, wenn dn jede Kleinigkeit
zur Tragödie aufbauschst.
Ich wollte, er nähme mich mit nach Paris! klang das Echo in Gretes Herzen
wieder. Aber das Herz kam an diesem Abend nicht zu Worte, der Kopf über¬
redete alle seine leisen Versuche mit lauter Stimme. Scham und Gram über das
^escheheue quälten sie. Was dachten denn alle von ihr? Was fürchteten sie denn?
Die ehrliche Muhme in Trockenborn spielte um ihretwillen eine Woche lang Komödie,
Robert machte Reisen gegen Neigung und Gewohnheit, und das Rotkäppchen stand
">n Zaun und tuschelte es in die Nachbarschaft hinaus, was die Grete Langner für
cui gebrechliches Geschöpf sei, an dem alle hernmretten mußten.
^ Grete drückte die Zähne in die Unterlippe, und ihre Augen, die trocken ins
^unkel starrten, begannen zu brennen, wie nach heißen Thränen. — Stand sie
^ehe fest ^ jungen Füßen, hatte sie nicht ein kräftiges Herz, das kein
»'ruhlingswetter zerzausen würde — und sie meinten — ach sie meinten — warum
Mit so riech^ was die Leute von einem meinen?
Lisa hatte sich längst in den Schlaf geschluchzt, die trocknen jungen Augen
.mrrten noch immer ins Dunkel, die zornigen Gedanken quälten sich noch immer
»ut der Wunde, die Gretens Stolz geschlagen worden war.
Als aber Lisa früh zur gewohnten Stunde erwachte, war Grete endlich ein¬
schlafen, und froh, dem verlegner Alleinsein mit der Schwester zu entgehn, huschte
^>a unhörbar hinaus.
^ Das Knarren der Thür weckte Greten aus ihrem kurzen, unruhig verträumte»
estas. Sie sah sich im Zimmer um — wars nicht ein völlig unbekannter Raum?
-7^ achtete sich halb auf, stützte sich auf den Ellbogen und begriff nicht, warum
^ das alles so fremd und seltsam erschien. Sie sah das leere Bett, und die
ulucht der Schwester rief ihr den ganzen gestrigen Tag zurück,
voll' ^"^ im Frühlicht den Zorn und die Bitterkeit des Abends nicht
ein Fenster erklang das Mvrgengeschwätz der Stare, die Zweige
d ^ ^'ke wurden von einem unmerklichen Lufthauch auf und nieder bewegt, durch
us offne Viereck kam ein feiner Heliotropdnft herauf — Grete atmete mit Ent-
» nten; die gespannten Glieder lösten sich, sie sank wieder zurück, und die Augen
Ah das Blau und Grün vor dem Fenster gerichtet dachte sie an Jean. Nichts
o, ,"^6 von dem, was er ihr gestern Schlimmes gebracht hatte, nur einfach' den lieben alten Freund und was sie froh machte. Daß er gekommen war —
erst nach Erfurt und dann nach Trockenborn, und daß er gerade so war, wie er
war, und daß es nichts auf der Welt geben könne, was ihr besser gefiele.
Draußen zog eine Wolke über die Morgensonne, das Grün verlor seinen Gold¬
glanz, blaue Schatten trübten das Bildchen im Fensterrahmen, und ein jäher Schreck
machte Gretens Herz schneller schlagen.
Was nun, wenn er abreiste? Jetzt, nachdem sie acht Tage mit ihm in dem
grünen Dörfchen verbracht hatte — nur mit ihm —, acht Tage in Arbeit und
Glück, sodaß nun ohne ihn keine Stunde mehr Sonnenschein haben konnte?
Sein Kommen fiel ihr ein, sein die Rasenlehne herabstürmen und der Willkomm¬
kuß — sein Lachen und sein Ernsthaftsein, sein Singen und sein Pläneschmieden,
sein Schaffen im Garten und sein Plaudern am nackten Hvlzttsch der Muhme. Sie
hörte den Klang seiner Stimme und sah die Herzkirschenaugeu auf sich gerichtet,
abwechselnd in Zärtlichkeit und in Schelmerei. Und ohne das sollte sie weiterleben
und froh sein und die Menschen um sich her froh machen.
Nein nein nein! All die kleinen verdrießlichen Dinge des Lebens, die so oft
nicht die Mühe lohnen, waren in feiner Gegenwart Spiel und Freude gewesen;
die schweren Steine des Mißbehagens in ihrem Weg hatten durch sein einfaches
Dasein Flügel bekommen und waren wie Sommervögel davongeflogen — ins Blaue
hinein, auf Nimmerwiedersehen.
Und all das wäre nur ein kurzer Festtag gewesen, ein verwöhnender Traum, nach
dessen Verblassen sie dem nüchternen Tag hilflos, verdrossen und wund gegenüberstand?
Plötzlich wußte sie, vor was Robert und die Muhme sie mit ungeschickter
Fürsorge hatten behüten wollen, vor dem Glück — das so schwer zu entbehren
war, wenn man es erst kannte —, und in demselben Augenblick richtete sie sich auf
und begann den Kampf gegen ihre Sehnsucht. — Nein, sie war kein gebrechliches
Geschöpf; sie hatte ein kräftiges Herz, und Lisa würde einsehen, daß ihre Rettung
dennoch unnötig gewesen war.
Aber schwere Glieder hatte sie doch, und ein seltsam fremdes, wehes Gefühl
ging mit ihr durch den ganzen Tag. Sie war die alte Grete, sie half der Mutter,
sie scherzte mit dem Vater, sie regierte die Knaben, ohne daß sie etwas davon
merkten, aber alle hatten das Gefühl, als sei die eigentliche Grek irgendwo anders
und habe ein Trugbild zur Stellvertretung geschickt.
Jean fand sich am schwersten zurecht. Er hatte in der Nacht einen langen
Brief an seinen Vater geschrieben, hatte ihn in frühster Morgenstunde auf den
Bahnhof getragen und dann im Garten auf das Gretel gewartet. Sie mußte ja
kommen, mußte wissen, daß sie nur dort allein miteinander reden konnten, mußte
ihm ebensoviel zu sagen haben, wie er ihr.
Der Tag verging; die fremde Grete that ihre Pflicht, wie ein milder, sonnen¬
loser Frühlingstag das Seine thut, und die audern gingen so vorsichtig ihrer Wege,
als könnte ein schneller Schritt oder ein hastiges Wort Unheil wecken.
Nur der Vater war harmlos vergnügt; freute sich, daß sein Mädel wieder
im Haus herumschwirrte, und daß Jean „ein ganzer Kerl" geworden war —
ohne jeden verknüpfenden Nebengedanken. Völlig unbefangen rauchte er in der
Haselnußlaube sein Feierabendpfeifcheu; alle saßen um ihn her und plauderten vom
Tageslauf, wie ers leiden möchte; Greten nur hatte die Mutter noch einmal hinauf¬
geschickt nach den Himbeeren, damit die hochreifen über Nacht nicht verdürben.
Endlich! — Mutter fühlte einen Händedruck Jeans, den sie nicht verstand; erst
sein finstres Gesicht, als Lisa und Robert jetzt beide zugleich mit botanischen Fragen
auf ihn einstürmten, brachte sie ans einmal ganz nah um die Wahrheit. Ehe sie aber
alles, was von Freud und Leid ans dieser Wahrheit für sie heraufstieg, nur halb¬
wegs gefaßt hatte, kamen die Buben gerannt.
Mitten hinein in eine Erörterung über Nelkenstecklinge rief Jean: Buben,
wer läuft mit mir wett? Und ehe Robert abwehren konnte, flog der schlanke
Jean, gefolgt von den drei jauchzenden Knaben, den Garten hinauf.
Der Garten war groß, gewunden die Wege, buschig das Oberland, eine
Wonne für Kiuder, die sich alle Prärien und alle Dschungeln der Welt dahinein
versetzen konnten, und es währte auch jetzt keine drei Minuten, so war Jean, dank
einem künstlichen Haken, den Wildfängen entlaufen. Lächelnd, blitzenden Auges stand
er vor Greten zwischen den Himbeerbüschen.
Endlich, sagte er, und dann: Laß!
Er nahm ihr den Beertopf aus der Hund, stellte ihn zu Boden und zog sie, zum
Schutz gegen die spürenden Bnbenaugen, tiefer zwischen die Zweige hinein, die mit
seinen Häkchen nach ihren Kleidern griffen. Gretens Herz klopfte bis zum Halse
hinauf — mußte sie ihn jetzt schelten, durste — konnte sie es?
Jean aber sagte: Endlich! Du schlimme Grek! Du darfst mir nicht länger
ausweichen, du mußt mirs nicht so sauer machen, du mußt ganz ehrlich mit mir
sein. Ich kann doch nichts dafür, wenn Robert Dummheiten macht! Sag mir
schnell, ob du mich lieb hast, oder ob ich ein Narr bin?
Sie schüttelte leise den Kopf; eine Ranke mit Blüten und Beeren hing über
ihrem Scheitel, der Duft ihres Haares mischte sich mit dem Himbeerduft.
Nein? rief er heftig. Nicht lieb?
Aber Jean — sehr lieb!
Lieb genug, mit mir nach Enghien zu gehn?
Aber Jean, antwortete sie ganz ruhig, wie denn sonst? Und ich glaube, schon
unmer, aber ich weiß es erst seit heute.
Gott sei Dank! Dann bin ich doch noch gescheiter als du, denn ich wußte
^ schon gestern, sagte er fröhlich, nahm sie in den Arm und hielt sie fest; sie
hörte nnr noch wie im verhallenden Traum seine Stimme:
Dann war es still; der Knabenlärm war nach der Laube zu verhallt, eine Gras¬
mücke zirpte, eine Birne fiel ins Gras — nichts weiter — Sommerabendstille —
bis vom Hause her ein jähes Rufen hereinbrach, ein Rufen, das näher kam und
'ulzuschnell verständlich wurde.
Jean! — Jean! — dein Vater! — Jean! — dein Vater ist da!
In den Abendfrleden der Haselnußlaube war der behäbige Vater Leport- ein¬
gekehrt und bemühte sich vergeblich, unter Höflichkeiten die Sorge um den Sohn
schicklich zu verbergen.
Grete erwachte aus dem Himbeerzauber zur Gegenwart zurück und sah Jean
Mit angstvollem Blick an; aber sein Gesicht verscheuchte jedes Bangen, und auf
ihr zagendes: Dein Vater? folgte sein schalkhaftes: Wird er dich auch retten
wollen?
Da traten wirklich Thränen in die Sammetnugen, die Jean allezeit klar sehen
wollte, und tröstend sagte er: Was er jetzt auch will, wenn er dich erst kennt, wird
^ nichts andres mehr wollen, als wir —
, Dann nahm er Gretels Arm, drückte ihn fest an sich und ging schnellen Schritts
""t ihr den Garten hinab.
Als sie so gegen die Lanbe kamen, wars allen ein Schrecken; der behäbige
6ranzc.se wurde sogar blaß, obwohl er auf den ersten Blick sah, daß der Geschmack
,"emgsw,s seinen Jungen nicht ebenso verlassen hatte, wie der Verstand. Das
lubsche Nachbarsrotkäppchen, das eben herübergetrippelt war, um das zu erzählen,
w"s zwischen den Himbeeren schwatzte, die schlanke Lisa, die Cousinen Beauregard
> Lepore zu Hause, keine war mit der zu vergleichen, die da am Arm seines
Zungen den Garten herab kam. Und wäre sie nur nicht an diesem Arm ge-
Monsieur Lepore würde sie mit Vergnügen für eine domM sans xbraM
^nark haben.
Sein zweiter Gedanke war aber: Weshalb bin ich nicht früher gekommen!
^cum das sah er deutlich, auch die andern wurden überrascht von dem Anblick,
und nicht freudiger als er selber. Neu, ganz neu war die fatale Geschichte, aber
jetzt hatte die Deutsche seines Jungen französisches Herz bezwungen.
Er ging dem Sohn mit ein paar schnellen Schritten entgegen, und in der Über¬
zeugung, daß andre Leute ebensowenig eine fremde Sprache zu beherrschen vermochten
wie er selber, donnerte er los: mon Ah, qusl attrout tu ins lÄis lit. L.xrss tout
es qus so t'avais ein naus lettro. Mollswollt tu ins kais ein vkaxriill. — Aber das
jähe Rot, das in Gretes Wangen stieg, sagte ihm: Sie versteht dich! Das that seiner
Höflichkeit leid, das bedrückte seine Gutmütigkeit und verwirrte seiue Vorwürfe — ein
Wunder war es ja nicht, wenn man seinen Jungen lieb hatte — für Geschwister
mochten sie sich halten, er wollte sogar jedes Jahr einen Besuch in Erfurt erlauben;
nur weiter nichts — nicht dieses selbstverständliche Arm in Arm gehn, geradeswegs
zu Maire und Kaplan, Nein! das mußten sie sich wieder ausreden lassen.
Und als ob all diese Gedanken ausgesprochen worden waren, versuchte Grete
ihren Arm frei zu macheu. Jean aber hielt fest; er nahm noch die linke Hand
zu Hilfe. Erst als er sein Gretel ganz sicher gefaßt hatte, antwortete er sehr
schnell, weil es ihm sauer wurde, dem Vater zu widersprechen: Noi s,uWi, pörs,
jo t'al 5erit. 1^ lottrs sse partis nisr soir. ^s, Kul guf tu us sg.is pg,s es «M'vIIs
eontisut. O'sse clomwÄAo ^—^ n'luyen'to, vonn, ^o to piüssirts wa, ÜÄuoö'o.
Da stieg dem alten Herrn das Blut ins Gesicht. Der fröhliche, von Gretels
Schönheit bestochne Franzose gab dem zürnenden Vater wieder den Weg frei.
^K, voilZ. ani sse trox kort, rief er heftig. üimeso, üllons äono! M mon
eollsentomont c^us ^ÄwÄis ^js us äonnsrÄ, tu t/su x^söff Zone, riuMoui'oux? I^vus
allons voir. ?u va.s ins suivrs n> l'rothe sur Is eimmp, se äsina-in on lilsi'Ä Ä Is.
promiörs dsurs.
Der Blitz, der in Jeans Augen aufzuckte, brachte ihn zum Schweigen.
Langsam, laut und deutlich, auch für die, mit deren Französisch es schwach
bestellt war, verständlich, sagte Jean: 0u Narguorits nous snivr^ se fers, eor-
äi^lomsnt aoousillis ^ I?^ris x^r vous tous, on tu mo vorras rsstsr lei se in'v
beg-hur pour as bon. ^. toi as choisir.
Entsetzt starrte Lepor?, dem Sohn ins Gesicht. Das klang bedenklich ernsthaft.
O diese deutsche Großmutter, dieses Erfurt, dieses ganze verwünschte Land! Sie
hatten ihm das Kind entfremdet ganz und gar. — Der hnnrbuschige Mann, der
dort mißtrauisch und verdrießlich in der Laube stand, war seinem einzigen Jungen
ein Vater geworden, und die behagliche kleine Frau, die so ängstlich ihres Gatten
Hand hielt, hatte seinem Jean die Mutter ersetzt, die ihm daheim zu früh ge¬
storben war. Hätte er sich doch nicht von dem schnöden Geld der Großmutter
bethören lassen, hättens doch die deutschen Verwandten wieder einschlucken mögen?
hätte er doch damals der innern Stimme gehorcht, die ihn vor diesem immer sieg¬
reichen Deutschland warnte. Das stand schlimm hier, sehr schlimm, das ließ sich
nicht übers Knie brechen — Zeit, vor allem Zeit — mit Zeit ließ sich manches
erreichen — Zeit machte kühle Monde aus feuerspeienden Sonnen.
^.Ilcms, iülous, sagte er mit zitternder Stimme, no bruscmons eisn, -lo us
ecmruus xg,s snvors tu. xotits NnrAuorits — psut-fers —
Er sah Greten an, aber Gretens Augen wichen nicht von Jeans erregtem
Gesicht, das sie eben jetzt erst kennen zu lernen meinte. Nicht so, bat sie leise,
er ist dein Vater — wie darfst dn so mit ihm reden — bitten dürfen wir ihn
nur; aber jetzt laß mich los, Jean — sei gut —¬
New, sagte er sanft; bitten will ich schon, wenn dn es willst, aber nicht los
lassen. Du wirst ihm bald genug gefallen.
Damit führte er sie bis zur Hasellaube, wo die ander» standen und eben jetzt
dem Sohn Leporü nicht freundlicher gesinnt waren als dem Vater.¬
Unwillig schwenkte Vater Langner seine Pfeife; hätte die Mutter nicht un
ermüdlich an seinem Ärmel gezupft, so wären seine Worte reichlich denen des Vaters
LePorL gleich gewesen. Er blitzte Jean an wie einen Räuber und sagte beharrlich:
Nein und abermals nein.
Er gäbe die Grek überhaupt nicht gern her, geschweige denn nach Frankreich,
Wo sie die selige Base niemals nach Wert und Würden anerkannt hatten; und wo
man seine Grek nicht mit Pauken und Trompeten empfange, da sei sie zehnmal
zu gut.
Jean niochte reden, was er wollte, immer erhielt er dieselbe Antwort. Das
einzige, was seine Bitten erreichten, war das Versprechen, falls Vater Lepore feier¬
lich um das Kind freiwerbe, dann wolle man sich die Sache zu überlegen an¬
fangen.
Auch der alte Langner hatte, wenn schon etwas unbeholfen, Französisch gesprochen,
und über Vater Lepores Gesicht breitete sich ein Hvffnungsscheiu. Dieser Erfurter
Hausherr war ja ein höchst verständiger Mann; im Verein mit dem ließe sich
wohl noch Rat schaffen. Natürlich: Mischehen taugen nicht; unglücklich würde das
Mädchen im schönen Frankreich werden, die Menschen konnten nichts dafür, es lag
in den Verhältnissen. Laßt den Kindern nur Zeit, sich darauf zu besinne«.
Die Kinder sahen sich an und lächelten. Wußten die Eltern gar nicht mehr,
wie die Sonne im Frühling schien, und daß Liebende nur eine Heimat haben, so
weit die Welt ist?
Die Eltern aber waren eben jetzt sehr miteinander zufrieden. Vater Lepore
schüttelte Vater Langner die Hand wie einem Bundesgenossen und setzte sich an
den Tisch in der Laube. Auch die andern rückten, wennschon etwas steif, in die
Runde, und als kurz darauf ein Sprühregen die Familie unter das Dach jagte,
ging Lepore pe;rö auch mit hinein.
Eine Schwiegertochter wollte er nicht aus dem kleinen deutschen Haus, aber
ZU kränken brauchte er deshalb die Leute doch nicht, die seineu Sohn fünf Jahre
l"ng wohl gepflegt hatten: er nahm das Abendbrot um, das sie ihm voll Zurück¬
haltung boten.
Da huschte über Jeans Gesicht zum erstenmal wieder der Schelm. Ging sou
visux nicht eben jetzt freiwillig in dasselbe Netz, das ihn eingesponnen hatte? Mochte
^ im Verein mit Papa Langner alle Gefahren einer Mischehe wieder und wieder
erörtern, die alten Augen blinzelten doch verstohlen nach der Grek, die ihm trotz
allem besser gefiel, als alle sechs Nichten, deren jede er schon einmal im Geiste
als Schwiegertochter angesehen und wieder verworfen hatte. —
Freilich, freilich, pflegte er später zu sagen, wenn er die Geschichte seines
Zweiten Erfurter Besuchs erzählte, das Wohlgefallen um der Marguerite war gleich
bvrhanden, aber das andre blieb deshalb doch bestehn. Wenn sie keine Deutsche
wäre! dachte ich zu Anfang. Sie ist aber doch nnn wohl eine Deutsche! dacht ich
Nachher, und eine Deutsche wird heutigentags nimmermehr heimisch bei uns. Schade,
daß sie keine Französin ist! dacht ich am Ende zwischen Butter und Käse. Das war
uun schon das Höchste, und dabei ivars auch noch gerade so, als ob Jean, der
Spitzbube, jeden Gedanken von meiner Stirn abläse, so prompt kam allemal die
Antwort auf meine unansgesprochnen Bedenken.
Jean las auch wirklich die Gedanken von des Vaters beweglichem Angesicht
"b- Sowie das Abendbrot genossen war, trat er ans Klavier, hob den Deckel und
flüsterte Greten zu: Singe, wie du mir in Trockenborn fangst — willst du?
Sie wußte gleich, was er meinte, und was er bezweckte, nickte ihm zu, und
"is er mit leichten Griffen zu spiele» begann, sang sie die Chansonette, die die Ursache
'bref Kinderstreits gewesen war, und die das Schlußwort bei ihrer Verlobung ge¬
habt hatte.
Unruhig saß der alte Herr während des Gesangs zwischen Mutter und Lisa,
unruhig rückte er mit dem Stuhl und erschrak doch über jeden störenden Laut.
Er wehrte sich kräftig gegen alle unbequemen Gefühle — Gemütsbewegung nach
Tisch? Das war jn ungesund. Aber bei den Worten: IZt ^'sa ein im xroserit:
moi, ^jo suivrai los x^s — trat ihm doch eine Thräne ins Auge, denn er sah seinen
Sohn, seinen armen Einzigen, um des Vaters Hartherzigkeit willen, verdammt für
ewige Zeiten in Deutschland zu leben. Als der letzte Ton des Kehrreims verhallt
war, stand er plötzlich auf, eilte auf Grete zu, rief: Vous steh uns eliarmsussl und
küßte sie aus beide Wangen. Dann aber lief er ebenso schnell ans dem Zimmer und
ohne Adieu, mit schief ausgestülptem Hut zum Haus hinaus.
Nicht überrumpeln lassen, nicht auch besiegt werden! Zauberei, Verrat, Teufels¬
machenschaften! Gott Schlitze einen ehrlichen Franzosen vor den deutschen Hexen¬
meistern!
Er lief aufgeregt durch Erfurts Gassen und schalt auf Gott und die Welt;
er fand durch einen glücklichen Zufall sein Hotel und brummte sich in den Schlaf.
Aber über Nacht kamen ihm angenehme Träume, und am Morgen weckte ihn ein
leiser Singsang aus dem Schlaf — it n'sse g-uvre alö bsan Mir s^us g,in,our.
Das wurde ja eine nette Geschichte! War er deshalb nach Erfurt gefahren,
daß er sich von einem braunhaarigen Ding um den Verstand singen lassen sollte?
Hatte er deshalb urplötzlich empfunden, daß sein Brief zu derb ausgefallen war,
also weit eher geeignet, gerade das herbeizuführen, was er verhindern sollte! War er
deshalb hinter diesem Brief drein gereist Tag und Nacht ohne Ruhe, um am Ende
den Freiwerber für die ungewollte Schwiegertochter zu machen? Nein, das gewiß
nicht! Und wenn sie auch Französisch sprach wie eine richtige Pariserin — eigentlich
so, daß man meinen könnte, der Jean spräche selber — nein, er that es nicht!
Diesem kräftigen Nein zum Trotz war der Tag noch keine sechs Stunden älter
geworden, da hatte ers doch gethan.
Jean war gekommen und hatte bessere Worte gesprochen als gestern. Zuerst
die Bitte um Vergebung für sein Ungestüm, danach die Bitte um Gewährung.
Worte, die eigentlich seine Grete sprach, die ihm unsichtbar mahnend zur Seite stand.
Und da neben diesen guten Worten als Grundton doch die furchterregenden Pauken¬
schläge von gestern abend mitklangen, so wußte der alte Herr nicht mehr ans und
ein und ergab sich.
Gegen Mittag wanderten die beiden Männer zusammen in das kleine Haus
am Fuß des großen Gartens als feierliche Brautwerber.
Wie sichs schickt, sagte Lisa, was du allein mir und Robert zu verdanken hast.
Die halbe Stunde voll Herzklopfen, während der sich drinnen die Eltern Langner
mit den beiden Herren Lepore auseinandersetzten, verging dann auch noch. Mit den
Worten: Wir haben uns lieb! behielt der Jüngste den Trumpf in den Hände».
Die Mutter weinte ein paar Thränen, ehe sie hinaus ging, um die Tochter zu
holen, als sie aber die Hände der beiden Liebesleute zusammenlegte, war sie wieder
helläugig — denn sie kannte ja ihren Jean ganz genau und wußte, was sie an
ihm erzogen hatten.
Und wenn Vater Langner sein Mädel nun doch „in die schlimme Fremde" zieh»
ließ, er hatte wenigstens seinen Kopf aufgesetzt, und es war alles in Ordnung zu¬
gegangen, und — na, daß die Grete mich drüben allzeit „Siegerin" sein würde,
das war doch keine Frage. Man mußte »ur sehen, wie der alte Herr vor ihr stand,
als er sagte: M bion, Mit« snMeusv, lo voila. es xrüoicmx üls, es xg.1(zri<zu, ^jg
vous 1'oklro. Oarävsi-ik se no in'en vöuillöiü xas.
Das auch noch! Nun, es mochte sich so gehören nach dem plumpen Zufahren
vom Abend vorher, wenn Grete ihn auch nicht ausreden ließ. Denn dieser Vater
ihres Jean saß ihr schon so breit im Herzen, daß sie gar nicht begriff, wie er noch
Raum neben ihrer großen Liebe gefunden hatte. —
Am Nachmittag, nach einem fröhlichen Verlobungsessen, hatte Robert seine Schwer¬
fälligkeit so weit überwunden, daß er sich zu einer scherzhaften Abbitte zurecht fand.
Sieh, Jenn, nun hab ich dir doch Unrecht gethan; aber was redest dn auch
so selbstverleumderisch von deinen 5mtÄnti1Ja,Ass.
In Jeans Herzkirschenaugen blitzte es auf; er hätte Robert gern vorgehalten,
was er dem Gretel alles zuleide gethan hatte — aber Franzosen sind höfliche Leute,
und dann erleichterte ihm auch das Glücksgefühl eine freundliche Antwort:
Weil ich erst lernen mußte, daß nicht alles Kinderei ist, was in Kinderherzen
"nporlvächst. —
Die sechs Pariser Cousinen schüttelten ihre zierlichen Köpfchen und schlugen ihre
feinen Händchen zusammen vor Entsetzen, als sie von Jeans deutscher Braut hörten,
^le junge Frau Lepvre hat ihnen das Kopfschütteln bald abgewöhnt; und als die
^tern Langner zum ersten mal in Enghien les bains zu Gast waren, stellte'der
<5meer seine mißtrauischen Beobachtungen sehr bald ein.
Mutter, sie ästimieren unser Kindchen; nnn bin ich zufrieden!
An der Revision des Sozialismus wird im akademischen
^erlag s^ale Wissenschaften von Dr. John Edelheim in Berlin und Bern
lwßig weiter gearbeitet. Für die Agrarpolitik besorgt Dr. Alfred Nossig die
Arbeit in dem soeben erschienenen zweiten Teile seines Systems des Sozialismus.
wie Kritik richtet sich nach zwei Seiten. Den Manchesterleuten beweist er, daß
°^ sogenannte wirtschaftliche Freiheit auf keinem Gebiete so viel Unheil angerichtet
labe als ans dem der Landwirtschaft und namentlich des Bauerndaseins, und er
9 ?>c ^ diese sogenannte Freiheit noch fortwährend den Bauer expropriiert,
^"fuudien anhäuft, einen Zustand zur Folge hat, wo der Maun, dem der Acker
ge)ort, und der Mann, der ihn bestellt, zwei verschiedne Personen sind, und wie sie
« Land entvölkert, den Zug nach der Stadt, nach der Fabrik erzeugt. In den
r ^"'töten Staaten, wo die Regierung das reichlich vorhandne Land in der leicht-
eiÄ f ""^ gewissenlosesten Weise an Kapitalisten verschleudert hat. ist das tmM-
Akti das heißt die fabrikmäßige Bewirtschaftung von Riesengütern für
w Gesellschaften, eine geradezu fluchwürdige Betriebsfvrm geworden, die von der
um°> Landlebens, von seinen sittlichen, gemütlichen und hygienischen Vorzügen
Wolf""' ^""^ ^se keinen kümmerlichen Rest mehr erhalten hat. Diese Art Laut-
rach ^ ^ selbstverständlich nebenbei auch Raubbau, und Nossig weist außerdem
y' daß anch unsre rationelle deutsche Landwirtschaft solcher ist, wenn much in
? /"serm Maße. Denn Liebigs Ersatztheorie übertreibe zwar, sei aber der Haupt-
u)e nach richtig. Mineraldünger könne den Naturdünger niemals vollständig er-
n^n ' ""^ die Lebensmittel nicht dort verzehrt werden, wo sie wachsen, so
.^ Zuletzt Erschöpfung des Bodens die Agrarländer zu Gründe richten. Den
^ ^boxen Marxisten aber wird klar gemacht, daß der Bauernstand noch keineswegs
dem Ruin stehe, und daß auch kein vernünftiger Grund vorhanden sei, seine
Gre
Vernichtung zu wünschen. Wenn die kleinen Güter schlecht bewirtschaftet werden,
und die Kleinbauern in Not sind, so sei nicht die Form des Kleinbetriebs daran
schuld, sondern ein Komplex von Ursachen, die durch Selbsthilfe und durch Inter¬
vention des Staates gehoben werden können und in Deutschland und Frankreich
thatsächlich zum Teil schon gehoben worden sind, in Deutschland seit längerer Zeit
und in größerm Umfang als in Frankreich. Wir bekommen bei dieser Gelegenheit
eine recht brauchbare Übersicht der Agrargcschichte dieser beiden Länder im letzten
Jahrhundert. Von den Ergebnissen der französischen führen wir einiges an. Die
französische Revolution hat keineswegs, wie noch hie und da geglaubt wird, den
Kleinbesitz stark vermehrt oder gar geschaffen. Die konfiszierten Kirchen- und Adels¬
güter sind größtenteils von Kapitalisten und von den zurückgekehrten Sprößlingen
der Emigranten gekauft worden. Der heutige Kleiugruudbesitz ist schon vor der
Revolution vorhanden gewesen. Eine schlechte und falsche Statistik läßt ihn zudem
bedeutender erscheinen, als er ist; im Steuerregister zwar macht er 90 Prozent aus,
von der Bodenfläche aber hat er nur 26 Prozent inne. Und Gesetzgebung und
Verwaltung haben uuter der dritten Republik gerade so sehr und womöglich in noch
größerm Maße als unter den frühern Regierungen daran gearbeitet, ihn zu Gunsten
des Großgrundbesitzes und des mobilen Kapitals auszubeuten und zu unterdrücken.
Die Erbgesetzgebung, die Besteuerung, der Militärdienst, die Gestaltung des Handels,
des Börsen- und Bankwesens, die Privilegien der Eisenbnhngescllschnften sind alle
darauf berechnet, dem Grofibesitz auf Kosten des kleinen Vorteile zuzuwenden. Nur
insofern hat die Revolution den französischen Bauern in eine bessere Lage versetzt
als seine Brüder in andern Staaten, daß sie die Feudallasten ohne Entschädigung
aufgehoben hat, während in Preußen z. B. die kleinste» Bauern die Freiheit mit
dem Verlust ihres ganzen Landes, die größern teils mit einem Drittel oder mit
der Hälfte ihres Landes, teils mit einer Rentenschnld erkaufen mußten. Außerdem
schützt das Zweikindershstem einigermaßen, das zwar an sich verwerflich ist und dem
Staate Verderben bringen wird, vorläufig aber die Gefahr der Überschulduug ver¬
mindert. Wenn Nossig trotz alledem die Lage der französischen Bailern erträglicher
findet als die aller andern Länder, so muß man dieses kategorische Urteil sah»u
deswegen als unstatthaft zurückweisen, weil, wie er selbst hervorhebt, in Deutschland
die Verhältnisse des Bauernstandes landschaftlich so verschieden sind, daß es ganz
sinnlos Ware, zum Zweck der Vergleichung einen Durchschnitt konstruieren zu wollen.
Als hauptsächlichstes Schutz- und Kräftigungsmittel für den Bauernstand wird die
genossenschaftliche Selbsthilfe behandelt, die sich in Deutschland so erfreulich ent¬
faltet. Der Verfasser rügt es scharf, daß die sozialdenwkmtischcn Theoretiker in
ihrer doktrinären Verbohrtheit bisher alles, was den Bauernstand betrifft, falsch
gesehen, beurteilt und dargestellt habe», während die bürgerlichen Gelehrten im all¬
gemeinen richtig sehen und billig urteilen. Er glaubt demungeachtet, daß der So-
zicilismns der Genossenschaftsbewegung in Zukunft nützen werde, nämlich dadurch,
daß er ihr, wo sie individualistisch und kapitalistisch zu werden droht, den soziale»
Geist einhaucht. Nun. das könnten wohl die Geistlichen beider Konfessionen ebenso¬
gut besorgen; aber darin hat Nossig Recht, daß das vielgestaltige Genossenschaft
Wesen die Bauernwelt sozialisiert, ohne das Privateigentum anzutasten, und daß se')
der Kapitalismus durch die Genossenschaften selbst aus den Angeln hebt, ohne dumm
den Kommunismus herbeizuführen. Unter den Proben von der Verbohrtheit e
Marxisten, die Nossig anführt, ist die folgende besonders interessant. Kautsky meint,
der Bauer sei jetzt schon depossedicrt, zum Lohnarbeiter degradiert, nicht allein dur^
den Hypothekengläubiger, souderu auch durch die Fabrik und die Genossenschaft
„Die Zuckerfabrik schreibt ihm vor, welchen Sennen er anzuwenden und wie z
düngen habe. Die Molkereigenossenschaft ist noch tyrannischer: sie schreibt ihm ^une ,
Melkzeit, jn sogar die Art des Melkviehs vor und schickt ihm Mitglieder ihres AnsM^.
mes unangemeldet in den Kuhstnll. Unerhörte Sklaverei! Der Bauer Hort aus, H
in seiner Wirtschaft zu sein; diese wird ein Anhängsel des JttdustnebeMeos.
Baier wird Teilarbciter einer Fabrik." Nossig entgegnen „Merkwürdige Verblendung
eines Doktrinärs! Kautsky begreift es also nicht, daß dieser Zwang zur Steigerung
der Qualität der Produktion, zur Ordnung und Sauberkeit, daß diese Bekämpfung
des Schlendrians die größte Wohlthat für den schwerfälligen Bauern ist!" Und,
fügen wir hinzu, wohin würde eine kommunistisch organisierte Gesellschaft kommen,
wenn sie jeden unwissenden, unfähigen, faulen und nachlässigen Produzenten mit
den ihm überlassenen Produktionsmitteln, mögen sie in Acker, Vieh oder Maschinen
besteh», willkürlich schalten lassen wollte!
Neue Lieder und Gedichte von Karl Busse. Stuttgart und
Berlin, Cottasche Buchhandlung Nachf. Daß Busse in ungewöhnlicher Weise die
Form beherrscht, haben ihm auch die neidischsten und unfreundlichster seiner Kollegen
lassen müssen, sie finden ihn aber nicht immer individuell genug und manchmal zu
wenig interessant im moderne» Sinne, nicht lüstern und flüsternd oder bockmäßig
lnseiv genug. Wir meinen, er hätte das ohne Mühe haben können, da sich so
etwas am leichtesten lernt, und rechnen es ihm hoch an, daß er sich sein Gefühl
für das Reine und Gesunde bewahrt hat, womit es ja sehr viel schwerer ist, als
Dichter anziehend zu sein. Wir waschen und blank sind wir ganz und gar, aber
auch ewig unfruchtbar, sagen deswegen die Hexen der Walpurgisnacht. Aber das ist
Hexenstandpunkt, und wir meinen, ein Dichter kann auch individuell sein, wenn er
^es von allen: Ungewaschnen und schmutzigen fern hält. Daß ein Band von
1L<> Seiten anch Trivialitäten enthält, ist verzeihlich, und wenn Busse z. B. in
Innsbruck die Kaiserjäger blasen hört, die Gärten in Rosen, die Berge in Schnee
stehn sieht, »ut sein Herz dabei wild und weh werden läßt, so hätte er sich besser
^sagt, daß dergleichen keinen anßer ihm selbst etwas angeht. Manches finden wir
außerdem zu abstrakt, z. B. die Gedichte der letzten Abteilung: Sterne. Mit bloß
"werlichen Stimmungen ist wenig gedient, wenn sie sich nicht zu Erlebnissen ver¬
achten, die für andre greifbar sind. Hier verfügt Busse über ein schönes, frucht¬
bares Gebiet, wenn er an Heimat und Jugendglück, um Eltern und Geschwister
zurückdenkt: Es raucht ein Herd nach Osten zu; Mit Kreuzen und Wunden nach
vielen Jahren bin ich in meine Heimat gefahren i Wir drei, wir waren so froh-
en!^ jungen. Einem Greise am Grabesrande legt er ein längeres Idyll in den
Auad, die schöne Welt von einem alten Manne, mit einem vortrefflichen Schluß,
weniger haben uns die Studentenlieder (Becherläuten) zugesagt, sie sind erzwungen
und gequält, weder herzhaft lustig uoch in gutem Sinne sentimental, da doch nur
^ne von diesen beiden Tonstimmungen dieser Gattung Bürgerrecht in der Litteratur
lUbcn kauu. Frühlings- und Herbsteiudrücke regen jeden Dichter aufs neue an, aber
>v reich die Natur und so verschieden das Menschenherz ist, es giebt doch nicht jedes¬
mal mo es wieder aneinander klingt, auch einen neuen Ton. Das wäre zu viel
Erlangt. Bei Busse sind alle diese Sachen nett und zart, nichts ist geschmacklos und
i"ve aber da ist doch ein großer Wertunterschied. Ein Gedicht wie „Schöne
^acht, Gestirne wandeln" ist tadellos gebaut und gut gemeint. Aber Frnhlings-
viinder (Wo die sonnigen Linden stehn) ist einfach brillant. Woran liegt das?
läßt den Frühling lachend auf einem Zweige reiten und geigen, daß es klingt
d s^^' ^iÄ ihn von Wipfel zu Wipfel sich schwingen, und am Ende hat er
en Mhlichxn Reiter eingefangen: Unten lag er an meiner Brust, oben geigte er
'Mer. Das ist die ewig wirkende Personifizierung der Natur, die freilich nicht
ans jeder Seite einem Dichter gelingen kann. Aber Busse hat den Ton noch ein-
"'"l glücklich getroffen: ' ^
Tonfall und lebendige Vorstellung vereinigen sich zu der Wirkung eines guten alten
^cinuesängerliedes. — Busse ist'ein subjektiver Lyriker, der nicht zum Balladen-
mäßigen neigt, wenn er aber einmal seine Empfindungen nuf eine bestimmte Ngnr
überträgt, so gelingt ihm das wundervoll. Das Mädchen singt:
Er sollte diese Form öfter versuchen, sie würde ihm ungesucht Abwechslung
bringen. Unter den Gelegenheitsgedichten (Bunter Reigen) finden wir eines über ein
Begräbnis in der Großstadt sehr schön, sowohl in dem anschaulichen Andenken der
Situation wie in den Gedanken. Daß sich jemand im Gedränge des Lebens nach
Ruhe, sogar der des Todes, sehnen kaun, ist um sich nicht neu, aber so wie dieser
Gedanke um in der Großstadttleiduug bei Busse erscheint, spricht er doch wieder
eine ganz frische Sprache:
Busses Lyrik führt sehr viel Schwermut mit sich, hoffentlich deshalb, weil
diese poetisch dankbarer oder doch leichter zu gestalten ist als die Fröhlichkeit, sonst
möchte und müßte man für einen solchen Dichter etwas mehr vom Leben erbitten.
Wir möchten lieber nuuehmeu, daß die Melancholie ein selbstgewahltes Kleid wäre,
eine Tracht, zu der ja jeden Meuscheu seine ernstere Naturanlage berechtigt, sodaß
sie gar nicht affektiert zu sein braucht, und wir finden dafür ein hübsches Beispiel
in einem Gedichte mit dem Anfang:
Diese neue Mutter ist die Nacht mit ihre» Kindern, den Trttumeu, die seine
Gespielen werden, und der er selbst folgt wie ein Kind, weil sie heimliche Lieder
hat. Sie hat, wie es zum Schluß heißt, ein Kraut Wider Schmerzen und Gramm,
sie sagt auch, sie will meine Brüder nehmen. Man sieht leicht, daß nur der Ver¬
gleich mit der gestorbnen Mutter den tiefmelancholischen Zug in das Bild der Nacht,
der an sich so freundlichen, gebracht hat. Unter den Gedichten von persönlichem
Charakter ließen sich mehrere als besonders gelungen hervorheben, vortrefflich im
Ton ist ein Truhgescmg mit demi Anfang:
Bekaimtlich lesen wir barbarischen Deutschen viel weniger als beispielsweise
die Franzosen Verse bloß zum Vergnügen, sondern hauptsächlich ans Pflichtgefühl,
weswegen denn auch manche Dichter, um deu Genuß substantieller zu machen, ihren
Lesern die Kultur des Schweinestnlls vorsetzen. Wer das nicht mag, findet in
Versen seinen Leserkreis schwerer, und vielleicht würde die der Begabung unsers
Dichters ebensogut liegende Prosa ihm ein dankbareres Gebiet sein.
ist wieder in verjüngter Gestalt erschienen.
Daß sie in kurzer Frist abermals eine neue, die sechste Auflage erfährt, obwohl ihr
Schöpfer schon ein Jahrzehnt im Grabe ruht, ist gewiß ein Beweis für ihre Lebens¬
kraft. Man darf aber auch anerkennen, daß von den Eigentümern alles geschieht,
das wundervolle Vermächtnis des Begründers der neuern Kunstgeschichte auf der
Höhe der Zeit zu erhalten. So ist Bund I, das klassische Altertum, um ein Drittel
seines bisherige» Umfangs vermehrt worden; daraus ergiebt sich schon von selbst, wie
groß die Veränderungen gegen die vorige Auflage siud. Und daß wir hierbei
durchweg die staunenswerten Fortschritte der in der jüngsten Zeit wieder so rüstigen
und schnffensfreudigcu Altertumswissenschaft berücksichtigt finde«, und daß uns nicht
bloß ein getreues, sondern auch ein fesselndes Bild der alten großen Blütezeit der
Kunst geboten wird, dafür bürgt hinlänglich die Person des Bearbeiters, des Pro¬
fessors Adolf Michaelis in Straßburg, Als besonders verdienstlich sei hervorgehoben,
daß die zahlreichen Abbildungen so angeordnet sind, daß sie immer neben den
zugehörigen Textworten stehn und diese somit uunnttelbar ergänzen und erläutern,
wodurch das sonst übliche, lästige Nach- und Umblättern vermieden wird; wer jemals
eine ähnliche Arbeit hat leisten müssen, weiß, welche Opfer an Zeit und Mühe eine
solche Anordnung des Druckes beansprucht. Nur der Vollständigkeit wegen, nicht
um Tadel zu erheben, sei erwähnt, daß das heute am meisten verbreitete Verviel-
fältiguugsverfahren, so wertvoll es ist, bei einzelnen Abbildungen doch nicht völlig aus¬
reicht. Die Schwierigkeiten z. B,, die sich der photographischen Aufnahme metallischer
Gegenstände wegen des Lichtreflexes entgegenstellen, machen sich in erhöhtem Maße
geltend, wenn die Pholvgrnphie in die Autotypie übertragen wird; es darf deshalb
nicht wunder nehmen, wenn die köstliche Feinheit des bronzenen Hermes in Neapel
(S, 235) oder die derbe Kraft des sitzenden Faustkämpfers in Rom (S, 279) oder
die silberne Atheneschale in Berlin (S. 283) hier nicht so schön zur Anschauung
gelangen, wie man es haben möchte. In der Reihe der übrigen Abbildungen dieses
Landes sind etwa noch der Triumphbogen zu Orange (S, 331) und die gefangne
Barbarin zu Florenz, deren Gesicht in Schwarz getaucht erscheint (S. 335), als
mißglückt zu bezeichnen. Bon solchem Ungemach, das gegenüber der Fülle wirklich
brauchbarer und guter Abbildungen gar nicht ins Gewicht fällt, bleibt wohl aber
k«n Unternehmen 'dieser Art verschont. - Band I I, das Mittelnlter, hat die stärkste
lUugestaltung erfahren, indem er in Text und Abbildungen um die Hälfte vermehrt
worden ist, ' Auch hier bürgt die Persönlichkeit des neuen Bearbeiters dafür, daß
das, was verändert und hinzugefügt worden ist, dem heutigen Stande der Wissenschaft
entspricht. Der Bearbeiter ist Joseph Neuwirth, der Professor der Kunstgeschichte
der Technischen Hochschule in Wien. Man wird ihm das Zeugnis nicht versagen
dürfen, daß er an die schwierige Aufgabe, Springers Werk so umzugestalten, wie
^ sachkundigen Ansprüchen von heute genügt, mit ungewöhnlicher Gelehrsamkeit
und staunenswertem Fleiß herangetreten ist. Seine Zusätze betreffen fast alle Teile
^s Bandes: die altchristliche Baukunst in Shrien und Nvrdafrikn, die byzantinische
Kunst, die islamitische, langobardische, karolingiscye Kunst, die romanische Architektur,
besonders in Frankreich, die Gotik und die gesamte Malerei und Bildhauerei des
später» Mittelalters sind berücksichtigt. Aber außer in den zum Teil recht umfäng¬
lichen Ergänzungen macht sich auch in den ursprünglichen Sätzen des Werkes die
wrgsniu nachbessernde Hand deutlich fühlbar, Und uur ausnahmsweise sind kleine
versehen steh» geblieben, z. B, daß Spoleto zur Terra d'Otranto gehöre (S, 361),
und daß die Krypta in Trani die größte der Welt sei (S, 3et2), während dieser
Wohl von Schultz nnfgebrachte und überall verbreitete Irrtum dahin zu berichtigen
'se. daß es sich hier ganz deutlich um zwei, durch eine Quermauer geschiedne Bauten
handelt; um das Langhaus der ältesten, dem sechsten oder siebenten Jahrhundert
eMstnmmenden, von den Normannen zerstörten Kathedrale und die spätere, einige
<5uß höher liegende, zwar große und reiche, aber nicht ungewöhnlich große Krypta
des jetzigen Domes, der im zwölften Jahrhundert über der Kirche errichtet wurde. —
Übe""der Band III und IV wacht die Hand Jaro Springers, der pietätvoll venu
^, das Buch seines Vaters, der sich mit besondrer Vorliebe gerade der hier be¬
handelten Renaissnnee gewidmet hatte, in möglichster Reinheit zu erhalten. Daß
le-,och auch hier wichtige Ergänzungen und Änderungen vorgenommen worden sind,
ist bei einem so guten und mitten im kunstgeschichtlichen Betriebe stehenden Kenner,
wie Jaro Springer, selbstverständlich. So wird über zwei neuentdeckte deutsche
Meister des fünfzehnten Jahrhunderts, Kommt Witz und Multscher, deren Werke
uns einen überrnscheudeu, die bisherigen Anschauungen völlig verrückenden Einblick
in die Anfangszeit der ältern deutschen Malerei gewähren, das Nötige gesagt (nur
dürste das Todesjahr von Witz etwa sieben Jahre früher anzugeben sein). Der
in Lissabon unlängst aufgefundne Hieronymus Albrecht Dürers wird erwähnt, die
Bemerkungen über Matthias Grünewald sind erweitert, und das Überraschende in
seiner Kunstweise wird hervorgehoben, während auf die Streitfrage, ob Hans Cranach
der sogenannte Psendo-Grünewald sei, mit Recht nicht eingegangen wird. Es wird
serner der herrliche Creglinger Altar, dessen Verfertiger nach Bodes Vorgang längere
Zeit als ein besondrer Meister galt, als Arbeit Titanen Riemenschneiders (auf Grund
des Buches von Tönnies) anerkannt; dagegen heißt es Seite 65 und 67 uoch,
das; sich der Adam und die Eva Riemenschneiders an der Marienkapelle in Würzburg
befänden, während sie thatsächlich seit einiger Zeit in der Sammlung des dortigen
Historischen Vereins untergebracht sind. Eine besonders wertvolle Bereicherung ist
aber dem dritten und dem vierten Bande durch die reichlichere Verwendung des
Dreifarbendruckes zu teil geworden, indem die Zahl der Tafeln von 7 auf 28
erhöht worden ist. Wir finden hier Meisterwerke von Bottieelli, Mclozzo da Forli,
Signorelli. Veronese, Tiepolo, Konrad Witz, Dürer, Velnzquez, Watteau und andern
in ganz vortrefflichen farbigen Nachbildungen. Auch bei deu Textabbildungen ist
ein Fortschritt wahrnehmbar; es sind nicht bloß veraltete Holzschnitte, sondern auch
Autotypien, die sich als nicht gut genug erwiesen hatten, durch bessere Abbildungen
ersetzt worden. Für Freunde von Zahlen sei erwähnt, daß sich jetzt die Gesamt¬
zahl der Textabbildungen in allen vier Bänden auf 1919, und die der buntfarbige»
Tafeln auf vierzig beläuft, und dabei ist der Preis nach wie vor äußerst mäßig.
Schließlich möchte ich nicht unerwähnt lassen, daß mir der Druck wesentlich sorg¬
samer und kräftiger erscheint, als bei der vorhergehenden Auflage.
So dürfen wir denn das schöne Werk in seinem neuen, prächtigen Gewände
mit Frende und Genugthuung begrüßen und dürfen hoffen, daß es in immer wettern
Kreisen Verständnis und Liebe für die bildende Kunst wecken und vertiefen möge.
(München, Franz
Hnnfstängl.) Die Sammlung enthält frühe Italiener (Giovanni Bellini. Crivelli,
Piero dei Franceschi. Sandrv Bottieelli usw.), Prachtwerke Tizians und Hanpt-
biloer von Rembrandt, Albert Cnhp, Ruisdael und Hobbema. Die Auswahl ist
gut und die autotypische Herstellung von der jedem Kunstliebhaber aus andern
Unternehmungen des Verlags bekannten Vollkommenheit. Der niedrige Preis von
12 Mark für den eleganten Leinenband in Großoktav mit 222 Bildern steht in gar
keinem Verhältnis zu der herrlichen Welt, die sich hier vor unsern Augen nufthut.
Die deutsche Sprache von Otto Behaghel. Zweite, neubearbeitete Auflage. Leipzig,
G. Freytag. 190S. — Unsere Muttersprache von O. Weise. Vierte Auflage. Leipzig,
B. G. Teubner,1902. — Recht und Sprache. Ein Beitrag zum Thema vom Juristendeutsch
von Dr. L. Günther, Professor der Rechte. Berlin, Carl Heymann, 1902
Die beiden zu gleicher Zeit in neuer Bearbeitung erschienenen Bücher — der
Umfang des ersten ist um mehr als ein Drittel der ersten Auflage (1886) ge¬
wachsen — haben sich insofern dieselbe Aufgabe gestellt, als sie darauf ausgehn,
in einer den Laien fesselnde» Darstellung auf Grund der gesicherten Ergebnisse der
Wissenschaft das Werden und Wesen unsrer Muttersprache lind die Ursachen des
Sprachlebens besonders im neuhochdeutschen zu schildern. Weise, der schon ver¬
schiedentlich Proben einer glücklichen Gabe, wissenschaftliche Themata gemeinver¬
ständlich zu behandeln, gegeben hat, bietet in vierzehn Kapiteln — voran geht eine
kurze Geschichte der deutschen Sprache — eine Fülle der mannigfaltigsten und
charakteristischsten Thatsachen des Sprachlebens, die er in abgerundeten Einzelbildern
so zu zeigen versteht, daß vor vilen mich der Zusammenhang der Sprache mit dem
deutschen' Volkstum deutlich wird, weshalb er der Bedeutung der Wörter besondre
Aufmerksamkeit zugewandt hat. Fragen, wie die nach der Wechselwirkung zwischen
Sprache und Art des Volkes, der Gegensatz zwischen der Sprache Norddeutschlands
und Süddeutschlands, der Unterschied zwischen Mundart nud Schriftsprache, der
Wortschatz als Spiegel deutscher Sitte, ferner die Entwicklung des Stils als Aus¬
drucks des Zeitgeistes und sein Zusammenhang mit dem Wandel der Kultur, der
Reichtum des heimischen Wortschatzes und die Geschichte der Fremdwörter, lauter
Betrachtungen, für deren lebensvolle Behandlung Rudolf Hildebrand, zuerst in
seinem geistvollen Buche über den deutscheu Sprachunterricht, den Ton angegeben
hat, werden so anziehend erörtert, daß sie in die Tiefen des Sprachlebens einführen
und den Reichtum und die Pracht der Muttersprache offenbaren, zugleich aber
mittelbar dazu beitragen, den Sinn für Klarheit, Reinheit und Nichtigkeit der
Sprache beim Gebrauch in Schrift und Rede auszubilden. Nachdem es Welses
Buch binnen wenig Jahren schon zur vierten Auflage gebracht hat, und wo es
jetzt in einer Anzahl von mehr als 12000 Exemplaren verbreitet ist, erscheint alle
weitere Empfehlung hier überflüssig, und man kann sich nur freuen, daß das Inter¬
esse unter den Gebildeten für die Muttersprache so allgemein ist, daß ein Mit¬
bewerber auf demselben Gebiete hoffen darf, neben einem vom Erfolge so un¬
gewöhnlich begünstigten Schriftsteller mich für seine Arbeit die wohlverdiente An¬
erkennung zu finden. Vehaghel. der zu den Sprachforschern gehört, die die
Ergebnisse streng wissenschaftlicher Arbeit auch in ansprechender Form für den größern
Kreis der Gebildeten darzustellen wissen, macht es seinen Lesern, bei denen er ein
über die bloße Befriedigung einer edlern Neugier hinausgehendes tieferes wissen¬
schaftliches Interesse voraussetzt, nicht ganz so leicht und bequem, wie schou die
systematische Anordnung des Stoffes, der die Absicht einer gewissen Vollständigkeit
^kennen läßt, zugleich strengen, wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht wird und
darum besonders Lehrern höherer Schulen angelegentlich empfohlen sein mag. Ve¬
haghel behandelt den Stoff in einem allgemeinen und einem besondern Teil. In
dein allgemeinen Teile, der in drei Abschnitte zerfällt, geht er zunächst ans die
Verschiedenheiten innerhalb des Deutschen ein, die einmal veranlaßt sind durch die
Begrenzungen mich Zeit und Raum (vorgermanisch, germanisch, deutsch usw.), sodann
durch die Unterschiede der qeschriebnen und gesprochen Rede (Laut- und Schrift¬
bild, Schriftsprache als Einheitssprache im Gegensatz zu den Verschiedenheiten des
Dreh usw.), endlich der Stnndessprnchen und technischen Sprachen; zum Schluß
bespricht er die Schwankungen innerhalb der nämlichen Spracheinheit. Im zweiten
Abschnitt des allgemeinen'Teils sucht er die Entstehung der Sprachverschiedeu-
heitcn zu erklären, indem er den allgemeinen Triebkräften des Sprachlebens nach¬
geht und die einzelnen Veränderungen in der äußern Sprachform und der Be¬
deutung verfolgt, außerdem die Verbreitung der Sprachverttnderuugen über die
^erschiednen Teile des Sprachschatzes bei den einzelnen Sprechenden desselben Sprach-
rreises sowie die Verbreitung dnrch Zeit und Raum betrachtet; der dritte Abschnitt
befaßt sich mit der Einwirkung fremder Sprachen ans das Deutsche. Im zweiten
Hauptteil werden Schrift und Rechtschreibung, Wortbetonnng, Wortbicguug und
Wortbildung, Satzfügnng und zum Schluß die Eigennamen erörtert, alles in an¬
ziehender Darstellung, die nirgends an den trocknen Ton der Sprachlehren erinnert.
Einzelnen Darlegungen, z. B. über das Vernersche Gesetz, dürften freilich wohl
uur die an strengeres Denken gewöhnten Leser gewachsen sein, und andre Abschnitte,
wie die über die Wortbildung und die Satzfügnng, bieten zur Zeit ganz neue,dem Verfasser eigentümliche Ergebnisse, die sich an die Adresse der Fachgelehrten
richten. Befremdlich ist, daß Behaghel keine litterarischen Nachweise giebt, die Weise
ziemlich reichlich bietet; er hatte damit gewiß einer großen Zahl Leser, die sich über
die eine oder die andre Frage gern genauer unterrichten möchten, einen Dienst ge¬
leistet. Auch würde eine kleine Sprachkarte, die man jetzt in beiden Büchern ver¬
mißt, in einer neuen Bearbeitung willkommen sein. Wunderlich berührt es, wenn
in einem von Druckfehlern fast freien Buche der Verfasser des Max und Moritz
nicht Wilhelm, sondern mit amüsanter Verwechslung Moritz Busch und der eine
von den Begründern des Ostmarkenvereins Kühnemann anstatt Kcnnemcmn genannt
wird. — Möchte dem innern Werte des grundgcdieguen Buches einigermaßen anch
der äußere Erfolg entsprechen. Aber freilich — uadsnt, 8>ni tatg, livolli! Dumm
mögen denn hier auch die gebildeten Freunde der Muttersprache auf ein wohl
eben wegen seiner Gründlichkeit und Gediegenheit bisher wenig beachtetes Werk
hingewiesen sein, dessen nichtphilologischer Verfasser durch sein reiches Wissen und
eine ganz erstaunliche Belesenheit sogar dem auf diesem Felde berufsmäßig thätigen
Forscher Achtung einflößen muß: das Buch von Günther über Recht und Sprache.
Der von warmer Liebe zur Muttersprache beseelte Verfasser legt seinen Berufs-
genossen in maßvollen, aber eindringlichem Tone ihre Pflichten ans Herz und
schärft ihr Gewissen für die rechte Pflege der Sprache unter anderm auch dadurch,
daß er auf die wirksame Kraft und Sinnlichkeit der hochpoetischen Rechtssprüche
des Mittelalters und ihren Einfluß auf die Entwicklung der deutschen Sprache
hinweist, die noch heute aus zahlreichen Überresten, in volkstümlichen Sprichwörtern
und Redensarten, durchleuchtet. Günther giebt einen Überblick der Entwicklung
unsrer Rechtssprüche und hat für seinen Zweck, die Hnuptgebrechen des heutigen
Juristendeutsch zu kennzeichnen, nicht nur eine Menge köstlicher Ausdrücke und
Wendungen aus den mittelalterlichen Rechtsquellen mitgeteilt, sondern auch die neuen
Gesetzbücher, wie das Bürgerliche Gesetzbuch und an die 7 bis 8000 Paragraphen
der Reichsgesetze, durchgearbeitet. Aber er beschränkt sich nicht auf die Musterung
und Beurteilung des Kanzleistils, des Amts- und Gerichtsdeutsch und stellt deren
Hauptgebrechen ins rechte Licht, sondern greift über diese Gebiete hinaus und bringt
alle zwischen Recht und Sprache bestehenden Beziehungen zur Sprache, sodaß auch
die Betrachtung der Sprache als einer Schöpfung des dichtenden Volksgeistes zur
Geltung kommt. Abschrecken mag manchen beim ersten Blick die äußere Form des
Buches, das aus einem schlichten Vortrag im bescheidnen Umfang von 56 Seiten
zu diesem stattlichen Werke von 360 Seiten ausgewachsen ist. Aber da der ur¬
sprünglichen Form des Vortrags und der Frische des gesprochnen Wortes durch
deu Druck nichts genommen ist, und die Belege, Nachweise, weitere Ausführungen
und litterarische Angaben zu einzelnen Behauptungen des Textes in Gestalt eines
besondern Anhangs folgen, über dessen reichen Inhalt ein genaues Wort- und Sach¬
register von 80 Spalten bequem Auskunft giebt, so werden gelehrte wie un¬
gelehrte Leser dankbar aus dieser Fundgrube schöpfen, die einen zu wettern Forschungen,
die andern, um die empfnngnen Anregungen zu verfolgen und sich zu selbständigem
Urteil über sie besonders anziehende sprachgeschichtliche Probleme zu befähige». In
Günthers Buch finden alle, die für die Muttersprache als das eigenste Gut unsers
Volkes eintreten, ein Arsenal wirksamer Waffen im Kampfe gegen deren Feinde.
Auch darum sei es warm empfohlen!
or vier Jahren erschien in den Grenzboten (Heft 50 vom 15. De¬
zember 1898) unter der Überschrift „Unsre Zukunft liegt auf dein
Wasser" ein Artikel, worin die starke Zunnahme der industriellen
Produktionskraft im Deutschen Reiche mit der geringfügigen Ver¬
mehrung der Warenausfuhr vergliche» und die Befürchtung aus¬
gesprochen wurde, daß, wenn wir so fortwirtschafteten, der vielgerühmte wirtschaft¬
liche Aufschwung in einen empfindliche« Niedergang auslaufen müsse. Unsre da¬
maligen Ausführungen knüpften an die Ergebnisse der deutschen Berufs- und Ge-
werbezühlung von 1895 an, nach denen allein in der Industrie — also abgesehen
von Handel und Verkehr — das produktiv thätige Personal in der Zeit von
I882°bis 1895 von 5933000 auf 8000000 Köpfe, also um 35 Prozent ver¬
wehrt worden war, während es sich in Großbritannien im Jahrzehnt 1881/91
noch nicht um 13 Prozent, in Frankreich noch nicht um 2,5 Prozent vermehrt
hatte. Wenn man die in der Industrie benutzten Elementarkräfte, die leistungs¬
fähigern Arbeitsmaschinen und die verbesserte Arbeitsmethode überhaupt be¬
rücksichtigte, mußte mau für Deutschland von 1882 bis 1895 eine Erhöhung
der Gelverbekraft und Gewerbeproduktiou um 50 Prozent annehmen. Dagegen
hatte sich die Ausfuhr an Jndnstrieerzengnissen — einschließlich der Bergwerks-
Prvdukte — der Menge nach zwar much um 38,4 Prozent, dem Werte nach aber
nur um 4,4 Prozent vermehrt. Von der Zunahme der Ausfuhrmeugcn waren
dabei ganze 90 Prozent auf Industriezweige gekommen, deren Export volks¬
wirtschaftlich von etwas zweifelhaftem Wert erschien, nämlich auf Eisenerz-
nnd Steinkohlenbergwerke, Verkokungsanstalten und auf die durch Export-
Prämien gepflegte Zuckerfabrilation.
Unzweifelhaft — so bemerkten wir im November 1898 dazu sei diese
Thatsache von der größten Bedeutung für die Beurteilung der gegenwärtigen
Lage und der sich ans ihr ergebenden Forderungen an die Wirtschafts- und
Handelspolitik der nächsten Zukunft. Die Gefahr einer zunehmend passiven
Handelsbilanz sei zwar vielfach übertrieben worden, aber ganz zu bestreiten
wäre sie nicht. Es steht fest, daß die Schutzzollära unsre Industrie nicht in
die Lage gebracht und veranlaßt habe, den Ausfuhrwert, mit dem wir die
Einfuhr doch wenigstens zu einem großen Teile bezahlen sollten, nennenswert
zu vermehren. Das wäre schon ohne die gewaltige Vermehrung der in der
Industrie thätigen Personen von 1882 bis 1895 ein recht bedenkliches Er¬
gebnis, aber angesichts dieser Vermehrung werde man unsre Ausfuhr geradezu
als „zurückgeblieben," ja als „vernachlässigt" bezeichnen dürfen. Sicher sei,
daß die so außerordentlich vermehrte Gewerbcproduktion ganz wesentlich, ja
fast ausschließlich auf dem Jnlandsmarkt untergekommen wäre. Nicht eine ein¬
seitig geförderte Exportindustrie also habe die seit 1882 dem Gewerbe zuge¬
strömten Arbeitermassen angelockt und festgehalten, sondern die Arbeit für den
deutschen Markt. Wunderbar genug, daß dieser bisher so aufnahmefähig ge¬
blieben sei. Aber nichts sei heute (1898) gefährlicher als eine fernere Spekulation
auf den „innern Markt." Rücksichtslos müsse allem, was ihr diene, entgegen¬
getreten werden. So gefährlich für uns die Verschärfung der Absperrungs¬
politik in der Weltwirtschaft werde könne, die unmittelbare Gefahr liege zur
Zeit in dem Versagen des innern Marktes. Wir seien nicht reich genug,
mit dieser industriellen Treibhauswirtschaft immer neue Millionen heran¬
wachsender und zuströmender Gewerbearbeiter satt zu machen. Wir Deutschen
müßten noch sehr viel Geld draußen verdienen, daß wir daheim so opulent
wirtschaften könnten.
„Es macht sich zur Zeit — so schlossen wir unsre Betrachtungen vom
15. Dezember 1898 — in Deutschland eine gedankenlose Spekulation durch Er¬
höhung des Kapitals unsrer industriellen Aktienunternehmungen und durch
Umwandlung privater Etablissements in solche auf Aktien bemerkbar, ein ganz
regelrechter Gründungsschwindel, der, wie man sagt, den Kapitalmarkt schon
in bedenklichem Maße zu erschöpfen begonnen hat. Die Gründer der neusten
Ära scheinen es darauf anzulegen, für die bekannten Übertreibungen Olden-
bergs und andrer nachträglich den Beweis zu führen, daß auf dem Kapital¬
markt jeder Sinn für die Zukunft systematisch erstickt werde, und daß man bei
Kapitalanlagen immer nur darauf rechne, sie rechtzeitig loszuschlagen, damit
ein andrer hineinfalle."
Diese Warnungen, die sich leider seit Beginn des neuen Jahrhunderts
nur zu sehr als berechtigt erwiesen haben, fanden damals im allgemeinen recht
wenig Verständnis bei der Handel- und industriefreundlichen volkswirtschaft¬
lichen Publizistik. Zwar wurde im März 1899 auch von Sombart in der
„Sozialen Praxis" das von uns betonte Zurückbleiben des Exports hinter
der Produktionskraft und Produktion anerkannt, aber statt darin eine fehler¬
hafte Richtung, die unsre Volkswirtschaft eingeschlagen hatte, zu sehen, folgerte
er daraus das Gesetz der „fallenden Exportquote." Die kontinentalen Länder
Europas, meinte er, vor allein Deutschland, hätten bis in die Mitte der
achtziger Jahre hinein den Schwerpunkt ihrer industriellen Entwicklung that¬
sächlich mehr oder weniger in der Exportindustrie gehabt. Es wäre das die
„Periode der Internationalist des gewerblichen Kapitalismus" gewesen, der
nun seit einem Jahrzehnt die „Periode der Nationalisierung" gefolgt sei.
Zumal für Deutschland wäre diese Periode „evident." Von dem „märchen¬
haften industriellen Aufschwung des letzten Jahrzehnts" sei nur ein geringer
Teil dem Export zu gute gekommen: ein „wachsender" Löwenanteil entfalte
aus leicht erkennbaren Gründen ans den Jnlandskonsum. Die stoffvernrbei-
tende Thätigkeit müsse uncibweislich aus folgenden Gründen einen immer
breitern Spielraum in jeder Knlturnation einnehmen, möge nun der Export
eine Rolle spielen oder nicht: „erstens wegen der noch immer fortschreitenden
Einschränkung der längst noch nicht verschwnndnen hausgewerblichen Eigen¬
produktion; zweitens wegen der zunehmenden Ansprüche an den Konsum des
Lebens; drittens weil es in fortschreitendem Maße gelingt, die von der Land-
Wirtschaft zu liefernden Rohstoffe nicht nur immer mannigfaltiger und reicher
zu gestalten, sondern auch zu ersetzen , Daß sich Schule und Zunft
über solche Gesetzentdeckungen freuten, wunderte uns ebensowenig, wie daß
Georg von Mayr sie als „Pro-agrarische Argumente" ansprach und sich deshalb
dann wieder Sombart beeilte (Soziale Praxis vom 4. Mai 1899), als den
„eigentlichen Inhalt" seiner neuen Lehre vom März die „Feststellung der That¬
sache" zu bezeichnen, „daß unser Export sich in den Jahren 1882 bis 1895
langsamer entwickelt hat, als die gewerbliche Thätigkeit überhaupt" (also genau
das, was wir schon im Dezember 1898 nicht entdeckt, Wohl aber sehr nach¬
drücklich betont hatten), und lebhaft dagegen zu protestieren, daß er den Export
als cMintilo mög'liZ'öiMv betrachte.
Inzwischen (April 1899) hatte auch E. von, Halle in den Preußischen
Jahrbüchern, um die Grenzboten und die Soziale Praxis anknüpfend, die be-
sprochne Erscheinung erörtert und gleichfalls zur Formulierung eines neuen
„ökonomischen Gesetzes" verwertet, das folgendermaßen lautete: „Die Über¬
sättigung wirtschaftlich hoch entwickelter Länder mit Kapitalien, welche diese
steigendem, Maße dazu führt, Kapitalanlagen im Ausland zu machen, hat
Folge, daß diese Länder den relativen Umfang ihrer Warenexporte im
Verhältnis zur Gesamtproduktion und nach Erreichung eines gewissen Sätti-
gungszustaudes sogar die absolute Höhe der Exporte einschränken können, ohne
dadurch auf zunehmende Zufuhr von Bedarfsgegenständen für ihre Volks¬
wirtschaft verzichten zu müssen."
Recht hatte Halle, wenn er damals den beliebten schutzzöllnerischen Über¬
treibungen der Gefahr einer passiven Handelsbilanz für Deutschland den. Hin¬
weis auf die freilich längst bekannte Thatsache gegenüberstellte, daß nußer den
Exportgewinnen noch andre Einnahmen im Auslandsgeschäft unsrer Volks¬
wirtschaft zur Bezahlung der wachsenden Mehreinfuhr zur Verfügung stünden,
namentlich die Gewinne im internationalen Frachtverkehr und Vcrsicherungs-
geschäft, die Erträge im Ausland angelegter Kapitalien usw. Halle führte dann
seine bekannte Schätzung dieser ausländischen Bezüge Deutschlands ins Treffen,
die in die Milliarden ging, aber eben nichts als eine ganz unzuverlässige
Schätzung war, die bei eiuer möglichst wirkungsvollen Darstellung der „deutscheu
Seeinteressen" zum Zweck der Flottenpropaganda zwar gute Dienste leisten
konnte, aber — wie wir in einem Grenzbotcnartikel über „Deutschlands
Exportbedürfnis" vom 8. Juni 1899 (Heft 23) schon sagten — absolut nicht
ausreichte, Deutschland auch nur annähernd mit England als „übersättigt mit
Kapitalien" auf eine Stufe zu stellen oder auch nur annähernd unsre ertrag¬
reich im Ausland angelegten Kapitalien mit denen Englands zu vergleichen.
Auch der Hinweis auf sie — sagten wir — vermöge uns nicht die Besorgnis
zu verscheuchen, daß wir schon bis 1895 zu stark vom eignen Fette gezehrt
hätten, und daß wir so nicht weiter wirtschaften dürften, ohne Bankrott zu
machen. Halle zitierte damals selbst den Jahresbericht der Deutschen Bank
für 1898, worin das verhältnismäßig starke Ausströmen ausländischer Werte
aus Deutschland zur Begleichung der Zahlungsbilanz beklagt und ausdrücklich
gesagt war: „Wenn es unsrer, jetzt dnrch einen Schutzzoll von zwanzig bis
dreißig Prozent geschützten Landwirtschaft nicht gelingt, die für Deutschland
erforderlichen Nahrungsmittel selbst zu erzeugen, und wenn sich unsre Export-
industrie auf den ausländischen Märkten zurückdrängen läßt, so dürften unan¬
genehme Überraschungen nicht ausbleiben." Halle hielt diese Befürchtungen
damals für unbegründet. An ein unrichtiges Verhalten unsrer Industrie, die
massenhaft Rohstoff importierte und wenig Fabrikate exportierte, und die daraus
drohenden „Überraschungen" dachte weder Halle noch die Deutsche Bank.
Nach diesem vier Jahre zurückgreifendeu Präludium, das in der Haupt¬
sache nur die Entwicklung bis 1895 zum Thema hatte, ist für uns natürlich
die Frage von Interesse: Wie haben sich diese Verhältnisse in der „Auf¬
schwungsperiode" von 1895 bis 1900 und wie in der darauffolgenden „Wirt¬
schaftskrisis" weiterentwickelt? Wenn wie die Frage, soweit dazu sichere Unter¬
lagen vorhanden sind, zu beantworten versuchen, so liegt es uns fern, die sehr
komplizierten Ursachen und Wirkungen der heutigen Krisis auch nur annähernd
darstellen zu wollen, wozu doch vor allein auch die eingehende Erörterung des
vorangegangnen Aufschwungs gehören würde. Der Verein für Sozialpolitik
hat sich, wie verlautet, diese Aufgabe gestellt, und man kann den dadurch an¬
geregten Forschungen nur den besten Erfolg wünschen. Hier soll kurz betrachtet
werden, was die amtliche Statistik an wichtigen einschlägigen Auskünften liefert,
und das ist verhältnismäßig wenig. Eine neue Gewcrbezählung ist seit 1895
nicht veranstaltet worden. Die Produktionsstatistik von 1897 hat bestätigt
— was wir schon wußten —, daß unsre Industrie in diesem Jahre weitaus
in der Hauptsache für deu Jnlandkonsnm gearbeitet hat; über die Entwicklung
des Exports und der Exportindustrien vorher und nachher giebt sie keine Aus¬
kunft. Aber die alljährlichen Nachweise über einige der wichtigsten Produktions¬
zweige deuten die ungeheure Ausdehnung der Gewerbethätigkeit an. Die
Kapitalinvestierungen in der Industrie haben eine erstaunliche Höhe erreicht.
Ebenso das Abströmen von Arbeitern aus der Landwirtschaft zum Gewerbe.
Das ist ja gerade bekannt genug; einen statistischen Beweis dafür anzutreten,
ist hier nicht nötig. Ebensowenig dafür, daß diese Produktioussteigerung wieder
in besonders hohem Grade die Schaffung und Erweiterung der Prvdnttions-
cmlagen und Produktionsmittel zum Zweck und Ergebnis gehabt hat.
Wie weit ist nun dieser riesige Aufschwung unsrer Industrie dem Export
und der Handelsbilanz zu gute gekommen?
Un> darüber Auskunft zu erhalten, sind wir auf die Zahle» der Statistik
des auswärtigen Handels angewiesen, denen wir jetzt unser Augenmerk zu¬
wenden, und zwar hauptsächlich den in ihr verzeichnete» Ein- und Ausfuhr¬
werten, Ans die Mengen der umgesetzteu Waren näher einzugehn, würde zu viel
Zahlenwerk geben, Sie werden nur gelegentlich berücksichtigt werden. Die
Ein- und die Ausfuhrwerte, d. h. die Preise, die für die verschiednen Waren¬
gattungen beim Eingang in das deutsche Zollgebiet und beim Ausgang ans
ihm anzunehmen sind, werden schätzungsweise durch Sachverständige für jedes
Jahr ermittelt, und zwar für die Einfuhr und für die Ausfuhr besonders.
Natürlich können die so ermittelten Einfnhrwcrte nicht genau deu Kosten ent¬
sprechen, mit denen unsre Volkswirtschaft thatsächlich durch den Bezug (Ein¬
kauf und Transport) der Importwaren vom Auslande belastet wird, nud die
so ermittelten Ausfuhrwerte können nicht genau die Gewinne zeigen, die durch
den Verkauf der Exportwaren im Ausland unsrer Volkswirtschaft thatsächlich
zufließen. Sicher werden die Exportgewinne häufig sehr viel größer sein, als
sich aus den statistischen Ausfuhrwerten ergiebt, aber sie können auch kleiner
sein, zumal in Zeiten, wo, wie das jetzt vielfach geschehn soll, deutsche Pro¬
dukte mit Verlust exportiert werden, mag das nun mit oder ohne Export-
Prämie erfolgen. Die alljährlichen Schätzungen werden solche Umstände nie
vollständig berücksichtigen können. Das muß mau sich bei Benutzung der
Wertzahlen unsrer Handelsstatistik gegenwärtig halten. Trotzdem bleibt ihre
handelspolitische und volkswirtschaftliche Verwendbarkeit unangetastet. Sie
bieten das, was sich überhaupt statistisch ermitteln laßt, und sie sind und
bleiben die unentbehrliche, feste Unterlage, auf die wir uns neben den Menge-
Zahlen hauptsächlich stützen müssen.
Für das Jahr 1901 hat die Statistik im ganzen eine Einfuhr in: Wert
von 5710,3 Millionen Mark und eine Ausfuhr im Wert vou 4512,6 Millionen
unchgewiesen. Die Mehrcinfuhr oder die statistisch ungedeckte Mehrausgabe
w der Handelsbilanz belief sich danach auf 1197,7 Millionen Mark. Nach
dem „Statistischen Jahrbuch" (1902, Seite 78/79) setzen sich diese Summen
der Handelsbilanz von 1901 aus folgenden Hauptposten zusammen:
Millionen Mark
In den folgenden Berechnungen und Betrachtungen sind die Edelmetalle,
soweit sie uicht ausdrücklich genannt sind, nicht in Ansatz gebracht. Es war
das bei der Erörterung unsrer Frage entbehrlich. Unter den Nahrungs- und
Genußmitteln sind auch Fabrikate, z. B. Zucker. Bei ihnen ist der Ausfuhr¬
wert höher als der Einfuhrwert. Wir fassen sie durchweg mit den einschlägigen
Rohstoffen zusammen, wobei ihre Mehrausfuhr verschwindet. Der Mehrcinfuhr
von Nahrungs- und Gennßmitteln und Vieh, oder wie wir auch sagen können,
der Mehrausgabe für diese Waren in Höhe von 1446,1 Millionen Mark stünde
nach obiger Übersicht die Industrie mit einer Mehrausgabe von 1372,0 Mil¬
lionen Mark für Rohstoffe und einer Mehreinnahme von 1828,3 Millionen Mark
für Fabrikate, im ganzen also mit einer Mehreinnahme von 456,3 Millionen
Mark gegenüber. Das wäre die Leistung der Industrie für den Ausgleich
unsrer Handelsbilanz im Jahre 1961 gewesen. Dabei wird aber die Industrie
in ihrem Nvhstoffkonto zu stark belastet, da unter den oben in Rechnung ge¬
stellten „Rohstoffen für Industriezwecke" nach dem Wortlaut des „Statistischen
Jahrbuchs" drei Warengruppen mit enthalten find, die nur zu einem nicht
festzustellenden Teil Jndustriezwecken dienen. Die Ein- und Ausfuhr dieser drei
Gruppen stellte sich 1901 wie folgt:
Scheidet man diese drei Warengruppen (Brennstoffe, Abfälle usw.) aus dem
Rohstoffkonto der Industrie aus und stellt sie zusammengefaßt mit ihrer Mehr¬
ausgabe (Mehrcinfuhr) von 99,5 Millionen neben der Mehrausgabe von „Nah-
rungs- und Genußmitteln, Vieh" (1446,1 Millionen) als besondre Posten in
Rechnung, so vergrößert sich die Mehreinnahme der Industrie um 99,5 Millionen
auf 555,8 Millionen, und ebenso erhöht sich die Mehrausgabe für Brennstoffe,
Abfälle usw. und für Nahrungsmittel usw. zusammen um 99,5 Millionen auf
1545,6 Millionen. Zur Deckung dieser Mehrausgabe unsrer Handelsbilanz
von 1545,6 Millionen hat also im Jahre 1901 die Industrie eine Mehreinnahme
von 555,8 Millionen oder 36,0 Prozent beigetragen.
In der hier für 1901 ausführlich dargelegten Weise sind die nachstehenden
Zahlen des Jahrzehnts 1892 bis 1901 berechnet. Der Leser kann sich danach
selbst ein Urteil über ihre Berechtigung und Bedeutung bilden. (Vergl. die
Berechnung im „Deutschen Ökonomist" vom 8. November 1902.)
Nach der Statistik des auswärtigen Handels sind
Ungedeckt blieben also von der hier nachgewiesenen Mehrausgabe:
Rechnet man dazu die Mehreinfuhr von Edelmetallen:
so ergiebt sich die von der amtlichen Statistik nachgewiesene Passivsumme der
Handelsbilanz:
Unsre Rechnung hat nichts neues gebracht. Ihre Grundzahlen liegen
längst der Öffentlichkeit vor. Und doch wird sie vielleicht manchen überraschen,
der dem fortgesetzten Gerede von der gewaltigen Entwicklung unsrer Export¬
industrie und ihrer angeblich schon übermäßigen und unnatürliche» Bedeutung
für Deutschlands Volkswirtschaft Gehör gegeben hat. Leider hat die freihänd¬
lerische Parteiagitation die Förderung des Exports durch die Cnprivischcn
Handelsverträge unausgesetzt in den Himmel erheben zu müssen geglaubt; denn
wollte die Einseitigkeit' der .Flottenpropaganda den ..Seeinteressen" zu liebe
an dem Aufschwung gerade unsrer Exportindustrie auch in den von der See
entlegensten Neichstcilcn keinen Zweifel aufkommen lassen; endlich meinten die
Parteiagrarier, dadurch, daß sie die Vorstellung nährten, als ob Deutschland
dnrch die Handclsvertragspolitik über .Hals und Kopf zum Exportindustrie¬
staat hingetrieben wordeu sei, sich ein besonders zugkräftiges „pro-agrarisches
Argument" erhalten zu sollen. Das macht das zähe Fortbestehn des schon
°or vier Jahren von uns und andern bekämpften Vorurteils in der sogenannten
öffentlichen Meinung teilweis erklärlich. Und deshalb gerade schien es uns
"°lig zu sein, auch für die Zeit seit 1895 die Ausweise unsrer Statistik etwas
wehr ins Licht zu rücken, die, wenn sie überhaupt etwas beweisen können, jeden¬
falls das beweisen, daß der viel gerühmte, unerhörte industrielle Aufschwung
°er letzten neunziger Jahre die volkswirtschaftliche Bedeutung unsrer Export¬
industrie und unsers Exports nicht vorwärts sondern eher zurück gebracht hat.
Man könnte das wohl wieder als etwas ganz natürliches, ja selbst¬
verständliches bezeichnen wollen. Man könnte auch in diesem Falle wieder be¬
haupten wollen, das besonders kräftige Erblühn des nationalen Wirtschafts¬
lebens führe eben zur besonders kräftigen Belebung des Jmportbednrfnisses
und Abschwächung des Exportbcdürfnisses. Die zunehmende Passivität der
Handelsbilanz, das Verkümmern der Exportquote sei der beste Beweis für die
Blüte der deutschen Volkswirtschaft, für die Zunahme unsers Nationalreichtums,
für die „Übersättigung mit Kapitalien." von der Halle spricht, auch in Deutsch¬
land. Wenn wir im Verhältnis zur Einfuhr so wenig ausgeführt, im Ver¬
hältnis zum Einkauf so wenig verkauft hätten, so müßten eben um so reichlicher
deutsche Kapitalmassen im Ausland Gewinn bringend angelegt worden und thätig
gewesen sein. Eine solche Erklärung oder Bemäntelung der kläglichen Export¬
quote des letzten Jahrfünfts des neunzehnten Jahrhunderts ohne den striktesten,
zahlenmäßigen Beweis der tröstlichen Behauptungen ist aber geradezu eme
Sünde an der Nationalökonomie überhaupt und der deutschen Volkswirtschaft
im besondern. Nach allem, was man vom deutschen Kapitalmarkt in der
Hauptaufschwungszeit gehört hat, und vor allein nach dem Rückschläge von
1901 ist es viel eher wahrscheinlich, daß neben der kläglichen Handelsbilanz
des märchenhaften Aufschwungs auch eine sehr klägliche Zahluugsbilanz her¬
gelaufen ist. Wenn die Forscher des Vereins für Sozialpolitik darüber zu¬
verlässige Auskunft verschaffen würden, so wäre das sehr, sehr viel verdienst¬
licher, als wenn sie ein halbes Schock neue ökonomische Gesetze über Aufschwung
und Krisen entdeckten. Freilich zeigt unsre Zahlenreihe bis 1901 andrerseits
deutlich genug, wie blutwenig mit der Handelsbilanz allein und ohne weiteres
für die Beurteilung der Lage und der Entwicklung der Volkswirtschaft anzu-
fangen ist. Vor allem ist der Segen der rapid emporgeschnellten Exportquote
des Krisenjährs 1901 in hohem Grade problematisch.
Das gilt auch von der starken Abnahme der Einfuhr und von der Zu¬
nahme der Ausfuhr, die sich in den ersten neun Monaten des Jahres 1902
gezeigt haben. Die Werte der eingesetzten Waren sind freilich für dieses Jahr
uoch nicht ermittelt, aber auch die Verschiebung in der Menge der Ein- und der
Ausfuhr ist interessant genug. Es betrug uümlich — ohne die Edelmetalle —
in den neun Monaten Januar bis September der Jahre:
Wenn man, wie dies die „monatlichen Nachweise" des Kaiserlichen Sta¬
tistischen Amtes auch thun, für 1902 die für das Vorjahr ermittelten Werte
vorläufig einsetzt, so stellt sich die Handelsbilanz für die Periode Januar bis
September in den drei Jahren — gleichfalls ohne Edelmetalle — wie folgt:
Wären 1902 die Ein- und die Ausfuhrwerte in Wirklichkeit ebenso hoch
wie 1901, so wäre auf eine so günstige Handelsbilanz für das laufende Jahr zu
rechnen, wie wir sie im verflossenen Jahrzehnt niemals gehabt haben, was
allerdings zunächst immer nur ein Trost auf dem Papier sein würde. Aber
auch ans dem Papier wird wohl die Gunst der Handelsbilanz durch niedriger
eingeschätzte Warenwerte etwas getrübt werden."
Der Menge nach weist die Warengruppe „Eisen und Eisenwaren be¬
sonders beachtenswerte Zahlen aus. Es betrug in den neun Monaten Januar
bis September:
Fast noch auffallender sind die Verschiebungen der Zahlen, wenn man
die folgenden Rohstoffe und Halbfabrikate der Eisenindustrie für sich be¬
trachtet. Es sind nämlich in den ersten drei Vierteljahren von
Ein solches Forcieren des Exports von Rohstoffen und Halbfabrikaten kann
ein notwendiges Übel sein, aber ein Übel ist es für die deutsche Volkswirtschaft
auf alle Fälle. Die Forscher des Vereins für Sozialpolitik werden hoffentlich
gerade diese Krisenerscheinung eingehend untersuchen.
Wenn man unsers Erachtens durch die Ein- und die Ausfuhrzahlen seit
1895 in der Vermutung bestärkt werden muß, daß die Exportindustrie und der
Export Deutschlands auch in der Aufschwungsperiode eher vernachlässigt als
M sehr gepflegt worden ist, so wird man auch einsehen müssen, daß die noch
immer ab und zu aufgestellte Behauptung, das einseitige Poussieren des Exports
sei Schuld an der Krisis von 1901, ganz unhaltbar ist. Die Hauptursache
des beklagenswerten Rückschlags ist durchaus in der blinden, fast schwindelhafter
Spekulation auf einen unerschöpflichen Reichtum des innern Markes zu suchen.
Banken, Industrielle und Publikum waren wie besessen von dem Wahne unsrer
"Übersättigung mit Kapitalien," und das ganz natürlich in solchen Gründer¬
zeiten stark zunehmende Arbeitereinkommen machte vollends, daß mau die Be¬
denklichkeit der unsolider Wirtschaft zu lange übersah. Jetzt treffen uns die
Folgen schwer, hoffentlich nicht ohne nachhaltige Belehrung.
Aber freilich werden von den Parteien die allerverschiedensten Lehren daraus
abgeleitet werden. Das soll uns nicht anfechten. Mit Zahlen allein macht
man keine Politik. Aber wenn wir das, was die Zahlen sagen, und alles
andre, was man sonst seit sieben Jahren hat sehen und hören können, zu¬
sammennehmen, so sagen wir auch heute wieder mit Nachdruck: Unsre Zukunft
liegt auf dem Wasser! Wir brauchen ein größeres Deutschland! Gerade der
Aufschwung und die Krisis beweisen die dringende Notwendigkeit einer— freilich
von Jahr zu Jahr schwieriger gewordnen — weitansschauendcn, kräftig und
Zäh verfolgten Exportpolitik, die die gebotene Notstandshilfe für unsre Land¬
wirtschaft durchaus nicht ausschließt. Die Geschichte der letzten sieben Jahre,
der fetten wie der magern, liefert uns weder proagrarischc noch antiagrarische
Argumente. Wohl aber lehrt sie, daß Fortsetzung'der Handelsvertragspolitik
w verbesserter Auflage neben wirksamer Fürsorge für die landwirtschaftlichen
I
n Nummer 21 der Zeitschrift „Die Gegenwart" vom 24. Mai 1902
findet sich unter der Überschrift „Zu Befehl, Herr Leutnant" ein
kurzer Artikel, der es sich, an deu Gumbinner Prozeß anknüpfend,
zur Aufgabe macht, „weitere Kreise mit der Eigenart des untcr-
snchnngsfnhrenden Offiziers bekannt zu macheu." Gemeine ist
der Gerichtsoffizier. Zugleich werden kräftige Seitenhiebe gegen die Institution
des Gerichtsherrn geführt.
Aus dem Umstände, daß der Verhandlnngsleiter in dem Gumbinner Prozeß
Soldaten, die als Zeugen auftraten, darauf aufmerksam gemacht hat, daß
sie vor Gericht stünden und uicht die Autwort „zu Befehl" zu geben, auch
nicht stillzustehn brauchten, schließt der Verfasser des Artikels, daß dem deutschen
Soldaten der Respekt vor dem Vorgesetzten so in Fleisch und Blut übergegangen
sei. daß diese Gehorsamsgewöhnung die Rechtspflege im Heere lahmen könnte.
Besonders schwarz malt er die Folgen bei den Verhandlungen der niedern
Gerichtsbarkeit aus. Der uutersuchungsführende Offizier wird als ein viel zu
junger, vorn Kommandeur vollständig abhängiger Streber mit ungenügender
Schul- und Charakterbildung, ohne jede Menschenkenntnis und Lebenserfahrung
hingestellt, der nur eins wisse, daß er nach oben zu gehorchen, nach unten zu
befehlen habe. Seine Vorbildung beruhe auf einem sechswöchigem Studium
der Strafgesetzbücher und der Militärstrafgerichtsordnnng. In seiner Privat-
wohnung, mit einem Kameraden zusammen — so sagt die „Gegenwart" —
halte er zwischen seinen reichlichen Hauptgeschäften als Bataillonsadjntnnt, von
Eitbriefen unterbrochen, die Verhöre ab, nur darauf bedacht, schnell alles genau
so herauszubekommen, wie es der Kommandeur wünscht, oder dem Bild ent¬
sprechend, das dieser sich von der Sache gemacht hat. Es wird uun an den
Reichstag die Forderung gestellt, den nutersuchungsfnhrenden Offizier „als den
eigentlich schlimmsten Auswuchs unsrer Militärjustiz" schleunigst abzuschaffen
und durch eine» bürgerlichen Untersuchungsrichter zu ersetzen. Ein Gerichts¬
referendar oder jüngerer Assessor wird es allerdings nicht sein dürfen, denn
nach der „Gegenwart" erlangt der gebildete Durchschnittsmensch erst nach dem
dreißigsten Lebensjahre die Fähigkeit, sich mündlich und schriftlich klar und sicher
auszudrücken.
Bei dem Gumbinner Prozeß hat unsre junge Militürstrafgerichtsordiuing
eine ihrer ersten und wahrlich eine äußerst harte Probe bestanden. Der Fall
hat außerordentliches Aussehe» erregt. Er steht bis jetzt einzig in der Ge¬
schichte der preußischen Armee da und wird es auch, so hoffen nur zuversicht¬
lich, bleiben. Bei der Ungeheuerlichkeit des Gumbinner Falls und der Neuheit
des Verfahrens ist es nicht auffüllig, daß Reibungen eingetreten sind, die von
der Kritik, die bei der Beurteilung militärischer Einrichtungen vielfach besonders
scharf einzugreifen pflegt, in unzulässiger und übertriebner Weise ausgebeutet
worden sind. In dein Prozeß ist kann, eine Persönlichkeit thätig gewesen,
der man nicht mit oder ohne Grund etwas am Zeuge zu flicken gesucht hätte.
Die beteiligten Gerichtsherren mögen in dem Bestreben, rechtzeitig alle erforder¬
lichen Maßregeln zu treffe» und nichts zu versäumen, was zur Ermittlung
des Thäters' führen konnte, die eine oder die andre Anordnung getroffen
haben, die der Advokat mit irgend einem Paragraphen anfechten kann. Die im
großen und ganzen wohl tadellose Leitung der Verhandlung ist oft beanstandet
worden, Richter hat man für befangen erklärt, über das Plaidieren des Ver¬
treters der Anklage auf Totschlag statt auf Mord hat mancher den Kopf ge¬
schüttelt, einem Verteidiger sind grobe Taktlosigkeiten vorgeworfen; das alles
mag mehr oder weniger berechtigt sein. Aber die Behauptung, daß die Aus¬
sagen der militärischen Zeugen, wie in dem erwähnten Artikel gesagt wird,
durch die militärische Disziplin zum Schaden der Wahrheit beeinflußt worden
seien, erscheint vollständig unberechtigt.
Wir geben gern zu, daß es besonders bei eben eingetretneu Soldaten
Zuweilen zweckmäßig oder gar nötig sein wird, sie in der Weise, wie es der
Gumbinner Vorsitzende gethan hat, zu einer frischen Aussprache zu veranlassen.
Es ist aber ein Irrtum, zu glauben, daß die Scheu des Soldaten vor den,
verhörenden Offizier, wenn sie überhaupt vorhanden ist, größer sein wird als
vor dem uniformierten Kriegsgerichtsrat (Auditeur nennt ihn die „Gegenwart"
noch). Es würden sich leicht Fälle anführen lassen, in denen man das Gegen¬
teil nachweisen könnte. Es kommt eben ganz ans die Persönlichkeit an; und
daß sich der Offizier weniger als der Militärjustizbeamte der Pflicht bewußt
wäre, eine unbefangne, wahrheitsgetreue Aussage herauszubekommen, müssen
wir einfach bestreiten. Übrigens ist es in heutigen Zeiten mit der Scheu des
Soldaten nicht mehr so ängstlich, denn die Leute kommen schon recht „aufge¬
klärt" in die Armee, und es ist dafür gesorgt, daß sie ihre Rechte besser als
ihre Pflichten kennen. Der Verfasser des Artikels in der „Gegenwart" würde
diesen Punkt vielleicht nicht mehr so schwarz ansehen, wenn er sich selbst einige¬
mal in stand-, kriegs- oder oberkriegsgerichtliche Verhandlungen bemühen wollte.
Er würde Gelegenheit haben, zu beobachten, wie sowohl Angeklagte als Zeugen
fast ausnahmlos ihren Standpunkt recht wohl zu vertreten wissen. Der beste
Beweis für unsre Behauptung ist, daß recht ausgiebig, oft fogar in frivoler
Weise, von dem Rechtsmittel der Berufung Gebrauch gemacht wird. Wenn
bei dem Gnmbinner Prozeß in Einzelfällen entgegengesetzte Erfahrungen ge¬
wacht sein sollen, so erscheint es bei der Eigentümlichkeit des Falles nud der
Sensation, die er erregt hat, doch recht bedenklich, diese zu verallgemeinern,
Zumal da man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, daß gerade hier manche
Zeugen nicht recht mit der Sprache heraus gewollt haben, und es ihnen dann be-
quem gewesen sein mag, sich hinter die militärischen Formen zu verkriechen.
Es sei nunmehr erlaubt, etwas näher aus die Ausführungen in der „Gegen¬
wart" über den untersuchuugsführenden (Gerichts-)Offizier einzugehn. Vorweg
möchten wir bemerken, daß wir beim Lesen des Artikels den Eindruck gehabt
huben, daß der Verfasser ein guter Kenner des alten Verfahrens ist und vielleicht
vor Jahren selbst darin praktisch thätig war, dann aber allerdings unter be¬
sonders ungünstigen Umständen. Das Bild, das er sich von dem neuen Ver¬
fahren macht, scheint jedoch weder auf allzugenauer Kenntnis des Verfahrens
noch auf praktischen Erfahrungen zu beruhen. Der Gedanke, daß mit den neuen
Formen und Reformen auch ein neuer Geist in die Militärrechtspflege einge¬
zogen sein könnte, liegt ihm jedenfalls ganz fern.
Zunächst das mehr äußerliche. Die Hauptverhcmdlungen der Standgerichte
werden in geeigneten Kaserncnräumen, d. h. Geschäftszimmern, Schullvkaleu,
Bibliothekzimmern oder besonders für den Zweck verfügbaren Räumen abge¬
halten. Der Militürgerichtsschreiber, der nicht immer Bataillonsschreiber zu
sein braucht, muß einen Platz zum Arbeiten haben. Es stellt sich also das
Bedürfnis heraus, eiuen Raum zu haben, wo alle Gerichtsangelegenheitcn er¬
ledigt werden, und wo natürlich dann auch die Verhöre abgehalten werden.
Es wird also kaum noch vorkommen, daß derartige Vernehmungen in der Lent
nantswohnuug vorgenommen werden.
Daß der frühere Beisitzer vollständig abgeschafft und gewissermaßen durch
den Militärgerichtsschreiber ersetzt worden ist, scheint dem Verfasser gänzlich
entgangen zu sein. Bei besonders liegenden Verhältnissen, die man vielleicht
in der Persönlichkeit des zu Vernehmenden suchen müßte, kann ja ein Offizier
zur „Beiwohnung" kommandiert werden. Aber in einer längern Praxis ist
uns kein Fall, weder bei den Verhören der niedern noch der höhern Gerichts¬
barkeit, bekannt geworden, wo von dieser Befugnis Gebrauch gemacht worden
wäre. Die Bemerkungen über das „Milieu" in dem Gegenwartartikel sind
demnach nicht zutreffend. Nun ist es ja richtig, daß unter Umstünden der
Gerichtsoffizier ein jüngerer Offizier sein kann. Ist die Auswahl nicht sehr
groß, z. B. bei einzelnen Bataillonen oder bei kleinen Regimentern (Kavallerie,
Artillerie usw.), so wird oft ein Leutnant mit dem Amte beauftragt werden.
In der Regel jedoch und bei geschlossen liegenden Infanterieregimenten wird
man einen Oberleutnant nehmen, der durchaus nicht immer Adjutant zu sein
braucht. Es wird sogar meist zweckmäßiger sein, einen Frontvffizier zu wählen,
der je nach dem Umfang seiner augenblicklichen gerichtlichen Arbeitslast im
Frontdienst geschont wird. Nach der Rekruteneinstellung wird er vielleicht seine
gerichtlichen Geschäfte im Hauptamt, zur Zeit der Hcrbstübungcu im Nebenamt
führen. Weiter kann zugegeben werden, daß der Gerichtsoffizier häufig nur
über Kadettenschulbildung verfügt. Wie steht es denn aber mit der Schul¬
bildung vieler Subalternbeamten, Förster, Amtmänner, Amtsvorsteher usw.,
die im bürgerlichen Verfahren als Amtsanwälte thätig sind? Wieviele von
ihnen haben akademische Bildung? Noch nicht einmal die Einjährig-Freiwilligcn-
bildung wird für erforderlich erachtet! Ist es denn wirklich eine so große Sache,
die Vorgänge sachgemäß zu Papier zu bringen, um die es sich bei der niedern
Gerichtsbarkeit handelt, daß man es einem einigermaßen geweckten Menschen
erst nach dem dreißigsten Lebensjahre zumuten kann? Die standgerichtliche
Kompetenz ist bei dem neuen Verfahren auf das mindeste beschränkt. Außer
Übertretungen und einigen ganz leichten bürgerlichen Vergeh» sind ihr in der
Hauptsache nur noch ganz leichte Subordinatiousvergchn, Wnchvergehn und
sonstige Disziplinvergehn, bei denen die Disziplinarbestrafnng nicht mehr ganz
ausreicht, zugewiesen. Alle Vergehn, bei denen die juristische Qualifikation
mehr als die militärische in deu Vordergrund tritt, sind den Standgerichten
abgenommen; so können sie beispielsweise (im Frieden wenigstens) nicht mehr
wie früher über Diebstahl, Unterschlagung, Betrug usw. erkennen; auch ist ihnen
das Recht zur Verhängung von Ehrenstrafen entzogen. Die Folge dieser Ein¬
schränkung sonne der Einführung der Strasvcrfügung ist, daß die Zahl der
Standgerichte erfahruugsgemüß bei einem Regiment zu drei Bataillonen jährlich
auf etwa zwölf, das heißt im Monat eins, bei einem Kavallerie- oder Ar-
tillerieregiment auf halb so viel geschätzt werden muß.
Quantitativ ist es also nichts übermäßiges, was von dem Gcrichtsoffizier
verlangt wird; aber auch sonst hat sich die Rolle, die dem Gcrichtsoffizier zufällt,
vollständig gegen früher geändert. Während im alten Verfahren der Schwer¬
punkt der ganzen Verhandlung in dem Untersnchnngsverfahreu. also in der
Thätigkeit des untersuchuugsfnhrendeu Offiziers lag. ist dies jetzt absolut nicht
mehr 'der Fall, sondern der Schwerpunkt liegt in der mündlichen Hauptver-
handlung. Das ist nicht nur theoretisch beabsichtigt, sondern es ist in der
Praxis wirklich so. Dem Stabsoffizier oder dem Hauptmann, der die Ver¬
handlung leitet, wird man wohl soviel Selbständigkeit zutrauen können, daß
er sich wenig darum kümmert, was der Gerichtsoffizicr in dem Ermittlungs¬
verfahren zu Papier gebracht hat, wenn er aus der mündlichen Darstellung
»"n Zeugen und Angeklagten eine andre Auffassung gewinnt, und die beiden
Beisitzer (Hauptmann und Oberleutnant) sind auch ausreichend erwachsen, daß
sie eine selbständige, abweichende Ansicht zur Geltung bringen würden.
Der Gerichtsoffizicr, der übrigens nicht einmal notwendig derselbe zu
sei» braucht, der das Ermittlungsverfahren geführt hat, vertritt in der Haupt-
berhandlung nur die Anklage, und die Praxis lehrt, daß er sehr häufig mit
von ihm vorgetragnen Anschauungen nicht durchdringt. Schon der Um¬
sind, daß nicht wie früher der Gerichtsoffizicr, sondern der Vorsitzende das
Urteil ausarbeitet, giebt die Gewähr, daß die Auffassung der Richter und nicht
^e des Anklägers zum Ausdruck kommt.
Die Befürchtung, daß durch die militärische Autorität des Gerichtsoffiziers
absichtlich oder unabsichtlich das Recht gebeugt werden könnte, scheint uns
nach dem Gesagten durchaus ausgeschlossen, und vielleicht wird der Herr Ver¬
treter der gegenteiligen Ansicht nach deu obigen Ausführungen über den Um-
fang der niedern Gerichtsbarkeit selbst zugeben, daß bei der jetzigen Organisation
sür einen Negimentsjustizbemnteu kein Raum ist. Als gebildeter Mann müßte
^ ja vor Langweile umkommen und könnte nur errötend seinen Gehalt ein¬
streichen, Stände er zufällig bei einem Regiment mit verschiednen Garnisonen,
so müßte er wegen jeder außerhalb des Stabsquartiers vorkommenden frechen
Redensart usw. eine Reise macheu, und die Aufstellung der Rcisckosteuliquwation
würde vielleicht mehr Arbeit machen als der Fall selbst. Und nun noch un
Felde bei jeder Division sieben solcher Herren! Mit den sieben Burschen und
sieben Aktenkasten (siehe „Gegenwart") allein ist es nicht gethan. Die Herren
brauchen jeder noch einen Militärgerichtsschreiber und wollen doch nicht zu
F"ß gehn. Das macht für jede Division sieben Beamte, sieben Unteroffiziere,
sieben Burschen, sieben Trainfahrer vom Bock, vierzehn Stangenpferde, sieben
Fahrzeuge. Das dürfte für die Arbeitsleistung, die unsers Erachtens füglich vou
Leutnants nebenbei erledigt werden kann, doch wohl ein zu umständlicher und
auch zu kostspieliger Apparat sein.
Zum Schluß noch ein kurzes Wort über den Gerichtsherrn, der ja mich
sonst besonders solchen Leuten, die von dem Geist der preußischen Armee nicht
vollkommen durchdrungen sind, ein Dorn im Ange ist. Wir würden es für
einen der Armee äußerst gefährlichen Schritt halten, Kommandogewalt und
Gerichtsbarkeit zu trennen. Die Verantwortlichkeit für die Disziplin hängt
zu eng mit der Gerichtsbarkeit zusammen. Der Soldat darf auch in Straf¬
sachen keine andre Autorität kennen als die, die sich in seinen Vorgesetzten
verkörpert, sonst gerät die Armee auf eine schiefe Ebne. Glauben denn die
Gegner wirklich an die Mißstündc, die sie ausmalen? Man darf doch voraus¬
setzen, daß in die höhern Stellungen mit Gerichtsbarkeit nnr Männer kommen,
die wissen, daß Recht und Gesetz sich nicht nur mit Disziplin vertrüge, sondern
durchaus zusammengehört. Will man andrerseits im Ernst behaupten, daß die
Richter, besonders auch die drei bei den Standgerichten, fähig sind, sich durch
die thuen etwa bekannt gewordnen Ansichten des Regimentskommandeurs be¬
einflussen zu lassen? Das wäre ja jämmerlich! Trotz der kurzen Zeit des
Bestehns des neuen Verfahrens lehrt auch die Praxis schon, daß die ange¬
deuteten Befürchtungen unberechtigt sind. Die Spruchgerichte neigen durchaus
nicht dazu, sich der Ansicht des Gerichtsherrn oder der vom Vertreter der
Anklage vorgetragnen ohne weiteres anzuschließen. Das beweisen schon die
häusigen vom Gerichtsherrn sowohl zu Gunsten wie zu Ungunsten des An¬
geklagten eingelegten Berufungen, die in sehr vielen Füllen verworfen, also
gegen den Gerichtsherrn entschieden werden.
Kaum zwei Jahre ist die Militürstrafgerichtsordnung in Kraft. Das ist
zu kurz, als daß wir ein endgiltiges Urteil fällen könnten. Soviel aber ist
sicher, daß sie einen gewaltigen Fortschritt gegen früher bedeutet, und für uns
steht ebenso fest, daß grundsätzliche Änderungen in sogenannter liberaler Richtung
eine schwere Schädigung der Armee bedeuten würden.
Eilpost
des ober heute aus Luzern kurz nach neun Uhr vormittags mitem
trtzuo clirsttiLsiuro der Gotthardbabn abführt, der hat kurz nach
drei Uhr nachmittags das weiße „Marmorgcbirge" des Dono
von Mailand vor sich. In sechs Stunden legt er im bequemen
^ Wagen eine Strecke zurück, für die in frühern Zeiten auch dre
mehrere Tage brauchte. Er sieht dabei die großartige Gebirgslandschaft
ern Reußthals bis Göschenen und das kaum weniger imposante, nur
schon mildere Thal des obern Ticino von Airolo ab, er gelangt von dem
dunkelgrünen Gewässer des Vierwaldstätter Sees und den schönen Nußbäumen
seiner Ufer in drei Stunden bis zu den Edelkastanien um Bellinzona und
steht kurz danach den blauen Spiegel des Lago Maggiore schimmern, aber von
der wilden, starren Öde der Paßstraße über den Gotthard sieht er nichts, denn
300 bis 1000 Meter unter ihr führt ihn die schwarze Röhre des großen
Tunnels durch die Grcmitmasse des Gebirgsstocks. Das ist im Grunde be¬
dauerlich, denn der Gotthard gehört zwar weder zu den ältesten Alpcnpässen,
noch ist er besonders malerisch, aber seit seiner Eröffnung im spätern Mittel-
^ter ist er der wichtigste aller Übergänge von Deutschland nach Italien ge¬
blieben.
Eine sonst in der ganzen Ausdehnung der Alpen nirgends vorhandne
Gunst der Bodengestaltung und der Lage hat den Gotthard zu dem gemacht,
was er seit etwa sieben Jahrhunderten geworden ist. Die Alpen werden be¬
kanntlich „ach Osten hin immer niedriger, dehnen sich aber auch immer breiter
aus in Parallelketten und Längsthülern; die Paßhöhen sind also verhältnis¬
mäßig gering — sogar im Brenner nur 1362 Meter —, aber der Gesamtweg
^'es das Gebirge wird durch seine große nordsüdliche Breite je weiter nach
^few um so mehr verlängert. Am schmalsten ist das Hochgebirge im Westen
Mischen Montblanc und Mittelmeer, denn hier besteht es nur aus einer einzigen
^ete, aber die Paßhöhe ist viel beträchtlicher als im Osten; sie beträgt auf
^>n Mont Genevre 1»65 Meter, auf dein Mont Cents 2064 Meter, ans dem
Kleinen Se. Bernhard 2192 Meter. Am höchsten und mächtigsten türmen sich
^ Gebirgsketten in der Mitte, in der heutigen Schweiz auf, wo der riesige
^onde Rosa bis 4638 Meter, das trotzige Matterhorn bis 4505 Meter anf¬
ügt. Aber diese kolossale» eisgepanzerten Felsmassen gliedern sich durch die
'eiden großen Lüngsthüler der Rhone (Wallis) und des Vorderrheins (Grau-
unden) derart, daß in nordsüdlicher Richtung auf beiden Seiten immer nur
^"e Kette zu überschreiten ist, denn das Wallis öffnet sich nach dem Genfer
^ce, das Rheinthal nach dem Bodensee. Deshalb sind hier mehrere Pässe
^ uralter Zeit begangen worden, nachdem die ältesten Verkchrsrichtungen
^°>n Süden nach dem Norden, ans denen ursprünglich im Westen die Griechen
"u Massilia die Rhone herauf, die Etrusker in: Osten von den Pomündungen
^ das Hochgebirge umgangen hatten, in den Hintergrund getreten waren
direkten. Wegen Platz gemacht hatten. Diese Pässe fanden die Römer
^'r, als sie im Jahre 15 v. Chr., die Zentralalpen im Westen vom Genfer
im Osten durch das Vintschgau und über den Arlberg nach dem Bodensee
Wi umfassend, bis zur obern Donau vordrangen und die neue Grenzprovinz
^allen gründeten, zu dieser das Oberrheinthnl und das Wallis, zu Gallien die
""'schenariue schweizerische Hochebne bis gegen die Berner und Urner Alpen
^" schlugen.
Seitdem begannen sie einerseits die Pässe nach dem Wallis (Vallis Poenina),
andrerseits die Übergänge nach dem Oberrheinthale (Naetia) in ihrer Weise mit
Militürstraßen auszubauen. Zuerst kam der Große Se. Bernhard, der Mons
Jovis an die Reihe, weil er trotz seiner Höhe (2491 Meter) und dem überaus
rauhen Klima, das ihn nur zwei Monate lang (Juli und August) schneefrei
läßt, die kürzeste Verbindung vom Längsthal der Dora baltea nach dem Wallis
war und ist. Schon Cäsar hatte im Jahre 57 v. Chr. den nördlichen Aus¬
gangspunkt des längst von Händlern vielbcnutzten Weges, Octodurus, das
heutige Martigny, militärisch besetzen lassen; Augustus gründete am südlichen
Endpunkte im Jahre 25 v. Chr. nach der Vernichtung der keltischen Salasser
die Prütorianerkolonic ^.uAustg. ?rg,se,oren LalAssoruin, das jetzige Aosta, das
noch heute die Mauern und Türme der römischen Sperrfestung bewahrt, und
begann wohl auch den Ausbau der Militärstraße. Auf der Paßhöhe, in Lumina
^osnino, erhob sich der Tempel des wohl einheimischen Jupiter Poeninus,
und zahlreiche Weihgeschenke, Münzen und Votivtafeln aus Bronze, die der
kleine, acht Monate lang zugefrorne See daneben aufnahm, bezeugen ebenso
den regen Verkehr wie die Gefährlichkeit des Übergangs. Jedenfalls blieb
dieser Paß im Altertum weitaus der wichtigste nach dem nördlichen Gallien
und dem Rheinlande, sodaß die ganze Kette von ihm die Alpes Poeninae hieß-
Denn der Kamm ist bis an den Gotthard vergletschert, nur der Simplon
(2009 Meter) gewährt einen eisfreien Übergang, ist auch, wie eine Inschrift
vom Jahre 194 oder 225 n. Chr. bei Vogogna oberhalb Dono d'Ofsola
zeigt, benutzt worden, aber nur für den Ortsverkehr, da das obere Wallis von
den wichtigste!? römischen Verbindungslinien viel zu weit ablag und von den
Römern offenbar wenig berührt worden ist; es fehlen hier römische Inschriften
überhaupt. Von den vergletscherten Übergängen weiter ostwärts ist der Theodul-
paß (Matterjoch, 3322 Meter) zwischen dem Matterhorn und dem Monte Rosa
von einzelnen Reisenden gelegentlich begangen worden, wie denn einer von
ihnen, der dabei umgekommen sein wird, seine Barschaft (22 Kaisermünzen
aus der Zeit um 350 n. Chr.) im Gletschereis zurückgelassen hat. und noch
heute bewacht ein schweizerisches Zollamt in Zermatt diese vermutlich auch von
Schmugglern oft benutzten hohen, vereisten Pässe, die hier zusammenlaufen-
Wenn nun aber auch das obere Wallis von römischer Kultur wenig berührt
wurde, so muß doch eine westöstliche Verbindung über die Furka, das Urscrem
thal und den Oberalppaß bestanden haben, denn das ganze Wallis gehörte
zur Provinz Rätier, muß also von ihr aus erreichbar gewesen sein- Ä'^)
sind sämtliche Ortsnamen an der ganzen Linie romanischen Ursprungs-
Im Osten wurden die Übergänge nach dem Rheinthal dadurch erleichtert,
daß von Süden her die langen Querthäler des Lago Maggiore und ^
Comerse
jenemvon <ÄUden her die langen ^uierthaler des ^ago Ncaggwre i">"
^rsees mit ihren Fortsetzungen tief in die Gebirgsmasse einschneiden. Von
i führt der Lukmanier (Lucomagno, 1917 Meter) nach dem Vorderrhem-
thal, der Bernhardin (Vogelberg, 2063 Meter) mich dem Hinterrhein, vom
Comersee gehn ebenfalls nach dem Hinterrhein hinüber der Splügen (2117 Meter),
der Septimer (2311 Meter) und der Julier (2287 Meter), der freilich erst über
einen andern Paß, die Maloja (1811 Meter), vom Bergell her durch das
obere Engadin zu erreichen ist, aber vor den Übergängen gleicher Höhe den
großen Vorzug hat, das; er zeitiger als sie schneefrei wird und keinen Lawinen
ausgesetzt ist.
Alle diese Straßen konvergieren im Norden nach Chur (Curia), im Süden
nach Mailand. Von ihnen sind unzweifelhaft die meisten schon in römischer Zeit
benutzt worden. Die römische Straße über den Bernhardin wird noch jetzt
gern begangen, am Splügen ist der alte Fahrdamm auf der Nordseite strecken¬
weise noch gut erhalten, auch die Strnßenreste um Septimer scheinen römisch
zu sein, und der Julier trägt noch zwei antike Meilensäulen aus Glimmer¬
schiefer sowie deutliche Wageuspureu auf der Straße; überdies sind die Namen
beider Pässe römischen Ursprungs, so gut wie der des Lnkmaniers.
Von den modernen Alpeustraßen, die eine möglichst geringe Steigung
erstreben und zwar viel schmaler, als Straßen in der Ebne, aber immerhin
doch so breit sind, daß zwei Wagen einander ausweichen können, sind die
Römerstraßen wesentlich verschieden. Sie sind zunächst meist viel steiler, nehmen
also auf die Bequemlichkeit sehr wenig Rücksicht. Die Straße über den Großen
Se. Bernhard erklimmt die Paßhöhe, etwa 1900 Meter über Aosta (598 Meter),
auf einer Strecke von nur 25 römischen Meilen (37,5 Kilometer), steigt dem¬
nach durchschnittlich schon etwas über 50 Meter ans den Kilometer, nach der
Paßhöhe hin viel stärker. Sodann betrug die Breite der Straßen nur 1,60
bis 2,50 Meter, reichte also streckenweise nur für Saumtiere, nicht für Wagen
aus. Gleichwohl ist der Verkehr auch im Winter weiter gegangen. Den Großen
Se. Bernhard überschritten sogar die niederrheinischen Legionen des A. Cüeina
im Kriege gegen Galba mit allem Troß zu Anfang des Jahres 69 n. Chr.,
also mitten im Winter, ohne daß von dieser erstaunlichen Marschleistung viel
Aufhebens gemacht wurde (Tacit. Hist. I, 70).
Mit dem Zusammenbruche des weströmischen Reichs verfiel auch sein gro߬
artiges Straßennetz, dessen gleichen die Alpen erst seit dem Anfange des neun¬
zehnten Jahrhunderts wieder erhalten haben. Denn mit der Ablösung der
Glieder verschwand das Bedürfnis einer schnellen und sichern Verbindung der
Provinzen untereinander und mit der Welthauptstadt am Tiber, und den
bedürfnisarmen Germanen, die jetzt hier herrschten, waren die zahlreichen
Produkte des Südens entbehrlich; auch der Verkehr also schlief zwar nicht
ganz ein, aber er ermattete. Wenn er sich einigermaßen erhielt, so verdankte
er dies meist den kirchlichen Instituten. Das altrömische Bistum Chur, das
zuerst 452 auftaucht, dann wieder im sechsten Jahrhundert vorkommt, 613 auf der
Pariser Shuode vertreten ist und sich seitdem ununterbrochen erhalten hat, stand
lange mit Mailand in Verbindung. Dazu kamen einzelne Klöster in den Thälern
der Zentralalpen. Se. Maurice im untern Wallis soll schon im vierten Jahr¬
hundert gegründet worden sein, an der Stelle, wo nach der Legende 320
Mauritius mit den Leuten seiner thebanischen Legion den Märtyrertod starb.
und im öden Thal des Vorderrheins entstand um 614 Diseutis (Visiere,
w ässertis) durch den heiligen Sigisbert, einen Schüler des Iren Columba. Beide
Stiftungen waren Mittelpunkte höherer Kultur für ihre Kreise und nicht denkbar
ohne eine gewisse Verbindung mit Italien. Disentis erwarb lind christianisierte
das damals noch romanische Urserenthal, dessen älteste Kirche dem heiligen
Columbanus geweiht ist und schon 766 erwähnt wird. Aber die Sorge für
die Erhaltung der alten Straßen blieb den Anwohnern oder den einzelnen
Staaten überlassen, und da sie aus diesen Gründen nur höchst unvollkommen
ausgeübt wurde, so fielen die Straßen einer Verwahrlosung anheim, die sie auf
lange Strecken unwegsam machen mußte. Erst allmählich trat die Kirche, die in
so manchen Stücken die Erbschaft des römischen Reichs übernahm, einigermaßen
in die Lücke ein, in je weitern Kreisen nämlich die Vorstandschaft des Papst¬
tums Anerkennung fand. Denn sie hatte schon ein geschäftliches Interesse an
der sichern Verbindung ihrer Diözesen mit Rom und bedürfte namentlich für
ihren Kultus der Zufuhr südländischer Waren. Freilich wurde eine Ober¬
leitung in dieser Beziehung nicht hergestellt; es wurde vielmehr den einzelnen
Klöstern und Bistümern überlassen, für den Verkehr auf den Strecken, die für
sie wichtig waren, zu sorgen, und so blieb es während des größten Teils des
Mittelalters. Auch als zunächst ans den Bedürfnissen des römischen Papst¬
tums heraus eine feste politische Verbindung mit dein Fraukenreiche geknüpft
und die Wiederherstellung des weströmischen Reichs unter den Karolingern
gelungen war, also seit den letzten Jahrzehnten des achten Jahrhunderts, er¬
hielten die Alpcnstraßen einen Teil ihrer alten politischen Bedeutung als
militärischer Verbindungslinien zwischen dem Norden und Italien zurück, und
mehr als fünf Jahrhunderte lang haben Karolinger, Sachsen, Salier, Hohen-
staufen, Welsen ihre „Römerzuge" über die Alpen geführt, aber für die Straßen
selbst nichts gethan, weil sie über eine wirkliche Zentralverwaltung gar nicht
verfügten. Zugleich wuchs der Handelsverkehr, seitdem die Kreuzzüge auch
die nordeuropäische Laienschaft zu höhern Bedürfnissen erzogen hatten.
Nicht alle Pässe der Zentralalpen haben in dieser ganzen Periode die¬
selbe Bedeutung gehabt, und nicht alle haben sie gleichmäßig bewahrt. Diese
war vielmehr vielfach von der Veränderung der politischen Verhältnisse und
von der Verschiebung des politischen Schwerpunkts im Deutschen Reiche ab¬
hängig. Lag dieser unter den Karolingern in Nordfrankreich und im Rhein^
lande, so verschob er sich später erst nach Sachsen, dann nach Franken, end¬
lich nach Schwaben. Deshalb war der Große Se. Bernhard der politisch
wichtigste Paß nur bis zur Begründung des burgundischen Reichs 888 und
erhielt diese alte Bedeutung auch nicht ganz wieder zurück, als dieses 1032
mit dem Deutschen Reiche vereinigt wurde, ohne daß der Handels- und
Neiscndenverkehr in dieser Zeit zurückgegangen wäre. Im achten und im nennten
Jahrhundert diente er häufig den Märschen der Karolinger: 773 Bernhard,
dem Oheim Karls des Großen, 776 und 801 diesem selbst ans der Rückkehr,
875 und 877 Karl dem Kahlen, 879 Karl dem Dicken, 894 dem letzten Kaiser
des Hauses, Arnulf vou Körnten. Seit 1032 überschritten ihn auch wieder
deutsche und italienische Heereszüge: schon 1034 die Scharen des Erzbischofs
Aribert von Mailand, 1110 Heinrich V.. 1133 ein Teil des zurückkehrenden
deutschen Reichsheeres, 1158 Herzog Berthold von Zähringen, 1162 Friedrich
Barbarossa, 1166 Erzbischof Rainald von Köln, 1196 Heinrich VI., und für
den ganzen Nordwesten Europas bis nach Island blieb diese Alpenstrnße weit¬
aus die wichtigste. Auch der Simplon wurde begangen, kam aber für den
Fernverkehr wenig in Betracht, da er zu sehr abseits lag. Für die deutschen
Kaiser traten neben dem Brenner, der eigentlichen Kniserstraße nach Italien,
auf die von den 144 Alpenübergängen der Kaiser 66 fallen, die Graubündner
Pässe in den Vordergrund, da sie von Schwaben her am bequemsten zu er¬
reichen waren; die sächsischen Kaiser haben sie nachweislich achtmal überschritten.
Dabei spielte der Septimer, den unter andern Heinrich VI. 1191 und 1194,
Otto IV. 1212 benutzte, die Hauptrolle; nur selten dienten der Splügen und
der Luünanier deutschen Heereszügeu, der Lukmanier 965 Otto dem Großen.
Deu für solche unbequemen Umstand, daß diese Straßen auf der italienischen
Seite in zwei Seen ausmündeten, scheute man dabei selten, wenn nur der
Weg militärisch sicher war, und für den Handelsverkehr bot der Wassertransport
geradezu Vorteile.
Wie sehr die Kaiser die Bedeutung der Kirche, ihrer Bistümer und Klöster
für die Alpenpässe zu schätzen wußten, zeigt ihre Politik seit Otto I. Durch
dessen Verfügungen von 951, 952 und 960 erwarb das Bistum Chur die
Herrschaft über die Hinterrheinpnsse bis Chiavennn, dem Knotenpunkte der
Straßen vom Splügen und aus dem Bergell. Chiavenna selbst wurde nnter
Friedrich Barbarossa eine schwäbische Grafschaft. Auch schwäbische Klöster,
wie Se. Gallen, Reichenau, Pfüffers, Disentis, hatten seit den, neunten und
Zehnten Jahrhundert Besitzungen im Süden der Alpen, Disentis beherrschte
mit dem Urserenthal mich die westöstliche Verbindungslinie zwischen dem
Rhein- und dem Nhouethal. Allmählich entstanden kirchliche Herbergen (Hospize)
an diesen Straßen, namentlich auf den Paßhöhen zur Aufnahme der Reisenden,
or allem der Pilger. Das älteste Hospiz am Großen Se. Bernhard, das
jetzige Bourg Se. Pierre (adv-M-z, nordi8 ^ovis Sanoti ?etri) auf der Walliser
Seite, wird schou 859 erwähnt; das Hospiz auf der seitdem nach ihm ge¬
nannten Paßhöhe gründete der heilige Bernhard von Menthon (1' 1086), und
bald wurde es durch eine Kette von Herbergen an den Straßen im Norden
und im Süden der Alpen ergänzt. Auf dem Septimer erneuerte Bischof Wido
bon Chur (1095 bis 1122) eine viel ältere Stiftung, und sein Bistum unter¬
hielt Herbergen längs der ganzen Septimerstraße; ans dem Simplon bestand
1235 ein Hospiz des Johanniterordens. Auch Hospenthal in Nrseren ist wohl
uns einem Kosxiweuluin des Klosters Disentis hervorgegangen. Das Vor¬
dringen deutscher Ansiedler in die ursprünglich und zum Teil ja noch heute
rätisch-romnuischen Hochthäler trug wesentlich dazu bei. den Paßverkehr für die
nordischen Reisenden und Kriegers'charen zu sichern. In den ersten Jahrzehnten
des dreizehnten Jahrhunderts wurden das obere Wallis (wohl über die Gemmi
vom Verner Oberland her) und von hier aus das Urserenthal deutsch besiedelt,
nach 1270 die Thäler des Rheiuwalds (nach dem Splügen und Bernhardin
hin) und von Avers (nach dein Septimer und Julier zu). Die Paßhöhcn
selbst aber sind bis heute alle romanisch geblieben.
Trotz solcher Erleichterungen blieb der Verkehr doch mühsam genug. Denn
die Straßen waren zu schlecht unterhaltenen Saumpfaden geworden, die den
Wagenverkehr ausschlossen, sie führten oft genug an schwindelnden Abgründen
vorüber und waren von Lawinen und Schneeverwehungen bedroht. Deshalb
nahmen diese Übergänge auch verhältnismäßig viel Zeit in Anspruch, die Strecke
von Martigny bis auf die Paßhöhe des Großen Se. Bernhard z. B., die
man heute zu Fuß in zwölf Stunden zurücklegt, zwei Tage. Aber der Ver¬
kehr ging während des ganzen Jahres fort, und es gehört sicher zu den er¬
staunlichsten Leistungen der Kriegsgeschichte, daß die schweren Geschwader der
deutschen Ritterschaft diese rauhen Pässe zuweilen auch im Winter über¬
schritten haben. Wenn die mittelalterlichen Menschen für die wilde Schönheit
des Hochgebirgs keinen Sinn hatte«,, so war das nicht nur in ihrem ganz
anders gearteten Naturempfindcn, sondern ebenso gut in deu sie bei ihren
Alpenmärschen beständig bedrohenden Gefahren begründet; ihnen konnten die
Alpen nur als furchtbar und schrecklich erscheinen.
Bei der raschen Steigerung des Verkehrs im Mittelalter muß es auffalle»,
daß die kürzeste nordsüdliche Verbindung in den Zentrnlalpc», der Gotthard,
ebenso unbenutzt blieb wie in der Römerzeit, die doch den Bergstock kannte
und ihn Mons Aduln nannte. Ein Blick ans die Karte lehrt doch, daß sich hier
zwei tiefeiuschueidende Querthüler bis auf wenig Stunden nähern, vom Norden
her der Vierwaldstütter See mit dem Thal der Neuß, von Süden der Lago
Maggiore mit dein Thal des Tieino (Val Leventina und Val Tremola). Nur
das Gotthardmassiv schiebt sich dazwischen, das in der Luftlinie von Göschenen
bis Airolo nur 15 Kilometer breit ist, und die Paßhvhe selbst bleibt mit
2114 Metern wesentlich unter dem Großen Se. Bernhard. Es ist die schmalste
Stelle der Zentralalpen, und uur diese eine Kette muß hier überschritten
werden, wenn man auf einer geraden Linie ohne alle Umwege von deutschem aus
italienischen Boden gelangen will. Erst vom Gotthardstock verzweige» sich die
Alpenketten gabelförmig von Osten nach Weste»; die nördlichen Hunger hier mit
ihm durch den Rücken der Furka. dort durch den ähnlichen Rücken der Oberalp
zusammen. Besonders großartig und auffällig tritt das hervor, wenn man
auf der Paßhöhe der Furka über dem Nhonegletscher stehend, der in wild-
zerrissenen Eismassen zu Thale stürzt und dorthin die junge Rhone als eine»
rasche» grauweißen Bach nach dem Mittelmeer entläßt, auf der einen Seite
die furchtbaren Zacke» des Galenstocks und die erhabne» eisbedeckten Fels¬
hörner des Berner Oberlands mit dem riesigen Finsteraarhorn in der Mitte,
ans der andern die fernern breiten Schneegipfel der Walliser Alpen und da¬
zwischen tief eingesenkt das Nhonethal sieht. Diese zentrale Lage des Gotthards,
eines „königlichen Gebirges," schildert schon Goethe in seinen Briefen von
1779 höchst anschaulich. In der deutschen Kaiserzeit hätte er, sollte man
meinen, besonders anlocken müssen, denn er bot die kürzeste Verbindung zwischen
Mailand und Basel, zwischen dein Zentrum des Poticflaudes und der ober¬
rheinischen Tiefebne, den höchst kultivierten Gebieten des deutsch-römischen
Reichs im Mittelalter. Für Heerzüge war freilich der Vierwaldstütter See
oder vielmehr sein südlichster Teil, der Urnersee, mit seinen pfadlosen Fels¬
wänden el» ernsthafteres Hindernis als an der Südseite der zahmere Lago
Maggiore, aber für den friedlichen Verkehr erleichterten diese schönen, tief ins
Gebirge eindringenden Wasserstraßen in der erwünschtesten Weise den Transport
auf ziemlich lange Strecken. Wie kommt es also, daß Jahrhunderte diese
Vorzüge nicht ausbeuteten, obwohl das Ursereuthal seit der Römerzeit be¬
kannt war, daß niemals ein deutscher Kaiser über den Gotthard geritten ist,
daß dieser Paß unter allen großen Alpenübergängen am spätesten eröffnet
worden ist?
Die Erklärung liegt in einem rein örtlichen Hindernis, das Stein und
Holz, die einzigen Baumaterialien des frühern Mittelalters, nicht zu über¬
winden vermochten. Unterhalb des Nrserenthals füllt die Reuß den schmalen
Spalt, den sie zwischen den Felswänden des Bützberges und des Teufelsberges
durchgenagt hat, so völlig aus, daß nicht der schmalste Rand für den Menschen-
fuß übrig bleibt, und ebensowenig war die Stelle zu umgehn, es sei denn
auf Jägerpfaden, die keinen Warcntrcmsport zuließen. An dieser über 60 Meter
langen Felswand hat nun um 1220 ein erfinderischer Kopf, vielleicht der
Schmied von Urseren, an eisernen Ketten eine Holzgalerie aufgehängt, die,
vom Wasserstande der Reuß beständig eingehüllt, den Namen der „stäubenden
Brücke" erhielt. Zugleich muß unterhalb über die gähnende Schlucht, in der
die Reuß donnert und schäumt, die erste „Teufelsbrücke" gelegt worden sein,
um kühnes Werk, das nicht von Menschenhand geschaffen zu sein schien und
also später, als der Erbauer längst vergessen war, dem Teufel zugeschrieben
wurde. So war die Verbindung durch die Schöllenenschlucht zwischen Urseren
und Uri eröffnet, und weiter haben die Männer, die fie herstellten, kaum ge¬
dacht. Aber sie hatten unbewußt den bequemsten Alpenweg und damit eine
neue Welthandelsstraße eröffnet, die rasch alle übrigen Pässe der Zentralalpen
überflügelte. Im Jahre 1236 war sie schon so bekannt, daß der Abt Albert
von Stade auf der Rückreise von Rom über den Berg Elvelinus, den Gotthard,
ging, und sofort griff auch das Kaisertum zu, sich dieses Passes zu versichern.
Wenigstens kaufte König Heinrich (VII.). der Sohn und Stellvertreter Kaiser
Friedrichs II., 1231 die Vogtei über Uri vom Grafen Rudolf I. von Habs-
l'ung, der sie für das große Fraueumüuster in Zürich (die Grundherrschaft des
V^eUum Urvnias seit 852) ausübte, für das Reich zurück. Friedrich II. zog
1240 mit dem Mailändischen Kirchengut auch das Livineuthal ein und bestätigte
Landschaft Uri (zugleich mit schosz) ihre unmittelbare Stellung zum Reich,
h. er entzog sie der Amtsgewalt des Grafen im Zürichgau (der Habsburger)
und stellte sie' uuter einen Reichsvogt. Als solcher galt seit 1273 der von den
Thalleuten freigewählte Landammann. Ebenso trennte wohl Friedrich II. die
logtet Urseren von der Reichsvogtei über das Kloster Disentis, zu dem das
Thal von jeher gehörte, und gab sie an die Grafen von Rapperswil (am
Züricher See).
Aber mit dem Ende der Hohenstaufen und dem Zerfalle der Reichs-
gewalt seit der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts fiel die Herrschaft über
do Gotthardstraße dem reichsfreien Uri zu, und je mehr sich der Verkehr hier
entwickelte, desto mehr verwandelten sich die Bauern und Hirte», bis dahin
Hinterwäldler in einem abgeschlossenen Gelnrgswiukel, aber von alters zu-
sammeugehalteu durch die Markgenossenschaft, aus der die politische QorninumtÄS
Uroni-uz noch vor 1286 erwuchs, in kühne, weitschauende Unternehmer und
ausgreifende Politiker: an der Gotthardstraße und ihrer nördlichen Fortsetzung
über Luzern nach Basel bildete sich der Kern der Eidgenossenschaft, als ein „Pa߬
staat," natürlich nicht in dem Sinne, daß sie durch den Paß ins Leben gerufen
worden wäre (sie entstand vielmehr aus dem Streben der um den Vierwald-
stätter See liegenden Bauernlandschaften nach möglichster Freiheit), wohl aber
in dem Sinne, daß die neue Straße sie noch reger verband und sie auch für
die Nachbarn wichtig machte. Deshalb stand sie im Kampfe mit den Habs¬
burger», die die Erbschaft der Hohenstaufen anzutreten versuchten, auf der einen,
mit dem mächtig aufstrebenden Mailand auf der andern Seite. In noch nicht
einem Jahrhundert, zwischen 1291, dem ersten Bündnis der drei Waldstätte,
und 1388, dem Jahre des Sieges von Näfels, war die Eidgenossenschaft durch
den Beitritt von Luzern 1334, Zürich 1351, Glarus und Zug 1352, Bern 1353
(den acht alten Orten) fertig und eine Macht geworden, deren Bedeutung nicht
zum wenigsten auf der Beherrschung der Gotthardstraße beruhte. Bald griff
sie — oder zunächst Uri —, von diesem Interesse geleitet, nach Süden hinüber.
Das Urserenthal, sicher voll Anfang an eine Markgenossenschaft und wie ein
geographisches, so auch ein politisches Ganze, erhielt 1382 vom König Wenzel
das Recht, seinen Landammann selbst zu wählen, und schloß 1419 ein „Burg¬
recht" mit Uri, woraus allmählich die Verschmelzung beider Landschaften er¬
wuchs. Das Livinenthal war etwa 1356 mailändisch geworden, aber 1403
nahm Uri es in Besitz, eroberte 1419 sogar Bellinzona, den Schlüssel des
Ticinothals, verlor es zwar wieder 1422 nach der Schlacht bei Arbedo, eroberte
es aber, von den übrigen Urkantonen unterstützt, 1599 zum zweitenmal und
unterwarf 1512 auch das übrige Tessin als Unterthanenlandschaft, in dem¬
selben Jahre, wo die Bündner, ebenso über die Paßhöhen südwärts hinaus-
greifend, Bornno, das Baldur und Chiavenna besetzten. Fortan also lag die
Gotthardstraße in ihrer ganzen Ausdehnung von Flüelen bis Bellinzona in
einer Hand; und so ist es bis heute geblieben. Aber die nationalen und
kirchlichen Verhältnisse wurden dadurch nicht berührt. Die Paßhvhe blieb
italienisch, wie sie auch noch heute zum Kanton Tessin gehört, und vou Mailand
aus ging dort die Errichtung einer Kapelle des heiligen Gotthard, des Bischofs
von Hildesheim 1038), der 1131 heilig gesprochen worden war und wie
anderwärts so auch in Mailand verehrt wurde, deshalb hier eine Kirche und
einen bürgerlich begangnen Festtag (4. Mai) hatte; daneben entstand ein HosM,
das zuerst 1331 erwähnt wird. Seit dieser Zeit verdrängte der Name des
deutschen Bischofs die alte Benennung des Passes; er gilt schon um tap
Jahr 1303.
(Fortsetzung folgt)
omer allein ausgenommen hat kein griechischer Dichter einen
solchen Einfluß auf die Nachwelt ausgeübt wie Euripides, der
jüngste der drei großen Tragödiendichter des fünften Jahrhun¬
derts v. Chr, Von seinen Zeitgenossen freilich wurde er nicht
recht verstanden, denn nur fünfmal gelang es ihm, an den tra¬
gischen Wettkämpfen, an denen er sich wenigstens zweiundzwanzig mal beteiligte,
Wien Sieg zu erringen, und die Dichter der alten Komödie, Aristophanes an
^ Spitze, sielen mit bitterm Hohn und Spott über ihn her. Aber schon die
unttlere und die neuere Komödie nahm sich in ihren Motiven die kunstvolle und
ginnend verflochtne Handlung der enripideischen Tragödie zum Vorbild, und
e>n Euripides vorzugsweise entnahm Aristoteles seine Normen für das Wesen
Und die Wirkung der Tragödie. Sein großer Schiller Alexander schätzte den
Euripides nächst Homer vor allen andern Dichtern, und fast alle spätern grie¬
chischen Schriftsteller von Bedeutung nehmen irgendwie Stellung zu ihm oder
stieren ihn wenigstens. Viele seiner Aussprüche wurden zu geflügelten Worten
^ kommen als solche sogar in der Apostelgeschichte und in den paulinischen
^efen vor. Auch der bildenden Kunst bot der Dichter eine reiche Fülle von
^Wurfen, die berühmte Gruppe des farnesischen Stieres z. B. geht auf seine
»tiope zurück, und auf Thvugefäßen findet man sehr oft euripideische Szenen
""d Figuren dargestellt.
Nicht minder stark ist der Einfluß des Dichters in der neuern Zeit seit
^'"Wiederaufleben der griechischen Sprache und Litteratur gewesen, und zwar
sonders gerade in Deutschland. Es sei hier nur daran erinnert, daß Wieland,
^' eifrige Freund des klassischen Altertums, eine Abhandlung über die Helene
schrieb und dieses Stück in das Deutsche übertrug, daß Goethe durch die
Wunsche Iphigenie zu einem seiner schönsten Dramen angeregt wurde, und daß
Mller die anlische Iphigenie und Szenen aus den Phönizierinnen in freier
/the übersetzte. So sehr aber im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts die
^ ieratur über Euripides angewachsen und so viel auch im einzelnen für das
^ ^'stündnis und die Herstellung seiner Dramen geleistet ist, so begegnet man
och noch immer auch bei Kennern des Altertums einem absprechender und
Mefen Gesamturteil über deu Dichter. K. Lehrs z. B. nennt ihn einmal
eder eine gute uoch eine schöne Seele, und Jak. Burckhardt bezeichnet ihn in
!^ner griechischen Kulturgeschichte als einen wandelbaren Theologen, der von
w Gedanken des Anaxagoras und von andern das Ungefährliche aufgreift und
Mner Zuhörerschaft eine straflose Impietät gönnt; seine Tragödien sind nach
nur der Sprechsaal, aus dem uns das damalige allgemeine ätherische
Räsonnieren über göttliche und menschliche Dinge entgegentönt. Unter diesen
Umständen hat sich W. Resele durch seine erfolgreiche Bemühung, die gesamte
Welt- und Lebensanschauung des Euripides in systematischer Übersicht darzu-
stellen, °'°) ein großes Verdienst um den Dichter erworben. Die Bedeutung
dieses nicht bloß für Gelehrte geschriebnen Buches, sowie besonders der Um¬
stand, daß sich die Ansichten des Dichters, mit dem es sich beschäftigt, oft
mit modernen Anschauungen berühren, dürfte eine kurze Inhaltsangabe in dieser
Zeitschrift rechtfertigen.
Der Verfasser beginnt, wie natürlich, mit den äußern Zeit- und Lebens¬
verhältnissen des Tragikers, die ja für die geistige Entwicklung jedes Menschen,
auch des größten Geistes, von Wichtigkeit sind. Geboren um die Zeit der
Schlacht bei Salamis (480 v. Chr.), verbrachte Euripides den größten Teil
seines Lebens in seiner Vaterstadt Athen, deren Glanzzeit nach den Perser-
kriegen und deren Niedergang durch den peloponnesischen Krieg er miterlebte. Erst
gegen das Ende seines Lebens folgte er einer Einladung des Königs Archelaos
von Makedonien nach dessen Hauptstadt Pella, wo er nach anderthalbjährigem
Aufenthalt im Jahre 406 starb. Die äußern Verhältnisse des Dichters waren
günstig, sodasz es ihm vergönnt war, ganz seinen Neigungen zu leben; auch
von politischer Thätigkeit hat er sich im Gegensatz zu Äschylus und Sophokles
zeitlebens fern gehalten.' Das ganze Leben des Dichters war also der Dicht¬
kunst und philosophischen Studien gewidmet.
Mir nun gefällt es zu singen und ein kluges Wort zu sagen,
Nicht mich mengend in des Staats Tumult/")
sagt er in einem der uns erhaltnen Fragmente. Für seine Bestrebungen in der
Philosophie ist es, wie Resele mit Recht hervorhebt, charakteristisch, daß er sich
nicht an einen bestinnnten Philvsopheir völlig anschließt, sondern aus den ver-
schiednen Lehrgebäuden das ihn: Einleuchtende aufwühlt; aber seine Werke
zeigen — wir haben noch siebzehn vollständige Tragödien und ein Satyr¬
spiel, daneben noch über tausend Bruchstücke aus den Verlornen Dramen —
in besondern: Maße den Einfluß von Heraklit, Xenophanes, Anaxagorcis und
Anaximenes. Wenig wahrscheinlich ist es, daß der Dichter von dem etwa zehn
Jahre jüngern Sokrates beeinflußt wurde; beide zeigen allerdings Überein¬
stimmung in der Verwerfung des Volksglaubens, dagegen die größte Ver¬
schiedenheit in den Ansichten über die Seele und über die Ethik, sowie in der
Schützung der geistigen Bildung.
Bevor der Verfasser die philosophische Weltanschauung des Tragikers un
einzelnen betrachtet, erörtert er zunächst seinen dichterischen Charakter. Wie
die Dichter des Altertums überhaupt verfolgte auch Euripides in seinen Tra¬
gödien vor allem den Zweck, seine Zuhörer zu bessern und zu belehren. Aber
in zwei Hauptpunkten unterscheidet er sich von seinen ältern Kunstgenossen
Äschylus und Sophokles. Während diese denselben Zweck durch Idealisierung der
Götter und Menschen zu erreichen suchen, stellt Euripides ganz seiner zur Schwer¬
mut und zum Grübeln geneigten Natur gemäß den Menschen, so wie er wirk¬
lich ist, mit allen seinen Leiden und Leidenschaften dar und knüpft daran ratio¬
nalistische Betrachtungen über die Götter, die das Leid und die Fehler der
Menschen zulassen oder gar veranlassen. Äußerlich zwar treten auch bei ihm
die handelnden Personen im Gewände von Heroen und Heroinen auf, aber
gerade dadurch, daß der Dichter es unterlassen hat, ihnen dieses Gewand ab¬
zustreifen und somit an die Stelle der mythologischen die historische oder die
bürgerliche Tragödie zu setzen, sind seine Dramen in einen gewissen innern
Zwiespalt geraten, den schon Aristophanes erkannt und mit scharfen Worten
gegeißelt hat. Der zweite Unterscheidungspunkt ist die kunstvolle, mitunter raffi¬
nierte Dialektik, mit der der Dichter durch den Mund seiner Helden seine eignen
Philosophischen und politischen Ansichten darlegt, und die ihm zuweilen sogar
zur Kritik von Werken oder einzelnen Stellen der ältern Meister oder auch
seines Gegners Aristophanes dienen muß. Die beiden Grundwurzeln aller
wahren Poesie, Freude und Leid, vor allem die Freude und das Leid der
Liebe, kommen aber auch bei Euripides zu ihren, Rechte, und daneben zeigt
sich überall das Bestreben, der Wahrheit, dem Recht und dein Guten zum
Siege zu verhelfen.
In der Erörterung der philosophischen Weltanschauung des Dichters
werden, wie billig, seine Ansichten über die Gottheit vorangestellt. Er beginnt
mit dem Zweifel, dem Ursprung aller Wisfenschcift. Im Gegensatz zu deu
Priestern der staatlich anerkannten Gottheiten, den Ornkeldiencrn und Sehern
ist Euripides mit dem Sophisten Protagoras der Ansicht, daß die menschliche
Einsicht unfähig sei, das eigentliche Wesen der Gottheit jemals zu erkennen.
An einem Bruchstück aus dem Philoktet heißt es:
Jedoch ist der Dichter weit davon entfernt, einen nackten Atheismus zu
Predigen, vielmehr empfiehlt er um zahlreichen Stellen die Tugend der Frömmig¬
keit, insofern sie ans dem Bewußtsein von der Macht und der Gerechtigkeit
»er Götter — den Plural behält der Dichter ähnlich wie Svkrntes in der
Regel bei — beruhe. Neben den Göttern, ja sogar über diesen steht auch
bei ihm die vielgestaltige und darum rätselhafte Macht des Schicksals oder der
Notwendigkeit. „Das Schicksal ist Herr über dich und über die Götter,"
sagt Athene zu Thors in der taurischen Iphigenie. Gegen den Frevler, ins¬
besondre den Übermütigen, wird das Schicksal zum Nachegeist (Alastor), dessen
Zorn nicht nur den einzelnen Menschen, sondern ganze Generationen, wie das
Geschlecht der Lnbdakidcn, vernichten kaun.
heißt es im Herakles. So sehr aber der Dichter von einer göttlichen Welt-
regierung überzeugt ist, so rücksichtslos wendet sich andrerseits seine Kritik
gegen alle mythischen und abergläubischen Bestandteile der überlieferten Religion.
Die Sagen von der Helena und dem trojanischen Kriege, von den Tantaliden
und der Iphigenie, an denen die Zeitgenossen des Dichters zumeist noch mit
gläubigem Vertrauen hingen, behandelt er mit souveräner Freiheit; er ver¬
wirft sie entweder ganz oder sucht sie auf natürliche Weise zu erklären. Der
Wahnsinn des Orestes z. B., den die andern Tragiker als ein von den Göttern
verhängtes Übel hinstellen, ist bei Euripides eine rein pathologische Erscheinung
geworden. Der Dichter scheut sich auch nicht, den letzten Schritt zu thun und
die polytheistische Götterwelt, die ein so wichtiges Element dieser Sagen ist
und den Menschen oft so übel mitspielt, als Gebilde der menschlichen Phantasie
zu bezeichnen; denn „wenn Götter etwas Böses thun, sinds Götter nicht."
Auch bei Sophokles schließen Göttlichkeit und Sünde einander aus, aber
dieser Dichter zieht daraus den entgegengesetzten Schluß, er sagt an einer
Stelle: „Was Götter auch betreiben, niemals ist es bös." Damit hängt es
zusammen, daß unser Tragiker die von den Griechen sonst so hochgeschätzte
Weissagekunst an zahlreichen Stellen seiner Dramen verwirft; bezeichnend ist
vor allen sein Urteil in der Iphigenie in Antis 956 f.:
Und was ist ein Scher überhaupt?
Ein Mensch, der meistens Lügen, selten Wahres spricht.
Ihm ist „Geist der beste Seher und Besonnenheit."
Ebenso ist er ein Feind der Opfer und der Weihgeschenke, und sogar
das Gebet kommt schlecht bei ihm weg.
läßt er die Hekabe in den Trocrinnen sagen.
So verfolgt der Dichter in allen Dramen, wenn auch nicht immer auf
den ersten Blick erkennbar, eine durchaus rationalistische Tendenz, und es ist
ein besondres Verdienst Nestles, dies auch für die Bakchen, eins der letzten
Stücke des Dichters, das erst nach seinem Tode aufgeführt wurde, nachgewiesen
zu haben. In diesem Drama, dessen Motiv die grausame Bestrafung des
Thebanerkönigs Pentheus für seinen Unglauben an den nenerstandnen Gott
Dionysos ist (Pentheus wird von der eignen in bakchantische Naserei ver¬
setzten Mutter zerrissen), sehen nämlich noch hente namhafte Forscher, wie
E. Rohde, O. Ribbeck, Th. Gomperz und andre, eine Umkehr des Dichters von
seinen bisherigen religiösen Anschauungen und eine Rückkehr zum alten Volks¬
glauben. Dagegen zeigt nun Resele in ausführlicher Darlegung, daß es dem
Dichter nur darauf ankommt, in dem Pentheus ein Beispiel von brutaler, aber
vergeblicher Auflehnung gegen eine neu aufkommende Geistesrichtung zu geben,
daß dabei die Person des Dionysos ganz indifferent ist, daß dieser vielmehr
in einzelnen Zügen durchaus den sonstigen aufgeklärten Anschauungen des
Dichters von der Götterwelt entspricht.
An deu Göttern des Volksglaubens vermißt Euripides namentlich die
Gerechtigkeit, und deshalb legt er gerade diese Eigenschaft dem Weltgeist, der
nach seiner Idee alles regiert, bei, ja er identifiziert, hierin dem Heraklck
folgend, die göttliche Weltregierung geradezu mit der Dike. Sie hat die
Eigenschaften, die wir gewohnt sind. Gott beizulegen. Allmacht. Allwissenheit.
Allgegenwart.
Im Archelaos sagte der Dichter:
Auch über die Entstehung der Welt hat Euripides seine Gedanken geäußert.
Aus zwei Urstoffen ist nach ihm die gesamte organische Schöpfung hervor¬
gegangen, aus dem feuchten Element des Äthers und dem trocknen der Erde.
Die Erzeugung selbst wird allerdings verschieden angegeben; in der Regel läßt
er sie durch die Verbindung oder durch die Vermählung dieser Urstoffe ge¬
schehn, an einer Stelle dagegen durch die nach der Vereinigung erfolgte
Trennung. Diese Verschiedenheit erklärt sich wohl daraus, daß der Dichter
verschiednen Philosophien — zunächst wohl der des Archelaos, dann aber auch
der des Anaxagoras und Empedokles — folgte und sich keine feste Theorie
über diesen Punkt gebildet hatte.
Die so entstandne Schöpfung ist als Ganzes unvergänglich, die Einzel¬
wesen aber kehren zu den beiden Grundstoffen zurück. Auch der Mensch gehört
Zu diesen Einzelwesen, und mich er ist aus den beiden Urelementen gebildet:
der Körper ist der Erde, der Geist dem Äther entnommen. Von einer persön¬
lichen Unsterblichkeit der Seele, wie sie Sokrcites annahm, will deshalb Euri¬
pides nichts wissen, sondern durch den Tod kehre der Körper zur Erde zurück,
der Geist dagegen entschwebe wieder in den Äther und habe fortan — ebenso
Wie alle andern organischen Wesen nach ihrem Vergehn, nur in größerm
Maße als diese — teil an dem Bewußtsein des Weltüthers. Eine gewisse
Ähnlichkeit damit zeigt die Lehre des Aristoteles, nach der das Unsterbliche
im Menschen, die Vernunft, von außen in den Menschen hineinkommt und
w'es seinem Tode wieder in die allgemeine Vernunft untertaucht.") Derartige
Ideen berühren sich mit dem modernen Pantheismus, und Resele erinnert
dabei an die letzten Worte von D. F. Strauß:
Diese Ansicht über die Zukunft uach dem Tode ist den: Dichter die wahr¬
scheinlichste; die landläufige Vorstellung vom Hades, wo die Abgcschiednen
fortleben, wird zwar auch hin und wieder berücksichtigt, aber immer nur aus
poetischen oder dramatischen Gründen, sodaß sie offenbar der innern Über¬
zeugung des Dichters fernsteht.
Auf dem Gebiete der Ethik geht der Tragiker von dem Grundsatz aus,
die Naturanlage für den menschlichen Charakter ausschlaggebend sei.
während nach der Lehre des Sokrates das Wissen oder das Erkennen des
Guten mit dem Thun zusammenfüllt, kann bei Euripides der Mensch, anch
wenn er das Rechte erkannt hat, es doch vielfach nicht thun, weil ihm die
sittliche Fähigkeit fehlt. Vor allem wichtig ist also die Vererbung; vou guten
Eltern, mögen sie von vornehmer oder geringer Geburt, arm oder reich sein,
stammen gute Kinder ab, von schlechten schlechte. Die gute Erziehung, so
wünschenswert sie an sich ist, ist nicht imstande, den von Natur Schlechten
völlig umzuwandeln. Dagegen wird ein schlechter Umgang auch auf den von
Natur zum Guten Begabten verderblich einwirken.
Der oft, auch vou Paulus im 1. Korintherbrief 15 V. 33 zitierte Satz:
„Böse Gesellschaft verdirbt gute Sitten" geht auf Euripides zurück. Das Gute
identifiziert der Dichter mit dem Recht; jeder also, der von Natur überhaupt
dazu fähig ist, muß unbeirrt nach dem Rechte streben, wenn er tugendhaft
werden will. Das christliche Gebot der Feindesliebe ist dem Euripides wie
überhaupt dein Altertum unbekannt, die Wiedervergeltung für erlittnes Unrecht
ist auch dem Guten erlaubt, ebenso die Bevorzugung des eignen Ich, nur darf
die Selbstliebe nicht in niedrige Gewinn- und Genußsucht ausarten. Ungerecht
ist vor allein das Widerstreben gegen das Schicksal, und der Dichter wird nicht
milde, vor der Überhebung, der Hybris, zu warnen und andrerseits die demütige
Ergebung in den Willen des Schicksals als wahre Lebensweisheit anzuraten.
Ein Fragment z. B. lautet:
In den Bereich des Rechts fällt auch die von den Griechen zu allen
Zeiten so hochgehaltne Sophrosync, ein Begriff, den mau im Deutschen nicht
gut durch ein Wort wiedergeben kann, und der das besonnene Maßhalten in
allen Lebenslagen bezeichnet, ferner gehört uoch besonders dahin die Wahr¬
haftigkeit, die der Dichter zu seinem Schmerz durch die rhetorischen Künste der
Sophisten bedroht sieht. In einem Bruchstück aus dem ältern Hippolytus
heißt es:
Dagegen stimmt der Dichter mit den Sophisten überein in der Verurteilung
der einseitigen Ausbildung des Körpers, wie sie namentlich in Sparta üblich
war; er verwirft zwar die gymnastischen Übungen nicht gänzlich; aber auf die
Bildung des Geistes soll bei der Erziehung durchaus das Hauptgewicht ge¬
legt werde».
In dem Kapitel über Ethik spricht der Verfasser unsers Buches auch
über die Liebe bei Euripides. Der Tragiker unterscheidet eine sinnliche und
eine mehr geistige Liebe; diese, bei der das sinnliche Element zurücktritt'
berührt sich nahe mit dem platonischen Eros; sie befriedigt Gemüt und Geist
und gewährt dem Menschen das höchste Glück des Lebens:
Die sinnliche Leidenschaft dagegen führt den Menschen ins Verderben,
wie sie die Phädra im Hippolytos vernichtet. Freilich ist der Eros eine ge¬
waltige Macht, und wen er erfaßt, der ist ihm verfallen, dem Herrscher über
Götter und Menschen, und nnr der kommt glücklich davon, der es versteht,
auch in diesem Punkte das rechte Maß innezuhalten.
Ich übergehe den folgenden Abschnitt des Buches, der vom Menschen¬
leben handelt, also von den Ansichten des Dichters über den Wechsel von
Glück und Unglück, Freude und Leid, über Krankheiten, Alter und Sterben.
Nur der Umstand sei erwähnt, daß der im Altertum so vielfach wiederkehrende
Gedanke „Niemand ist vor dem Tode glücklich zu preisen" auch bei Euripides
mehrfach vorkommt, so z. B, in den Troerinnen 509 ff.:
Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der menschlichen Gesellschaft,
zunächst mit dem Familienleben. Bei der Ehe, das heißt bei der Einzelehe
die Polygamie wird durchaus verworfen — betont der Dichter vor allem
das Sittliche'; eine glückliche Ehe gehört zu dem Schönsten und Besten, was
der Mensch sich wünschen kann.
Im Orestes V. 602 f. heißt es:
Das Glück der Ehe liegt hauptsächlich in der Hand der Frau, die ein
mitfühlendes Herz für die Freuden und Leiden des Gatten haben und treu
und züchtig im Hause walten soll. Aber solche Frauen sind selten, viel häufiger
ist die böse Frau, und diese wird deshalb von dem Dichter, der nach der Über-
Lieferung durch persönliche üble Erfahrungen in seiner Ehe verbittert war, mit
herbem Tadel bedacht, ja an einzelnen Stellen wendet sich sein Groll gegen
das ganze weibliche Geschlecht ohne Unterschied, sodaß er schon im Altertum
als ausgesprochner Weiberfeind galt. Dagegen zeigt nun Resele, daß dieser
Vorwurf doch nicht ganz berechtigt ist; er stimmt nicht zu dem doch auch nicht
seltenen Lob des guten Weibes und vor allem nicht zu den von Euripides
geschaffnen herrlichen Frnnengestnlteu, wie Alkestis, die für den Gatten stirbt,
Eucidne, die dem Gemahl in den Tod folgt, Malaria, die sich für ihre Brüder
opfert, und Iphigenie, die ihr Leben für das Vaterland hingeben will. „Genau
besehen, hat Euripides den Frauen uicht schlimmer mitgespielt als mancher
Dichter vor, mit und nach ihm; im Gegenteil, er hat sich entschieden bemüht,
ein möglichst objektives Urteil über sie abzugeben. Euripides erkennt nicht
einmal die sonst allgemeine Anschauung des Altertums, daß der Mann als
solcher mehr wert sei als die Frau, unbedingt an, indem er individualisiert
und zugiebt, daß eine bestimmte einzelne Frau besser sein könne als ein be¬
stimmter einzelner Mann."*)
Was das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern anlangt, so ist es
natürlich, daß die Eltern vor allem ihre Kinder lieben; von den Kindern ver¬
langt der Tragiker Ehrerbietung und Gehorsam gegen die Eltern, Fragen. 852
lautet:
Werfen wir nunmehr mit dem Verfasser unsers Buches einen Blick auf
die politischen Anschauungen des Euripides, so ist hier vor allem seine innige
Vaterlandsliebe hervorzuheben. Der Gedanke, daß dem Vaterlande die Treue
bis in den Tod gehalten werden muß, wird nicht nur oft ausgesprochen,
sondern auch wiederholt dramatisch durchgeführt. Seine attische Heimat preist
der Dichter in einem Chorliede der Medea und auch sonst als Sitz der Musen
und als Stätte der Weisheit, auf attischen Sagen beruht die Handlung des
Hippolytus, der Hiketiden, der Hercckliden und verschiedner Verlorner Dramen,
und in vielen andern Stücken werden heimatliche Mythen und Gebräuche, auch
wenn sie der Weltanschauung des Dichters widersprechen, mit Vorliebe und
mit Stolz mehr oder weniger ausführlich behandelt. Auch die demokratische
Verfassung Athens entspricht im wesentlichen dem politischen Ideal des Dichters,
wenn er auch keineswegs blind ist gegen ihre Fehler und Schwächen. Nament¬
lich wird die in Athen nach dem Tode des Perikles zum Schaden des Staates
immer mehr überHand nehmende Demagogie recht oft einer herben Kritik
unterzogen.
Das Leben unsers Tragikers füllt zum Teil in den langen und für
Athen so verderblichen peloponnesischen Krieg, und daraus wohl erklärt sich
seine tiefe Abneigung gegen den Krieg. Der Krieg ist ihm in jedem Fall ein
Übel; er soll nur geführt werden, wenn er sich gar nicht vermeiden läßt, dann
aber mit Kraft und Nachdruck. Dagegen werden die Segnungen des Friedens,
den der Dichter von ganzem Herzen herbeisehnt, gern von ihm gepriesen, am
schönsten in einem Chorlied des sonst Verlornen Kresphontes:
Unter diesen Umstünden ist es natürlich, daß der Dichter den Spartanern,
den Gegnern Athens, keineswegs gewogen ist; wo sich nur die Gelegenheit
bietet, giebt er seinen Haß gegen das ränkesüchtige, treulose und barbarische
Sparta zu erkennen, auch finden sich hier und da deutliche Anspielungen auf
politische Unternehmungen, die dem Feinde irgendwie schaden können, so z. B.
W den Hiketiden auf das vou Alkibiades befürwortete Bündnis zwischen Athen
und Argos.
Das letzte Kapitel des Buches ist den sozialen Anschauungen des Euri-
pides gewidmet. Der durch die Geburt ererbte Adel gilt dem Dichter wenig
oder nichts; der Adel ist ihm nur dann etwas wert, wenn er mit sittlicher
Tüchtigkeit gepaart ist, und umgekehrt verleiht eine edle Gesinnung auch einem
Dringen Manne, wie dem Landmann in der Elektra, gleichsam den Adel.
Fragment 345 lautet:
Vom Adel hab ich dies zu sagen, kurz und gut:
Der wackre Mann ist mir der einzig adliche,
Der ungerechte, mag sein Vater besser noch
Gewesen sein als Zeus, erscheint unedel mir.
Sehr scharf verurteilt der Tragiker an verschiednen Stellen das maßlose
Streben nach Reichtum; der Reichtum ist ihm nicht nur ein vergängliches Gut,
orbem er kann geradezu verderblich wirken, insofern er seinen Besitzer zur
^berhebuug verleitet. Auch mit der Dummheit ist der Reichtum oft verbunden;
^ Archelaos sagte der Dichter:
Reich bist du? Reichtum: Dummheit ist und Feigheit dies.
Nur ein mit richtiger Einsicht verbundner Besitz kann glücklich machen,
e»n sie l^re den Reichtum zu guten Zwecken, namentlich zur Wohlthätigkeit
verwenden. Andrerseits ist freilich auch große Armut nicht als Vorzug au¬
ssehen, denn auch sie dient dazu, das Böse der menschlichen Natur zu
reizen.
Auf Trug und dunkle Mittel kommt der arme Mann,
Der aus unwürdger Armut sich aufhelfen will. (Fr. 288.)
Reichtum und Armut lassen sich freilich nicht aus der Welt schaffen, aber
Dichter erscheint als das beste Los die Mitte zwischen beiden Extremen;
^uem vorwiegend auf dem Ackerbau begründeten Mittelstand redet er wieder¬
holt das Wort.
Die Sklaverei erkennt Euripides als eine in den bestehenden Nechtsver-
tinssen begründete Einrichtung an, moralisch aber hält er sie für ungerecht
ud der Menschenwürde widersprechend. Deal ein Sklave kann ebenso gut
^"e edle Gesinnung haben wie ein Freier:
Ich nun weiß nicht, warum auf edle Abstammung
Man schauen soll; wer mannhaft und gerecht nur ist,
Den nenn ich edel trotz des leeren Vorurteils,
Ist er gleich Sklave: mehr gilt der Charakter mir. (Fr. 496.)
Da die Sklaverei nun einmal besteht, so sollen die Herren ihre Sklaven
enigstens gut behandeln, dann wird das gegenseitige Verhältnis erträglich
Im Meleager sagte der Dichter:
Wie schön für Sklaven, wenn sie haben brave Herrn,
Und für die Herrn, nimm ihre Sklaven wohlgesinnt.^)
Zuletzt weist Resele noch darauf hin, daß sich bei Euripides trotz seiner
ausgesprochnen Vaterlands- und Heimathliebe doch schon hier und da Anklänge
an ein Weltbürgertum finden, und daß der Dichter, der die Worte sprach:
Die Erde, die uns nährt, ist überall Vaterland,
oder:
Der edle Mann, ob fern er wohnt im fremden Land,
Ob ich ihn nie mit Augen sah, ist doch mein Freund,
gleichsam „die Brücke bilde vom nationale«? Hcllenentnm zum weltbürgerlichen
Hellenismus."
So wird das Buch Nestles den innern Eigentümlichkeiten der euripideischen
Tragödie in jeder Hinsicht gerecht, und es ist wohl geeignet, über den Dichter
der Aufklärung selbst aufklärend zu wirke». Unsre Inhaltsangabe will nicht
nur die Leser der Grenzboten auf das auch stilistisch vortreffliche Werk auf¬
merksam machen, sondern zugleich auch zur Lektüre des Dichters selbst anregen,
der ja durch die Übersetzungen von Bruch und Donner, für einzelne Stücke
(den Herakles, die Schutzfleheudcn und den Hippolytos) auch durch die geist¬
volle Übertragung von Wilamvwitz jedem zugänglich ist.
ropenkolonien erscheinen aus manchen Gründen für das Mutterland
von zweifelhaftem Wert. Die allzu freie, leichte Herrschaft über
die farbigen Völker demoralisiert zuweilen die Leute, die behaupten,
als Träger der Kultur hinauszugehn. Sie täuscht auch über die
eigne Kraft. So haben sich die Engländer durch ihre zahllosen
Tropensiege und ihre Erfolge in der Unterjochung farbiger Völker in allen
Erdteilen über ihre militärische Kraft täuschen lassen. Eine Machtverstärknng
geben Tropenkvlonien dem Mutterlande beinahe nie. So wie ein reicher
Mann nicht reich ist, weil er Edelsteine und andre Kostbarkeiten hat — denn
diese sind unfruchtbarer Reichtum —, sondern Edelsteine hat, weil er reich
ist, so ist ein europäischer Staat nicht darum mächtig, weil er Tropen¬
kolonien hat. sondern wenn er mächtig und unangreifbar in Europa ist,
so kaun er es sich erlauben, auch Trvpeutolonien zu haben, ja sie fallen
ihm dann beinahe von selbst zu, nicht als Zuwachs zu seiner Macht, sondern
als deren Genuß und Frucht. Reich kann ein Volk allerdings werden durch
Tropenkolonicn, und well Reichtum und Macht eines Volkes immerhin in
einem, wenn auch entfernten Zusammenhang stehn, so können Tropenkolonien
auch die Macht eines Volkes verstärken. Das ursachlich erste ist aber die
Wirkung auf den Reichtum, und reich werden kann ein Volk aus fremden
Kolonien so gut wie aus deu eignen. Das wirtschaftliche Kolonialreich
Deutschlands ist viel größer als das politische. Glücklicherweise: denn das
Politische könnte uns nur wenig Gewinn bieten. Das ganze englische Kolonial¬
reich steht dem deutschen Handel offen, und solange das der Fall ist, wäre
eine Politik der Rivalität um Kolonialbesitz gegen England Thorheit und Un¬
dank zugleich. Wir brauchen nicht zu eilen, um in der Welt zu erraffen, was
noch übrig ist. Was übrig ist, ist für den Augenblick nichts wert. Was
wertvoll war, ist immer aufgeteilt gewesen. Die Welt ist schon oft aufgeteilt
worden und wird noch öfter aufgeteilt werden. In dem Maße als Deutsch-
land, das angreifbarste Land der Welt, dnrch überlegne Kraft den Nachbarn
unangreifbar erscheint, in dem Maße wird es an jeder Verteilung teil haben.
Die Machtverhältnisse Europas teilen die Welt, nicht aber vermag die Welt¬
verteilung das Gleichgewicht Europas zu ändern. Man hat die Theorie von
den drei Weltreichen aufgestellt: Rußland. England und Nordamerika, die das
kleine Deutschland in den Winkel drängen würden. Die wirtschaftliche Ver¬
drängung will ich nicht diskutieren, obwohl es mir scheint, daß dazu auch
wehr gehört, als neidischer Wille und Zollschranken. Das politische Kräfte¬
gleichgewicht aber wird durch Angliedernng entfernter Erdteile nicht geändert.
Wenn Nußland und Deutschland ernsthaft miteinander zu reden haben, so ge¬
schieht das zwischen Berlin und Petersburg. Die Herrschaft über Zcntral-
und Ostasien kann Rußland auf diesem Schachbrett nicht stärken, eher schwache»
insoweit, als sie ihm Kräfte gekostet hat, Geld und Menschen. England und
Deutschland werden sich in der Nordsee sprechen, und es wird darauf an¬
kommen, vier dort sofort die meisten Schiffe mobil hat. Auch Nordamerika
und Deutschland werden gegeneinander nicht mit Kolonien und Quadrntmeilen,
sondern mit Schiffen kämpfen. Die Macht der sogenannten Weltmächte besteht
'naht in ihrem Weltanteil, sondern in der Stärke ihrer Heimatstellnng, der
Angriffskraft und Verteidigungssicherheit ihres Heimatlandes und der Bundes¬
hilfe, der sie sich vielleicht zu erfreuen haben. Ihr Weltanteil ist nur der
Ansatz, der durch den Krieg zu neuer Verteilung ausgesetzt ist. Die Rivalität
europäischen Mächte in den sogenannten Weltfragen ist nur in engen
kreuzen vernünftig, nur so weit, als sie nicht zum ernsthaften Konflikt führt.
Die Herrschaft über farbige Völker ist nur materielles und Genußinteresse,
uicht Lebensinteresse eines Volles. Diese Objekte sind schwere, ernsthafte
Kämpfe nicht wert. Sie sind mir etwas wert, wenn man sich über sie
verträgt.
Das allgemeine europäische Interesse an der kommerziellen Ausbeutung
der Tropenlünder duldet keine schweren zerstörenden Kriege. Sobald die Zer¬
störung beginnt, beginnt auch schon das beiderseitige Interesse am Frieden.
Noch vor fünfzig Jahren hielt die öffentliche Meinung Englands, obwohl sie
den Kolonialhandel für vorteilhaft hielt,' doch die politische Herrschaft in den
Kolonialländern für eine kostspielige Ehre und für eine drückende Last, und
man diskutierte im Ernst die Abstoßung der Kolonien, Heute will man gerade
das Imperium, die Herrschaft über einen große,: Weltauteil. Ob man gut
daran thut, ist eine andre Frage, Man könnte andre europäische Mächte be¬
glückwünsche«, daß sie nicht solche undankbaren Kolonialkriege für das Im¬
perium zu führen brauchen, wie den südafrikanischen. Wir Deutschen aber,
die wir aus einem sehr vernünftigen Grunde, nämlich wegen unsrer Angreif¬
barkeit in Europa, noch kein koloniales Imperium haben, brauchen und dürfen
mit der Verteilung nicht unzufrieden zu sein, solange das englische Kolonial¬
reich unserm Handel offen steht, und solange, bis wirklich einmal die überall
geschlossenen Thüren uns in der Heimat einschließen. Bis dahin können wohl
die Engländer auf unsern Handel eisersüchtig sein, nicht aber auf wir England.
Über den wirtschaftlichen Wert hinaus haben Tropenkolonien Wert als
Tummelplatz für die überzählige und vielleicht gefährliche gebildete Jugend,
außerdem und vor allem aber für eine lorbeerhungrige Armee, die dem Heimat¬
lande gefährlich werden könnte. Dieser Beweggrund hat sich oft in der Ge¬
schichte kolonialer Eroberungen als mächtiger und erfolgreicher erwiesen, als
das Handelsinteresse, das vor jedem Wagnis zu vorsichtig rechnet. Frankreichs
Exporthandel mit Koloniallündem ist gegen den dentschen von geringer Be¬
deutung. Es hat in den letzten dreißig Jahren nicht die enorme Vermehrung
an Menschen, Kapitalien und Exportbedürfnis erlebt, wie wir. Trotzdem hat
es sich gerade in dieser Zeit ein Kolonialreich von großer Ausdehnung zu¬
sammenerobert. Die treibenden .Kräfte sind nicht wirtschaftliche Interesse» ge¬
wesen; denn das Geschäft in den französischen Kolonien ist zum großen Teil
i» dentschen und englischen Händen. Auch nicht das Interesse der äußern
Politik; denn weder Elsaß-Lothringen noch Ägypten erobert man auf dem
Wege über die Sahara. sondern das Interesse der innern Politik verlangt,
daß das große Offizierkorps eine Aufgabe habe, damit es nicht zu lebhaftes
Interesse an der Politik der bürgerlichen Republik entwickelt.
Wenn Malaria, Dysenterie und dergleichen nicht wäre, so würden die
Germanen, wie sie einst nach Italien, Spanien und Nordafrika ausgewandert
sind, so hente aus dein erwcrbsflcißigen, hart arbeitenden, langweiligen Europa
in die weiten Tropenlündcr auswandern, um dort Gefahr, Krieg und Sieg,
Macht und Reichtum zu suchen.
An erster Stelle die Gefahr, weil sie der eigentliche Reiz und Genus; des
Lebens ist. Nur der genießt das Leben ganz, der täglich es verlieren kaim-
Der Knabe im Spiel nud der Jüngling beim Sport liebt lind sucht die Ge¬
fahr. Es ist nicht die Anmut der Bewegungen beim Spiel und der Ehrgeiz
des Gewinnens beim Sport das psychische Motiv, sondern Lust zum Spielen
mit der Gefahr. Will der Ratter auf seinem Rad nur Schnelligkeit? Oder
zieht er nicht vielmehr den schmalen und gefährlichen Weg am Wasser der
kurzen, aber langweiligen Chaussee vor? Will der Reiter nur Bequemlichkeit.
Oder wählt er nicht lieber ein junges, unruhiges Pferd als ein geschultes,
ruhiges, das ihn schnell und sicher zum Ziel tragen würde? Was sind die
schönsten Erinnerungen eines Schlittschuhläilfers? Eine Abendstunde unter
tausend Menschen im Tiergarten, oder ein stundenlanger Lauf auf Seen und
Misse», wo er beständig auf der Wacht sein muß vor offnen Stellen? Der
Schwimmer fühlt die Versuchung, an einsamer Stelle allein ins Meer hinaus
zu schwimmen. Der Bergfex und der Gemssäger suchen nicht die Naturschön--
heit in den Bergen, sondern den Sieg über die Gefahr, die sie noch zu er¬
höhen suchen, indem sie allein ausgehn, oder im Winter, oder bei Nacht. Auch
der Schmugglerberuf würde keine Jünger mehr haben, wenn er nur Gold ver¬
spräche und'nicht auch Gefahr und Sieg, Auch die Wissenschaft allein würde
keinen nach dem Nordpol locken, wo so viel mutige Männer schon geblieben
sind, wenn ihr nicht eine mächtigere Kraft in der Mannesseele zu Hilfe käme,
der von keinem eingestcmdue und von jedem gefühlte Durst nach Gefahr, Es
ist nicht der Ehrgeiz allein, der sie zum Heldentum treibt. Denn sie würde»
sich nicht halten lassen, wenn sie much wüßten, daß sie nur Spott und Hohn
ernten konnten, oder wenn sie wüßten, daß ihre Ohren längst für ewig taub
sein werden, wenn die Preisreden anheben.
Was macht denn das Fußballspiel schöner als das Tennisspiel, und was
N'acht Tigerjagden reizvoller als Hasenjagden? Nicht bloß die Ehre, sondern
ehe die Ehre wirklich wird, schon die Gefahr, Sogar der Bierphilister, der
für sich auf jeden Genuß dieser Art verzichtet, geht in den Wintergarten, sieht
den Turnkttnstlern zu und fühlt für einen Augenblick alle Ängste und Ent¬
zücke» der Gefahr und des Sieges mit. In jedem gesunden Manne lebt die
Lust zur Gefahr und die Überzeugung, daß die besten Mannescigenschaften,
Mut und Standhaftigke.it, ungebraucht verdorren, wenn man zeitlebens am
Schalter steht und Briefe sortiert, oder Ware,: verkauft, oder Briefe schreibt,
"der .Knaben lehrt. Jeder von uns lechzt nach Gefahr, außer wenn er jahr¬
zehntelang unter der Hungerpeitsche das Sorgen gelernt und das Wollen ver¬
lernt hat! oder wenn er in Faulheit und am Kneiptisch seine Muskulatur im
Fett erstickt und dadurch einen Teil seiner Mnnnesscele verloren hat. Auch
wen» er den Krieg nie kennen gelernt hat, oder gerade dann, hat der Man»
eine im Frieden nntilgbare Liebe zu Krieg und Schlachtfeld.
Das Weib hat auch sein Schlachtfeld. Es ist das Bett, darauf sie ge¬
biert und dem zukünftigen Manne das Leben schenkt. Es giebt ungefähr zwei
Millionen Geburten jährlich in Deutschland. Die Sterblichkeit in der Geburt
beträgt sieben Promille, Das heißt: es sterben etwa 14000 Frauen jährlich
der Geburt oder an deren Folgen, In dreißig Jahren wären das 420000
"uf diesem Schlachtfeld gefallne Krieger. Man sieht, diese Opfer der Fromm
übersteige die der Männer, wenn es nicht ab und zu einen großen .Krieg
giebt. Gäbe es in Zukunft keine Kriege mehr, so würden die Frauen den
Namen des stärkern, heldenhaftem Geschlechts verdienen, und wenn es nach
Verdienst in der Welt zugeht, auch die Herrschaft über den Mann gewinnen,
W der Mann nicht mehr Krieger, so bleibt die Frau doch Kriegerin. Sie
blutet, fällt und siegt weiter. Daran wird auch Frau v. Snttner nichts ändern
können. Wenn eine Frau bei der Geburt in Lebensgefahr ist, Aett der Mann
hilflos und reumütig weinend, ein rechter Troddel, daneben steht, so kann man
zuweilen einen Blick der Verachtung auffangen, der von dem leidenden Weibe
zum Manne geht, der da ohne Gefahr und Würde Vater wird, einer Ver¬
achtung, die überwunden werden sollte durch die Achtung, die der Mann als
Ernährer und Beschützer verdient. Darum soll der Mann erst recht auch seine
Gefahren erleben. Das ist so der Wille der Natur, und ich würde sagen,
der Wille Gottes, wenn ich nicht der Überzeugung wäre, daß es Lästerung ist,
seinen Namen immer in unsre Weisheit zu mischen. Das Kulturleben kann
wohl eine Zeit lang den Willen der Natur unerfüllt lassen. Aber wenn nicht
in der Rede, so doch im Handeln des Menschen kommt dennoch die alte Liebe
zu Krieg und Gefahr immer wieder zum Vorschein.
Diese Liebe ist es auch, die junge Leute in die Tropen treibt. Aber
welche Enttäuschung in den Tropen! Da giebt es wohl Wanzen und Mos¬
kitos und Malariaplasmodien und Dysenterieamöben, aber keine eben¬
bürtigen Feinde. Freilich auch viele Menschen giebt es dn, die sich vom
Weißen unterjochen lassen, und der Weiße spielt mit ihnen, als wollte er
täglich probieren, wieviel sie sich wohl bieten lassen.
Aber Gefahr und Abenteuer sind trotzdem die Ausnahme. Sogar das
Innere Afrikas fängt an ungefährlich zu werden, und die Seefahrt ist schon
lange nicht mehr, wie zu Heinrichs des Seefahrers und Kolumbus Zeiten, ein
Wagnis. Wohin also mit der europäischen Manneslust?
Man thut heute, als wenn es so in der Politik wie im privaten Leben
keine wichtigern Dinge mehr gäbe, als materielle, in Geld berechenbare Inter¬
essen — in der innern Politik nur den allgemeinen Wohlstand, in der äußern
nnr das Eintreiben fülliger Forderungen und die Pflege der Handelsgeschäfte.
Man nennt das Realpolitik, man könnte es spottweise auch Materialwaren¬
politik nennen. Man thut, als ob wir weit entfernt wären von den Thor¬
heiten unsrer Vorfahren, der Kreuzfahrer, die nur aus Glaubenseifer und
Kriegslust in den Orient zogen. Man hält Kriege für ein großes Unglück,
es sei denn, sie würden um handgreiflicher Vorteile willen geführt, z. B. zur
Eröffnung neuer Märkte, Konzession von Eisenbahnen und Kohlenbergwerken
und Ausbeutung von Diamant- und Goldgruben. Aber darin steckt ein Rechen¬
fehler. Kriegerblnt ist immer zu teuer, als daß damit Geschäfte gemacht werden
könnten, und der Krieg zerstört immer viel mehr Werte, als aus den neuen
Verhältnissen nach dem .Kriege herausgewuchert werden können!
Aber Kriegerblut ist nie zu teuer, wenn es um idealer Zwecke willen hin¬
gegeben wird. Um materieller Vorteile willen darf ein Volk niemals Krieg
führen, um idealer willen immer. Der verantwortliche Staatsmann freilich darf
es nur, wenn das Ziel auch erreichbar erscheint. Aber der ideale Zweck wird ihn
auch noch im Mißlingen entschuldigen, während der materielle Vorteil schon auf¬
hört den Krieg zu rechtfertigen, wenn die Anstrengungen des Sieges zu groß
werden. Die Herzen der Völker werden auch heute noch nicht durch Berechnungen
materiellen Vorteils oder Nächtens gelenkt. Dergleichen Vorstellungen bleiben
auf der Oberfläche und haben mit den Überzeugungen und Glaubenskräften, die
die Handlungen der Menschen lenken, so wenig gemeinsam, wie das Wellen-
gekrüusel, das der Wind auf der Meeresoberfläche hervorruft, mit den gewal¬
tigen Meeresströmen, die in der Tiefe des Ozeans nach ewigen Gesetzen fließen.
Phantasie und Glauben erreichen größeres in der Menschenseele als der kleine
Egoismus und Erwerbsinn. Hat nicht erst vor hundert Jahren der Phantast
Napoleon eine ganze Nation und mehr noch zu bezaubern vermocht und in
zwecklose, nur ihm, seiner winzigen Person nützliche Kriege zu führen ver¬
mocht? Käme er heute wieder und führte sie in dieselben Schlachten, so
würden sie ihm wissentlich in dieselben Schlachten folgen. Und wenn heute
ein vornehmer und reicher Mann aufstünde und gründete einen Deutschritter¬
orden zur wirtschaftlichen, und wenn es sein sollte, auch kriegerischen Eroberung
Kleinasiens, so würden tausende ihm folgen und würden ihm die Sorge über¬
lassen, daß aus dem pathetischen Anfang nicht ein lächerliches Ende werde.
Sie würden ihm folgen, schon um Europa einmal hinter sich zu lassen, und
seinen gequälten Vergnügungen, langweiligen Kneipen und Geselligkeiten, seiner
Menschenengigkeit und seinen Nahrungssorgen, wo die Menschen lieber an
Schwindsucht'zu Grunde gehn, als das; sie einen blutigen Tod sterben; wo
man vor dein Regen flieht, sich aber täglich von einem Wolkenbruch gedruckte»
Lesepapiers überstürzen läßt; wo die Wissenschaft unfruchtbar und Selbstzweck
geworden ist; wo die anmutigen Künste aus Langeweile und Neuerungssucht
nervös geworden sind; wo die Waren nicht um der Meuschen willen, fondern
°le Menschen um der Waren willen da sein müssen; wo mau das Land nicht
anbaut, um Brot zu haben, sondern wo das Vrotesscn zu einem Mittel wird,
damit das Land bebaut werde; wo sogar der Soldat zum Schreiber werden
wuß — die Welt einer Kultur, die ihrer selbst müde geworden ist. Ich habe
einmal in einer französischen Zeitung von einer Dame gelesen, die ganz allein
an der Grenze der Sahara mit einigen arabischen Dienern in einem selbst
gebauten Häuschen lebt, ihren Kohl selber baut, ihr Haus mit der Mute selbst
verteidigt.' Sie hat dort zwei Reporter jener Zeitung empfangen, liebens¬
würdig ü 1a trMyiiisö bewirtet und ihnen erzählt, vor Jahren habe sie einmal
"ersucht uach Frankreich zurückzukehren. Aber: ^touM 5 ?ari8 se ,i> sah
rot,c>um6<z. Vermutlich sitzt sie noch da. Der Süden als Landschaft ist nicht
schöner als unser Vaterland. schön macht ihn nur seine Einsamkeit. Aber
die Einsamkeit würde dem thatenfrohen Europäer auch nicht lange gefallen,
wenn nicht die Abenteurerlust ihn verschönte.
Die Farben, mit denen ich Enropa abgemalt habe, sind nicht echt. Sie
werden die Beleuchtung mit ehrlichem Tageslicht nicht aushalte». Aber soviel
^se wahr, gerade wenn die Menschen im privaten Leben unter dein Joch
schwerer unabsehbarer aber notwendiger Arbeit leiden, so wollen sie, daß ihr
Staat ihrer Phantasie vornehmere Nahrung gäbe, als berechenbare materielle
Vorteile, sie wollen Nationalehre, xrostiAö, Almro. etwas, woraus sie stolz sem
können. Sogar die Amerikaner wollen ihre imperialistische Expansionspolitik
haben, wenn sie auch, wie auf den Philippinen, viel kostet und wenig ein¬
bringt. Wenn die Völker wirklich nur ihren materiellen Interessen nachgehn
wollten, so nüchternen Sinnes, wie Kaufleute ihren Geschäften, so könnte es
keine großen Kriege mehr geben. Ein großer Krieg ist immer, wirtschaftlich
genommen, ein so riesenhaftes Unglück, daß auch größere Interessengegensätze
materieller Art im allgemeinen Unglück des Krieges verschwinden. Aber anch
die Völker machen ihre Kriege nicht nüchternen Sinnes. So selten, wie
zwischen zwei Menschen ein Streit absichtlich und kaltblütig berechnet entsteht,
vielmehr nur zu oft so, daß zwei im Streit sind, schneller als sie es ahnen,
und ohne daß sie es wollen, so selten ist auch der Völkerstreit beabsichtigt.
Darum schieben sie sich gegenseitig die Schuld des Anfanges zu, und keiner
wills gewesen sein. Streit nud Krieg gleichen einer Lawine. Der Anfang
ist unfindbar klein, aber seine Wirkung wächst unaufhaltsam, bis sich das
Unheil vollendet hat. Unvorsichtigkeit kann auch aus materiellen Dingen den
Ursprung eines Krieges machen. Materielle Interessen können wohl einen
Krieg anfachen, aber nicht rechtfertigen.
Es kann einem Volke gnr keine größere Wohlthat geschehn, als wenn
ihm eine wirklich ideale Aufgabe gestellt wird, für die es Gut und Blut ein¬
setzen kann, eine Aufgabe, wie die vou 1813. Ein Volk, das eine solche
Aufgabe nicht hat, verhüllt und verkleidet anch noch die materiellen Interessen
mit idealen Gründen und nennt sie Kulturabgaben. Auch wir Deutschen
siud ein Volk, dem es augenblicklich zu gilt geht; wir haben nichts weiter zu
thun, als Handelstarife beraten. Aber schneller, als wir es ahnen, können
wir vor ernstern Aufgaben stehn. Denn das Zeitalter der ungewollten und
doch unvermeidlichen europäische!! Kriege ist schwerlich für immer vorbei.
> err Alfred Sauerbrei dichtete. Frnu Sauerbrei und die beide» Töchter
Riekchen und Lottchen sowie das Dienstmädchen schlichen init leisen
Schritten durch das Haus, als wenn jemand schwer krank sei. Wachtel,
der Werkführer der Fabrik, der gekommen war, die neusten Farben
für die amerikanischen Handschuhe vorzulegen, war mit Glanz hin-
—> ausbefördert worden und hatte seine Lederproben vor der Küchenthür
im Zorn an die Erde geworfen.
Aber Herr Wachtel, hatte die Küchenfee gesagt, Sie wissen doch, wie der Herr
ist, wenn er dichtet.
Darauf hatte Herr Wachtel seine Proben wieder zusammengesucht und einen
körperlichen Eid geschworen, daß er nicht nochmals hinauf gehe; jetzt könnte der
Herr selber runter kommen.
Herr Alfred Sauerbrei dichtete. Zwar ziemte sich das eigentlich nicht für
einen Polkenröder Bürger und Haudschuhfabrikanten. Keiner dieser hochansehn¬
lichen Herren würde sich haben beikommen lassen, etwas zu thun, was nicht um
der eigentlichen Lebensaufgabe, nämlich mit der des Verdienens (mit dem großen
zusammenhing. Herr Alfred Sanerbrei war mich nicht ein Vertreter der reinen
Rasse, sondern war schon etwas degeneriert. Er war Handschnhfabrikant in zweiter
Generation. Er hatte nicht nötig gehabt, unter Sorgen und Schinder das Ge¬
schäft in die Höhe zu bringen, er war ans dem Gymnasium gewesen, hatte sich
Tertianerbildung erworben und hatte dabei, wie er zu sagen Pflegte, am Golde
des grünen Lebensbaumes genascht. Darauf hatte er seines Vaters Geschäft geerbt,
war sogar Stadtrat geworden und hatte das Dezernat für städtische Kunst und
Wissenschaft übernommen, nämlich das Schulwesen und die künstlerische Überwachung
der Leierkasten und Schaubuden. Aber seine stille Sehnsucht ging höher hinauf,
nach einem Plätzchen auf dem Parnaß. Da nun ein solcher Platz in Polkenrvda
nicht zu haben war, so mußte er sich auf seinen photographischen Knipskasten und
daraus beschränken, bei gegebner Gelegenheit ein schwungvolles Gedicht zu machen.
Herr Alfred Sauerbrei dichtete. Die Gelegenheit forderte es, und dies war
keine geringere als die silberne Hochzeit des Herrn Bürgermeisters. Selbstver¬
ständlich durfte man die Gelegenheit, ein Jubelfest zu begehn, nicht ungenützt vor-
übergehn lassen. Man hatte beabsichtigt, dem Herrn Bürgermeister wegen seiner
hohen Verdienste um die Stadt ein Ehrengeschenk in Gestalt eines Lehnstuhls zu
überreichen? aber die Majorität der Stadtverordneten, Leute, die von den nller-
niedrigsten Instinkten erfüllt waren, hatten die Bewilligung der Gelder abgelehnt.
Verdienste? hatte man gesagt, wo hat denn der Bürgermeister Verdienste? Er
Wird bezahlt, thut seine Schuldigkeit, und damit hotta. Ihnen schenkte man auch
keine Lehnstühle, denn zum Faulenzen habe die Neuzeit keine Zeit. Darüber hatten
s'es die Optimaten von Pollenroda sehr entrüstet. Es war aber nichts zu machen
gewesen, und man mußte sich darauf beschränken, eine Familienfeier zu veranstalten
und dieser einen besondern Glanz zu geben. Also: Ständchen, Deputationen,
Gratulationen, Toaste, Tischlicdcr, und was sonst festliche Tage zu zieren Pflegt.
Schön. Aber wer sollte die Tischlieder machen? Es war in Pollenroda, den
Herrn Rektor und deu Herrn Oberprediger einbegriffen, schlechterdings keiner im¬
stande, ein schwungvolles Tifchlicd zu bauen, außer Herrn Stadtrat Alfred Sauer-
°rei. Dieser also setzte sich hin und dichtete nach der einzigen hierfür in Betracht
kommenden Melodie „Kommt herbei, ihr Völkerscharcn" im Schweiße seines An¬
gesichts:
Das Lied hatte dreizehn Verse. Man fürchte nicht, daß ich sie alle hier
wiedergebe. Nur der letzte möge noch dastehn.
Was mit der Lüge und dem Wahne eigentlich gemeint war, war nicht recht
klar. Vielleicht die Majorität der Stadtverordneten. Jedenfalls kann der Lüge und
dem Wahne der Tod gar nicht oft genug geschworen werden.
Herr Alfred Sauerbrei war mit seinem Werke wohl zufrieden, las es unter
dem Siegel der Verschwiegenheit jedermann vor, ließ es drucken und feste sich mit
Hochgefühl an die Korrektur. Bei dieser Gelegenheit wurde der Lausbursche, der
mit einer Handvoll Papiere angetreten war, mit Hurra hinausgethan. Der
Lausbursche wollte Wachtel nachahmen und seine Papiere auch an die Erde werfen,
aber die Küchenfee kam ihm auf den Kopf, da mußte er artig sein.
So konnte also die bürgermeisterliche silberne Hochzeit kommen, und sie kam.
Der Bürgermeister hatte ein Faß Moselwein, Zeller Schattenseite, etwas sauer, aber
ein reiner und vorzüglicher Wein, und billig, und direkt vom Weinbauer bezogen,
kommen lassen; seine Frau, geborne Schöne, hatte russischen Salat in unglaublicher
Menge geschnitten und mehrere kalte Braten bereit gestellt, die Töchter, Schwieger¬
söhne und sonstige Verwandte waren angekommen. Es gab auf dem Gabentische
einen Überfluß von Silberpapier, Karten und Widmungen. Die freiwillige Feuer¬
wehr war schon vor Tagesanbruch angetreten und hatte mit ihren Tuthörnern
einen polizeiwidrigen Lärm gemacht, und der Herr Bürgermeister hatte, nur flüchtig
bekleidet, seine erste Rede halten müssen. Um elf Uhr war Magistratssitzung. Hier
hielt Herr Alfred Sanerbrei vor Eintritt in die Tagesordnung eine Ansprache, in
der er todesmutiges Eintreten der guten Bürger für ihren Bürgermeister in der
Stunde der Gefahr gelobte und der Lüge und dem Wahne den Tod schwur. Der
Herr Bürgermeister war ernstlich gerührt. Er dankte in seiner würdevollen Weise
— denn er war auch in diesem Augenblick ganz Stadtvnter —, er hoffe, daß die Worte
des Vertrauens, die man ihm gewidmet habe, den nächsten Aufgaben: der Führung
der Schlichtstedt-Obstheimer Sekundnrbahu über Polkenrvda und der Vereinigung
der Privatschule mit der Lateinklasse des Rektors zu gute kommen werde. Dies,
meine Herren, sagte der Herr Bürgermeister, sind Lebensfragen unsrer Stadt. Ich
nehme gern Kenntnis davon, daß mich der Magistrat und die wohlgesinnte Bürger¬
schaft bei der Erfüllung dieser Aufgaben unterstützen will. — Darauf beschäftigte
niam sich mit der von den Anwohnern dringend geforderten Ausschlämmung der
Stinkkuhle hinterm Stadtgraben.
Alle, die im Laufe des Tages gratuliere hatten, versammelten sich des Abends
im Hause des Bürgermeisters zu Bowle und russischem Snlat. Auch der Herr
Stadlsekretcir, ein unangenehmer Mensch, war da. Es war nicht zu umgehn ge¬
wesen. Der Bürgermeister hätte den „greulichen Kerl," wie die Frau Bürger¬
meisterin sagte, längst entlassen, wenn nicht der Herr Zimmermeister Pfaffe und
andre wichtige Personen unter den Stadtverordnete einen wahren Narren an ihm
gefressen hätten. Der Herr Stadtsekretär benciinn sich schlecht, machte niederträchtige
Gesichter, aß ein großes Loch in der Frau Bürgermeister russischen Salat, trank
viel Bowle und setzte sich dann in einen Winkel und schlief ein. Sonst „störte kein
Mißton das schöne Fest."
Der Herr Stadtrat Sauerbrei stand groß da. Man sang sein Lied, alle
dreizehn Verse zweimal und den letzten Vers noch vielmal und zuletzt mit solcher
Begeisterung, daß die Gläser daran glauben mußten. Der Herr Bürgermeister
hielt eine schöne Dankrcde. Er war gerührt. Er fühlte sich getragen von dein
Vertrauen der Bürgerschaft; er konnte, der Anerkennung und der Unterstützung der
guten Bürger sicher, mit guter Zuversicht nu die Aufgabe» herantreten, die der
Verwaltung oblagen, der Vereinigung der Nektvratsklasse mit der Privatschule »no
der Führung der Schlichtstedt-Obstheiiner Bahn über Pvlkenrodci. Meine Herren,
sagte er, Pvlkcnroda geht einer Krisis entgegen. Eine weitschauende Verwaltung
wird ihr Augenmerk auf die beiden Lebensfragen der Stadt zu richten haben : d c
Erhaltung der Steuerkraft der Stadt und den Anschluß der Stadt an den geistigen
und den materiellen Verkehr der Jetztzeit. In diesem Sinne ... und so weiter.
Darauf setzte sich ein engerer Kreis von Stadtvätern und sonstigen Opti¬
malen zusammen und besprach den Schlachtplan für diese auszuführenden Lebens¬
aufgaben, ohne zu beachten, daß der Stadtsekretär nahe dabei im Winkel saß und
schnarchte.
Es ist in dieser unvollkommnen Welt nun einmal so eingerichtet, daß auf
Zeiten der Erhebung Depressionen, auf Feste Verdruß und Widerwärtigkeiten folgen.
Das Signal dazu gab das sozialistische Organ der benachbarten Kreisstadt, das
einen Bericht über das Polkenröder Bürgermeisterfest brachte, worin folgende Wen¬
dungen vorkamen: Der Bürgermeister in Polkenrvda, ein bekannter skrupelloser
Reaktionär echter Sorte, hat sich zu seiner silbernen Hochzeit von seiner schlappen
und „bhznntdienernden" Bürgerschaft anfeiern und beschweifwedeln lassen. Es Hütte
uicht viel gefehlt, so hätte man diesen» würdigen Herrn zu seinem Ruheposten auch
einen Nuhesessel geschenkt. Aber die Gesinnungstüchtigkeit unsrer Genossen hat
Wenigstens diesen Skandal verhindert. Wir würden die Sache nicht berührt, sondern
jene klägliche Menschensorte ihrer würdelosen Heuchelei und Kriecherei überlassen
haben, wenn nicht an diesem Abend eine Verschwörung gegen das Wohl der Bürger¬
schaft angesponnen worden wäre. — Folgte die Erzählung des ganzen Schlachtplatts,
der ersonnen war, den Anschluß der Stadt um die projektierte Eisenbahnlinie und
die Vereinigung der Privatschule mit der Lateinklasse des Rektors durchzusehen.
Dieser Artikel schlug wie eine Bombe ein. Der Bürgermeister war außer sich,
besonders darüber, daß jemand aus dem engen Kreise der Freunde Verrat geübt
hatte. Einer sah den andern mißtrauisch an, an den Stadtsekretär dachte niemand.
Und die Freunde, die noch vor kurzem begeistert der Lüge und dem Wahn den
^ob gesungen hatten, ließen die Ohren hängen und überlegten schon, ob es nicht
besser sei, etwaigen Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehn und dem Bürger¬
meister mit seinen Plänen die Sorge allein zu überlassen, wie er durchkomme.
Polkenrvda war noch in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein
seines, in einem Winkel einer bergigen Gegend liegendes Landstädtchen gewesen.
Die Gegend war ausgezeichnet schön;'Wald, Wiese, frische Luft, klares Wasser gab
^ in Überfluß, aber die Äcker waren steinig. Nur der im Thule liegende Boden
^'ar gut, aber der reichte nicht aus, die Stadt zu ernähren. Es war darum für
-pvlkeurodci eine Wohlthat gewesen, daß sich dort ans kleinen Anfängen eine ansehn-
"che Handschuhfabrikation entwickelt hatte, die den armen Leuten Arbeit verschaffte,
"der auch viele fremde Arbeiter in den Ort zog und so den Charakter der Stadt
durchaus änderte. Polkenrvda wuchs um das Doppelte der Einwohnerschaft; Polken¬
rvda erhielt eine Villenvorstadt, die sich malerisch am AbHange des Mäuseberges
Ausdehnte. Die Villenbewohner waren zum Teil reich gewordne Handschuhfabrikanten,
^um Teil Leute, die wegen der schönen und gesunden Lage der Stadt dahin gezogen
»urcu. Schon redete man alles Ernstes davon, daß Polkenrvda ein beliebter
T^vhnort für pensionierte Generale und sonstige Exzellenzen werden würde, und
Ichor fing an, auf Spekulation Landhäuser zu errichten. Polkenrvda baute eine
leue Volksschule, die jedem Fremden als Sehenswürdigkeit gezeigt wurde, pflasterte
!»Ne Hauptstraßen neu und war einmal nahe daran gewesen, Gasbeleuchtung einzu¬
führen. Die strebsame Polkenröder Bürgerschaft that' eine Anzahl neuer Läden auf,
vnrunter war — der Stolz der Stadt — der Schlegclmilchsche Mnnnfakturwaren-
aven in der Hainstraße, wo alles zu haben war, was ein Polkenröder Herz nur
r reuen konnte, vom Smnmetjacket bis zur snneru Gurke, ein Laden mit wirklichen
^plegelscheibiN und so elegant, daß man sich fast in die.Kreisstadt versetzt glauben
^prüde.
Eins blieb zu beklagen. Polkenrvda hatte keine Eisenbahnverbindung. Unten
n Lande ging eine große Linie vorüber, aber es hatte sich noch kein Mensch ge¬
sunden, der es für vorteilhaft gehalten hätte, eine Bahn bis hinauf in den Polkcn-
wder Winkel zu bauen. Und so war Pvllenrode ans sich und die umliegende Gegend
"w diese auf Polkenrvda angewiesen. Dies zeigte sich darin, daß die Bewohner
bes „Polkenganes" ihre Einkäufe in Polkenroda machten, und daß in Polkenroda
eine Privatschule für die Kinder der Villenbesitzer und der Beamten der Umgegend
gegründet wurde, während die Bnrgersöhne die Lateinschule des Rektors besuchten.
Freilich wäre es besser gewesen, wenn sich beide Schulen vereinigt hätten, denn so
hatte jede der beiden zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.
Aber in die schöne Pvlkenröder Blüte geriet ein Wurm in Gestalt der Mac Kinley-
Vill, die den amerikanischen Markt zuzuschließen drohte. Und gerade Amerika war
der Hauptabnehmer der Pvlkenröder Handschuhe gewesen. Was sollte werden, wenn
die Pvlkenröder Fabriken eingingen? Dreiviertel der gesamten Kommunaleinnnhmen
wurde von einem Dutzend wohlhabender Fabrikanten und Villenbesitzer getragen.
Die kleinen Ackerbürger mit ihren elenden, verschuldeten Höfen konnten nur wenig
leisten, und die Arbeiterschaft, die der Stadt weit mehr kostete, als sie einbrachte,
kam überhaupt nicht in Betracht.
Diese Lage hatte der Herr Bürgermeister wohl erkannt. Darum schienen ihm
zwei Maßnahmen vor allem geboten zu sein, erstens durch Vereinigung der Latein¬
klasse mit der Privatschule die wohlhabenden und steuerkräftigen Einwohner durch
ihre Kinder an die Stadt zu fesseln, und zweitens alles daran zu setzen, eine Eisen¬
bahnverbindung zu erhalten und dadurch die vvrhandne Industrie zu stärken und
zu neuen Unternehmungen Anregung zu geben. Es bot sich eine günstige Gelegenheit,
dn sich eine Gesellschaft gefunden hatte, die beabsichtigte, die schon erwähnte Eisen¬
bahnlinie mit einer andern hinter den Bergen vorbeiführenden dnrch eine Sekundnr-
bahn zu verbinden. Sie plante die Linie Schlichtstedt-Polkenroda-Obstheim, forderte
aber von Polkenroda einen Zuschuß von 50000 Mark oder Zinsgarantie in einer
gewissen Höhe. Der Bürgermeister griff mit beiden Händen zu und schloß mit
der Gesellschaft ab, natürlich unter der Voraussetzung der Zustimmung der städtischen
Vertretung.
Wir müssen anerkennen, daß der Bürgermeister Recht hatte. Aber was hilft
das, wenn die Bürgerschaft nnn einmal nicht will, wenn die Arbeiterschaft wütet und
sich über nnerschwingliche Steuern beklagt — die sie übrigens gar nicht zahlt,
sondern andre Leute —, wenn der Fvrtschrittsmann Männermut vor Königsthronen
beweist, und die wohlgesinnte Bürgerschaft sich nur für die eignen Interessen zu
erwärmen vermag und nie zu habe« ist, wenn man sie braucht? Es gab eine endlose
und höchst unerquickliche Stadtvcrordueteusitznng, die zum Ergebnis hatte, daß
schließlich keiner mehr wußte, was er wollte, und was beschlossen sei oder beschlossen
werden sollte oder nicht. Die. Linke that so, als verlange der Bürgermeister in
verbrecherischer Weise, daß die 50000 Mark in seine Tasche fließen sollten, die
Rechte wagte weder ja noch nein zu sagen, und die Mitte war für die alte be¬
währte Methode, die Sache zu verschleppen. Und so erhielt der Bürgermeister
seine Vorlage mit einem höchst verwickelten Protokoll zurück. Und schon dies durch¬
zusetzen hatte Mühe gemacht. Denn da war der Zimmermeister Pfaffe, dessen
Schwager ein Speditionsgeschäft hatte, und der bei dem Mangel einer Eisenbahn mit
seinen Pferden schönes Geld verdiente. Dieser hörte nicht anf zu rufen: ^. Aulus,
-r limioe.! was großen Eindruck machte. Ferner war da Herr Kümmerlich, der
sich darüber aufregte, daß die geplante Bahn seinen Acker am Müuseberg durch¬
schneiden könnte, und andre, die Freunde und Verwandte hatten, die voraussichtlich
Von der Bahn nichts verdienen würden. Diese alle waren für Abweisung a liwins
gewesen.
Man kann nicht sagen, daß die Donnerschläge, die im Rathause von Polken¬
roda erklungen waren, ans die Polkenröder einen tiefen Eindruck gemacht hätten-
Am andern Morgen steckte Herr Rentier Leißring, ein Patrizier, dessen Ansehen
seinem Vermögen entsprach, seinen Kopf, wie er täglich zu thun Pflegte, zum Fenster
hinaus, sah die Straße hinab, die Straße hinauf und zog seinen Kopf wieder zurück.
Darauf erschien er, wie täglich, in der Hausthür, die lange Pfeife in der Hand,
prüfte das Wetter und fand, daß Falb Recht habe; darauf wandte er sich seinem
Kaffee zu. las den Kurszettel und war mit der Tagesarbeit fertig bis zu der
Stunde, wo mein sich zum Frühschoppen versammelte. Herr Kaufmann Schlegclmilch
that seineu Laden uns, bediente seine Kunden, steckte den Botenfrauen die Ladenhüter
in den Korb, die er in der Stadt nicht losgeworden wäre, und wickelte ein paar
Pantoffeln in die neuste Nummer des Pollenröder Tageblatts, die den Sitzungs¬
bericht des vorigen Tages enthielt, ohne dieses wichtige Aktenstück gelesen zu haben.
Herr Glimpf, eine der Stützen der Optimntenpartei, las diesen Bericht mit Auf¬
merksamkeit und teilte, was er darüber dachte, mit vorsichtig vorgehaltener Hand
seinen Gesinnungsgenossen beim Frühschoppen mit. Und der Herr Oberpfarrer
redete mit Entrüstung und Betrübnis seiner Frau gegenüber von den Geistern
der Finsternis, dem Wüten des Antichrists, und daß man in diesem allem die Vor¬
zeichen des Endes zu erkennen habe. Aber die Frau Oberprediger hielt es doch
sür nötig, inzwischen noch die Gardinen waschen zu lassen. Und der Herr Rektor
verbaute den jungen Pfaffe, indem er sich dabei vorstellte, daß er den alten in den
Klauen habe.
Am Stammtische bei Mutter Grüncberg spielte man wie alle Abende seinen
Skat und schien sich für ein merkwürdiges Grünsvlu ohne Fünf mehr zu interessieren,
"is für den Bürgermeister und seine Eisenbahn. Als jedoch Zimmermeister Pfaffe
^>d sein Freund der Stadlsekretär um Mitternacht nach Hanse gingen, stieß der
^tndtsekretnr seinen Freund an und sagte: Noch so eine Attacke, dann liegt der
Bürgermeister auf dem Rücken. Und der andre nickte verständnisinnig.
Der Bürgermeister war tief betrübt. Weniger darüber, daß seine Vorlage
""s so harten Widerstand gestoßen war, als darüber, daß er von seinen Freunden
^ schnöde verlassen wurde. In der That, diese Freunde hatten sich nicht gut be-
Uvinnien, sondern hatten den Bürgermeister allein kämpfen lassen und waren merklich
!"si geworden, als sie sahen, daß ihm der Erfolg fehlte. Denn es ist ja nichts
w der Welt erfolgreicher als der Erfolg. Inzwischen drängte die Eisenbahn-
öesellschcift uns Abschluß, indem sie drohte, bet weiterer Verzögerung die Linie über
^räheudvrf statt Polkenroda legen zu wollen. Hiermit trat der Bürgermeister in
„psychologischen Moment," wo sich zum Beispiel ein Feldherr entscheiden muß,
^ er, um die Schlacht zu retten, gegen den Befehl angreifen solle. Wenn der
Bürgermeister den Augenblick vorübergehn ließ, wenn er die Verhandlungen abbrach,
wenn die Gesellschaft ihre Drohung ausführte und die Bahn über' Krähendorf
führte, sti >var Poltenrvdas Zukunft für immer verloren.
^ndem er dies mit schmerzlicher Bewegung bedachte und dabei seine Angen
»er das verhängnisvolle Protokoll schweifen ließ, ging ihm plötzlich ein Licht auf.
^' hatte die Vorlage gemacht, daß die Stadt entweder 50000 Mark Kapital u, lvucis
^'^u zahlen oder eine Ziusgarantie in einer gewissen Höhe übernehmen solle.
Kapitalzahlung war abgelehnt worden, von der Zinsgarautie hatte nnr Dunkles
' Protokoll gestanden. Man konnte bei allerdings etwas gewaltsamer Auslegung"s Protokoll so versteh», daß unter Ablehnung der Knpitalzahluug die Zinsgarantie
genehmigt wordeu sei. Der Bürgermeister beschloß, das Protokoll in diesem Sinne
6" berstehn, und schloß mit der Eisenbahngesellschaft ab.
>, ^"5>" wurde gebaut, vollendet und abgenommen. Als der erste Zug
_ ranzt und angebrüllt zum Bahnhof von Polkenroda emporgeklettert war, als man
' y zum Festessen im Prinzen Ferdinand versammelt hatte und die Stöpsel der Sekt-
^'Jeder flogen, als der Bürgermeister von seinem Freunde Alfred Snncrbrei an-
d» ""d als Wohlthäter der Stadt gefeiert wurde, und als man wiederum
se/ ^ ""^ ^"h" ^" geschworen hatte, da erlebte der Bürgermeister
neu großen Tag. Und jedermann war zufrieden. Eine Eisenbahn war doch eine
w»e Sache. Sogar Pfaffes Schwager war zufrieden, denn er machte die Er-
^)rü"g, daß er wegen der Eisenbahn seine Pferde nicht abzuschaffen brauchte.
"d der besorgte Landwirt konnte nicht bestreiten, daß er für seineu Streifen Acker
^'.gutes Stück Geld bekommen habe, und daß der Nest des Ackers immer noch-^zen brachte.
Aber es kam der Tag, wo die Gesellschaft den Zinsznschuß forderte. Der Bürger-
meister hatte gehofft, daß man sich in die gegebne Lage finden werde, und das
wäre Wohl mich geschehn. Denn man empfand allerseits die Wohlthat der Eisenbahn¬
verbindung, und man sagte sich! Von nichts ist nichts, und wenn die Stadt den
Nutzen hat, kann sie auch Opfer bringen. Es wäre vielleicht alles ganz glatt ge¬
gangen, wenn nicht die verletzte Bürgertugend von Pfaffe und Genossen Rache
geschrieen hätte. Der Bürgermeister habe die Stadt an die Eisenbahn verraten und
verkauft, er sei Schuld nu dem unvermeidlichen Bankrott der Stadt; es fehlte nicht
viel, so Hütte man ihm vorgeworfen, daß er die Gelder veruntreut und im eignen
Nutzen verwandt hätte. Mindestens hatte er im allerhöchsten Grade pflichtwidrig
gehandelt. Im sozialen Blättchen wurden schon Kampfessignale geblasen und die
Zustände in Polkenroda als gänzlich verrottet und verfault dargestellt, und es würde
nicht eher besser werden, als bis dieser Bürgermeister da wäre, wo er hingehörte,
nämlich im Zuchthaus — nämlich, setzte mau vorsichtigerweise hinzu, als Aufseher.
Der Bürgermeister beschwor seine Getreuen bei allem, was ihnen heilig sei, sich des
Versprechens, das sie ihm am Tage der silbernen Hochzeit gegeben hätten, zu er¬
innern und für die höchsten Güter des Vaterlands einzutreten. Wenn man den
andächtigen Mienen der Herren hätte glauben wollen, so waren sie alle bereit, der
Lüge und dem Wahne den Tod zu schwören. Am nächsten Tage lief ein Schreiben
des Herrn Stadtrats Sauerbrei ein, worin er sein Amt niederlegte. Und zugleich
bestätigte sich das Gerücht, er habe seine Fabrik an seinen Werkmeister Wachtel
verkauft und ziehe nach Loschwitz bei Dresden, um dort „vom Grün des goldnen
Lebensbaumes" zu zehren. Die Wahrheit war, daß er erkannt hatte, daß nach
Verlust des amerikanischen Marktes durch die Mac Kiuleh-Bill die Haudschuh-
iudnstrie gelähmt sei, und daß er als vorsichtiger Mann gut thue, sich beizeiten
aus der Affaire zu ziehn.
Damit fehlte dem Bürgermeister seine Hauptstütze, und da sich die andern
Mitglieder des Magistrats überaus lau zeigten und die Stadtverordneten fortfuhren,
deu Bürgermeister wegen der Eisenbahn zu ärgern und anzuklagen, so wurde die
Bürgerschaft eines Tags von der Nachricht überrascht, daß der Bürgermeister sein
Amt niedergelegt habe, um Direktor einer Kohlengrube zu werden.
Am andern Morgen steckte Herr Leißring wie immer seine» Kopf zum Fenster
hinaus, Herr Schlegelmilch wickelte seine Waren in die neuste Nummer des Tage¬
blatts, Herr Glimpf las die Notiz, daß der Bürgermeister abgebe, ohne in Er¬
regung zu kommen. Aber der Herr Oberpfarrer erkannte die Übermacht des Anti¬
christs und die Anzeichen des bevorstehenden Endes immer deutlicher, und der Herr
Rektor verbaute Pfaffe .junior, der übrigens auch ohnedies die Hiebe wohl ver¬
dient hatte.
Als der Bürgermeister abgegangen war, zerfiel die bürgermeistcrliche Partei.
Es war niemand da, der die Führung hätte übernehmen können. Der eine hatte
keine Zeit, und der andre hatte keinen Mut, und so traten denn Pfaffe und Ge¬
nossen die Herrschaft um, Pfaffe in der Stadtverordnetenversammlung, der Stadt¬
sekretär im Magistrat. Das neue Regiment kam sogleich zu der Überzeugung, daß
man, um eine tüchtige Kraft als Bürgermeister zu gewinnen, den Gehalt bedeutend
erhöhen müsse. Früher hatte man dem alten Bürgermeister sein Gesuch um co
paar hundert Mark Zulage rundweg abgeschlagen, jetzt ging die Vorlage glatt dnrch.
Denn ist es doch auch ein großer Unterschied, ob eine Vorlage von einem reaktionären
Magistrat zu Gunsten eines reaktionären Bürgermeisters eingebracht wird, oder
von einer Versammlung, die ans der Höhe der Zeit steht und sich ans die breiten
Schichten des Volks stützt. Die Konsequenz des Beschlusses war natürlich, daß
auch der Stadtsekretär eine ansehnliche Zulage erhielt. Der Stadtsekretär strich
seine Zulage schmunzelnd ein und sagte auf dem Heimwege zu seinem Freunde
Pfaffen Dieses war der erste Streich, doch der zweite folgt sogleich.
Es kam zu der Neuwahl des Bürgermeisters. Zahllose Meldungen liefen ein.
viele befrackte Herren — Fracks in allen Stilen und Lebensaltern - zogen hom-
sagen im Gcinsenmrsch durch die Stadt, um bei den maßgebenden Personen Besuch
zu machen. Im geheimen wurde gewühlt, und im öffentlichen wurden die Chancen
der einzelnen Bewerber abgewogen. Als aber die Wahl abgehalten war und die
Wahlzettel gezählt wurden, kam das unerwartete Resultat heraus: der Stadtsekretär
war mit zwei Stimmen Majorität gewählt worden. Die Herren auf der wohlhabenden
Bürgerseite waren entsetzt, und der Herr Oberpfnrrer erkannte das nahende Ende
mit voller Deutlichkeit.
Die Männer, die einst der Lüge und dem Wahne, womit doch eigentlich der
Herr Stadtsekretär gemeint war, den Tod geschworen hatten, aber leider zu lässig
gewesen waren und' mehr ans das eigne Geschäft als auf das Wohl der Stadt
geachtet hatten, rafften sich auf. Sie forschten in der Vergangenheit des Herrn
Stadtsekretärs nach und fanden da einen dunkeln Punkt, Veruntreuung oder Dis-
ziplinnrnntersuchung oder so etwas, machten Bericht an die Königliche Regierung
und erhoben gegen die Wahl Protest. Die Folge war, daß die Königliche Regierung
ihre Bestätigung versagte. Der Stadtsekretär schnob Rache, wühlte und suchte seine
Gesinnungsgenossen zu bewegen, ihn in wiederholter Wahl zu präsentieren und alle
Rechtsmittel gegen diese frevelhafte Vergewaltigung der bürgerlichen Freiheit an¬
zuwenden. Aber der Stadtsekretär mußte auch seinerseits erfahren, daß der Erfolg
den Erfolg schafft. Als er eines Abends mit seinem Freunde Pfaffe nach Haus
ging und diesen in seinem Sinne zu bearbeiten suchte, sagte dieser cttvas ungnädig:
Nun halten Sie aber einmal endlich das Muri. Schievelbein, Sie haben Ihr Teil
weg; andre Leute sind anch noch dn. Was wollte Schicbelbein macheu, er zog sich
grollend zurück und begnügte sich mit seiner Zulage.
Eine Neuwahl mußte also vorgenommen werden. Nachdem man abermals
geprüft, erwogen und verhandelt hatte, ging als Sieger hervor ein Doktor Scheibe,
das heißt ein entgleistcr Referendar mit einem gewaltigen Schnnnzbarte, gewaltiger
Stimme und großer Zungenfertigkeit, der sich aber in den Händen der maßgebenden
Personen als weiches Wachs erwiesen hatte, und der auch außerdem Schulden haben
wilde, was von gewissen Menschenkennern, die wußten, an welchen Zügeln man
Menschen sührt, nicht ungern gesehen wurde. Nachdem dieser sich Pfaffe und Ge-
nossen leibeigen verschrieben, anch einen körperlichen Eid abgelegt hatte, daß er die
Vereinigung'der Privntschule und der Ncktorklasse hintertreiben werde, wurde er
»mit überwältigender Mehrheit" gewählt, und zwar mit Hilfe der Gruppe, die teils
verborgen, teils offenbar der Sozinldemotrntie angehörte.
Die neue Ära begann. Die Helden dieser neuen Ära waren mit sich selber
höchst zufrieden. Wenn man den Erörterungen über den Stand des städtischen
Haushalts bei Mittler Grüneberg glauben wollte, so war alles über alles Lob er¬
haben. Die alten Knackstiefel waren beseitigt, das Wohl der Stadt lag in den Händen
des freien Mannes, der allein ein Hort aller Bürgertugend ist. Eine goldne Zu-
kunft that sich auf, denn die kommende Zeit mußte eine Zeit der Gerechtigkeit, des
Aufschwungs, der allgemeinen Prosperität sein. Viele von der alten Verwaltung
w unverantwortlicher Lässigkeit unterlassene Verbesserungen wurden sogleich in die
Hand genommen. So die Neupflasteruug der Straße nach dem Bahnhof, die den
^aga des Schwagers von Pfaffe den Weg um zehn Minuten verkürzte, die Ver¬
mehrung der Lampen in der Gegend des Stadtverordneten so und so, die Herab¬
setzung der Pacht, die Genosse so und so zu zahlen hatte, Nnka.if eines Ackerstucks,
das einem Vetter eines Gesinnungsgenossen gehörte, zur Anlegung eines städtischen
^anhoses. Dagegen wurde von der Erhöhung der Lehrcrgehnlte abgesehen —
des Rektors wegen, eines Mensche», der sich nicht entblödete, seine würdelose Ge-
Ununng bei jeder Gelegenheit kundzuthnn. Auch wurden die Verhandlungen wegen
der Vereinigung der Privatschule mit der Ncktorklasse so geführt, daß sie scheitern
mußten.
Noch ein letzter Versuch wurde von dem Kuratorium der Privatschule, das
die Schule aus eignen Kräften nicht mehr aufrecht erhalten konnte, gemacht, man
bat um eine städtische Subvention. Das Schicksal dieser Petition war von vorn¬
herein klar. Der Herr Bürgermeister hätte nicht nötig gehabt, in großen Tönen
von dem Arbeitergroschen zu reden, der nicht zum Besten einer begüterten Minder¬
heit ausgegeben werden dürfe, und Herr Pfaffe hätte nicht nötig gehabt, an die
reaktionären Ketten zu erinnern, unter denen man früher geseufzt hatte. Die Peti¬
tion wurde abgelehnt, und als die Stndtväter der regierenden Partei mit Hoch¬
gefühl die Nathaustrepve hinabstiegen, geschah es in dem erhebenden Bewußtsein,
den Geldsäcken und Dicknnsen einen Schlag versetzt zu haben, den sie fühlten. Denn
nnn mußte die Privatschule eingehn.
In der That, die Schule löste sich ans. Bald darauf verzogen drei wohl¬
habende Familien, ihrer Kinder wegen, die sie nicht in Pension geben wollten. Und
andre schickten sich an, zu folgen.
Immer lausen lassen, was sich nicht halten läßt, sagte der Bürgermeister bei
seinem siebenten Glase Bier. Aber der Stadtkämmerer stellte mit Betrübnis das
schöne Steuereiukommen, das nun verloren ging, in Abzug und fragte sich ver¬
geblich, wie der Ausfall zu decken sei, wenn das so weitergehe. Denn in der That,
der städtische Etat hatte in kurzer Zeit ein ganz andres Gesicht bekommen. Die
schönen Zeiten, wo man noch Überschüsse hatte und einen Nvtgrvschen sparte, waren
längst vorüber. Man stak in Schulden bis über die Ohren und seufzte unter
schwere» Steuern. Und man hatte doch gar nichts sonderliches ausgegeben. Die
Verwaltung war doch in den besten Händen gewesen. Wer war der Schuldige?
Der Bankrott der Handschuhfabrik von Maier und Süßholz, der einen neuen
empfindlichen Steueransfall brachte und viele Arbeiter brotlos machte, verschlimmerte
noch die Lage.
Der Herr Bürgermeister ließ sich durch alles das nicht anfechten. Er trank
mit seinen Freunden alle Abende sein reichliches Teil Bier, spielte den Großartigen
und vermehrte seine Schulden. Man borgte ihm noch, und somit war er zufrieden.
Giugs nicht mehr in Polkenrvde, dann wo anders. Sich grane Haare wachsen zu lassen,
dazu nur er der Mann nicht. Aber der alte Leißring sah in dieser Zeit seit zwanzig
Jahren zum erstenmal nicht früh nach dem Wetter. Er hatte die Nacht nicht ge¬
schlafen, lag krank zu Bett, und seine Haushälterin suchte ihn mit Kamillenthee zu
trösten. Ach, sein Leiden war mit Kamillenthee nicht zu heilen, es saß in seinem
empfindlichsten Organ, in seinem Portemonnaie. Der Bankrott von Meier und
Süßholz kostete ihm manches Tausend, und wer wußte, was noch kam? Und Schlegel¬
milch machte zwar wie alle Morgen seinen Laden auf, aber er seufzte über schlechte
Zeiten.
Der Bankrott war nicht ein zufälliges oder durch besondre Fehler verschuldetes
Ereignis, sondern eine Folge davon, daß Amerika durch seine Schutzzvllgcsetzgcbnng
dem Auslande den amerikanischen Markt verschloß. Wie verhielt sich nun die Arbeiter¬
schaft dieser schwierigen Lage gegenüber?
Gegen die amerikanische Verzollung war nur auszukommen, wenn zu verhältnis¬
mäßig billigen Preisen möglichst gute Ware produziert wurde. Nur die wertvollsten
Sorten vermochten den Zoll zu tragen, und nur mit ihnen konnte man den Kon¬
kurrenzkampf aufnehmen, weil man in Amerika gute Handschuhe in dem Preise und
der Güte des deutscheu Fabrikats nicht herzustellen vermochte. Gute Ware setzt
gute Arbeiter voraus. Aber der Arbeiter hatte keine Lust, sich Mühe zu geben oder
auf die Wünsche des Fabrikanten Rücksicht zu nehmen. Was ging ihn denn der
Fabrikant an? Der Fabrikant, von dein mau annahm, daß er immer die Tasche
voll Geld habe und nur aus Geiz und Bosheit die Arbeiter drücke, war da zum
Lvhnzahleu und mußte mit der Arbeit, wie sie der Arbeiter zu liefern für gut fand,
zufrieden sein. Daß ein Fabrikat überhaupt nur dann absetzbar sei, wenn es eine
bestimmte Güte und bestimmten Preis habe, das kam ihnen nicht in den Sinn, das
sagte ihnen auch keiner ihrer Führer. Und wenn es der Fabrikant sagte, nannte
man es Mumpitz. M"n feierte seinen Sonntag, machte blauen Montag, bequemte
sich Dienstag Mittag unmutig und mit wüstem Kopfe zur Arbeit und verrichtete,
um trotzdem sein Wochenpensnm fertig zu bringen, seine Arbeit flüchtig und schlecht.
Eine solche Ware aber vermochte den Zoll nicht zu tragen und war in Amerika nicht
verkäuflich.
Die Fabrik von Alfred Sauerbrei war von dem Werkmeister Wachtel, der als
Vertreter einer sozialistischen Genossenschaft handelte, gekauft worden. In der so¬
zialistischen Presse wurde über das Ereignis Hnlleluja gesungen. Mau sah das Kommen
der neuen Zeit, die Expropriation des Besitzstandes; man rüstete sich, der Welt zu
beweisen, daß alles glorreich gehe, wenn es nur in die rechten Hände komme. Aber
>»an machte die Erfahrung, daß Hcrrnspielen gar nicht so leicht ist, wie man gedacht
hatte. Zinsen müssen hier wie da gezahlt werden, und die bösen Amerikaner nahmen
wie ihren Zöllen auf die Polkenroder Weltverbesserer gar keine Rücksicht. Und diese
Not mit den Arbeitern, die nichts leisteten, sondern nur immer Geld haben wollten!
-^an hatte es ja früher selbst mitgemacht, aber jetzt war die Sache doch ganz anders.
Wachtel warf in Heller Wut seine Felle, die er gerade in der Hand hatte, an die
^rde und schrie, er wolle die faule Bande schon zwiebeln, und wenn sie keine Ver¬
nunft annähmen, so würde sie schon der Hunger zahm machen. So sagte ein Genosse
d°n seinen Mitgenossen. War das nicht schrecklich? Als nun die Verhältnisse immer
schlechter wurden, fing Wachtel wirklich an, seine Arbeiter zu zwiebeln. Was wollte
^ machen? So, wie es bisher gegangen war, konnte es nicht weiter gehn, dabei
konnte das Unternehmen nicht besteh», und so erlebte die Welt das erbauliche Schauspiel,
Genossen wider ein genossenschaftliches Unternehmen den Aufstand predigten.
In der Hnndschnhfabrikation dieser Gegend ist die Einrichtung getroffen, daß man
^ Gruppen zusammen arbeitet, allemal drei Arbeiter und ein Lehrling. Um nun Lohn
sparen, stellte Wachtel zwei Lehrlinge in die Gruppe, und andre Fabriken folgten
"ach, EA ^h9v sich ein Sturm von Entrüstung. Man berief Arbeiterversamm-
uugen und beschloß die Forderung zu erheben, es dürfe überhaupt kein Lehrling
Zugestellt werden, so lange ein unbeschäftigter Vollarbciter vorhanden sei. Wenn die
ȟbrikanteu darauf nicht eingehn wollten, so werde man in einen allgemeinen Auf-
l und eintreten. Hier fehlten nun allerdings nicht besonnene Leute, die ihre warnende
iiiume erhoben und sagten, es wären jetzt schlechte Zeiten, und man sollte mit dem
treit lieber noch warten. Ach was, wurde von den arbeitslosen Arbeitern gcant-
ortet, sie hätten auch schlechte Zeit, und wenn sie nichts hätten, dann brauchten
"Ndre auch nichts zu haben. Nachdem man sich bis Mitternacht gestritten und sich gegen-
^ ehrenrührigsten Dinge vorgeworfen hatte, einigte man sich dahin, daß vor
usbruch des Streiks der Bürgermeister als Schiedsrichter angerufen werden sollte.
So geschah es. De» Fabrikanten wurde el» Ultimatum vorgelegt, und diese
Hüten, wie sie gar nicht anders konnten, ab. Der Herr Bürgermeister aber nahm
. Schiedsrichteramt an und besprach sich mit seinen Gesinnungsgenossen. Man
^ stillen der Meinung, daß die 'Arbeiter mit ihrem Streik verrückt sein müßten;
no^ ^ Bürgermeister um seine Hintermänner gebunden war, so hingen diese
n>^ ? von den sozialistischen Hilfskräften in der Stadtverordnetenversammlung ab,
U deren Hilfe sie die Majorität gewonnen hatten. Und dazu erhob die Reaktion
A'k""s- 6""^ wieder schamlos ihr Haupt. Das heißt die Herren Optimaten und
u,!>^, ^ waren, nachdem die Dinge gar zu bunt geworden waren, aufgewacht
uns Pfaffe und Genosse» zu Felde zu zieh». Wenn jetzt der äußerste
G ^ ^ Versagte, so konnte die Herrschaft verloren gehn. Man durfte also um
°etes willen nicht gegen die Arbeiter entscheiden.
Das war die Meinung des Parteiführers und darum auch die des Herrn
se^co'M^s. Dieser berief also eine Konferenz. Er machte den Fabrikanten eine
N "lUche Miene und appellierte an ihrem Patriotismus und Gerechtigkeitssinn. Den
Arbeitern riet er zur Mäßigung, ließ aber durchblicken, daß sie eigentlich im Recht
' w, und so führten die Verhandlungen zu keinem Resultat, und die Arbeit wurde
"gestellt. Den Fabrikanten hätte es recht sein können, da nur geringe und schlecht
lohnende Aufträge vorlagen, aber wenn erst längere Zeit nicht geliefert war und die
Kunden abgesprungen waren, so hielt es schwer, die abgebrochnen Beziehungen wieder
anzuknüpfen, und das Geschäft mußte als ruiniert gelten. Und so wurde also
erreicht, daß, als nach Beendigung des Allsstands die Arbeit wieder aufgenommen
wurde, es nur in geringem Umfang geschehen konnte.und daß die große Menge der
Arbeiter ohne Brot war.
Immer nur laufen lassen, was sich nicht halten läßt, sagte der Herr Bürger¬
meister mit lallender Zunge bei seinem zehnten Glase.
Wer war nun an dem Niedergang der einst so blühenden Stadt schuld? Allemal
der nicht, der die Frage stellt, sondern der andre. Da man nun auch tu Polkenroda
dieser Meinung war, so geriet mau in Streit, den man zuletzt dadurch schlichtete,
daß nun dem Bürgermeister alle Schuld aufbürdete. Der Bürgermeister war so
unklug, sich zu verteidigen, und so gab es Auseinandersetzungen zwischen ihm und
Pfaffe und Genossen. Darauf kündigten diese ihm die geliehenen Gelder, und nun
kam es zu gerichtlichen Klagen und großem Skandal. Als sich der Gerichtsvollzieher
schon rüstete, Siegel in des Bürgermeisters Wohnung anzulegen, erlebte die Bürger¬
schaft, daß ihr Bürgermeister in Nacht und Nebel und unter Hinterlassung einer
schweren Schuldenlast davonging.
Immer nur laufen lassen, was sich nicht halten läßt, sagte der Stadtsekretär,
den Herr» Bürgermeister parodierend, und dachte ernstlich daran, seine Kandidatur
wieder aufzustellen. Aber es kam nicht dazu, da sich schnell ein Ersatz für den
erledigten Posten fand, ein Mann, der die Verhältnisse kannte, und der bei seiner
Wahl weiter nichts versprach, als, er wolle sich Mühe gebe», die feftgefahrne Karre
wieder loszumachen. Er gab sich wirtlich auch alle Mühe. Er ließ die Mäusequelle
in Stein fassen, das Wasser chemisch untersuchen und feststellen, daß es eine gewisse
entfernte Ähnlichkeit mit Obersalzbrunn habe; er verhandelte mit Finanzmännern,
indem er ihnen vorschlug, Polkcnroda als Badeort zu gründen; er versuchte Holz¬
industrie nach Polkenroda zu verpflanzen, Spielsachcnfabrikation einzurichten, ja er
sprach das kühne Wort aus: Vor allem müsse, wenn man steuerkräftige Einwohner
in die Stadt ziehen und sie dort festhalten wolle, die Privntschnle wieder ins Leben
gerufen, mit der Lnteinklasse des Rektors verbunden und, wenn nötig, mit städtischen
Mitteln unterstützt werden. Und niemand widersprach ihm.
Ob es helfen wird?
Geht doch unter die Agrarier, sagte der Kantor, der einmal wieder den M»ut
nicht halten konnte, eines Abends bei Mutter Grüneberg, ihr laßt ja so schon Gras
ans den Straßen wachsen.
Da fehlte aber nicht viel daran, so wäre man handgreiflich geworden.
Über den Begriff der parlamentarischen Obstrnttion herrscht
keine rechte Einmütigkeit. Es kommt hierauf wenig an, wenn man sich nur über
die Unsicherheit des' Wvrtsinns klar ist. Daß die' Obstruktion das Funktionieren
des parlamentarischen Apparats unterbinden will, ist nur eine oberflächliche Um¬
schreibung, die Hauptsache dabei ist der schikanöse Mißbrauch der parlamentnrlschen
Einrichtungen, ganz besonders der Geschäftsordnung durch die Pnrlamentsminderhelt
zu dem Zweck, die Mehrheit in der ihr von Rechts wegen zustehenden Befugniszm
Erledigung der Parlnmentsanfgaben zu hindern. Das Schikanöse darf als MeN-
nial nicht'fehlen, die Verdrehung des Sinns der Rechtssätze, sodaß etwas andres, al^
das Recht, das sie bezwecken, ja das Gegenteil davon herauskounnt. Es ist immer
schwer zu sagen, wo die Schikane anfängt. Welcher „gesuchte" Anwalt hat nicht ge¬
legentlich einmal für seiue Prozeßpartei etwas schikaniert? Und welche Parlameuts-
miuderheit hat nicht gelegentlich ein wenig obstruiert, ohne daß mans ihr so sehr
übel genommen hätte? Daß aber die Schikane sittlich verächtlich ist, wird am
besten dadurch bewiese», daß sie im gewöhnlichen Leben, auch wo sie klar zu
Tage liegt, und der Schikancur sehr stolz darauf ist, voll Entrüstung geleugnet wird.
Im parlamentarischen, überhaupt im Politischen Lebe» ist mau zwar viel weniger
^rüde, aber im deutschen Reichstage leugnen die Obstrnktivnisten immer noch, daß
sie obstruieren, obgleich sie durch schikanösen Mißbrauch der parlamentarischen
Satzungen die Reichstagsarbeit völlig zu leidner anfangen, dem parlamentarischen
>>weck ins Gesicht schlagen und ihn vor dem ganzen dentschen Bolle zum Gespött
nincheu. Sie haben wohl noch eine dunkle Ahnung, daß öffentliche Schilaneure und
Rabulisten, boshafte und alberne, in Deutschland schließlich doch immer der öffent¬
lichen Verachtung und Lächerlichkeit verfallen müssen. Jedenfalls haben wirs jetzt
'U' dentschen Reichstage mit ausgesprochner Obstruktion zu thun. Es ist ein in
heutiger Zeit uicht hoch genug anzuerkennendes Verdienst Engen Richters, das
"ußcr Zweifel gestellt und die an dem Unfug beteiligten Parteien und Politiker in
'dran politischen Qualitäten mit einer Deutlichkeit gekennzeichnet zu haben, die nichts
Zu Wünschen übrig läßt. Wir brauchen hier ans die Formen, in denen sich die
Obstruktion bei uns bisher bethätigt hat, nicht naher einzugehn. Die Roheit der
"iierreichischeu Obstruktion ist vorläufig noch nicht erreicht, aber, wie Richter sagt:
^.tels sachliche Debattieren hat aufgehört, seitdem Dcmerredeu bis zu 4^ Stunden
^ ganzen parlamentarischen Verhandlungen zu einer Karikatur zu machen
^'den," und die „Anträge auf namentliche Abstimmung schablonenmäßig sich häufen
"und in Fällen, wo namentliche Abstimmungen sachlich in keiner Weise gerecht-
l^ligt sind."
Wenn Eugen Richter das Zustandekommen der Zolltarifvorlage sachlich be¬
tupft, so ist das sein Recht, und wenn er ihr Zustandekommen auch ohne Ob¬
duktion, solange die Mehrheit selbst in der Opposition steht, für unmöglich hält,
lo hat ex Recht. Die Vorlage ist der parteiagrarischen und grnndjänlich Schutz-
, mischen Mehrheit so weit entgegengekommen, daß sehr vielen, auch wirtschafts-
i^vmisch hin freisinnigen Reichstagsfraltioueu und den Sozialdemokraten sehr fern
lohenden Männern ernste Bedenken dagegen aufgestiegen sind, wenn sie anch wegen
bei vollständigem Scheitern vorauszusehenden Übel, die ihnen noch größere Be-
uilcn machen, für die möglichst baldige Annahme des Negiernngsentwnrfs ein-
^'im. Wjr die Ablehnung jedes Schntzzolls für die deutsche Landwirtschaft
iur heute und für absehbare Zeit für falsch und auch die unentwegte Gegnerschaft
Meu jede Agrarzollerhöhuug für einen Fehler und eine Übertreibung. Aber wenn
r , lcuentmegtcu wegen dieser Zollerhöhuugeu in der Regierungsvorlage auch
u»o s" Hegen den ganzen Entwurf stimmen, so werden wir das wohl bedauern
, ^ verkehrt halten, aber einen schweren politischen Vorwurf werden wir ihnen
g "icht, machen können. Die Mchrheitsparteieu, nach deren Wünschen die
^ ucrhvh,,,,,^, überhaupt vorgeschlagen sind, haben für die Annahme der Vorlage
nuM Oplws'ton und Uneinigkeit hat seit Einbringung des Entwurfs das
schuld "'"^ Verschleppung der Verhandlungen beigetragen und würde anch die Haupt-
„/^ ^nu behalten, wenn es deu Schikaueu der verbündeten Sozialdemokraten.
vert' v'!"""^" Vereinigung gelänge, das Zustandekommen des Tarifs ganz zu
edler, der selten die MehrheitSparteien für sich gehabt hat, und wie er selbst
den ^' Zukunft wohl immer zur Minderheit gehören wird, hat sich ehrlich zu
Al/bekannt: „Das parlamentarische System beruht auf dem Grundsatz der
^eueuuuug des Willens der Mehrheit." Aber wo ist dieser Mchrheitswille heute?
^ unfig ist sein Vorhandensein, auch wenn man alle Fraktionen als vollzählig
Gre
Versammelt betrachtet, noch niemals zum Ausdruck gelangt. Die unerläßliche Vor¬
aussetzung für sein erkennbares Zustandekommen ist die Vereinigung der Mehr-
hcitsparteien auf der Regierungsvorlage. Daran kann auch in diesen Parteien
niemand mehr zweifeln. Das beweist ihre Presse zur Genüge. Sie rechnet längst
damit, daß die Regierung nicht umfällt, daß also das Scheitern des Tarifs besiegelt
ist, wenn das Zentrum und die Rechte nicht der Regierungsvorlage zustimmen.
Nur die verhängnisvolle Scheu, durch die Extreme vertretende Agitation draußen von
den Wählermassen des „Umfallens" geziehn zu werden, hält die genannten Par¬
teien immer noch ub, die allein vernünftige Konsequenz zu ziehn, denn das Scheitern
der Vorlage will im Ernst keine. Bei der Obstruktion tritt das immer deutlicher
hervor, und vielleicht hat der Abgeordnete Richter auch darin Recht, daß die Ob-
strnktionisten dem Zustandekommen des Tarifs dienen, indem sie die Mehrheits¬
parteien zur Erkenntnis der Unvernunft ihres Verhaltens bringen. Vor allem aber
sollten sich die Herren von der Rechten und dem Zentruni durch das Überhand¬
nehmen der Obstruktion und durch die Handgreiflichkeit der ans ihr erwachsenden Ge¬
fahr endlich überzeugen lassen, daß keine Woche mehr verloren werden darf, den Mehr¬
heitswillen, der unausgesprochen da ist, endlich auch auszusprechen. Das bis zur
dritten Lesung hinauszuschieben, geht nicht mehr um, dann fällt der Tarif unter
den Tisch. Eine Mehrheit, die ans Furcht vor der Demagogie nicht den Mut
findet, ihren Willen auszusprechen, kann unmöglich der schikanösen Obstruktion der
Demokratie Herr werden. ^ le machte sich im Kampfe dagegen selbst lächerlich, und
alle etwaigen Vergewaltigungen des parlamentarischen Rechts und Brauchs würden
nnr Wasser ans die Mühle der Schikaneure sein.
8aw8 xubliv» suprows, lex! Sollten^ die Herren von der Rechten und dem
Zentrum wirklich die Scheu vor dem Uttrnt, den einige hyperagrarische Demagogen
hier und da in ihren Wahlkreisen anrichten können, höher stellen als das Gemein¬
wohl? Das ist doch gar nicht zu glauben, wenn man bedenkt, welche Vertrauens¬
stellung gerade sie meist den ländlichen Wählern ihrer Kreise gegenüber einnehmen.
Kein Mensch, der nicht lügt, wird ihnen vorwerfen können, daß sie nicht bis aufs
äußerste für die agrarischen Interessen gcknmpft haben, und kein verständiger Wähler
wird ihnen, wenn sie jetzt nachgeben, sobald er sich nnr ruhig besinnt, einen Vor-
wurf machen. Wer die politischen Anschauungen und Neigungen unsrer Landleute
kennt, weiß, das; sie Ruh und Frieden lieben und ini Grunde durchaus regiernngs-
frcuudlich sind. Wenn nur die systematische, diesen Gefühlen entgegenarbeitende
Agitation aufhört und die Abgeordneten im Verein mit dem verständigen Beamten¬
tum ihnen die Sache richtig darstellen werden, so kann von einer Erbitterung der Land¬
wirte infolge der Annahme der Regierungsvorlage gar keine Rede sein. Natürlich
haben es die konservativen und die Zentrumsabgeordneter in der Hand, eine solche
Erbitterung hervorzurufen. Wenn sie nachher kommen und selbst über die Re¬
gierung Gewalt schreien, dann müssen die Wähler ihnen „Schlappheit" zutrauen,
dann muß ihnen der „Unfall" unverantwortlich erscheinen. Nur dann werden die
Extremen bei den Neuwahlen bessere Chancen haben. Sonst aber nicht.
Aber noch in andrer Weise erwächst angesichts der Obstruktion den Mitgliedern
der Mehrheitsparteien die dringende Pflicht, den Mehrheitswillen energisch zum
Ausdruck zu bringen. Es ist gewiß für viele Abgeordnete ein Opfer, den Reichs-
wgsverhandlmin.er regelmäßig beizuwohnen. Aber das Wegbleiben von den Sitzungen
in dem Maße, wie es seit einigen Jahren eingerissen und auch jetzt immer wieder
zu beklagen ist, ist doch eine offenbare Pflichtverletzung. Es ist uns schou längst
unbegreiflich erschienen, daß die konservative und die Zentrnmspresse diese Vernach¬
lässigung des einmal übernommnen, hochehrenvollen Maubads fortwährend beschimpf,
niemals ernstlich rügt. Daß es keine Diäten giebt, wußte jeder Abgeordnete, als
er sich wählen ließ. Er wußte, daß er Opfer zu bringen habe im Interesse des Ge¬
meinwohls, und die Wähler haben ein gutes Recht, von dem Gewählten zu ver¬
langen, daß er nnn auch das Opfer bringe. Die Frage, ob Diäten oder Anwesen-
heitsgelder eingeführt werden sollen oder nicht, kommt dabei gar nicht in Betracht,
Die ohne Aussicht auf Diäten gewählten Volksvertreter haben keine zu verlangen,
und uns will scheinen, daß für sie eine nachträgliche Bezahlung — weil sie sonst
ihre übernommne Pflicht nicht erfüllen — etwas beschämendes haben müßte. Über
die Bezahlung neu zu wählender Neichstngsabgeordneter behalten wir uus das Urteil
vor. Es liegt auf der Hand, daß diese Pflichtversäumnis der Mehrheilsabgevrdneten
der Obstruktion hauptsächlich ihre gefährliche Kraft verleiht. Die Mehrhcitsparteien
haben dadurch schon vielfach den Schein erregt, daß ihnen die Vollendung des Tarifs
gar nicht ernst sei. Sie provozieren dadurch geradezu die Anzweiflung der Beschlu߬
fähigkeit. Und dann soll die Regierung ihnen helfen!
Die Regierung würde das Verkehrteste thun, was sie thun kann, wenn sie sich
u> diesen häuslichen Streit im Pnrlamentarismns mischen wollte. Sie hat nieder
das Recht noch die Macht dazu. Sie kann nnr mit außerordentlicher Geduld immer
wieder sachlich ihre Vorschläge vertreten lassen und abwarte», was der Reichstag in
drei Lesungen fertig bringt. Weder das Zurückziehn der Vorlage noch die Auf¬
lösung des Reichstags scheint uns, nachdem die Dinge soweit gediehen sind, uni Platze,
^etzt der Obstruktion den Willen zu thun, wäre fast noch übler, als jetzt den extremen
Agrariern den Appell an ihre Wähler zum Geschenk zu machen. Alles muß den
verbündeten Regierungen daran liegen, daß der Reichstag selbst mit der Obstruktion
fertig wird, und daß die MchrheitSpartcien mit ihren Extreme» fertig werden. Wir
sind überzeugt, daß beides erreicht werden kann, we >? die Regierung nicht selbst
nervös wird, sondern zäh aushält. Auch für das endliche Zustandekommen des Tarifs
^ das das Klügste, was sie machen kann. Auch daraus hoffen wir noch, wobei
>vir freilich den Begriff „rechtzeitig" s^r weit fassen. Aber die Gesundung unsers
Parlamentarismus und unsrer ParteiPolitU von innen heraus, wie ihn der Verlauf
der vorliegenden Krisis vielleicht bringen kann, ist uus das allerwichtigste. Nur die
unerschütterliche, unbeugsame, ruhige Stellung der Regierung über den Parteien,
wie sie j^^t vorhanden ist, wird zu diesem Erfolg führen.
Den unangenehmsten Eindruck — und auch darin scheinen wir mit dem Ab¬
geordneten Richter übereinzustimmen — macht die Teilnahme der freisinnigen Ver-
^nignng um der Obstruktion. Die Herren Wndenstrnmpflcr scheinen jn nicht gerade
^" den boshaften Schikaneuren und Rabulisten zu gehören, aber als Schikaneure und
'>ahnt!sten betragen sie sich jedenfalls. Sie sind ein wahres Kreuz, die reinen Gist-
wischer für den bürgerlichen Liberalismus geworden. Die Suzialdemokraten können
"Wh damit zufrieden sein, denn der bürgerliche Liberalismus ist ihr bestgehaßter
^wgner. Es ist in den Grenzboten schon wiederholt ans den Unfug, den diese
»Bereinigung" — gerade vom liberalen Standpunkt aus geurteilt — treibt, auf-
wrrksain gemacht worden, vor allein ans die ungeheure Thorheit ihres aufdringliche»
nhlens ni» die Bundesgenosseuschnft der Sozialdemokratin,. Es ist sehr verlockend,
Uf diese rcitsel- und widerspruchsvolle Erscheinung — sie scheint uns eine aus-
^ wrvchue berlinische zu sein — anch heute näher einzugehn und nach Erklärungen
Doch das würde in Details führen, für die hier nicht Platz ist. Lassen
die Herren sich in ihrer Schikanenr- und Nabnlistenrollc weiter blamieren. Sie
fallen sich selbst zu gut darin, als daß sie zu retten wären.
Schon ernster ist es zu nehmen, daß fast die gesamte liberale Presse nicht den
^"et findet, den vereinigten Obstrnktionisten mit der Offenheit Richters zuleide zu
ver!"c KchlM^ge ^ dem Wirtschaftspolitischeu Liberalismus allein ersprießliche
ähnliche Stellung zu der Regierungsvorlage zu suchen. Es ist unumwunden
zuerkennen, daß die Berliner 'liberale Presse — natürlich rin Ausnahmen
der L^""n,er Zeit einen gemäßigter», verständigem Ton in Bezug auf die Politik
r Regierung angeschlagen hat, der entschiede» klärend und versöhnend wirkt. Das
'ausgesetzte, bissige, hämische Nörgeln und Hetzen hat nachgelassen. Es wird auch
"sur> Partei genommen. Wenn es dabei manchmal am erwünschten Takt fehlt,
^ "og die Neuheit der Melodie mit Schuld sein. Wir wollen uns des Fort-
Schritts, wenn er wahr ist, freuen. In der Obstrnktions- und Tariffrage dirigiert
aber, wie gesagt, in dieser Presse noch ganz der Wadenstrümpflertaktstock.
Am ernstesten aber wird jetzt die Frage nach der Stellung des „Handels-
vertragsverems." Wir haben es nie glauben wollen, daß dieses scharf rechnende,
illusionsfreie, klarköpfige Orchester auf die Dauer diesem Taktstock gehorchen konnte und
lieber deu sozialdemokratischen Obstrnktivnsversuchen aktompagniercn, als der Regierung
im Kampf gegen die Extremen von rechts in annahmefähiger Weise eine Stütze
bieten würde. Muß man es jetzt dennoch glauben? Nach mehreren offiziellen Kund¬
gebungen des Vereins schien es fast so. Da war nichts als ödeste, abgestandenste
Wadenstrümpflerweisheit. Aber hoffentlich kommt jetzt etwas Gärung hinein, da
die Unhaltbarkeit und das Ungeschick der bisherigen Aktion bei zahlreichen Mit¬
gliedern eine lebhafte Opposition wachgerufen hat. Es ist die höchste Zeit, daß die
Herren Kommerzienräte ihre Taktik revidiere». Die Zukunft stellt ihnen, ihren
Fähigkeiten entsprechend, große Aufgaben. Es wäre schade, wenn sie sich mit der
freien Vereinigung blamiertem
Daß sich die Sozialdemokraten im deutschen Reichstage bis zur Höhe der
Leistungen der österreichischen und der italienischen Obstruttionisten versteigen werden,
ist nicht wahrscheinlich. Sie wären auch Narren, wenn sich thäte». Die ihnen vom
bürgerlichen Liberalismus heute nur zu reichlich gespendete Gunst wird ohnedies
nach der Blamage so ziemlich ins Gegenteil umschlagen. Sie haben allen Grund,
bescheiden zu sein, sich nicht so eklatant vor der öffentlichen Meinung ins Unrecht
zu setzen. Das Gefühl nimmt offenbar von Tag zu Tag zu, daß ihrem Treiben
schon viel zu lange viel zu viel Schonung erwiesen ist. So sehr wir immer den
Wunsch verdammt haben, daß durch Aufstandsversnche verführter Arbeiter Regierung
und Nation zu energischem Zurückweisen der dekadenten Anmaßung des Sozialisnius
veranlaßt werden mögen, eine bis aufs äußerste getriebne Obstruktion der demo¬
kratischen Reichstagsfraktion wäre wahrscheinlich eine Lehre von unschätzbar guter
Wirkung. Je toller diese Herren es treiben, um so besser.
Zwei Städte der Rheinprovinz. So lebhaft der heutige Großstädter
sein steinernes Gefängnis verwünschen und so sehnsuchtsvoll er »ach Freiheit, Ruhe
und Natur lechzen mag — die moderne Großstadt bleibt ein Wunderwerk, das
kein Vernünftiger ans der Welt hinwegwünscht. Über der Natur steht der Menschen-
geist, und dessen Anlagen treibt nur der Druck der Not hervor. In das Ge¬
wimmel von ein paar hunderttausend auf engen Raum zusammengedrängter Mensche"
Ordnung zu bringen, ihre Bedürfnisse vom niedrigsten animalischen bis zum höchsten
Kulturbedürfuis zu befriedigen, den Streit ihrer widersprechenden Interessen z»
schlichten, das ist wahrlich leine Kleinigkeit. Es ist doppelt schwierig, wenn die
Einwohnerzahl so rasch wächst, daß die Einrichtungen, die man heute beschließt,
morgen, wenn sie fertig sind, schon nicht mehr genügen. Was man in unsrer Zeit
den sozialen Geist nennt, das ist nur eine neue Gestalt der alten Nächstenliebe,
aber eine sehr wichtige Spielart von ihr, sozusagen die Nötigung aller zur be¬
ständigen Ausübung dieser Tugend, die für den Hinterwäldler eine Verzierung bleibt,
mit der er sein Dasein aller fünf Jahre einmal schmückt, wenn er ans seinen ein¬
samen Streifzügen einen Menschen findet, der unter die Räuber oder in eine Grnve
gefallen ist, oder wenn ein Vertreter an seine Thür klopft. Nur der ungeheure
Druck, deu die Meuschcnnnhäufnng in einer Großstadt übt, vermochte den sozialen
Geist zu erzeugen, einen Gemeingeist, der sich uicht einmal auf die wahrlich ge-
nügend großen Aufgaben des eignen Gemeinwesens beschränkt, sondern, seiner wu -
schaftlichen Bedeutung in dem noch weit größern Organismus des modernen Staates
bewußt, um dessen Erhaltung mitwirkt. Das alles wird einem reclst klar, wenn
man einen ausführlichen Verwaltungsbericht liest, wie ihn Dr. Otto Brandt,
Geschäftsführer der Handelskammer zu Düsseldorf, im Auftrage dieser Stadt ver¬
faßt hat (Studien zur Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte der heav
Düsseldorf im neunzehnten Jahrhundert. Düsseldorf, August Bagel, 1902). Er
wünscht mit diesem Versuch die Städte zur gemeinsamen und planmäßigen Benutzung
ihrer in der Verwaltung gemachten Erfahrungen für die praktische Nationalökonomie
anzuregen. 135 Seiten ' seines Buches sind der Zeit von 1800 bis 1870, die
übrigen 300 den letzten drei Jahrzehnten gewidmet. Wie Großes die Düssel¬
dorfer Stadtverwaltung geleistet hat, geht aus der einfachen Thatsache hervor, daß
Düsseldorf eine der schönsten, reichsten, ans allen Gebieten des industriellen und des
geistigen Lebens tüchtigste» Städte ist, obwohl sie ganz und gar eine Schöpfung des
neunzehnten Jahrhunderts ist. Mit 12000 Einwohnern — jetzt hat sie 214000 —
ist sie in dieses eingetreten und hat aus dem Mittelalter nicht einmal den monu¬
mentalen Schmuck ansehnlicher Bauwerke geerbt. Das Bedürfnis des Großstädters
nach Natur durch Hineintragen der Natur in die Stadt zu befriedigen, hat sich die
„Gartenstadt am Rhein" mehr als irgend eine andre angelegen sein lassen (ihren
vielen Parks gedenkt sie nach Abbruch der Ansstellungsgebände einen neuen hinzu-
s"fügen auf der Ausstelluugsiusel). Zusammen mit einer vortrefflichen Bauordnung,
Wvhnuugspolizei. Arbeiterfürsorge und sonstigen Wohlfahrtsmaßregeln hat diese
gesundheitsfördernde Anlage die Sterbczahl auf 19,4 hinabgedrückt (gegen 25,4 in
Chemnitz, 26,2 in Vrcslan, 28.4 in Königsberg; nur von Aachen mit 18,4 wird
Düsseldorf übertroffen). Ausführlich wird dargelegt, wie wohlthätig Miguels Steuer¬
reform auch in dieser Stadt wirkt, und wie die Bürgerschaft selbst durch weise
Besteuerung des Grund und Bodens, durch Regelung des Baukredits und dnrch
eigne Bauthätigkeit praktische Vvdcnbesitzreform und Wohnnngspolitik treibt. Em
gwßer Teil des Buches ist natürlich dem Handelsverkehr und seinen Organen, der
Rheinschiffahrt und den Eisenbahnen, gewidmet. Wenn man liest, wie die Städte
und Staaten um Niederrhein einander bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts
mit Stapelrcchten und Zöllen bekämpft, gehemmt und eingeschränkt haben, und wie.
nachdem die Dampfkraft des modernen Verkehrs diese Schranken durchbrochen hat,
der Kampf in andrer Form fortlebt: in Tarifkriegen und in dem Kvnkurrenzslrcit
Wischer Wasserstraßen und Eisenbahnen — auch die Stadt Düsseldorf gehört zu
denen, die sich vor dem Mittellandkanal fürchten —, dann kann man an der Be¬
rechtigung, ja an der Notwendigkeit des Sozialismus nicht mehr zweifeln. Nicht
eines utopischen, sondern eines theoretischen Sozialismus. der als Orientiernngsplan
dient und uuter Umständen einzelne sozialistische Maßregeln aurae. Jede Bcrlehrs-
erleichternng müßte doch ein Vorteil für alle sein, ebenso wie jede Vermehrung der
Gntermasse'. die ja natürlich den Preis der Güter ermäßigt. Wenn nnn Guter-
^mehrung und Verlehrserleichternngen mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften.
s° kann an dieser widersinnigen Wirkung nur ein Konstruktionsfehler der Gesell¬
schaft schuld sei» Dieser Konstruktionsfehler besteht eben darin, daß Triebkraft der
Pwdnllion und des Verkehrs nicht die Absicht, Bedürfnisse der Gesellschaft zu be¬
ledigen, sondern die Absicht der konkurrierenden Individuen, zu erwerben, ist.
Tür die Eisenbahnen wird der Fehler immer mehr dnrch Verstacitlichnng, also dnrch
^«e sozialistische Maßregel beseitigt. Wenn alle Bahnen dem Staate gehören,
dann kann nicht mehr die eine Linie tund eine konkurrierende bankrott gemacht
werden; und der Staat vermag die Wohlthat dieses Verkehrsmittels auch dort zu
gewähren, wo die einzelne Linie vorläufig uicht rentiert. Wie Gewaltiges die in
^"er modernen Kommune zusammenwirkenden Kräfte zu schaffen vermögen, hat
Düsseldorf auch dadurch bewiesen, daß es nicht, wie z. B. Görlitz, einen Quadrat-
Meilen großen Grundbesitz von den Vätern ererbt, sondern, was es heut an Grund
und Boden besitzt, in der neuen Zeit hoher Bodenpreise erworben hat, trotzdem
Wh aber eines Vermögens von <>6 Millionen Mark erfreut, dem nur 44 Millionen
Schulden gegenüberstehn. Mit einer interessanten Betrachtung über den Unter-
Med zwischen der sich selbst genügenden mittelalterlichen und der heutigen, in das
Wirtschaftsleben des Staates als Organ eingegliederten und dnrch fortwährenden
i^nzug mit frischem Blute gespeisten 'Stadt schließt die verdienstvolle Arbeit, der
Stadtverlvaltungcu, Nationalökonomen und Svzialpolitiker für reichliche Belehrung
und Anregung denken werden. Vermißt haben wir nur eins, was freilich nicht
leicht zu beschaffen gewesen wäre: eine genaue Auskunft über die Zahl der Hand¬
werksmeister, die diesen Namen verdienen. Sie hätte nur durch persönliche Um¬
frage ermittelt werden können, weil, wie auch Brandt durchblicken läßt, die Statistiker
Handwerker, grvßindustrielle Lohnarbeiter und Hausindustrielle unter einander-
mengeu. In dem Bericht über den Schlachthansbetrieb wird beschrieben, wie das
Schlachthaus, die Wnrstfabrikation und der Delikateßladen zusammenwirken, die
kleinen Fleischer außer Kurs zu sehen; die regsamsten behaupte» ihre Selbständig¬
keit dadurch, daß sie sich in Händler mit Fleischwaren verwandeln. Ans das Schicksal
dieses einen Handwerks muß man um so mehr unerfreuliche Prognose» für die
übrigen banen, da gerade die Nahrnngsmittelgewerbe bisher für die gesichertsten
gegolten haben.
In Form eines Prachtwerks, dessen erster Band (599 Seilen in Quart) uns
vorliegt, hat der Oberbürgermeister Zweigert von Essen einen vom Statistischen
Amte seiner Stadt bearbeiteten Verwaltungsbericht herausgegeben, unter dem Titel:
Die Verwaltung der Stadt Essen im neunzehnten Jahrhundert mit besondrer
Berücksichtigung der letzten fünfzehn Jahre. (Essen. (K. D. Baedeker, 1902.) Der
Herausgeber setzt im Vorwort auseinander, daß die jährlichen gedruckten Verwaltungs-
berichte, auf deren Herausgabe mit Recht immer mehr Städte verzichteten, keine»
Wert habe», weil sie nnr trocknes, für Uneingeweihte »„verständliches Zahlenmaterial
enthalten und über die sich durch viele Jahre hindurch ziehenden Orgcmisations-
arbeitcn nur bruchstückweise berichten. Das vorliegende Werk nnn, das den ganzen
Verlauf jedes einzelnen solchen Organisntivnswerlcs erzählt, alle wichtigen Aktenstücke
ans den Verhandlungen darüber mitteilt, alle Einzelheiten bis hinunter zur Be¬
soldung jedes einzelnen Mitglieds der Stadtkapelle enthält und die Darstellung durch
eine Unmasse von Ansichten, Karten und Plänen illustriert, wird von allen Stadt¬
verwaltungen willkommen geheißen und von vielen als unentbehrliches Hilfsmittel
geschätzt werden. So manche Stadt, die an einem verpfuschten Rat- oder Stadt¬
hause leidet oder wegen der Organisation ihrer Schulen keinen Rat weiß, wird sich
Erleuchtung daraus holen. Mit seinen Unterrichtsanstalten hat sich Essen unendliche
Mühe gegeben, und man begreift es, welcher Ingrimm eine solche Stadt, die so
viel Kopfzerbrechen, saure Arbeit und Geldopfer auf ihre Schulen verwendet, packen
mußte, als zum Dank dafür das Lehrerbesoldnngsgesetz von 1897 den größern
Städten die Stnatsbeiträge kürzte. Wäre das wenigstens nnr zur Unterstützung
wirklich unvermögender Landgemeinden geschehn! Aber mau weiß ja, daß Gro߬
bauern und Rittergutsbesitzer davon profitieren, deren Volksbildungseifer und Jugend¬
fürsorge ungefähr auf der Höhe der Trakehuer Gestütverwaltung stehn. Die — freilich
vergebliche — Petition der Stadt Essen gegen das Gesetz wird im Wortlaut mit¬
geteilt. Auch in diesem Werke vermissen wir Auskunft über die Lage des Hand¬
werks. Ans dein Umstände, daß die zu erwartende Schülerzahl der geplanten obli¬
gatorischen Fortbildungsschule auf 5990 geschätzt, an eiuer andern Stelle die Zahl
der Haudwerkerlehrlinge auf 598 angegeben wird, lassen sich Schlüsse ziehn, ebenso
aus der Bemerkung, daß sich die alte Fortbildungsschule und ihr Direktor Heiler-
manu „große Verdienste um die Heranbildung technischer Hilfskräfte für die hiesige
Großindustrie erworben" haben. Doch darüber wird vielleicht der zweite Band
noch einiges melden, der hoffentlich auch einen Stadtplan dringen (der vorliegende
Band enthält nnr auf deu Gas- und Wasserverteilungsplänen winzige Stadtplänchen)
und das gewiß höchst merkwürdige Verhältnis der'Stube Krupps zur eigentliche»
Stadt darstellen wird. In diesem Bande erscheint der Kanonenkönig nur als Haupt¬
steuerzahler und Spender von 100000 Mark für Fnchtlassen, außerdem auf der
Photographie eines Kaiserbesnchs. Essen und Düsseldorf haben sich beide für die
Bürgermeisterverfasfung entschieden und auf den Luxus eines Magistrats verzMel.
Sie befinden sich wohl in der konstitutionelle» Monarchie; besonders Ehlen, da.'
früher eine sehr unruhige Kmmnune gewesen ist und namentlich in der Zeit von
1847 bis 1856, wo die kollegialische Verfassung galt, an unerquicklichen Streitig¬
keiten gelitten hat,
Amel-Nietzscheana. Schopenhauer sagte zu einer Zeit, wo der lMtige Anti¬
semitismus noch unbekannt war: der eigentliche Grundfehler des jüdischen Charakters
sei der Mangel um vel'oennäia,. Danach müßte Nietzsche eigentlich ein Jude sein;
denn der hervorstechende Zug in seinen Aphorismeusammlnngen, die man die
Nietzschische Philosophie nennt, ist das Verhöhnen und cynische Herunterreißen alles
dessen, wofür der normale Mensch und insbesondre der Deutsche Liebe, Verehrung
und Ehrfurcht empfindet. Da Nietzsche, wie und wo er nur kann, den deut¬
schen Genius, das deutsche Volkstum, die deutsche Dichtung, Musik und Philo¬
sophie schmäht und zu verkleinern sucht, muß man wohl annehmen, daß der Pole
dem Juden nahe verwandt ist; denn mit Stolz rühmt sich ja Nietzsche, daß er kein
Deutscher sei, sondern von einem polnischen „Adlichen" namens von Nietzki abstamme.
Diese Abstammung wirft übrigens ein interessantes Licht auf die Lehre Nietzsches
uun dem „Übermenschen"; denn der Übermensch, der seine Mitmenschen, die Herden¬
tiere, »ur als Piedestal oder als Objekt der rücksichtslosen Ausbeutung behandelt, ist
der richtige Sproß des bekannten polnischen Schlnchtizen, der mich sein Bauernvolk
jederzeit so unbarmherzig geschunden und ausgenutzt hat.
^ Wunderbar erscheint es und als ein Beweis für die Urteilslosigkeit unsrer
T^gespresse, daß trotz alledem die Verhimmlung dieses Schriftstellers in den Zeit¬
schriften noch immer nicht aufhören will, und man immerfort noch von den sogenannten
,., .)caua" heimgesucht wird. Nietzsche nennt Kant den „Begriffskrüppel";
Schopenhauer, auf den er sich ursprünglich stützte, und zu dein er als seinem Meister
Mousschaiite, ist gänzlich von ihm überwunden und zum alten Eisen geworfen;
'Uchard Wagner, den er in seinen frühern Schriften vergötterte, ist für ihn, seit
^ den „Parsifal" dichtete und komponierte, der „Konsistorialrat." Aber der eigene-
"che und vornehmste Gegenstand seines Hasses ist die christliche Religion. Die christ-
'k)e Dogmenlehre hat ja zu allen Zeiten ihre Gegner gehabt, aber auch sie waren
'Ut den Gläubigen darin einig, daß die sittlichen Anschauungen und Lehren Christi
unanfechtbares und verehrungswürdiges Gemeingut der ganzen Menschheit seien.
^ erade diese — die Nächstenliebe, die Demut, die Sanftmut, die Hingebung und
^wpferuug für andre — sind jedoch ein Dorn im Auge Nietzsches. Sie charakterisieren
en »Herdenmenschen," sie müssen überwunden und zum Teufel gejagt werden, damit
er Ȇbermensch," der kein Mitleid, keine Liebe, keine Selbstaufopferung, sondern nur
^' rücksichtslosen Willen zur Macht kennt, heranreifen möge.
u.,c Verhältnis dieses Übermenschen zu der blonden Bestie, die alles und alle
schlingt, um ihren Heißhunger zu stillen, bleibt unklar. Aber was dem ruhig-«nerven nicht verborgen bleibt, ist der rote Faden, der steh durch alle dichÄußerungen seines kranken Hirns hinzieht. Während Nietzsche l.rsprungl.es e.n be¬
gabter, geistreicher Mensch war. der als Universitätsdozent in der Schweiz eme
geachtete Stellung einnahm., für große Persönlichkeiten und deren Werke en.e b^w .
Schwärmerei beendete, schlug mit zunehmender geistiger Abnormität und d in ve v-
Wirrenden Größenwahn alle Verehrung und Anbetung in U)r Gegenteil um ^gereichen Einfälle, die blendende Ausdrucksweise, blieben, aber d'e »Umwer engaller Werte" stellte sich ein. Alles und alle, die ihm verdächtig erschaue .seine
"hin zu verdunkeln. ihn in den Schatten zu stellen, ""'^e» W"en ^h" ^Aphorismen heruntergerissen werden. Richard Wagner wurde ^so ^ >in stormU
'"t". der Ring des Nibelungen, Lohengrin und Beethovens M W
S°geu Bizets Carmen und dergleichen flache Espritwerke; Kant war der „Be^
Mffskriippel.« Jesus der unheilvolle Züchter des Herdenmenschen.
Trotzdem wird nun den. deutscheu Volke dieser durch und durch kranke, bedauerns¬
werte, in Liebe und Haß wie ein Rohr hin und her schwankende „Übermensch als der
große Philosoph von einer gewissen (oder vielmehr gewissenlosen) Tagespresse vor¬
geführt. Fühlt man sich durch ihre fortgesetzten Besprechungen und Lobpreisungen
wieder und wieder veranlaßt, in Nietzsches Schriften zu lesen, so gewinnt der deutsche
gebildete Leser, der anch die Schriften unsrer wirklichen großen Philosophen kennt,
immer wieder denselben Eindruck. Ein geistreicher, scharf pointierter Einfall nach
dem andern, der Maugel an vorveumlia, die echt jüdisch-polnische, cynische Verhöhnung
und Verleugnung alles dessen, was uns wert und teuer ist nud war. Aber die
fortwährende Geistreichelci erregt bald tiefen Ekel, sobald mau dahinter kommt, daß
dem ganzen Knäuel von Aphorismen keine tiefe, wahrhaft in sich zusammenhängende
Anschauung der Welt, geschweige deun eines vernünftigen, wertvollen Kosmos zu
Grunde liegt. Ein sogenannter „Gedankenblitz" widerspricht dem andern. Auf
Seite 30 steht das Gegenteil von dem, was auf Seite 20 im Prophetenton verkündet
wurde, gerade wie vorher Schopenhauer und Wagner bald in den Himmel erhoben,
bald in den Staub gezogen wurden. Und solche Widersprüche finden sich nicht etwa
bloß in nebensächlichen Dingen, sondern in solchen, die zu den Grundlehren und
-Anschauungen Nietzsches gehören.
Nur auf ein krasses Beispiel soll hier hingewiesen werden. Die Hauptlehre
Nietzsches geht dahin, daß der bisher vom Christentum gezüchtete Herdenmensch
verdrängt werden und dem „Übermenschen," der alle sittlichen Werte umgewertet
und Liebe, Mitleid, Aufopferung n. dergl. Herdentugenden abgelegt hat, Platz machen
müsse. Wenn dieser Übermensch, der nur an sich denkt und an die Bethätigung
seines mächtigen Willensdrangs, erst rein gezüchtet sei, dann wird alles anders
werden, und eine schone Zukunft der Welt anbrechen swenn anch nur für den „Über¬
menschen" ; denn das Herdeuvieh bleibt immer da und muß da sein, um den materiellen
Zwecken des „Übermenschen" zu dienen). Also das Ziel liegt in der Herbeiführung
einer schönern Zukunft, eines bessern Diesseits.
Nun fasse man das zusammen mit der andern von Nietzsche immer gelehrten
und festgehaltn«?!, Theorie von „der Wiederkehr aller Dinge." — Also trotz der
Züchtung des „Übermenschen" kommt der ganze jetzige Zustand mit all seinem Elend,
seinen Werten, die umgewertet werden müssen, und dem Mangel des Übermenschen
wieder, und in der ewigen Wiederholung solcher jämmerlichen Phasen des wandel¬
baren kleinen Menschen besteht der Sinn der Well!
Wie ist es nur möglich, daß solche widerspruchsvollen Phantasmen dem dentschen
Volle fortwährend als neuste Errungenschaft des menschlichen Geistes, die alle bis¬
herige Philosophie überstrahle, angepriesen wird! Nur dann wird es erklärlich,
wenn man bedenkt, wie wenige sich heutzutage die Mühe nehmen mögen, in die
tiefgründige, zusammenhängende Gedankenwelt eines Spinoza, Leibniz, Kant, Schopen¬
hauer oder Lotze einzudringen. Da ist es freilich bequemer und unterhaltender, sich an
den Aphorismen und den paradoxen, witzigen Einfällen eines Nietzsche zu delektieren,
mit dem behaglichen Gefühl, daß in Wahrheit und Wirklichkeit doch die bisherigen
Werte nicht umgewertet werden, und daß die Welt nicht durch Aphorismen aus den
Angeln gehoben wird.
Aber trösten wir uns mit der Hoffnung, ja der Zuversicht, daß der schlach-
tizische „Übermensch," wenn er sich jemals in seiner natürlichen unverhüllten Ge¬
stalt — entblößt von allen christlichen, germanischen Tugenden und Werten »ut
nur angethan mit dem rücksichtslosen Willen zur Macht — bei uns leibhaftig zeigen
sollte, von der „blonden deutschen Bestie" derart durchgewalkt, niedergetreten und
weggefegt werden wird, daß er nicht wiederkommt, womit dann auch die Theorie
von der „Wiederkehr aller Dinge" erledigt sein würde.
is die Vertreter der verbündeten Regierungen für die letzte Flotteu-
vorlnge die Neichstagsmehrheit dadurch zu ge.vinum suchten, daß
^sie zur Durchführung der Flottenvermchruug in der Hauptsache
^ weder eine Anleihe noch neue Steuern zu brauchen. sondern mit
^! den laufenden Reichsciuuahinen auskomme,, zu können erklärten,
^ in den Grenzboten diese Taktik bedauert worden. Bei der Dringlichkeit
^6 Zwecks erschien uus der Weg der Anleihe — genügende Sicherung der
chuldentilguug vorbehalten — als der einzig richtige, da auch neue Steuerein-
U"denen für das Reich, die hinreichende Erträge liefern könnten, nicht ans dem
zu schütteln wären, sondern die längst als nötig erkannte, aber noch
uieuinls ernstlich in Angriff genommne durchgreifende Reichsfinanzreform zur
^rciussetzung Hütten. Daß die Regierungsvertreter zu ihrer Taktik durch die
^""uuug der Neichstagsmehrheit veranlaßt Aaren, machte die Taktik nicht
Der Erfolg hat leider gezeigt, daß trotz großer Sparsamkeit gegenüber
denübrige.. Reichsaufgabeu und trotz der vom Reichstag dew.it.gteu innen
teuern die Einnahmen des Reichs die Ausgabe,, nicht mehr decken vielmehr
das Etatsjahr 1902 ein sogenanntes Defizit vou 00 M.llwueu Mark auswerfe
und für das uüchste Jahr ein mehr als doppelt so großes Dchzck in Auos.ehe
steht. Wie der Neichsschatzsekretür erklärt hat, ist das „Steuerterrau, abgegrast.^U"d .»an spricht schon ernstlich davou, daß das Reich seiue Fehlbeträge aus
'"M zu decke., gezwungen sein lverde. Das wäre natürlich -
ubi'öl
N in^'^'^ ^rfassuugsmüßig zulässig ist — finanzwirtschaftlich eine ausgesprochne
smudsaktion, die unter keinen Umstände., vorgenommen werden darf, ohne
^ K zugleich dafür gesorgt würde, daß keine weitern Defizits mehr vorkommen.
s.s^""'" kürzlich unter dem Titel „Die Reichsfinanzreform" erschienenen Buche*)
MMvert du>v ^!»,.c,,er,... ^.. - .v, ..« -.- ^>____ ... >— ...de.,..«.»der Verfasser. Ur. Haus Koppe in Rostock, die Lage ... der Hauptsache
änlich treffend folgender.uaßeu: Nicht sowohl die Thatsache, ^ß h e
Defizit in solcher Höhe ergeben habe, als vielmehr die „geradezu u. en.e 0not
ausgeartete Schwierigkeit/eine Deckung dafür zu finde... ohne bilde. ano ver
einen Not in eine andre größere zu geraten," sei das Charakteristische der Lage,
verschärft durch die trübe Aussicht in die Zukunft, in den kommenden Jahren
dieselbe Schwierigkeit noch gesteigert, noch unentwirrbarer zu finden. Nicht daß
die Quellen der Einnahmen zur Zeit weniger stark flösse», sondern daß der
ganze komplizierte Apparat, der sie der Neichskcisse zuführe, im Begriff des
Versagens sei, und wiederum, daß dieses Versagen nicht durch eine vorüber¬
gehende Stockung in der Funktionierung, sondern durch die Untüchtigkeit des
Apparats selbst hervorgerufen werde, darin liege die besondre Bedeutung dieses
Defizits: „die Versorgung des Reichs mit den Mitteln, deren es zur Erfüllung
seiner verfassungsmäßigen Aufgaben bedarf, ist in Frage gestellt."
Sicher ist dieser Tadel unsers Neichsfinanzapparats nicht zu hart, und
die Beurteilung des thatsächlichen Notstands nicht zu düster. Wer in die Zu¬
kunft sieht, wird sich überzeuge» müsse», daß — auch abgesehen von der mög¬
lichst schleunigen Durchführung des Flotteubnuplcins — viel eher auf eine Zu¬
nahme der dringend nötigen Ausgaben des Reichs zu rechnen ist, als auf eine
Abnahme. Die in der letzten Zeit in manchen Neichsämtern beobachtete Spar¬
samkeit läßt sich nicht aufrecht erhalten ohne Schädigung der wichtigsten Auf¬
gaben. Und wenn man auch in der Belastung des Reichs mit dein Unterhalt
oder der Sulwentionicrnng neuer großartiger sozialer Institutionen etwas weniger
hastig vorzngehn braucht, als manche unsrer Svzialrcformer wünschen, so werden
leider für das Heerwesen Mehraufwendungen kaum zu vermeiden sein. Auf
keinen Fall darf die 1904 bevorstehende neue gesetzliche Behandlung der Prä¬
senzstürke der Armee nnter dem Druck der Neichsfinauzuvt leiden. Durch Be¬
schneiden der Ausgaben ist also nicht zu helfen, und wenn, was sehr wohl
denkbar ist, „im Fall eines außerordentlichen Bedürfnisses" — wo die Ver¬
fassung dies allein erlaubt — das Reich sich zu neuen Anleihen erschließen
müßte, so würde das zugleich zu geregelter Schuldeutilguug und zur Sicheruttg
dazu bestimmter dauernder Einnahme» zwingen.
Erscheint schon deswegen die Zukunft der Finanzlage des Reichs un¬
erträglich und gefährlich, so wird die Aussicht uoch trüber bei einem Blick in
die Vergangenheit. Niemals ist es den Staatsmännern lind Politikern im Deut¬
schen Reich uubeknunt gewesen, daß der Finanzapparat — so, wie er ist
nichts als ein provisorischer Notbehelf sei und über kurz oder laug versage»
müsse, und daß wer das Reich nicht als Provisorium behandeln wolle, ihm auch
einen definitiven Finanzapparat zu geben verpflichtet sei. Wissentlich hat mau
die Notlage entstehn lassen, wissentlich die aufrichtigen Freunde des Neichv
gehindert, ihr vorzubeugen, und wissentlich die dazu berufnen Neichsbeamten
zu einer Flickarbeit und zu einem aussichtslosen Fortwnrsteln veranlaßt, wofür
spätere Zeiten schwer Verständnis und Entschuldigung finden werden. Wie wird
man — Bundesrat und Reichstag — sich jetzt dazu stellen? Hat der bisher in dieser
Frage bethätigte böse Wille dem guten Willen Platz gemacht? Wer die innere
Politik in Deutschland bis auf deu heutigen Tag unbefangen und aufmerksam
verfolgt hat, kann das bezweifeln. Denn leider 'hat Dr. Köppe wahrscheinlich
Recht, wenn er sagt, der ausgesprochne „föderalistische" Zug, der seit der Lez
Franckenstein das öffentliche Leben im Reiche in zunehmender Weise durchwehe,
habe den Widerstand gegen die Einführung direkter Reichsstenern, wenn mögliche
noch unüberwindlicher gemacht. Aber Recht hat er sicher nicht, wenn er diesen
„föderalistischen" Zug selbst sür berechtigt ansieht und die Heilung der Neichs-
finanznot damit versuchen will, daß nun, sich ihm ganz unterwirft. Nicht nur
der Einführung direkter Reichssteuern, sondern jeder wirklichen Reichsfinanz-
reform hat dieser „föderalistische" Zug seit dreißig Jahren Widerstand geleistet,
und er wird jetzt vollends Widerstand leisten, wenn ihm nicht endlich der im
Wesen des Reichs begründete und deshalb für den gedeihlichen Bestand des
Reiches ganz unentbehrliche ..unitarische" Zug Einhalt gebietet. Nichts lehrt
so schlagend, wie die Geschichte des Reichsfinanzwesens, daß dem Partikularismus
w den Einzelstaaten viel zu viel Rücksichten ans Kosten des Reichs erwiesen
worden sind. Nicht nur das gute Recht der Einzelstaaten unangetastet zu
erhalten ist Zweck und Ziel dieses Partikularismus gewesen, sondern von An¬
fang an hat" er jede Schwierigkeit, die die Reichspolitik, jede der vielen Lücken
und Unklarheiten, die die Reichsverfassung bot, dazu benutzt, die Rechte des
Reichs zu kranken, seine Macht zu schwachen, sein Fertigwcrden hinauszuschieben,
wo nur es sich mit der verfassungsmäßigen „Reichstreue," auf die er natürlich
Wert legte, machen ließ. Und dieser „föderalistische" Zug ist so sehr in Mode
gekommen, daß seine Vertreter es jetzt wagen können, jede bescheidne, unabweis¬
bar werdende verfassungsmäßige Wahrung der Neichsinteressen gegenüber dem
behaupteten „unbeschränkten finanziellen Selbstbestimmungsrecht" der Einzel-
staate» als Übermaß „unitarischer" Begehrlichkeit zu verschreien und den kritik-
l"sen Massen wohl gar die Absicht und die Gefahr eines unumschränkten Kaisers
^wu Deutschland vorzureden. Die Reichssinanzreform ist ihrem Sinne und
Wesen nach eine militärische Aufgabe wie die Reichsgründung selbst, und wer
^r Losung dieser Aufgabe in der föderalistischen Strömung zusteuern Null,
der wird die Neichsfinanzen mir in peju8 reformieren. In einer Zeit, wo
sich der Partikularismus dank seiner klugen Ausnutzung der Schwächen des
Reichs zu eiuer Macht emporgearbeitet hat, die es nur zu oft als Gebot
slaatsmünuischer Klugheit erscheinen läßt, ihm um den Bart zu gehn, wird
wan es vielleicht nnstaatsmmmisch finden, gegen ihn zu den Waffen zu rufen.
Aber der Kampf um die Reichsfinanzreform, dem nicht mehr auszuweichen ist,
wird wohl viele eines bessern belehren. Insofern darf man vom Defizit im
Reichsctat eine gute Wirkung erwarte».
Wer sich mit Fragen wie die Reichssinanzreform beschäftigt, wird sich
w'mer gegenwärtig halten müssen, daß schon bei der Begründung des Deutschen
Reichs, sowohl bei den grundlegenden völkerrechtlichen Verträgen, wie auch
bei dem Entwurf der Reichsverfassung die zentrifugalen Elemente einen sehr
großen Einfluß ausgeübt und so dein Reich und seinen einzelnen Institutionen
den uuitarischeu Charakter in einem Grade vorzuenthalten vermocht haben, der
durch allen juristischen Scharfsinn von Staatsrechtslehrern nicht wegintcrpretiert
und -gedeutet werden kann. Vielleicht wird das neue Werk von Ottokar Lorenz
über die Gründung des Reichs und Kaiser Wilhelm I., dessen Kritik vom
historischen Standpunkt nicht meine Sache ist, die heilsame Wirkung haben,
do jüngere Generation über die beklagenswerte Verfassungsmäßigkeit des
„zentrifugalen Elements" im Reiche wieder etwas mehr die Augen zu öffnen,
und damit zugleich über die große Gefährlichkeit des „föderalistischen Zuges,"
der mehr und mehr im deutschen Volke um sich zu greifen scheint. Und vollends
über die Gefahr eines solchen Umsichgreifens unter den deutschen Fürsten, wovor
uns der Himmel bewahren möge. Es ist gerade jetzt bedenklich, dieses „zentri¬
fugale Element" durch gewagte Interpretationen aus der Reichsverfassung heraus¬
bringen zu wollen. Man provoziert damit nur den Partikularismus und setzt
ihn nachträglich ins Recht. Wir bekennen offen, aber mit dem tiefsten Bedauern,
daß z. B. Max von Seydel in seinem Kommentar zur Reichsverfassung gegen¬
über den Unitariern vom juristischen Standpunkt — um den es sich dort allein
handelt — meist im Recht ist. Aber das steht für uns fest: hätte Wilhelm I.
schon zu Neujahr 1871 die von Seydel unanfechtbar dargelegten Konsequenzen
der zentrifugalen Einflüsse auf die Reichsgründung gekannt, dann wäre es
damals zur staatsrechtlichen Etablierung des Deutschen Reichs und des deutschen
Kaisertums überhaupt nicht gekommen, sondern es hätten erst weitere, vielleicht
nicht schmerzlose politische Entscheidungen stattfinden müssen, die dem unitarischen
Willen der großen Mehrheit der deutschen Fürsten und des deutschen Volkes
das Übergewicht über den zentrifugalen Willen einer sehr kleinen, aber auf ihre
völkerrechtliche Freiheit pochenden Minderheit verschafft hatten. Jetzt haben
wir nun einmal die ausgesprochen „föderalistische" Verfassung, und wir müssen
damit rechnen. Aber noch weiter als diese Verfassung selbst geht, sollen die
Herren Föderalisten nicht gehn dürfen, ohne sich den Vorwurf der Reichs-
gegucrschaft gefallen lassen zu müssen.
Über die verfassungsmüßige Grundlage der Reichssinanzwirtschaft ist fol¬
gendes zu bemerken. Nach Artikel 4 Nummer 2 der Reichsverfassung unter¬
liegen der Gesetzgebung des Reichs: „Die Zoll- und Handelsgesetzgebung und
die für Zwecke des Reichs zu verwendenden Steuern." Der aus der Ver¬
fassung des Norddeutschen Bundes herübergenommene Artikel 70 der Reichs-
verfassung lautet:
Zur Bestreitung aller gemeinsamen Ausgaben dienen zunächst die etwaigen
Überschüsse der Vorjahre, sowie die aus den Zollen, den gemeinschaftlichen Ver¬
brauchssteuern und aus dem Post- und Telegraphenwesen fließenden gemeinschaft¬
lichen Einnahmen. Insoweit dieselben durch diese Einnahmen nicht gedeckt werden,
sind sie, solange Ncichssteuern nicht eingeführt sind, durch Beiträge der einzelnen
Bundesstaaten nach Maßgabe ihrer Bevölkerung aufzubringen, welche bis zur Hohe
des budgetmäßigen Betrages durch den Reichskanzler ausgeschrieben werden.
Obwohl die staatsrechtlichen Autoritäten über den Inhalt der meisten
Artikel der Reichsverfassung sehr verschiedner Meinung sind, stimmen sie doch
über den Inhalt des Artikels 70 in folgenden Punkt'en, auf die es hier an¬
kommt, so ziemlich überein: daß erstens die Madrid'ularbeitrüge nur als mi
Provisorium eingeführt worden sind, das durch ausreichende eigne Einnahmen
des Reichs (Steuern) als Definitionen ersetzt werden sollte; daß sich zweitens
das Recht des Reichs zur Einführung von Steuern auch auf direkte Steuern
erstreckt, und daß sich drittens die Matrikularbeitragspflicht der Einzelstaaten
auch ans die Deckung der Fehlbeträge bezieht, die sich ergeben, wenn die eignen
Einnahmen des Reichs hinter dein budgetmäßigen Anschlag zurückgeblieben
sind, oder die Ausgaben den budgetmäßigen Anschlag überstiegen haben, wohe,
jedoch auch diese nachträgliche Erhöhung der Matriknlarbcitrüge vom Bundesrat
und Reichstage durch Gesetz festgestellt werden müssen.
Diese verfassungsmäßige Rechtslage hat die im § 3 des Gesetzes vom
15. Juli 1879 enthaltne Frauckensteinsche Klausel dahin abgeändert, daß trotz
der durch dieses Gesetz bezweckte» gewaltigen Vermehrung der Einnahmen
des Reichs die als Provisorium geschaffnen Matrikularbeitrüge acht beseitigt,
sondern - die Ansichten, ob die Klausel eine Verfassungsänderung bedeutet,
sind geteilt. Bismarck bestritt das - thatsächlich zum Definitionen wurde«.
Der § 8 des Gesetzes vom 15. Juli 1879 lautet:
Derjenige Ertrag der Zölle und der Tabaksteuer, welche die Summe von
130 Millionen Mark' in einem Jahre übersteigt, ist den einzelnen Bundesstaaten
nach Maßgabe der Bevölkerung, mit welcher sie zu den Matrikulnrbeiträgen heran¬
gezogen werden, zu überweisen.
Daß die Frauckensteinsche Klausel eine Bethätigung des ausgesprochen
föderalistischen Zuges" oder, wie Fürst Bismarck sagte, „der zentrifugalen
Elemente" war^ braucht nicht mehr bewiesen zu werden, das ist notorisch.
Politisch hat die Klausel ja auch das gewollte partikularistische Ziel erreicht:
die finanzrechtliche und finanzwirtschaftliche Endgiltigkeit und Selbständigkeit
der Reichsinstitutionen bis heute verhindert, den Staatenbund statt des Bnndes-
swats jedenfalls in dieser Beziehung aufrecht erhalten. Daß sich tue von der
Klausel erhofften finanzwirtschaftlichen Vorteile für die Einzelstaaten schließlich
^ schweren Nachteil verwandelt haben, ändert nichts an der Thatsache, daß
Übelwolle» gegen das Reich die Klausel diktiert hat, und entbindet die Freunde
und Vertreter des Reichs auf keinen Fall von der Pflicht, nach Verewigung
der Matrikularbciträge durch den Partikularismus nun erst recht darauf zu halten,
daß dem Reich sein gutes Recht, die Einzelstnaten zur Deckung eines Defizits
un Reichshaushalt inÄnspruch zu nehmen, gewahrt werde. Solange die Matri¬
kularbciträge in dem durch die Frauckensteinsche Klausel nicht ausgehöhlte»,
sondern befestigten Sinne der Reichst'ersass»»g besteh», kann streng genommen
ni der Neichswirtschaft ein Defizit gar nicht vorkommen. Laband sagt darüber
^ unsrer Kenntnis nach ohne Widerspruch gefunden zu haben — u. a.
folgendes: „Erweisen sich jedoch die budgetmäßige» Matritnlarbeiträge als
unzureichend zur Deckung der Neichsausgaben, sei es, weil die sogenannten
^gnen Einnahmen des Reichs hinter dem budgetmüßigen Anschlage zurück¬
geblieben sind, oder weil die Ausgaben den bndgetmäßigen Anschlag über¬
legen haben, so äußert der materielle Verpflichtungsgrund seine rechtliche
Wirkung, und es bleibt für die Bundesstaaten die Verpflichtung bestehn. den
fehlenden Betrag nachzuzählen. Es giebt in der Reichswirtschaft kein Defizit
u» formnleu Sinne des Finanzrechts, solange die einzelnen deutschen Staate»
zahlungsfähig sind, weil in den Matriknlarbeiträgen eine subsidiürc u»d alle
Bedürfnisse umfassende Einnahmequelle voll unbeschränktem Umfang gegeben
Und an andrer Stelle schreibt er: „Sind aber die Matriknlarbcitrüge
höher mis die Überweisungen, so bedeutet dies, daß die Organe des Reichs
Ausgaben festsetzen, welche durch die zur ausschließlichen Verfügung des Reichs
stehenden Einnahmequellen keine Deckung finden; vielmehr wird die Aufbrin¬
gung der erforderlichen Mittel den Einzelstaaten auferlegt und ihnen die Sorge
überlassen, wie sie dieser Verpflichtung mit den ihnen noch verblichnen Ein¬
nahmequellen genügen. Sind sie dazu außer stände, so müssen die Einzel¬
staaten Anleihen aufnehmen, um die finanziellen Bedürfnisse des Reichs zu
befriedigen."
Das Recht des Reichs, die Einzelstaaten zur Deckung des sogenannten
Defizits in Anspruch zu nehme», steht also fest. Aber das Reich braucht nicht
bei jedem Defizit davon Gebrauch zu macheu. Es kann (nach Laband) z. B.
die Deckung durch Einführung einer Steuer, oder durch Aufnahme einer
Anleihe, oder durch Übertragung des Defizits in deu Etat des folgenden
Jahrs beschließen. Der zuletzt genannte Ausweg verbietet sich deu heute zu
beklagenden Fehlbeträgen der Neichsfinanzwirtschaft gegenüber von selbst. Schon
jeder Versuch wäre lächerlich. Von der Deckung durch eine Ncichscmleihe
wird gesprochen, und ebenso ist man, so unter andern Dr. Köppe, auch schon
wieder auf der Suche nach neuen — und zwar indirekten — Reichssteucrn,
obwohl nach der Versicherung des Neichsschatzsekretürs, die dnrch vielfache
Erfahrungen bestätigt erscheint, dieses „Steuerterrain abgegrast" ist. Von
amtlicher Stelle ist unsers Wissens noch nichts darüber verlautet, wie man
die Deckung der Fehlbeträge herbeiführe» will. Der Reichsschatzsekretär hat
allerdings den Zeutrumsantrag, die etwaigen Mehrerträge der Getreidezölle
nach Inkrafttreten des neuen Zolltarifs für neue Arbeiterversicheruugszweige
zu verwenden, durch deu Hinweis auf das vorhandue große und die drohenden
noch größern Defizits beantwortet, aber er wird Wohl selbst am besten wissen,
daß diese Mehreinnahme nicht sicher ist, oder daß, wenn sie sicher wäre, sie
nicht einmal zur Defizitdeckung ausreichen, geschweige denn den wachsenden
Ausgaben genügen würde. Die Mehrerträge aus dem neuen Zolltarif könnten
nur zum Norwand für ein weiteres Fortwursteln genommen werden, dessen
UnVerantwortlichkeit bei dem heutigen Stande der Reichsfinanzen ans der Hand
liegt und nur entschuldigt werden könnte, wenn die kompetenten Organe des
Reichs — Bundesrat und Reichstag — wieder ans partikularistischen Rück¬
sichten die Neichsfinanzverwaltnng zu solchen UnVerantwortlichkeiten zwängen-
Der neue Zolltarifentwurf trägt deu Schlitzzollcharakter noch ausgesprochner
als der geltende Tarif. Erreicht er den Schutzzweck, so ist er als Finanzzoll¬
tarif unbrauchbar. Jede auf ihm beruhende Reichsfiuanzpvlitik hätte auf Sand
gebaut. Zur Grundlage für eine Neichsfinanzreform, ja nur für ein über eimge
Jahre hinweghelfendes Fortwursteln, wäre der erhoffte Mehrertrag aus dem
neuen Tarif fast noch weniger zu brauchen als zur Grundlage neuer Arbeiter¬
versicheruugszweige. Immerhin wäre die Beschlagnahme der Mehrerträge für
den letztgenannten Zweck angesichts der akuten Krisis des Reichsfiuanzwesens
Heller Unsinn, und der Neichsschatzsekretär hatte Recht, das anzudeuten. Weiter
hat er auch nichts gethan.
Die Frage, ob das Reich die Fehlbeträge durch eigne Anleihen und eigne
neue Steuern zu decken suchen, oder ob es von den Einzelstaaten nachträgliche
oder erhöhte Mntrikularbeiträge zu diesem Zweck einziehen soll, muß zunächst
nach rein praktischen Gründen beantwortet werden, wobei es selbstverständlich
ist. daß das Reich die finanzielle Leistungsfähigkeit der Einzelstaaten ebenso
berücksichtigt wie seine eigne. Damit kommt mau zu der Haupt- und .Kernfrage:
Sind die Einzelstaaten Steuer- und kreditkräftiger als das Reich? Der heute
besonders starkwehende „föderalistische Zug" — und ihm nolsus voler«
folgend, wie es scheint, auch Dr. Köppe .....- weist diese Frage kurzer.Hand und
der Behauptung zurück: An eine Mehriuanspruchuahmc der Einzclstnaten rst
gnr nicht zu denken, sie sind zahlnngsuufühig. Das Reich muß sich selbst helfen,
aber es darf dabei nicht einmal von seinem guten Recht, über das von ihm
bisher allein beweidete Terrain der indirekten Steuern und Zölle hinauszugehn,
Gebrauch machen, obgleich das Terrain abgegrast ist. Das ist die neueste Be¬
thätigung der „zentrifugalen Elemente" im Reich. Wird die Neichsfinanz-
Kerwaltnng auch ihr gegenüber vou Bundesrat und Reichstag zur Unterwerfung
Wider besseres Wissen gezwungen werden?'
Deal nur wider besseres Wissen würde diese Unterwerfung geschehen
können. Darüber ist nach den in den letzten Jahren von verschiednen Seiten
wiederholt vor der Öffentlichkeit erbrachten Nachweisen über die Finanzlage
der Einzelstaaten neben der Finanzlage des Reichs — die der Partiku¬
larismus wissentlich herbeigeführt hat — gar kein Zweifel möglich. Die augen¬
blickliche Lage des Rcichssteuerterrmus ist schon oft genng gekennzeichnet
worden. Über die Steigerungsmöglichkeit einzelner Reichssteuern läßt sich
natürlich sprechen. Für die brennende Frage der Defizitdeckung kommen sie jetzt
W gut wie gar nicht in Betracht. Die Bemühungen der letzten Flottenkommission,
neue Reichsstenern bald flüssig zu machen, beweisen das zur Genüge. Nicht
besser, wie um die Steuerkrnft. steht es um die Kreditfähigkeit des Reichs.
Die Milliardeuschulden. die es in verhältnismäßig kurzer Zeit für die Wehrkraft
hat machen müssen, haben Schutz und Sicherheit für Leben und Wirtschaft
dn Bewohner des Reichs wie der Einzelstaaten geschafft», und wenn heute
"der morgen dafür neue Anstrengungen nötig werden sollten, so werde» selbst¬
verständlich weitere NeichSschulden gemacht werden müssen und, Gott sei Dank,
°und gemacht werden können. Diese Schulden stehn in ihrer Notwendigkeit und
Berechtigung wenn man schon davon sprechen will — noch weit über den
sogenannten produktiven Anleihe» von der Art der Eisenbahnschnlden. Man
braucht die Reichsschulden gar nicht in einem übertragnen und künstlichen
Sinne zu produktiven zu stempeln, mir sie politisch zu rechtfertigen. Aber
ganz verkehrt wäre es, sich und andern den finanzwirtschaftlichen Unterschied
Zwischen den Neichsschnlden und den Staatsschulden z. B. Preußens, die
so gut wie ganz Eisenbahnschnlden sind, zu verschleiern. Die eigne Kredit¬
fähigkeit des Reichs kann mit der Kreditfähigkeit der Einzelstaaten überhaupt
nicht verglichen werden. Wenn sie auf der heutigen Finanz- und Steuer-
derfassung des Reichs allein beruhte, so wäre sie nicht weit her. Sie ist
fundiert auf die Fincmzkraft der Einzelstaaten. Sollte es den „zentrifugalen
Elementen" — auch ohne klar bewußte Absicht — gelingen, die Zuverlässigkeit
^es Zusammenhangs des Neichskredits mit diesem Fundament oder auch nur
den Glauben an sie AN stören, so würde das Folgen haben von unabsehbarer
Tragweite,
Es ist ein Verdienst Adolf Wagners, daß er die günstige Vermögens¬
lage, die starke und verhältnismäßig geschonte Steuerkraft und die Unbedenk¬
lichkeit der Verschuldung Deutschlands im Vergleich mit den Hauptstaaten des
Auslands allen Zweifeln gegenüber klar nachgewiesen hat. Er mußte dabei
vielfach Reich und Einzelstaaten zusammenfassen, um den Vergleich mit dem
Auslande überhaupt zu ermöglichen. Aber seine Nachweise unterscheiden auch
Reich und Einzelstaaten, und dabei zeigt sich, daß fast alles Lob, das Deutsch¬
lands Finanzlage zuerkannt wird, der Lage der Einzelstaaten gilt, uicht der
des Reichs. Zu verweisen ist hauptsächlich auf Wagners Lehrbuch der Finnnz-
wissenschaft, dessen 1899 und 1900 erschienener vierter Teil zunächst die Finanzen
der deutschen Bundesstanten einzeln und dann, woraus es uus besonders an¬
kommt, die Ncichsbesteuerung und ihre Beziehung zur Laudesbesteucruug
is. 646 ff.) sehr eingehend behandelt. Zu verweisen ist außerdem auf eine sehr
verdienstliche und gewissenhafte statistische Zusammenstellung über die Neichs-
uud Staatsfinanzen in dem Jahrbuch des Deutschen Flvttenvereius für 1901.
Der Verfasser bezeichnet auf Grund seiner Zahlen die Fincmzkrnft — Stener-
und Kreditfähigkeit — als eine geradezu glänzende, was wieder unmittelbar
allein für die Einzelstaaten gilt. Auch die amtliche Statistik des Deutschen Reiches
hat neuerdings den Anfang gemacht, die Finanzen der Einzelstaaten zu be¬
arbeiten und darzustellen. Was von den Ergebnissen bis jetzt vorliegt (1. Viertcl-
jahrheft 1902), bestätigt in der Hauptsache die Zuverlässigkeit der vom Flotten-
Verein gebrachten Zahlen und damit zugleich das Ergebnis der Wagnerschen
Nnchwcisuugen, daß die Finanzlage der deutschen Einzelstaaten im Vergleich
mit dein Auslande, aber auch im Vergleich mit dem Reiche uicht nur nicht
ungünstig, sondern recht günstig zu nennen ist.
Das paßt zu der von dem „föderalistischen Zuge" jetzt leider, wie es
scheint, nicht ohne Aussicht auf Erfolg behaupteten Zahlungsunfähigkeit der Einzel¬
staaten in Bezug ans das Neichsdefizit wie die Faust aufs Auge. Es würde
eiuen wunderbaren Eindruck machen, wenn die Neichssinanzverwaltung und
auch der Bundesrat, nachdem sie sich bei der jüngsten Flottenvorlage ans den
Standpunkt der günstigen Beurteiler der Verhältnisse der Einzelstanten gestellt
haben, jetzt auf einmal das entgegengesetzte Urteil der „zentrifugalen Elemente"
acceptieren und dann 1904, wenn es zur Neufeslstellung der Präsenzstärke der
Armee kommt, wieder auf das günstige Votum zurückgreifen wollten. Wenn
man gewissenhaft alles, was vielleicht auf der einen Seite zu schön, auf der
andern zu schwarz gefärbt ist, in Abzug bringt, wird man vom finanzwirt¬
schaftlichen Standpunkt die Frage: Wie sind die jetzt schwebenden Defizits zu
decken, durch erhöhte Matrikularbeiträge der Eiuzclstnaten oder durch neue
Steuern und Anleihen des Reichs?— entschieden im Sinne der ersten Alter¬
native beantworten müssen. Füllt die Entscheidung im Neichsschntzamt anders,
so wird das der Beweis dafür sein, daß im Bundesrat und Reichstag der
Pnrtikularismus auch gegenüber der nllerdriugendsten Notlage einen übermäch¬
tigen Einfluß ausübt, und zwar wissentlich zum Schaden der vitalsten Interessen
der Reichsfinanzen. Daß die im partikularistischen Sinne durch die Frnncken-
steinsche Klausel eingeführten überreichlicher „Überweisungen" durch ihre Un¬
sicherheit und ihre gewaltigen Schwankungen die Finanzwirtschaft der Einzcl-
stnaten in hohem Grade schädlich beeinflußt bilden, sodciß sich jetzt sehr
empfindliche Unbequemlichkeiten bemerkbar machen, kann an dem Urteil über
die Leistungsfähigkeit einerseits des Reichs, andrerseits der Staaten zur Deckung
des Defizits nichts ändern. Die Einzelstaaten sind trotzdem die kräftigern,
mögen sie auch, wie die Sachen hente liegen, den Decknugsbetrag leichter durch
Anleihen als durch Steuern ausbringen können.
Aber die Deckung der etatsmäßigen Fehlbeträge steht hinter der dauernden
Neichsfinauzreform an Bedeutung weit zurück, wie ja auch Köppe das sehr
gut dcirgethcm hat. Laband sagt darüber: „Der gegenwärtige Zustand des
6'Ulanzrechts ist infolge dieser Mißgriffe der Gesetzgebung ein sehr unbe¬
friedigender, und die Herstellung einer bessern Ordnung des Verhältnisses
Mischen der Finanzwirtschaft des Reichs nud der der Einzelstaaten kann
gegenwärtig als die dringendste Aufgabe der Reichsgesetzgebung bezeichnet
Werden."
War in der Hauptsache der „föderalistische Zug" daran Schuld, daß es
gekommen ist, obgleich man schon bei der Begründung des Reichs die Un¬
Haltbarkeit des provisorisch angenommenen Finanzrechts allseitig erkannte und
bei der Verewigung dieser Unhaltbarkeit darüber nicht zweifelhaft sein
°unde, so ist doch dabei auch von „konstitutionellen Rücksichten" viel geredet
worden. Sie können aber hier als rein politischer Natur beiseite gelassen
^den. Nur der Wunsch sei geäußert, daß auf keiner der beiden Seiten die
Rüstung für den „Konfliktsfall" wieder so sehr zur Hauptsache gemacht werden
''wge, daß es uicht zu einer brauchbaren und dauernden Grundlage für das
In'he Zusammenarbeiten von Parlament und Negierung kommt. That¬
sächlich hat übrigens bisher der „konstitutionelle Zug" im Vergleich mit dem
"si'deralistischen" in der Entwicklung unsers Reichsfinanzrechts durchaus den
"^rü gezogen.
^ Das den sogenannten „eignen" Einnahmen des Reichs vor allem fehlt,
^ngt in die Angen: die Beweglichkeit, die Anpassungsfähigkeit um
wechselnden Bedarf. Köppe sagt darüber mit Recht, es genüge nicht,
. gegenwärtige Lücke in den DccknngSmitteln zuzustopfen, auch nicht, einen
s ssdarüber hinnus festzulegen, sondern die Einnahmeverhältnissc
'si seien in der Weise beweglich zu machen, daß eine Aupassuugsmvglichleit
^ Anpassungsfähigkeit zwischen Bedarf und Deckung bestehe, daß geeignete
"Achtungen vorhanden seien, den Ausgleich zwischen beiden herbeizuführen,
No ^ /^^"'^ eine neue „Reform" — die mit jedem mal an Schwierigkeiten
Fall „ g'U'ebenen werde — notwendig zu machen. Dieser „bewegliche
note^ v^^ "'""^ ^'"^ ^''^ gesucht, wie er als
Weil"?! ^ erkannt werde, aber das Suchen wäre bisher ohne Erfolg gewesen,
bei' s ^ Betracht kommenden Steuerqucllei, eine solche Beweglichkeit
Mi?'!' ^" "löglich scheine, ohne entweder ihre Ergiebigkeit zu schwächen oder
Mge volkswirtschaftliche Interessen zu verletzen. Trotzdem macht sich Köppe
^renbo
selbst auf die Suche, und zwar allein auf dem „abgegrasten" Terrain der
bisher dem Reich überlassenen Zölle, Verbrauchssteuern und Stempelabgaben,
wobei er die Zölle und Verbrauchsabgaben auf unentbehrliche Lebensmittel
ausscheidet, nur die „Finauzzölle" heranziehn will. Zuschlage von neun bis
zehn Prozent zu den zur Zeit geltenden Zoll- und Steuersätzen würden nach
seiner Rechnung genügen, sechzig Millionen Mark, also den Fehlbetrag von 1902
aufzubringen. Es wird ebenso schwer werden, die Bedenken gegen die „Be¬
weglichkeit" dieser abgegrasten Abgaben zu überwinden, wie die gegen die andern
auf demselben Terrain liegenden. Die alljährliche Festsetzung würde immer
eine Unsicherheit in Handel und Gewerbe hervorrufen, gegen die man sich mit
Händen und Füßen wehre» wird. Und das Ergebnis würde dann sicher ein
unzureichender Ertrag der Zuschlage sein. — Wir enthalten uus einer ein-
gehendem Kritik. Sie wird zurecht kommen, wenn das Neichsschatzamt mit
Vorlagen in dieser Richtung herauskäme, wovon noch nichts verlautet. Ganz
stimmen wir dem Verfasser bei in dein Wunsche, den Tabakgenuß höher zu be¬
steuern. Namentlich wäre n. E. eine kräftige neue Zigarrcnstcuer zu empfehlen.
Aber auch dabei ist der Wunsch, den Verbrauch stark einzuschränken, für uns
die Hauptsache, auch wenn die Steuerguelle dabei versiegt. In demselben
Sinne plaidieren wir auch für eine weit höhere Besteuerung der alkoholischen
Getränke. Das Steuerinteresse sollte hier überall in den Hintergrund treten.
Am bemerkenswertesten an Köppes Standpunkt ist für uns das Negative:
die schroffe Perhorreszierung nicht nur erhöhter Matrilularbeiträgc sondern
auch jeder „direkten Neichssteuer," und wie er sie begründet. Er sagt dar¬
über: Die Einführung direkter Neichssteueru sei nach wie vor ein aussichts¬
loses Projekt. Die Regierungen der Einzelstnaten könnten darnnf nicht ein¬
gehn, „ohne eines der wesentlichsten ihnen verblielmen Souvernnitätsrechte, das
Finanzhohcitsrccht, zum Opfer zu bringen." Dieses „nahezu selbstmörderische
Opfer" komme für sie absolut nicht in Frage. Dasselbe müsse aber auch
gelten von Projekten, die die direkte Besteuerung zwar nicht formell zur
Reichssachc machten, sondern nur eine einheitliche Kodifizierung der sämtlichen
partikularen direkten Besteuerungen im Wege der Reichsgesetzgebung herbei¬
führen und auf Grundlage dieser Vereinheitlichung die Matrikularbcitrüge durch
kontingentierte Zuschlage zu den solchergestalt gleichartig gemachten direkten
Landesstenern nach dem Maßstabe des „steuerlichen" Ausbringens der Einzel¬
staaten ersetzen wollten. Dieses Projekt — von Miqnel seinerzeit im Reichs¬
tage gestreift, von Preuß in seiner Schrift: „Reichs- und Landesfinanzen" (1894)
näher ausgeführt - laufe doch auf das bekannte „Wahns mir den Pelz und mach
mich nicht naß!" hinaus. Denn wenn die Grundsätze und die Veranlagungsart
durchweg reichsgesetzlich geregelt wären, so bleibe den Einzelstaaten thatsächlich
nur noch das Recht, die Höhe des jeweiligen Steuersatzes zu bestimmen, der
zur Deckung ihres laufenden Bedarfs nötig sei: „Sie sinken dann thatsächlich
hinab auf das Niveau der Gemeinden, die nur die Höhe ihres Bedarfs und
die Höhe des erforderlichen Zuschlags zu den Staatssteuern feststellen, haben
also im wesentlichen nur noch eine rechnungsmäßige Aufgabe zu lösen. Deo
ist aber weit entfernt von dem »unbeschränkten finanziellen Selbstbestimmung^
recht«, das staatlicherseits — namentlich besonders nachdrücklich kürzlich vom
bayrischen Finanzminister — sür die Einzelstaaten als unbedingte Notwendig¬
keit gefordert worden ist. Man kann den Einzelstaaten nicht den Kern ihres
Finanzhoheitsrechts nehmen und ihnen die Schale davon lassen. Es ist ihnen
"aher auch nicht im mindesten zu verdenken, wenn sie gegen eine solche Reform
sich unbedingt ablehnend Verhalten."
Diese Sätze hatten Koppe veranlassen sollen, sein Buch mit den Worten
zu schließen: Ich habe zwar am Anfang anerkannt, daß zur Zeit „die Ver¬
sorgung des Reichs mit den Mitteln, deren es zur Erfüllung seiner verfassungs-
'uäßigeu Aufgaben bedarf, in Frage gestellt" ist, aber ich verzichte auf die
Heilung des Übels, um dem „föderalistischen Zuge" nicht entgegentreten zu
müssen. In der That, nicht nur der Ersatz der Matrikularbeiträgc, die jetzt
^'e einzigen anpassungsfähigen Einnahmen des Reiches sind, durch eine am
passungsfähige Neichssteuer muß sich bei solchen Grundsätzen als aussichtslos
erweisen, sondern — was fast noch betrübender ist — anch jede Reform der
Matriknlarbeiträge selbst wird dadurch unmöglich gemacht.
Es ist wieder ein großes Verdienst Ad. Wagners, in dieser Beziehung
^n Herren Partikularsten und ihren Gönnern die Wahrheit gesagt zu haben.
Wagner hat nie Vorliebe für die direkten Steuern gehabt, im Gegenteil; aber
^ sieht ein und spricht es aus, daß jetzt die Ausbildung der direkten Steuern
^ Deutschland im Vergleich mit der der indirekten zurückgeblieben ist oder
zurückzubleiben anfängt. Mau lese darüber seine Darstellung der Steuerver¬
hältnisse in den deutschen Einzelstaaten nach. Die Behauptung von der über-
'"ü'ßigen Anziehung der direkten Steuerschraube wird daun als Märchen er¬
nannt werden. Über die Reichsstcuern und ihren Zusammenhang mit dem Staats-
stwerwesen mögen hier im Anschluß um Wagners Ausführungen folgende Be¬
merkungen Platz finden. Nach 5? 70 der Reichsverfassung werden die Matrikular-
ntrüge auf die einzelnen Staaten „nach Maßgabe ihrer Bevölkerung," also nach
^' Kopfzahl umgelegt. Die Plumpheit und' Härte dieses Maßstabs liegt auf
Hand, fast ebenso wie die Ungerechtigkeit einer direkten Kopfsteuer. Wolle man
^ sagt Wagner — für die Matritularbciträge einen ordentlichen Verteiluugs-
'uaßstab feststellen, so müsse man zuerst „eine ur ihren Grundzügen gleiche Var-
i^ssung der direkten Steuern, und zwar in der Form der allgemeinen Einkommen-
u>w der allgemeinen Vermögenssteuer haben." Auf Grund einer Veranlagung
^' ganzen Reichsbevölkerung danach könne man überhaupt erst feststellen, wie
Reh die relative Leistungsfähigkeit der Bevölkerung der Einzelstaaten zu einander
ehalte. Würeu die Einzelstaaten einigermaßen nach Volkszahl, Berufsarten,
^rtschaftlicher Entwicklung usw. homogen, so wäre ein solches Vorgehn vielleicht
"och entbehrlich. Bei der jetzigen Sachlage sei es durchaus geboten. „Ans
verfassungsmäßige Recht °zur Forderung von Matrikularbeiträgeu sollte
"erhaupt unter keinen Umständen vom Reich verzichtet werden, einerlei, ob
'ud wie weit man praktisch zur Herstellung des Gleichgewichts zwischen Ein-
ahmen und Ausgaben im Neichshaushalt von diesem Rechte jeweilig Ge¬
such macht, denn in diesen: Rechte hat das Reich ein uuter unsern politischen
^rhältuissen gar nicht zu entbehrendes Pressionsmittel auf den Reichstag,
die Landtage, die Regierungen der Einzelstaaten." Aber mit Recht verlangt
Wagner doch auch, daß die „eignen" Neichseinnahmen für die — auch beständig
wachsenden — Finanzbedürfuisse, die uicht durch Schuldaufnahmen gedeckt werden
dürfen, ausreichten, und dazu seien auch direkte Reichssteucru (Einkommen-,
Vermögens-, Erbschaftssteuer) sehr wohl in Betracht zu ziehn. Wenn man
jedoch „in außerordentlichen Fällen" auf die Erhebung der Matrikularbeiträge
zurückgreifen müßte, so würde die Regelung der direkten Landessteuern durch
das Reich auch dafür erst den richtigen Nepartitionsmaßstab statt des rohen gegen¬
wärtigen nach der Kopfzahl geben: „Man würde uach der in der Einkommen-
nnd Vermögenssteuer sich kundgebenden Leistungsfähigkeit die Summen der
Matrikularbeiträge jedes Einzclstaats bestimmen und sie dann innerhalb des¬
selben nach der Veranlagung zu diesen Steuern auf die einzelnen Zensiten
umlegen."
Max von Seydel erkennt die Befugnis des Reichs, für seine Zwecke sowohl
indirekte wie „direkte" Steuern aufzuerlegen an. Er hält aber die Frage, ob
direkte Neichssteuern einzuführen seien, „rechtlich und wirtschaftlich" für nicht
unbedenklich. Die Erhebung direkter Neichssteuern enthalte einen „bedeutenden
Eingriff in die innere Verwaltung und insbesondre in den Haushalt der Bundes-
staaten." Auf diesem Wege könne in „mittelbarer" Weise das ganze Steuer¬
system des Staats vom Reiche „beeinflußt" werden, und eS setze eigentlich
eine direkte Reichssteuer — wenn sie eine bedeutende sei und nicht wirtschaftlich
nachteilige Folgen erzengen solle — eine gleichmäßige Ordnung des Steuer¬
systems in alleu Bundesstaaten voraus. Eine solche „mittelbare Beeinflussung"
der Steuerverfassung der Einzelstaaten kann doch nach dein von Seydel selbst
zngegebnen Sinne der Verfassung „rechtlich" nicht bedenklich sein. Es wird
sich immer nur fragen, ob sie wirtschaftlich zweckmäßig ist. Und daß sie das
wenigstens sein „kann," wird Seydel kann» leugnen. Von einem Recht des
Reichs, gesetzgeberisch in das Landesstenerrecht einzugreifen, ist nirgends die
Rede. Mit dieser ganzen Ausführung ist Seidel entschieden im Unrecht. Sie
kann eigentlich nur politisch erklärt werden, und dann wäre ihr Sinn aus¬
gesprochen partikularistisch.
-le moderne Handelsgeschichte lehrt uns vor allem eins: wie un¬
gemein rasch sich einschneidende Änderungen vollziehen, und ore
!oft sich in wenig Jahren die Grundbedingungen eines ganzen
Handelszweiges radikal verändern können. Es mag sein, daß
!uns die ältern Zeiten, weil wir sie aus größerer Ferne betrachten,
nicht mehr ein so genaues Bild gewähren und deshalb den Eindruck größerer
Stabilität in allen Lebensverhältnissen hervorbringen; aber Thatsache bleibt
diese rasche Aufeinanderfolge der Entwicklungsreihen für die neuern Zeiten.
Auch das Jahrhundert, das Hugo Kanker in den volkswirtschaftlichen Abhand¬
lungen der badischen Hochschulen (in dein kürzlich erschienenen dritten Heft des
V. Bandes) für die Frankfurter Handelsgeschichte zu betrachten unternommen
hat, lehrt uns diese Erfahrung von neuem erkennen. Übrigens pflegt sie sich
auch der einfachsten und natürlichsten Betrachtung geradezu aufzudrängen.
Denken wir mir an die Entwicklung der Verkehrsmittel. Im Beginn der
Periode, die uns Kanker vorführt, seit 1765 etwa, fing man eben in Deutsch¬
land an, nach dem Muster der Franzosen Straßen mit fester Traee, d. h. mit
Seitengräben, festem Damm und Baumreihen, anzulegen, und man nannte sie,
eben weil man die Einrichtung den Franzosen entlehnt hatte, mit französischem
Namen „Chausseen." Aber wie lange dauerte es noch, ehe die deutschen
Straßen mit den französischen auf dem linken Rheinufer konkurrieren konnten.
Obwohl die österreichische Regierung wegen ihrer Besitzungen im Breisgau, der
sogenannten vorderösterreichischen Laude. alles that, eine gute Verbindung
zwischen Frankfurt und der Schweiz auf dem rechten Rheinufer herzustellen,
so hat doch die Stadt Frankfurt noch im Jahre 1775 entschieden, daß die
französische linksrheinische Straße die bessere und billigere sei und deshalb trotz
der entgegenstehenden Kreisbeschlüsse des oberrheinischen Kreises von ihren
Fuhrleuten befahren werden solle. Allmählich aber wandte sich das Interesse
"iter deutschen Regierungen der Verbesserung und der Anlage von Kunststraßen zu.
umsomehr als die vorhandnen natürlichen Wasserwege zumeist in einem ziemlich
sämigen Zustande waren. Es ist vielleicht bezeichnend für das allgemeine Jn-
^resse. das diese Fragen seinerzeit fanden, daß die kursächsische Negierung
zeitweilig daran dachte,' einen der bekanntesten Reiseschriftsteller der damaligen
Welt, den berühmten Spaziergänger nach Syrakus, Joh. Gottfried Seume, in
die Verwaltung der sächsischen Chausseen zu berufen. Es war dies überhaupt
die große Zeit des Fuhrmannsgeschäfts, das noch jetzt in so vielen litterarischen
Denkmälern in einer gewissen Glorie fortlebt; freilich mich zugleich die Zeit
für ein andres weniger respektables Geschäft. Es ist kein Zufall, daß gerade
um die Wende des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhiindert der Schinderhannes
"u Nahethal jenseits des Rheins und andernorts der berühmte Lips Tullmu
^r Wesen trieben, und daß damals so manche Räubergeschichten Schriftsteller
und Leser fanden.' Diese Entwicklung des Fuhrwesens dauerte bis weit ins
"eunzehnte Jahrhundert hinein und hat vielleicht damals erst seine höchste Blüte
^feiert. Noch jetzt wissen ja ältere Leute zu erzählen, wie sich in ihrer Jugend
"n den Thoren unsrer deutschen Städte um gewissen Wochentagen die Wagen-
Leihen sammelten, bis man ihnen die Stadtthore öffnete, und wie sich dann
die lange Linie durch die Straßen der Stadt bewegte. Wie manches weitläufig
^«gelegte Wirtshaus an den Heerstraßen ist noch jetzt eine Erinnerung an
diese Zeit und den einstigen Wohlstand seiner Bewohner.
Dann kam der große Umschwung dnrch die Eisenbahnen. Kanker unter¬
scheidet vier Perioden im Ausbau der deutschen Bahnen. Die erste, die be¬
kanntlich mit dem Ball der Strecke Nürnberg-Fürth im Jahre 1835 begann
'">d nur die Verbindung naheliegender Städte wollte, hatte für Frankfurt
namentlich durch den Beginn der Tllunusbahtt (1838) Bedeutung. Die zweite
Periode, die die Verbindung größerer Industrie- und Handelszentren beab¬
sichtigte, brachte Frankfurt die Strecken Frankfurt-Mannheim und Mannheim-
Basel (geplant seit 1842, die Main-Neckarbahn eröffnet 1846). Die dritte
Periode beginnt für Frankfurt mit dem Jahre 1852; die Stadt ist jetzt an
alle großen Linien angeschlossen; dnrch die Main-Neckarbahn und die badische
Staatsbahn an den Süden (Italien und die Schweiz) und an den Westen
(Paris); durch die pfälzische Ludwigsbahn über Mannheim an Paris, sowie
schon seit längerer Zeit dnrch die rheinischen und die belgischen Bahnen an Paris;
durch die Main-Weserbahn um den Norden und Nordosten; durch die Strecke
Frankfurt-Dresden an Böhmen und Wien. Die vierte Periode brachte den
innern Ausbau des Vahnnetzes; auch kleinere Städte streckten jetzt ihre Fühler
zu den größern Linien aus, so wurde die Strecke Frankfurt-Homburg im
Jahre 1860 eröffnet. Eine fünfte Periode hat in unsern Tagen begonnen-
Überall zeigt sich das Bestreben, sich unabhängiger von den großen Eisenbahn¬
linien zu machen. Darum die vielen projektierten und zum großen Teil auch
schon gebauten Neben- und Kleinbahnen, die dem Verkehr gleichsam auf seinen
intimsten Wegen nachgehn: darum aber auch das Bestreben, sich überhaupt
von einer bestimmten Route, von Fahrplänen und Haltestellen frei zu machen.
Unsre Landstraßen haben sich wieder gewaltig belebt, und Fahrräder wie Auto¬
mobile verkünden die Wahrheit des alten Satzes, daß neue Verkehrsmittel die
alten nicht zu schädigen brauchen, sondern diese durch die Steigerung des Ver¬
kehrs eher zu vervollkommnen und neu zu beleben pflegen.
Kanker hat in seiner Abhandlung, wie schon der Titel angiebt, den Geld¬
handel nicht erwähnt; es fehlt demnach der wichtigste Zweig des Frankfurter
Gcschäftslebens, und mau muß sich das bei der Lektüre des Buches beständig
gegenwärtig halten. Aber auch der gesamte Warenhandel ist der Besprechung
nicht unterzogen worden, sondern nur der Handel mit gebrauchsfertiger Ware.
Mit andern Worten: von dem Handel mit Rohprodukten und deren Ver¬
arbeitung ist uicht die Rede. Der jeweilige Stand der Frankfurter Industrie
wird nur nebenbei nach den Bedürfnissen des Themas gestreift. Was aber
ergiebt sich aus der Untersuchung für die Gesamtheit des Frankfurter Lebens
in den Jahren 1750 bis 1866? Wir können danach innerhalb der städtischen
Bevölkerung vier Klassen je nach ihrem Verhältnis zum Warenhcmdet unter¬
scheiden: 1. die Handwerker, 2. die Krämer, 3. die Handelsleute, 4. deu Adel.
Die Handwerker gehören zum Warenhandel, insofern ihnen gesetzlich der
Handel mit allen in ihr Handwerk einschlagenden Artikeln vorbehalten ist.
Über die politische Seite dieses sogenannten Nahrungsschutzes gedenke ich nach¬
her zu sprechen. Lassen Nur uns vor der Hand an der Thatsache genüge«.
Diese Thatsache aber hatte um so größere Bedeutung, je mehr die Erzeugnisse
des Handwerks nach und nach der kapitalistischen Unternehmung, der Her¬
stellung in Fabriken, anheimfielen. Einige solcher Erzeugnisse waren schon zu
Beginn unsrer Periode dem Vertrieb durch die Krämer freigegeben, nämlich
Leinwand, Vandwaren. Galanterie- und Bijouteriewaren. Man sieht, es sind
dabei die ältesten Erzeugnisse der deutschen Jndustricthätigkeit. Andre Waren
aber wurden dem Verlauf durch Handwerker vorbehalten, obwohl sie auch
schon im achtzehnten Jahrhundert in kapitalistischen Betrieben hergestellt wurden.
Es sind das die Gold- und Silberwaren, Kürschnerwaren, Knopfmachcrwarcn,
Posamenticrwaren, Glaswaren. Dreherwaren, Messerschmiedcwaren und Bnch-
binderwaren; die Uhrmacher durften Schwarzwälder Uhren, die Schmiede
steirische Sensen und die Hutmacher Berliner Hüte verkaufen. Der Gedanke
des Nahrungsschutzes blieb nun in Frankfurt — trotz mancher Modifikationen
im einzelnen — fast bis zum Augenblick des Untergangs der städtischen Frei--
heit rechtskräftig (genau gesagt, bis zum 12. Januar 1864). Es ist bezeichnend,
daß es in der Zeit nach der Begründung des Deutschen Bundes wegen dieser
Fragen zu einer Art politischem Konflikt, zu einem Handelskrieg zwischen Frank¬
furt und Baden gekomme» ist. Frankfurt hatte die Einfuhr der Chaisen einer
Rastadter Firma'untersagt, worauf die badische Regierung mit dem Verbot
des Musterreisens der Frankfurter Kaufleute in ihrem Gebiet antwortete. Aber
das sind Kleinigkeiten, und die Hauptsache war, daß die städtische,, Körper¬
schaften am Prinzip des Nahrungsschutzes ruhig festhielten.
Die Entwicklung des Frankfurter Handwerks ergiebt sich ans einer lehr¬
reichen Tabelle, die Kanker auf Seite 108 feines Buches veröffentlicht hat. Von
dieser Tabelle sind zunächst die Bauhandwerker, die Metzger und die Bueler,
deren Geschüft eine eigne und im allgemeinen recht günstige Entwicklung nahm,
ausgeschlossen. Für die übrigen Handwerke aber sind ans Grund brauchbarer
Quellen die Jahre 1836, 1858 und 1861 nebeneinander gestellt. Aus diesen
Zahlen ergiebt sich folgendes: 1. Einzelne Handwerke verschwinden nach und
«ach, d. l> sie werden durch deu Verkauf von Fabrikwaren ersetzt, zum mindesten
aber verschwindet die Spezialisierung der Gewerbe. So sind von früher vor¬
handen Betrieben im Jahre 1861 ganz ausgefallen: die Barchent- und die
Leinenweber, die Färber, die Büchsenmacher und die Feilenhauer, die Kurz-
"lesserschmiede, die Sporer- und die Zengschmiede. die Pcrgamenter, die Sieb-
'nacher, die Säckler, die Tnchberciter, die Wagner und die Knopfmncher. An
Personal und Arbeitsstätten sind absolut zurückgegangen: die Schmiede, die
Kupferschmiede, die Schwertfeger, die Kammmacher und die Seiler, auch die
Dreher, die Gürtler und die Zinngießer. Zwar nicht absolut, aber im Ver¬
hältnis zur wachsenden Einwohnerzahl der Stadt sind die Bürsteubiuder zurück¬
geblieben. 2. Das Handwerk beginnt sich kapitalistischer zu gestalten, d. h.
d'e Zahl der Betriebe geht zurück, während die Stärke des Personals steigt.
Dies "
,ep namentlich bei den Werbern (Bandmachern). den Gerbern, den
Sattlern, den Schneidern und den Schuhmachern; auch bei den ni unsrer ^a
belle nicht inbcqriffnen Bauhandwerkern, den Metzger» und den Bückern. 3. Ein-
zelne Handwerker werden mehr und mehr zu bloßen Händlern mit Reparatur¬
werkstätten; so die Gold- und Silberarbeiter, die Kürschner und dre Uhr¬
macher. 4. Andre Gewerbe halten sich konstant, d. h. sie vermehren sich dem
Steigen der Bevölkerung entsprechend sowohl an Zahl der Betriebe w,e r
der Stärke des Personals; hierher würden die Buchbinder, die Hutmacher und
die Posamentierer zu rechnen sein.
Gehn wir nunmehr zu einer Betrachtung der Krämer über, so wird uns
folgendes Bild entgegentreten. Auch die Thätigkeit der Krümer war durch
gesetzliche Bestimmungen beschränkt. So war ihr Arbeitsgebiet gegen die Hand¬
werker abgegrenzt: nur bestimmte Industrieartikel, die schon oben erwähnt
worden sind, waren ihnen freigegeben; von den Nahrungsmitteln war ihnen
der Verkauf von Fleisch, der natürlich den Metzgern zufiel, untersagt. Dagegen
stand ihnen das weite Feld der vegetabilischen Nahrungsmittel, sowie der
Handel mit Wildbret, Geflügel usw. offen. Aber auch innerhalb des Standes
gab es trennende Gesetze. Das ganze Gebiet war in Branchen eingeteilt, und
bei der Bewerbung um die Konzession für einen Detailhandel, die das Nechnnngs-
und Nentenamt erteilte, hatte man die Branchen, die man führen wollte,
namhaft zu machen. Ein Hinausgehn über die einmal gezogne Grenze und
ein Hinübergreifen in andre Branchen war nicht erlaubt. Das Recht zum
Detailhandel hatte jeder Frankfurter Bürger und jede Bürgerswitwe; in Aus¬
nahmefällen erhielten auch Beisassen die.Konzession. Eine besondre kaufmännische
Vorbildung wurde nicht verlangt. Auch beim Vorhandensein nur ganz geringer
Barmittel wurde die Erlaubnis von der Behörde erteilt. Diesen Verhältnissen
entspricht auch der allgemeine Zustand des Gewerbes. Es nährte, kann man
sagen, in auskömmlicher Weise seinen Mann. Bei dem notorischen Wohlstande
der Stadt und der absichtlich zurückgehaltenen Konkurrenz fanden die vor-
handnen Geschäfte ihren Verdienst, Dagegen war aber auch jede größere
Spekulation und jedes bedeutendere Risiko ausgeschlossen. Der Kapitalismus
stand mit andern Worten dem Detailhandel noch ganz fern. Große Waren¬
häuser mit einer Unzahl von Artikeln, die teilweise dem Verderben oder dem
Wechsel der Mode ausgesetzt find, und die also ein größeres Risiko mit sich
bringen, gab es noch nicht.
Diese größere und umfangreichere Thätigkeit finden wir nur beim Handels¬
mann. Gerade die Stellung und die Aufgaben des Handelsmannes haben
aber in unsrer Periode die merkwürdigsten Wandlungen erfahren. Zunächst
muß man feststellen, daß sich die Mitglieder dieses Standes und zumal die
führenden Personen aus lauter neuen Familien zusammensetzen. Franzosen,
Vlamen nud Holländer (zumeist Hugenotten) sowie Italiener ließen sich in der
Stadt nieder und begannen ihre Geschäfte meistenteils mit dem Bertrich ihrer
heimischen Industrie- und Landesprodukte. Dagegen hielt sich der eingeborne
Frankfurter Stndtadel dem Warengeschäft fast völlig fern und widmete sich
nur der städtischen Regierung, sowie der Verwaltung des eignen, hauptsächlich
in städtischem und ländlichem Grundbesitz angelegten Vermögens. Die Thätigkeit
der Handelsleute erstreckte sich hauptsächlich auf das sogenannte Grossogeschaft,
das erst zu Ende unsrer Periode durch das Geschäft des Großsortimenters
ersetzt wurde. Aber auch das Grossogeschäft hat die mannigfachsten Wandlungen
erfahren. Anfangs ließen die Geschäftsinhaber dnrch ihre Söhne oder An
gestellten die betreffenden deutschen oder ausländischen Bezirke bereisen und
dort einen bestimmten Industrieartikel oder ein Landesprodukt aufkaufen; später
vereinfachte sich die Sache insofern, als sich in den deutschen Industriebezirken
kcinfmänuisch gebildete Leute niederzulassen begannen, die die Erzeugnisse ihres
Bezirks auf die Frankfurter Messe brachten und dort an die Frankfurter
Grossisten absetzten. Diese hielten in der Stadt große Warenlager, sogenannte
Höfe, in denen enorme Massen, aber zumeist nur eines Artikels, aufgespeichert
wurden.
Kanker hat wohl Recht, wenn er sagt, daß man manches damalige Waren-
^ger an üußerm Umfang mit unsern heutigen Niesengeschäften Wohl vergleiche»
könne; der Unterschied war nur der, daß sich der Grossist auf eine Branche
beschränkte, während unsre heutigen Warenhäuser die mannigfaltigsten Artikel
Zu führen pflegen. Dieses Geschäft war an sich schon mit der Spedition ver¬
bunden. Aber die Spedition erlebte auch als selbständiges Geschäft in Frankfurt
^>le außerordentliche Blüte. In der ältern Zeit kamen der Spedition das
Frankfurter Stapelrecht und die Speditionsrechte zu gute; auch der Umstand,
^ß bei der Seltenheit fahrbarer Straßen und bei dem Fehlen jeder andern
"is der „alten Mainbrücke" die Stadt Frankfurt von den Fuhrleuten nicht
umgangen werden konnte.
So wurde Frankfurt der Knotenpunkt der Straßen und der Sammelpunkt
^ Waren; seinem Speditionsgeschäft fielen Umladung und Weiterbeförderung
^r Warenbnllen zu. In späterer Zeit, als im Laufe der nnpvleonischcu Wirren
'Alt manchem andern Rechte der guten alten Zeit auch das Frankfurter Stapel-
^'ehe und die übrigen Speditionsrechte verloren gegangen waren, kam den
Frankfurter Kaufleuten ihr großer Schatz an Geschäftserfahrung zu gute. Es
^>r auch im neuen Deutschen Bunde eine schwierige Frage, wie man eine
ans dem sichersten und billigsten Wege zu leiten habe. Der Kalkulation
Un Speditionsgeschäft war also damit ein weites Feld eröffnet, und so blieb die
^deutung dieses Geschäftszweiges bestehn, bis sich durch den Zusammenschluß
"^utjchlnilds Zu einem einheitlichen Zollgebiet und dnrch die weitere Aus-
^hnnng der Eisenbahnen der Spedition neue Aufgabe» eröffneten.
Bon der Bete»t»»g des Frankfurter Wareuhaudels giebt uns ein Er-
^"is aus der napoleonischen Zeit selbst vielleicht das beste Bild. Napoleon
bekanntlich seine große und, wie wir ruhig zugeben wollen, in vieler Hin-
^eusreiche Idee der Kontinentalsperre nicht ganz durchführen können.
^ Kolonialwaren, die ja durch die napoleonische Maßregel zugleich mit den
mstrieprodukten vom europäischen Festland ausgeschlossen wurden,
in sich „icht ganz entbehren. und so sah sich der Kaiser gezwungen, von
Ä^t zu Zeit gewissermaßen von Staats wegen seine Länder wieder und Kolomat
>»«en zu versehen. Es geschah das ans dem Wege offizieller Versteigerungen.
A'" Jahre 1811 ließ Napoleon für 36 Millionen Gulden Kolonialwaren von
Magdeburg nach Frankfurt schassen und sie dort versteigern. Davon blieb em
Schliches Drittel in der Stadt, während der Nest »ach dein Süden (z. B. der
Schweiz) ging
Gleichwohl dürfen nur uns darüber nicht täuschen. daß auch damals das
Hauptgeschäft der Stadt nicht der Warenhandel, sondern das Geldgeschäft war.
Gerade dafür boten sich ja in den Zeiten der napoleonischen Wirren die gün¬
stigsten Chnneen, ich brauche uur an den Namen des Hauses Rothschild zu
erinnern. Kanker selbst bietet uus hierfür einen trefflichen Beweis. Die Macht
des Frankfurter Kapitals war so groß, daß es selbst Napoleon empfindlich
treffen konnte. Im Jahre 1810 hatten zwei französische Beamte in Frankfurt
85 Kisten mit englischer Ware konfisziert und vor den Thoren verbrannt. Dn
nahmen sich die Frankfurter Bankiers ihrer Kollege« vom Warengeschäft an
und diskontierten keine französischen Wechsel mehr. Die Folge waren zahl¬
reiche Fallissements in Straßburg, Nancy, Reims und andern Orte».
Ich habe aus dem reichen Inhalt der Schrift von Hugo Kanker mir
einiges zur Orientierung des Lesers herausgegriffen. Zum Schluß möchte ich
mir einige Bemerkungen über die auch von Kanker gestreifte Handelspolitik
der Stadt in dem letzten Jahrhundert ihrer Selbständigkeit erlauben. .Kanker
macht ihr vor allem zwei Vorwürfe; einmal tadelt er die Einrichtung des
Nahrungsschntzcs, zweitens glaubt er auf ein mangelndes Verständnis für die
Bedürfnisse des Warenhandels schließen zu müssen. Was die erste Frage be¬
trifft, so schlägt sie in ein prinzipielles Gebiet der Volkswirtschaft, über das
zu urteilen mir hier absolut fernliegt. Nein politisch betrachtet aber finde ich
die Anschauungsweise der regierenden Frankfurter Kreise durchaus verständlich.
Diese Kreise wünschten nicht, daß neben der Gruppe ungemein reicher Leute,
deren Einnahmen aus ihren Geschäftsverbindungen mit den entlegensten Län¬
dern flössen, ein städtisches Proletariat entstehe. Wer in Frankfurt wohnte,
dem gönnte man gern einen Anteil am allgemeinen Wohlstand, und ans die
Nachbarstaaten hatte man keine Rücksichten zu nehmen. Wenn sich dabei die Preise
der Lebensbedürfnisse steigerten, so machte das für die meisten Bewohner nichts
aus, und im übrigen boten die Messen eine Art Sicherheitsventil, insofern in
dieser Zeit der Verkauf aller Wnreu freigegeben war, sodnß also für längere
Zeit die Preise nicht allzusehr anziehn konnten.
Auch in der zweiten Frage, die Kanker anschneidet, ist es jetzt leichter,
den Fehler aufzudecken als in der damalige» Zeit eine Besserung zu finden.
Es ist wahr, die städtischem Finanzen beruhten uns den Zöllen. War das
aber nicht naheliegend bei einer Handelsstadt, die ein selbständiges Staatswesen
war, gerade so naheliegend wie der Umstand, daß in den Flächenstaatcn die
Finanzen hauptsächlich auf der Grundsteuer ruhten? Gewiß wurde nun durch
die städtischen Zölle vor allem der Warenhcmdel (und zwar sowohl der eigent¬
liche Handel als das Speditionsgeschäft) getroffen. Die Bedeutung dieser
Zölle aber war so groß, daß im Jahre 1820 trotz vielfacher vorhergehender
Erleichterungen in den Zollsätzen der Durchgangsverkehr, also das eigentliche
Geschäft der Grossisten, 308 858 Gulden für die Stadt abwarf, während d:e
in der Stadt konsumierten Waren (die Accise) nur 81 324 Gulden brachten-
Wie hätte man in den städtischen Finanzen einen solchen Einnnhmeansfall
decken sollen, wenn man wirklich diese Zölle auf einmal radikal abgeschafft
hätte? Gewiß wäre eine Belastung des Geldgeschäfts neben dein Warenhcmdel
und eine Abgabe von den Kapitalzinsen ein durchaus gerechtes und in der
Stadt Frankfurt auch sehr wirksames Mittel gewesen. Allein bis zur Ein¬
kommen- und Vermögenssteuer in ihrer heutigen Form war noch ein weiter
Weg, lind wir dürfen von den Frühern keine politische Einsicht verlangen,
die erst dnrch die Arbeit ganzer Generationen gewonnen worden ist.
!ein Zweig wirtschaftlicher Thätigkeit ist so sehr von dem Auf- und
dem Abfluten der Konjunkturwcllen abhängig wie die Bankthätigkeit.
Die Vermittlerrolle in der modernen Kreditwirtschaft gab den
Banken zwar die dominierende Stellung im gesamten Wirtschafts-
! leben, machte sie zum Herzen unsers Wirtschaftsorganismus, aber
sie zog sie dafür auch in den Bannkreis des Kvnjunkturenwechsels in den unter¬
stützten Unternehmungen und machte sie so von dem Geschäftsgange dieser ab¬
hängig. In den Zeiten der Hauffe ist diese Verflechtung der Großbanken mit
der Industrie ganz unbedenklich, aber wenn dann der Hochflut die Ebbe folgt,
kann die enge Verbindung den Banken oftmals gefährlich werden. Die jüngste
6eit hat diese Behauptung wieder um einige Beispiele bereichert. Es ist kein
Wunder, wenn in solchen Zeiten die Lehre beim Publikum Eingang findet, daß
die Verbindung der Großbanken mit der Industrie in wirtschaftlicher Beziehung
unheilvolle Folgen zeitige. Von den Gelehrten sind es hauptsächlich Ad. Wagner
und seine Schule, die für diese Lehre eintreten. Eine Autorität auf dem Gebiete
^'Finanz- und der Steuerpolitik, ist Wagner allmählich auf das benachbarte
Gebiet der Bankpolitik übergegangen. Das Prinzip der Beeinflussung und
Regelung der einzelnen volkswirtschaftlichen Prozesse dnrch den Staat hat sich
k^i ihm immer mehr in den Vordergrund gedrängt, und so will er auch die
^nzelueu Zweige der Bankthätigkeit durch den Staat bevormunden. Das Ver-
sicheruugsgeschäft will er verstaatlichen und ihm abgegrenzte Arbeitsfelder zuweisen,
Hypothekenbanken Null er nnter Staatsaufsicht stellen und uns diese Weise
^ jetzt von den Hypothekenbanken angepriesene „staatliche Kontrolle" von einer
W'melken zu einer thatsächlichen machen; aber auch für die Depositen- und
^ffektenbankeu verlangt er gesetzliche Bestimmungen und Staatsaufsicht.
Die beiden ersten Vorschlüge Wagners können wir mit großem Beifall
'grüßen. Die Geschäftspraxis, um die es sich dort handelt.'ist so, daß sie
N'hr wohl eine mehr schabloncnmüßige Behandlung, wie sie der Staatsbetrieb
''"t sich bringt, und eine Berlangsmuung der Entschlüsse, wie sie die Staats-
vutrolle zur Folge hat, vertrage,, kann. Und in der That ist man in Re-
glerungskreiscn schon dem zweiten Vorschlage näher getreten. Die Presse über-
"Jahde das Publikum Eude Januar mit der Mitteilung, daß im Landwirt-
Nhaftsministeriunl die Absicht bestünde, für die Hypothekeubanken eine Aufsichts-
behörde in der Form einer Kontrollstelle zu schaffen, die dem Kaiserlichen
Aufsichtsamt für das Privatversicherungswesen nachgebildet sein solle. Die
Konferenz der Hhpothckenbankvertrcter mit dem Landwirtschaftsminister am
8. April aber brachte in keinem Punkte ein wesentliches Ergebnis. Hinsichtlich
der Bestellung von Staatskommissaren, die in Süddeutschlnnd allgemein üblich
ist und auch in Preußen auf Grund des § 4 des Hypothckenbankgesetzes der
Regierung zusteht, verhielten sich die Regierungsvertreter ablehnend. Sie scheuten
eine Veränderung des gegenwärtigen Zustandes, wonach die Regierungspräsi¬
denten und diesen zur Seite gestellte Bankinsvcktoren das Aufsichtsrecht über
die Hypothekenbanken haben, und fürchteten, durch die Bestellung vou Staats¬
kommissaren die Verantwortlichkeit der Regierung zu steigern. Die Banlvcr-
tretcr dagegen sprachen sich für das Bankkommissariat aus und wollten ihre
Institute deu übrigen deutschen Hypothekenbanken auch in Bezug auf die Auf¬
sicht gleichgestellt wissen.
Dem dritten Vorschlag Wagners, die Staatskontrolle auch auf die Depo¬
siten- und Effektenbanken auszudehnen, muß man doch mit einer gewissen Skepsis
entgegentreten. Ehe man Änderungen von so weittragender Bedeutung wie die
Staatsaufsicht für unsre Effektenbanken einführt, muß man sich doch fragen,
ob wirklich die heutigen Zustände im Bankwesen so verbesserungsbedürftig sind,
und ob die vorgeschlaguen Änderungen eine Verbesserung gegenüber den jetzigen,
und nicht vielmehr eine Verschlechterung bedeuten. Für die Beantwortung
dieser Frage muß man sich vor allem über die Verrichtungen klar werden,
die unsre Banken schon für den volkswirtschaftlichen Organismus geleistet haben
und noch zu leisten imstande sind.
Ein Blick ans den Kurszettel zeigt uns eine Fülle von industriellen Unter¬
nehmungen, deren Aktien an der Börse gehandelt werden. Hat nun das
sparende Publikum das in diesen Werten angelegte Kapital aus eignem Antrieb
hergegeben? Nein, sondern nur durch die Vermittlung des Bankkredits. Erst
später, als die Unternehmen ihre Daseinsberechtigung nachgewiesen und ihre ersten
Erträgnisse abgeworfen hatten, wurden ihre Anteilscheine ins Publikum gesandt.
Nur durch die 5Lrcditvermittlungsthätigkeit der Banken konnte Deutschland zu
seiner blühenden Industrie gelangen. Denn die Kapitalansnmmlnngsthätigkeit des
Volkes hielt uicht Schritt mit dem Unternehmungsgeist der Massen, der in
oieser Beziehung uur schwerfällig war und langsam folgte. Und doch bedürfte
gerade die starke Käpitalansammlung in dieser Zeit much eines vergrößerten
Arbeitsfeldes. Aber in dieser Zeit, wo die Fülle überraschender Erfindungen
auf dem technischen Gebiete ganz neue Industrien mit neuen Kreditbedürfnissen
schuf, ging dein größern Publikum das Verständnis für die Tragweite dieser
Unternehmungen in volkswirtschaftlicher Beziehung noch ab, und es hielt mit
seinem Kapital scheu zurück. So drängte denn die ganze Entwicklung dazu,
daß die Kapitalkräftigsten, die Großbanken, in die Lücke einspringen mußten-
Damit verrichteten sie für die Volkswirtschaft eine Leistung von großer wirt¬
schaftlicher Bedeutung, die sich in zweierlei Hinsicht verfolgen läßt.
Einmal hat die moderne Bankpraxis für das Publikum segensreich ge¬
wirkt. Sie hat dem Privatknpital neue Gebiete der Thätigkeit erschlossen und
dem kleinen und dem mittlern Kapitalisten insbesondre Ausblicke in Gebiete
menschlicher Thätigkeit eröffnet, die ihm bis dahin unbekannt waren und ihm
Gelegenheit gaben, sich an den verschiedensten Zweigen des wirtschaftlichen
Erwerbslebens zu beteilige,,. Dann aber auch hat die Bankpraxis der Ent¬
wicklung unsrer Industrie bestens die Wege geebnet. Die Kreditthätigkeit der
Großbanken hat damit eine Umwälzung im gesamten deutschen Wirtschafts¬
wesen vollzogen, die sich von innen heraus niemals in diesem raschen und
^vßcirtigeu Maße vollzogen Hütte. Die Umwandlung der Kleinindustrie in
^er Hand des Einzelnen in die Großindustrie in den Händen von Gesellschaften,
Wie vornehmlich im Brauereigcwerbe, die Mobilisierung der Fabrikgebäude,
'-Gelände und -Maschinen durch Ausgabe von Aktien und Obligationen, die
auf den großartigen Erfindungen beruhende Neuschaffung ganzer Industrien,
^ beispielsweise der chemischen und der elektrischen, das alles ist ein Werk der
modernen Bankthütigkeit. Die einmal angeknüpfte Geschäftsverbindung führt
^eist zu einem dauernden Zusammenhang des Unternehmens mit der Geld
Liefernden Bank, deren fernerhin vorgeschossene Kreditmittel die Industrie in
^/e Lage versetzen, weit geschickter die Konjunkturen auszunutzen, weit freier
über ihre eignen Mittel zu verfügen. Diese segensreiche Thätigkeit der Banken
^ ^e Industrie zieht aber noch weitere Kreise um sich, die wieder durch ihre
Wellenbewegungen ihren wohlthätige,, Einfluß schließlich dem gesamten Wirt¬
schaftsleben mitteilen. Die vermehrte Produktion bedarf eines vergrößerten
Absatzmarktes, und so ist es vor allem der Handel, der aus der Kräftigung
er Industrie Nutzen zieht. Einerseits ebnet die Gründung und die finanzielle
"terstütznng von Schiffahrtsgesellschaften und Eisenbahnunternehmungen dem
^audet die Wege durch die Erweiterung des Absatzgebietes, andrerseits werden
^"res die Errichtung von Bankinstituten im Auslande die Handelsbeziehungen
in^^'" Mutterlande gepflegt. Die ganze Entwicklung der letzten Jahrzehnte
, Deutschland zeigt uns, wie das Zusammengehn von Handel und Industrie
'we der Kreditthätigkeit der Banken im großen und ganzen äußerst wohlthätige
""lgen gezeitigt hat.
selbstverständlich kann mau nicht leugnen, daß den Vorteilen, die eine enge
^erbindnng der Großbanken und der Industrie mit sich bringt, auch gewisse
gegenüberstehn, die sich gerade bei sinkender Konjunktur, wie äugen-
-.....in,, stärker geltend machen. Aber man nu.ß steh och gege all. se ^Übertreibungen dieser Nachteile, w.e sie setzt in der Luft Uege... wahr -
N°u darf ans Einzelheiten nie auf die Allgemeinheck Me,M Und wen
°und einzelne Vorfälle der letzten Zeit in der Bankpmxls zu ^denken An aß
gebe», so darf man um derentwillen nicht gleich die ganze ^ruhtung ve -
^rfen. Natürlich wäre es im Interesse der Festigkeit der Vauldwidend n
besser, wenn unsre deutschen Banken, wie man es vorgeschlagen hat der ^raxrs
Londoner Banken folgten und die Kreditthätigkeit ans die rein baut.mäßigen
Geschäfte des Wechsel- und Lombardkredits beschränkten, den Personalkredrtdagegen aus ihrem Geschäftsbereich Verbannte,.. Bei diesen. Vorschlage ver¬
gißt man. daß zwischen den englischen und den deutschen Kredttverhalt.nssenkeine Parallel gezogen werden kann. England hat eine Industrie und einen
Handel, die, schon lange innerlich gefestigt und ausgebaut, in weit geringerm
Maße in die Lage versetzt werden, außerordentliche Kreditansprüche an die
Banken zu stellen, Deutschlands Handel und Industrie dagegen sind ganz
jungen Datums und haben ihre heutige Hohe und die Fähigkeit, ans dem Welt¬
markte zu konkurrieren, einzig und allein vermittelst der Kreditthätigkcit der
Banken erlangt. Seine industrielle und kommerzielle Entwicklung ist aber noch
lange nicht abgeschlossen. Wenn unsre Banken jetzt zur englischen Praxis über¬
gingen, die für ein wirtschaftlich weit höher entwickeltes Volk berechnet ist,
würden sie nicht nur sich selbst lind unsern volkswirtschaftlichen Organismus,
sondern auch den gesamten weltwirtschaftlichen Organismus, auf den sie kraft
ihrer Expansionspolitik einen unverkennbaren Einfluß erlangt haben, außer¬
ordentlich schädigen. Deutschland würde damit auf ein bedeutendes wirtschaft¬
liches Einslnßgebiet im Auslande, das es sich jetzt schon erobert hat, wiederum
verzichten.
Wenn wir so gesehen haben, in welchem Grade sich unser gesamtes
Wirtschaftsleben durch die Einwirkung der Banken günstig entwickelt hat, und
daß es mich in Zukunft dieser engen Verbindung mit den Banken nicht ent-
raten darf, so wollen wir jetzt die Folgen betrachten, die die Anwendung der
von den Bankreformern verlangten Mittel auf unsre gesamte volkswirtschaft¬
liche Entwicklung nach sich ziehn würde. Zwei Grundsätze sind es, in denen
Wagner den Weg zur Gesundung des Bankwesens sieht, die Öffentlichkeit und
die Beaufsichtigung durch den Staat.
Die Öffentlichkeit müßte, wenn sie überhaupt Wert haben sollte, voll¬
ständig sein. Dies durchzuführen ist unmöglich; denn man kann schlechter¬
dings von einem .Kaufmann nicht verlangen, daß er mit offnen Karten spiele.
Eine beschränkte Öffentlichkeit nach gesetzlichen Bestimmungen würde ihren Zweck
jedenfalls verfehlen, weil die mit ihr beabsichtigte Wirkung leicht illusorisch
gemacht werden konnte, sobald die Bank die Mitteilung einer Nachricht nicht
an die Öffentlichkeit gelangen lassen wollte. Sie braucht nur zur Zeit der
Bilanzaufstellung eine Schiebung zwischen den einzelnen Konter ganz nach
ihrem Wunsche vorzunehmen, und die Praxis zeigt Fälle, wo derartige Main-
pulatioueu vorgenommen worden sind, ohne daß die Staatsanwaltschaft se^
auf Grund des § 344 Ur. 4 des Handelsgesetzbuchs als strafbar angesehen
hat. Zum Beispiel hat die Dresdner Kreditanstalt vor der BilauzaufstellttNg
einen ihr unbequemen Betrag vom Konto „Debitoren" zum Wechselkonto
hinübergeworfen, indem sie sich von den Debitoren Aeeepte einhändigen ließ-
Nach der Bilanzanfstellung wurden die Wechsel wieder zurückgegeben, und du
Posten wie vorher verbunst. Die Staatsanwaltschaft, die das Verfahren ein¬
geleitet hatte, ließ es aus dem oben genannten Grunde wieder fallen. Dura?
Einführung bestimmter gesetzlicher Bestimmungen würde man im Grnnde ge-
nommen weiter nichts erreichen als eine Schädigung des leichtgläubigen Publikum^,
das im Vertrauen auf die Autorität des Gesetzes den Bilauzzahlcn blind glmlbt^
während es ihnen jetzt noch mit eiuer gewissen Vorsicht entgegentritt. Woll e
man aber eine rücksichtslose Aufdeckung verlangen, so würde man der gesamten
Vankthütigkeit äußersten Schaden zufügen, indem man z. B. ein Bankinstckut,
das in der Stille eine neue Fiuauzaktion vorbereitete, vou der es sich für die
Zukunft großen Erfolg verspräche, zur Aufdeckung seiner hierdurch entstanden
Engagements an die Konkurrenz zwänge.
Die staatliche Kontrolle aber mit ihrer formalistischen Gebundenheit und
verhältnisuiäßigeu Langsamkeit des Geschäftsganges würde alle raschen und
selbständigen Dispositionen im Keime ersticken, insbesondre die oft so wichtigen
Augenblicksentschließungen unterbinden, das persönliche VerantN'ortlichteits-
gefühl der Bankdirektoren heruntersetzen, die Bankthätigkcit zu einer wesentlich
"'aschiuenmäßigen herabdrücken, der vorivärts strebenden Volkswirtschaft die
Nugel beschneiden, und die Rolle, die unsre Bauten in der Weltwirtschaft spielen,
w Frage stellen. Die Großindustrie hat zur Befriedigung ihrer Kreditbedürfmsse,
die sich bei einzelnen Unternehmen täglich auf Millionen belaufen, längst den
heimische.: Markt verlassen und den Weltmarkt aufgesucht. Da heißt es dann
rasch überlegen und schnell zugreifen, sonst fällt das Geschäft einer andern
Nation zu. 'Ein Laud aber, dessen Bauten ihre Erwägungen durch detaillierte
Bestimuumgm und durch die Rücksicht auf staatliche Kontrolle bee.usu.sser
lassen müssen, kann nicht mit den übrigen Nationen konkurrieren, sonder., n.nß
sich bald aus dem Wettlaufe zurückziehn und andern den Gewinn ans Finanz¬
operationen lassen, die ihnen eine unzweckmäßige Gesetzgebung verschließt. Der
Stand unsrer Banken gewährt oft schon monatlich, ja wöchentlich ein so ver-
ändertes Bild, ist den unberechenbarsten Einflüssen äußerer Ereignisse so sehr
unterworfen, hat in den einzelnen Konter eine so plötzliche und intensive
Dehnbarkeit, daß es mich den. erfahrensten Fachmann, dem geschicktesten Gesetz¬
geber nicht möglich ist, einheitlich regelnde, allen Einzelheiten gerecht werdende
Bestimmungen in.fzustellen. Auch wem. man. wie Adolf Wagner verlangt, für
hebe einzelne Gattung von Banken die detaillierteste.. Bestimmungen erläßt -
etwas wirklich brauchbares zu schaffen ist unmöglich. Es giebt eben einen
Puukt der Spezialisierung, über den kein Menschengeist hinauskommt. und be¬
sonders auf dem schwierigen und uoch so wenig erforschten Gebiete, das von
der Sphäre de5 Bankkredits in die der Konjnnkturenwcchsel hinüberreicht; da
'"»ß es vorläufig uoch den. Leiter der Bank, dem die Erfahrung zur Seite
steht, überlassen bleiben, deu richtigen Weg zu finden. den ihn. sein Gefühl
""d sein klarer Blick weisen. Gerade der Umstand, daß unsre deutschen Banken
w ihrer Entwicklungsperiode lästigen Fessel» nicht unterworfen waren, hat sie
5" dieser iuternativi.älen Großmachtstellung emporgehoben.
Wem. wir somit die vorgeschlagnen Reformen bekämpfen, so thun wir es
'"ehe, weil wir das Bedürfnis nach solchen leugnen, sonder» weil wir gerade
diese Borschläge »icht für zweckmäßig und eher für schädlich als für nützlich
halten, wie überhaupt alle Reformen des Bankwesens, die ihren Anstoß von
^"ßeri erhalten. Am meisten Vertrauen in Bezug auf Zweckmäßigkeit verdienen
die Reformen, die ihren Anstoß ans der eigensten Initiative der Banken em-
pfangen. J„ dieser Hinsicht kann man es mit Freude begrüßen, daß schou
ewige Banken Halbjahrsberichte abstatten, andre ihre Jahresberichte ausführ¬
licher gestalten. Was aber die Sorgen über den Geschäftsbetrieb der Banken
^trifft, über den die staatliche Kontrolle wachen soll, so darf man zwei wichtige
Thatsachen nicht vergessen, die ebenso gut wie irgend welche staatliche Kontrolle
die Erfüllung der gesamten Bankverbindlichkeiten sichern.
Erstens stehn den Banken riesige Hilfskräfte zu Gebote, die es ihnen
ermöglichen, auch große Verluste zu verschmerzen, ohne in dem gewöhnlichen
Gange des Geschäfts Änderungen eintreten zu lassen. So konnte, um nur ein
Beispiel zu erwähnen, die Diskontogesellschaft in Verbindung mit der Nord¬
deutschen Bank in Hamburg im Laufe weniger Jahre nahezu 27 Millionen Mark,
die sie an Popp in Paris und an der Venezuela-Eisenbahn verloren hatte, von
den erzielten Jahresgcwiunen abschreiben. Auch die Leipziger Bank Hütte wahr¬
scheinlich, wenn sie sich nicht mit dem gar zu hohen Betrage von 85 Mil-
lionen Mark bei der Trebcrgesellschaft engagiert hätte, ihre Verluste allmählich
verwinden können. Fast jede unsrer Großbanken hat im Laufe ihres Bestehns
verlustbringende Engagements gehabt. Wer auf große Gewinne ausgeht, muß
auch auf große Verluste gefaßt sein, insbesondre auf dem Gebiete noch uncr-
probter industrieller Neuerungen und Versuche, und im Auslande. Aber man
darf nicht schließen, daß diese Engagements immer völlig verloren seien, sondern
sie sind oft nur zur Zeit nicht realisierbar. Soweit sie aber unwiederbringlich
verloren sind, ist diese Einbuße, wenn auch absolut bedeutend, doch in Anbe¬
tracht des ganzen Geschäftsumfangs meist nur gering und wird durch die Ge¬
winne aus andern Engagements weit überwogen.
In dieser Beziehung ist deshalb zweitens das Selbstversicherungs-
Prinzip der Großbanken von unschätzbarer Bedeutung. Dadurch, daß eine
Bank ihre verfügbaren Mittel den verschiedensten Zweigen der Industrie nicht
nur im eignen Lande, sondern auch in den verschiedenstell Teilen der fünf Kön
einende zu gute kommen läßt, verteilt sie ihre Risiken auf die zweckmäßigste
Weise. Denn eine Krise in dein einen Industriezweige läßt die andern meist
unberührt; eine Krise in dem einen Lande, dein einen Kontinent zieht nicht so
leicht die andern in Mitleidenschaft. In der modernen Bankpraxis hat dieses
Prinzip immer mehr Anhänger gefunden, und die Wirkungen, die seine Be¬
folgung ausüben, drücken dem gesamten Bankwesen die Signatur auf. Die
Frucht, die der Erkenntnis dieses Leitsatzes entsprungen ist, ist die straffe, zen¬
tralisierte, großkapitalistische Bankorganisation, die ihre Existenz wiederum zwei
verschiednen Entwicklnngsprozessen verdankt. Die Großbanken entwickelten sich
entweder aus kleinern oder mittlern Anfängen von innen heraus, indem sie
ihren Betrieb erweiterten und Filialen gründeten, die selbständig geleitet d:e
Vorteile des Kleinbetriebs mit denen des Großbetriebs verbanden, weil sie
einen festen Rückhalt um der kräftigen Zentrale hatten; oder sie entstanden
durch Augliederung der Proviuzialbanken um die hauptstädtischen auf dem Wege
der Filiation. So bildet jede Großbank mit dem Netz ihrer Filialen ein ein¬
heitliches Ganze, innerlich hinreichend gefestigt, den Stürmen der wechselnden
Zeiten zu trotzen. Aber für den Fall, daß sie größere Engagements eingeht,
darf ihr diese Selbstversicherung nicht mehr genügen. Dann deckt sie sich selbst
wiederum durch Rückversicherung in Form eines Zusammenschlusses mit andern
Bankinstituten zu einem Konsortium. Am ausgedehntesten hat diese Risiko-
verteilungs- und Selbstversicherungspolitik die Deutsche Bank betrieben. Sie
Hot von jeher gesucht, das Geschäft der Bank auf eine möglichst breite Basis
zu stellen und hierzu die überseeischen Länder in hervorragenden: Maße heran-
zuziehn. Die steigende Entwicklung Deutschlands und die zunehmende Er¬
schließung der Welt ließen diesen Versuch vollauf gelingen und ermöglichte-:
svgcir in Jahren innerdeutscher Krisen eine Ausgleichung des Jahresergebnisses.
Gerade aber der zweite Grundsatz wurde bedeutend erschüttert werden
durch die Prinzipien der Publizität und der staatlichen Aufficht. Die Expan¬
sionspolitik, die die Stabilität der Baute:: am wirksamsten sichert, wäre durch
eine staatliche Aufsicht, die an den Buchstaben gesetzlicher Bestimmungen ge¬
bunden wäre, am meisten gefährdet.
abriele d'Annunzio gehört ohne allen Zweifel zu deu bedeutend¬
sten Dichtern des heutigen Italiens, obwohl er dort ebenso
heftige Gegner wie begeisterte Bewundrer findet. Bei uns ist
er wenig bekannt, und das hat mich feine guten Gründe. Er
_ ist zunächst eigentlich unübersetzbar, denn jede Übersetzung streift
den feinsten Schmelz von seinen Dichtungen ab, wie wenn man etwa den
^arbenstaub von einem Schmetterlingsflügel abstreift, sie zerstört den Zauber
Miier Sprache, auch seiner Prosa. Sodann ist er ganz und gar ein moderner
Italiener und stolz ein solcher, ein „Lateiner" zu sein; die Empfindnngs-
uud Vorstellungswelt und die Ausdrucksweise der romanischen Völker aber ist in
^ueler,,Beziehung nicht die unsrige, so sehr heute derselbe unheimliche Grundzug
^ "Übermenschentums" durch alle europäischen Litteraturen geht. Des Dichters
^"ldungsgang aber ist höchst persönlich, beinahe der eines Wunderkindes,
^denfalls eines ungewöhnlich frühreifen Menschen.
Am 12. März 1864 an Bord eines Schiffs auf dein Adriatischen Meere
^boren, verlebte er seine erste Jugend in Franeavilla al Marc, einer kleinen
^üstenstadt im nördlichsten Teile des frühern Königreichs Neapel. Er besuchte
^um 187Z bis 1880 das Collegio Cievguini in Prato bei Florenz; hier er-
^rb ^. ^ klassische Bildung, offenbarte aber auch schon sein dies-
e^sches Talent, indem er mit fünfzehn Jahren einen Band lyrischer Gedichte
^mavk.Ä) veröffentlichte. Die Kritik erkannte diese Leistung so an, daß er
'"t einen: Schlage berühmt wurde. Als er 1880 nach Rom kam, wurde er
'°'""'tUch von den Damen der stolzen römischen Aristokratie bewundert und
,^^ut, und er lernte Rom damals gründlich kennen, dieses Rom der acht-
Jnhre, „das in mancher Beziehung den: Rom der ersten Zeit des Sees-
« Mer Jahrhunderts ähnelte." Berauscht von warmen Huldigungen und
affinierten Genüssen kehrte er nach einigen Jahren in seine Heimat zurück;
bald ging er von der Lhrik zum Roman über, dessen erste, überaus
Gr
glänzende Probe ?iÄvork (die Lust) 1889 erschien, Aufs stärkste beeinflußten
ihn dabei die modernen französischen und die russischen Romanschriftsteller,
deren Einwirkung in Italien jetzt überhaupt sehr bedeutend ist, weniger die deut¬
scheu Klassiker, obwohl er z. B. Goethe eifrig studierte; zugleich versenkte er
sich in die Musik, namentlich in die deutsche, in Bach und Beethoven wie in
Richard Wagner und erwarb sich eine umfassende künstlerische Bildung. Mit
besondrer Begeistrung vertiefte er sich in die Philosophie Friedrich Nietzsches,
dessen Weltanschauung die seinige wurde.
So entwickelte sich aus der natürlichen Anlage, aus seinem Bildungs¬
gange, seinen Erfahrungen in Rom und in der Heimat, aus den mannig¬
faltigsten litterarischen wie philosophischen Einflüssen seine dichterische Eigen¬
tümlichkeit. Die italienischen Kritiker bezeichnen ihn als Vertreter des „deka¬
denten Symbolismus," d. h. also als den Dichter einer Verfnllzeit, dessen
Figuren symbolisch, typisch sind. Aber damit wird der Kern seines Wesens
nicht recht getroffen. Wie die Italiener von altersher Realisten und als
Lebensschildrer immer am glücklichsten gewesen sind, so ist d'Annunzio vor
allem „Berist," der Maler der ihn umgebenden Wirklichkeit, des Menschen
seiner Zeit, und er ist es mit vollem Bewußtsein. In der Widmung seines
Romans Iriouto clslla, ruortö 1894 sagt er zu seinem Freunde Frnnecseo
Paolo Michetti: „Wir hatten mehrmals miteinander über ein ideales Buch
moderner Prosa gesprochen, das, mannigfach in Tönen und Rhythmen wie
ein Gedicht, in seinem Stile die verschiedensten Kräfte des Wortes vereinigend,
alle Mannigfaltigkeit der Erkenntnis und des Geheimnisses in Harmonie brächte,
die scharfen Bestimmungen der Wissenschaft mit den Verführungen des Traumes
abwechseln ließe, die Natur nicht nachahmte, sondern fortsetzte, ein Buch end¬
lich, das frei vou den Fesseln der Handlung (tavolu.), das eigentümliche Sinnen-,
Gefühls- und Verstandesleben eines menschlichen Wesens in sich trüge, ge¬
schaffen mit allen Mitteln litterarischer Kunst. Wirksam mitzuarbeiten, um in
Italien die moderne erzählende Prosa zu begründen, das ist mein hart¬
näckigster Ehrgeiz." Das erste Mittel ist ihm dazu seine Muttersprache. „Unsre
Sprache, sagt er, ist die Freude und die Kraft des fleißigen Künstlers, der
ihre langsam von Jahrhundert zu Jahrhundert aufgehäuften Schätze kennt, in
sie eindringt und sie hervorholt." „Unsre größten Wvrtkünstlcr haben von der
lateinischen Beredsamkeit das Studium des Rhythmus geerbt. Ju Rom wurde
die Wortmnsik smuÄog. vsrbulv) gesprochen und geschrieben. Wie M. Tullius
Cicero seine Perioden mit seiner wolllklingcnden Stimme modulierte, um un
Innern seiner Zuhörer eine starke Vewegnng hervorzubringen, so wetteiferte
T. Livius im Rhythmus mit den Dichtern." Wie viele deutsche Philologen
sind wohl imstande, diese Modulation und diese« Rhythmus nachzuempfinden
oder gar nachzuahmen, und wie ungerecht ist es deshalb, Ciceros Beredsam¬
keit uur nach dem Inhalt oder etwa nach dem Bau seiner Perioden zu be¬
urteilen, wobei wir nordischen Menschen ganz vergessen, daß das alles ur¬
sprünglich eiir lebendiger Klang gewesen ist, für den uns das Ohr fehlt. So
will auch d'Annunzio durch Klang und Rhythmus seiner Sätze wirken, die
ihrem Inhalt entsprechen, und in der That spielt er das wundervolle Jnstru-
neue seiner Muttersprache mit vollendeter Meisterschaft. Das kann keine Über¬
setzung wiedergeben. Dagegen macht auch eine solche die wunderbare Kraft seiner
Schilderung der äußern Umgebung deutlich, die auf der feinsten, eindringcnd-
sten, umfassendsten Beobachtung, also auf einer höchst angestrengten Geistes¬
arbeit beruht; er sieht die Welt mit deu Augen des Künstlers, und er malt
mit der Feder so lebendig wie der Maler mit seinem Pinsel, mit einer Farben¬
glut, die nur der Himmel des Südens kennt, wie er denn auch nur den Süden
zeichnet, und er malt alles, was den Menschen umgiebt, den Sternenhimmel
und die glitzernde Winternacht, Wolken und Sonnenschein, das Meer im
Sturmesbransen, in bleierner Windstille, als tiefblaue, leise wogende Atlasfläche,
das einsame, starre Gebirge seiner Heimat, die weißglänzende Majella, wie die
Weltstadt Rom oder die Königin der Adria in allen ihren Teilen, in allen
Zeiten des Jahres und des Tages, die schmutzige, enge, dumpfe Vaucruhütte
wie den eleganten, kunstgeschmücktcu Salon eines Palastes.
Aber die Hauptsache bleibt ihm doch immer der Mensch, der moderne,
der italienische Mensch. Mit der Feinheit eines Psychologen und nicht selten
mit der eindringenden Kenntnis eines Irrenarztes schildert er ihn nach allen
seinen Seiten, in seinem ganzen sinnlichen n»d geistigen Dasein, seinen An¬
schauungen und Empfindungen, in jeder Wendung, jeder Phase dieses Daseins;
er leuchtet erbarmungslos in jeden Winkel der Seele hinein, er malt Szenen
raffiniertesten Sinnengenusses mit fast erschreckender Anschaulichkeit und scheut
auch vor dem Gräßlichen nicht zurück. Mit Vorliebe zeichnet er Aristokraten
der Gesellschaft und des Geistes. Nichts glänzender, packender als das farben¬
reiche Gemälde des modernen römischen Adels im „Piacere," dieser Nachkommen
der alten päpstlichen Nepotengeschlechter, in ihrer Sittenlosigkeit, ihrem Genuß-
leben, ihrem künstlerisch geadelten Luxus, ihrem Sport, ihrem Mangel an jedem
Pflichtgefühl, an jeder ernsten Thätigkeit, und das alles in dem majestätischen
Rahmen des ewigen Roms. Aber ebenso versteht er das arme Landvolk seiner
einsamen, weltabgeschieden Heimat zwischen Meer und Gebirge zu schildern in
der hoffnungslosen Dürftigkeit seines Daseins, in seiner einförmigen Tagesarbeit,
seinen uralten Festen und Lieder», seinem dumpfen, heidnischen Aberglauben,
seiner ganz und gar an äußerlichen Symbolen haftenden kirchlichen Frömmigkeit,
die much weiter nichts ist als Heidentum in christlicher Verkleidung; etwas
Entsetzlicheres als die Wallfahrt zur Madonna von Casalbordino hat selten
eines Menschen Feder geschrieben, etwa Emil Zola in „Lourdes" ausgenommen,
u»d man begreift kaum, wie d'Aununzio es mehrmals über sich gewonnen hat,
diesen Greuel mit anzusehen, noch weniger, wie er ihn bis in die kleinste
Einzelheit hinein hat schildern können (im 'Iriontd ävlül mortej. Aber trotz¬
en gehört seine warme Teilnahme diesem unglücklichen Volke. Er sieht doch
auch, daß dieses sich nach sittlich-religiöser Erlösung sehnt, die ihm die ver-
außerlichte römische Kirche nicht zu bringen vermag, und er schildert deshalb
"uschanlich das Auftreten des „neuen Messias der Abbruzzeu," Oreste vou
Cappelle. der, vom Volke wie ein Heiland verehrt, 1889 starb. Es ist ein
Tvlstvjscher Zug in diesem Glauben d'Annuuzios an die Nrkrnft seines Volkes.
Seine Hauptfiguren — Helden kann nun sie nicht nennen, nicht einmal
im poetischen Sinne — sind einander alle ähnlich mit spiegeln alle das Wesen
ihres Schöpfers bald von der einen, bald von der andern Seite wieder.
Immer wieder wird man an Goethes Werther erinnert. Sie sind alle sinnlich,
unendlich erregbar und feinfühlig, manche bis zur Selbstqnülerei, leidenschaftlich
und von einer unheimlichen Willensschwäche, die sich widerstandslos der
wechselnden Empfindung hingiebt, ohne alles Pflichtgefühl, vollendete Egoisten,
„Übermenschen" in dein Sinne, daß sie sich „ausleben," d, h. ihren Trieben
und Bedürfnissen rückhaltlos folgen wollen und folgen, brutal niedertreten,
was ihnen entgegensteht, benutzen, wen sie brauchen, wegwerfen, was ihnen
nichts mehr sein kann. Es geht durch sie alle etwas Krankhaftes, und es
fehlt ihnen allen jedes eigentlich religiöse Bewußtsein. Man findet das schreckliche
Wort, das Pasquale Billari schon vor 27 Jahren schrieb, bestätigt: „Die
Religion ist in Italien fast erloschen; wo sie nicht Aberglaube ist, dort ist sie
traditionelle Gewohnheit, nicht lebendiger Glaube." So sind d'Annunzios
Gestalten fast immer jeder einfachen, gesunden Empfindung gründlich un¬
sympathisch, ja widerwärtig und flößen meist nur ein pathologisches Interesse
ein. Der geborne Verbrecher Tutilo Herinil in „Jnnoccnte." der vielseitig be¬
gabte, in seiner Art geniale aristokratische Lüstling Graf Andrea Sperelli im
„Piacerc," der melancholische, sensitiv-sinnliche Selbstqunler Giorgio Anrispa
im „Trionfo della morte" u. s. f. Als Muster stellt sie d'Annunzio freilich
auch keineswegs hin, fo wenig wie Goethe seine,? Werther, er schildert sie
eben nur als Psycholog und Psychiater, und wenn man diese Romane un¬
sittlich nennen wollte, so wäre das nicht ohne weiteres richtig, die Tendenz
wenigstens ist es nicht. Andrea Sperellis raffiniertes und selbstsüchtiges
Genußleben endet in Überdruß und Ekel, es zeigt „das Elend der Lust";
Giorgio Anrispa stirbt als Selbstmörder. Einzelne seiner Romane erheben
sich auch über diese trübe Atmosphäre sittlicher Nichtigkeit und überfeinerter,
krankhafter Sensitivität. In den „Vergini delle Nonce" (Jungfrauen vom Felsen)
sehnt sich Claudio Ccmtclmo nach einem großen Sohn, dem wahren „Über¬
menschen," der große befreiende Thaten vollbringen soll, und in seinem jüngsten
Romane „Fuoco" (Feuer) zeichnet der Dichter einen genialen Dramatiker — sich
selbst —, der mit einer genialen Schauspielerin — Eleonora Duse — im Bunde
eine neue, große dramatische Kunst für sein geliebtes Italien, I» sompro
riimMcmtö, heraufführen wird.
Ob er selbst wirklich dieser Dichter sein wird, er, der für äußerliche Hand¬
lung auch in seinen Romanen so wenig Sinn hat, daß sie hinter den Schilde¬
rungen des Seelenlebens ganz in den Hintergrund tritt und immer i» wenig
Sätzen erzählt werden kann? Was er an Dramen bisher geschaffen hat, das zeigt
dieselben Vorzüge und Mängel und hat auch in Italien nur geteilte» Beifall
gefunden. Wir greifen hier eins heraus, das für uns Deutsche aus verschiednen
Gründen ein besondres Interesse hat, 1^ Littü, ruortÄ. „Die tote Stadt" ist
das „golddurchbliukte Mykene" Homers im „dürstenden Argos," aber die Hand¬
lung spielt keineswegs im Altertum, sondern in der Gegenwart; die „tote Stadt'
ist nur der Schauplatz der Handlung, und diese interessiert uns Deutsche schon
deshalb, weil sie an Schliemcmus merkwürdige Entdeckungen anknüpft, und d:e
Begeisterung für die griechische Tragödie, die nirgends so tiefes Verständnis
gefunden hat wie bei uns, alles durchdringt. Ein junger Archäolog, Leonardo,
hat sich mit seiner ebenso schönen wie liebenswürdigen Schwester Bianca
Marin, und der ihn die innigste Geschwisterliebe verbindet, seit zwei Jahren
in der Nähe von Mykene niedergelassen, um die Königsgräber der Atriden
aufzudecken, und ihnen hat sich sein Herzensfreund Alessandro, ein hochbegabter
Dichter, mit seiner erblindeten Frau Anna angeschlossen. In diesen eng ver¬
bundnen vier Menschen haben die Gestalten der attischen Tragödie neues
Leben gewonnen; sie sind ihnen in jeder Einzelheit vertraut, sie sind ihnen
nicht nur historische, sondern fast gegenwärtige Persönlichkeiten, und und in denen
sie leben und leiden; gleich den ersten Akt beginnt Bianea Maria mit dem er¬
greifenden Wechselgesange des Chors und Antigones ans dem Sopho-
klchchen Drama. Nur weil alle an die Menschen der griechischen Sage so
fest glauben, wie einst Heinrich Schliemann. hält Leonardo trotz der Sonnen-
glut und dem erstickenden Staube des griechische« Sommers, seine Nerven dio
aufs äußerste anspannend, bei der mühseligen und immer wieder fruchtlosen
Arbeit ans. Endlich — in der vierten Szene des ersten Akts — verkündet
lautes Freudengeschrei den im Hause zurückgebliebnen Genossen seine große
Entdeckung, und in der nächsten Szene stürzt Leonardo selbst herein, erschöpft,
">it Staub und Schweiß bedeckt, in höchster Aufregung, kaum seiner selbst
'nächtig: er hat die Gräber der Atriden endlich gefunden! „Die größte und
seltsamste Vision, ruft er ans, die sich jemals sterblichen Augen geboten hat,
eine blendende Erscheinung, ein unerhörter Reichtum, ein erschreckender Glanz,
sich mit einemmal enthüllte wie ein überirdischer Traum. Ich weiß uicht.
^as ich gesehen habe. Eine Reihenfolge von Gräbern, fünfzehn unberührte
Leichname, eiuer neben dem andern, ans einem goldnen Bett, das Gesicht mit
einer Goldmaske bedeckt, die Stirn gekrönt mit Gold, die Brust umwunden
"Ne Gold, und überall, ans dem .Körper, zur Seite, zu Füßen, überall eine
Verschwendung von Goldsachen, unzählbar wie die Blätter, die von einen,
s«l"lhaften Walde gefallen sind, eine unbeschreibliche Pracht, der glänzendste
Schatz, den der Tod in der Dunkelheit der Erde seit Jahrhunderten, seit Jahr-
W'senden vereinigt hat. — In einem Augenblick hat die Seele die Jahr¬
hunderte und die'Jahrtausende überschritten, hat in der furchtbaren Sage ge-
"tenet, hat in dem Entsetzen des alten Blutbades gezittert. Die fünfzehn
Reichen waren da, wie sie damals nach dem Morde beigesetzt worden waren,
Agamemnon. Eurymedon. Kassandra und das königliche Gefolge, begraben
""t ihren Kleidern, ihren Waffen, ihren Diademen, ihren Gefäßen, ihren
Juwelen, mit allem ihrem Reichtum. - - sie waren da, für einen Augenblick,
^'ter meinen Augen, unbeweglich. Wie ein Dampf, der verhaucht, wie ein
Schaum, der vergeht, wie ein Staub, der verweht, wie irgend etwas unsagbar
^ergnngliches und Flüchtiges verschwanden sie alle in ihrem Schweigen sbei
der Berührung mit Luft und Sonnej ... Es ist nichts übrig geblieben als ein
Haufe» von Kostbarkeiten, ein Schatz ohne gleichen." Mit ihnen und mit der
'^che der Leichen füllt Leonardo sein Zimmer.
Das große Werk ist gelungen, aber über den Menschen, die es weit über
das Gewöhnliche erhoben hat, steigt unwiderstehlich, unbezwinglich ein furcht¬
bares Schicksal auf. Schon das Motto auf dem Titelblatt deutet es an:
"/^^-, ^«/«i^ Eros, du unbesiegter im Streit; es ist das erste Wort
auch des Dramas, denn mit diesem Vers aus der Antigone beginnt Bianca
Maria ihre Vorlesung in der ersten Szene. Die Liebe erscheint nicht als eine
beseligende Empfindung, sondern fast als eine äuszere Macht, die den Menschen
widerstandslos bezwingt.
Über Leonardo, der immer einsam mit seiner Schwester gelebt und niemals
ein andres Weib gekannt hat, ist plötzlich eine unnatürliche, verbrecherische
Liebe zu ihr gekommen, unheimlich wie ein Dieb in der Nacht. Er empfindet
sie als etwas Schreckliches, er sucht sie zu bemeistern, sie durch angestrengte
Arbeit zu übertäuben, aber des Nachts flieht ihn der Schlaf, und am Tage
schent er jede Berührung mit ihr, was sie um wieder als Zeichen einer be¬
ginnenden Abneigung gegen sie schmerzlich empfindet. Alessandro ahnt, daß
ihn ein schweres Geheimnis drückt, aber auch er trügt ein solches mit sich
herum. Seine Frau Anna ist erblindet und kann ihm nichts mehr geben-
Da ergreift ihn mit steigender Macht die Liebe zu der schönen, sanften Bianca
Maria. In einer erschütternden Szene des zweiten Akts voll verhaltner
Leidenschaft gesteht er dieser feine Neigung, und sie verhehlt nicht, daß sie sie
erwidert, obwohl sie ihre Liebe als verwerflich und als eine Untreue gegen
den Bruder empfindet, von dessen Geheimnis sie nichts ahnt. Dieser aber,
den es furchtbar drückt, läßt es sich endlich (in der letzte» Szene des zweiten
Akts) von Alessandro entreißen. Inmitten steht die arme Dulderin Anna,
deren schönen, klaren Augen mau die Blindheit nicht ansieht, und die deshalb
von ihrer treuen, alten Amme immer wieder mit der Hoffnung getröstet wird,
sie werde ihre Sehkraft einst wiedererlangen. Obwohl sie keinen Lichtschimmer
mehr hat, so ist sie doch so feinhörig und feinfühlig — „ihre Finger sehen"
daß sie mit fast visionärer Sicherheit alles bemerkt, was um sie her vorgeht.
Sie fühlt in Bianca Maria die aufkeimende Leidenschaft zu Alessandro, und
sie weiß längst, wie dieser gleichgültig gegen sie, die Blinde, geworden ist. I"
einer vertraulichen Stunde entreißt sie der Freundin das Geständnis, sie ver¬
zeiht ihr das Leid, das diese ihr bereitet, und beschließt bei sich, still zu „ver¬
schwinde»," um das Hindernis, das allein die Liebenden trennt, aus dein Wege
zu räumen. Von dem schrecklichen Geheimnis Leonardos hat sie nur eine un¬
bestimmte Ahnung. Während sich scheinbar eine friedliche Lösung dnrch ihren
opferwilligen Verzicht vorbereitet, kommt Leonardo zu einem furchtbaren Ent¬
schluß. Der Gedanke, er könne die eigne Leidenschaft schließlich überwinden,
liegt diesem echt d'Annnnzivschen Charakter ganz fern; er null vielmehr seine
unschuldige Schwester, nachdem ihm Anna Älessandrvs Neigung gestanden hat
(im dritten Akt), und natürlich ohne Ahnung von Annas Absicht, um¬
bringen, um sie dem schrecklichen Konflikt, worin sie nur halbwissend steht'
zu entziehn und sich selbst der Versuchung. So lockt er sie, als der Aden
des zweiten Tages niedersinkt, zur Perseusquelle am Fuße der Burg, denn
einzigen Ort in diesem schattenlosen, sonnendurchglühten Lande, wo Fr'N^
und Kühle zu finden sind, und während sie sich arglos über das tiefe Wasser-
decken beugt- »in zu trinken, stößt er sie hinein und ertränkt sie. So findet
ihn Alessaiidro, der ihnen mit banger Furcht gefolgt ist. als er ihren Ausgnng
erfahren hat. starr an der starren, wassertriefenden Leiche sitzend. Leonardo
aber empfindet keine Reue über den Schwestermord, denn er hat, wie er meint,
sie befreit und sich das reine Bild der Schwester zurückgegeben Während sie
beide noch in halber Betäubung an der Quelle sitzen, hören sie erschreckt
Schritte, die sich nahen, und zu ihrem Entsetzen erscheint, die Namen aller
drei abwechselnd rufend, die blinde Anna, die allein den Weg zur Quelle ge-
funden hat, von unbestimmter Angst ans der von allen verlassenen Wohnung
getrieben. Schweigend, unfähig, ein Wort zu sagen, erwarten sie die beiden
Freunde. Erst als sie beinahe mit dem Fuß an die Leiche stößt, ruft ihr
Alessandro zu: „Halt an!"; sie aber kniet bei der Toten nieder, und während
sie sich über das "erkaltete Antlitz beugt, ruft sie plötzlich, die Arme erhebend:
»Ich sehe, ich sehe!" Sie hat — so muß man es wohl deuten - - in dem
sichtbaren Schrecken ihre Sehkraft wieder erlangt.
Es ist ein düsteres, fast abstoßendes Thema, das die Tragödie behandelt,
und es fehlt ihr um dein Versöhnenden echter Tragik. Bianca Maria stirbt
ohne wirkliche Schuld, und ihren Mörder Leonardo trifft keine Vergeltung; in
seiner halb wahnsinnigen Sophist« sucht er sich selbst einzureden, daß er der
Schwester eine Wohlthat erwiesen habe. Aber von solchen altväterischen Sitten-
begriffen und Forderungen um die Tragödie Null ja die „Moderne." will mich
d'Annnnzio nichts mehr wissen; er will das Leben, die Menschen, schildern.
>"le er sie sieht.
Unbekümmert ist er auch um die gewöhnlichen Regeln dramatischer Öko¬
nomie. Die fünf Akte des Stücks sind von ganz verschiedner Länge. Die beiden
ersten nehmen zusammen weit über die Hälfte des ganzen Dramas ein. der
fünfte besteht nur aus einer einzigen Szene. Die äußern Vorgänge sind ans
ein Minimum beschränkt, die Tote Stadt ist durch und durch eine psychologische
Tragödie, ähnlich wie Goethes Tasso; ihre Bedeutung beruht also in der
'meisterhaften Seeleninalerci. lind in dieser verdient unzweifelhaft die Gestalt
der blinden und doch fast hellseherischen Anna den Preis. Über den ganzen
düstern Gegenstand und die Armut der Handlung hat der Dichter das fun¬
kelnde Prachtgewand seiner Sprache geworfen, die jeder Regung der Seele
s°lgt. Nicht mindre Kunst hat er der äußern Umgebung gewidmet. Von einer
saulengetrngnen offnen Loggia ans sieht man die kyklopischen Mauern der
^urg von Mrckcne mit dem Löwcnthor, dahinter die weite, dürre Ebne des
"dürstenden Argos" und die gelben, kühlen, verbrannten Felsberge, die sie
^le „Löwen" umgeben, in der Ferne das tiefblaue Meer. Ein azurner
Himmel, nnr dann und wann von einem leichten Wölkchen umsäumt, ein
Mhendes. blendendes Sonnenlicht liegt über Land und See, alles ist dürr
Und trocken, rötliche Staubwolken wirbeln bald da bald dort empor, der
^nachos hat keinen Tropfen Wasser, die Blumen sterben, die Erde verdorrt;
"'"sonst ziehn tagtäglich Prozessionen zum Eliasberge hinauf, um Regen zu
^flehn. Tiefe Stille, nur selten ertönt die Rohrpfeife eines Hirten, oder die
Lerchen steigen jubelnd zum Himmel ans. oder Falken schießen kreischend dnrch
die Luft, von menschlichem Leben, außer dem kleinen Freundeskreise im Hanse,
kaum eine Spur, Sinkt der Abend herab, dann flammt der Horizont in
Purpur, und die kahlen Scheitel der Berge leuchten wie rote Fackeln; endlich
treten die Sterne funkelnd hervor. So ist die Szenerie während der drei
ersten Akte. Im vierten weht ein heißer Wind wie ans der Wüste, er heult
und pfeift durch die kyklopischen Mauern der Burg und um das Haus, über
dein Meere blitzt es, aber er bringt keinen erfrischenden Regen. So spiegelt
die Natur die Stimmung der Menschen wieder: die versengende Sonnenglut
die Glut der aufbreuueuden Leidenschaft, der heiße Sturm die nahende
Katastrophe.
Aber es handelt sich hier nicht nur um eine Symbolik. So wenig
zwischen der Handlung und der äußern Umgebung, ja der Auffindung der
Atrideugräber zunächst el» Zusammenhang zu bestehn scheint, so ist er doch
wohl vorhanden. Nur auf diesem sagenbelebtcu Boden, nur in dieser lvelt-
abgeschicdnen Einsamkeit konnten die Gestalten der Heroenzeit, des Äschylos
und des Sophokles in den Menschen der Gegenwart solches Leben gewinnen.
Bianea Maria sieht in Antigone sich selbst, Leonardo ist von der Erinnerung
nil die Heroen, nach deren Resten er sucht, aufs tiefste ergriffen. „Sie sind
in ihm mit aller Gewalt wieder lebendig geworden und atmen in ihm mit
dem erschreckenden Atem, den ihnen Äschylos eingeflößt hat, riesengroß und
blutig, wie sie ihm in der Gruft erschienen sind," sagt Alessandro von Leonardo.
Als er nnn vollends diese Reste wirklich findet, da leben sie alle mit ihnen,
als wenn die Jahrtausende zwischen ihnen verschwunden wären. Das aber ist
die Voraussetzung der Verwicklung und der Katastrophe. Die tiefe Leidenschaft,
die in diesen großen Gestalten glüht, geht gewissermaßen in die handelnden
Personen selbst über; die Abgeschiedenheit, in der sie jahrelang selbst leben,
nur mit ihnen beschäftigt, und die ungeheure Spannung, die sie vorwärts
treibt und ihre Nerven aufs äußerste erregt, steigern diese Disposition, auch
die perversen Neigungen, die in der griechischen Heldensage nicht ohne Beispiel
sind (man denke an die Liebe Phädras zu ihrem Stiefsöhne Hippolytos). Es
ist, als ob ans diesem Boden der Geist der alten Tragödie wieder emporstiege.
Ein deutsches Publikum wird sich für das Drama schwer erwärmen. Zu
fremdartig sind ihm Stoff, Umgebung und Empfindungen. Die Feinheiten
des Dialogs gehn in einem großen Hause leicht verloren, und der Zauber der
Sprache fällt ganz weg. Auch in Italien hat die Tote Stadt nicht allgemeinen
Beifall gefunden. Aber dort erwartet man von d'Anuunzio, der jn erst M
:;9. Lebensjahre steht, noch Großes. In der That, wenn er sich freimachen
könnte von diesem durch und durch unsittlichen „Übernleuschentum," wenn er
sich entschließen könnte, mit seiner tief eindringenden Psychologie und seiner
Farbenpracht wahrhaft gesunde Meuschen in der Arbeit um große Aufgaben
zu schildern, so könnte er wirklich werden, was er gern sein möchte. Vielleicht
bezeichnen sein „Fuoco" und sein „Gesang ans Garibaldi," der den nationalen
Volkshelden, einen wirklichen Helden der edeln That, dithyrambisch feiert, den
Beginn einer solchen Wendung. Es ist doch auch im Grunde der seltsamste
Widerspruch: unsre Zeit steckt voll Thatkraft und Unternehmungslust, alle
Völker recken und strecken sich, ihren Anteil an der Welt zu erobern, und
führen im Innern erbitterte Kriege um große Ziele, aber die Dichtung aller
Länder schildert mit Vorliebe das Schwächliche und das Krankhafte, als ob nur
dieses darstelleuswert sei; die Nationalität macht hier gar keinen Unterschied,
ein Beweis mehr dafür, daß die künstlerische Produktion der Neuzeit weniger
von der nationalen Verschiedenheit als von der gemeinsamen Entwicklungs¬
stufe abhängt. Das ist das natürliche Ergebnis, aber auch zugleich der
Bankrott der modernsten Philosophen, die den Menschen bald zu einem willen¬
losen, unfreien Spielzeug seiner Eigenschaften und seiner Umgebung, bald zum
Übermenschen, also zum brutalen Egoisten machen. Alle wirkliche Sittlichkeit
aber — nicht nur die „herkömmliche" Sittlichkeit — beruht auf der Willens¬
freih
er Gotthcirdstraße hat die Natur ihre Richtung so bestimmt vor-
gezeichnet, daß nur im einzelnen Abweichungen von der einmal
eingcschlagnen Linie möglich sind. Von Flüelen, wo sie am
flachen Gestade des Urner Sees beginnt, durchzieht sie bis
Amstcg in fast umuerklicher Steigung von 347 zu 522 Meter
^ einer Länge von 16 Kilometern die breite, nur allmählich sich verengende
^hnlebne der Reuß, ihren flachen Alluvialboden, den wirtschaftlichen und
historischen Kern des Kantons Uri, wo sich die sagenberühmten Örtlich¬
eren Altdorf, Bürgem, Attlinghauseu, Zwinguri auf kurze Entfernung zn-
Mnmendrüngen. Nur die Umgebung trägt den großartigen Charakter des
Hochgebirges: hohe, schroffe, wasserzerrissene, nur unten bewaldete Wände,
Drüber dann und wann hinter einem Querthale ein Glctscherrand oder ein
^chneehaupt, wie vor allem die prachtvolle Granitpyramide des Bristenstocks,
le das ganze Thal beherrscht und sich immer höher in den Himmel hinein
^de, je weiter man aufwärts steigt. Bei Amsteg geht die Thalebne in einen
^'^en Thalspalt über, die Neuß verwandelt sich in einen stürzenden, schau-
'uenden, tosenden Gießbach, die Thalsohle verschwindet, und Straße wie
Seilbahn muß sich mühsam hoch über dem Flusse, bald rechts, bald links,
^'f den darüber ansteigenden beruften Terrassen den Weg suchen. Der alte
Saumpfad ist vielfach anders gegangen als die moderne, erst 1820/30 erbaute
-poststraße; er lief unter den drei schlimmsten Lawinenzügen des Bristenstocks,
" auf dem rechte» Ufer, durch und mußte allein im Pfarrbezirk Waffen
^ "öls Holzbrncken überschreiten, war also häufigen Störungen ausgesetzt. Für
l^nen Unterhalt hatten die Thalgemeinden auszukommen, und zwar so, daß in
jeder Pfarre jedem Pfarrgenvssen jährlich ein Tagewerk an der Straße auf¬
erlegt war; die Brücken mußten durchschnittlich aller sieben Jahre erneuert
werden, schwere Lasten, die allein schon genügen würden, eine bewußte Verkehrs¬
politik Aris zu bezeugen. Die Eisenbahn, 1882 eröffnet und eine der kühnsten
Bahnkanten der Welt, überwindet die mächtige Steigung von Amsteg bis
Gvschenen, von 522 zu 1104 Meter, auf einer Strecke von etwa 20 Kilo¬
metern in direkter Linie nur durch eine Reihe großer Tunnels, von denen die
drei längsten, fast kreisrunde Kchrtunuel, Meisterwerke der Technik sind. Auch
hier zeigen starke Quermauern und Wnsserdurchlässe die Gefährdung durch
Lawinen und Bergwässer. Allmählich verschwindet der Bauwuchs mehr und
mehr, und bei Göschenen schließt sich der starre Felsenkessel, in deu die Eis¬
massen des breiten Dammagletschers Hereinsehen, für das Auge vollständig;
nur das schwarze Thor des großen Tunnels zeigt einen Ausweg, und lange,
hohe Schutthalden vor seiner Mündung verraten noch die ungeheure Arbeit
seiner Aushöhlung.
Doch die Poststraße steigt, die Neuß tief unter sich zur Linken lassend,
in raschen Kehren durch deu Ort aufwärts nach dem Eingänge der großartig
wilden Schölleueuschlucht. Bis zu 300 Meter ragen die steilen, graugelben,
nackten Granitwände empor; uur hier und da wuchert Arvengestrüpp, Alpen¬
rosenkraut und hartes langes Gras oder dunkelgrünes Moos; aber die Fichten,
die früher an manchen Stellen bis vor wenig Jahrzehnten standen (auch
Goethe erwähnt solche bis gegen die Teufelsbrücke hin 1797), sind in ihrer
Vereinzelung längst vom Sturm gebrochen, und heute macht die Schlucht den
Eindruck einer fast vegetationslosen starren Felseinöde. Von den durchfurchten
Wänden hängen die weißen Fäden der Gletscherbäche herab, unten donnert
die Neuß über zahllose Felsblöcke schäumend und bannend, in eine lange
Reihe von Katarakten aufgelöst. Fast schreckhaft wirkte die ungeheure Szenerie
auf die Seele des jungen Goethe (1775), die eben erst anfing, die Erhabenheit
des Hochgebirges zu begreifen. „Die Felsen, schreibt er am 19. Juni an Lotte
Kestner, immer mächtiger und schrecklicher, der Weg bis zum Teufelsstein b:s
zum Anblick der Teufelsbrücke immer mühseliger." Ein Versuch, die Land¬
schaft zu zeichnen, mißlingt, „denn für dergleichen Gegenstände hatte ich keine
Sprache." Hatte er doch auch nicht die bequeme Poststraße unter den Füßen,
die hente auf hochaufgemauerteu Fundamenten zunächst am linken Ufer deo
Bergstroms zieht, dann ihn ans der Häderlibrücke überschreitet, und wenn
heute die schöne füufspännige Schweizerpost und die ebenso mit fünf Pferden
bespannten Omnibusse der Gasthöfe von Andermntt und Hospenthal staub-
aufwirbelud und schellenlnutcnd, immer im Trabe den bequemen Reisende«
mühelos befördern, so führte damals, jetzt kurz hinter der Häderlibrücke ab¬
biegend, der schmale gepflasterte Saumpfad zunächst über eine hochgewölbte
Brücke, dann auf dem linken Ufer steil aufwärts, uoch heilte als abkürzender
Fußweg viel benutzt, aber kaum noch unterhalten und streckenweise von loscw
Geröll überschüttet. In frühster Zeit bestand er streckenweise ans Felsstufen!
wenigstens leitet man den Namen Schöllenen vom italienischen MÄmo. Stufe,
ub. Kurz unterhalb der zweiten Straßenbrücke, der Sprengibrücke, stößt er
auf den Damm der Straße und verschwindet unter ihm; doch stellt eine eiserne
senkrechte Leiter für den Fußgänger die Verbindung her.
Enger rücken die Wände zusammen, eine Galerie von »0 Meter Länge
schützt die Straße an der gefährlichsten Stelle vor der Lawinengefahr, und
wieder scheint sich das Thal zu schließen, denn gerade vorn steigt ein kahler
Abhang auf, an dem eine Straße in großen Kehren emporklimmt. Auf den
ersten Augenblick meint man, das sei die Poststraße, aber thatsächlich gehören
dieser nur die untersten Schlingen an, die obersten führen nach dem Fort Bätz-
verg hinauf. Noch eine scharfe Biegung rechts um eine Felsnase, und die
Straße tritt in die engste, wildeste Strecke der Schlucht. An der nackten, senk¬
rechten, hier und dn überhängenden Felswand des linken Ufers ist sie mühsam
dem Gestein abgerungen worden; ein für gewöhnlich offnes eisernes Thor ge¬
fügt, sie hermetisch zu schließen. Dreißig Meter tiefer unten stürzt in einer Reihen¬
folge schäumender, donnernder Katarakte die Reuß hinab, und über sie hinüber
schwingt sich in einem einzigen kühnen, acht Meter weiten Bogen aus Granit-
Böcken mit scharfer Biegung nach links die Teufelsbrücke über den schwindelnden
Schlund. Hoch sprüht der Wasserstaub empor, ein kalter Windzug nicht be¬
ständig aus der Schlucht heraus, und ein Gefühl des Unheimlichen steigt in
dieser menschenfeindlichen, unbezwinglichen Natur unwillkürlich wohl bei jedem
"°es heute auf. Um wie viel mehr bei dem Wandrer, der früher aus schmalen!
Saumpfad mühsam aufwärts klomm und die alte, erst 1718 an Stelle eines Holz¬
stegs erbaute Teufelsbrücke überschreite» mußte, die sechs Meter uuter der
Modernen seitwärts über den Vergstrom führte, beständig in Wasserstand ein¬
gehüllt und am 3, August 1888 bis auf die moosübcrwachseuen Uferpfeiler vom
^wchwasser weggerissen worden ist. Nur schmale, grasbewachsene Vorsprünge
"Ul Felsen hatten es der alten Technik möglich gemacht, hier eine Brücke zu
schlagen und einen Pfad zu bahnen, „Teufelsbrücke und der Teufel, Schwitzen
Und Matten und Sinken bis ans Urnerloch," notierte Goethe am 20. Juni 1775
sein Tagebuch, und er fand, daß sich das ungeheure Wilde immer mehr
steigere.
Jenseits der Brücke, wo heute, nicht zur Erhöhung des Eindrucks,
^u kleines Wirtshaus steht und ueben Gotthardmineralien und Ansichtspost¬
karten auch gelegentlich possierliche junge Bernhardiuerhunde zum Verkauf ans¬
ätet, führt die Straße geradeswegs auf ein merkwürdiges modernes Denkmal los,
a^ in die graugelbe Granitwnnd des rechten Ufers hoch über dein Strom ein
gearbeitet ist. In halbbogeusörmiger Nische erhebt sich auf einem Sockel ein hohes
^euz mit den verschlungnen griechischen Anfangsbuchstaben des Namens
^sri-sens und auf dem breiten Unterbau verkündet eine russische Inschrift,
aß dieses Denkmal „den tapfern Kampfgenossen (äob1v8w^in spoäm8ünikkuir)
des Generalissimus Feldmarschalls Suworvw, Grafen von Rhmnik, Fürsten
^'u Italien ilmM iwliMj)" gewidmet sei (1899). Seltsam genug taucht
Mr im Herzen der Schweizer'Hochalpen die Gestalt des großen russischen
Midder'u auf, der aus deu einförmigen Ebnen Osteuropas die rachen Söhne
ieser Ebnen erst in die heiße Lombardei und dann die Gotthardstraße aufwärts
und abwärts, auf beispiellosen Gebirgsmärscheu viermal eine Alpenkette über-
schreitend, bis an den Bodensee führte. Am 24. September 1799 hatte Suworvw
unter beständigen Gefechten Hospenthal erreicht; am 25. September drangen
seine Vortruppen unter Rosenberg, die Franzosen durch Umgehung zur Räumung
des Urnerlochs zwingend, bis an die Teufelsbrücke vor, von der der kleinere
Bogen auf der rechten Uferseite gesprengt war. Nun wird überall erzählt, die
Russen hätten einzeln unterhalb der stark besetzten Brücke im Feuer des Feindes
die Neuß durchwatet, Hütten ihn so wieder umgangen und zum Rückzug nach
Amsteg genötigt. Wer jemals an dieser Stelle gestanden hat, der wird die
Möglichkeit dieses verwegnen Manövers stark bezweifeln, denn die Uferstellen
fallen nach der Reus; hin zuletzt überall glatt ab, sodaß es zwar möglich sein
mag, an ihnen hinab ins Wasser zu gleiten, aber unmöglich scheint, an der
andern Seite wieder hinnufzukliminen; vor allem aber wäre Menschenkraft schwer¬
lich imstande gewesen, der ungeheuern Wucht des herabstürzenden Wassers in
diesen Katarakten zu widerstehn, deren Grund unregelmäßige, glatte Granit¬
blöcke bilden, die nirgends sichern Tritt gewähren. Auch bedürfte es eines so
abenteuerlichem Versuchs gar nicht. Ein schmales Grasband des rechten Ufers,
an dem jetzt das Nussendenkmal steht, genügte, russische Schützen soweit vor¬
zuschieben, daß sie die Brücke im Rücken fassen und den abwärts führenden Saum¬
pfad wirksam unter Feuer nehmen konnten, und darauf allein kam es an.
Hinter dein Nussenkreuz sperrt der vorspringende Tenfelsberg mit dein
Bützberg gegenüber die Straße derart, daß eben hier die „staubende Brücke" auf-
gehüugt werden mußte. Erst 1707 sprengte der italienische Ingenieur Pietro
Moretiui durch den grauschwarzen Schieferfelsen einen nur 2^ Meter breiten
und eben so hohen Stollen, das Urnerloch, und erst beim Neubau der Gott-
hardstraße wurde es zu einem Tunnel von fünf Metern Höhe und sechs Metern
Breite erweitert, der die Durchfahrt vou Wagen ermöglicht, jetzt übrigens auch
durch ein eisernes Thor jederzeit gesperrt werden kann. Begreiflich ebenso,
daß Goethen in diesem dunkeln engen Schlund am Ende eines so mühseligen
Wegs eine „verdrießliche" Stimmung überkam, wie daß er von dem Anblick
des Urserenthals anmutig überrascht wurde. Diesen seinen Eindruck spiegeln
auch Schillers Verse im „Berglied" wieder:
Und im „Tell" weist dieser dem flüchtigen Johann Parrieida, freilich mit starkem
Anachronismus, denselben Weg:
Heute ist der Gegensatz nicht mehr so schroff, weil die Anstrengung des
Wegs nnr gering ist, aber überraschend wirkt der Übergang aus der engen,
nackten Schlucht in das weite, grüne Thal dennoch. Die Reuß, die dort den
Reisenden fortwährend mit donnerndem Brausen begleitet hat, verwandelt sich
oberhalb des Urnerlochs mit einemmal in einen zwar rasch und stark aber
breit und glatt im regulierten Bett dahiuströmenden Gebirgsflnß, über den eine
flnchgelegte Eisenbnhubrücke nach dem zinnengekrönten Festungsthore des Forts
auf dem Bätzbergc hinüberführt. Die Bergwände weichen plötzlich zurück und
umschließen ein breites, flaches Wiesenthal. Das ist Urseren. In einer Meeres¬
höhe von 1440 bis 1600 Metern erstreckt es sich als ostwestliches Längsthal
zehn Kilometer weit von Andermatt bis Realp am Fuße der Furka, im öst¬
lichen Teile eine bis zu einem Kilometer breite Ebne, aber hier vielfach durch
kleine Hügel unterbrochen, die aus überwachsenen Felstrümmern bestehn, mit
üppigen Matten bis hoch an den Berghängen hinauf bedeckt, mit zahllosen
grauen, steinernen Heustadel» übersät, die sich ebenfalls uoch hoch an den
Hängen hinaufziehn. Darüber steigen graue, zerrissene Felsschroffen empor;
sie senden bestüudig, wenn die Gletscherbäche anschwellen, Geröllmassen nach
unten, die mit breiten Schutthalden die Matten unterbrechen. Erst über ihnen
ragen zackige Felskämme und Schneespitzen auf. Bei Hospenthal hört die
Thalebne auf, die Furkarcuß füllt die ganze Thalsohle aus, und die Straße
führt über ihr auf wiescubedeckter Terrasse bis an deu Weiler Zum Dorf; dort
erweitert sich das Thal wieder zu einer sumpfigen Wiesenfläche, die bis an
den Abhang der F»rta reicht. Nach allen Seiten erscheint Urseren als völlig
geschlossen. Im Osten sperrt es der grasbewachsene Hang der Oberalp, im
Westen der ganz ähnliche Rücken der Furka, links von den Schneefeldern des
Matterhorns, rechts von dem kolossalen Zackcnkamm des Galenstocks flankiert,
im Norden der Bätzberg und die Felsnadcln der Spitzliberge, im bilden die
Abhänge des Gamsstocks und des Winterhorns, die schon zum Gotthardmassiv
gehören. So liegt es gerade da, wo sich die beiden Hauptketten der Zentralalpen
kreuzen. Natürliche Öffnungen hat es nur im Norte» und im Süden, und doch
ist der Verkehr von Westen nach Osten viel älter, denn ans diesen beiden Seiten
begrenzen nicht wie sonst unwegsame Felsrücken das Thal, sondern zwar steile
aber mit Erde bedeckte, mit Gras bewachsene Lehnen, deren Ersteigung für
Fußgänger und Saumtiere keine besondre Schwierigkeit bot.
Diese außer vou Norden verhältnismäßig leichte Zugänglichkeit des Ursereu-
thals verbindet sich mit einem andern Borzuge, der Bcbauuugsfähigkeit. In
der rauhen Höhe gedeiht allerdings kein Getreide mehr; anch der ursprünglich
reichlich vorhaudne Wald ist bis auf deu kleinen Bannwald südlich von
Andermatt, der den Ort vor Lawinen schützt, verschwunden. Erst seit etwa
zwanzig Jahren ist bei Hospeuthal eine fröhlich gedeihende Anpflanzung, meist
Kirchen, an der südlichen Berghütte von der Gemeinde gemacht worden, deren
Mitglieder sich nur schwer dazu entschlossen, diese hier besonders ertragreichen
Matten einem höhern Bedürfnis, dem Holzbcdarf künftiger Geschlechter und
dein Schutz vor Lawinengefahr zu opfern; eine ähnliche hat ans demselben
Grunde die Gemeinde Reilly begonnen. Aber in der heißen Sonne des kurzen
Sonnners gedeiht auf deu reichlich bewässerten Flächen des Thals ein üppiger
Grnswnchs in unvergleichlich farbenbunter Blumenpracht, der erst im Juli ge¬
schrieen: wird. Dann wimmeln die Wiesen von fleißigen Menschen und
Gespannen. Vou den steilen Abhängen aber muß das Gras auf dem Rücken
herabgetragen werde». Den» die Heuernte ist eine Lebensfrage für Urseren,
da von ihrem Ausfall nicht mir das Winterfutter des zahlreichen eignen
Viehs (manche Bauern besitzen bis hundert Stück), sondern auch die lohnende
Ausfuhr des Überschusses nach Luzern und Zürich abhängt. Auf die Frage,
ob das Wetter schön bleiben werde, antwortete deshalb ein Urfeuer Grund-
besitzer ganz ernst: „Es mich, wir haben ja Heuernte." Im Sommer, vom
15. Juni bis 15. September, ist das Vieh natürlich ans den Alpen, die Ge-
mcinweiden sind. Erst vom 28. September ab darf es auch auf den Matten
des Thals frei weiden. Zur Grasnutzuug kommt noch eine sehr bedeutende
Milch- und Käseproduktivn. Der Urfeuer Käse gilt sogar als der feinste in
der Schweiz und wird von Goethe mehrmals gerühmt. Jedenfalls ist Urseren
durchaus auf Viehzucht angewiesen und also ganz vom Sommer abhängig.
Aber schon ist dieser kurze Sommer. Die Schwankungen der Temperatur
während eines Tages sind verhältnismäßig gering. Vom 1. Juni bis zum
30. September steht das Thermometer im Durchschnitt früh 6 Uhr auf
8 Grad Celsius, Mittags 2 Uhr auf 16, abends 9 Uhr auf 13 Grad. Die
Morgen und Abende sind also frisch, aber nicht so empfindlich kalt wie im
Engadin; die Sonne brennt in der schattenlosen Landschaft um Mittag zu¬
weilen heiß, sodaß sie beim Steigen lästig fällt, aber die Luft selbst bleibt
immer frisch, und der regelmäßig gegen 10 Uhr früh von Osten aufspringende
Thalwind hält die Luft immer in Bewegung. Dazu ist das Wetter sehr
gleichmäßig. Von deu rund 12U Tagen der vier Sommermonate bringen
durchschnittlich nur 25 bedeckten Himmel oder Regen, der so rasch austrocknet,
daß, wenn er die Nacht gefallen ist, um Abend schon wieder Staub ans der
Landstraße weht. Dafür bedeckt am Morgen silbergrauer Tau die Matten.
Mitunter quellen gegen Abend grauweiße Nebelschwaden ans der kalten
Schöllenenschlncht hervor und hüllen den untern Teil des Thals ein, aber
den obern erreichen sie nicht, und gewöhnlich strahlt ein tiefblauer Himmel,
von dem sich in der klaren Luft die Umrisse der Berge wie mit dein Messer
geschnitten abheben.
Auf Meilenweite ringsum bot dieses Thal die einzige Möglichkeit zu
solcher Landwirtschaft und also zu dauernder Ansiedlung. Denn die nächsten
benachbarten Orte sind alle weit entfernt und nur über hohe Gebirgspässe oder
lawinenbedrohte Wege erreichbar. Göscheuen liegt 6 Kilometer, Tschamut,
das erste Dorf des Vorderrheinthals, 16 Kilometer von Andermatt entfernt.
Oberwald in Oberwallis 31,5 Kilometer von Nealp, Airolo von Hospenthal
26 Kilometer. Im nähern Umkreis giebt es nnr Alpen- und Sommerwohnungen,
die um Mitte Juni bezogen und Mitte September verlassen werden. Im
größten Teil des Jahres sind also die Pässe völlig verschneit und unpassierbar;
in diesem Jahre konnte man noch Ende Mai sogar mit einem fünfspännigen
Geschirr nicht bis zur Furkcihvhe Vordringen, nnr bis zum Ticfenglctschcr.
Die Straße von Hospenthal bis Göschenen wird möglichst offen gehalten;
aber auch sie verschwindet auf Mounte unter hohen Schneemassen, und nur
ihre Richtung wird dann durch Stangen bezeichnet. Zuweilen versagt auch
diese Verbindung; dann sitzen die kleinen Ortschaften weltabgeschieden hinter
dicken Schneemauern.
So liegt das Urserenthcil wie eine Knltnroase und deshalb als eine
Raststätte mitten in einer starren, Schnee- und eisgepanzerten, unwegsamen
Felsenwildnis. Eben darin ist seine Bedeutung begründet. In der ältesten
Zeit bot es einen Ruhepunkt wenigstens für den ostwestlichcn Verkehr zwischen
dem Rhein- und dem Nhonethal, und die erste Besiedlung geht auch in die
römische oder wenigstens in die romanische Zeit zurück. Denn die Lokalnamen
sind alle romanisch. Der Name des ganzen Thals (Hrsaro 1236, Hrsari^
1285, italienisch Orlu^) wird mit andern Ortsnamen desselben Ursprungs in den
französischen Alpen (ein Ordres am Großen Se. Bernhard, ein andres an der
Straße von Grenoble nach Susa) als Station der Vnrenjäger (urs-u'ii) erklärt, die
für den Schutz der Poststraßen vor wilden Tieren zu sorgen hatten. Jedenfalls
führt Urscren als Wappen den Bären mit dem Krenz ans dem Rücken. Hospcn-
thal, das noch Goethe als „Hospital" bezeichnet, verrät noch in seinem Namen
seineu Ursprung aus einem Kospitg-ouium und ist wohl der älteste Ort des
Thals. Romanisch sind anch die Namen Nealp, Furka und Gnspisalp (östlich
von der obern Gotthardstraße). Die deutsche Einwmidrnng vom Wallis her
fällt erst in die zweite Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts und erhielt durch
die Eröffnung des Gvtthardwegs festen Halt an der deutschen Bevölkerung
von Uri.
Der Hauptort des Thals hieß ursprünglich schlechtweg Urseren oder Ursereu
an der Matt (noch bei Goethe) nach der breiten Wiesenfläche, die in den Hoch-
ab'en eine Seltenheit ist (vergl. Zermatt). Er liegt jetzt da, wo sich die Untcralp-
Reuß mit dem Hauptslusse vereinigt, lag aber ursprünglich um die älteste Kirche
Se. Columban am Nordende, bis Lawinen vom Rücken der Oberalp herunter
die Übersiedlung nach der jetzigen Stelle weiter südwärts uuter dem Schutze des
Bannwaldes veranlaßten. Wie die Dörfer des obern Wallis, die aus dichtge¬
drängten schwarzbraunen Blockhäusern besteh», hat Andermatt etwas düsteres.
Der ältere Teil gruppiert sich um eine enge Gasse, die an der Neußbrücke nach
Osten zu rechtwinklig umbiegt! die Hänser, zum Teil aus schindclbedeckten
Holzbalken unter breitem Dach, zum Teil auch aus Stein, zuweilen aus beiden
Materialien zusammengesetzt, mit niedrigen Stockwerken und kleinen Fenstern,
stehn stadtähnlich eng aneinander in geschlossener Gasse, darunter viele Gast¬
höfe älterer einfacher Art, wie die Drei Könige, in denen Goethe im Oktober
^797 einkehrte, am Westallsgange das moderne stattliche Grand Hotel. Wirk¬
lich alte Gebäude find auch hier wohl wenige übrig, denn am 9. Sep¬
tember 1766 brannte der Ort größtenteils ab. Modern nimmt sich der Teil
nach den Schöllenen hin ans. Hier steht wie eine kleine Kolonie für sich am
nördlichen Eingange das große, elegante Hotel Bellevue mit seinen „Depcn-
deneen," noch weiter nördlich die 'eidgenössische Kaserne mit den Artillerie¬
schuppen. Die Hauptkirche, ein einschiffiger italienischer Barockbau des sieb¬
zehnte» Jahrhunderts, erhebt sich am Westrande des Orts jenseits der Reuß;
südlich über dem Dorfe auf aussichtsreicher Höhe liegt die Kapelle Mariahilf
mit einer Vogenvorhalle auf der Westseite, wie sie alle Kirchen im obern Wallis
habe». Vou dort aus liegt das ganze Urserenthal mit seiner stolzen Um¬
gebung wie aufgerollt vor uns; aber vor allem haftet der Blick auf einem
trotzigen, hochemporrngenden Turmklotz; es ist der Bergfried der Burg Hospen-
thal, der alten Herrin von Nrseren.
Nicht zufällig ist dieser feste Sitz aus dem alten Hospitium erwachsen.
Die moderne Straße, die fast geradlinig in einer starken halben Stunde von
Andermatt nach Hospenthnl führt, steigt erst zuletzt unmittelbar vor dem Ost¬
eingange des Orts etwas an. Dort verengert sich das weite Thal mit einem-
mal, und zwischen der Gotthardreuß, die von Süden brausend herabkommt,
und der Fnrtareuß, die sich hier mit ihr vereinigt, schiebt sich eine felsige
Halbinsel vor. Auf ihrer höchsten, schwer ersteigbaren Kuppe erhebt sich über
steilem Fels der Turm, der letzte Rest der schon 1425 zerfallnen und aus¬
gegebnen, 1710 vollends abgebrochnen Burg, wo einst der Neichsvogt von
Disentis hauste. Auf einem niedrigern Vorsprung nach Osten zu steht die
1705 bis 1711 erbaute Kirche, vom Friedhof umgeben, von dessen hoher
Stützmauer aus gesehen das ganze untere Ursercnthal ausgebreitet liegt. An
diesem Hange steigt ans der Südseite die Dorfgasse empor. Vorüber an dem
stattlichen, aber behaglichen Hotel Maherhvf, gegenüber dem jungen Lärchen¬
wald und über die moderne Nenßbrücke, neben der die alte hochgeschwnngen
über den schäumenden Fluß setzt, erreicht sie den Eingang des alten Ortstcils.
Eng gedrängt stehn anch hier die Häuser, bald Stein-, bald Holzbauten,
manches alte Steinhaus mit schadhaftem Putz, zerfallnen Treppenstufen und
höhlenartiger Thür so düster und unwohnlich, daß es einem italienischen Berg¬
nest entnommen zu sein scheint, neben ein paar einfachen Gasthöfen älterer
Art auch ein ansehnliches Hotel zum Schwarze» Löwen (Goethe nächtigte
1797 im Goldner Löwen), und ganz oben erhebt sich klosterähnlich die schmucke
Kaplcmci Se. Karl von 1719. Kleine Gemüse- und Blumengärten geben hier
und da einem Anwesen ein freundlicheres Ansehen. In anderthalb Stunden
erreicht man auf der Furkastraße Realp, den kleinsten Ort des Thals, der
seit dem Brande von 1848 fast ganz neu gebant ist und deshalb wenig
Charakteristisches hat. In dem Kapuzinerklösterlcin ist Goethe im November 1779
mit dem Herzog Karl August eingekehrt, als sie von Münster im Ober-Wallis
mit Führer aufbrechend zu Fuß durch tiefen Schnee am Nhonegletscher vorbei,
wo damals noch keine gastliche Stätte stand, die Furka überstiegen hatten-
Die drei Ortschaften von Urseren liegen also alle an der uralten west¬
lichen Verbindungsstraße zwischen Rhein- und Nhonethal und alle drei an
wichtigen Stellen dieser Linie: Nealp am Aufstieg zur Furka, nach der sich
die moderne Straße in zahlreichen, weiten Kehren an der grasbewachsenen
Lehne hinaufwindet, Andermatt um Beginn der Oberalpstraße nach dem Vorder¬
rhein, die in derselben Weise den mit üppigen Matten bedeckten Abhang er¬
klimmt und eben hier mit der Gotthardstraße zusammentrifft, Hospenthal da,
wo diese zur Paßhöhe aufsteigt. Daß man hier nicht weit von der Grenze Italiens
ist, wird mannigfach sichtbar. Der stark auftretende Steinbau statt des sonst
in der deutschen Schweiz üblichen Holzbaues hängt natürlich zunächst mit der
Waldarmut der Landschaft zusammen, erinnert aber doch an italienische Ver¬
hältnisse, ebenso wie die Geschlossenheit der Ortsanlagen. Der Baustil der
Kirchen ist das italienische Barock, und die reichliche Verwendung schönen,
Weißen Marmors zu Grabdenkmälern ans dem Friedhofe von Andermatt ruft
italienische Campisanti ins Gedächtnis zurück. Die rauh gepflasterten Gasse»
der Ortschaften haben an den beiden Seiten breite, glatte, gleisartige Stein¬
streifen für die Wagenräder wie in den Gebirgsorten jenseits der Berge, und
nicht nur italienische Südfrnchthändler bieten ihre Ware aus, sondern auch
italienische Firmen (v-ÜMlöria itiüianÄ, Venäita in owl ° Uauori und dergleichen
mehr) rechnen auf italienischen Zuspruch. Auch die Kutscher neigen zu der
hübschen italienischen Sitte, die Köpfe ihrer Pferde mit Fuchsschwänzer. Fasancn-
sedern und roten Quasten zu schmücken.
Freilich hat der Verkehr über die Pässe und vor allem über den Gotthard
seinen Charakter, seine Mittel, seine Bedeutung mehrfach gewechselt. Bis 1830
erhielt sich der mittelalterliche Saumverkehr mit geringen Veränderungen. Die
Saumwege selbst wichen von der Richtung der modernen Poststraße oft stark
ab. Beim Urnerloch bog der Gotthard- und Furknweg rechts ab und führte
Wer die Matte am linken, nicht wie jetzt am rechten Ufer der Reuß aufwärts.
Als ranhgepflastertcr Fußweg ist er streckenweise noch kenntlich und setzt sich
von Hospenthal aus meist hoch über der Reuß durch die ansteigenden Matten
nach Nealp hin fort. Um nach Hospenthal zu gelaugen. überschritt der Rei¬
sende oberhalb der Stelle, wo sich Gotthard- und Furka-Reuß verewigen,
diesen zweiten Fluß auf eiuer hochgewölbten Bogenbrücke ganz von der Art
der alten Brücke im untern Teile der Schöllcncnschlucht und offenbar aus
derselben Zeit. Goethe passierte sie. als er 1797 von Andermatt heraufkam.
Eine ganz ähnliche Brücke überspannt dicht neben der modernen Straßenbrücke
innerhalb des Orts die Gotthardreuß. Die Unterhaltung dieser Wege war im Thale
und fast durch die ganze Schöllcneuschlucht Sache der Thalgemeindc Ursercn
unter ihrem Landammann (die Würde besteht heute uoch unter dem Titel
Thalmann); offenbar hat sie für die ursprünglich hölzernen Brücken much den
"leer Wald allmählich geschlagen.
Eine wirkliche, bewußte Verkehrspolitik hat sich an der Gotthardftraße in
Uri sehr früh entwickelt und ist durch alle Jahrhunderte verfolgt worden. Diese
^nem und Hirten waren keineswegs nur Saumtiertreiber und Wirte, sondern
auch Unternehmer mit weitem Blick, die ihren Vorteil sehr gilt wahrzunehmen
'unßten und in Anbetracht ihrer bescheidnen Kräfte Erstaunliches geleistet haben.
Schon 1315, im Jahre der Schlacht von Morgarteu. vereinbarten Uri und
Livinen eine Art von Postordnung. 1363 gab Urseren eine Säumervrdnung,
1383 wurde eine Eilgutvrdnnng eingeführt. Ebenso wurde für Sicherheit der
Straße gesorgt. Folgerichtig gingen auch die Zölle an die jungen Staatcn-
b'ldnngeu über, der in Flüelen an Uri, der in Göschencn an die Eidgenossen¬
schaft. Der Verkehr war an privilegierte Unternehinergenossenschafteii. die
"Porter," und bestimmte natürliche Stationen, die „Suster" (vom italienischen
Naststelle). die zugleich Zollstcllen waren, gebunden. Von jenen be¬
standen iii Uri drei, zu Flüelen, Silcncn und Massen; von den Suhlen wird
die von Flüelen, der wichtige Umschlagplatz für deu Seeverkehr, schon 1309
erwähnt und ist noch heute am Hafen vorhanden, in Silenen stehn wenigstens
>was Neste, und die von Hospenthal am Aufgange der Gotthardstraße, wo sie
Gr
sich von der Furtastraße abzweigt, ist jetzt Zeughaus, Als Sust galt auch
das Hospiz auf der Paßhöhe, Der Transport ging von Sust zu Sust („Teil>
balle"); für das „Durchsäumen" auf der ganzen Strecke, wie es die Ord¬
nungen von 1315 und 1383 erlaubten, mußte eine besondre Gebühr („Für-
leiti") bezahlt werden. Die Lasten wurden von Maultiere» und Pferden ge¬
tragen, da leichte Wagen oder Schlitten nur ganz ausnahmsweise und nur
von Reisenden benutzt wurden, und zwar trug das Tier auch später noch drei
Zentner oder Lasten, Bei gutem Wetter brauchte ein Saumtierzug vou Flüelen
bis Bellinzona vier Tage. Schon um 1303 brachten die habsburgischen
Zölle auf der Gotthardstraße von Hospcnthal bis Neiden (südlich von Otter)
jährlich vierhundert Pfund Silbers (9200 Franken, nach heutigem Kaufwerr
55000 Franken), gegen Ende des Mittelalters bis 1113 Pfund (23000 Franken,
im jetzigen Kaufwert 138 000 Franken); in derselben Zeit ging eine Gütermenge
durchschnittlich vou 25000 Zentnern jährlich über den Gotthard, Reisende
legten den Weg zu Fuß oder zu Pferde zurück, sehr selten mit Geschirr, wie
sich im März 1401 der Oxforder Jurist Adam von Usk eines einspännigen
Ochsenwagens, zu Ende August 1438 der spanische Edelmann Peter Tcifur
eines Ochsenschlittens bedienten, beide zu einer Jahreszeit, wo Schnee lag,
also zu Fuß schwer vorwärts zu kommen war. Jedenfalls ist der Paß auch
im Winter benutzt, also bis zu einem gewissen Grade offen gehalten worden-
Eine Mailäudische Stafettenpost mit Relais wurde zuerst 1494 eingerichtet,
war aber nicht von Bestand; erst 1693 legten Berner und Züricher Unter¬
nehmer wieder eine Postlinie über den Berg, die Dauer hatte.
(Schluß folgt)
! oseph, du seist doch das Ciborium und deine Schuhe nicht einzupacken
vergessen, fragte Pater Aloysius. der jugendliche Kaplan des Fürsten
! Montenero.
Jesus Maria! Ja, die roten Schuhe und die roten Strümpfe
hatte Joseph richtig eingepackt, aber die Hauptsache, das Ciborium
^ hatte er beinahe vergessen! Wurden nicht auch die beiden kleinen
Phialen mitgenommen?i¬
Nein. Phialen und alles übrige würde man in Prag finden. Nur das C
borium mußte niam für die ersten Tage mitnehmen, weil das der Präger Palais¬
kapelle beim Goldschmied war.ic
Auf Deutsch hatten das die beide», der Kaplan und der Chvrjunge, nun freilh
'^„"'"e"'""ver verhandelt, sondern auf Tschechisch, mit einer Weichheit und einem
^ohltlange der Lantbildnng, wie es ihnen so leicht kein deutscher Kaplan und kein
deutscher Chvrjunge gleichgcthcm hätte. Sie waren beide Stockböhmen und wären
eher auf den Gedanken gekommen, sich gegenseitig mit kaltem Wasser zu begieszen,
als einander deutsch anzureden. Aber was hülfe es dem einen oder dem andern
deutschen Leser, dem die slawische Mundart nicht geläufig wäre, wenn ihm der
-Wortlaut von Frage und Antwort in der ursprünglichen Fassung mit den korrekten
Schriftzeichen für die unnachahmlichen Zungen-, Gaumen- und Zahnlaute mitgeteilt
würde? Er muß sich das Tschechische sowie das Ausdrucksvolle und Gebärdenreiche
des Vortrags nach Möglichkeit selbst vorzustellen suchen.
Der gute dicke Joseph war in Kladno Kalfattorsjnnge gewesen, als Pater
Aloysius noch dem dortigen Konvent der Gesellschaft Jesu angehörte, und der Pater,
der seit anderthalb Jahren Kaplan des alten Fürsten war, hatte wohl gewußt, was
er that, als er den Jungen dem Haushofmeister für den Hausdienst empfohlen
hatte. Das ruhelose und doch behagliche Umherschleichen, womit Katzen ganze Stunden
des Tags und der Nacht hinzubringen Pflegen, war ihm so eigen, daß er außer
nachts, wo er den Niesen Goliath hätte überschnarchen können, nicht rastete.
zog von früh bis abends ans geräuschlosen Sohlen durch alle Zimmer, im Winter,
um nach den Feuern zu sehen, im Sonnner, um Jalousien zu offnen oder zu schließen,
und jedermann war das so gewohnt worden, daß man keine weitere Acht auf ihn
gab. Er kam und ging, unbeobachtet wie die Fcderwölkchen am Himmel, mit denen
^ freilich außer der Geräuschlosigkeit nichts gemein hatte. Denn ätherisch war er
»icht: im Gegenteil, er war unter den Jungen seines Alters das, was die Magen-
Wurst unter den Viktunlien ist und das Einnndzwanzigcentimeterkaliber unter den
Geschützen. Mit dem kugelrunden Kopfe, der knlbigen Nase, der an Milchkaffee
erinnernden Hautfarbe und dem über die Stiru bis dicht auf die Augenbrauen
hernntcrgewachseuen, kurzgeschvrucn schwarzen Haar, das wie Maulwurfsfell aussah,
würde er deu Eindruck eines richtigen Rüpels gemacht haben, wenn der ans seinen
^ugen und Angen sprechende gutmütige Ausdruck das Derbe und Urwüchsige der
^Icheinuug nicht einigermaßen gemildert hätte. Er war so behaglich, und sein Tritt
War so geräuschlos, daß man sich seine Nähe wie die eines gewohnten Haustiers
^fallen, ließ. Deu Kapellcudienst konnte er nebenbei besorgen, und das im Hanse
>cruinziehn war sein Hauptberuf. Da nun kein Arg vor ihm hatte, so hörte er
überall, was gesagt wurde, und hinterbrachte, was er gehört hatte, brühwarm dem
niplan. Man könnte beinahe sagen ans frommem Pflichteifer, denn die Väter der
eiellschaft Jesu kamen ihm unmittelbar nach dem lieben Gott. Er betrieb sein
.'Ahnchteuwesen wie eine Art Tempeldienst. Von dem, was er hinterbrachte, war
ideelles vieles wertlos, aber ab und zu war doch etwas darunter, was dem Pater
'Uohsins von Wichtigkeit erschien.
^. Da der Fürst alt und kinderlos war, so hatten die klugen Väter schon seit
Zähren el» vorbedachtes Auge auf seinen Besitz, auf das Majorat sowohl als auch
Y das Allodialvermögen geworfen. Den Grafen Viktor, den Sohn eines ver¬
ordnen Bruders des Fürsten, dem bei dessen Tode das Majorat zukam, und der
A^ri für den mntmaßlichen Erben seines Privatvermögens galt, hatte man nach
^sten beiseite zu schieben und in der Meinung des Fürsten anzuschwärzen gesucht,
M^" wan traute, was den Glauben und die Kirche anlangte, seinen Ansichten und
esinnungen nicht. Während der letzten Monate war man allerdings ohne Sorge
egen des gefährlichen Einflusses gewesen, den er „leider Gottes" durch seine ge-
und"es^ Persönlichkeit auf den alten Herrn ausübte, denn eine nach Kleinasien
hatt unternommne Reise hatte ihn glücklicherweise ferngehalten, und man
oder^ Wagehalsigkeit war bekannt — auf einen, männermvrdenden Seesturm
auf einen halsabschneiderischen Beduinen gehofft, mit deren Hilfe man seiner
h^^ ^gue Sünde" entledigt gewesen wäre. Aber diese menschenfreundliche Hoffnung
^ ^ sich nicht erfüllt, und mau mußte für die allernächste Zeit neuer Sorge und
der ""g.'^zusehen, da Graf Viktor auf der Heimreise war und in Prag, wohin
Wer 5' ^ alljährlich, auch dieses Jahr für deu Spätherbst und den Winter
rzusiedeln im Begriff stand, zu länger». Besuch erwartet wurde,
für r ^ dem Fürsten nicht a» Unterhaltung fehlen möchte, und damit er
hätte Mvdialbesitz, der zu den bedeutendsten Böhmens zählte. Erben zur Hand
ge-wa' ^'"^ ^"'^ Gräfin L'Hermage mit ihrer Tochter Paula ganz zu ihm
» gen, und Pater Aloysius redete im Verein mit de» sonst im Hanse verkehrenden
Prälaten und geistlichen Herren einer Vermählung der Komtesse Paula mit dem
Grafen Egon Libkvwitz das Wort. Ans diesen, der ein „guter Katholik" und in
etwas entfernter«: Grade auch ein Neffe des Fürsten war, konnte man rechnen.
Wenn es nach des Himmels Gnade und unter behutsamer menschlicher Nachhilfe zu
einem „nach allen Richtungen hin befriedigenden Bunde" zwischen diesem und
Komtesse Paula kam, so konnte der Fürst ruhig sterben, nachdem er diesen: frommen,
kirchlich gesinnten und pricstcrfreundlichen Paare den Teil seines Besitzes vermacht
hatte, über den ihm freie Verfügung zustand. Mit diesen beiden lief, glaubte man,
die Kirche keine Gefahr, zu kurz zu kommen. Wenn aber der Fürst vorzog, statt
des Grafen Egon, den er nicht recht mochte, Komtesse Paula seiue Güter und sein
sonstiges Vermögen zu hinterlassen, und diese junge Dame, statt sich zu vermählen,
in eins der aristokratischen Klöster eintrat, die dem hohen österreichischen Adel als
Herbarien für seinen überschüssigen Töchterreichtnm dienen, so war es um so besser.
Die tote Hand war schon ausgestreckt, um alles, was durch Zureden und geistlichen
Druck zu erlangen war, ohne Sang und Klang, wie es sich für eine tote Hand
ziemt, „in Form Rechtens" an sich zu nehmen und zu dein übrigen zu legen. Dem
ohnehin so vermögenden und durch seinen ausgebreiteten Landbesitz so einflußreichen
Damenstift am Fuße des Berges wäre dieser gewaltige Zuwachs an Kapitalien und
Ländereien gerade jetzt, wo einem die Unterstützung der pauslawistischen Bestrebungen
so „furchtbare" Unkosten verursachte, doppelt erwünscht gewesen.
Freilich wußte man, daß man die Katze ans mehr als einem Gründe noch
nicht im Sack hatte. Denn obwohl der Kaplan in rein geistlichen Dingen nicht
ohne Einfluß auf den Fürsten war, so hatte sich dieser in weltlichen Angelegen¬
heiten eine „bedauerliche" Selbständigkeit zu wahren gewußt. Es würde, dnvou
hatte man sich leider überzeugen müssen, schwer halten, ihn zur Einsetzung des
Grafen Egon als Erben zu bewegen. Er zog diesem seinen Neffen Viktor bei
weitem vor, und — das Schlimmste bei dem ohnehin etwas unsicher» Handel — Kom¬
tesse Paula, der man dabei eine Hauptrolle zugedacht hatte, war trotz der be¬
ruhigenden Versicherungen, die ihre Mutter über ihre Botmäßigkeit und gute kirch¬
liche Gesinnung abzugeben nicht müde wurde, dem Kaplan gegenüber sehr zurück¬
haltend, wenn dieser das Gespräch ans den von ihm befürworteten Freier zu bringen
suchte. Ja Pater Aloysius konnte sichs nicht verhehlen, er hatte den peinlichen
Eindruck, daß die junge Dame an dem anwesenden, ihr so warm empfohlenen
Vetter weniger Anteil nahm als um dem abwesenden, über dessen Richtung und
Gesinnungen sie immer nur schlimmes zu hören bekam.
Es galt deshalb für den Pater und dessen Bundesgenossen beiderlei Geschlechts,
sehr auf ihrer Hut zu sein. Und das um so mehr, da man sich sagen mußte,
daß man es in Prag mit allerhand Einflüssen zu thun haben werde, die man hier
ans dem Lande, in Vysveän von dem Fürsten hatte fern halten können, während
das in der Landeshauptstadt, wo er während des Landtags der Kontrolle seines
Beichtvaters weit mehr entzogen war, nicht möglich sein würde.
Der alte Fürst, über dessen italienische Abstammung der Familienname keinen
Zweifel ließ, war zwar, was den täglichen Besuch der Messe, das Innehalten der
Fast- und Abstinenztage und die sonstige Beobachtung der vorgeschriebnen kirch¬
lichen Gebräuche anlangte, ein gewissenhafter Katholik, aber im Punkte der wünschens¬
werten Begeisterung für die alles beherrschende und allein seligmachende Kirche er¬
schien er dem Kaplan zu lau. Auch für die Autonomie der zur böhmischen Krone
gehörigen Länder sowie für die spezifisch tschechisch-slawischen Interessen über¬
haupt fehlte ihm die wahre Wärme, das Herz. Er hatte zu lauge in Wien gelebt
und den das Kaiserhaus nächstumgebeuden Kreisen zu ausschließlich angehört, als
daß er in politischer Beziehung ein andres Ziel und Ideal hätte haben können
als das einer allseitig anerkannten, möglichst unumschränkten Autorität seines kaiser¬
lichen Herren und des Gedeihens der habsburgischen Gesamtmonarchie. Mißachtung
der tschechischen Nationalität im großen und ganzen konnte man ihm nicht vor-
werfen. Er gehörte vielmehr der geschlossenen Phalanx feudaler Grundbesitzer
Böhmens an, die es mit den Tschechen und der römisch-katholischen Geistlichkeit
hielten, um auf diese Weise den fortschrittlichen und nivellierenden Tendenzen eines
Teils des Deutschtums erfolgreich entgegentreten zu können, aber als einen Slawen¬
freund, wie er sein sollte, konnte man ihn doch nicht ansehen. Das Schlimmste
war, daß die Unfähigkeit, sich als Tscheche zu fühlen, nicht bloß in den Traditionen
seiner Partei, sondern auch in dem ererbten halb romanischen, halb germanischen
Blut ihren Grund hatte.
Zu den Italienern gehörten die Monteneros schon seit zwei und einem halben
Jahrhundert nicht mehr. Sie waren inzwischen Österreicher und damit etwas ge¬
worden, was in vielfacher Beziehung dem Deutschtum näher verwandt war als
slawischer Sitte und Lebensanschauung. Über die Anfänge des Landbesitzes so vieler
in Böhmen ursprünglich nicht heimisch gewesener Familien nach der Schlacht am
Weißen Berge kann man ja verschieden urteilen, und die Ansicht, daß das Ganze
eine gransame und blutige, von den Jesuiten geleitete Kolonisation war, durch
die die böhmischen Lande in den Schoß der römisch-katholischen Kirche zurückgebracht
werde« sollten und in der That auch zurückgebracht worden sind, kann leider nicht
bestritten werden. Aber im Laufe der Jahre hatte sich das Gewaltsame und
Tyrannische der ersten Besitzergreifung verwischt, und es war an dessen Stelle ein
Patrinrchalisch-feudnles Verhältnis getreten, dessen etwas naive Ausbeutnugsgrund-
sätze sich auf der Seite des grundbesitzenden Adels unter den wohlwollendsten und
familiärsten Formen verbargen.
Ans menschenfreundliche Herablassung jederzeit und auf werkthätige Beihilfe
in außergewöhnlichen Notfällen hatte ja der Böhme nach den Anschauungen dieser
Kavalierfamilien ein billiges Anrecht, aber unter ihnen stand er doch, nicht bloß
als Gntsunterthan und Fronnrbeiter, sondern auch als Angehöriger eines Volks¬
stammes, den sie ungeachtet alles Kokettierens mit ihm nicht als voll ansahen.
Das sagte man nicht, und das hatte man nirgends Wort, aber das empfand man,
und durch dieses Gefühl ließ mau sich leiten.
Man begreift, daß sich Pater Aloysius, dem der Vorteil der Kirche über alles
ging, und dem am Erfolge des tschechischen Angriffs ebensoviel gelegen war als
an der Bewältigung des deutschen Widerstands, von den dnrch weltliche nud keines¬
wegs slnwenfrenndliche Sonderrücksichten bestimmten Anschauungen des Fürsten nur
wenig versprach. Der Fürst war nicht fügsam, nicht leichtgläubig, nicht erregbar
genug; er war nirgends zu fassen; weder kirchlicher noch nationaler Fanatismus
konnte sich seiner bemächtigen, um aus ihm einen Führer oder ein Werkzeug zu
machen, wie man es so gern gethan hätte. Trotz der Bande, die ihn seit frühester
Jugend an die römisch-katholische Kirche knüpften, und trotz der politischen Be¬
rechnungen, vermöge deren er in jedem für sein Land nach Autonomie strebenden
Tschechen einen Bundesgenossen gegen fortschrittliche Tendenzen des Deutschtums
sah, war er zu weiterfahren und kannte die eignen Ziele zu gut, als daß die
Gesellschaft Jesu eine Marionette aus ihm hätte machen können.
Der Fürst liebte es, wenn sich der junge Pater, mit dem man ohnehin früh
nach der Messe und beim Mittagsmahl verkehrte, im Laufe des Nachmittags im
Gartensaale oder, seitdem man wieder zu Kaminfeuern seiue Zuflucht genommen
hatte, im Salon zeigte. Es gab da auch immer Anfragen, die die Gräfin an ihn
Ku richten, allerlei mit der Armen- und Krankenpflege zusammenhängende Aufträge,
die sie ihm zu geben hatte. Sie war keine gewöhnliche und vor allen Dingen keine
unthätige Frau. Die Hände legte sie nie in den Schoß, und wenn es möglich wäre,
daß sich dereinst an einem feierlichen, mit Posaunen eingeblasenen Tage alle wollnen
Strümpfe und gestrickten Unterröcke, mit denen sie die Notleidenden in Vhsvenn
und Prag vor Blöße und Frost geschützt hatte, versammeln und in die Kredit¬
wagschale steigen könnten, so würde das einen gewaltigen Berg geben, unter dessen
Gewicht das Zünglein der Wage ganz gewiß auf die richtige Seite hinübergedrängt
werden würde. Ein witziger oder doch dafür geltender Hausfreund hatte als ihre
wahrscheinlich nächste weibliche Arbeit ein gehäkeltes Futteral über den Vysoeciner
Kirchturmhelm bezeichnet.
Ihr Blick war ebenso scharf für krummbeinige Kinder, denen Kalk zugeführt
werden mußte, wie für schmutzige, denen es Seife zu verschreiben galt. Sie brachte
in Vysoeän und in Prag innerhalb ihrer nächsten Umgebung mehr zu stände, als
zwei kollegialisch organisierte Armenversorgungsnustalten unter gewöhnlichen Ver¬
hältnissen hätten leisten können, und doch war die Wohlthätigkeit nur einer ihrer
vielen Wirkungskreise. Sie lebte gesellig, denn der Fürst sah täglich Leute bei sich,
sie bekümmerte sich um das Hauswesen, hatte eine ausgebreitete Korrespondenz,
versorgte alle umliegenden Kirchen und Kapellen mit Paramenten, die sie zum Teil
selbst gearbeitet hatte, nahm, soweit ihre Wirkungssphäre reichte, als werkthätiges
Mitglied an allen frommen oder sonst vom Kaplan gutgeheißnen Vereinen teil,
und — hierin lag das Merkwürdige — trotz aller dieser Sorgen und Geschäfte
traf man sie nie anders als gemächlich, ohne Eile und zu behaglichster Aufnahme
jedes ihr entgegengebrachten Gesprächstoffs bereit. Sie schien, was man ihr sagte,
und was sie antwortete, als unentbehrliche Zuthat in das hineinzuarbeiten, was sie
gerade strickte, häkelte oder stickte, und dabei war doch das, was man ihr mitteilte,
in keiner Weise verloren. Sie vergaß nichts von dem, was sie gehört hatte, und ruhte
nicht, bis sie das abgestellt oder beschafft hatte, was es zu beschaffen oder ab¬
zustellen gab.
Komtesse Paula, die echte Tochter dieser so überaus rührigen Mutter, malte,
zeichnete, spielte Klavier, sang, häkelte, hörte die Messe, beichtete, fastete, ritt spazieren
oder spielte Lawn Tennis, als wenn das nnr so sein müßte, und als wenn die
Welt ein Billardtnch wäre, auf dem es nicht anders als glatt und eben hergehn
könne, da ihre liebe Mama darauf ohne Hast und ohne Unruhe ihre geräuschlosen
Bälle zu machen gewohnt war. Da Komtesse Punta jung, hübsch und anmutig
war, so gab sogar ihr Spiegel, mit dem ja Schneewittehens Stiefmutter meist ans
gespanntem Fuße gestanden zu haben scheint, ihr keinen Verdruß, und dieses be¬
hagliche Blütenleben, dem wir sonst meist nur um Ende gntansgehender Märchen
begegnen, hätte in ungetrübtem Glück noch eine gute Weile fortdauern können,
wenn nicht der von seiner Orientreise heimkehrende Graf Viktor ganz wider Willen
zu allerhand Unruhe und Unfrieden Veranlassung gegeben hätte.
Im Salon, wohin sich der Kaplan um die Nachmittagskaffeezeit begeben hatte,
„war" die Gräfin gerade bei den „letzten Malen rum" an einem wollnen Rock
mit breiter hochroter Kante, den sie für eine alte Tagelöhnersfrau und als Augen¬
weide für den tschechischen Farbensinn mit gewaltigen Holznndcln strickte, der Fürst
stand am Kamin, Graf Egon am Fenster, und Komtesse Paula war mit dem Ein¬
schenker und Herumreichen des Kaffees geschäftig.
Hatte ich Ihnen schou gesagt, fragte der Fürst, indem er bedächtig mit dem
Löffel in seiner Tasse herumrührte, hatte ich Ihnen schon gesagt, lieber Kaplan,'
daß mein Neffe mir aus Wien geschrieben hat, und daß er zugleich mit uns in
Prag eintreffen wird?
Der Fürst sagte das im allergleichgiltigsten Tone, obwohl er recht wohl wußte,
daß davon noch kein Sterbenswörtchen über seinen Mund gekommen war, und
obwohl er ahnte, daß er damit eine brennende Lunte in den Pulverturm warf.
Der Kaplan, der sofort an den Schrecken dachte, den diese Nachricht dem Prälaten
oben auf dem Berge und der Äbtissin am Fuße des Berges verursachen würde,
antwortete doch mit der größten Ruhe und Gelassenheit. Als ob es sich äußersten¬
falls um eine Nachricht über die Ernteaussichten in Südamerika handle, sagte er
kühl: Nein, aber ich wußte ja, daß Durchlaucht dieser Tage Nachricht von dem
Herrn Grafen aus Trieft oder Wien erwarteten. Ich hoffe, der Herr Graf ist wohl
und schreibt befriedigt von dem, was er gesehen und erlebt hat. — Es wird gut
sein, dachte er bei sich, Joseph heute noch mit dieser Nachricht an den Prälaten
und an die Äbtissin zu schicken, aber sein unverändert glattes und Entgegenkommen
zur Schau tragendes Gesicht verriet davon nichts.
Ja, mein Neffe hat viel gesehen und manches Interessante erlebt, fuhr der
Fürst fort, der viel zu weiterfahren war, als daß er nicht hätte wissen sollen, daß
die Unterhaltung gerade bei diesem heikeln Punkte nicht stocken durfte. Er bringt
mich zwei arabische Schimmelheugste und einen Neger mit.
Wenn dem Kaplan infolge seiner Stellung jede mißfällige Bemerkung über
diese Einkäufe verboten war, so hatte Graf Egon keine derartige Rücksicht zu nehmen.
Er drehte sich herum. Was will er denn mit denen? fragte er in einem Tone, der
mehr Befremden als Teilnahme verriet.
Den einen der beiden Hengste will er für Paula, den andern für mich dressieren,
und den Neger, na, den will er eben wahrscheinlich selbst behalten.
Unsinn, brummte Graf Egon, verbesserte sich jedoch sofort, indem er hinzu¬
fügte: Ich meine natürlich nur den Neger.
Die Gräfin fühlte, daß ihrem Neffen schleuniger Zuzug sehr vou nöten war.
wenn sie nicht wollte, daß er etwas Dummes anrichtete. Nachdem sie mit geübter
Hand eine ihrer riesigen Holznndeln aus den roten Wollenmaschen des Gestricks
herausgezogen hatte, um sich mit ihr sofort an einer andern Stelle wieder ein
zubvhren und da geschäftig mit ihr weiterzufnchtelu, sagte sie in der freundlichsten
Weise: Sage selbst, Klemens, begreifst du, Viktor, daß er sich ohne Not mit einem
solchen schwarzen Scheusal behängen hat? Mit denen nimmt es ja nie und nirgends
ein gutes Ende, und so viele unsrer Bekannten es mit einem Schwarzen probiert
haben, sie haben alle ein Haar darin gefunden; es hat allemal schlecht geexdet.
Gelaufe, fügte sie hinzu, als ob es ihr darum zu thun wäre, auch die Lichtseite
der Sache uicht unerwähnt zu lassen, getauft könnte er ja werden, wenn er es noch
nicht ist. Vielleicht würde sogar Vincenz um der Feierlichkeit ... sie uuterbrnch
sich hier und verstrickte das weitere in die rote Kante. Vincenz war niemand Ge¬
ringeres als ihr Vetter, der Kardinal-Fürsterzbischof, und da man über Eminenzen,
die für den gewöhnlichen Sterblichen unberechenbar sind, nie etwas vermuten darf,
so war es besser, ihre geheime Hoffnung. die heilige Taufhandlung könne durch
Vinecnzens Anwesenheit verherrlicht werden, zur Zeit noch für sich zu behalten.
Vielleicht ist er schon getauft, warf der Kaplan ein.
Schwerlich, sagte der Fürst. Das weiß der liebe Gott, wie das kommt, aber
Wenn man sie danach fragt, sind die Kerle nie getauft. Man möchte beinahe glauben,
sie finden am Sichtaufenlassen Vergnügen und gönnen sich das, so oft sie dazu
Gelegenheit haben.
Aber vielleicht liegt Viktor gar nichts daran, daß der Kerl getauft wird, sagte
Graf Egon; er ist ja selbst uicht viel andres als ein Heide.
Das war gerade die Art Kernschuß in die unrechte Scheibe, die die Gräfin
gefürchtet hatte. Es blieb ihr, wenn sie die Sache besser machen wollte, nichts
"ndres übrig, als den Abwesenden in Schutz zu nehmen, was sie — unter uns
gesagt — sehr ungern und nur in der höchsten Not that, wenn es sich dabei um
den Grafen Viktor handelte. Und doch war sie im Grunde genommen keine böse
Frau; es wurde ihr nur in ihrer Eigenschaft als Fnmiliendiplomat schwer. So
schlimm, sagte sie, wie du es machst, Egon, ist es denn doch uicht mit ihm. Meinen
Sie nicht auch, lieber Knplan?
Das war sehr geschickt manövriert. In des Paters Händen war me Sache
gut aufgehoben. Ans ihn konnte man sich verlassen. Er würde mit feinem Sinn
°en rechten Weg finden, wie man dem Grafen Viktor etwas um Zeuge flicken
konnte, ohne aus der Rolle der wohlwollenden Herzen zu fallen, die man wegen
des Fürsten und dessen Nichte zu spielen gezwungen war.
Schon das Dogma der von der Taufe und Firmung ausgehenden ^iia in-
üvUoiliL verbot ihm, so versicherte der Knplnn, den Grafen als Nichtkatholiken an¬
zusehen, und wenn dessen Seelenheil, wie er allerdings nicht leugnen könne, durch
tels Lesen von allerhand uns dem Index stehenden oder sonst verpöntem Büchern
und durch den Umgang mit Ketzern arg bedroht sei, so dürfte man doch die Hoff¬
nung nicht aufgeben, daß es dem hochwürdigsten Prälaten vom Berge, dem man
die wunderbarsten Seelenrettungen zu danken habe, mich gelingen werde, einen
Freigeist wie den Grafen Viktor in den Schoß der heiligen Kirche zurück¬
zubringen.
Sind es Apfelschimmel, Onkelchen? fragte Komtesse Paula etwas unvermittelt,
als wenn die ganze Zeit von weiß und nicht von schwarz gesprochen worden
wäre. Ihre Mutter bezeichnete solche aus der Pistole geschossene Fragen, für die
die Jngend eine Vorliebe hat, als mcostions a, brulo-xourvoint, die man ver¬
meiden müßte, und es ist nicht zu leugnen, daß ein Eingehn auf Komtesse Paulas
Frage einen Gesprächssprung involvierte, der einem geradezu den Atem nahm. Da
dieser Sprung jedoch von einem Thema abführte, das der Gräfin wegen der Un-
berechenbarkeit des Grafen Egon nicht geheuer war, so kam ihre Tochter diesesmnl
ohne Strafpredigt davon.
Der Fürst berichtete, der eine der beiden Hengste sei ein Fliegenschimmel, der
andre ein Apfelschimmel.
O Onkelchen, laß mich den Apfelschimmel haben!
Wenn es Viktor recht ist, warum deun nicht? Aber ihm müssen wir es, denke
ich, doch schließlich überlassen, wein er den. einen geben will, und wem den andern.
Er wird ja auch bald genug weg haben, welcher von beiden sich am besten zum
Zelter eignet. Da kannst du dich blind auf ihn verlassen.
Ach Onkelchen, das thu ich ja auch mit tausend Freuden.
Der Kaplan fühlte, daß der Wind schon wieder von der falschen Seite kam,
und dieser konträre Wind blies obendrein recht munter. Haben die gnädigste Gräfin
Befehle für Prag? fragte er diversivnshalber. Joseph konnte auch Pakete mitnehmen,
da ihn einer von den Eleven mit den Zuckern des Ökonomierath nach der Stadt
bringen wird.
Der Montenerosche Besitz, der manches unter einem souveränen Fürsten stehende
Gebiet um Umfang und Bedeutung übertraf, war so ausgedehnt, die Bewirtschaftung
von Land und Forst nebst den damit verbundnen industriellen Unternehmungen
war so verzweigt, daß dem Fürsten die allerdings von seinem Gelde gekauften, mit
seinem Heu und seinem Hafer gefütterten Junker des Ökonomierath ebenso fern
standen, wie dem Generalissimus eine beliebige Spannfuhre. Wann soll denn der
Junge fahren? fragte er, mehr um etwas zu sagen, als weil ihn die Sache be¬
schäftigt hätte.
Wenn es Durchlaucht recht ist, könnte er gleich fahren, damit sie nicht gnr zu
spät in der Nacht ankommen.
„Durchlaucht" war das recht. In Details, wie in so eine Führe, bei der
nur Joseph, ein Eleve und die Junker des Ökonomierath beteiligt waren, griff er
nie ein. Und die Gräfin, nun, die hatte natürlich ein Paket, das sie mitzugeben
wünschte. Es wäre das erste mal gewesen, daß eine derartige Gelegenheit sie
Sans vert, überrascht hätte. Das Paket war obendrein für die Äbtissin bestimmt.
Ja, sagte der Kaplan, das kann Joseph gleich morgen früh hintragen. Da¬
gegen erfuhr die Gräfin nicht, daß dieser selbe Joseph dieser selben Äbtissin noch
in später Abend- oder Nachtstunde eiuen Brief überbringen würde. Das waren
Geheimnisse, in die man nur eingeweiht wurde, wenn man der engern Gemein¬
schaft der Wissenden angehörte, und dieser Vorzug konnte einem Laien nicht zu teil
werden, er mochte als Katholik noch so treu und pflichteifrig sein. Das waren
Standesgeheimnisse.
Den Junkern des Ökonomierath und dem Eleven hatte nicht sehr zugeredet zu
werden brauchen. Sie hatten ihre Schuldigkeit gethan. Der Gedanke, daß er in
Prag für eine Unehe sein eigner Herr sein werde, hatte den Eleven fanatisiert,
und da er, wenn die Junker fliegen sollten, mir die Zügel ein wenig locker zu
lassen brauchte, so war man geflogen. Der Prälat auf dem Berge und die Äbtissin
unten am Berge hatten die für sie bestimmten Briefe noch vor Schlafengehn er¬
halten, der Eleve hatte eine des göttlichen Dulders würdige Irrfahrt durch die
»feschesten" Lokale Prags unternommen, und Joseph war dem Kastellan und dessen
Gattin zur Beute gefallen. Als er sich in später Nachtstunde zur Ruhe legte, kam
er sich vor wie eine ausgepreßte Zitrone, die man statt des ihr durch Ausfragen
eutzognen eignen Saftes reichlich mit zimmet- und gewürznelkenreichem Punsch und
mit im Handnmdrehn gebacknen Pfannkuchen gefüllt hätte.
Am rudern Morgen war ein Gnrtnerburschc von unten am Berge oben auf
dem Berge erschienen und hatte dem Prälaten einen Brief der Äbtissin gebracht,
worin ihn diese zu einer Besprechung und zu gemeinsamer Verspeisung eines Wunder¬
fisches einlud, der in den Fischbehältern von Kremsmünster gezüchtet und gemästet,
eine unübertreffliche Abstinenzschüssel zu liefern versprach.
In der That leistete der Prämvnstratenserzögling anch, was man sich von ihm
versprochen hatte, und man würde ihm eine mehr genußreiche als verdienstliche
Abstinenz verdankt haben, wenn diese nicht durch die sonstige Reichhaltigkeit des
Mahls beeinträchtigt und in den Hintergrund gedrängt worden wäre. Als mau
schließlich auch zu der Besprechung kam, die von der Äbtissin in erster Reihe als
Zweck der Zusammenkunft bezeichnet worden war, machte wie von selbst das höfische
Zeremoniell, womit man sich bisher behandelt hatte, einem völlig andern, weniger
anmutigen, aber von Komödie und Verstellung nunmehr freien Wesen Platz. Es
war, als wären zwei Masken gefallen. Hätte man bisher nicht sagen können, wer
von den beiden es dem andern an Hochachtung, Verehrung und Ehrfurcht für ihn
zuvorthat, so saßen sich nun zwei entsetzlich nüchterne, mit einer schwierigen, sie ganz
in Anspruch nehmenden Angelegenheit beschäftigte Geschäftsleute oder Politiker gegen¬
über. Wenn man vorher scharf hingesehen hätte, und es einem nicht entgangen wäre,
daß der süße Honig, mit dem sich die beiden fütterten, nnr ein künstliches Er¬
eignis angenommncr katzenfreundlicher Umgangsformen war, würden sie einem
jetzt, wo sie aufrichtig und mit vollen: Ernst bei der Sache waren, weniger un-
heimlich und mißtraueuerwcckcnd erschienen sein als mit der vorgenommnen süßlich
lächelnden Maske.
Die Rückkehr des Grafen Viktor, darin stimmte man überein, war doch eine
lehr unbequeme, eine sehr ernste Sache. Die Gefahr war um so größer, je leichter
»an bei dem vorgerückten Alter des Fürsten durch dessen plötzlichen Tod überrascht
werden konnte. Und dann, meinte der Prälat, komme jede Hilfe zu spät.
Beste Äbtissin, sagte er, mit dem Lavieren und Zuwarten wird in der Regel
'"ehr geschadet als genützt. In unserm Falle handelt es sich darum, sofort in ent¬
scheidender Weise einzugreifen. Nur keine halben Maßregeln! Über das beste Mittel,
den Grafen so oder so zu beseitige» oder doch unschädlich zu machen, bin ich mir
un Augenblicke noch nicht recht klar. Handlungen, die uns mit den kaiserlichen Be¬
hörden in Konflikt bringen könnten, möchte ich allerdings möglichst vermeiden, und
von einer zwangsweisen Unterbringung des Abtrünnigen in einer unsrer geistlichen
Anstalten, einer Maßregel, mit der unter andern Umständen alles Nötige erreicht
werden würde, kann dem Grafen gegenüber nicht die Rede sein. Weder der Fürst
noch der Kardinal würde die Hand zu so etwas bieten. Im Gegenteil, der Fürst
würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um den Aufenthalt seines Neffen
Erfahrung zu bringen und ihn zu befreien. Auch der Kardinal würde ihm dabei
behilflich sein. Die frühern rein kameradschaftlichen Beziehungen, die er zum Grafen
hatte, liegen ihm noch immer am Herzen, und auch daß der Graf sein Verwandter
'se, macht mir die Sache nach dieser Seite hin besonders schwierig.
Die Äbtissin war nicht für extreme Maßregeln. Sie war schon oft in ihrem
laugen, mit Intriguen aller Art erfüllten Leben durch Lauern und bis auf den
letzten Augenblick verschobnes Zugreifen zum Ziele gelangt. Sie mißtraute der
ihr bisweilen vorschnell und unvorsichtig erscheinenden, rasch entschlossenen Handlungs¬
weise des Priors und versprach sich mehr von dessen oft bewährter und jedem
Widerspruch gewachsener Überredungskunst. Wäre es nicht besser, meinte sie, wenn
wir den Grafen nicht so ohne weiteres als Abtrünnigen und unwiderruflich Ver¬
lornen aufgaben, sondern ihn von seinen freigeistigeu Ansichten abzubringen und
der Sache der Kirche zurückzugewinnen suchten? Sie wären vor allen der, der
mit einem solchen Versuche am ehesten auf Gelingen und Erfolg hoffen könnte.
Wie oft hat Ihre Überredungskunst und die zwingende Macht ihrer Schlüsse Ab¬
trünnige noch am Rande des Abgrunds, in den sie zu stürzen im Begriff waren,
festgehalten und sie der Kirche wieder zugeführt.
Glauben Sie mir, Äbtissin, überzeugen und bekehren läßt sich Montenero
nicht. Ich habe mehr als einmal versucht, ihm mit Gründen und Beweisen bei¬
zukommen. Er hat mir immer widerstanden wie jemand, der mit sich selbst im
reinen ist, und auf den deshalb nichts, was man vorbringt, irgend welchen Ein¬
druck machen kann. Deshalb ist es mir auch klar, daß wir der Sache der Kirche
nur dadurch einen guten Dienst leisten können, daß wir ihn auf die eine oder die
andre Weise unschädlich machen. Ich werde nicht vorschnell aber ohne Zögern
handeln. Der Geheime Sanitätsrat, neben dem ich gestern bei Tisch saß, meinte
ausdrücklich, der Fürst mute sich zuviel zu, und es könne ganz plötzlich mit ihm
zu Ende sein. Wenn wir den richtigen Augenblick verfehlen, wenn der Fürst ein
Testament zu Gunsten Monteneros macht, und sich dieser mit dessen zweiter Erbin,
der Komtesse verlobt, so hat die Kirche davon einen unberechenbaren Schaden zu
gewärtige». Glauben Sie, Äbtissin, daß ich unter solchen Umständen müßig dastehn
und die Hände im Schoß zusehen werde, wie sich das Unheil der Kirche vor
meinen und Ihren leiblichen Auge» vollzieht? Der Orden würde mir das nie ver-
zeihn. Es giebt Mittel und Wege, in die Lebensschicksnle des Widersachers ein-
zugreifen, für die wir von der irdischen Gerechtigkeit nicht verantwortlich gemacht
noch belangt werden können. Zufälligkeiten, die man ans Umwegen herbeiführen
kann, Unglücksfälle, die am Ende nnr das Werk eines mißlichen Zufalls sind, ein
Sturz ans dem Wagen, eine Unvorsichtigkeit auf der Jagd, ein durchgehendes
Pferd, alles Dinge, für die wir nicht auszukommen brauchen, und für die wir nicht
aufkommen können.
Seien Sie nicht zu rasch, Prior, und bedenken Sie, wie nahe uns Montenero
als Blutsverwandter steht.
Haben Sie keine Sorge, Äbtissin, grausame Freude an fremdem Unglück liegt
mir fern. Ich werde nur das unumgänglich Nötigste thun, und wenn Montenero
durch ein Wunder noch in der letzten Stunde zur Einsicht kommen und umkehren
sollte, so soll meine und der Kirche Hand ihn nicht treffen.
Amen, sagte die Äbtissin mit frommem Augenaufschlag.
(Fortsetzung folgt)
Im letzten Heft der Grenzboten sprachen
Wir die Ansicht ans, daß in Wirklichkeit der Mehrheitswille im Reichstage schon
jetzt auf die Annahme der Regierungsvorlage gerichtet sei, und nur durch die
Scheu vor dem „Umfallen" die Konservativen und das Zentrum immer noch ge¬
hindert würden, ihn auszusprechen.") Diese Scheu, meinten wir, sollten die ge-
nennten Parteien ungesäumt überwinden und der Obstruktion den ausgesprochnen
Mehrheitswillen endlich entgegensetzen. Da seitdem in der Presse die „Verstäudigungs-
aktiou," die unsers Ernchtens nur den Zweck haben kann, diesen Mchrheitswillen
offen auszudrücken, noch mehr in den Vordergrund getreten ist, dabei aber leider
immer noch das Ziel und der Gegenstand, deu diese Verständigung haben muß, ver¬
hüllt und verschoben worden ist, müssen wir auf die Sache noch einmal zurückkommen.
Schon vor einiger Zeit hatte die „Schlesische Zeitung" geschrieben: „Es liegt
unsers Erachtens im dringendsten Interesse der Landwirtschaft, das von der Re¬
gierung Dargebotene so schnell als möglich anzunehmen und damit der gegenwärtigen
Regierung den Abschluß langfristiger Handelsverträge möglich zu machen."
Das war jedenfalls etwas ganz andres, als wenn die „Konservative Korre¬
spondenz" schrieb, von einem „Unfall" könne keine Rede sein, eine Verständigung
werde nur auf dem Wege des „gegenseitigen Nachgebens" erfolgen können, oder
wenn die „Kreuzzeitung" über die si'genannte Verständigung, die sie empfiehlt, sagte:
»Wir sind allerdings die letzten, die die Meinung vertreten, daß allein die Rcichs-
tagsmehrheit verpflichtet sei, durch »Umfallen« diese verhängnisvollen Folgen zu
vermeiden. Eine weit größere Verantwortung in dieser Hinsicht tragen die Ver¬
bündeten Regierungen."
Auch in der Zeutrumspresse wird immer uoch die Meinung vertreten, daß
es sich bei der anzustrebenden Verständigung nur um ein Nachgeben von beiden
Seiten, von den Regierungen sowohl wie von den Mehrheitsparteien, handeln
könne. So lange die Verständigung in diesem Sinne aufgefaßt wird, scheint sie
"us wenig Aussicht auf Erfolg zu haben. Dadurch wird in der öffentlichen Meinung
künstlich die Auffassung erhalten, als ob es gleichsam eine Schande wäre, wenn
die Konservativen und das Zentrum die Vorlage der verbündeten Regierungen
nnuähmeu, wen« sie die Regierungen nicht zwängen, das, was sie wiederholt für
unannehmbar erklärt haben,' nun doch, wenigstens teilweise, anzunehmen. Aber
diese ganze Auffassung ist schief und unrichtig. Die Verbündeten Regierungen und
die Rcichstagsmehrheit stehn sich gar nicht wie zwei gleichberechtigte Parteien gegen¬
über, am allerwenigsten in dieser Frage und in ihrem gegenwärtigen Stadiuni.
Den beteiligten Mehrheitsparteien kann man viel eher zumuten, daß sie nachgeben,
als den verbündeten Regierungen, und gerade vom konservativen Standpunkt aus
muß man das Nachgeben von den Mehrheitspartcien verlangen und nicht von den
Regierungen.
Das Deutsche Reich kaun vielleicht nicht als konstitutionelle Monarchie oder über¬
haupt nicht als Monarchie bezeichnet werden, weil der Träger der Reichsgewalt nicht
ein einzelner Monarch, sondern eine Vielheit von Monarchen ist. Aber nichtsdesto¬
weniger ist in dem Verhältnis zwischen Bundesrat und Reichstag das monarchische
Prinzip als maßgebend anzuerkennen im Unterschiede zu dem in England geltenden
parlamentarischen Prinzip. Die Verbündeten Regierungen, vertreten durch deu Bundes¬
rat, nehmen dem Reichstage gegenüber eine ähnliche Stellung ein, wie der König von
Preußen dem Landtage gegenüber. Wie man Friedrich Julius Stahl durchaus zu¬
stimme» mußte, als er vor fast fünfzig Jahren lehrte: „Das monarchische Prinzip
^ im Gegensatz zum parlamentarischen in England — ist das Fundament deutschen
Staatsrechts und deutscher Staatsweisheit," so müssen wir uns auch heute noch für
dus neue Deutsche Reich dazu bekennen. Und im vollsten Maße gilt es auch für die
Verbündeten Regierungen und den Reichstag, wenn er damals schrieb: „Im Zweifel
"ber muß nach monarchischen Prinzip besonders in einem großen Reiche die Er¬
haltung des königlichen Ansehens die entscheidende Rücksicht sein, und zwar umsomehr,
als die Stände auch bei minder ausreichende gesetzlichen Befugnissen immer an
ihrer moralischen Wirkung eine Sicherung von unberechenbarer Stärke bilden, während
der Fürst nur in Gesetz und Recht seine Macht findet."
Wohin sollte es im Deutschen Reiche kommen, wenn die Konservativen
diesem Grundsatz untre» wurden? Ganz gewiß ist es als ein Fortschritt zum
bessern anzuerkennen, daß den Konservativen von heule nicht mehr wie vor vierzig
Jahren alle Einseitigkeiten und Schroffheiten der Stahlschen Politik als Evangelium
gelten, daß sie in vieler Beziehung liberaler denken. Deshalb haben sie nicht auf¬
gehört konservativ zu sein. Aber gerade die Lehre vom monarchischen Prinzip im
deutscheu Staatsrecht, wie sie Stahls Scharfsinn mit unvergleichlicher Klarheit fest¬
gestellt hat, ist und bleibt der Prüfstein. Wer sie verleugnet, wer sie verletzt, hat
in Deutschland das Recht, sich konservativ zu nennen, verwirkt. Er stellt sich praktisch
auf den Boden des parlamentarischen Prinzips, und leider muß mau das den
konservativen Parteien und dem Zentrum in ihrem bisherigen Verhalten zu der
„Verständigung," je länger die Verhandlungen schweben, desto mehr zum Vorwurf
machen. In der Frage: Wer hat nachzugeben, die Parteien oder die verbündeten
Regierungen? — „muß im Zweifel unes monarchischen Prinzip besonders in einem
großen Reiche die Erhaltung des königlichen Ansehens die entscheidende Rücksicht sein."
Es soll damit natürlich nicht gesagt werden, daß die verbündeten Regierungen
nicht die Pflicht hätten, den genannten Parteien das Nachgeben möglichst zu er¬
leichtern. Auch wenn sich die Parteien nicht ohne eigne Schuld in die schwierige
Lage, in der sie sind, verrannt hätten, bliebe diese Pflicht bestehn. Aber es versteht
sich ganz von selbst, und es klang aus jedem Wort, das von den Regiernngsver-
tretern in den langen Tnrifverhandlnngen gesprochen wurde, unzweideutig heraus,
daß sich die Regierungen dieser Pflicht dauernd bewußt sind, und daß sie sich be¬
mühen, sie zu erfüllen. Sie würden aber ihrer Pflicht, das monarchische Prinzip
zu wahren, ins Gesicht schlagen, wenn sie nicht auch einem ausgesprochnen Mehrheits¬
willen des Reichstags gegenüber das, was die Verbündeten Regierungen als mit
dem Gesamtwohl unvereinbar erkennt haben, als unannehmbar bezeichneten und
in allen Stadien der Verhandlungen auch so behandelten. Ans kleinliche Recht¬
haberei kommt es dabei gar nicht an. Aber darauf kommt alles an, daß die Mehrheits-
parteieu anerkennen, daß die Verbündeten Regierungen Politisch und staatsrechtlich
über der parlamentarische» Mehrheit stehn, auf einer höhern Warte, und daß im
Volk das Gefühl dafür stören, die schwerste Sünde gegen das monarchische Prinzip
und gegen deu wahren konservativen Geist in Deutschland bedeutet.
Ob überhaupt im gegenwärtigen Stadium der Verhandlungen von einer Verstän¬
digung zwischen deu Verbündeten Regierungen und den Mehrheitsparteien geredet werden
kaun, wollen wir nicht erörtern. Ausgeschlossen erscheint uns eine solche Verständigung
über eine Reihe von Punkten keineswegs. Was für die Verbündeten Regierungen
unannehmbar ist, steht mit hinreichender Bestimmtheit fest. Auf das Wesentliche
kommt es dabei an, uicht auf Nebensachen. Wer die Verständigung will, sollte daran
nicht unnötig rühren. Wenn die konservative Fraktion, wie die Zeitungen melden,
nenerdings einstimmig beschlossen hat, noch für die zweite Lesung des Zolltarifs
einen Antrag einzubringen, durch den die Jndustriezölle der Abschnitte 17 und 18
(Erzeugnisse der Metallindustrie und der Maschineuiudnstries um durchschnittlich
25 Prozent gegenüber den Kommissionsbeschlüssen herabgesetzt werden sollen, und auch
für die Erzeugnisse der chemischen Industrie eine wesentliche Herabsetzung oder die
Aufhebung der Zollsätze in Aussicht zu nehmen, so wird dadurch unsers Wissens das
bisher für unannehmbar erklärte Gebiet kumm berührt. Das Recht, diese Abänderungen
zu verlangen, wird den Antragstellern auch vom politischen Standpunkt aus nicht
bestritten werden können. Aber der Zeitpunkt und die Fvrni des Beschlusses geben
zu denken. Wäre damit eine Pression auf die Negierung in der Weise beabsichtigt,
daß sie durch neue unannehmbare Forderungen genötigt werden sollte, die frühern
Unannehmbarkeitserklärungen teilweise zurückzunehmen, so würde das die Verstän¬
digung wahrscheinlich uicht fördern, sondern stören. Parteitaktisch könnte es vielleicht
klug erscheinen, konservativ wäre es sicher nicht. Man wird das weitere, namentlich
die für die einzelnen Warengattungen zu stellenden Antrage abwarten müssen. Jeden¬
falls wäre von konservativen Parteien bei der jetzigen Lage der Verhandlungen zu
verlangen, daß sie sich vor der Einbringung ihrer Anträge orientierten, ob sie für
die verbündeten Regierungen annehmbar sind oder nicht. Soweit die Anträge ans
Wiederherstellung der Regierungsvorlage gehn würden, wären sie wohl durchweg
dankbar zu begrüßen. Soweit sie nnter die Regierungsvorlage heruutergehn sollten,
köunten doch konservative Politiker unmöglich den Verbündeten Regierungen das un¬
erläßliche bessere Rüstzeug für die bevorstehenden Zollvcrhandlungen mit dem Aus-
lande — die sogenannten Kvmpensativnsobjektc — runden und ebensowenig der
deutschen Industrie, da, wo ihr vou der ausländischen Konkurrenz ein wirklicher
Notstand droht, wirksame Verteidiguugszölle versagen wollen.
Das nllerwichtigste an der ganzen Verstnndignngsaktion bleibt ihre Wirkung
gegenüber der Obstruktion. Daß der Mehrheitswille endlich ausgesprochen wird,
ijt eine unabweisbare Notwendigkeit, wenn die Obstruktion niedergeschlagen werden
soll. Aber auf der andern Seite ist zu erwägen, daß der ausgespruchne Mehrheits¬
wille durch seine» Inhalt auch die Obstruktion erst recht anfachen und ihr zum
Siege verhelfen kann. Es würde das namentlich dann zu befürchten sein, wenn
die Mehrheitsparteien die verbündeten Regierungen zum „Umfallen" zwängen und
damit das monarchische Prinzip ins Gesicht schlagend dem parlamentarischen Prinzip
eklatant zum nngenblicklichen Siege vcrhülfen. Dadurch würde der Obstruktion der
Boden gegeben, den sie braucht. Wohin sollte es — fragen wir nochmals - bei
eiuer solchen Politik im Deutschen Reiche kommen?
Im sechsten diesjährigen Heft haben wir unter
der Spitzmarke „Zwei Wünsche" dargelegt, wie ungereimt die Ausdehnung des an
!>es schon nicht allzu schon gereimten Grenzzvllwesens ans den nichtkanfmäunischen
Grenzverkchr ist, ans die Handkofferchen der Touristen, die Korbe der an der Grenze
wohnenden Bauernfrcmeu und den PostVerkehr der Schriftsteller mit Redaktionen
und Bibliotheken. Ein Schimmer von Verständnis für unsre Darlegung scheint der
Zvllkommission aufgegangen zu sein, denn sie hat beschlossen, daß Postsendungen bis
"50 Gramm und anders beförderte Warenmengen bis 5t) Gramm frei sein und
Zollbeträge von weniger als 5 Pfennigen nicht mehr erhoben werden sollen (damit
aber nicht etwa massenhafter Einzeltransport von Wiener Würsteln über die Grenze
den Staatsbankrott oder den Untergang der Landwirtschaft herbeiführt, soll der
Bundesrat befugt sein, wo Mißbrauch einreißt, diese Vergünstigung einzuschränken).
Dcis nützt zwar uns Schriftstellern nichts, da wir ja Manuskripte und Bücher, die
'u'ehe mehr als 250 Gramm wiegen, jetzt schon als Briefe und nnter Streifband,
unbelästigt durch Zollvorschriften, versenden können, aber das Paragrnphchcn beweist
wenigstens, daß die Herren anfangen, über die Sache nachzudenken, und so dürfen
wir hoffen, daß in etwa hundert Jahre» die Vernunft auch auf diesem Punkte dnrch-
d^enden wird. Die Sozialdemokraten wollten in der Sitzung am ti. November die
Vergünstigung ein klein wenig erweitern. Da sie im voraus wußten, daß ihr An-
^ag guillotiniert werde» würde, so hätten sie sich eigentlich den Spaß machen sollen,
^» so radikal zu gestalten, wie er sich aus unsrer im sechsten Heft entwickelte»
Ansicht ergeben würde.
von Ferdinand Justi. (Marburg, Elwert.) Von
nesem schöne» Werk, über dessen Anfang wir früher berichtet haben, ist die zweite
^eferung erschienen, acht Tafeln mit Text bis Seite 42. Das Unternehmen hat
"'ches zu thun mit den wohlgemeinten Absichten der vielen um die Pflege der
Volkstrachten bemühten Dilettantenvercine, sondern es will das Erhaltene, ehe es
ö"nz untergegangen ist, sammeln und für die kulturgeschichtliche Forschung bereit-
^gen, deren Hauptergebnisse der wissenschaftlich bedeutende Text schon vorweg-
genommen hat. Den farbigen Tafeln sind des Verfassers eigne Aquarellaufnahmen
zu Grunde gelegt, drei enthalten gestickte Kleidungsstücke, fünf Einzelporträts von
Bäuerinnen und eines Bauern, naturgetreu mit den Namen der Dargestellten und
dabei von wundervoller bildmäßiger Wirkung, sodasz jedes dieser Blätter eingerahmt
einen reizenden Zimmerschmuck abgeben würde. Bekanntlich sind die ländlichen
Trachten die Überbleibsel städtischer Moden einer bestimmten, oft weit zurück¬
liegenden Zeit, die es zu finden gilt, wenn man die Tracht versteh» will, mit Hilfe
alter Trachtenbilder und Gemälde, deren Vorräte Insel mit strenger Sorgfalt durch¬
forscht hat. Frauen Pflegen die Tracht länger zu bewahren als Männer, nicht als
ob sie konservativer innren, denn die Stadtdamen sind ja gerade die Trägerinnen
des Modewechsels und die gefügigen Instrumente der tonangebenden Fabrikation,
sondern weil dem weiblichen Geschlecht seine äußere Erscheinung wichtiger ist, und
weil die Bauernfrau ihre Tracht als etwas Wertvolles so lieb gewonnen hat, daß
sie nicht leicht etwas Schöneres dafür finden zu können meint. Während also die
langen Kirchenröcke und die breitkrempigen Hüte — zunächst in dem hier von
Insel behandelten Gebiet — nicht mehr bei den Burschen, sondern nur noch bei
den alten Männern zu finden sind, kleiden sich Frauen und Mädchen durcheinander
wohl noch wenigstens mit einzelnen Hanptkleidnngsstücken ihrer alten Tracht, Röcken,
Mietern und Kopfbedeckungen (die am längsten dauern!), wogegen sie kleinere An¬
hängsel, wie bunte Brustlätze oder Mäntelchen, nur noch in ihren Truhen aufbe¬
wahren. Manche Bestandteile sind auch aus dem allgemeinen Gebrauch verschwunden
und werden nur bei bestimmten Gelegenheiten getragen, namentlich bei Leichen¬
begängnissen, sodaß ein dörflicher Begräbniszug bisweilen noch heute ein ziemlich
einheitliches Trachtenbild aus längst verschwundner Zeit darstellen kann, eine kon¬
servierende Wirkung, die dem Bauernkleide überhaupt und auch schon früher für die
Geschichte der Tracht eine besondre Bedeutung giebt.
Die Figurentafeln dieser Lieferung beziehn sich auf einen kleinen Landstrich
an der obern Lahn zwischen Laasphe und Biedenkopf, den Breidenbacher Grund
mit wenig Dörfern, die zwei Gruppen bilden, das ehemalige Obergericht oder
„Gründchen" und das Untergericht, von den Bauern „Grund" genannt. Wir be¬
trachten die nach unserm Geschmack hübscheste Tafel. Elisabeth Dittmann ans Stein-
perf (zum einstigen Obergericht gehörend) steht in ihrem Zimmer vor einem Tisch
mit einer Blumenvase. In dem kleinen Wandspiegel spiegelt sich ein Fenster, durch
das man in die Landschaft steht; das Fensterkreuz erscheint noch einmal im hellen
Reflex auf dem Fußboden. Elisabeth trägt einen kurzen, wollnen Faltenrock von
dunkler Farbe, den „Büffel" mit breiter, weißer Schürze und weißem, langärmligem
Hemd. Unter der Verschnürnng des vorn offnen schwarzen Mieders sieht man den
bunten Brustlatz. Aber nun ihre Kopfbedeckung, das Jnteressanteste von allem!
Eine schwarze Mühe mit seitwärts lang herabhängenden seidnen Vindcbändern; der
vordre Rand läuft in halbkreisförmigem Bogen über den Haarwurzeln her, oben
aber hat sie die Gestalt einer für den Hinterkopf ausgeschnittner kegelförmigen
Röhre. Sie findet sich auf zahlreichen flandrischen Gemälden, niemals auf deutschem
Sehr hübsch hat Justi in Elisabeth Dietmarus Zimmer neben den kleinen Spiegel
ein ältniederländisches Bildchen gehängt, das Porträt der Frau Bürgermeister
Moreel von Hans Memling (nach dem Original im Brüsseler Museum), die die¬
selbe Mütze trägt. Wird der Kegelspitz verlängert, so entsteht daraus der burgun¬
dische „Herrin." Einen solchen trägt z. B. auf der Anbetung der Hirten in den
Uffizien die Gattin des Stifters Tommaso Portinnri, der das berühmte Bild für
das von seinem Ahn in Florenz gestiftete Spital S. Maria nuova in Brügge
hatte malen lassen. In der Turiner Galerie hängt ein Breitbild der Sieben Freuden
Maria, in der Münchner Pinakothek eine ähnlich komponierte Passion Christi, beide
von Memling; auf jenem Bilde trögt die knieende Stifterin den spitzen Herrin,
auf diesem die weniger hohe Mütze der Elisabeth Dittmann. Wie und wann ist
nun diese brabantische Mütze, die in den Niederlanden schon gegen Ende des fünf-
zehnten Jahrhunderts aus der Tracht verschwindet, in sechs Dörfer des hessischen
Obergerichts Breitenbach gekommen? Dort führte vom Rhein her über Dillenburg
die Straße ans das hessische Gebiet; auf dieser Straße kam die Herzogin Sophia,
die Tochter der heiligen Elisabeth, 124L in das Land, das sie für ihren Sohn
Heinrich in Besitz nahm, und der heldenmütigen Frau zu Ehren nahmen die Frauen
gerade dieses entlegnen Gaus das Trnchtstück an, das sich nun 650 Jahre lang
erhalten hat, und zwar nnr dort, denn schon in den Nachbardörfern des Unter¬
gerichts tragen die Frauen eine ganz verschiedne Kopfbedeckung, die man Stülpchen
nennt, während jene andre Mitsche heißt.
Indem wir mit dieser Nutzanwendung für die Kunsthistoriker das interessante
Werk empfehlen, möchten wir noch unser Bedauern aussprechen, wenn die Fort¬
setzung, wie irgendwo berichtet wurde, in Frage gestellt wäre. Im andern Falle
würde es übrigens zweckmäßiger und für den Einzelverkauf der Lieferungen jeden¬
falls von Bedeutung sein, wenn für die Folge Tafeln und Text jeder Lieferung
genau zusammenpaßten.
Das sind zwei Büchertitel, und vor einem Jahr lag uns
schon ein Buch mit dem Titel Wir! vor. Es mag wohl schwer sein, für die vielen
Bücher, die heute notwendig sind, verschiedne Titel zu finden. Das Wirbnch ent¬
halt Tiergeschichten mit Anspielungen auf menschliche Verhältnisse in Versen: Affen¬
scherze, des Schweines Klage, Schmeißfliege, Schnepfenstrich, Schwanengesang, Tinten¬
fisch. Vnterfrende, Heupferd als Tugendwächter usw. von Van Oefterer; es ist in
splendiden Druck mit Buchschmuck von Käthe Schönberger bei Karl Reißner in
Dresden und Leipzig erschienen und macht äußerlich einen guten Eindruck. Der
Verfasser hat sich bei seinen Versen offenbar sehr behaglich gefühlt, sie sind ge¬
wandt und lese» sich leicht, sie haben auch scherzhafte und bisweilen witzige Pointen,
die in den meisten Fällen anzüglich, d. h. von der Art sind, daß man dabei ein¬
ander anstoßt: Hast dus gemerkt?' Aber wirklicher oder gar feiner Witz ist das
'naht. sondern höchstens eine witzelnde Manier, die mit bekannten und verbrauchten
Scherzen arbeitet; um dabei lachen zu könne», müßte man sich wenigstens vorher
kitzeln lassen. Da andrerseits das Buch, um Liebhaber des Anstößigen zu fesseln,
'was unanständiger sein müßte, so ist schwer einzusehen, welche Art von Lesern
dabei seine Rechnung finden soll. Die Bilder sind recht gut.'
In dem BucheJa Wir! vou Friedrich Eisenschitz (Eberswalde-Berlin, Verlag
Tung-Deutschland) werden Wiener Stndentengeschichten erzählt, dialektisch echt und
sachlich offenbar zutreffend für die darin geschilderte verbummelte Menschensorte, wurm¬
stichig und zum Teil geradezu ekelhaft. (Beleg: Ur. 3, Glück betitelt.) Auch das
früher erwähnte Buch mit dem Titel „Wir" enthält ahnliche Darstellungen des
"llerniedrigsten Wiener Lebens. Diese hier haben ein noch tieferes Niveau, Pariser
Cocottentum ins schmutzige vergröbert. „Acht Nichtigkeiten für die lieben Mit-
lungens und Mitmädels" hat sie der Verfasser genannt, dabei ist er sich jedenfalls
sehr geistreich vorgekommen. Außerdem widmet er sie „Meiner Mutter." Wie
mau sich eine solche Mutter vorzustellen?
r>9 5"?^ ^ ^"6, es werden alle gesetzlichen Regelungen des Arbeit-
erhaltnisses behandelt, die einen Schutz der Arbeiter in irgend einem Sinne be¬
ritten; so wird in dem Kapitel über Deutschland z. B. alles mitgeteilt, was die
Gewerbeordnung, das Bürgerliche Gesetzbuch nud das Handelsgesetzbuch über den
Arbeitvertrag, über Lohnzahlung, über die Beilegung von Streitigkeiten, über die
Ausbildung von Lehrlingen bestimmen. Das Buch ist seiner Vollständigkeit nud
Übersichtlichkeit wegen — auch eine vergleichende Zusammenstellung der Bestimmungen
der verschiednen Länder fehlt nicht — als Handbuch zu empfehlen. Wir erfahre»
aus ihm unter anderen, daß Osterreich und der Kanton Basel-Stube einige, freilich
recht dürftige, Verfügungen zum Schutze der Kellner erlassen haben, und daß in
England die Gastwirtschaften zu den Shops gerechnet werden, für die man die
Arbeitszeit 1892, 1893 und 1895 durch Gesetze geregelt hat. Die historische
Einleitung ist el» wenig schief geraten, indem der Verfasser die Arbeitsschutzgesetz¬
gebung auf die durch die französische Revolution entfesselte Arbeiterbewegung zurück¬
führt und den durch die Umwälzung der Technik in England notwendig gewordnen
Kinderschutz erst später erwähnt. In Wirklichkeit ist nicht eine Jdeenrevvlution die
Ursache der modernen Arbeiterschutzgesetzgebung gewesen, sondern diese Umwälzung
der Technik zusammen mit dem Überangebot an Arbeit und dem Überwiegen der
gewerbtreibenden Bevölkerung über die die Landwirtschaft betreibende, und nicht
sowohl das Bewußtsein von ihrer Notwendigkeit als diese Notwendigkeit selbst
war das neue, was am Anfange des neunzehnten Jahrhunderts diesen Zweig der
Gesetzgebung hervorgetrieben hat.
So falsch es wäre, alle Arbeitscheuen und alle Verbrecher als Kranke zu be¬
handeln, so verkehrt wäre es zu leugnen, daß es Unglückliche giebt, die ohne die
zum selbständigen Arbeiten nötige Intelligenz und Willenskraft, und andre noch
Unglücklichere, die ohne sittliche Gefühle aus die Welt kommen. Erziehung aber
kann nur Vorhandnes entwickeln und stärke», niemals Fehlendes ersetzen. Über
die Behandlung solcher Personen belehrt das hier angezeigte Büchlein des Leiters
einer Nervenheilanstalt. An den beschriebnen Fällen zeigt der Verfasser, wie
Schwachsinnige, deren Defekt nicht hochgradig ist, soweit gebracht werden könne»,
daß sie sich — unter verständiger Leitung natürlich — ihren Lebensunterhalt ver¬
dienen und sich und ihren Mitmenschen nicht gar zu sehr zur Last werden, und
daß bei dem jetzige» Fehlen geeigneter Anstalten und gesetzlicher Vorkehrungen viele
sehr gefährliche Subjekte frei herumlaufen, die viel Unheil anrichten, von dem nur
der kleinste Teil zur Kenntnis des Richters kommt. Und geschieht dies, so nützt
es nichts, weil ja der Richter nach dem Buchstaben des Gesetzes das Tier in
Menschengestalt nur auf eine kurze Zeit ius Gefängnis bringen kann, wohin es
gar nicht gehört, und daun wieder auf die Meuschen loslasse» muß. Sehr viele
Söhne guter Familie», die an» ungeraden und unverbesserlich neunt, sind »ach
Grohmann moralisch Irrsinnige. Den Eltern nicht ganz normaler Kinder und den
Gesetzgebern ist das Büchlein zu empfehlen. Leider ist die Form sehr nachlässig-
Der Verfasser, der ja nicht Zeit haben mag, zusammenhängend und sorgfältig zu
schreiben, hätte das Material einem litterarisch gewandten und geübten Manne z»^'
Ausarbeitung übergeben sollen. Schon der Titel ist ungeschickt, denn es kommen
in Geschichten von Geisteskranken zwar äußerlich komische Handlungen und Situationen
vor, aber heiter stimmen solche peinliche und traurige Sachen den Vernünftige»
»icht. Der Verfasser bittet denn auch selbst, man möge aus dem Titel nicht schließe»,
daß es ihm an dem der Sache angemessenen Ernst fehle. Hoffentlich befolgt er
unser» Rat bei den übrigen Bändchen, die er noch in Aussicht stellt.
o lange das Deutschtum in Osterreich herrschend und maßgebend
war, hat es immer eine zivilisatorische Aufgabe ausgeübt, aber
in Österreich machen sich alle Einflüsse, die auf das Deutschtum
im Reiche nachteilig wirken, in verstärktem Maße fühlbar. Sehr
«zahlreich war ursprünglich das germanische Element überhaupt
^de, denn überall, wo die Deutschen kolonisierten, genügte eine Handvoll
Menschen, ein ganzes Land mit fremdem Volk im Zaum zu halten und ihm
Putsches Gepräge zu geben. Es ist in der Hauptsache richtig, daß die Deutschen
Österreich geschaffen haben, nur muß man nicht die Deutschösterreicher allem
uwunter verstehn, am wenigsten die heutige Generation; es haben alle Deutschen
"ut daran geholfen. Denn Österreich ist nicht aus seinen deutschen stamm¬
enden herausgewachsen, sondern es verdankt seine Entstehung der Türkengefahr.
Um diese abzuwehren, schlossen sich die deutschen Fürsten und Herren, manch¬
mal auch andre, den auf dem deutscheu Kaiserthron sitzenden Habsburgern an,
und der Schutz des Christentums war die treibende Ursache. So wurde schlie߬
et) Osterreich das Ergebnis von Allianzen und Erbvertrügen, die zwischen
Kronen von Ungarn und Böhmen mit dem deutschen Kaiser, dessen Haus-
'nacht in den Alpenländern lag, abgeschlossen wurden. Gemäß seiner Ent¬
stehung war also Österreichs Aufgabe, den Russen im Orient zuvorzukommen
und das byzantinische Erbe unter Zustimmung und Hilfe des ganzen mittlern
und westlichen Europas in Besitz zu nehmen, statt sich in fruchtlosen Kämpfen
^gen die deutsche und die italienische Nationalität, gegen Preußen und Fraul¬
ich abzuquälen.
Osterreich ist also eine aus deutscher Wurzel erwachsene Macht, aber im
^ause der Zeit sind ihr so viele fremde Reiser aufgepfropft worden, daß es
Zwar immer noch seine besten Lebenskräfte aus deutschem Samen zog, doch
aber aufgehört hatte, schlechthin ein deutscher Staat zu sein. Seit Leopold I.
P das Reich zu einem wohlabgerundeten Ganzen im Südosten herangewachsen,
^eder Besitz im heutigen Belgien und in Westdeutschland wurde nach und nach
preisgegeben, und damit ist Österreich stetig ans Deutschland hinausgewachsen.
Muster historischer Sinn wird in diesem regelmäßigen Entwicklungsgange nicht
ein Walten des Zufalls erkennen. Die weit überwiegende Mehrzahl der Be¬
wohner Österreichs sind Nichtdeutsche, seine Interessen liegen im Osten und
im Süden außerhalb Deutschlands, wo es durch das Verschwinden der geist¬
lichen Neichsstünde und die Mediatisierungen seinen festesten Halt verloren
hatte. Daß die Metternichsche Staatsweisheit über ein Menschenalter hinaus
diese Sachlage verkannte und in ihr Gegenteil verkehren wollte, daß man nach
der nationalen Bewegung des achtundvierziger Jahres die Kaiserpolitik in
Deutschland wieder aufnehmen wollte, war ein kurzsichtiges Ankämpfen gegen
die selbstgeschaffne Strömung, der man nach der Entscheidung von 1866 doch
ihren Lauf lassen mußte. Um so rascher mußte unter den so veränderten Um¬
ständen der Rückgang eintreten, bei dem begreiflicherweise die Deutschöster¬
reicher am meisten zu leiden hatten. Darin liegt auch die einzige Erklärung
und Entschuldigung für die Verworrenheit in ihrem Lager, aus der sie sich
auch heute noch nicht herauszufinden vermögen, und die die eigentliche Ur¬
sache davon ist, daß sich der Slawismus in Österreich so breit machen kann-
Denn nur deshalb ist es um die Sache der Deutschösterreicher so traurig be¬
stellt, weil unter ihnen keine Einigkeit besteht.
Wohl sind die Deutschen in Österreich nur ein bescheidner Bruchteil der
Bevölkerung, und sie wohnen auch nur in einigen Kronländern in dichterer
Masse beisammen, aber trotz alledem sind sie im Kaiserstaate außer den Italienern
das einzige Volk mit selbständiger Kultur, und alle magyarisch-walachisch-
slawischen Völkerschaften zwischen Erzgebirge, Karpaten und Adria zehren von
den Früchten deutscher Bildung, wenn sie es auch heute großsprecherisch in
Abrede stellen möchten. Der Fern erstes ende sollte nun meinen, daß unter
solchen Umständen eine nusgesprochne Vorherrschaft der Deutschvsterreicher eine
selbstverständliche Sache und leicht ins Werk zu setzen sein müsse, namentlich
nach der Durchführung des Dualismus, der den Deutschösterreichern den Reichs¬
ten überlassen hat, worin sie am dichtesten sitzen, während im andern ebenfalls
eine Minderheit — die magyarische — recht wohl ihre Herrschaft aufzurichten
und zu erweitern verstanden hat, und nicht allein durch Gewalt, die ja aller¬
dings dort als Mittel zum Zweck auch nicht verschmäht wird. Wir werden
noch darauf zu sprechen kommen, wie sich Deutsche und Magyaren in ihren
politischen Eigenschaften unterscheiden.
Unter allen europäischen Staaten mit Ausnahme Rußlands hat keiner
eine Bevölkerung, die aus so viel Nationalitäten besteht, wie die des öster¬
reichischen Kaiserstaates. Im eigentlichen Österreich sind die drei Hauptvölker
Europas: Deutsche, Slawen und Romanen, auch die Hauptstämme. Der
Zahl nach überwiegt allerdings in Österreich die slawische Nation, aber diese
zerfällt in sechs, nicht allein dnrch Sprache, sondern auch durch Kultur und
Geschichte unterschiedne Stämme, die keine gemeinsame Schriftsprache haben
und als ebensoviele Völker angesehen werden müssen, die sich auch als solche
fühlen, wenn sie nicht gelegentlich einmal der Deutschenhaß zusammenführt.
Von ihnen bewohnen die Tschechen den mittlern und den südöstlichen Teil
Böhmens, den größern Teil von Mührer (mit Ausnahme des deutschen An¬
teils im Süden und im Norden) und einen kleinen Teil Schlesiens (südlich
Von Troppau und südwestlich von Teschen), die Polen Westgalizien und den
größten Teil des Teschener Kreises in Schlesien, die Ruthenen Ostgalizien
und einen Teil der Bukowina, die Slovenen Kram und einen angrenzenden
Teil von Kärnten, Görz, Jstrien, das Landgebiet um Trieft und den süd¬
lichen Teil von Steiermark, die Kroaten und Serben schließlich Jstrien. die
Inseln des Quarnero und Dalmatien. Von den romanischen Volksstämmen
sind die Italiener (nebst Ladinern und Friaulern) in Südtirol. Görz-Grndiska.
Trieft und an der Küste von Jstrien sowie in den meisten dalmatinischen
Städten seßhaft; die Rumänen wohnen in der Bukowina, wo, nebenbei be¬
merkt, auch über 8000 Magyaren ansässig sind. Aber der Stamm, dem der
erste Platz in Österreich gebührt, kann nur der deutsche sein, schon darum,
weil die Gebildeten unter allen andern genannten Nationen deutsch verstehn
und sich gegenseitig nur mit Hilfe dieser Sprache verständigen können, noch
mehr aber wegen der relativen Mehrheit der Deutschen über alle andern
Volksstümme, wegen ihrer geschichtlichen Bedeutung für die Entstehung und
die Entwicklung Österreichs, wegen ihrer alle andern österreichischen Nationen
überragenden Kulturentwicklung und wirtschaftlichen Bedeutung, und schlie߬
lich nicht am wenigsten deshalb, weil die deutsche Bevölkerung die einzige ist,
die über sämtliche „Kronländer" verbreitet lebt. An den Nordabhängen der
Alpen, im Donauthal, in deu Gebirgsstrecken des Böhmerwaldes, des Erz¬
gebirges, des Riesengebirges und der Sudeten wohnen die Deutschen in ge¬
schlossenen Massen, außerdem greifen sie mit zahlreichen Sprachinseln in die
slawischen Gebiete über. Wenn die Dentschösterreicher, die nahezu zwei Fünftel
der Bevölkerung der „im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder" aus¬
machen, trotz der eben angeführten Umstände und Vorzüge von politischem
Wert doch nicht der ausschlaggebende Teil in Österreich sind, so wird anch
dem Unbefangensten einleuchten, daß das nicht allein „Schuld der Negierung"
sein kann.
Es wird nicht allen Dentschöstcrreichern recht und angenehm zu hören
sein, wenn diese Saite angeschlagen wird. Über die Anmaßungen der Tschechen
ist aber in deutschen Blättern schon so oft der Stab gebrochen worden, daß
Man das Gerede darüber nicht wieder aufzuwärmen braucht. Weit weniger
ist man aber — wohl aus falscher Rücksicht — darauf zu sprechen gekommen,
Küe weit die Deutschösterreicher selbst schuld siud. Aber bei aller Teilnahme,
das gesamte deutsche Volk an den Schicksalen seiner Genossen in Öster¬
lich hegt und hegen muß, wäre es doch kurzsichtig und nicht einmal ehrlich,
K>cum man darüber nicht auch sprechen sollte. Die gesamte deutsche Nation
hat ein lebhaftes Interesse daran, nicht nur, wie es dem von uns politisch
abgesprengten Volksteile in Österreich überhaupt geht, sondern auch daran, in
welcher Weise er seine Geschicke in die Hand nimmt. Ob die Deutschösterreicher
selbständig mitwirken werden an dem im Werden begriffnen Neubau der öster¬
reichischen Monarchie, ob sie bei der bisherigen passiven Halbheit beharren,
"der ob sie schließlich vielleicht bloß den Kitt abgeben werden für einen Pracht¬
bau fremder Völkerschaften, wofür wir in der frühern Geschichte unsers Volkes
Zahlreiche Beispiele haben, das ist allerdings eine Frage, die Gesamtdeutschland
— ohne Rücksicht auf die jeweiligen politischen Grenzen und Staatsbildungen —
sehr stark berührt.
Die Angelegenheit zwingt umsomehr zu einer Erörterung, als sie auch
im deutschösterreichischen Lager aufgeworfen worden ist. In den letzten Jahren
ist mehrfach die sogenannte Katastrophenpolitik empfohlen worden, die Lösung:
„Je schlimmer, je besser!" ist durch gewisse deutschvsterreichische Blätter und
Flugschriften gegangen und hat auch Eingang in einen Teil der reichsdeutschen
Presse gefunden. Aus dem Übermaß des deutschen Elends müsse die Rettung
kommen, die Rettung durch das Deutsche Reich, das schon aus Gründen der
eignen Sicherheit die acht Millionen Stammesgenossen im Südosten nicht den
Slawen preisgeben könne. Der ehemalige altdeutsche Abgeordnete Karl Türk
hat sogar einmal den Tschechen mit dem Einmarsch preußischer Bataillone in
Böhmen gedroht. Nun liegt doch ohne weiteres auf der Hand, daß dem
Deutschen Reich aus seiner Eigenschaft als nationalem Staat noch nicht der
Beruf und die Aufgabe erwächst, sich in die innern Verhältnisse Österreichs
oder der Schweiz , wo Deutsche in geschlossenen Massen bei einander wohnen,
einzumischen, während dagegen wohl gelten kann, daß es eine gewaltsame
Unterdrückung seiner Stammesgenossen dort keinen dulden würde oder könnte.
Aber so liegen doch die Dinge in Österreich wahrhaftig nicht, und das auf¬
richtigste Mitgefühl mit dem schweren Kampf der Deutschösterreicher wird
niemand über die Thatsache hinwegtäuschen, daß dieser Kampf eine innere
Angelegenheit der Völkerschaften Österreichs ist, der ebensowenig wie eine Ver¬
ständigung unter ihnen eine Frage des Deutschen Reichs sein kann. Aber
nehmen wir einmal den Faden der Katastrophcnpolitik aus und sehen wir zu,
wohin diese führen müßte. Wir wollen selbst voraussetzen, daß sich die An¬
nexion des in Frage kommenden österreichischen Gebiets durch Deutschland leicht
durchführen ließe, was wohl kaum anzunehmen ist, was würde dann das Deutsche
Reich damit gewonnen haben? In erster Reihe mehrere Millionen Ultrmuontcme,
die das deutsche Zentrum vergrößern und seinen Charakter umgestalten würde,
dann mindestens sieben Millionen Slawen, dazu die Reichshauptstadt Wien,
die beim Hinabsinken zu einer Provinzialstadt der Herd der Unzufriedenheit,
der politischen und der sozialen Opposition würde. An innerer Lebenskraft
würde es nichts gewinnen, dagegen aber den Neid der Nachbarn erregen, in
Zerwürfnisse und Rußland geraten, denen früher oder später ein Existenzkampf
mit Rußland und Frankreich nachfolgen müßte. Nehmen wir auch noch an, das
Deutsche Reich, das sich gegen die Mißgunst von ganz Europa emporgerungen
hat, wäre auch diesem Weltkriege gewachsen, so hieße es doch, ihm große Alt-
klugheit zumuten, wenn es sich ohne die äußerste nationale Not auf so etwas
einlassen sollte. Eine ungeheure Verarmung des europäischen Kontinents
und seine wirtschaftliche Unterjochung durch England und die überseeischen
Mächte würde die unausbleibliche Folge davon sein. Der Gedanke hat auch
nur vorübergehend in einigen ungeklärten Kreisen Anklang gefunden und wird
zu keiner Zeit die Kraft haben, im Deutschen Reich eine Bewegung hervor¬
zurufen, die im Sinne der Annexion auf die Regierung drücken könnte. Ganz
Deutschland steht auf dem Standpunkt seines ersten Kanzlers, der noch in
seinem politischen Nachlaß das Bestehn der Habsburgischen Monarchie für
Deutschland wörtlich als „unentbehrlich" bezeichnet und erklärt hat, daß das
Deutsche Reich Österreich nicht missen könnte, „ohne selbst gefährdet zu sein."
Die „Altdeutschen" sollten lieber Bismarck studieren, als daß sie kurzsichtige
Pläne aushecken, die nur dein eignen Unvermögen nachhelfen sollen. Noch
unter der Reichskanzlerschaft des Fürsten Hohenlohe hat auch der damalige
Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, jetzt Reichskanzler von Bülow, allen
in dieses Gebiet gehörenden Strömungen in Deutschland unter dein vollen
Beifall des Reichstages ein Ende gemacht, indem er sagte: „Wir wünschen
nicht, daß fremde Regierungen oder fremde Parlamente sich in unsre innern
Verhältnisse einmischen und in die Parteikämpfe, an denen es zuweilen auch
bei uus uicht fehlen soll. Und gerade weil wir vom Auslande gegenüber uns
ein ganz korrektes Verhalten verlangen, sind wir selbst zu einem solchen ver¬
pflichtet, und diese Pflicht besteht ganz besonders gegenüber dem verbündeten
und eng befreundeten österreichisch-ungarischen Reiche."
Diese Politik der ckebaols, wie man sie nennt, dürfte wohl für Deutschland
als abgethan gelten, aber sie ist ein frevler Anschlag auf den innern Frieden
und die politische Sittlichkeit des deutschen Volks. Wer irredentistische Be¬
strebungen unter den Deutschösterreichern stützt, schädigt das Deutschtum nach
verschiedner Richtung hin; denn zuerst macht er jede, auch von Bismarck seinerzeit
ins Auge gefaßte engere, über das jetzige Bündnis hinausgehende Annäherung
der beiden Reiche, wie sie im Interesse des großen deutschen Volkes doch un¬
zweifelhaft wünschenswert wäre, für alle Zeiten unmöglich, ferner schwächt er
die österreichischen Volksgenossen in ihrem Existenz- und Berechtigungskampfe,
weil er ihren Gegnern Handhaben giebt, sie antidynastischer Bestrebungen zu
bezichtigen, wenn er sie nicht vielleicht gar zu unüberlegten Schritten veranlaßt.
Übrigens ist in der letzten Beziehung am wenigsten zu befürchten, denn wer
die Deutschösterreicher, nicht nach gelegentlichen verärgerten Äußerungen am
Wirtshaustisch, sondern genauer kennt, der weiß — wie schon Billroth vor
dreißig Jahren ausdrücklich dargethan hat —, daß sie sämtlich bis in das
Innerste schwarzgelb sind, der weiß, daß bei aller Achtung vor dem Deutschen
Reiche bei vielen noch die alte Überhebung über den „Preußen" im geheimen
festsitzt, und daß Herr schönerer, wenn wirklich einmal eine jetzt noch gar nicht
vorauszusehende politische Verschiebung die „preußische" Annexion auch nur
als möglich erscheinen ließe, vollkommen allein stehn würde, wenn er nicht
vorziehn sollte, dann selbst in das schwarzgelbe Lager überzutreten. Hierüber
ist sich auch der schlichte Menscheuverstnud hüben und drüben klar; an ihn wenden
sich aber die Katastrophenpolitiker nicht, sondern sie suchen ihn durch Anrufung
der Leidenschaften zu betäuben. Den Nachteil dieses gänzlich undurchdachten
und höchstens auf den Effekt berechneten Treibens hat natürlich das Deutsch¬
tum im ganzen zu tragen, und namentlich kann dadurch in deutschösterreichischen
Kreisen eine Täuschung hervorgerufen und die ohnehin schon auffallende Neigung,
sich nicht sehr anzustrengen, noch verstärkt werden. Die erste Bedingung eines
fruchtbaren Schaffens für sie ist aber in jedem Falle, daß sie nur auf die eigne
Kraft vertrauen und weder Hilfe von außen erwarten, noch ihr Heil im Zu-
sammenbruche des Staates suchen. Aus dem protestantischen Grundsatz: „Hilf
dir selbst, so hilft dir Gott" würden die Deutschösterreicher mehr Kraft und
Vorteil ziehn als ans der für das Deutschtum in der Gegenwart nachteiligen,
in der Zukunft wertlosen „Los von Rom"-Bewegung. Für das Gesamtdeutsch¬
tum liegt die Frage endlich so: Entweder sind — was wir nicht glauben —
die Deutschösterreicher ein morscher Stamm, auf den sich nicht bauen läßt, dann
ist eine Annexion von den Ländern, denen er keinen genügenden Stützpunkt zu
geben vermag, durch das Deutsche Reich ein politischer Unsinn, eine Donquixoterie,
die ein deutscher Staatsmann nicht unternehmen wird; oder sie haben noch die
Kraft, sich selbst zu helfen, dann aber bedürfen sie keiner Annexion, überhaupt
keiner Rettung von außen. Und das ist unsre Meinung.
Daß die Tschechen — auch die Polen — aus der von gewissen deutschen
Kreisen in Szene gesetzten Katastrophenpolitik die Beschuldigung des Landes¬
verrats für die Deutschösterreicher herleiten wollen, erscheint uns sehr neben¬
sächlich. Die Polen sollten dabei an ihre eignen großpolnischen Träumereien
denken, die einem Landesverrat ähnlicher sehen als irgend etwas anderen. Was
die Tschechen betrifft, so geht ihnen über solche Dinge jedes Urteil ab. Ein
Sechsmillionenvolk, das seinen politischen Standpunkt von dem Gesichtskreis
herleitet, den ihm die paar tschechischen Kirchtürme um Prag herum gewähren,
hat gar kein Verständnis dafür, was in der Seele eines zehnmal größern Volkes
vorgeht. Sie deswegen als untergeordnet zu bezeichnen, ist freilich ungezogen,
aber die Tschechen thäten wirklich klüger, in allen großnntionalen Fragen zu
schweigen, die verstehn sie einfach nicht. Sie könnten gar nicht in die Versuchung
geraten, Landesverrat zu begehn oder in große nationale Irrtümer zu verfallen,
denn sie sind allein ans Österreich angewiesen. Sie haben indessen 1871 die
ehrwürdige Gestalt des Kaisers Franz Joseph in der unwürdigsten Weise be¬
leidigt; doch es soll hier ununtersucht bleiben, ob sie, gerade weil ihnen die
Beschuldigung antidynastischer Bestrebungen und des Hochverrats gegen die
Deutschen so leicht von der Zunge gleitet, nicht auch zu dergleichen fähig wären.
Sie kommen oft mit solchen Denunziationen. Sie haben auch das sogenannte
Linzer Programm als Hochverrat bezeichnet, obgleich sie doch selbst die Wieder¬
herstellung der Länder der einstigen böhmischen Krone verlangen. Dieses fordert
doch nur die Wiedervereinigung der ehemals dem Deutschen Reiche und dann
dem Deutschen Bunde zugehörigen österreichischen Landesteile mit dem jetzigen
Deutschen Reiche. Wir halten das für eine politische Träumerei, aber wo soll
da der Landesverrat liegen? Was die vierzig Jahre des Deutschen Bundes
noch bestanden hat, kann doch nicht Hochverrat sein? Sämtliche Tschechen, die
heute über sechsunddreißig Jahre alt sind, sind noch unter diesem Verhältnis
geboren worden. Für sie mag ja das eine unangenehme Erinnerung sein, aber
wenn andre anders darüber denken, so folgt daraus noch lange kein Hochverrat,
nicht einmal, wenn schönerer und seine Leute einige antimonarchische Unge¬
hörigkeiten damit verbinden. Die Deutschösterreicher sollten freilich mit dergleichen
unerfüllbaren Wünschen vorsichtiger sein, denn die daran geknüpften Verleum¬
dungen, von denen doch immer etwas hängen bleibt, erschweren ihre ohnehin
schon arg verfahrne Lage noch mehr.
Die Deutschösterreicher sind keineswegs von einem unvorhergesehenen
Mißgeschick überfallen oder von einem gänzlich unverschuldeten Unglück betroffen
worden. Ihre gegenwärtige „bedrängte und unwürdige Lage" ist vielmehr eine
notwendige Folge früherer nationaler Unterlassungssünden und mangelnden
Politischen Verständnisses. Von diesem Verschulden nahm, wenigstens soweit
die letzten drei Jahrzehnte in Betracht kommen, der ungünstige Gang der Dinge
seinen Anfang. Die Deutschösterreicher waren seit dem Beginn des konstitutio¬
nellen Lebens in Österreich zusammen mehr als ein Jahrzehnt im Vollbesitz
der Macht, sie haben dem Staate die gesetzliche innere Einrichtung selbst ge¬
geben, mit deren Hilfe sie jetzt von den Slawen fröhlich majorisiert werden,
aber sie haben dabei nie an die Zukunft ihres Volks gedacht, sondern geglaubt,
mit deu unklaren Grundsätzen des kosmopolitischen Liberalismus leicht herrschen
zu können, und sind damit überall beiseite geschoben worden, ganz so wie
einst das metternichsche Österreich im europäischen Konzert. Der politische Um¬
sturz von 1866, der sie zur Herrschaft brachte, kam freilich ihnen gänzlich un¬
erwartet und traf sie vollkommen unvorbereitet. Ihre Führer standen durchaus
auf dem Standpunkte der preußischen Fortschrittspartei, die soeben ihre ent¬
scheidende Niederlage erlebt hatte, und suchten Österreich auf solcher Grundlage
aufzubauen; dabei machte sich die Thorheit von 1848 breit, die ganze Ver¬
ranntheit und die französische Schablone liberaler Bestrebungen und Be¬
geisterungen ohne Verständnis der nationalen Aufgabe. Was noch nicht in
der Verfassung an kernlibernlen Ausdrücken von Gleichberechtigung und der¬
gleichen stand, wurde in die sogenannten „Staatsgrnndgesetze" eingefügt; es
galt nicht, dem praktischen Bedürfnis zu dienen, sondern der „Reaktion" und
dem „Klerikalismus" möglichst unangenehm zu werden. Das entsprach durchaus
dem auch unter Schmerling geltenden Gedanken, die Völker würden von selber
durch die liberale Schablone glücklich werden, auch den noch vielfach in Öster¬
reich über Gebühr gefeierten josephinischen Maximen, mit denen man ernten
wollte, wo noch nicht gesät war, säen, ohne den Boden vorher gepflügt zu
haben. Die betrübende Lehre der Geschichte, daß sich das Volk damals gegen
die ihm aufgenötigten Freiheiten, die es nicht verstand, erbittert wehrte, be¬
achtet der doktrinäre Liberalismus nicht, und so wurde bei der Abfassung der
liberalen Staatsgrundgesctze gar nicht in Betracht gezogen, daß sich der Wider¬
stand gegen diese am Ende gegen das liberale Deutschtum richten werde, dessen
Herrschaft man kurzsichtigcrweise für immer gesichert hielt, obgleich man doch
erst wenig Jahre vorher das liberale Kabinett Schmerling plötzlich wieder hatte
^schwinden sehen. Beim Mittelschulgesctz wurden wohl einige Bestimmungen,
die dem Deutschtum günstig zu sein schienen, eingefügt, sie haben sich aber in¬
zwischen als Gegenteil von dem erwiesen. Die Fehler, die in dem folgen¬
schweren Ansglcichsjahre und bei der Abfassung der Staatsgrnndgesetze, nament¬
lich bei der überhasteten Schulgesetzgebung, begangen worden sind, wurden lange
nicht eingesehen. Es waren aber immer nur Konstruktionsfehler, die sich hätten
allsgleichen und zum Guten wenden lassen, wenn die Deutschliberalen ver¬
standen hatten, sich in der Regierung zu erhalten. Aber dazu machte sie ihr
doktrinärer Liberalismus auf die Dauer unfähig, denn er wurde durch keine
Rücksicht auf das nationale Wohl, auch nicht auf das deutsche, geläutert. Noch
heute weiß keine der zersplitterten deutschen Fraktionen den reinen nationalen
Standpunkt zu erkennen, sie sind entweder liberal mit mehr oder weniger
radikaler Beimischung, oder sie sind klerikal, das rein Nationale schlägt nirgends
durch. Die Tschechen und die Magyaren verstehn es besser.
Doch nicht die Hintansetzung des nationalen Gedankens hinter den doktrinär
liberalen hat die Deutschen damals aus der Regierung verdrängt, dazu wirkten
ganz andre Umstünde mit, die allerdings von der französischen liberalen
Schablone unzertrennlich zu sein schienen. Zunächst trat eine Entwicklung
nach der rein kapitalistischen Seite hervor. Das Bürgerministerium von 1867
enthielt bedenkliche Persönlichkeiten, die ihm nachträglich den Spottnamen
„Trinkgelderministerium" einbrachten, unter dem Ministerium Adolf Auersperg
(1871 bis 1879) war es wohl besser, doch fand der Volkswitz für die deutsch¬
liberale Verfassungspartei bald die Bezeichnung „Verwnltungsratspartei"; die
Vertretung der herrschenden Partei lag durchaus in der Hand rein kapitalistisch
geleiteter Zeitungen, ein Versuch, ein davon unabhängiges Blatt, die „Deutsche
Zeitung," zu gründen, mißglückte bald, der große finanzielle Zusammenbruch
von 1873 kam hinzu, und alles wurde dem deutschlibernlen Regiment mit mehr
oder weniger Berechtigung zugeschrieben. Doch das erschütterte das Ministerium
Auersperg noch nicht, die Krone hielt an ihm fest. Das Unglück kam aus
dem Innern der Partei. Zur richtigen Schablone des französischen Liberalismus
gehört auch das Miuisterstürzen; es wird so lange opponiert, bis das Kabinett
fallt, im neuen kann man vielleicht selber sitzen. Schon zu Anfang des Jahres
1876 war eine Intrigue im Gange, Schmerling wieder ans Ruder zu bringen;
es gab in der großen deutschliberalcn Partei Männer genug, die sich für
ministerreif hielten, der bedeutendste unter ihnen war or. Herbst, der schon
Minister gewesen und nicht nur Meister der parlamentarischen Beredsamkeit,
sondern auch der parlamentarischen Rancune war. Die Lage des Ministeriums
gegenüber dem Abgeordnetenhaus wurde von Jahr zu Jahr unsichrer, oft be¬
stand seine Mehrheit fast nur noch aus den Mitgliedern des Großgrundbesitzes,
den Polen und den Italienern (die Tschechen hielten sich damals vom Par
lauert fern). Daß es ein deutsches Ministerium war, das man stürzen wollte,
daß gar nichts darüber feststand, ob ihm wieder ein deutsches folgen werde,
focht niemand an.
Das Ende des letzten deutschell Ministeriums kam bekanntlich erst bei
der böhmischen Angelegenheit. Statt hier die Göttin der Gelegenheit an der
Stirnlocke zu fassen, den Auftrag der Berliner Konferenz mit Freude zu be¬
grüßen und die Trägerin einer neuen österreichischen Orientpolitik zu werden,
wandte man sich in verstockter Opposition ab. Auch diesesmal waren die
Magyaren klüger. Sie hatten ja auch den ganzen radikalen Lärm gegen
Nußland während des Kriegs mitgemacht, sie hatten sogar an sich eine, den
Ethnographen sonst nicht bekannte Stammesverwandtschaft mit den Türken ent¬
deckt, sie ließen sich vom Sultan die einst von den Türken aus Pest geraubte
Corvinsche Bibliothek schenken, aber wie die Sache mit der Okkupation Bos¬
niens zum Klappen kam, lenkten sie ein und erhielten sich die Gunst der
Krone. — Mit der hartnäckigen Starrheit der einstigen preußischen Fort¬
schrittspartei beharrte dagegen die deutsche Verfassungspartei unter Führung
des Dr. Herbst bei ihrem Nein,
(Schluß folgt)
is vierte Abteilung des 5. Bandes des von Iwan vou Müller
herausgegebnen Handbuchs der klassischen Altertumswissenschaft
ist soeben bei C. H. Beck in München erschienen: Religion
und Kultus der Römer von Dr. Georg Wissowa, ordent¬
lichem Professor an der Universität Halle. Mit diesem Buche,
das alles enthält, was zur Zeit von dem Gegenstande gewußt werden kaun,
darf dieser Zweig der Altertumswissenschaft vorläufig für abgeschlossn gelten;
>vir benutzen es deshalb dazu, das Kapitel „Religion" in unsern Betrachtungen
über den Römerstaat (im Jahrgang 1899 der Grenzboten) zu ergänzen. An
unsrer Auffassung des Wesens und des Charakters der altrömischen Religion
haben wir nichts zu korrigieren, aber wir werden über viele Einzelheiten
genauer unterrichtet, und von dem, was wir da gelernt haben, dürfte doch
manches auch für einen weitem Leserkreis Interesse haben.
Der Verfasser will nicht die italische Volksreligion, sondern nur die
^mische Religion darstellen. Soweit diese nnn ebenfalls Volksreligion ist,
^um man ihre ursprüngliche Gestalt aus der lateinischen Litteratur nicht er¬
nennen, weil diese zu einer Zeit entstanden ist, wo das ganze geistige Leben
und namentlich auch die Religion von dem Griechentum beeinflußt war, und
die religiösen Vorstellungen des Volkes und des Altertums von den Ge¬
badeten gar nicht mehr verstanden wurden. „Des alten Cato Schrift vom
^andbau mit ihren kostbaren Gebetsformeln, wenige Partien der plautinischen
Komödien, eine Anzahl von Stellen der Naturgeschichte des ältern Plinius,
^n paar Dutzend zerstreute Notizen vou uicht immer zweifelloser Zuverlässig¬
st und Tragweite, all das zusammen würde nicht entfernt ausreichen, auch
"ur eine dürftige Grundlage unsers Wissens abzugeben, wenn hier nicht die
Monumentalen und inschriftlichen Quellen ergänzend einträten. Von Art und
Bedeutung des häuslichen Kultus der Laren, Penaten, des Genius haben uns
^se die aufgedeckten Häuser Pompejis mit ihren Hauskapellen und Sakrcil-
^idem eine Vorstellung vermittelt; Votivstatuen und Altarreliefs, auch die
^ünzbilder haben uns über die Auffassung und den Knltnszusammenhang
^nzelner Gottheiten unvermutete Aufschlüsse gegeben, vor allem aber bieten
°^ Tausende erhaltener Weihinschriften aus allen Teilen des römischen
Deichs einen fast unermeßlichen Stoff." Um Aufsindung, Sammlung und Er-
lärung dieser Inschriften hat sich bekanntlich niemand in dein Grade verdient
gemacht wie Mommsen. Wissowa hat ihm denn auch sein Buch gewidmet
und schreibt im Vorwort: „Daß ohne Mvmmsens Lebenswerk, vor allem ohne
das Staatsrecht und den Kommentar zum Festkalender, kein Kapitel dieses
Buches hätte geschrieben werden können, wird jeder Sachkundige leicht sehen."
Außer deu Inschriften und den Bildern sind Hauptquellen die Schriften der
Juristen, die vom Sakralrecht handeln — sie haben ihre Angaben den Priester¬
archiven entnommen der römische Festkalender, „dessen ursprüngliche Gestalt
sich aus den uns in bedeutenden Bruchstücken vorliegenden Exemplaren der ersten
Kaiserzeit mit voller Sicherheit herstellen läßt," Bruchstücke von Urkunden und
Liedern bei einigen Geschichtschreibern und Kirchenvätern, vorzüglich aber die
in zahlreichen Bruchstücken erhaltenen Protokolle über die Sitzungen und Amts¬
handlungen der tratrss ^.rvtüss; „das in dem Protokoll über die Festfeier des
Jahres 218 im Wortlaut mitgeteilte eÄrmeu der Arvalbrüder ist wohl das
älteste auf uns gekommene Denkmal lateinischer Sprache." Den römischen
Festkalender mit den Veränderungen, die er von Cäsar bis ins vierte Jahr¬
hundert n. Chr. erfahren hat, giebt der Verfasser als Anhang.
Die ursprünglichen Götter der römischen Gemeinde bildeten als nil iuäi^floh
einen abgeschlossenen Kreis. Die von außen aufgenommenen wurden novsusiäss
oder novsnsilss genannt. Zur Aufnahme neuer Götter nötigten Eroberung
und Verkehr. Hebt der Staat die Selbständigkeit eiuer besiegten Gemeinde
auf, so erlöschen dadurch nicht deren sakrale Verpflichtungen, sondern gehn auf
die Nechtsnachfolgerin der vernichteten Gemeinde über. Deren Götter müssen
deshalb durch die svovkckio eingeladen werden, nach Rom überzusiedeln. Ebenso
werden friedliche Einwandrer und Ansiedler durch die Ortsverüuderung ihrer
Verpflichtungen gegen die Götter der alten Heimat nicht entbunden. Sie ver¬
ehren sie in der neuen privatim weiter, und wächst die Zahl der Ansiedler,
die denselben auswärtigen Gott haben, so wird dieser unter die Staatsgötter
aufgenommen. Die neuen Götter dürfen nicht im Weichbild der Stadt, sondern
nur außerhalb des Pomöriums Tempel und Altäre bekommen; doch mit dem
Wachstum der Gemeinde erweitert sich auch der Bezirk der einheimischen Kutte,
und schon in der Königzeit wird die durch etruskische Vermittlung eingebürgerte
griechische Athene unter dem Namen Minerva in den innern Stadtbezirk auf^
genommen; ja die neue Trias: Juppiter, Juno, Minerva auf dem Kapitol ver¬
drängt die alte: Jnppiter, Mars, Quirinus. An die Stelle der ursprünglichen,
dem Numa zugeschriebnen Kultordnnng tritt eine neue, die die Überlieferung
auf die Tarquinier zurückführt. Unter ihnen kamen auch aus dem griechischen
Cumä die sibyllinischen Bücher nach Rom, und die wurden von da ab vor¬
zugsweise befragt, wenn es sich um die Aufnahme neuer Götter handelte.
Doch wurde nach der tarquinischen Zeit der Stadtbezirk nicht mehr erweitert,
und deshalb blieben alle weitern himmlischen Ankömmlinge all lloveusiclös.
Als solche wurden vorzugsweise die griechischen betrachtet, die nach und nach
sämtlich in Rom Eingang fanden. Mit den griechischen Göttern dringen auch
der prunkvollere griechische Kultus und die griechische Kunst ein. Als Sym¬
bole der Götter hatten vorher rohe Steine genügt (^uxpiwr laxis), und von
allen Gottheiten hatte ursprünglich die einzige Vesta ein Haus gehabt, d:e
als Personifikation des Herdfeuers nicht wohl ohne Haus gedacht werde»
konnte. Dichter, Theologen und Philosophen deuten dann die alten italischen
Götter in griechische um, schaffen künstlich eine Mythologie, von der die Väter
nichts gewußt hatten, und stiften Verwandtschaften zwischen den Göttern selbst
wie zwischen den Göttern und den Helden der ladinischen Vorzeit. Im zweiten
Jahre des Harun'ausehen Kriegs füllt die Scheidewand zwischen den all iväi-
gsws und novsusiäös; die Griechengötter werden für Staatsgötter erklärt, und
die Bildnisse der unter dem Namen all oonssutös zu einer neuen Genossen-
schaft vereinigten Staatsgötter auf dem Forum aufgestellt. Der Kultus wird
ganz hellenisiert, und die Vermischung von Altem und Neuem, die Verdunklung
des Alten wird so arg, daß sich Varro genötigt sieht, die all vsrti von den
iuv6rei8 zu unterscheiden. Seit der Unterwerfung des Ostens dringt der Schwarm
der Barbarengötter in Rom ein. Deren savrk xgisKi-og. bleiben zunächst, wie
vordem die griechischen, auf die Vorstädte beschränkt. Erst Caracalla, der den
Unterschied zwischen oivss Romani und psrö^riui aufhebt, nimmt die Isis
unter die Staatsgötter auf und öffnet allen fremden Göttern die Stadtgrenze.
Vorher hatte schon eine neue Art von Gottheiten alle alten und neuen, ein¬
heimischen und fremden Götter in Schatten gestellt: die Kaisergötter.
Schon Cäsar hatte eine Kultnsreform geplant. Augustus legte, wie alle
Augen Monarchen, auf die Religion sehr großes Gewicht und verwandte viel
Arbeit darauf, das verfallende Religionswesen zu reorganisieren. Er stellte
verschollene Priesterkollegien wieder her. trat samt seinen vornehmsten Dienern
in sie ein. ließ schadhafte Tempel restaurieren, die abgebrannten und einge¬
fallenen neu aufbauen und vernahm es gern, daß er als tgmxloruui mrmium
eouäitor rsstiwtor gefeiert wurde. Er erhob den Kult des Apollo, dem
er seine Siege zu verdanken glaubte, über den aller andern Götter und knüpfte
überhaupt mit seinen Reformen mehr an die griechischen als an die einheimischen
Kulte an. Den uralten Kult der Vesta zwar bewahrte er, aber er machte
aus dem Staatsherd den .Herd des Mischen Hauses. Er weihte einen neuen
Vestatempel auf dem Palatin, verband ihn mit dem kaiserlichen Palaste, und
da aus dessen andrer Seite der neue prachtvolle Apollotempel stand, so thronte
nun der Kaiser zwischen der alten Herrin des Staatsherds und dein göttlichen
Schirmherrn der Dynastie. Wie denn überhaupt, bemerkt Wissowa, in seinen
Bauten die Absicht hervortritt, die Gedanken der Bürger von den Örtlichkeiten
loszulösen, mit denen die republikanischen Erinnerungen verknüpft waren, und
"n die Denkmäler der neuen Ära zu fesseln. Im Jahre 12 v. Chr. über¬
nahm er die Würde des Pontifex Maximus und hatte also seitdem von Amts
wegen die Oberaufsicht über das ganze Religionswesen. Das Amt des Flamen
Dialis war wegen der damit verbundnen lästigen Verpflichtungen sehr un¬
beliebt und deshalb fünfzehn Jahre lang unbesetzt geblieben; den Bemühungen
des Kaisers gelang es, wieder einen Mann dafür zu finden. Auch zu Vesta-
Unnen mochten vornehme Familien ihre Töchter nicht mehr hingeben. Augustus
lockte sie durch Erhöhung der Ehrenrechte der heiligen Jungfrauen und versicherte
Zierlich und öffentlich, er würde gern eine seiner Enkelinnen für diesen Dienst
bestimmen, wenn sie nur das vorgeschriebne Alter Hütten. Der Kultus des
honos ^uA'uM und der alvi irnvsrgtorss krönt das Reformwerk: die alte
römische Staatsreligion ist wieder erstanden als Hofreligion, Innere Folge¬
richtigkeit kann man dieser Umbildung nicht absprechen. Da die römische
Staatsgottheit im Grunde genommen nichts andres gewesen war als der
Asmus, der Geist des römischen Gemeinwesens, so mußte der Genius des
Kaisers als höchster Gott gelten, seitdem der Staat im Kaiser ausging.
Die Geschichte der römischen Religion wird im ersten Teile des Werkes
erzählt. Der zweite ist den einzelnen Göttern gewidmet. Wir greifen daraus
einiges heraus, was besonders charakteristisch für das römische Religionswesen
ist oder umlaufende irrige Vorstellungen berichtigt, oil inäigetss waren:
Jeans, Juppiter, Juno, Mars, Quirinus, Vesta, die Penaten, die Laren, der
Genius, die landwirtschaftlichen Götter, Consus und Ops, Sciturnus und Lua,
Faunus, Fauna und Silvanus, einige Wassergottheiten, Voleanus und Maja,
einige Unterweltsgötter. Die den Römern allereigenste Gottheit ist Janus.
Gleichviel, welche Götter bei einer Opferhandlung angerufen wurden, Janus
mußte die Reihe eröffnen, und Vesta (deren Natur und Kult so bekannt sind,
daß wir nichts darüber zu sagen brauchen) mußte sie schließen. Janus charak¬
terisiert das ganze römische Religionswesen, denn er ist nichts andres als die
vergöttlichte Thür; seine beiden Gesichter sind die Innen- und die Außenseite
der Thür, und man verehrt ihn, um sich einen glücklichen Eingang und Aus¬
gang zu sichern, woran sich dann ganz ungezwungen die Vorstellung knüpft,
daß der glückliche Anfang jedes Unternehmens, jedes Zeitabschnitts von ihm
abhängt. Als Beherrscher des Tagesanfangs wird er niatuUnus genannt,
und als Göttin des Frühlichts gesellt man ihm eine Natsr Ng.wo zu, die
bei der Geburt den Menschen ins Licht des Daseins geleitet. Juppiter ist das
personifizierte Himmelslicht. Die Idus, das sind die Vollmondstage, sind ihm
heilig, weil an ihnen der Himmel Tag und Nacht ununterbrochen beleuchtet
ist. Nur weiße Tiere bringt man ihm zum Opfer. Die Winzerfeste werden
ihm zu Ehre» gefeiert, denn unter allen Früchte,: bedarf der Wein am meisten
des Sonnenlichts. Auf dem Kapitol, wo er mit Mars und Quirinus, später
mit Juno und Minerva residiert, heißt er auch ^npxitcsr laxis, weil hier als
sein Symbol ein Feuerstein bewahrt wird, den man für einen Donnerkeil hält,
und tsrötrius als Überwinder der Feinde, dem die svolig. oxima dargebracht
werden. Von seinen durch Beinamen angedeuteten Funktionen Splittern sich
viele ab und werden selbständige Gottheiten, wie Fides und Terminus; ur¬
sprünglich ist es Juppiter, der dafür zu sorgen hat, daß die Nachbarn die Ver¬
träge treu beobachten und die Grenzsteine nicht verrücken. Wenn der kapito¬
linische Juppiter oxtimus niaxiirms genannt wird, so ist damit nicht gemeint, daß
er der beste und größte aller Götter, sondern nur, daß er der beste und größte
aller .lovizs ist, die in Rom und außerhalb Roms Knltstätten haben. Jede
Gottheit nämlich vervielfältigt sich nach Maßgabe der Zahl der Tempel, die
ihr geweiht werden. Juno, das ist Jovino, ist die weibliche Seite Juppiters,
die Personifiziernng des Frauenlebens, Juppiter selbst, sofern er von Frauen
verehrt wird. Ihren Dienst versieht die Gattin des Juppiterpriesters, des
Flamen Dialis, und die Matronen feiern ihre Feste. Als Schützerin der Ge¬
burten heißt sie Lucina, und wie jeder Mann seinen Genius hat (mau müßte
eigentlich erwarten: seinen Juppiter), so hat jede Frau ihre Juno. Der Kriegs-
gott Mars hatte seinen Altar auf dem Marsfelde; hier wurde ihm aller fünf
Jahre bei der feierlichen Weihung der durch den Census neu konstituierten
Gemeinde geopfert. Die Lustration bestand darin, daß die Opfertiere um die
versammelte Gemeinde herumgeführt wurden. Ein ähnlicher Umzug wurde am
2. Februar um die Stadt und im Mai um die Feldmark gehalten. Im Mürz
werden dem Mars Feste gefeiert, weil da die Kriegszuge beginnen, und im
Oktober wiederum nach Schluß der Kampagne. Am 17. März führen die
Salier ihren Waffentanz auf. Wenn die Arvalbrüder beim Maifeste ihr Lied
an Mars richten, so darf daraus nicht geschlossen werden, daß er ein Gott
der Landwirtschaft gewesen sei, und daß mau ihn gebeten habe, die Feldfrüchte
zu segnen; die Landleute richteten uur die Bitte an ihn, er möge Kriegsnot
und Verwüstung von ihren Ackern fern halten. Die Oktoberfeier wird mit
einem Pferderennen begangen; das siegreiche Pferd opfert der Flamen Mar-
tialis dem Gotte zum'Dank für den glücklich beendigten Feldzug und zur
Sühne für das vergossene Blut. Außer dem Streitroß sind Tiere des Mars
der reißende Wolf, der kriegerische Specht und der Ackerstier, dieser als Symbol
der den Eroberungszug beschließenden Kolonisation.
„Wenn eine Gemeinde es für nötig hält, in schweren Zeitläuften den
ganzen Ertrag der Ernte eines Frühjahrs den Göttern zu weihen und die in
diesem Frühjahr geborne junge Mannschaft als vör saoruiu aus der Gemeinde
ausstößt, so ist es Mars, der diese Heimatlosen, die sich nun durch Kampf
eine neue Existenz gründen müssen, schützt und durch seine heiligen Tiere zu
neuen Stätten führt. So nannten sich die Hirpiuer nach dem Wolf, die
Picentiner nach dem Specht, und die Samniten tauften ihre Hauptstadt nach
dem Stier, der ihnen vorangegangen war, Bvvicnmm" Weil das imxvrwm
nüUtMiz nur außerhalb des Pomeriums gilt, so liegen auch die Heiligtümer
des Mars draußen. Mit dem Marskult waren eine Göttin Nerio und andre
später in Vergessenheit geratne Gottheiten verbunden, deren Namen und Be¬
deutung dunkel geblieben sind; Venus ist ihm erst beigegeben worden, als die
Jtaliter in ihrer Blütengöttin die griechische Aphrodite zu erkennen glaubten.
Nach dem römischen Brauch, sowohl die Eigenschaften wie die Gaben eines
Gottes zu personifizieren und neue Götter daraus zu machen, wurden vou
Mars Pavor und Pallor, die zitternde Angst und der bleiche Schrecken, dann
Houos und Virtus, die Ehre und die Mannhaftigkeit losgelöst. Wissowa
hält auch den Quirinus, dessen Name ja die adjektivische Form zeigt und
wahrscheinlich ein Beiname des Mars gewesen ist, für einen Splitter von
diesem Gott. Wie man im letzten Jahrhundert der Republik dazu gekommen
^> ihn für den Stadtgründer Romulus zu halten, den Numa zum Gott er¬
hoben und unter dem Namen Quirinus zu verehre« geboten habe, läßt sich
nicht ermitteln.
Die Penaten werden immer <Zi?sinds8, nie schlechtweg?sind>s8 genannt.
Daraus folgt, daß der Name nicht Eigenname, sondern Gattungsname ist wie
6i iucliMws, ecmsviitss, ÄArsstss. Es sind die Götter, die den psnus, den
Vorrat, also den Wohlstand des Hauses bewachen, die Schutzgötter der Wirt-
schaft, cZi kÄiniliÄrss. Anfänglich hat man an keine bestimmten Gottheiten ge¬
dacht, später scheint sich jedes Haus seine Schutzgötter gewählt zu haben. In
den Küchen zu Pompeji sieht man zwischen den beiden Laren verschiedne Götter¬
gesellschaften: Vesta, Juppiter, Venus (die Stadtgöttin von Pompeji), Vulkan,
Merkur, Fortuna in wechselnden Kombinationen. Wie der Staat eine Vest»
pudliczÄ hat, so auch I)i xgimws xudlivi. Wahrscheinlich wurden sie im Hause
der Vesta, am Staatsherd, verehrt. Der Bemutcneid wurde bei Juppiter und
den al pWAtkiZ geschworen, „was nur verständlich ist, wenn der Ausdruck sämt¬
liche für Wohlstand und Wohlcrgehn der Gemeinde Verantwortlicher Götter be¬
zeichnet." Zuweilen werden die Penciten ostöri al omnss iinmorrÄss genannt.
Einen solchen zusammenfassenden Ausdruck brauchte man, nicht allein, weil alle
Götter einzeln zu nennen umständlich und zeitraubend gewesen wäre, sondern
auch, weil man sich dadurch der Gefahr ausgesetzt hätte, eine oder einige Gott¬
heiten, die an Rom Interesse nahmen, zu übergehn und dadurch zu beleidigen;
man Wichte eben gar nicht genau, welches diese Gottheiten seien; ja man wußte
überhaupt nicht, wie viel göttliche Wesen es gebe, und wie sie alle hießen. In
den letzten Zeiten wurden die griechischen Dioskuren so beliebt, daß man sie
vorzugsweise zu Penaten wählte.
Der I^g,r lÄnüliaris ist vom Lande in die Stadt übergesiedelt. Er hatte
ursprünglich seine Kapelle an jedem voinxituw, das heißt an jedem Kreuzweg
und an der Stelle, wo die Grundstücke mehrerer Besitzer zusammenstießen. Die
Kapelle hatte so viel Eingänge, als Besitzungen bei ihr grenzten, und vor jedem
Eingang, fünfzehn Fuß davon entfernt, stand ein Altar, sodaß jeder Anlieger
auf seinem Grund und Boden dem Lar opfern konnte. Die Compitalia oder
Laralia vereinigten im Januar die Gaugeuosseu zu einem fröhlichen Volksfest,
das der lÄmills., den Sklaven, ähnliche Vorrechte gewahrte wie die Saturnnlien-
feier. Im Namen des Hausstands opferte der Vogt (Villicus), was sonst Un
freien niemals erlaubt war. Aus einem i^ri, oustos wurde der Lar zum Be¬
schützer des Hauses und wurde am häuslichen Herde verehrt, wiederum besonders
vom Gesinde, das an langen Tischen in der Nähe des Herdes seine Mahlzeiten
einnahm und dem Lar seinen Anteil davon spendete; die Villiea hatte den Herd
zu bekränzen und das Gebet an den Lar zu verrichten. Bei jedem Familien-
ereignisse wird dem Lar eine besondre Huldigung dargebracht; man behandelt
diesen Hausgeist als einen Familienvater höherer Potenz. Der ländliche Kult
der Iiarss eonixitglös fand bald Eingang in die Stadt, wo zur Feier der Kom-
pitalien Vezirksvereine aus Freigelassenen und Sklaven entstanden. Diese
Vereine wurden von den Parteiführern zu politischen Zwecken mißbraucht, darum
zweimal, das zweite mal von Cäsar aufgehoben. Augustus stellte sie wieder
her und machte die voinxiw zu Stükken des Kaiserkultus. An jedem Kompitum
wurden zwei I^rss ^.uZusti und dazwischen der Genius des Kaisers aufgestellt.
Die römischen Theologen haben allerlei Bedeutungen der Laren ausgetüftelt,
deren keine stichhaltig ist; auch Varro hat sich geirrt, der in ihnen die Manen,
die vergöttlichten Seelen der Verstorbnen sieht. Die Laren sind nichts als
Schutzgeister der Ackerflur und des Hauses, darum Lokalgötter und an den Ort
gebunden. Der Lar ist also durchaus verschieden vom Genius, der der Schutz¬
geist einer Person oder vielmehr die Idee dieser Person oder einer ihrer Eigen-
schaften ist, ihr höherer, göttlicher Teil. Das Wort hängt mit K^mers zusammen
und bedeutet zunächst die den Fortbestand des Geschlechts verbürgende Zeugungs¬
kraft; deshalb hat nur jeder Mann einen Genius, die Frau, wie schon bemerkt
wurde, eine Juno. Die Idee erweiternd denkt man sich dann unter Genius
die gesamte Persönlichkeit des Mannes mit ihrer Energie und ihren höhern
Anlagen. Die Schlange ist das Symbol des Genius; der Tod der Hausschlange
kündigt deu Tod des Hausherrn an. Am Geburtstage des Hausherrn wird
seinem Genius geopfert" Da der Hausherr der eigentliche Schützer des Hauses
ist. so gilt auch sein Genius als Schutzgeist des Hauses und gesellt sich nut
diesem Amte dem Laren gewissermaßen als Bruder zu. So wird er ans dem
Genius der Person ein Asnins loci, und die schrankenlose Götterfabrikatiou.
die von jedem Punkt aus zu jeder Art von Göttergestalten gelangt, schafft
Genien des Kollegs, der Legion, der Schule, des Markes. Das Wort wird
zuletzt gleichbedeutend mit nnwkQ, das die überall wirksamen göttlichen Kräfte
Milz allgemein bezeichnet. Natürlich bekommen auch die Stadt Rom und das
römische'Volk ihren Genius, und zuguderletzt hat auch jede Gottheit ihren
Genius oder ihre Juno.
Saturn war ursprünglich, wie sein Name besagt: Santgott. Die Hellem-
sierung hat seinen ursprünglichen Charakter früh verwischt. Warum man ihn
gerade mit Kronos identifiziert hat, gesteht der Verfasser nicht zu wissen.
Faunus ist der Hirtengott, der die animalische Fruchtbarkeit verleiht. Das
zeigen deutlich die zu seinen Ehren gefeierten Luperkalieu, an denen die mit
nichts als einem um die .Hüften geschlungneu Ziegeufell bekleideten luxerm
ihren Umzug halten und die sich ihnen entgegenstellenden Frauen mit Lederriemen
schlagen, um ihnen zu Kindersegen zu verhelfen. Das Bocksgewand der Luperci
war Ursache, daß man sich den Faunus selbst bocksbeinig und gehörnt vor¬
stellte. Darum hat man ihn mit Pan und mit den Satyrn verwechselt und
^"-'n einer Mehrheit von Faunen gesprochen, obgleich der Gott ursprünglich nnr
einer gewesen ist. Minerva gehört zu den cU novsnsilös italischer Herkunft;
ihr Kult ist aus Falerii eingeführt worden. Sie wurde als Beschützerin des
Handwerks und der gewerblichen Kunstfertigkeit verehrt, und die Handwerker¬
gilden sahen in ihr ihre Patronin. Wurde einer Genossenschaft erlaubt, im
Minervatempel Versammlungen abzuhalten, so waren ihr damit die Korporations¬
rechte verliehen. Götter der Unterwelt verehrten die Römer, wie jedermann
aus der Selbstaufopferung des Curtius weiß, aber sie hatten, wie überhaupt
keine Mythologie, so auch keine eigne Vorstellung vom Totenreich. Die Ge¬
spenster: Lemuren und Larven, gehörten dem Volksaberglauben, nicht der
Stciatsreligivn an. Die Götter der Unterwelt werden <U eng.v<ZL genannt.
Erst in der Kaiserzeit fing man an, unter den Manen Seelen von Verstorbnen
zu verstehn. „Bon dieser, dem ursprünglichen römischen Glauben fremden Auf¬
fassung geht die gelehrte Spekulation aus, wenn sie die al nao.es acht nur
""t den I6ivnr68 und larvao, sondern auch mit den lares und ZMii zusammen¬
wirft und eine Theorie aufstellt, nach der das Wort löinurss den Zustand der
Seelen unmittelbar nach dem Tode bezeichnet, während sie später, je nach ehren
vorleben und der Fürsorge, die ihnen die Überlebenden angedeihen lassen,
sich einerseits zu gütigen w-of iwnilw-W, andrerseits zu feindseligen w'pac
differenzieren oder aber, wenn ihre Stellung unentschieden bleibt, den Namen
6i rnuss führen."
Auch Schicksalsgöttinnen haben die Römer nicht gehabt. Ihre Fortuna
war ursprünglich eine ländliche Göttin des Erntesegens, bedeutete später den
blinden Zufall und spaltete sich in eine Unzahl von Fortuueu, sodaß zuletzt
jeder Tag seine eigne Fortuna hatte. .Kapellen und Altäre sind geweiht worden
der ?orwug, borg., Hortung, mala, Hortung, ckubig., ?orwua> brevis, ?orlmM
8eg.bills, I^ortrma obsövjusns, Fortuna rsspioisus, I'ort.v.ir» xriblioa, ?0rwini
private, Vortun^ barbatg.. Besonders berühmt wurde die Fortuna rsärix, der
man die Rückkehr des Augustus aus den: Partherfeldzuge 19 v. Chr. zu ver-
danken glaubte. Man errichtete ihr einen Altar und setzte einen Festtag, die
Augustalia, ein, der mit Spielen zu Ehren des Kaisers und der ?ortum»
rsänx begangen wurde. Die ?-iron, deren Namen man fälschlich von xar3
abgeleitet und die man deshalb mit der griechischen Moira identifiziert hat,
war nur eine Geburtsgöttin, das Fatum aber ist ein philosophischer Begriff
und der Religion fremd geblieben.
Dem Augustinus haben wir es bei einer frühern Gelegenheit übel ge-
nommen, daß er seine Darstellung der römischen Religion mit der Beschreibung
des Knies der uurömischen Göttermutter beginnt. Nach dein, was wir bei
Wisfowa lesen, scheinen wir dem großen Kirchenvater Unrecht gethan zu haben-
Die orientalischen Kulte hatten in der Kaiserzeit die Verehrung der alten
römischen Götter dermaßen in den Hintergrund gedrängt, daß der .Kampf des
Christentums gegen das Heidentum thatsächlich ein Kampf gegen den Isis-,
Cybcle- und Mithrnslnlt war. Daher kommt es, daß die Kirchenväter die
alten griechischen und römischen Götter nur sozusagen akademisch: „mit euhemc-
ristischer Ausdeutung und Überlegnein Spott," die sg-vrg, xsröArina, aber mit
Erbitterung bekämpfen. Daraus erklärt es sich wohl auch, daß Augustinus
mit dem anfing, was ihm als das praktisch wichtigste erschien; er hatte es
eben nicht so sehr mit der Religion des Numa als mit dem Heidentum seiner
Zeit zu thun.
(Schluß folgt)
me der größten wirtschaftlichen Errungenschaften der Kulturvölker
im verflossenen Jahrhundert ist die praktische Ausgestaltung und
die in ihrem Umfang einzig dastehende Entwicklung des ge¬
samten Versicherungswesens. Reichen auch die Anfänge dieser
Einrichtungen bis in das Mittelalter zurück, so hat sich doch
erst im neunzehnten Jahrhundert die Versicherung aus dem tastenden Experi¬
mentieren zu einer auf wissenschaftlicher Grundlage ruhenden Einrichtung ent-
Wickelt und sich in noch nicht hundert Jahren eine Stellung errungen, die sie
zu einem wesentlichen Hilfsmittel in dem Wirtschaftsleben der Kulturvölker
macht. Vor allem gilt das von dem Zweige des Versicherungswesens, der
einen Ersatz des wirtschaftlichen Schadens erstrebt, den der Tod eines Menschen
verursacht, nämlich von der Lebensversicherung,
Die Entwicklung und die Verbreitung der Lebensversicherung im ver¬
flossenen Jahrhundert wurde besonders durch zwei Umstände gefördert. Der erste
war der mit dem Kulturfortschritt, dem steigenden Wert der Arbeit, der erhöhten
Lebenshaltung und den wachsenden Bedürfnissen in gleichem Maße zunehmende
wirtschaftliche Wert der Arbeitskraft und des Lebens, der das Bedürfnis
uach der Lebensversicherung schuf und immer fühlbarer machte; der zweite
our die Entwicklung der statistisch-mathematischen Wissenschaften, die die tech-
mschcn Grundlagen legten, aus denen sich erst der Bau der Lebensversicherung
gesichert und gefestigt erheben konnte.
Die Anfänge der eigentlichen Lebensversicherung auf Grund von freilich
noch ziemlich unvollkommenen Sterblichkeitstabellen reichen ins achtzehnte Jahr¬
hundert zurück, wo in England schon einige Gesellschaften entstanden. Um die
Jahrhundertwende, nach der Revolution, folgte Frankreich dein englischen
Beispiel. Dagegen dauerte es in Deutschland bis zum zweiten Viertel des
neunzehnten Jahrhunderts, ehe die Lebensversicherung festen Fuß fassen konnte,
^le hat sich jedoch in der Folgezeit lind besonders gegen das Ende des
Jahrhunderts in unserm Vaterland in einer Weise entwickelt und heute eine
Stellung erreicht, die — was wirtschaftlichen Wert, Solidität und Sicherheit
anlangt — das Ausland weit hinter sich lassen. Während das Jahr 1830
Wer eb-M erst entstandne deutsche Lebensversicherungsgesellschaften mit einem
^ersicherungsbcstande von zusammen zwölf Millionen Mark ausweist, finden
^ ^ren um die Mitte des Jahrhunderts schon zehn mit einem versicherten
Spital voll 143 Millionen. Im Jahre 1875 war ihre Zahl ans 37, ihr
^ersicherangsbestand ans mehr als anderthalb Milliarden gestiegen, und der
^"hresschlnß 1901 zeigt 45 Anstalten mit einer auf das menschliche Leben
^'sicherten Gesamtsumme von 8,1 Milliarden Mark und einem Vermögen von
Milliarden Mark.
Mit diesem äußern Wachstum an Umfang und Bedeutung haben auch die
innere Entwicklung der Lebensversicherung, die den Bedürfnissen des Lebens
^gepaßte Ausbildung der Versicherungsarten und die liberale Gestaltung der
^ ^^lcheruugsbcdingnngen gleichen Schritt gehalten. Zur ursprünglichen Form
^' reinen Todesfallvcrsicherung ist die alternative oder abgekürzte Versicherung
^kommen, bei der die versicherte Summe schon bei Lebzeiten des Versicherten
^ einem vorher bestimmten Alter ausgezahlt wird, bei früheren Tode aber
wfort den Hinterbliebnen zufällt. Diese Versicherungsform hat die Ziele und
w Praktische Verwendbarkeit der Lebensversicherung sehr erweitert. Abgesehen
wil dem Zwecke der Versorgung der Hinterbliebnen ist die Lebensversicherung
Dadurch befähigt worden, an der Lösung eines immer brennender werdenden
^^^wirtschaftlichen Problems mitzuarbeiten, nämlich an der Altersversicherung
gewerblichen, industriellen und landwirtschaftlichen Mittelstandes, dessen
Angehörige, solange sie arbeitsfähig sind, zwar el» hinreichendes Auskommen
haben, aber in der Regel nicht dazu kommen, fiir die Versorgung ihrer alten
Tage einen genügenden Sparpfennig zurückzulegen. Für solche ist die alter¬
native Lebensversicherung eine vorzügliche Spareinrichtnng, die infolge des
mit den Prämienzahlungen verbundnen Sparzwangs ihre eine Aufgabe der
Altersversorgung sicher löst, andernfalls aber, wenn der Versicherte vorzeitig
stirbt, seiue Hinterbliebuen vor Not und Armut bewahrt. So verbindet die
alternative Versicherung in glücklicher Weise die Vorsorge für das eigne Alter
mit der für die Zukunft der Familie und läßt dabei, was besonders wertvoll
ist, jedem in der Frage, ob das zufallende Kapital zinstragend angelegt oder
zum Ankauf einer Rente oder sonstwie verwandt werden soll, völlig freie
Hand.
Es ist deshalb auch nur ein Beweis für die zunehmende wirtschaftliche
Einsicht des Publikums, wem, es die alternative Versicherung vor der reinen
Todesfallversicherung immer mehr bevorzugt. Bei den deutschen Gesellschaften,
deren Rechenschaftsberichte Vergleiche zulassen, fielen im Jahre 1899 von dein
gesamten Bestände in der eigentlichen Lebensversicherung, reine Todesfall- und
alternative Versicherung zusammen, 62 Prozent auf die letzte. Im Jahre
1900 betrug dieses Verhältnis 63,5 und 1901 65,4 Prozent. Im Jahre 1901
ist der Bestand an lebenslänglichen Versicherungen bei den obigen Gesellschaften
um rund 20 Millionen Mark zurückgegangen, während sich das alternativ ver^
sicherte Kapital um 277 Millionen Mark erhöht hat und am Jahresschluß die
stattliche Summe von mehr als vier Milliarden Mark erreichte.
Ebenso wie die lebenslängliche Todesfallversichernng ist auch die Aus¬
steuer- und Erlebeusfallversicheruug durch die alternative Versichern»gsform
zurückgedrängt worden. Denn auch die Zwecke der Aussteuerversicheruug kann
man durch die abgekürzte Versicherung erreichen, und zwar auf eine weit prak¬
tischere Weise als durch die erste. Anstatt ein Kind zu versichern, dann ihm
in einen: bestimmten Alter, etwa im zwa»zigsten Jahre, ein Kapital für de»
Militärdienst, zu Studien-, Aussteuer- oder sonstige» Zwecken zur Verfügung
stehe, ist es wirtschaftlich viel wertvoller, wen» sich der Vater für diesen Zeit¬
punkt alternativ versichert. Denn stirbt er, bevor das Kind zwanzig Jahre
alt ist, so leistet die Aussteuerversichcruiig für die Familie zunächst nichts, be¬
lastet sie vielmehr durch die in der Regel uoch weiter zu leistenden Prämien¬
zahlungen; dagegen wird bei der alternativen Versicher»»g das Kapital beim
vorzeitige» Tode des versicherten Vaters sofort fällig und kann entweder zins¬
tragend angelegt und für den ursprünglich beabsichtigten Zweck aufgespart oder
aber, was in diesem Falle meist »otwe»diger ist, ganz oder teilweise sofort
für die Versorgung der des Ernährers beraubten Familie verwandt werden.
Es ist darum nur el» Beispiel für die alte Wahrheit, das; das Bessere des
Guten Feind ist, wenn die Erlebeusfallversicheru»g heute sozusagen ans den
Aussterbeetat gesetzt ist. Eine Vermehrung ihres Bestandes hat sie ii» letzten
Jahre schon nicht mehr erreicht.
Eine primitive Form der Lebensversicherung ist die sogenannte Sterbc-
kassenversicherung, die noch vou einer Reihe deutscher Lebensversicherung^-
gesellschaften, hauptsächlich aber von einer Unmenge von Sterbelassen und
kleinen Vereinen betrieben wird. Falls diese Kassen ans solider vcrsichernngs-
technischer Grundlage beruhen, können sie für die N'utzbarmachung des Lebens
versichcrnngsgcdaukeus in den untern Volkskreisen wertvolle Dienste leisten.
Leider aber läßt die Sicherheit dieser Kassen in der Regel viel zu wünschen
"brig, besonders der Kassen — und das sind hente noch die meisten —, die
auf dem technisch völlig unzureichenden Umlagevcrfahren beruhen. Eine ein¬
fache Überlegung zeigt, und die Erfahrung beweist es, daß diese Kassen, wenn
das Durchschnittsalter ihrer Mitglieder und damit die Sterblichkeit zunimmt,
entweder immer höhere Beiträge erheben oder in ZahlungsschN'ierigkeiten
kommen müssen. Da in diesem Stadium natürlich auch der Zugang von neuen
Mitgliedern nachläßt, verschlimmert sich die Situation nur um so mehr, und
ein Ende mit Schrecken, die Auflösung, ist unausbleiblich. Zahlreiche sterbe--
lassen siud schou vou diesem Schicksal ereilt worden; aber immer wieder werden
neue gegründet. Eine Reform anf diesem Gebiete thut im Interesse des Pu¬
blikums dringend not, und man kaun nur wünschen, daß diese Reform unter
der Wirkung des neuen Ncichsgesetzes über die privaten Versicherungsunter-
»ehmuugen vom 12. Mai 1901 allmählich in die Wege geleitet wird.
Noch ein Nebenzweig der Lebensversicherung, die sogenannte Voltsversiche-
ning. muß hier erwähnt werden, die sich bis vor mehreren Jahren eines rapiden
Wachstums erfreute, nun aber offenbar den Höhepunkt ihrer Entwicklung über¬
schritten hat. Wie die Sterbelassenversichernng hat sie mich den Zweck, den,
kleinen Manne, der die Prämie für eine höhere Summe in der regulären
Lebensversicherung nicht zu bestreikn vermag, die Möglichkeit zu bieten, mit
M'em geringern Betrage für die Zukunft seiner Familie zu sorgen. Aber
zur Erreichung dieses Zweckes verbraucht die Volksversicherung zur Zeit
'was ungefähr ein Viertel ihrer Einnahmen allein für die Bestreitung der
^rgauisntious- und Aeguisitiouslosteu. Das ist eine Verteuerung, die den
Nutze» der Versicherung zu einem großen Teile wieder aufhebt; in der Höhe
der Berwaltungstosten dürfte deshalb auch wohl der Hauptgrund dafür zu
suchen fein, daß sich nach einem plötzlichen raschen Aufschwung die Entwicklung
der Volksversicheruug wieder ebenso rasch verlangsamt hat.
Kommen nur nun »ach dieser kurzen Übersicht über die geschichtliche Ent¬
wicklung der Lebensversicherung, ihre verschiednen Arten und deren Bedeutung
z» deu Ergebnissen, die unsre 45 deutscheu Lebensversicherungsgesellschaften
"n Jahre 1901 erzielte». Die Bewegung in dein Bestände dieser Anstalten
veranschaulicht die folgende kleine Tabelle, und zwar sowohl für das Gesamt-
gebiet der Lebensversicherung einschließlich Aussteuer-, Sterbelassen- und Volks-
^rsicheruug, wie besonders für den Hauptzweig, die Todesfallversicherung
(lebenslängliche und alternative Versicherung zusammen).
In der Todesfallversichernng ist der Bruttozugang (das neu versicherte
Kapital) gegen das Vorjahr um nicht ganz 7^ Millionen Mark gestiegen;
aber ebenso hat sich auch der Gesamtabgang um knapp 18 Millionen ver¬
mehrt, sodaß der Reinzuwachs einen Rückgang von rund 10^ Millionen Mark
aufweist. Schon seit mehreren Jahren ist der reine Zuwachs der deutschen
Lebensversicherungsgesellschaften im Sinken begriffen. Im Berichtsjahre hat
sich aber die Abwärtsbewegung stark verlangsamt; der Abnahme von 10^ Mil¬
lionen im Jahre 1901 ging eine solche von 22 Millionen im Jahre 1900
voraus. Bei einer Reihe von Gesellschaften kann man schon wieder eine kleine
Steigerung des Ncinzuwachses verzeichnen.
Bei dem Abgang in der Todesfallversicherung fällt der hohe Betrag der
vorzeitigen Aufgabe von Versicherungen auf. Darunter versteht man den Ab¬
gang durch Unterlassung der Prämienzahlung, durch Rücklauf oder Reduktion
der Versicherung sowie auch den Betrag der beantragten und ausgestellten aber
nicht eingelösten und deshalb noch gar nicht in Kraft getretenen Policen.
Die letzten sind ein großer Teil des gesamten vorzeitigen Abgangs und
müßten für eine richtige Beurteilung eigentlich ausgeschieden werden. Leider
aber enthalten die Rechenschaftsberichte für eine solche genauere Statistik
nicht die nötigen Angaben. Irrig ist die hie und da herrschende Meinung,
die Gesellschaften erzielten aus den „enormen Verlusten der Versicherten" hohe
Gewinne. In Wirklichkeit sind diese zufrieden, wenn dnrch den vorzeitigen
Austritt, an den begreiflicherweise nur Gesunde denken, die Sterbeziffer ihres
Bestandes nicht ungünstig beeinflußt wird. Unter den Ursachen des vorzeitige»
Abgangs muß man vor allein die wirtschaftlichen Verhältnisse sowohl im all¬
gemeinen wie der einzelnen Versicherten nennen, dann aber auch den von Jahr
zu Jahr sich immer mehr steigernden Wettbewerb der einzelnen Gesellschaften,
der manche Anstalten zu völlig unhaltbaren Dividendenversprechnngen oder zu
der Unsitte der Provisionsabgabe an den Antragsteller verleitet. Dadurch
werden zwar Versicherte gewonnen, aber viele von ihnen kehren der Gesell¬
schaft bald wieder den Rücken, wenn sie sich in ihren Erwartungen getäuscht
finden oder ihnen Zweifel in der Sicherheit der seinerzeit gewühlten Anstalt
aufsteigen. Bei den einzelnen Gesellschaften ist der vorzeitige Abgang sehr
verschieden. Er differiert von etwa einem Prozent der im Laufe des Jahres ver¬
sichert gewesenen Summe bei verschiednen ältern Gesellschaften bis zu ungefähr
zwanzig Prozent bei einer der jüngsten; im Durchschnitt beträgt er 2,29 Pro¬
zent des im Laufe des Jahres versichert gewesenen Kapitals. Im Vergleich
mit der außerdeutschen Lebensversicherung sind die Verhältnisse in dieser Be¬
ziehung bei den deutschen Gesellschaften im ganzen genommen keineswegs un-
günstig. So giebt z, B. der letzte Jahresbericht des schweizerischen Versichernngs-
amtes über die in der Schweiz konzessionierten Versicherungsgesellschaften den
vorzeitigen Abgang der in Betracht kommenden deutschen Anstalten im Jahre
1900 mit 1/2 Prozent des mittlern Versicherungsbestandes an, dagegen den
der amerikanischen Gesellschaften im Durchschnitt mit 5,3, der französischen
"ut 4,4 und der englischen mit 3,8 Prozent.
Die finanziellen Resultate der deutschen Lebensversicherung zeigen trotz
der wirtschaftliche» Krise im Jahre 1901 wie in den Vorjahren im allgemeinen
wieder ein sehr günstiges Bild. Eine Gesamtübersicht darüber bietet die fol¬
gende kleine Zusammenstellung:
Unter den Ausgaben nehmen die Zahlungen an Versicherte und die Zurück¬
stellungen an die Prämienrescrve die wichtigste Stelle ein. In der Bildung
und Bedeutung der Prämienrcserve liegt der wesentliche Unterschied der Lebens¬
versicherung von andern Versicherungsbranchen und hauptsächlich ihre Sicher¬
et. Im Gegensatz zu andern Versicherungsarten ist das Risiko der Lebens¬
versicherung durch die auf langjährigen Erfahrungen aufgebunden Sterblichkeits¬
tafeln genau bestimmt. Die nach dem sogenannten Kapitaldeckungsversahren
gebildeten, auf Grundlage der Sterbetafeln berechneten Tarifprämien bestehn
«un aus drei Teilen: 1. der Reserveprümie, die für den Versicherten selbst
aufbewahrt wird und unter Annahme eines bestimmten Zinsfußes mit Zins
"ud Zinseszins die Prämienreserve ausmacht, die zu dem versicherten.Kapital
"«Wächst, wenn der Versicherte das Fälligkeitsalter erreicht; 2. der Sterbefall-
"der Nisikoprnmie, die zur Auszahlung der Versicherungssumme an die all-
ehrlich Sterbenden rechnerisch notwendig ist, weil deren Prämienrescrve noch
'"ehe die Höhe des fälligen Kapitals erreicht hat; 3. aus einem Aufschlag zur
Deckung der Berwaltungskosten. Die Prämienrcserve bietet sonach die Sicher¬
et, daß eine Lebensversicherungsgesellschaft — normale Sterblichkeit voraus¬
gesetzt — alle in Zukunft anfallenden Versicherungssummen unter Zuhilfe¬
nahme der erwartungsmäßigen zukünftigen Prämieneinnahmen wird bestreiten
würm.
^ erwähnten Zusammensetzung der Prämie und in der Bildung der
-prämienrescrve beruht das ganze Geheimnis des Lebensversichernngsbetriebs.
^ sind damit auch unmittelbar die Gewinnqnellen der Lebensversicherung er¬
wart, nämlich: 1. der überrechnungsmäßige Zins, d. h. die Mehreinnahme um
«when, die dadurch entsteht, daß der thatsächlich erzielte Zinsfuß höher ist
als der für die Berechnung der Prämien und Prämienreserven zu Grunde ge-
legte; 2. die Ersparnis durch eine geringere Sterblichkeit, als sie nach den
Sterbetafeln zu erwarten gewesen wäre; 3, die Ersparnis an den Verwaltungs-
kosten. Das, was die Versicherten an Tarifpräinien bezahlen, abzüglich des
durch diese Gewinne und Ersparnisse erzielten Überschusses, stellt den Selbst¬
kastenpreis der Versicherung dar. Zu diesem Selbstlastenpreis kann die Lebens¬
versicherung nur von den ans reiner Gegenseitigkeit beruhenden Gesellschaften
gewährt werden. Ihre Überschüsse gehöre» sämtlich de» Versicherten, die einzig
und allein die Gesellschaft bilden, also zugleich Verhinderer und Versicherte
sind, während dagegen bei den Aktienanstalten ein Teil des Überschusses an
die Unternehmer, die Aktionäre, als Dividende verteilt wird.
Die Billigkeit einer LebensversicherungSgesellschnft hängt also — abge¬
sehen von niedrigen Tarifprämien — hauptsächlich ab vou möglichst geringen
Verwaltungskosten, einem günstigen Verlauf der Sterblichkeit und hohem Zius-
gewinn. Während dieser Zinsgewinn durch die allgeiueiueu Zinsverhältnisse
bestimmt wird und sonach bei den einzelnen Gesellschaften keine nennens¬
werten Unterschiede aufweisen kann, zeige» sich solche umsomehr in deu Ver-
waltuugskostett u»d der Sterblichkeitscrsparnis. Im Durchschnitt der dentschen
Gesellschaften betrugen die ersten im Betriebsjahr 9,1 Prozent der Jahres-
einunhmen, die letzten 8,1 Prozent der Prämieneiuuahmen. Wie die Verhält¬
nisse hierin bei den Aktien- und Gegenseitigkeitsgescllschafteu und bei deu vier
größten Anstalten einer jeden dieser Gruppen im einzelnen liegen, zeigt die
folgende Zusammenstellung, die zugleich auch deu aus den angegebnen Gewinn-
gelcgcnheiten erzielten Gesamtüberschuß im Verhältnis zur Prämicneinnahme
an giebt.-,-,>
Was die Billigkeit der Verwaltung und die günstigen Sterblichkeitsver¬
hältnisse anlangt, so wird die deutsche Lebensversicherung im allgemeinen vom
Auslande nicht erreicht; besonders unsern großen alten Anstalten kommt darin
keine fremde Gesellschaft gleich. Zum Beweise für diese Thatsache sei wieder
der Bericht des schweizerische!! Versicheruugsamtes angeführt, aus dem sich dle
Verwaltungskosten der in der Schweiz arbeitenden deutsche» Gesellschaften im
Jahre 1900 mit 6,5 Prozent der Prämien- und der Zinseneinnahmcn ergeben,
wogegen sich dieser Satz bei den amerikanischen Gesellschaften ans 18,4 Prozent,
bei den englischen auf°10,7, den schweizerischen auf 9,2 und den französischen
auf 7,4 stellt. Die in Deutschland stark arbeitende „Newyork" verbrauchte im
Jahre 1901 18,4 Prozent ihrer gesamten Jahreseinnahmen zur Deckung ihres
Vmvnltungsaufwandes. Ju Bezug auf die Sterblichtcitsverhältnisse dieser
Gesellschaft wies die „Deutsche Versicherungszeitung" kürzlich für die Jahre 1897
bis 1901 zahlenmäßig nach, daß sich die Sterbefälle im ersten Versicheruugs-
jahre bei der „Newyork" nahezu verdreifacht habe», obwohl der Vcrsichcrungs-
bestand einen Zugang von ungefähr 60 Prozent erfahren hat. Trotz ulledem
herrscht in einem Teile des deutschen Publikums noch eine große Vorliebe für
die ausländischen Lebensversicherungsgesellschaften. Teils mag daran der alte
germanische Erbfehler schuld sein, der das Beste immer nur im Auslande zu
finden glaubt, teils sind es, was die amerikanischen Anstalten angeht, die
Ausdehnung und die gewaltigen Zahlen, mit denen sie vielen deutschen Vcr-
sichcrungskandidaten imponieren. Aber gerade mit der Ausdehnung und der
Weltstellung der amerikanischen Niesengesellschafteu sind schwerwiegende Nach¬
teile verhüllten, die für die Versicherten eine Verteuerung der Versicherung
bedeuten, wie sich das auch in den angeführten Zahlen ausdrückt.
Durch das Zusammenwirken der besprochnen günstige» Gewinnquelleu
erzielten die deutschen Lebensversicherungsgesellschaften im Jahre 1901 einen
Überschuß von insgesamt 64.7 Millionen Mark. Rund 90 Prozent davon,
"änlich 58,1 Millionen wurden zur Dividendenverteilung an die Versicherte»
überwiesen.' Davon fallen 33,7 Millionen auf die Mitglieder der Gegcn-
seitigkeitsanstalten, 24,4 Millionen auf die Versicherten der Aktiengesellschaften.
Deren Aktionäre erhielte» an Dividende» 4,9 Millionen Mark, wodurch sich
bar cinbezahlte Aktienkapital mit durchschnittlich 13^ Prozent verzinste.
Am Jahresschlusse 1901 besaßen die deutschen Gesellschaften ein
Nach den Anlagewerten verteilen sich diese Fonds auf
In dieser Art der Vermögensanlegung macht sich wieder ein wesentlicher
^zug der deutscheu Lebensversicherung vor der fremdländischen geltend,
während hier der weitaus größte Teil der Aktiven in Hypotheken besteht, die
""wer „och verhältnismäßig die höchste Sicherheit bieten, herrschen bei deu
"isländischen Gesellschafte./in hohem Maße die Wertpapiere vor. Und dabei
s"'d es z. B. bei den Amerikanern noch größtenteils Eisenbahn- und Jnduswe-
pupiere. darunter auch Trustattieu. Nahezu die Hälfte des Vermögens der
amerikanischen Gesellschaften besteht in solchen Werten. Hätten die deutschen
Gesellschaften in der Unterbringung ihrer Fonds seither eine ähnliche Praxis
befolgt, dann wäre ihre finanzielle Situation in der wirtschaftlichen Krisis der
letzten zwei Jahre nicht so vorzüglich geblieben, wie es in der That der Fall
ist. Die Grundsätze, die das neue mit dein laufenden Jahre in Kraft getretne
Reichsversichernngsgesetz für die Vermögensanlegung vorschreibt, waren in der
Hauptsache für unsre guten deutschen Anstalten schon seither maßgebend. Das
Gesetz bereitet ihnen in dieser Beziehung darum keine Schwierigkeiten. Eine
Reihe ausländischer Gesellschaften freilich hat — nicht zuletzt gerade wegen
dieser im Interesse der Versicherten getroffnen Bestimmungen des Gesetzes —
schon vor dem Beginn seiner Wirkung ihre Thätigkeit in Deutschland auf¬
gegeben.
Ans unsern Darlegungen dürfte zweierlei hervorgehn, einmal die im all¬
gemeinen günstige, teilweise vorzügliche Lage und die Vertrauenswürdigkeit
unsrer deutschen Lebensversicherungsgesellschaften, besonders auch gegenüber den
ausländischen Anstalten, andrerseits die Bedeutung und der wirtschaftliche
Wert der Lebensversicherung überhaupt. Leider ist die Kenntnis und das Ver¬
ständnis für diese Wohlfahrtseinrichtung in unserm Volke noch lange nicht so
verbreitet und ihre Benutzung bei weiten: noch nicht so allgemein, wie mau
es im Interesse des wirtschaftlichen Fortschritts und der Hebung des nationalen
Wohlstandes wünschen und erstreben müßte.
>aß die Flut der Bismarcklitteratur, die bald nach den denkwür¬
digen Märztagen des Jahres 1890 begonnen hatte, nach dem
Tode des Gewaltigen noch stärker anschwellen würde, konnte man
! voraussehen; gleichwohl hat die Menge der Veröffentlichungen,
die sich seither mit Bismarcks Person und Thaten befaßt haben,
alle Voraussicht übertroffen. So manche Quelle, die sich bis
dahin aus privaten oder politischen Rücksichten verborgen gehalten hatte, drängte
nunmehr ans Licht, neben vielem Wertvollen andres von zweifelhafter Glaub¬
würdigkeit und Bedeutung. Bleibt der Strom in der bisherigen Stärke, so
wird das Studium der Bismarcklitteratur immer mehr eine Arbeit für sich,
und so sehr diese, zumal wenn eine kundige Hand sie angreift, die Forschung
fördert, so kaun man doch von dem NichtHistoriker nicht verlangen, daß er sich
durch das Labyrinth der Zweifel, die mit jeder wirklichen oder angebliche»
Enthüllung und mit jedem Fortschritt der Kritik vermehrt werden, einen Weg
suche. Ihm erregt vielmehr die ^erstaunliche Fruchtbarkeit dieser Bibliographie
eine gewisse Unlust, eine ans Übersättigung und Mißtrauen gemischte Em¬
pfindung. Muß man das im Interesse der politischen Erziehung unsers
Volkes, für das der erste Kanzler noch auf Jahrzehnte hinaus der erste Lehr¬
meister bleiben wird, bedauern, so darf sich die Wissenschaft schon aus diesem
Grunde nicht der Aufgabe entzieh», in kurzen Abständen die Ergebnisse ihrer
Arbeit in zusammenfassender und gemeinverständlicher Darstellung weitern
Kreisen zugänglich zu machen.
Erwägungen solcher Art machen das jüngste Werk von Max Lenz, seine
bei Duncker und Humblot herausgegebue Geschichte Bismarcks, zu einer will¬
kommenen Erscheinung. Es ist die fast unveränderte Sonderaufgabe eines
Artikels der Allgemeinen deutscheu Biographie, dieses Sammelwerkes, dem wir
me Lebensbeschreibung Wilhelms I. von Erich Marcks verdanken. An diese
zu erinnern liegt nahe, weil der Kaiser und sein Kanzler, wie in ihrem
Lebenswerk, so auch für die Geschichtschreibung untrennbar verbunden scheinen;
Wie ihr menschliches und persönliches Verhältnis zu einander die erste und
notwendige Voraussetzung zu den. epochemachenden Ereignissen unsrer neuern
Geschichte geworden ist, so sind sie auch an den Problemen, die ihre Zeit dem
forscher und Geschichtschreiber hinterlassen hat, fast in gleichem Maße beteiligt;
der Versuch, ihre Geschichte zu schreiben, führt beinahe auf Schritt und Tritt
bor die Frage, was an den Thaten, die uns das Reich begründet haben, des
Kaisers, was des Kanzlers gewesen sei. Wenn demnach das Buch von Lenz
einem Vergleich mit dem von Marcks auffordert, so würde man ihm doch
bei einer solchen Zusammenstellung kaum gerecht, denn die Ziele, die die beiden
forscher ihren Büchern gesteckt haben, stehn weit voneinander. Marcks hat
bor allem das Wesen und die Wandlungen der Persönlichkeit zu ergründen
gesucht und eine, wenn ich so sagen darf, innerliche, psychologische Biographie
^schaffen, mit andern Worten, er hat uns den Kaiser als Menschen geschildert,
.^"gegen hat Lenz in Bismarck weniger den Menschen, als den Staatsmann
'"s Auge gefaßt. Das verrät schon 'der Titel seines Buches. Ob er freilich
^echt gethan hat, in dem Bilde seines Helden das allgemein Menschliche hinter
°en politischen Anschauungen, Entwürfen und Thaten so sehr zurücktreten zu
N?en, ist eine Frage für sich, die hier unerörtert bleiben soll; genug, sein
^und hat, wie ich glaube, absichtlich auf einen großen Teil des psychologischen
'^'lzes, der von den Lebensbeschreibungen ungewöhnlicher Menschen auszugehn
Megt, verzichtet und wendet sich um so nachdrücklicher um das historische
Interesse und das politische Urteil seiner Leser.
^ Die starke Betonung des Politischen tritt gleich in der Einleitung hervor.
wenigen aber festen und klaren Strichen sehen wir Friedrich Wilhelm III.
und seinen Staat gezeichnet, die Ideen und die Wünsche, die sich damals,
fahrend der Kindheit und der Jngend Bismarcks, in Preußen regten, das
Allmähliche, durch keine Gewaltmittel gehemmte Anschwellen der liberalen und
^er nationalen Flut, die ratlose Vereinsamung des alternden .Königs, der sich
«'"letzt dem neuen Leben, das die Nation zu durchströmen begann, ver-
lMoß und doch mit der Ahnung, daß es mit seiner Regierungsform zu Ende
Mo, ins Grab sank. Man kennt das Urteil, das Treitschke zur Ehrenrettung
^eher so oft geschmähten Regierungsform geschrieben hat: der preußische Staat
'ave, um seine schweren Aufgaben lösen zu können, in diesen Jahren, einer
"anarchischen Diktatur bedurft, weil nur die Macht der absoluten Krone im-
Mnde gewesen sei, durch das Gestrüpp der widerstrebenden Kräfte und Ideen
nen Weg zu bahnen. Diesem Satze stellt Lenz einen andern entgegen. Es
"to sich, sagt er, nicht absehen, weshalb damals der norddeutschen Großmacht
A'e innern Verhältnisse das unmöglich gemacht haben sollten, was den kleinern
Staaten rasch lind ohne tiefgehende. Erschütterung gelungen sei. Nun kann
"an gewiß annehmen, daß einige der innerpolitischen Aufgaben, die damals
nil Preußischen Staate gestellt waren — z. B. die Gesundung des Finanz-
^eftns und die Angliederung der neuen Landesteile —, dnrch eine liberale
-Politik uicht erschwert worden wären; auch erinnert Lenz nicht ohne Grund
u" ein Wort Bismarcks, daß erst der Vereinigte Landtag des Jahres 1847
tuschen dem Osten und dem Westen der Monarchie ein lebendiges Staatsgefühl
erzeugt habe. Aber — und damit bricht diese ganze Beweisführung zu¬
sammen — die innere Politik war damals, in den Zeiten der heiligen Allianz,
in einem ganz andern Sinne mit der äußern verwachsen als heute, und jede
Konzession an die nationalen und liberalen Ideen hätte eine folgenschwere
Frontünderung nach außen heraufbeschworen. Darin liegt, mag man sonst
noch so sehr die letzten Jahre des absoluten Regiments verdammen, doch eine
starke Rechtfertigung des Widerstands, den der Staat Friedrich Wilhelms III-
ten neuen Zeitgeist entgegengesetzt hat. Weit entfernt, diesen gefährlichen
Zusammenhang zwischen der innern und der äußern Politik zu verkeimen,
macht Lenz selbst darauf aufmerksam, daß sich der Staat durch eine Änderung
der innern Politik von der Grundlage der Wiener Verträge entfernt hätte
und auf Wege gedrängt worden wäre, die zu „einem Brach mit den Mächten
des Beharrens, vor allem mit Rußland und Österreich geführt hätten. Wie
nahe lag es doch, auch hier das Zeugnis Bismarcks anzurufen, der die Lösung
der deutschen Frage „erst dann angegriffen hat, als er sicher war, Rußland
nicht an der Seite Österreichs zu finden!
„Unter der Vollgewalt der Patriarchaten Krone, die aber von schweren
Stürmen umdroht war, wuchs Junker Otto von Bismarck heran," mit diesen
Worten beginnt Lenz die biographische Zeichnung ans dem Hintergründe der po¬
litischen Zustünde. In den mannigfachen Phasen der Kindheit und der Jugend¬
zeit, die auf das Wesen der Persönlichkeit bestimmend eingewirkt haben, sind es
wieder vor allein die Elemente der politischen und der staatsmüuuischen Ent¬
wicklung, denen er nachgespürt hat. Wohl gelungen ist auch die Schilderung
der religiösen Wandlung, die in der Seele des Dreißigjährigen durch den
Verkehr in den Familien Blanckenburg und Thadden angeregt und in der
Verlobung mit Johanna von Puttkamer abgeschlossen und besiegelt wurde.
Die Frage nach dem letzten Grunde dieser für Bismarcks Leben so bedeut¬
samen Wandlung hat aus dem Briefwechsel mit der Braut und Gattin neues
Licht erhalten, und es liegt wenig Grund mehr vor, an einer restlosen Losung
dieses interessanten psychologischen Problems so zu verzweifeln, wie es vor
kurzem ein theologischer Forscher gethan hat.*) Mir selbst war es erfreulich
zu sehen, daß Lenz nach sorgfältiger Prüfung der Frage zu derselben Ver¬
mutung gelangt ist, die ich vor der Veröffentlichung der Briefe an die Braut
ausgesprochen hatte*"): daß die Trauer um eine plötzlich vom Tode dahin¬
geraffte Freundin, die von ihm verehrte Frau seines Jugendfreundes Moritz
von Blanckenburg, in Bismarcks Seele den Boden bereitet habe für die Um¬
wandlung, die sich damals in seinen religiösen Anschauungen vollzogen hat.
Lenz schildert die äußern und die innern Vorgänge, die dazu mitgewirkt haben,
in folgenden Sätzen: „Der Typhus, der damals in Pommern grassierte und
auf den Gütern der Freunde wie nnter den eignen Leuten Bismarcks in
Kniephof schwere Opfer forderte, brach auch in Trieglaff aus; am 13. August
erlag ihm der jüngste Sohn Thnddens, der von Stettin, wo er das Gym¬
nasium besuchte, krank nach Hause gebracht worden war; bei seiner Pflege
steckte sich die Mutter um, legte sich und starb im Oktober; an ihrem Bette
holte sich Frau von Blanckenburg den Keim der Krankheit, und nach schwerem
Kampf erlag auch sie der Seuche am 10. November. Diese trüben Ereignisse,
die Bismarck, der seit dem Herbst wieder in Pommern war, aufs tiefste er¬
schütterten, haben den Entschluß, der über sein Leben entschied, zur Reise ge¬
bracht. Bei der Nachricht von der tödlichen Erkrankung der geliebten Freundin
entrang sich ihm nach langen Jahren wieder das erste Gebet; ihr Tod brach,
indem er das Gefühl der Leere, an dem er längst gekränkt, in ihm verdoppelte,
die Schranken nieder, die ihn noch von dem Empfinden seiner Freunde
trennten. Es war alles in allem: tiefes Mitleid mit dem Freunde und der
eigne Schmerz, Liebe und Religion, was seine Seele füllte, in einem all¬
mächtigen, ihn ganz bezwingender Gefühl zusammenfloß und ihm den Mut gab,
die strenggläubigen Eltern um die Hand des frommen Mädchens zu bitten."
Seinen Anteil an der Bekämpfung der Revolution hat Bismarck betannt-
uch in den Gedanken und Erinnerungen mit besonderm Behagen geschildert
und im Anschluß daran die oft erörterte Frage aufgeworfen, ob es im Jahre
1848 der preußischen Krone bei festerer Haltung möglich gewesen wäre, die
deutsche Einheit zu begründen. Er scheint zwar geneigt, die Frage zu be-
laden, fügt aber, sein Ja stark einschränkend, hinzu, daß er es dahingestellt
kein lasse, ob ein solcher Verlauf nützlicher gewesen sei; denn, sagt er, eine
auf dein Straßenpflaster erkämpfte Errungenschaft wäre von andrer Art und
bon minderer Tragweite gewesen, als die später auf dem Schlachtfelde ge¬
wonnene. Die Kriege von 1866 und 1870 wären uns doch schwerlich erspart
geblieben, nachdem sich unsre im Jahre 1848 znsammengebrvchueu Nachbarn
unt Anlehnung an Paris, Wien und anderswo wieder ermutigt hätten, und
sei fraglich, ob auf dem kürzern und raschem Wege des Märzsieges von
1848 die Wirkung der Ereignisse auf die Deutschen dieselbe gewesen sein würde
wie die heute vorhandnc, die den Eindruck mache, daß die Dhnasticn reichs¬
freundlicher seien als die Fraktionen und Parteien. Die Frage, um die es
Reh hier handelt, ist mich von andrer Seite bedingungsweise bejaht worden,
nämlich für den Fall, daß Friedrich Wilhelm IV. damals Bismarck zur Führung
der preußischen Politik berufen hätte. Daß sich der König vorübergehend mit
^nein solchen Gedanken getragen hat, ist bekannt, aber mit Recht macht
^e»z darauf aufmerksam, daß der Bismarck von 1848 den Versuch zur Be¬
gründung der deutschen Einheit schwerlich mitgemacht haben würde. So lange
dre Wogen der Revolution das Staatsschiff umbrandeten, traten ihm alle
andern Aufgaben hinter der einen zurück, die Krone Preußens zu stützen und
Zu starken; in dem Kampfe für dieses Ziel waren die nationalen Einheits-
^Strebungen der Frankfurter ihm nicht allein gleichgiltig, sondern als Aus-
U»ß der demokratischen Strömung verdächtig, und er hat den Unionsgedanken
Mich dann noch als verderblich bekämpft, als sich Friedrich Wilhelm IV. nach
Ablehnung der Kaiserkrone anschickte, auf andern Wegen eine Erfüllung der
nationalen Wünsche zu versuchen.
Der Gegensatz zwischen Bismarcks damaligen Anschauungen und der
Unionspolitik des 'Königs tritt bei Lenz scharf hervor; desgleichen, der Um-
Ichwuug, der den Parteigänger Gerlachs aus einem Anhänger Österreichs
M dessen entschlossenem Gegner gemacht hat. Nur scheint es mir, daß der
Anfang dieser Bekehrung zu früh angesetzt wird, wenn man aus der Art, wie
^lsmarck in der großen Rede vom 6. September 1849 auf Friedrich den Großen
sen hat, den Schluß zieht, er habe schon damals an eine gewaltsame
Auseinandersetzung mit Österreich gedacht. Denn er hat ja noch ein ^ahr
später, im November 1850, als der preußische Patriotismus durch Österreichs
^vrgehn in Wallung geriet und auch manchem konservativen Mann'die Mine
"l'erlief, in einem Briefe an seineu Freund Wagener die „Wut auf Österreich
"ud den „deutschen Schwindel" ans dieselbe Stufe gestellt! Erst die zuscheudw
wachsende Rücksichtslosigkeit Schwarzenbergs brachte ihn emrge Wochen später
Harnisch, und der Verteidigung des Olmützer Vertrags hat " steh dau .
wie man weiß, nur mit halbem Herzen und nur aus taktischen Rücksichten
unterzogen. Auch wird man daran festhalten müssen, daß er acht nur in
Glauben an die Möglichkeit eines Zusammenwirkens nur Osterreich,
sondern anch mit dem guten Willen, selbst diesen Weg zu beschrecken, nach
Frankfurt gegangen ist; erst hier ist ihm, allerdings schon in den ersten Wochen
nach seiner Ankunft, die Erleuchtung gekommen, die seine Politik bis Nikols-
burg und, darüber hinaus, bis zum Abschluß des Bündnisses mit Österreich
geleitet hat."
Aus der „Frankfurter Lehrzeit, die durch Veröffentlichung der amtlichen
Aktenstücke und zahlreicher privater Quellen zu den bestgekannten Perioden der
neuern Geschichte gehört, verdient die Darstellung des Anteils, den Bismarck
während des Krimkriegs an der neutralen Haltung Preußens gehabt hat, Be¬
achtung, namentlich deshalb, weil Lenz hier die Summe der eindringenden
kritischen Arbeit vorlegt, die er an dem betreffenden Kapitel der Gedanken und
Erinnerungen geleistet hat. Von allgemeineren Interesse sind seine Ausführungen
über das Verhältnis Bismarcks zum Könige Wilhelm im Augenblick seiner
Berufung ins Ministerium. Mit großem Nachdruck betont Lenz, daß zwischen
dem König und dem neuen Ministerpräsidenten ein tiefer Unterschied in der
Auffassung der auswärtigen Politik bestanden habe; das Bewußtsein dieses
Unterschieds sei es vor allein gewesen, was den Monarchen so lange zurück¬
gehalten habe, dem Drängen Novus nachzugeben und den Retter in der Not
herbeizurufen. Kurz, die schweren Bedenken des Königs erscheinen ausschlie߬
lich als Wirkung eines ans die auswärtigen Verhältnisse gerichteten Kalküls.
Gegenüber dieser Auffassung, die dem unsterblichen Verdienste Wilhelms, als
er Bismarck berief, nicht ganz gerecht wird, sei auf die Darstellung von Marcks
hingewiesen, der ich auch heute noch, nach abermaliger Prüfung der Frage,
den Vorzug gebe. Die entscheidenden Sätze lauten: „Wilhelm vertrug be¬
deutende Männer und ließ Novus herbe Männlichkeit weit gewähren; aber vor
diesem Genius — Bismarck — durfte der Sohn Friedrich Wilhelms III. wohl
ein gewisses Unbehagen spüren, vor diesem Gewaltigen, dessen Naturkraft über
alles Korrekte und Überkommene so souverän hinwegsprnng, vor diesem Manne
des kalten Überlegens und der heißen Leidenschaft, des überwältigenden un¬
geheuern Willens.' Die herzliche Tiefe dieser Persönlichkeit konnte der König
noch nicht ermessen, von ihrer unbedingten Treue mochte er überzeugt sein;
aber wohin Bismarck ihn reißen könnte, davor hat ihm, so darf man ver¬
muten, im stillen gegraut. Seine eigne, vornehme, gerade Art, allem Dämo¬
nischen so ganz fremd, männlich aber milde, von jener Reinheit, die sich niemals
beflecken kann, aber eben deshalb auch nicht dazu fähig ist, im harten Zu¬
sammenstoße des Weltlichen das Große selber zu thun, das nun einmal nicht
ausgeführt werden kann ohne den Griff mich in den Ruß und in den Schmutz
diese sittlich empfindliche Natur, die überdies die eigne monarchische Würde
sehr bestimmt empfand, wurde von Bismarcks dänionischer Kraft zurückgestoßen,
sie mußte sich selber erst überwinden, ehe sie sich ihm anheimgab."
Daß der neue Minister, dessen Ernennung bekanntlich Öl in das Feuer
des innerpolitisch eil Haders goß und zunächst den Konflikt verschärfte, in den
ersten Wochen in vollem Ernst eine Versöhnung mit der Kammermehrheit
gesucht hat, giebt Lenz zu, doch deutet er um, bei einigen spätern Anlässen
habe Bismarck, um deu König an seiner Seite zu halten und von den Liberalen
zu entfernen, den Zwist geschürt, besonders in den kritischen Wochen nach dem
Beginn der Schleswig-holsteinischen Bewegung, über deren Ziel die Absichten des
Königs mit den Wünschen des liberalen Dentschlands mehr zusammentrafen,
als es Bismarck für die Interessen Preußens gut schien. Man erinnert sich
des Ingrimms, womit er die Anschauungen und Ratschläge seiner Gegner — der
„Professoren, Kreisrichter und kleinstädtischen Schwätzer," wie er spottete
als Irrtümer politischer Dilettanten abzufertigen liebte° Gegen diesen Vorwurf
nimmt Lenz die damaligen Gegner Bismarcks in Schutz: die Historie dürfe
dieses Urteil Bismarcks nicht nachsprechen, denn wenn sie es thue, wiederhole
sie ein Schlagwort, das, im Parteikampf entstanden, an sich nicht berechtigt
sei; dennoch sei es fast ein Glaubenssatz in unserm öffentlichen Leben ge-
Worden, das; die auswärtige Politik von den Strömungen des Tages und den
Stimmungen in der Nation frei erhalten werden müsse, als eine Angelegen¬
heit, die'über deu Parteien stehe und ihrer Natur nach nur von den Ein¬
geweihten, von den Männern des Fachs, beurteilt und geleitet werden dürfe.
Das Bedauern, daß es so ist, und daß an diesem Punkte die öffentliche Meinung
von Bismarck gelernt hat, kann ich nicht teilen; bis in die jüngste Vergangen¬
heit hinein hatten wir Gelegenheit, zu sehen, wie leicht in Sachen der aus-
wärtigen Politik die Instinkte der, öffentlichen Meinung in die Irre gehn,
und wie verhängnisvoll es wäre, die Entscheidung von der Stelle wegzulegen,
die init der größern Sachkunde zugleich das größere Bewußtsein der Verant¬
wortlichkeit hat. Daß Graf Bülow in den Verhandlungen über die Tarif-
Vorlage am 21. Oktober dieses Jahres die größere Sachkunde auf dem Gebiet
der auswärtigen Politik für sich in Anspruch genommen und nnerbetne Rat¬
schläge abgewiesen hat, wird ihm in den Augen besonnener Männer schwerlich
geschadet haben.
Eins der schwierigsten und interessantesten Probleme aus der diplomatische»
Aktion, die zum Kriege mit Dänemark und zur Annexion von Schleswig-Holstein
geführt hat, ist deu Lesern der Grenzboten durch eine umsichtige Untersuchung
Kaemmels bekannt geworden, nämlich die vielumstrittene Frage, ob Bismarck in
der denkwürdigen und folgenschweren Unterredung, die er um 1. Inn 1864 mit
dem Erbprinzen von Augustenburg hatte, diesem nnr eine Falle gestellt habe, oder
ob es ihm mit der Verhandlung ernst gewesen sei. Dein Urteil Kaemmels, daß alle
Anschuldignnqen der Augustenburgcr gegen Bismarck in nichts zerfallen, pflichtet
Lenz nicht bei. und wenn er auch nicht so weit geht, die Anklagen der Augusten-
l'urger als ganz begründet zu erklären, so spricht er doch der Darstellung,
die sie von dem Verlauf der Uuterredunq vom 1, Juni gegeben haben, den
größer» Qnellenwert zu; auch zeigt er. daß er dem Bericht, deu Bismarck im
Jahre 1865 über de» Hergang veröffentlicht und in den Gedanken und Er¬
innerungen mit ungewöhnlichem Nachdruck bekräftigt hat, keinen oder nur ge¬
ringen Glauben schenkt. Ohne auf die Frage selbst, die ich durch Kaemmels
Untersuchung als entschieden ansehe, weiter einzugehn, greife ich einen andern
Punkt heraus, der damit zusammenhängt und uns zeigen soll, daß sich,, das
bekannte Wort von dem überspannten Bogen mitunter auch bei kritischen Über¬
spannungen bewahrheitet. Sybel erzählt, daß sich Bismarck und Napoleon
Vor dem Beginn der Londoner Konferenz über folgendes Vorgehn verständigt
hatten: mens Forderung der Personalunion Schleswig-Holsteins mit Dänemark,
dann, nachdem dieses mittelalterliche Bastardprojekt, wie Napoleon es nannte,
abgelehnt sei, Vorschlag Augustcnburgs, zuletzt, wenn auch die Augusteuburger
Kandidatur von der Konferenz verworfen werde, die Annexion durch Preußen.
Daß man in Wien von dieser Verständigung zwischen Berlin und Paris nichts
wußte, versteht sich von selbst. Aber ebenso selbstverständlich scheint mir, daß
Bismarck, an die mit Napoleon vereinbarte Marschroute gebunden, alsbald
"ach Erreichung der ersten Etappe, das heißt, nachdem die Konferenz die
Personalunion abgelehnt hatte, das Wiener Kabinett über seine Stellung zu
dem zweiten und namentlich zu dem dritten Projekt Sortieren mußte. Das
that er in der großen Depesche vom 21. Mai, deren Wortlaut Shbel mit¬
geteilt hat. Nachdem Bismarck in der Einleitung auf deu Wert und die
Vorteile eines gemeinsamen Vorgehns der beiden deutschen Großmächte hin¬
gewiesen hat, bemerkt er, zur dynastischen Frage übergehend, daß sich die Erb¬
folge Augustenbnrqs ohne Zweifel nach Lage der Dinge „am leichtesten und
ohne Gefahr europäischer Komplikationen" verwirklichen lasse; aber es komme
dabei vor allem ans Bürgschaften für ein wirklich kouscrvativcs Regiment an,
der Erbprinz müsse sich völlig von seiner bisherigen Umgebung trennen und
seine Sache ganz in Österreichs und Preußens Hände legen. Obwohl nun
Preuße?? unter den genannten Voraussetzungen nicht abgeneigt sei, sich mit
Zustimmung der österreichischen Regierung für die Augustenbu'rgcr Kandidatur
zu erklären, so beabsichtige es doch nicht, andre Kombinationen, falls das
Wiener Kabinett ihnen zuneige, auszuschließen. Dann folgt nach kurzer Er¬
wähnung der Ansprüche Oldenburgs der inhaltschwere Schluß: „Es kam? natürlich
in Wien nicht unbekannt geblieben sein, daß in Preußen selbst in starken,
achtungswerteu Elementen der Bevölkerung die Idee sich geltend gemacht hat,
daß sich in einer Verbindung der Herzogtümer mit Preußen ein Ersatz für
die von den Verbündeten aufgewandten Anstrengungen und Opfer und zugleich
die sicherste Bürgschaft für das Gedeihe» der Herzogtümer selbst und gegen
jede Möglichkeit der Wiederkehr der von Dänemark ihnen drohenden Gefahren
finden lassen würde. Auch in den Herzogtümern selbst soll dieser Gedanke
nicht ohne Anklang sein, indem der Enthusiasmus für den Herzog Friedrich
nur den augenblicklichen Ausdruck der Negation gegen Dänemark darstelle.
Wir wollen auch nicht verhehlen, daß solche Stimmen im eignen Lande für
uns in das Gewicht fallen, und daß wir eine solche Kombination, wenn sie
sich aus der Natur der Verhältnisse ergäbe, nicht abweisen würden. Aber wir
sind weit entfernt, durch Bestrebungen in dieser Richtung europäische Ver¬
wicklungen hervorrufen und das Einverständnis mit Österreich gefährden zu
wollen. Der König würde die Verwirklichung solcher Gedanken, wie sie eben
jetzt ohne unser Zuthun durch Adresse:? eines Teils der Unterthanen Sr. Majestät
Ihm nahe gebracht worden sind, immer nur im vollen Einverständnisse mit
seinem kaiserlichen Bundesgenossen erstreben." Zwei Dinge sind dem unbe¬
fangnen Leser dieser Depesche unverkennbar: daß sie genau an dem mit Na¬
poleon verabredeten Operativnsplan festhält, und daß die letzte und eigentliche
Absicht Bismarcks in den Schlußsätzen liegt. Bei Lenz sind Inhalt und Absicht
der Depesche stark verwischt und verschoben, denn er stellt die Sache so dar,
als ob es Bismarck vor allem darum zu thun gewesen sei, den Österreichern
zu sagen, daß die Interessen Deutschlands und der berechtigte Wunsch, in
möglichst glänzenden nationalen Erfolgen ein festes Ergebnis der Allianz und
ein Unterpfand für ihre Zukunft zu sichern, es dem Könige nahe legten, an
den Erbprinzen von Augustenburg zu denken. Auf Grund dieser wenig be¬
rechtigten Interpretation gelangt Lenz dann dazu, in der Depesche vom 21. Mai
die sonst bewährte Folgerichtigkeit des preußischen Ministers zu vermissen und
eine lange Reihe von Fragen und Zweifeln aufzuwerfen, die sich bei zwang-
loser Auffassung der Depesche von selber lösen.
In seinen? Urteil über die Ereignisse der Jahre 1866 und 1870/71 hält
Lenz in? allgemeinen trotz mancher Abweichung in? einzelnen fest an der be¬
kannten durch Sybel begründeten Auffassung, der zufolge die Aufrichtung des
Deutschen Reichs vor alle??? dem staatsmünnischen Genie und der eisernen
Willens- und Thatkraft des Ministers zu danken ist, der gegen eine Welt
von Neidern und Feinden und mitunter sogar gegen die widerstrebende?? Be¬
denken seines Monarchen das Werk der nationale» Einigung vollendet hat.
Die Zeit »ach dem französischen Kriege behandelt Lenz ii? gedrängter
Kürze in drei Kapitel??, deren erstes dem Kulturkampf und der innern Politik
bis zum Bruch mit den Liberalen gewidmet ist. Bemerkenswert ist die Art,
wie in der Einleitung dieses Kapitels die beiden gefährlichsten Gegner Bis¬
marcks im Innern gezeichnet werden. „Eine Opposition bildete sich aus,
stürmisch in? Angriff, so unerschütterlich in der Verteidigung und so gruudsützüch
in der Feindschaft gegen das Neugeschaffne, daß alle Gegner, die Bismarck
bisher auf seinen Wege?? gefunden hatte, davor zurückträte??. Sie war ihrer¬
seits wieder in zwei Lager gespalten, die nach Ursprung, Ziel und Charakter
weit auseinander wichen; aber der gemeinsame Haß gegen das neue Reich
und die Jnternationalitüt ihrer Politik überbrückten 'diese Kluft, und sie mochten
um die Palme streiten, wer von ihnen es in der Neichsfeindschcift dem andern
zuvorthue. Auch hingen sie in der Wurzel doch enger zusammen, als ihre
Programme es anzeigten; wie denn der neue Führer der Sozialdemokraten,
August Babel aus Köln, als Agitator der katholischen Gesellenvereine empor¬
gekommen war, Sie zogen beide ihre stärksten Kräfte aus der Masse; die
Leidenschaften, die in der Tiefe geschlummert hatten, wurden durch sie ans
Licht gebracht; sie waren demokratische Bildungen, und demagogisch die Waffen,
die sie benutzten; darum kam auch das Wahlrecht, das von der Demokratie
geschaffen war, beiden zu statten. Von Anfang an respektierten sie, wenn sie
sich nicht direkt verbündeten, gegenseitig ihren Besitzstand."
Die Verantwortung für die Kampfgesetze gegen die katholische Kirche hat
Bismarck, wie man weiß, mehr als einmal von sich abzuwälzen und dem
Kultusminister aufzubürden gesucht; dem gegenüber betont Lenz, daß dies für
Einzelheiten und untergeordnete Punkte vielleicht zutreffe, daß Bismarck selbst
"ber Falk nicht allein die Ziele gestellt, sondern auch dessen Borlagen mit der
ganzen Wucht seines Willens vertreten habe. Für das Fiasko des Kultur¬
kampfes aber sei nicht Bismarck allein verantwortlich zu machen, sondern
me Summe all der Mächte, die am Ende der siebziger Jahre den Umschwung
l^ner innern Politik herbeiführten: die Uubesieglichkeit des Zentrums und der
Wechsel im Papsttum, der Widerstand der Konservativen und die Umtriebe
6>u Hofe, die unzeitigen Ansprüche der Liberalen und die Dringlichkeit der
^rtschaftlichen Interessen, die Agitation der Sozialdemokraten und die Mord¬
versuche gegen das ehrwürdige Haupt des Kaisers — alles zusammen habe
zu der entscheidenden Wendung mitgewirkt.
Bekanntlich ist auch Vismarcks Kampf gegen den zweiten seiner unversöhn-
uchsteli Gegner, gegen die Sozialdemokratie, am Ende im Sande verlaufen;
IMr Versuch, durch Zwangsmaßregeln die Parteileitung zu zertrümmern, ist
ebenso gescheitert wie die Hoffnung, durch das Banner der sozialen Reform die
wzmldemokratische Gefolgschaft von ihren Führern abzuziehn. Insofern Lenz
geneigt scheint, die sozialen Reformen im Sinne Vismarcks ausschließlich als
Kampfmittel gegen die Sozialdemokratie aufzufassen, kann ich ihm nicht bei-
^numen, aber um so freudiger in dem Urteil, das er über die Tragweite und
Bedeutung der Reform 'gefällt hat: sie sei ein Werk, das seinen Meister
oder werde, solange unsern Staaten die Aufgabe gestellt sei, Macht und
l°Wie Wohlfahrt miteinander zu verbinden.
IN n^"^ Gedankens die Ereignisse, die zur Katastrophe vom
^ März 1890 geführt haben, doppelt tragisch erscheinen, sei hier nur ange¬
ltet. Wie der'Riß entstand, durch welche Persönlichkeiten und Umstände er
?^tert und unheilbar wurde, ob Bismarck absichtlich den Fall des Sozialisten-
DWs herbeiführte, um des Kaisers sozialpolitische Plane um so schneller zum
12 AU bringen, und was er in der Unterredung mit Windthorst vom
sah->> 6 bezweckte, diese und andre Fragen wirft Lenz auf, ohne sie zu ent-
>r?s?' seinen, Grundsatze, daß ein ehrliches Rom ki(zu<zi> besser und er-
^Müder ist als eine halbe Wahrheit, lind gerade das /use de letz
^rzug sein s Buches, daß es so reich an Fragen und Zweifeln H. d . °c
^r zurufen. wo er „auf brüchigem Boden" steht, ^und dem ForMr
^""ut ein unschätzbarer Dienst geleistet, denn die Fragezeichen des LenMBuches gleichen Signalen, die zugleich zur Vorsicht mahnen und zu werdem
^«tersuchunaen auffordern. ,
^^-^.^.msiMi'if
^ Am ScMß des Buches tritt seine oben bezeichnete ^ntumwhtei
u°es einmal mit großer Deutlichkeit hervor, insofern die für den AZ°Achen
Bwgraphen reizvolle und ergiebige Zeit von der ^«Ang Bisn^zu seinem Tode auf eine knappe Seite zusammengedrängt se Den vor¬
legend politischen Charakter des Buches entspricht dann auch die letzte Be-
trachtung. mit der es sich von seinem Leser verabschiedet: Wie oft war gesagt
worden, daß in dem neuen Reiche alles nur auf den Einen und seine Genullt
zugeschnitten wäre! Wie schlimm hatten die Prophezeiungen gelautet, die ihn
ans allen seinen Wegen, von Feind- und Frcuudcsseitc, begleitet hatten! Und
doch wie fest, wie unerschütterlich, wie ganz sein Werk ist das Deutsche Reich
geblieben! Friede schaffend, ohne ihn zu heischen, unangreifbar nach allen
Seiten, der Vielheit seiner Staaten, dein nicht enden kommenden Hader seiner
Parteien, dein Wirrwarr der Jnteressenkämpfe und dem nie gestillten Zwiespalte
seiner Konfessionen zum Trotz hat es in der Nation ein Staatsgefühl entwickelt,
das auch die extremsten Parteien, denen Bismarck als der Todfeind gegenüber
stand, den: Reichsgedanken zu unterwerfen begann; der Glaube an die Macht,
an die Macht der Monarchie, der Otto von Bismarck beseelte und der Quell
aller seiner Thaten war, ist ein Gemeingut von Millionen geworden, die in
dem starken Hanse, das er baute, wohnen.
I,^^>?«ZZ u diesen Verhältnissen hat sich bis zur Eröffnung der modernen
Gotthardstrnße im Jahre 1830 nur wenig geändert; nur der
Saumpfad wurde durch steinerne Brücken, den Durchbruch des
INrnerlochs und dergleichen wesentlich verbessert. Wie sich der
! Gotthardverkehr in den letzten Jahrzehnten des achtzehnten Jahr--
I Hunderts gestaltete, das tritt aus Goethes Briefen und Tagebüchern
sehr anschaulich hervor. Wir sehen die langen Züge der breitbepackten Maultiere
und Pferde schellenläntcnd daherziehn, sodaß der Fußgänger auf dem schmükken
Pfade Mühe hat, an ihnen vorbeizukommen; wir sehen zur Zeit des Bellenzer
Markes zu Anfang des Oktobers schönes Vieh — im Jahre 1797 gegen
4000 Stück — hinüberwandeln, wo sie in Bellinzona lohnend verkauft werden,
Schlitten mit Urserenkäse an uns vorübergleiten, Fässer mit italienischem
Wein ans dem Wege nach Schwaben ziehn. Der Weg wird von „Wege--
knechten" gut imstande gehalten, bei Glatteis mit Erde bestreut, auch im
Winter offen gehalten: Goethe selbst ist zweimal, im November 1779 und im
Oktober 1797 bei tiefem Schnee und scharfer Kälte auf dem Gotthard ge¬
wesen. Felsenrutsche, wie sie nicht selten vorkamen, werden möglichst rasch
aufgeräumt, wie Goethe die Reste eines solchen 1797 in den Schöllenen trifft-
Damals gingen jährlich etwa 16000 Menschen und 9000 Sanmtiere über den
Paß, doch blieb die Gütermasse ziemlich stationär.
Auf diesen Saumpfaden mit diesen Mitteln hat wenig Jahre nach Goethes
letzter Schweizerreise der Krieg diese Thäler und Höhen durchschritten, der im
Mittelalter nur sehr selten und mit kleinen Streitkräften hierher gedrungen
war und seit hundert Jahren nicht wieder hier erschienen ist. Nachdem die
Franzosen 1798 den Widerstand der Urtnntone gegen die ihnen aufgezwungue
„helvetische Republik" mit Waffengewalt gebrochen und die Schweiz zum
Bündnis genötigt hatten, wurde das Land 1799 zu einem der Hauptschauplätzc
des zweiten Konlitivnskriegs. Von Westen her drangen die Franzosen, von
Osten die Österreicher und Russen ein. Nach der ersten Schlacht bei Zürich
am 4. Juni wurden die in Urseren stehenden österreichischen Bataillone durch
eine französische Abteilung, die vom Wallis her über die Furka kam, zur
Räumung ihrer Stellung an der Teufelsbrücke und zum Rückzug über den
Oberalppaß nach Graubünden genötigt, wobei es am 16. August am Oberalp¬
see zu einem scharfen Gefecht 'kam. Seitdem beherrschten die Franzosen die
Gotthardstraße bis Airolo hinunter. Als um der russische Oberbefehlshaber
ni Italien, Feldmarschall Snworow, den Befehl erhielt, zur Unterstützung der
bei Zürich einem neuen Angriff der Franzosen gegenüberstehenden Verbündeten
nach der Schweiz zu gehn, wählte er als den kürzesten Weg dahin den Gott¬
hard, ohne sich darüber klar zu sein, daß diese Straße in den Vierwaldstätter
See einmünde.
Schon in später Jahreszeit am 21. September brach er mit Tausenden
bon Maultieren für Gepäck und Proviant, aber ohne die hier ganz untrcms-
Portable Artillerie an der Spitze von 24000 Mann russischer und österreichischer
Truppen von Taverne (zwischen Lago Maggiore und Luganersee) ins Tessin-
rhal auf und sandte von Biasea aus eine Seitenkolonne unter Rosenberg ins
^legnothal, die über den Lukmanier nach Disentis, wo schon eine österreichische
Abteilung stund, hinabsteigen und über den Oberalppaß den Franzosen in
Ursercn in die Flanke kommen sollte. Am 24. September drängten die Russen
unter strömendem Regen in beständigen Gefechten die Franzosen durch die wilde
^>al Tremola über die Paßhöhe zurück und erreichten am Abend Hospcnthal.
war schon dunkel, als auch Rosenberg von der Oberalp herabstieg und die
überraschten Franzosen aus Andermatt hinauswarf, die nun nach dem Eingang
^er Schöllenen zurückgingen. Snworow selbst nahm sein Hauptquartier in
Hospemhal, und zwar in dem noch wohl erhaltenen alten Gasthofe, der jetzt
Hotel Se. Gotthard heißt und links seitwärts von der modernen Straßen¬
brücke am rechten Ufer der tosenden Gotthardreuß steht, ein stattlicher steinerner
T^ni unter vorspringendem Dach, der Brücke mit der Giebelseite zugekehrt,
me drei Reihen paarweise gruppierter kleiner Fenster über dem Erdgeschoß
und eine leichte architektonische Gliederung aufgemalt zeigt; hier erinnert eine
Gedenktafel an Suworvws Anwesenheit. Eine andre Erinnerung aus Suworows
^?esitz, eine persische Schabracke aus Purpursammet mit reicher Goldstickerei,
^ durch einen Zufall hier zurückblieb, bewahrt der „Mayerhof." Im übrigen
gezählten Ursercn und Uri wie die ganze Schweiz die damals leidend er-
worbne Kriegsberühmtheit sehr hoch. Die Russen, die müde und hungrig,
Durchnäßt und durchfroren in Urseren anlangten und an Lebensmitteln so gut
'vie nichts mehr vorfanden, nahmen natürlich, was irgendwie brennbar und
^meßbar war, brieten Tierhäute und zehrten in Andermatt einen Block Seife
An auf. Kurz danach berichtete die Gemeinde Andermatt dem helvetischen
^lrektorium: „Aller Käse ist uns genommen, die Hausmobilien sind zu Grunde
gerichtet. Bon 220 Saumtieren haben wir uur noch vierzig brauchbare, von
herzig Vergzugochsen noch drei übrig." Es betrug ja die Einquartierungslast
Andermatt vom 1. Oktober 1798'bis 30. September 1799 im Durchschnitt
raglich 1868 Mann, im ganzen 681700 Mann. Im Mai 1800 hatte Urseren
uneder 22000 Mann Franzosen zu verpflegen, und dabei hat das Thal noch
)ente nicht mehr als 1300 Einwohner. Schwer litt auch das Tessin be-
Mai i?9g^ ^ Plünderungen und Gewaltthaten der Russen schon seit dem
. Aber mit bewundernswürdiger Elastizität überwanden die Landschaften
^e Nachwehen des Krieges. Schon 1820 begannen Uri und Tessin (jetzt
'M mehr Unterthancnland, sondern seit der Napoleonischen Mediations-
,^^von 1803 ein gleichberechtigter Kanton), um die Konkurrenz mit der schon
^«05 vollendeten Napoleonischen Simplonstraße und den ebenfalls im Ausbau
"egnffnM Bündner Pässen (Splügen und Bernhardin, beide eröffnet 1823)"ejtehn zu können, den Bau der Gotthardstraße und vollendeten sie 1830,
wozu Uri 900000 alte Schweizerfranken, d. h, 1260 000 heutige Franken,
beitrug. Damit veränderten sich die Verkehrsverhältnisse am Gotthard von
Grund aus, sie traten in ihre zweite Periode, in die Periode des Fahrverkehrs.
Während auf dem alten Saumwege dem Reisenden von Mieter bis Bellinzona
mindestens vier Tage vergangen waren, legte er jetzt ans der bequemen Straße
dieselbe Strecke zu Fuß in 26 Stunden, mit der Eilpost in 13 bis 14 Stunden
zurück. Solcher Posten gingen täglich drei. Daneben entwickelte sich ein starker
Frachtverkehr, namentlich im Sommer, der schon in den ersten Jahren
nach der Eröffnung der neuen Straße (1831/33) durchschnittlich im Jahre
80000 Zentner (40000 Meterzentner), 1840 über das Doppelte, 161950 Zentner
(80975 Meterzentner) über den Berg beförderte. Auch im Winter war der
Verkehr nicht ganz unterbrochen, auch für Reisende nicht. Drohten Lawinen,
dann wurden kleine einspännige Schlitten zu einem Zuge zusammengestellt und
ihnen ein leerer Schlitten vorausgeschickt. Solange das Glöckchen des Pferdes
zu hören war, fuhren die folgenden Schlitten ruhig vorwärts, unter tiefem
Schweigen und ohne Peitschenknall, um „die schlafende Löwin," die Lawine,
nicht etwa durch eine Lufterschütterung zu wecken; verstummte das Glöckchen,
dann schloß mau auf einen Unfall des führenden Schlittens, den man preis¬
gegeben hatte, und stellte die Fahrt ein. Wie vor alters, floß auch damals
dem Lande reicher Gewinn zu; der „Mayerhof" hielt gegen Ende dieser Zeit
135 Pferde. Die Eröffnung der Fahrstraßen über die Öberalp und die Furka
(1866) stellte auch den uralten ostwestlichen Verkehr auf neue Grundlagen,
und das Ursereuthal war das Herzstück dieser großen Linien.
Diese Stellung verlor es, als 1882 die Gotthardbahn eröffnet wurde,
in der That eine Welthandelsstraße und mehr als je heute, wo der deutsche
Verkehr nach dem Indischen und dem Großen Ozean ausgreift. Verglichen mit
den Gütcrmassen, die der alte Saumweg und die neue Poststraße vorüber-
ziehn sahen, stieg jetzt der Güterverkehr riesenhaft; er betrug 1898, ohne das
Reisegepäck, die Bahnbaumaterialien und das lebende Vieh, in beiden Richtungen
insgesamt 728400 Tonnen oder 7274000 Meterzentner, fast das Neunzig-
fache deS Verkehrs von 1840. Wie ungeheuer zugleich der Personenver¬
kehr ist, springt in die Augen: der direkte Schnellzug von Luzern nach Mailand,
der nur erste Klasse führt, pflegt in der Reisezeit bis auf den letzten Platz
besetzt zu sein. Obwohl für Uri dieser Durchgangsverkehr scheinbar nichts
einbringt und den alten vorteilhaften PostVerkehr gelähmt hat, so hat doch
der kleine Kanton auch zur Gotthardbahn eine Million Franken beigesteuert,
64 Franken auf den Kopf seiner damaligen Bevölkerung (die jetzt gegen
20000 betrügt), weitschaueud wie seit Jahrhunderten. Deal seit 1882 ist das
schöne Land in allen seinen Teilen für Reisende aller Nationen sehr viel zu¬
gänglicher geworden als früher, und die Naturprodukte, vor allem der un¬
vergleichliche Granit des Bristenstocks, der bei Massen und Gnrtnellen gebrochen
wird, gehn jetzt in weite, früher ganz unerreichbare Fernen: für einen Hafen¬
bau in' Südafrika ist jetzt bearbeiteter Granit im Wert von sechs Millionen
Franken bestellt, worauf die Urner nicht wenig stolz sind; sie sagen wohl im
Scherz, Uri sei jetzt ein „steinreiches" Land. Mehr und mehr werden eines
die reichen Wasserkräfte zu elektrischen Fabrikanlagen benutzt.
Für Urseren hat der alte nordsüdliche Post- und Frnchtverkehr über den
Gotthard aufgehört, und der Pferdebestand des „Maherhofs" in Hospenth-n
umfaßt jetzt nur noch sechzehn Stück, lind auch nnr während des Sommers-
Dagegen dauert der ostwestliche Postenlauf von Göschenen nach der Furka,
von Andermatt über die Oberalp fort, und er ist im Sommer überaus rege.
Zweimal nu jedem Tage in jeder Richtung traben schellenklingelnd die schönen
bequemen Postwagen daher, der Hauptwagcn mit fünf kräftigen Pferden be¬
spannt, zwei an der Deichsel, drei voran, meist mit mehreren Beiwagen zu
zwei, drei, vier Pferde», alle hochbepnckt und besetzt mit Reisende», die er¬
wartungsvoll dem Neuen entgegenfahren. Dazwischen folgen zahlreiche Privat¬
geschirre, auch sie oft vier- oder fünfspännig, nicht nur aus den nähern Ort¬
schaften und Boecks. Göschenen, Andermatt, Furka, Nhoncgletschcr. sondern
oft aus weiterer Ferne, Mieter. Diseutis, Brig, Jnterlaken. ja a»s Italien
bis von Mailand her. Italienische Familien sind die einzigen, die in der
Schweiz zniveilen noch mit eignem Wagen reisen, sie kommen gern über den
Gotthard, überschreiten die Furka »ut fahren von Brig über den Snnplon
wieder zurück, eine herrliche Tour, dere» Großartigkeit schwerlich iibertroffen
werde» kann. Es ist ein Wageiifernverkehr, wie er außerhalb der Alpen kaum
noch angetroffen wird; im einsamen Rhonegletschcrhvtel langen zweimal am
Tage die Posten ans drei Richtungen an, von der Furka, vom Wallis, von
der Grimsel. Daz» wander» rüstige Fußgänger daher, viele Damen darunter.
Aber nicht nur fröhliches Reiseleben herrscht während der Sommermonate in
Nrseren, das Thal ist jetzt auch als Sommerfrische in Aufnahme gekommen
und wird dem Engadin gleichgestellt. Mit Deutschen und Schweizern sammeln
sich in Andermatt 'und Hospen'thal Fremde aus allen Teilen Europas, nament¬
lich natürlich Engländer und Amerikaner, aber auch Italiener kommen seit der
Eröffnung der Gotthardbahn herauf. ,
Je wichtiger der Gotthard im ganzen als Zentralpaß der Alpen seit 1882
geworden ist, desto mehr hat sich mich seine strategische Bedeutung gesteigert,
er ist das f)erz der schweizerischen Verteidigung geworden, wie das Herz des
schweizerischen Verkehrs, und die Zentralstcllmig, der Hauptwaffenplatz ist wieder
das Nrserenthal. ssier liegt ans der Hohe des Bätzberges ein starkes Fort,
das die Strnßengänge völlig beberrschti vom Thale aus kann man es kaum
von den grauen Grnnitfelsen unterscheiden, dagegen kann man von dem höhern
Teile der Oberalpstraße hineinsehen. Bei Andermatt stehn Kasernen und Ar-
t'llerieschnppcn. und zuzueilen kann man den dumpfen Knall schwerer Festungs-
Geschütze oder das scharfe Knattern des Jnfanteriefeuers in dem stillen Hoch-
thnle hören. Blockhäuser sperren die Paßhöhe der Oberalpstraße, ein Fort
hoch über dem Nhoncgletscher die Furka, die Grimsel und die Straße nach
dem Wallis. ein Blockhaus beherrscht das Hochplateau des Gotthardhospizcs,
große Werke decken den Zugang von Airolo. So entsteht eine Art von ver¬
schanzten Lager im Umfang' von sechzig Kilometern. Milizen mit der kurzen,
in der schweizerischen Armee üblichen Dienstzeit können diese Werke, deren Ver¬
teidigung genaue Terraiukeuntnis voraussehe, natürlich nicht anvertraut werden;
An sind' mit angeworbncn Freiwilligen, die einen täglichen Sold von vier
Franken erhalten'(das Fort auf dem Bälcherge z. B im Frieden nut 100 Mann).
Ap mir einer stehenden Truppe besetzt, und die Offiziere sind Berufsoffiziere.
ihrer der italienischen ähnlichen dunkelblauen Uniform nehmen sich die
"^lec ganz stattlich ans, namentlich zeigen Offiziere und Unteroffiziere stramm-
'Ullitärische Haltung; sie werden im Kriege jedenfalls ihre Schuldigkeit thun,
wie ohne Zweifel die ganze eidgenössische Armee, die man gewiß nicht nntev
'Lätzen darf. So wird der nächste Zweck der Gotthardbefestignngcn, fremde
Truppe vor der Versuchung zu bewahren, die Neutralität der Schweiz zu
brechen, jedenfalls erreicht werden, denn sie schließen hermetisch diesen wichtigsten
"Uer Alpenpässe; anch der große Tunnel kaun durch Sprcngnnnen sofort un¬
gangbar gemacht werden. Ob sie freilich imstande wären, wie die Schweizer
annehmen, dem eignen ^cer im Fall einer feindlichen ^waslon als
^"mmelplak und Stütze zu dienen, sodaß es von hier ans wieder die Offensive
ergreifen könnte, das ist wohl zweifelhaft, denn für ein wirklich von über¬
legne» Kräften i» diese» Hochregionen eingeschlossenes Heer, das nicht wenigstens
eme Straße nach mildern, leistungsfähigern Gegenden offen hätte, dürfte die
^erpflegimgsmöglichkcit sehr bald aufhören. Aber dieser äußerste Fall setzt
einen Angriff von allen vier Seiten zugleich voraus, und einen solchen hat
die Schweiz doch schwerlich zu befürchten.
Ihre strategische Bedeutung hat also die Gvtthardstraße in ihrer ganzen
Ausdehnung bewahrt, ihre Verkehrsbedeutung nur für den Neisebetrieb, und
auch für diesen nur bis Hospenthal; die Strecke von dort aus über den eigent¬
lichen Paß nach Airolo und weiter ist heute verödet, wird aber als Heer¬
straße noch gut unterhalten. Den Punkt, wo sie von der Furknstraße ab¬
zweigt, bezeichnet die alte Sust, ein massives Gebäude mit Eckturm und kleinen
vergitterten Fenstern unter breitem Ziegeldach, das den Stierkopf von Uri
über dem Thore trügt und jetzt zum Zeughaus eingerichtet ist. Von hier aus
ersteigt die Straße in langen Kehren den Grashang des linken Ufers der
Gotthardreuß, hoch über dein schäumenden Flusse, der hier in enger Schlucht
nach dem Urserenthcilc durchbricht. Auf derselben Seite lief der alte, jetzt
wenig mehr kenntliche Saumpfad, der Weg Goethes und Suworows. Nach
einer starken Viertelstunde langsamen Anstiegs rücken die Thalwände ganz eng
zusammen; hier, am „Stäubencgg," stürzt die Reuß in zwei schönen Wasser¬
fällen herab. Eine scharfe Biegung, und der zweite Teil der Paßstraße, der
Gcunsbvden, beginnt, ein langgestrecktes, breites, ödes, baumloses Thal, von
steilen, felsigen Hunger eingefaßt, die rechts vom Winterhorn (Pizzo Orsino),
links vom Gamsstock henmterkommen, von Wildwassern zerrissen, von Geröll
bedeckt, hier und da mit Gras und Moos bestanden, zwischen denen die
Gletscherbäche weißschäumend herniedersickern; auf der linken Seite stürzt durch
ein Seitenthal vom Guspisgletscher am Pizzo Centrnle, der in der Lücke sicht¬
bar wird, ein prächtiger Wasserfall herab, offenbar derselbe, den Goethe 1775
und 1797 besonders hervorhebt. Durch die breite, grasbewachsene, steinüber¬
säte Thalsohle, alten Gletscherboden, fließt die Reuß als ein schmaler, oft
geteilter Bach. Dort zieht auch dicht am Wasser und deshalb oft zerrissen der
schmale Saumweg dahin als ein etwas aufgemauerter, gepflasterter, mit Gras
überwachsener Pfad, offenbar den Steinschlägen und Lawinen viel mehr aus¬
gesetzt als die moderne Straße, die wesentlich höher an der westlichen Thal¬
wand hinläuft. Nur das Läuten dort unten weidender Rinder unterbricht
die tiefe Stille dieses vereinsamten Wegs, wie zu Goethes Zeit „der Saum¬
rosse Klingeln"; aber die ö)de der ernsten, düstern Landschaft wirkte fast mehr
auf ihn als auf uns moderne Menschen; der Gamsbvden, oder wie er es 1775
fälschlich nennt, „das steinichte Livinerthal," kam ihm öde vor, wie das „Thal
des Todes," und er sah es erschreckt „mit Gebeinen besäet." In der That waren
diese sogenannten „Felder" damals gefürchtet wegen der Lawinengefahr. Der Ein¬
druck wird gesteigert durch die Abgeschlossenheit des Thals; nur geradeaus in
der Ferne ragen die blauen Zacken und die weißen Schneefelder der Fibbia,
einer der höchsten Erhebungen des Gotthardstocks, in den Himmel auf, auch
bei ganz klarem Wetter von leichten Wölkchen umflattert, die sich namentlich
unter den heißen Strahlen der Mittagssonne von den Eis- und Schneeflächen
lösen; Goethe aber hatte, als er zum erstenmal hier durchzog, „Sturmwind
und Wolken."
Bei einem alten Schirmhaus (Ccmtoniera), das jetzt als Zeughaus dient
und seit kurzem ein bescheidnes Wirtshaus neben sich hat, biegt die Straße
um eine Felsenecke und steigt in einer großen Schleife höher an dem westlichen
AbHange hinauf. Hier verengert sich der Gamsboden zum „Mätteli" (1791 Meter),
und auch hier ist der Saumweg unten an der Reuß meist vollkommen kenntlich.
Je höher hinauf, desto schöner entfalten sich die Rückblicke nach Norden; vom
Grau zu dunkelm Blau und zartem Violett wechseln die Tinten der wie
Kulissen vorspringenden und aufstrebenden Bergrücken, aber die Luft wird
immer frischer, und dicht an der Straße beginnen sich Schneeflecken zu zeigen.
Sichtbar nähert sie sich der Paßhöhe. Wieder rücken die Thalwände eng zu-
summen, durch eine Schlucht stürzt die Neuß im Wasserfall zum Mätteli herab,
duht daneben drängte sich der alte Saumpfad durch die Lücke; die höher
siegte Straße erreicht durch ein niedriges Felsenthor den Anfang des Gotthard-
Plnteaus. Ein paar hundert Schritte weiter stehn links an der Straße die
Grenzsteine von Uri und Tessin, deutschen und italienischen Bodens, wie denn
der Tessiner Stein, um die Sprachscheide sofort klar zu machen, die italienische
Aufschrift trägt: I)tu ooMns <ii Uri Tirols 3Vz ors. Auch die Land-
Kllose Felsblöcke und breite Felsplatten mit Gletscherschliffen bezeichnen die
Wasserscheide zwischen Nordsee und Mittelmeer, ringsum erheben sich starre,
grosse, schwarzgraue Wände, rechts die Zacken der Fibbia, von Schneefeldern
durchfurcht, etwas weiter zurück der Kamm des Pizzo Lueendro, von dessen
puß eine Ecke des kleinen Lncendrosees, des Quellsees der Neuß, herüberblinkt,
unks die kahle Geröllhalde des Monte Prosa lSasso ti San Gottardo). Wie
Mischaulich ist doch Goethes Vergleich: „Der Gipfel ist ein kahler Scheitel, mit
nncr Krone umgeben," und wie sicher zeichnet er das landschaftliche Bild,
wenn er die Berge schildert „mit weißen Furchen und schwarzen Rücken."
Langsam übersteigt die Straße auf Felsplatten die Paßhöhe (2114 Meter),
dann senkt sie sich leicht nach der Hochfläche hinab, die das alte Hospiz um-
!^de, und geht endlich auf einem Steindämme zwischen zwei kleinen, klaren
^>een hindurch.
^. .. Da liegt sie vor uns, etwa 2^ Stunden von Hospenthal, die ehrwürdige
Stätte, die fast 600 Jahre lang alljährlich Tausenden Aufnahme und Hilfe
^padre hat. Zur Linken nach dem Monte Prosa zu, neben einem niedrigen
^wckhause aus Granitqundern erhebt sich das alte Hospiz, ein mehrstöckiger
Holzbau über einem Steinparterre mit kleinen Fenstern, daneben das achteckige
^tnllgebüude; rechts nach der Fibbia hin steht das frühere Post- und Herberg's-
MUs, ein starker, fast quadratförmigcr Steinbau mit einer von Granitsäulen
getragnen offnen Vorhalle; unten enthält es weite, gewölbte Ställe, im Ober-
geschoß die Wvhnrünme für Reisende. Die Mitte der Hüusergruppe nimmt
moderne Hotel Monte Prosa mit seinen Nebengebäuden ein. Es gehört
^5 Familie Müller-Lombardi, die auch Hotels inFlüeleu, Andermatt und
^urvlo hält, also die ganze Gotthardstraße ebenso mit ihren Niederlassungen
.^tzt hat, wie im Mittelalter die Kirche bei Alpenstraßen zu thun pflegte,
"Mich mie die Familie Seiler im Wallis, die das große Hotel am Rhone-
^löcher, drei oder vier Hotels in Zermatt und alle Gasthöfe an der Linie
«ach dem Goruergmt besitzt.
^ Von nach Süden liegenden Terrasse des Gasthofs aus sieht man die
. Mße nach der Val Tremvla hinunterziehn, darüber erhebt sich in der Ferne
j^/uaue, zackige Bergkette, die das Tessiuthcil begleitet. Heute weht die Luft
^ er so frisch und klar, und die Sommersonne scheint so warm wie immer,
"«er es ist jetzt still und einsam da oben. Kein Postwagen und kein Waren¬
tip seht mehr über den Berg; nur vereinzelte Wandrer oder Geschirre kommen. ^ .ii"^ ->>.^
herauf. Als
besucl
Jtalil
Rufern in Mailand und Luzern in Verbindung standen, oft selbst in Mailand,
>eiwn n>.^ n........ .''...r....,!^............. !...... t>,..,t,. c.".^ ^z»r—bes / ^ Goethe es sah, da war das Kapuzinerhospiz nicht nur eine viel
H^berge, sondern eine wichtige Handelsstation, deren Patres — immer
^iciuener — die großen Warentransporte leiteten, mit den ersten Handels-
Ix^,^n auch in Luzern persönlich verweilten und junge Leute für diesen
schulten. Damals wurde der Paß den ganzen Winter möglichst offen
hatten, heute wird der Gasthof Ende Oktober verlassen, die Leute ziehn nach
u^ hinunter, wohin auch die Brief- und die Telephonvcrbindung geht,
no nur ein paar Soldaten bleiben einsam in dem Blockhause zurück, oft lange
Zeit von aller Welt abgeschnitten. In dein alten Hospiz hat Goethe dreimal
verweilt, einmal im Frühsommer, zweimal bei Schnee und Kälte; hier haben
die Kapuziner um 24. September 1799 Snworow mit Kartoffeln in der Schale
und Salz bewirtet, denn weiter hatten sie nichts mehr. An den russischen
Feldherrn erinnert eine Gedenktafel, an den deutschen Dichterfürsten nichts.
Und doch wäre wohl auch sein Andenken wert, geehrt zu werden. Gerade hier
hat er zweimal, 1775 und 1779, an der Grenze Italiens gestanden, ohne den
Anreiz zu empfinden, den lockenden Pfad hinabzusteigen und er hat diesen
Weg auch später nicht beschütten. Aber das Bild der wilden Gotthardstraße
tauchte wieder vor ihm auf, als ihn wenig Jahre danach die Sehnsucht nach
dem „Land, wo die Zitronen blühn," übermächtig ergriff und er der Mignon
das wunderbare Lied in den Mund „legte (1784). Denn die letzte Strophe
malt die Gotthardstraße, den einzigen Übergang nach Italien, den Goethe damals
gesehen hatte:
Die Dracheuhöhle ist eine Phantasie, die ihm schon 1775 gekommen ist: das
Thal nach dem Gotthard hinauf „mag das Drachcnthal genannt werden," schreibt
er am 22. Juni in sein Tagebuch.
"
Der „Fußpfad, der Goethe nicht nach Italien verlockte, und den der
Kapuzinerpater Lorenz am 13. November 1779, als er verschneit und „sehr
glatt" war, „gegen den Wind" halb erfroren von Ariolo heraufkam, führt
noch jetzt ins Trcmolathal, aber der größere Verkehr ist seit 1830 auf die
Fahrstraße übergegangen. In zahllosen, kurzen Windungen steigt sie auf hoch-
aufgemauerten Dämmen zunächst am linken Ufer hinab; von unten gesehen
nehmen sie sich aus wie die übcreiuandergetürmten Bastionen einer Festung.
Aber obwohl man jetzt diesen glatten und bequemen Weg unter den Füßen
hat, so empfindet man doch noch etwas von dem schreckhaften, das diesem
Theile den Namen Val Tremola gab, „das Thal des Zitterns." Es ist bei
weitem nicht so großartig wie die Schvllencnschlncht ans der Nordseite, doch viel
steiler, enger und düstrer, denn es liegt den größten Teil des Tages im
Schatten auch während des Sommers. schroff fallen die Wände ub, namentlich
die der Fibbia; sie lassen dem Ticino nur einen schmalen Spalt, den er in
einer Reihenfolge von Fällen durchtost. Im Winter füllen Schneemassen die
Schlucht; beginnt er zu schmelzen, dann wühlt sich der Tieino, soweit er ihn
nicht wegspülen kann, unter ihm durch sein Bett, und auf längere Strecken
bildet der Schnee dann Wölbungen von mehreren Metern Stärke, auch
Hochsommer. Im Frühjahr ist hier die Lawinengefahr viel großer als auf
andern Teilen der Gotthardstraße, denn in die Val Tremola hinunter geh»
dreißig Lawincnzüge. Und hier hindurch hat sich auf schmalem, steilem, schwin¬
delnden Fußpfad sechs Jahrhunderte lang der ganze Verkehr bewegt, zwischen
diesen Wänden sind 1799 die Russen unter strömendem Regen fechtend empor«
gestiegen, hier war es, wo sich Suworvw, als seine Grenadiere in dieser
ihnen unheimlichen Landschaft nicht mehr vorwärts wollten, ein Grab schaufeln
ließ und sie dadurch zur äußersten Anstrengung spornte. Jetzt herrscht auch
hier tiefe, schweigende, fast beklemmende Einsamkeit. Man ist froh, wenn von
den steilen Grashaldcn zur Seite die Glocke eiuer weidenden Kuh hörbar mürb,
oder wenn ein Hirtenbube, der natürlich schon italienisch spricht, Goldbär^
krhstalle zum Kauf anbietet, die er hoch oben um der Fibbia gefunden har,
und man erschrickt förmlich, wenn vom Schießstande oben beim Hospiz Schüsse
knallen, die das Echo in der vielgewnndnen Schlucht in krachende Salven
verwandelt.
Zweimal überschreitet die Straße den Tieino, dann werden die Wände
etwas niedriger, das Thal weiter, und plötzlich öffnet sich bei einer Ccmtonierci
(1696 Meter) der Ausblick in das Livinenthal, die Valle Leventinn, Der Über¬
gang ist viel überraschender, der Gegensatz der Landschaft viel schroffer, als
beim Austritt ans den Schollenen in den Felsenkessel von Göschcneu, Denn
fünfhundert Meter tiefer unter öffnet sich ein weites Thal zwischen hohen
grünen, unten schon bewaldeten Bergen; langsm zieht sich der glänzende
Streifen des Tieinos, freundliche Weiße Ortschaften und Ackersluren treten her¬
vor, und in tiefem Blau verdämmern die Fernen, während rechts die Schnee¬
gipfel des Bedrettothals aufsteigen, aus dein ein Seitenarm des Tieinos hervor-
strömt. Man begreift hier, warum die tapfern Urner, wenn sie aus der finstern
Tremolaschlucht heraustraten und dieses freundlich-ernste Bild vor sich sahen,
das Livinenthal erobern wollten.
Nach Airolo, das anfangs noch nicht sichtbar wird, geht links ein stark
abkürzeiider Fußweg; die Straße steigt in weitausholenden Windungen, die
bis in die Mündung des Bedrettothals hineinführen, bald durch Nadelwald
hinunter. Tief unten liegt am Anfang das starke Fort Motto Bnrtola mit zwei
kleinern Werken, das ganze Thal und seine Zugänge beherrschend; dann führt
dre Straße dicht an ihnen vorüber und geht zuletzt über den Eingang des
großen Tunnels hinweg durch die Schneemassen des furchtbaren Bergsturzes
bon 1898, der, vom steilen Sasso rosso (links) herabkommend, einen guten
^eil von Airolo zerstörte. Seitdem suchen starke Qnermauern und Ablauf-
Kanäle für die Wildwnsser ähnlichen Katastrophen vorzubeugen. Kaum drei
Stunden von dem öden Felsplateau des Gotthard entfernt, aber fast tausend
^ceder tiefer (1179 Meter), bietet Airolo durchaus das Bild einer italienischen
Ortschaft, und zwar einer Stadt mit der geschlossenen Reihe meist stattlicher,
bunt getünchter Häuser mit grünen Fensterläden, dem schlanken Campanile der
^rede, den breiten Fahrbahnen der gepflasterten Gasse, den Aufschriften der
Straßen und der Geschäfte, und große Hotels mit Gärten bezeichnen es als
euie von Italiener» viel besuchte Sommerfrische.
Mit Airolo erreicht die eigentliche Paßstraße ihr Ende, wie drüben bei
^»scheuen. Aber noch manche schwierige Enge hat sie auch noch weiter unten
überwinden. Bei Stalvedro, das schon der Name als eine alte Raststelle des
^aumwegs bezeichnet, beginnt ein langer Engpaß; weiter abwärts, wo der Ticino
^ zweite Thalstufe erreicht, schiebt sich von rechts der Platifer (Monte Piottino)'or und zwingt den Bergstrom, durch eine enge Schlucht in brausenden Wasser¬
fallen hinabzustürzen. Hier stieg der alte Saumpfad ursprünglich mühsam,
"wi harter und böser Weg," über den Felsrücke»; erst nach langen, 1515 ab¬
geschlossenen Verhandlungen wurde er durch die Schlucht selbst mit mehr-
'rangen Uferwechsel hindurchgeführt, dafür aber um ihrem nördlichen Eingang
N Zollturm errichtet, der dem Ort den Namen Dnziv grande gab (949 Meter).' le Eisenbahn überwindet den Abstieg in zwei mächtigen, kreisrunden Kchr-
MMeln. Auf dieser zweiten Thalstufe in einer Höhe von etwa 750 Metern
s, !" Weniger zeigt sich zuerst um Faido, den Hauptort des Lavinenthals, die
!> Pflauzeuivelt in Nußbäumen und Edelkastanien; zwischen himmelhohen
^wanden streckt sich die breite, zum Teil versumpfte Thalsohle, die der
^lunv in breitem Geröllbctt durchfließt, Felder und Straßen sind mit Granit-
^ alten statt mit Holzzäunen eingefaßt, die Häuser aus Stein erbaut, die
> Aha Dächer mit Hohlziegeln gedeckt; hier ist schon Italien und italienische
"Mtur auf Schweizerbvdeu.
Erbauung der Gotthardbahn haben sich die Schweiz, Italien und
^.""Maud die Hände gereicht, die Schweiz aber ist ihrem alten Charakter
da^ treu geblieben lind bildet ihn immer mehr aus. Sie ist jetzt
'vn, die großen Bahnlinien für den Bund zu erwerben, und 1904, in dem-
selben Jahre, das die Eröffnung des Simplontnnnels und damit eines neuen
großen nordsüdlichen Verbindungswegs bringen soll, wird auch die Gotthard-
bcchn in den Besitz der Eidgenossenschaft übergehn. Ein kleiner Staat, der
sich den großen modernen Aufgaben derart gewachsen zeigt, hat gewiß noch
eine Zukunft vor sich.
rag, dus hunderttürmige goldne Praha war gerade in dieser Zeit
des Spätherbstes, wo alles, was sich durch Reichtum, Rang, politische
und gesellige Stellung auszeichnete, von Reisen zurückkehrte, die Land¬
sitze und Jagdgründe verließ und in der Landeshauptstadt zusammen--
strömte, wunderbar schön.
Wenn das Auge von der Bastei des Hradschins nach rechts und
nach links hin dem Laufe des Stromes folgt, der uns Deutschen als Moldau bekannt
ist, von keinem echten Tschechen aber je anders als Vltcwa genannt wird, begegnet
ihm überall in der bald klaren, bald Nähe und Ferne in helle, durchsichtige Nebelschleier
hüllenden Herbstluft ein entzückendes landschaftliches Panorama, das durch die Pitto¬
resken und geschichtlich bedeutenden Bauten des Vordergrunds Geist und Phantasie
lebhafter anregt, als dies modernere Städtebilder zu thun imstande sind.
Dem Beschmier zur Rechten ragen die alten Gemäuer und weitläufigen Paläste
des Hradschins empor, zu seinen Füßen liegt an einem weiten Kranze von Höfen
und Gärten das alte, in seiner ursprünglichen Gestalt noch ziemlich unveränderte
Waldsteinsche Palais, den Hügel hinauf auf ihn zu zieht sich der von einem alt¬
väterischen Sommerhause gekrönte Fürstenbergische Garten, wahrend sich zur Linken
an den Hügeln hin und ans deren vorderen Sattel die init Bäumen und Sträuchen
schön bewachsenen Kronprinz Rudolf-Anlagen erstrecken, als deren rechter, dem Hradschin
zunächst liegender Flügelstützpnnkt eine gegen das Mvldauthal steil abfallende Bastion
hervorragt. Von ihr aus ertönt täglich, wenn nicht die Nebel so dicht sind, daß
sie das optische Signal der auf dem jenseitigen Ufer liegenden Sternwarte verhindern,
der den Meridies verkündende Kanonenschlag, dessen vielfältiges Echo von den die
Stadt in weitem Kreise umgebenden Hügeln zurückhalte. Zu Füßen dieser Signal¬
bastion, auf der während der Anwesenheit des allerhöchsten Kriegsherrn oder eines
Mitglieds des ErzHauses der schwarze Doppeladler im gelben, buntumzackten Felde
weht, stehn auf beiden Seiten des Stroms stattliche, miteinander durch einen Kettensteg,
.sölsiinS. Is,vI<->,, verbundne moderne Gebäude, unter denen sich das Nuoolfinnm und
die langgestreckte Fassade des Gräflich Strnkaschen Pädagvginms besonders aus¬
zeichnen.
Das alte Prag dagegen mit seinen prachtvollen, zitadellenartigen Thoren, mit
seinen Türmen und Kuppeln, vor allem aber seiner durch reiche Statuengruppen
belebten, überaus malerisch wirkenden Karlsbrücke liegt mehr zur Rechten in der
Tiefe, von der aus dessen Kleinseite, Aals. Strimg,, in einem bunten Durcheinander
von verräucherten Mauerwerk, altertümlichen Dächern und Schornsteinen, vielgestal¬
tigen Giebeln und Erkern, bald auf höherer, bald auf niederer Sohle stehenden Höfen,
Terrassen und Gärtchen zum Hradschin hinaufklettert. Zwischen den bergauf stre¬
benden Häusernund den in buntem herbstlichen Laube prangenden Gärten schlänget"
sich in allerhand Windungen, außer steil ansteigenden Pfaden und Gassen, auch
einige schier endlos scheinende Treppenfluchten, die bisweilen tunnelartia, durch ganze
Gebäudekomplexe hindurchgeführt sind und ihr Ziel, die Burg, erst much vielfach uuter-
vrochnem, immer erneutem Anlauf erreichen.
Es bedarf beim Ausblick auf dieses mittelalterliche, uns trotz vielfältiger mili¬
tärischer und politischer Katastrophen, von denen die Hauptstadt Böhmens im Laufe
der Jahrhunderte heimgesucht worden ist, erstaunlich gut erhaltene Bild keines be¬
sondern Vorsatzes, wenn man sich an den uralten Zeugen mittelalterlicher Wehr¬
haft, ständischer Macht und städtischen Gemeinsinns in geschichtlichen Anschauungs¬
unterricht vertiefen soll. Ereignisse und Meuschen — Universitntsgrnndung, utra-
Pustische Streitigkeiten, blutige Aufstände, rohe Verwüstungen, Stndentcnauszng,
Defenestrationen, feindlicher Sturm und kräftige Abwehr, das kurze pfälzische Regi¬
ment mit dem darauf folgenden laugen und blutigen Strafakt — Karl IV. und die
andern Luxemburger, Tycho de Brahe, Johannes Hus, Hieronymus, der Winterkönig,
der Friedländer, der preußische Friedrich, alle finden sich ein und ziehn an
unserm geistigen Auge vorüber. Aber während unten die Hauptverkehrsadern
der Volk- und fabrikreichen Stadt voll Getümmels und Lebeus sind, herrscht hier
°deu Einsamkeit und Stille. Ringsherum nichts als weltfernes Abgeschiedenseiu,
nichts als lautlose Ausgestorbenheit. Es ist einem zu Mute, als getmue sich das
Mutige junge Lebe» nicht hierher, als wären die menschenleeren Wälle, Plätze und
Straßen nur von deu Geistern der Vorzeit besucht, die das bunte Treiben der
^pigvnen mit eisigem Schweigen vom einstigen Schauplatze ihrer wilden Thaten
fernzuhalten bemüht seien.
In der schulfreien Zeit spielen hier vielleicht, nur mit deu beide» notwendigsten
Bestandteilen europäischer Kleidung angethan, einige quecksilbrige Jungen „An¬
Magens" gegen die alten, dicken, verwitterten Mauern, die so vielen Stürmen
und Fährnissen siegreich getrotzt haben; oder es kehren eine Stunde nach Mittag
^u paar Vaterlandsverteidiger, die blaue Lagermütze auf den Pfiff gesetzt, mit dem
^euagegeschirr von der Wache zurück und begeben sich plaudernd, im gemächlichsten
^uinmelschritt durch die mittelalterliche Thorfahrt nach der nahen an die Georgen-
apelle angebauten Winkelkaserne; oder es läutet gar eins am Eingange des alten
Dauses, worin, wenn man dem halb unlesbar gewordnen Schilde glauben dürfte,
nicht Gespenster, sondern. Korbflechter ihr Wesen treiben, und die in ihrer feier¬
ten Verödung gestörte Grabesstille macht sich ein schadenfrohes Vergnügen daraus,
harmlose Gebimmel der alten abgelebten Glocke zu erschreckendem Sturmläuten
"ufzubauscheu. Aber es gelingt ihr doch nicht, die etwas weiter hin von früh
^ abend ans den Stufen betende gelähmte Bettlerin aus ihren halblaut ge¬
murmelten Psalmodien herauszuschrecken. Bei Wind und Wetter, in Regen und
Sonnenschein sitzt sie da, um die ihr gebührende milde Gabe des Vorübergehenden
^uzuheiiuseu und fleht dafür mit höchstem Eifer des Himmels Segen ans den darin-
)elzigen Samariter herab. Auch die beiden gelangweilten Jnfanteristen haben, ob-
M sie selbstverständlicherweise nicht über fromme Wünsche und ein der alten Fran
sugewvrfnes Lox s vola in-Mu! (Gott mit Euch, Mutter) hinausgegangen sind, eben
"Iren Anteil am Manna der nie rastenden Fürbitte gehabt.
. Ja, die Geister der Vorzeit halten hier Wache, und es haben sich ihnen, auch
heutigentags noch in Böhmen übermächtig, die tote Hand der Kirche und der
Ah allen begehrenswerter Punkten eingenistete, da ein Schloß, da einen Wildpark,
"fischreiche Teiche, ringsherum aber ausgebreitete Wälder und Felder umfassende
^^uudienbesitz des hohen Adels als stumme Wächter zugesellt. Wie die übrige»
^ofte Pnigs sj,^d auch die des Hradschins deu größte« Teil des Jahres über
wewvhut, weil ihre Eigentümer, der Schloßherr der kaiserlichen Burg an der
bis^c "".d^hwo frischeres Stadt- und Landleben genießen. Nur der Fürsterz-
und'Indos und die üblichen Stiftsdamen, die in der schllüsteu Aussicht über die Stadt
no un Andenken an die Kaiserin Maria Theresia für die Aussichtslosigkeit ihrer
"^^plane und für den eignen kinderlosen Herd Trost zu finden bemüht sind,
'-residieren" einigermaßen.
Wie könnte unter solchen Umständen auf dem Hradschin statt Verödung Leben,
statt Kirchhofsstille munteres Geräusch und Getreide herrschen? Was kann so ein
einzelner abgelagerter Kastellan, was kaun ein noch so wohlbeleibter Sakristan zur
Belebung der weiten stillen Räume thun? Sind ein paar armselige Frösche im¬
stande, durch ihre Sprünge und Fahrten ein verlassenes Nicscnaquarium in ein
Modebad der Amphibicnwelt umzuwandeln, und werden sie sich nicht vielmehr still
und verschüchtert in das künstlich angepflanzte Schilf zurückziehn, weil es sie, so
ganz allein in der weiten Wasserwüste, graute und gruselt?
Die alte Frau auf den Stufen hatte ihre durch das Mittagsmahl unterbrochner
Fürbitten mit besondrer Inbrunst von neuem begonnen. Es kamen „wieder" zwei
die Stufen herauf, ein hochgestellter geistlicher Herr und, in ein lebhaftes Gespräch
mit ihm vertieft, ein unverkennbar echtösterreichischer Kavalier. Aus dem Munde
des Prälaten empfing die Beterin die beglückende Segeusformel, aus der Tasche
des Kavaliers das kaum minder beglückende Geldstück. Der Kavalier war der von
uns aus Wien zurückerwartete Viktor Mvutencro, der in der That mit zwei wunder¬
schönen arabischen Schimmelhengsten und einem nubischen Wüstensohne in Prag
eingetroffen war und im Palais seines Oheims, des Fürsten, Wohnung genommen
hatte; der Prälat war der Prior, der, ohne daß der andre eine Ahnung davon
hatte, das letzte Verhör mit ihm anstellte.
Individuelle Offenbarung, fragte der Prälat, den von Montenero gebrauchten
Ausdruck wiederholend, wie meinen Sie das, lieber Graf?
Wie ich das meine, Hochwürden? Nun, daß auch wir zwei nicht dasselbe
zu glauben brauchen, weil wir zwei verschiedne Herzen habe», und sich vielleicht
der Schöpfer das eine so, das andre so hat zurecht machen wollen.
Und diese Vorstellung von der individuellen Offenbarung führt Sie natürlich
dazu, alle Satzungen und Lehren unsrer heiligen Kirche für irrtümlich anzusehen,
sobald sie eiuer Meinung widersprechen, die sich bei Ihnen im Wege der vermeint¬
lichen individuellen Offenbarung gebildet hat!
Doch nicht, Hochwürden. Ich nehme im Gegenteil an, daß jeder sich an das
halten muß, was ihm einleuchtet. Wenn Euer Hochwürden die Dogmen der Kirche
sämtlich einleuchten, was nur durch eine besondre Gnade möglich ist, so muß der
Herr Prälat für sie durchs Feuer gehn, und niemand hat das Recht, ihm seinen
Glauben als einen ans irrtümlichen Grunde beruhenden vorzuwerfen.
Ebensowenig vermutlich, als ich das nach Ihrer Meinung Ihnen gegenüber
zu thun berechtigt bin.
Nun ja, Hochwürden, darauf möchte es freilich in der Hauptsache hinaus¬
laufen.
Aber, Graf, ist es Ihnen denn nicht klar, daß mit solchen Grundsätzen von
einer herrschenden Kirche, vom Amte der Schlüssel, vom Stuhle Petri nicht mehr
die Rede sein kann?
Doch doch, Hochwürden, für die, die daran glaube» . . .
Und für die, die nicht daran glauben, Graf?
Ja, die müssen sich eben sehr hüten, daß sie fremden Glauben und ganz ^
sonders den Glauben einer ganzen Kirche nicht vorwitzigerweise als Aberglauben
bezeichnen, während sie doch nur von sich selbst zu reden berechtigt sind und nur
sagen können, was ihnen einleuchtet und was nicht.
Aber damit machen Sie ja Ihre eigne Vernunft, von der Sie doch zugeben
müssen, daß sie. nur zu oft irrt und irreführt, zur einzigen Leuchte auf Jhre>"
Wege, und wenn alle dächten wie Sie... ^
Ja, Hochwürden, das ist es ja gerade. Ganz wie ich denkt keiner, und day
das so ist, scheint doch in des Schöpfers Absicht gelegen zu haben...¬
Wenn es nicht vielmehr in der seines größten Feindes liegt, der allzeit Un
kraut unter deu Weizen säet, und dem an nichts mehr gelegen ist als an der Herr¬
schaft von Unglauben und Zweifel. Wie können Sie, Graf, mit Ihren Gruuv-
sähen ein treuer, gehorsamer Sohn der Kirche und unsers heiligen Vaters sein!
Sie entziehn sich ja willkürlich seinem Einfluß und seiner Jurisdiktion; die Kirche
wird Ihnen zu einer Fremden, mit der Sie nichts mehr zu thun haben.
Meinen der hochwürdige Prälat damit, daß ich das Ansehen und den Ein¬
fluß der Kirche als einer vom Staate anerkannten geistigen Gewalt in Frage
stelle? Das thue ich keineswegs. Ich unterwerfe mich durchaus den Gesetzen
des Staats, und was er in Bezug auf die Heilighaltung kirchlicher Gebräuche ver¬
fügt, halte ich mich in jeder Beziehung zu befolgen für verpflichtet.
Aber die Kirche steht doch weit über dem Staat, und was sie von Ihnen
federt, ist deshalb ein viel zwingenderes Gebot, als was der in seinen Zielen und
Formen veränderliche Staat von Ihnen verlangen kann.
Nun ja, Hochwürden, ich weiß, daß das der Standpunkt ist, auf dem Rom
steht, und ich bekämpfe ihn nicht, insoweit Ihre Ansichten davon beeinflußt werden.
Nur insoweit mich die Sache angeht, habe ich meine eigne Meinung.
Und wozu führt Sie das, Graf? Daß Sie für sich von den Sakramenten
und Gnadenmitteln nichts erwarten, und daß Sie, wo es sich um Forderung kirchlicher
Zwecke und um die Verteidigung unsrer priesterlichen Vorrechte handelt, mehr als
lau sind? Glauben Sie, daß der Kirche mit solchen Anschnunngen gedient sein kann,
und daß sie die Toleranz soweit treiben darf, einen solchen Standpunkt nicht mit
allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln anzugreifen?
Aber wie können Hochwürden erwarten, daß ich mich veranlaßt finden könnte,
etwas zu fördern, was mir entweder nebensächlich oder gar gemeingefährlich erscheint?
Und welche von der Kirche getroffne Einrichtung, welcher von ihr aufgestellte
Grundsatz würde denn zu denen gehören, die Sie für nebensächlich oder gar für
gemeingefährlich halten? Denken Sie dabei an das Cölibat, ein die Klostergelübde,
an die Dogmen der Jnfallibilitdt und der unbefleckten Empfängnis, der die Mutter
unsers Heilands entsprossen ist? Sie müssen doch selbst fühlen, Graf, daß solche
Ansichten nichts andres sind als die reinste Ketzerei, und daß die Kirche dergleichen
in ihrem Schoße nicht dulden kann, wenn nicht das ganze im Laufe der Jahrhun¬
derte mit Gottes Hilfe aufgerichtete gewaltige Gebände zum Einsturz kommen soll.
Ob die Kirche dergleichen dulden kann, weiß ich nicht. Wie sie gegenwärtig
organisiert ist, und da sie nun einmal auf ihren weltlichen Einfluß, auf ihre welt¬
liche Stellung so großes Gewicht legt, so wird sie wohl solchen Widerstand nie
dulden »vollen und ihn vielleicht auch nie dulden dürfen. Auf rein geistigem Gebiet
bin ich kein Widersacher der Kirche. Im Gegenteil. Wie könnte ich das Recht, der
eignen Meinung zu folgen, das ich für mich in Anspruch nehme, da beeinträchtigen
Wollen, wo es sich um die unbedingte Glaubens- und Lehrfreiheit einer so gewaltigen
Gemeinschaft handelt, wie es die katholische Kirche ist? Nur in rein weltlichen Dingen
kann ich mich bisweilen für das Vorgehn und die Ziele der Kirche nicht erwärmen.
Mein Herr Graf, Sie sind im Irrtum. Die Bestrebungen der Kirche sind
»iemals weltlich, wenn auch die Mittel, deren sie sich zur Erreichung ihrer Zwecke
bedient, notgedrungen weltlich sind. Die Zwecke der Kirche werden schon allein
durch den Umstand, daß die Kirche sie zu den ihren macht, geistliche, und damit
fällt für das Individuum, für Sie wie für mich das Recht weg, darüber zu richten
oder ihnen gar Widerstand zu leisten. Graf, Sie sind ein Idealist, und zwar ein
der Kirche gefährlicher. Der Grundgedanke, von dem man auszugehn hat, daß die
Kirche eine' gewaltige, von Gott selbst gegründete und aufgebaute Institution ist,
für deren Bestand man keinen Stein als gleichgiltig oder nebensächlich betrachten
darf, ist Ihnen keine unumstößliche Wahrheit, kein Dogma. Darum sind Sie der
Kirche entfremdet, stehn außer ihr.
Was kann der Kirche an der Meinung eines Einzelnen gelegen scm-
Auch hier irren Sie im allgemeinen und im besondern. D,e Kirche muß den
Unglauben und die Gleichgiltigkeit bekämpfen, wo immer sie ihr entgegentreten, und
bei einem Manne, der wie Sie, Graf, wenn sich heute zwei Augen zuthun, für die
Interessen der Kirche als Freund oder als Feind von Bedeutung sein wird, ist dies
in erhöhtem Maße der Fall. Es beliebt Ihnen, die Kirche überhaupt als Menschen¬
werk, als etwas in Ihrem Leben und in dem des Staats „Nebensächliches" anzu¬
sehen, und dieser Irrtum veranlaßt Sie zu glauben, daß Sie nach eignem Ermessen
an dem Bau der Kirche und an ihrem Wirken deuteln und ändern können. Hüten
Sie sich, Graf, daß Sie nicht zwischen das Getriebe ihrer allmächtigen Räder
kommen und dabei zermalmt werden.
Was Hochwürden sagen, bestätigt mein Bedenken, daß die Kirche, wie sie jetzt
besteht, vielleicht wider ihren Willen, aber mit innerer Notwendigkeit eine Tyrannin
ist, der man blind gehorchen muß, wenn man ihr nicht als Ketzer oder Widersacher
gegenübertreten will. Das ist die Schuld der Kirche, nicht die unsre, ich meine
derer, die auch in geistlichen Dingen freie Forschung als die erste Vorbedingung für
die Möglichkeit eines allmählichen Fortschritts ansehen.
Die beiden waren unter diesem Gespräch an der Se. Gevrgenkapelle und am
Dome vorbei über die öden Burghofe weg nach dem Fürsterzbischöflichen Palais
gegangen. Der Prälat, der dem Kardinal seine Aufwartung macheu wollte, trennte
sich hier von Moutenero. Nicht mit einem Händedrucke, wie das sonst zwischen den
beiden üblich war, sondern mit einer leichten Neigung des Hauptes, nachdem er,
gewissermaßen als Abschluß der Diskussion, noch sehr ernst und eindringlich gesagt
hatte: Ich warne Sie, Graf, hüten Sie sich in kirchlichen Fragen vor der freien
Forschung und vor allem, was aus ihr an Unbotmäßigkeit und Unglauben erwächst.
Sie sehen die Kirche irrtümlicherweise als eine rein geistige Macht an, der man in
weltlichen Dingen unbedenklich Widerstand leisten darf. Kein Irrtum kaun Ihnen
so verhängnisvoll sein als dieser, denn Sie verkennen damit nicht allein das Wesen
der Kirche, sondern auch die Größe der Ihnen drohenden Gefahr.
Als wenn es darauf abgesehen gewesen wäre, Montenero in eine Stimmung
zu bringen, die ihn veranlaßte, die Warnung des Priors in den Wind zu schlagen,
kamen ihm über den Platz die Gräfin L'Hermage und deren Tochter entgegen. Da
sie eine der Stiftsdamen aufsuchen wollten, so schloß er sich ihnen an, ging mit
ihnen den eben in Gesellschaft des Priors gemachten Weg zurück und würde über
dem muntern Geplnuder, mit dem ihn die beiden Damen empfingen, die ernsten
Worte des Prälaten ganz vergessen haben, wenn nicht die Gräfin ziemlich bald das
Gespräch von den Stadtneuigkeiten auf ungefähr denselben Gegenstand gebracht hätte,
das der Prior verhandelt hatte.
Die Äbtissin hatte es für ihre Pflicht gehalten, die Gräfin zu warnen, offenbar
in der Hoffnung, daß es dieser gelingen würde, ihren Einfluß auf Montenero geltend
zu machen und so das Äußerste, was sie kommen sah, abzuwenden. Selbstverständlich
hatte die Äbtissin nicht gesagt, was sie von den Absichten des Priors wußte, sondern
nur in allgemeinen Ausdrücken von den Gefahren gesprochen, denen man sich anch
heutzutage noch aussetze, wenn man der Kirche Widerstand zu leisten wage, und
wenn dieser Widerstand der Kirche unbequem oder gefährlich erscheine. Dieses
Thema behandelte nun die Gräfin auf ihre Weise, indem sie dabei den rein äußer¬
lichen Dinge«, mit, deuen sie sich soviel zu schaffen machte, und ans denen ihrer
Meinung nach wahrhaft kirchliches Wesen bestand, das Wort redete. Warum war er
dem Vincentinsvereine noch immer nicht beigetreten? Warum hatte er demi Kardinal
seinen Besuch zu macheu versäumt? Warum fehlte er jeden Morgen bei der Messet
Was hatte er gegen den Pater Alohfins, der ihn anzuleiten bereit war? Konnte
er für den Vetter Egon, der ein so gewissenhafter Mensch und guter Katholik war,
nicht etwas freundlicher und zuvorkommender sein?
Das waren viel Fragen auf einmal. Freilich waren das alles nur Äußerlich¬
keiten, worin er sich hätte fügsam zeigen können. Wenn sie nur nicht so eng mit
der einen Hauptfrage zusammengehangen hätten, ob man sich von der Geistlichkeit
in die Tasche stecken lassen solle oder nicht. Und Egon, mit seinem Leichenbitter-
gesicht und seiner Armensündermiene, war ihm nnn erst recht zuwider. Er begriff
nicht, das; Paula das nicht einsah. Auch deren Mutter schien für die Unaussteh-
lichkeit dieses Menschen kein Auge und kein Ohr zu haben und ließ ihn immer für
holt gelten.
Ich nehme mirs jeden Tag von neuem vor, freundlich und nett mit ihm zu
sein, sagte Moutenero, aber es gelingt mir nie.
Mama, sagte Komtesse Paula lachend, die beiden sind mich zu verschieden, als
daß sie miteinander um demselben Strange ziehn konnten.
Dus ist schade, sagte die Gräfin, denn Egon, man mag sonst über ihn denken,
wie man Lust hat, zieht am richtigen. Seien Sie doch überzeugt, bester Viktor,
daß mir Ihr Wohl ganz ebenso am Herzen liegt wie das Egons, und daß ich es
mir recht wohl überlegt habe, wenn ich Ihnen ernstlich rate, so bald als möglich
einzulenken und wenigstens in der Form eine Opposition aufzugeben, die niemand
etwas nützt und Ihnen nnr Feinde macht, und zwar sehr wichtige nud gefährliche.
Ja, fügte Komtesse Paula bei, auch der Onkel und der Kardinal sind ein
wenig ungehalten auf dich, Viktor. Sie finden, daß dn mit deinen freigeistlerischen
Ideen zu weit gehst, und daß das, auch abgesehen von allem andern, mit der
Stellung eines böhmischen oder, wenn dn lieber willst, österreichischen Großgrund¬
besitzers nicht vereinbar ist.
Und wie denkst dn darüber, Cousinchen?
Wie soll ich darüber eine Meinung haben, Viktor! Dn denkst so, Mama denkt
unters, und mir ist es natürlich ebenso unmöglich, mich gegen deine wie gegen
Mamas Meinung zu entscheiden.
Und Egons Meinung, fragte die Gräfin vorwurfsvoll, gilt sie dir so wenig,
daß du ihrer nicht einmal erwähnst? Die vorsichtige Frau verfehlte nie, in solchen
Fällen die Balance wenigstens in der Form herzustellen. Man konnte nicht wissen,
wie sich die Dinge anlassen würden, und sie wollte bis zuletzt freie Hand behalten.
Ach. du weißt ja, Mama, mit Egon geht es mir wie Viktor. Ich fasse
jeden Tag vou neuem den Vorsatz, mich nicht über ihn zu ärgern und ihn nicht
unglimpflich zu behandeln, und ehe ich mich dessen versehe, ist er mir wieder einmal
glinz zuwider geworden, und ich muß meinen Unmut an ihm auslassen. Das ist
"un einmal stärker als ich. Unser guter Pater Aloysius hat es mir so und so oft
vorgestellt, wie unrecht es von mir ist. daß ich Egon trotz seiner moralischen Vor¬
trefflichkeit nicht so gut leiden mag wie ... ich meine, daß ich ihn nicht recht
leiden mag. Es bleibt trotz aller Vorstellungen und trotz aller guten Vorsätze dabei,
und ich müßte mich sehr irren, wenn es dem Onkel Vincenz und dem Onkel Klemens
nicht im verborgensten Winkel ihres Herzens auch so ginge wie mir. Egon sollte
w ein Kloster gehn, in ein nettes mit guter Kost und schöner Aussicht. Da wäre
^ mit seiner Dnckmänserei ganz an seinem Platze, findest du nicht auch, Viktor?
Um Gottes willen, Paula, wie kannst du so etwas sagen, platzte Mvntenerv
heraus, dem die treue, durch dick nud dünn gehende Bnndesgenossenschnft selner
Cousine kein neuer Triumph war. Du weißt ja doch, daß, wenn es nach mir ginge,
"lie Klöster morgen aufgehoben werden würden. Wie könnte ich denn je wünschen,
dnß ein ohnehin in seinen Vorurteilen so befangner Mensch, wie unser guter Vetter,
durch seinen Eintritt in ein Kloster noch tiefer in das mystische Dunkel des religiösen
Wunderglaubens hineingeführt würde.
Die Gräfin legte sich auch diesesmal rasch ins Mittel: das Ausgleichen, das
Glattreden war ihre Force. Lieber Viktor, sagte sie freundlich, keiner von uns
möchte Sie ja in ein Kloster schicken...
Das fehlte auch noch ... es war sonderbar, daß dieser etwas nnverblumte
und den Regeln der Unterhaltung im Monteneroschen Hause zuwidergehende Aus¬
druck Viktor und Paula wie aus einem Munde entfuhr.
New, Sie sollen bei uns bleiben, lieber Viktor, aber mit Ihren Ansichten über
die Klosterfrage und die guten Werke überhaupt stehn Sie in unserm Kreise wirklich
ganz vereinzelt da. Auch Paulas Onkel, unser guter Kardinal, dem niemand je
extreme Ansichten vorgeworfen hat — wie hätte er solche anch bei seinen frühem
Kameraden nufleseu können! —, ist von dem Nutzen und der Notwendigkeit der
Kloster und der Heiligenverehrung überzeugt, und noch neulich bemerkte er, daß
man mit deren Abschaffung das Beil an die Wurzeln des Baumes legen würde.
Ohne Klöster, ohne Ablaß, ohne gute Werke und ohne die Fürsprache der Heiligen,
denkt auch er, sei die katholische Kirche einfach undenkbar.
Du lieber Gott, verehrte Tante, das stelle ich ja auch im allgemeinen gar
nicht in Abrede, und ich verdenke es weder dem Kardinal noch irgend einem unsrer
Prälaten, wenn sie die Kirche, der sie als deren Fürsten und höchstgestellte Diener
angehören, mit deu Mitteln groß und mächtig zu erhalten suchen, denen sie ihre
gegenwärtige gewaltige Stellung verdankt. Es wäre Selbstmord, wenn sie es nicht
thäten, und unser guter Prior vom Berge hat mir gerade auf der Stelle, auf der wir
jetzt stehn, auseinandergesetzt, daß die Kirche keinen, auch uicht den anscheinend
wertlosesten Abfall dulden könne, und daß er, was meine eigne unwürdige Person
anlangt, Rock und Kragen daran setzen würde, mich im Schoße der heiligen Mutter
Kirche festzuhalten und zu verhindern, daß ich unter die Abtrünnigen gerate.
Und habe» Ihnen die Worte unsers Priors keinen Eindruck gemacht, lieber
Viktor? Die gute Äbtissin hat mir noch gestern ganz in demselben Sinne von
Ihnen mit höchster Liebe und Teilnahme gesprochen. Sie macht mich gewissermaßen
dafür verantwortlich, daß Sie umkehren und wenigstens nach außen hin eine kirchen¬
freundlichere Haltung annehmen. Sie sagt, Sie sollten den Kardinal nnfsnchcn nud
ihm vorstellig macheu, daß man Sie bei ihm verleumdet und ohne Not angeschwärzt
habe. Sie sollen ihm sagen, daß sie dem Vineentiusvereine beizutreten wünschen,
und daß Sie kein prinzipieller Widersacher der Klöster und ihrer auch materiellen
Förderung seien.
Dem Kardinal werde ich ja mit Vergnügen meine Aufwartung machen. Wir
verstehn uns noch von früherer Zeit her sehr gut, und ich sehe zu wohl ein, welche
besondre Verpflichtungen ihm das Barett und das rote Gewand auferlegen, als
daß ich im Verkehr mit ihm eine Diskussion über Dinge herbeiführen möchte, die
er ox oklieiv verteidigen muß, und die ich deshalb, ohne taktlos zu sein, ihm gegenüber
nicht angreifen dürfte. Ich könnte ja anch statt in den Vineentinsverein in den
Dombauverein eintreten, denn den Ausbau dieses herrlichen Kunstwerks zu fördern
liegt mir ja ohnehin am Herzen. Auch wegen des Besuchs der Messe könnte ich
gern thun, was Sie und die Äbtissin wünschen. . .
Das ist recht von dir, Viktor, fiel Komtesse Paula eifrig ein. Du wirst sehen,
was du dem Kaplan dann! für eine Freude machst. Er sagt, seitdem du zurück
bist, und es bekannt ist, daß du die Messe schivänzst. . .
Aber Paula, sagte die Gräfin vorwurfsvoll,
Nun ja, es war mir ja nur so von der Zunge geschlüpft, weil Viktor auch
so sagt, und ich den Ausdruck komisch finde, , . Aber das ist richtig, seitdem die
Leute im Stalle wissen, daß du nicht zur Messe kommst, sind schon fünf von den
Kutschern und Reitknechten weggeblieben. Und gerade die besten. , .
Meinst du damit die frömmsten, Cousinchen?
Nein, so die besten, die ihre Sache verstehn und etwas auf sich halten. Und
von denen der Kaplnn natürlich anch geglaubt hatte, daß sie die frömmsten seien-
Sie sehen, Viktor, wie auch in diesem Falle böses Beispiel gute Sitten
verdirbt.
Ganz Wider meinen Willen, verehrte Tante, denn nichts liegt mir ferner als
die Absicht, irgend jemand seinen kirchlichen Pflichten zu entfremden. Wer an das
Wunder glaubt, soll ja nicht versäumen, ihm beizuwohnen.
Und Sie, Viktor, haben Sie denn den Glauben an das Wunder so ganz
verloren?
Ach, Mama, spanne doch den unglücklichen Viktor nicht so ans die Folter. Er
will ja die Messe wieder regelmäßig besuchen. Das ist ja doch die Hauptsache.
Das war in der That für die Gräfin die Hauptsache und — für Komtesse
Paula auch, denn alles, was ihr den Grafen Viktor entfremdete, war ihr peinlich,
verursachte ihr wahren Seelenschmerz. Ihre Gefühle für ihn waren derart, daß sie es
— vielleicht war das unrecht — mit dem Glauben und der Kirchlichkeit nicht so
genau nahm. Sie würde sich, wenn es nur auf sie angekommen wäre, am Ende
sogar mit dem Gedanken, einen Ketzer zum Mnuue zu haben, ausgesöhnt haben,
aber es hatten ja auch noch andre ihr Jawort dazu zu geben, wenn sie die Seine
werden sollte: ihre Mutter, der Fürst, der .Kardinal und wer nicht alles. Und
von all denen waren, wenn Montenerv nicht mildere Saiten aufzog, mir Wider¬
spruch und Hindernisse zu erwarten, während sich alles noch machen konnte, wenn
er mit sich reden ließ und wenigstens jetzt im letzten Augenblick einlenkte.
Nicht viel anders dachte die Gräfin, die, so wenig sie es Wort haben durfte,
deu Geschmack ihrer Tochter teilte und nichts sehnlicher wünschte, als daß das ganze
Vermögen des Fürsten auf den Grafen Viktor übergehn und dieser dann ihrer
Tochter die Hand bieten möchte. Damit wäre auch ihr Gewissen der Kirche
gegenüber beruhigt gewesen, denn sie kannte den Einfluß ihrer Tochter auf den
Grafen zu gut, als daß sie nicht auch in Beziehung auf die kirchliche und kirchen-
freuudliche Gesinnung des jungen Ehegatten einen erfreulichen Ausgleich hätte hoffen
dürfen.
Wie der Graf über die Dogmen und Mysterien der Kirche dachte, war ihr
im Grunde genommen gleich, wenn er nur in der Form und in seiner Stellung
der Geistlichkeit gegenüber die nötige Rücksicht beobachtete und einiges Wohlwollen
zeigte, sodaß ihn die Freunde der Kirche nicht länger zu fürchten und zu bekämpfen
brauchten.
Von deu Plänen des Priors und der Äbtissin, die es ja doch in erster Reihe
darauf abgesehen hatten, sich des Monteneroschen Vermögens zu Gunsten des einen
oder des andern der beiden Stifter zu bemächtige», war ihr nichts bekannt. Sie
diente deu beiden und dem klugen Pater Aloysius nnr als Marionette. Wenn sie,
dachten diese, zur Einsicht kommen würde, welche Bestrebungen sie Wider Wissen
und Willen gefördert hatte, würde es zu spät sein, und man würde sie einfach bei¬
seite schieben, wie man sich andrer für ähnliche Zwecke gebrauchter Werkzeuge ohne
Gewissensbisse entledigt hatte.
Uuter solchen Erwägungen und Gesprächen hatte man den dem Hradschiner
Stift als Entree dienenden, übereck angeflickten kleinen Kuppelbau erreicht, und da die
Dame, die man besuchen wollte, zu Hanse war, so wurde Mouteuero mit hinein-
geuommen und mußte einen lehrreichen, aber nicht für jedermann interessanten
Kursus über die Aussichten und Pläne aller Stifts- und heiratsfähige» jungen Dame«
der österreichischen Gesamtmonarchie mit durchmachen.
Unterdessen war der Prior von dem Kardinal empfangen worden, und die
Unterhaltung hatte die besondre Wendung genommen, zu der es leicht kommt,
wenn ein hochbefähigter und kühner Geist, wie der Prior, einem Vorgesetzten
gegenübersteht, der ihm, wie es bei dem Kardinal der Fall war, nicht bloß an
kirchlichem Rung weit überlegen ist, sondern ihn noch obendrein dnrch gesellige
Sicherheit und klassische Ruhe dominiert. Der sonst so selbstbewußte und sichere
Mann empfand die ihm gezognen unübersteiglichen Schranken. Als Diplomat und
Politiker war ja vielleicht, was kühne Pläne und rücksichtslose Ausführung an¬
langte, der Prior der fähigere und genialere der beiden, aber der mächtigere,
der unbestrittenermaßen die Oberhand hatte, war der Kardinal. Bet seinem leicht¬
lebigen entgegenkommenden Charakter hätte der hohe geistliche Rang, den er be¬
kleidete, vielleicht nicht genügt, ihm dieses Übergewicht zu sichern; es kam etwas
rein weltliches dazu, was ihm gewissermaßen neben dem geistlichen Stützpunkt noch
el»en zweiten, außerhalb der Kirche liegeudeu verlieh. Er war in jeder Beziehung,
historisch, heraldisch und vom rein geselligen Standpunkt ans ein überaus einflu߬
reicher und maßgebender Repräsentant des höchsten einheimischen Adels. Und wie
er diesem Umstand sein hohes Amt und den Purpur in ähnlicher Weise perdankte,
wie dies schon wiederholt bei seinen Vorfahren der Fall gewesen war, so gab ihm
dieselbe bevorzugte weltliche Stellung eine Unabhängigkeit gegenüber allen, auch
den mächtigsten und geheimnisvollster römischen Einflüssen, vor der sich der Prior
beugen mußte. Ju Staaten, wo es keine mächtige Feudnlaristokratie giebt, ist auch
der höchstgestellte Kirchenfürst ein Geschöpf Roms, hier in Böhmen, auf dem
Hradschi» war der Fürsterzbischof nicht das Geschöpf, sondern nur der Bundes¬
genosse Roms, und dieser Umstand fühlte sich überall an der Freiheit seiner Be¬
wegungen heraus. Denn so sehr auch die Kurie der Laienwelt gegenüber Wert
darauf legt, als nur von geistlichen Rücksichten geleitet zu erscheinen, so vorsichtig
und so klug weiß sie jeder rein weltlichen Machtfrage da Rechnung zu tragen, wo
sie damit einen Erfolg oder einen Vorteil zu erzielen hofft.
Der Versuch des Priors, den Grafen Viktor nicht gegen den Willen des
Kardinals, sondern mit dessen Hilfe zu stürzen, war etwas, woran sich der zehnte
nicht gewagt hätte, denn der Kardinal war dem Manne, den es zu stürzen galt, ge¬
wogen, Montenerv war einer seiner nahen Verwandten, und dem Kardinal — er hatte
diese Anschauung mit der Muttermilch eingesogen — stand die Familie ebenso nahe
wie die Kirche, oder um es mit andern Worten auszudrücken, für eine Kirche, die
den Interessen seiner Familie zuwiderhandelte, hatte er wenig Herz und Teil¬
nahme. Wenn die Kirche vorgehn und sich bereichern wollte, wenn es ihr darum
zu thun war, freigeistigen Übermut zu breche» und ketzerischen Frevel zu strafe»,
so mochte sie sich anderswo hinwenden, nicht in den Schoß seiner Familie und
Verwandtschaft. Der Angriff des Priors mußte deshalb mit besondrer Kühnheit
ins Werk gesetzt werden, wenn er gelingen sollte. Daß Graf Viktor ein Freigeist
war, hatte den Kardinal im Verkehr mit ihm nie gestört. So korrekt in: Glauben
und in der Haltung der überaus taktvolle Kirchenfttrst für seine Person war, so tolerant
war er da, wo es sich für ihn um nichtamtliche, altgewohnte Beziehungen handelte.
Ich habe geheime Aufträge vou Rom, sagte der Prior, Aufträge, deren so¬
fortiger Ausführung ich mich um so »veniger entziehn kann, als sie in der Form
eines unbedingten Befehls gegeben sind. Der Graf wird höchste» Orts für so
gefährlich gehalten, daß mir die Wahl des Mittels, ihn unschädlich zu machen,
überlassen worden ist. Ich wollte nicht verfehlen, Ew. Eminenz von diesem Sach¬
verhalt ehrfurchtsvoll in Kenntnis zu setze», und mir deren Beistand pflichtschuldigst
erbitte».
Bei einem Kirchenfürsten, der keinen andern Halt gehabt hätte als den, den
ihm die Kurie gab, würde — das ist »ur so eine Laieuvermutung — der dunkle
Schatten der gewaltigen Hand, mit deren Allmacht gedroht wurde, vielleicht gewirkt
haben. Dem Kardinal machte er keinen Eindruck. Man werde wohl daran thun,
sagte er, in dieser Sache mit der größten Vorsicht zu Werke zu gehn und sich
— er richtete sich hierbei in der vollen Höhe seiner imponierender Gestalt auf ^
von Roni aus unmittelbar an ihn zu wenden. Er sei nicht gesonnen, Machen¬
schaften »»lauterer Natur, bei denen man sich untergeordneter Werkzeuge bediene,
und seinem Einfluß bei Sr. Majestät und hier im Lande zu decken. Er weise von
vornherein jede Verantwortung für einen unberechtigten Eingriff zurück und werde,
wenn diesem seinem ausdrücklichen Befehle doch zuwidergehandelt werde, nicht ruhn
und nicht rasten, bis den Schuldigen die Strafe des weltlichen Arms erreicht habe.
Ich darf wohl annehmen, sagte der Prior, daß Ew. Eminenz sich der mit
dieser Entschließung übernommenen besonders schweren Verantwortung bewußt sind-
Es würde mir leid thun, wenn man an höchster Stelle deren Anschammge» nicht
teilte und sei» Mißfallen in empfindlicher Weise z» versteh» gäbe.
Sorgen Sie sich nicht, lieber Prior, sagte der Kardinal, indem er durch eine
Bewegung z» versteh» gab, daß die Audienz z» Ende sei, und verlassen Sie sich
darauf: der Fürsterzbischof wird den Kardinal und mit ihm den hochwürdigen Prior
vom Berge nach allen Seiten hin decken.
Als der Pater Aloysius, einer Aufforderung des Priors folgend, am nächsten
Morgen den vielgewnndnen, sich bald unter hohem Laubholz, bald zwischen dichtem
Gebüsch hinschlängelnden, hier längs der Böschung eben hinlaufenden, da ihr auf
steilen Stufen zu Leibe gehenden Parkpfad eingeschlagen hatte, der zu dem zwar
etwas verworrenen, aber in gewaltigen Massen weithin über das Land leuchtenden
Komplex der Stiftsgebäude hinaufführte, hatte ihn das, was ihm von der Gräfin
über ihre gestrige Unterredung mit dem Grafen Viktor mitgeteilt worden war, und
dessen Teilnahme an dem heutigen Meßgottesdienste gutes Mutes gemacht. Er
war in gehobner, hoffnungsvoller Stimmung. Es konnte ja nun noch alles gut
werden. Auch wenn Graf Viktor Komtesse Paula heiratete und von dem Fürsten
testamentarisch zum alleinigen Erben seiner Allodialgüter gemacht wurde, brauchte
d>e Kirche von dem nun glücklich bekehrten nichts zu fürchten. Daß der Fürst seinen
^esitz, insoweit ihm darüber freie Verfügung zustand, nicht zu teilen wünschte, wußte
der Pater. Dieser Umstand war es ja gerade gewesen, weshalb man sich so eifrig
bemüht hatte, den Anfall dieser wahrhaft fürstlichen Lttndereien und Einkünfte dem
trafen Egon auf die eine oder die andre Weise zu sichern. Denn auf seine Bot¬
mäßigkeit konnte sich die Kirche freilich noch unbedingter verlassen als ans die des
Grafen Viktor, er war ein durchaus gefügiges Werkzeug in ihren Händen. Aber
da nun auch bei dem Grafen Viktor Aussicht auf Besserung war, so stand die
^ache noch immer nicht ganz schlimm. Jedenfalls war die Sinnesänderung des
Grafen dem gewaltigen und bisher überall siegreich gebliebner Zureden des Priors zu
verdanken. Diesem ersten Erfolg würden sich weitere anschließen, und wenn man sich
^und mit dem Grafen nie eines Kadavergehorsams werde erfreuen können, so werde
°°es alles so weitergehn, wie es sich jetzt unter dem Fürsten anlasse, der ja anch
er Kirche die wahre und wünschenswerte völlige Unterwerfung nicht bezeige. Pater
Ulohsins war jung, und die Jngend neigt, auch wenn ihr die Flügel im Konvent
'°rschriftsmäßig gestutzt sind, immer ein wenig zum Optimismus.
Wie enttäuscht war der arme Pater, als er die Nachricht, daß Graf Viktor
Morgen die Messe besucht habe und für Mittag vom Fürsterzbischof zur Tafel
geladen sei, dem sehr ernst dreinschauenden Prior gebracht und auch vou der Freude
ud Genugthuung des Fürsten und der Gräfin über diese unerwarteten und jeden¬
falls uur ihm, dem Prior zu dankenden Ereignisse berichtet hatte!
Sie sind im Irrtum, bester Pater, sagte der Prior, der sich keine falschen
Hoffnungen machte und recht wohl wußte, daß der Graf nur in Formsachen nach¬
gegeben habe und im wesentlichen noch genau so deute wie früher. Und dieser
Irrtum ist gefährlich, denn er hindert Sie, die Sachlage so zu sehen, wie sie
Milch ist. Der Gras ist uns in jeder Beziehung im Wege, und die etwas mildern
aUen, die er seit gestern aufgezogen hat, ändern daran nichts. Es handelt sich
^/Jeder ihm und uns nicht um Herstellung eines erträglichen inoclus vivvncli, wie
glauben scheinen, Sündern um eine ganz andre, ungleich wichtigere Frage,
^otter und dürfen wir es zulassen, daß ein Mann mit ketzerischen Anschauungen,
w er sie lM, in eine Stellung kommt, in der er vermöge eines fürstlichen Besitzes
"d eines weitreichenden Einflusses der Kirche unabsehbaren Schaden zufügen kann?
dem wünschenswerten Zuwachs an Mitteln und nu Macht, der der Kirche
urch seine Dazwischenruft entgeht, will ich gar nicht einmal reden. Ob er Messe
^U. ob er mit seinein Vetter, dem Kardinal, geselligen Verkehr Pflegt, ist für uns
cevensache. Was die Kirche mit Recht erwartet und verlangt, ist, daß er ihr mit
unten Gehorsam diene, und — glauben Sie meiner langjährigen Erfahrung, bester
Pater — dazu wird dieser Mann nie zu bringen sein.
Und was denken Sie zu thun, hochwürdiger Prälat, um unter solchen Umständen
das Interesse der Kirche besser zu wahren als durch nachsichtiges Geschehenlassen
und wohlwollendes Entgegenkommen?
Zu handeln denke ich, Pater, wenn es dazu nicht schon zu spät ist. Und was
Sie hätten thun sollen und bedauerlicherweise unterlassen haben, wäre dasselbe ge¬
wesen. Sie hätten handeln sollen. Zweierlei konnte durch vorsichtiges, aber nach¬
drückliches Eingreifen verhindert werden, die Verheiratung des Grafen mit Komtesse
Paula und dessen Einhebung als Erbe der Allodialgüter. Sie werden mir nicht
bestreiten, Pater, daß ich Sie auf die Wichtigkeit beider Punkte schon längst und
wiederholt aufmerksam gemacht habe. Wie entschuldigen Sie die unverzeihliche Ver¬
säumnis? Halten Sie die Stellung der Kirche gegenüber der Welt für ein fried¬
liches Thronen, das sich mit dem begnügen darf, was ihr der fromme Eifer Einzelner
und etwaige Glncksfnlle in den Schoß werfen? Haben Sie vergessen, daß Sie Ihre
eignen menschlichen Gefühle, die Sie vielleicht zu Frieden und Eintracht verleiten
möchten, da bemeistern müssen, wo das Wohl der Kirche den Kampf, die Nieder¬
werfung unbotmäßiger Elemente oder die Förderung gewisser Anschläge und Pläne
um jeden Preis fordert? Warum haben Sie nicht bessere Anstalt getroffen, sich des
Gemüts des Fürsten und seiner Nichte zu bemächtige», damit Sie imstande waren,
sie nach den Befehlen der Kirche zu leiten? Warum haben Sie die Beihilfe, die
Sie von der Äbtissin, von der Gräfin L'Hermage und dem Grafen Egon zu er¬
warten hatten, nicht besser auszunutzen gewußt? Nun ist es dafür zu spät, und
wir siud auf das einzige uns verbliebne Auskunftsmittel beschränkt, uns des Grafen,
dem alles in den Schoß zu fallen scheint, um jeden Preis zu entledigen.
Der Pater kannte die gewaltige Hand, die sich ans undurchdriuglicheiu Dunkel
nach ihm und dem Grafen ausstreckte, aus mehrjähriger Erfahrung zu gut, als
daß er sich nicht hätte möglichst klein machen und bemüht sein sollen, durch bereit¬
willigen Gehorsam für das, was er bisher versäumt hatte, einigermaßen auszu¬
kommen. Wenn er noch im letzten Augenblick an dem teilnahm, was der Prior
infolge erhaltenen silbern Befehls zu thun entschlossen war, so konnte er sich dadurch
vielleicht Nachsicht und Verzeihung erwirken.
Sie scheinen, fuhr der Prior fort, über das, was in der Familie des Fürsten
vorgeht, nur äußerst mangelhaft informiert zu sein. Lassen Sie mich hören, wie
es mit Ihren Ausknnftsquellen steht, und wer die Personen siud, auf die Sie sich
wegen des Knudschafterdieustes verlassen zu können glauben.
Und nnn kam es bei der demütigen Beichte, die der Pater ablegte, heraus,
daß die Fäden, an denen er seine Marionetten zu halten glaubte, hoffnungslos
verwirrt waren. Er wußte selbst uicht einmal, in wie hohem Grade, aber schon
das, was er dem Prior mitteilte, genügte, diesen davon zu überzeugen, daß man
in der letzten Zeit im Dunkeln herumgetappt war.
Was der Pater wirklich wußte von der Schwierigkeit, die er in der letzten
Zeit gehabt hatte, sich über den Fürsten und dessen Umgebung ans dem Laufende«
zu erhalten, war mit dem, was er über die besondern Veranlassungen dieser
Schwierigkeit nicht wußte, so sonderbar veralgamiert, daß sich auch der Prior kein
recht klares Bild vom eigentlichen Sachverhalt machen konnte.
In Wahrheit war der Mohr des Grafen Viktor an allem schuld, und wie
die Sachen lagen, war er in den letzten Tagen der einzige gewesen, durch de»
der Pater ab und zu in mehr oder minder zuverlässiger Weise etwas darüber
erfahren hatte, was in der unmittelbarste» Umgebung des Fürsten vor sich g'ni!
oder im Werke war. Der Mohr war darau schuld und Bofenka, das niedliche
Kammermädchen der Komtesse Paula.
Der Kaplan hatte allerdings seinen getreue» Kundschafter Joseph insofern richtig
beurteilt, als er diesen von vornherein als einen zuverlässigen, der Kirche ganz
ergebner jungen Menschen angesehen und sich deshalb auch ganz auf ihn verlasse»
hatte. Aber dem klugen geistlichen Herrn, der von Liebe nichts wußte, und der
w der That von dieser reizende», meist in unvorhergesehener Weise und bis-
Weilen etwas tyrannisch auftretenden Leidenschaft muh prinzipiell nichts wissen sollte,
war ein Umstand entgangen, für den der Kantinenpächter ein schärferes Auge ge¬
habt haben würde als er, wenn es sich um dessen Tochter und einen jungen Soldaten,
Ware es auch nur der Trommelsimge gewesen, gehandelt hätte. Weil Joseph erst
sechzehn Jahre alt war und noch kein Schnurrbärtchen hatte, mochte unser Pater
die Möglichkeit, daß sich sein Schützling und Ministrant verlieben und daß
dabei die heilige Mutter Kirche in seinem Herzen zu Gunsten eines Götzenbildes ent¬
thront werde» könne, nicht gedacht haben. Bekanntlich ist für das erste Auftreten
dieser Leidenschaft ein Schnurrbärtchen keine oonclitio sine, ans, mein, und unser guter
Joseph hatte sich nicht bloß in die niedliche kleine Bofenka bis über die Ohren
verliebt, sondern er hatte auch - wer könnte den Geschmack solcher kleiner Schlangen
ergründen — trotz des bis tief über die Stirn vorgcwachseueu Maulwurffellchcus
und der knlbigen°Nase. vielleicht wegen der gutmütigen, nun sehr verliebt drein¬
schauenden Augen bei der schonen kleinen Zofe Gnade gefunden: em einmaliges,
halbkindliches Techtelmechtel a, la, Cherubin, das aber bei dem guten dicken Jungen
rasch tiefere Wurzeln geschlagen und ihn mit Leib und Seele gefangen genommen
hatte. Das Unglück Ware anch für den Pater und die Kirche nicht grecs gewesen,
da der junge Schäfer doch nicht über ein paar gelegentliche Müh- und Beutetusse
hinausgekommen war. wenn nicht die Rückkehr des Grafen Biktor und und ihr
die Ankunft des Mohren der Idylle eine dramatische Pointe gegeben hatte, die dem
Kaplan ebenso wie die Idylle entgangen war.
Der Mohr war allerdings, wie von dem Fürsten vorausgesetz worden war.
nicht getauft und hätte als schwarzer Heide der kleinen Bö^cula Luft sein müssen;
"ber auch hier hatte sie ihre» eignen, weder von uns noch von dem guten ^vseph
begriffnen Geschmack gehabt. Nur der Mohr, der natürlich Hassan hieß und ein
Kmngssvhn war — Mohren, die nach Europa herüberkommen, heißen alle Hasfnn
""d sind lauter Königssöhne —, nnr der schwarze Hassan, sagten wir verstand
""d billigte aus vollstem Kerzen Bosenkas guten Geschmack und verfolgte den einmal
errungnen Vorteil mit der Lebhaftigkeit eines Affen, dem man eine Violine geschenkt
hatte. Das Neue der Erscheinung, die Pracht des orientalischen Kostüms, die schnee¬
weißen Zähne und die große Zärtlichkeit des strammen Burschen hatten Vo^entr
sür ihn eingenommen. Der arme Joseph, der scho» in so früher Jugend die
Dualen der'Eifersucht zu erdulden bekommen und auf deu glücklichen, bisweiln»
etwas sehr zudringliche» Nebenbuhler einen furchtbaren Haß geworfen hatte, wurde
und härter geprüft: so hart, daß sein Herz sich gegen alles verstockte, was er bisher
geliebt und hochgeachtet hatte. Da nämlich der junge Königssohn möglichst bald
w'd zwar, wie die Gräfin nicht ohne Grund gehofft hatte, in Gegenwart des
Kardinalfürsterzbischofs getauft werden sollte, so hatte der Kaplan seine Vor-
bereitung dazii übernomn.e«. und Joseph, der sich kei»e Rechenschaft davon zu geben
^mochte, daß das Interesse, das der Pater an dem neuen Zögling nahm, ganzberufsmäßig, und wie der technische Ausdruck lauten würde, spirituell war. glaubte
'us auch beim Kaplan durch den schwarzen Rivalen verdrängt. Den Kaplan strafte
^ 'n seiner Weise dadurch, daß er sich ingrimmig von ihm zurückzog und ihn ohne
-'"abrichten über das ließ, was er erfuhr, mochte ihm auch das eine oder das amore
d»von noch so wichtig erscheinen, dem Möhre» aber, der ihm leider an Körperkraft
!"eit überlegen war, hatte er Rache, bittre Rache geschworen. Wie er diese werde
über können, wußte er uoch nicht, aber der Hund des Fürsten, ein gewaltiger ^eu-
snndländer, der auf Joseph große Stücke hielt und inmitten der allgemeinen ^r-
värmsii'l.r,.^ ^
als l s ^ einzige war, der ihm treu geblieben zu sein schien, schwebte ihm
vester Bundesgenosse bei einem Anfall vor, den er zu unternehmen willens war.
A> ^glück war Lord nicht auf deu Mann dressiert, und wenn er nicht im
I'^blicke des Kampfes noch für ihn Partei ergriff, so war von seiner Beihilfe
"enlg^genug zu erhoffen.
inzwischen hatte sich der von Joseph boykottierte Kaplan mit den Nachrichten
begnügen müssen, die ihm der Mohr willig zugetragen hatte. Was Graf Viktor
that, wußte dieser allerdings, da er den Grafen bediente und mit ihm ausritt.
Das Wichtigere aber, was nämlich der Fürst that, und was in dessen nächster Um¬
gebung vorging, erfuhr der Pater auf diese Weise nicht: auch von der Anwesen¬
heit des Geheimen Justizrath, der mit zwei andern Herrn mehrere Stunden im
Kabinett des Fürsten zugebracht hatte, war ihm nichts bekannt geworden.
Der Prior hatte eine Zeit laug in Gedanken dagesessen und nachgesonnen.
Ihr Wissen ist Stückwerk, bester Kaplnn, sagte er: mau hört, wenn man Ihren
Worten folgt, läuten, aber nicht zusammenschlagen. Schicken Sie mir den Jungen,
den Joseph, herauf. Von dem erfahre ich wenigstens, was ihn von Ihnen fernhält,
und ob ihn jemand gegen Sie aufgehetzt hat. Den Neger aber müssen Sie täglich
aufs genauste ausforschen. Im Leben ist kein Umstand zu klein und zu gering¬
fügig, daß er nicht, wenn man eine Partie Schach spielt, Verwertung finden könnte.
Wir haben freilich schon unsre besten Figuren verloren, aber wir wollen die Partie
doch noch gewinnen.
(Schluß folgt)
Albin Geyer hat uns im
43. und 44. Heft klar gemacht, daß es um Österreich gar nicht schlimm stehn
würde, wenn nur seine Negierung zu regieren verstünde und auch die Kraft und
den Willen hätte, zu regieren. Daß das Heil nicht von unten kommen kann, weil
die in Nationalitäten und Parteien zerklüftete Bevölkerung keine Nation, sondern
ein Chaos ist, lehrt jede Geschichte des österreichischen Staates, und so auch das
(bei Karl Fromme in Wien und Leipzig 1902 erschienene) Buch von Dr. Gustav
Kölner: Parlament und Verfassung in Österreich. Erster Band: 1848
bis 1869. Sehr gut hat Schmerling in der Budgetdebatte vom 28. November
1864 gesagt: „Ich sehe ganz davon ab, ob überhaupt ein streng parlamenta¬
risches Regiment in Österreich eine Möglichkeit ist, ob es möglich ist, gerade
immer nach der Majorität zu regieren, und ob es möglich ist, ein Majoritäts¬
ministerium zu bilden. Ich will nur die moralische Wirkung der sogenannten
Majorität eines Hauses auf die Entschlüsse der Regierung kennzeichnen. Da kann
ich mir denn sehr gut denken, daß eine Negierung, der eine geschlossene Partei
gegenübersteht, eine Partei, die ein bestimmtes Programm und für hohe Ver¬
waltungsämter befähigte Männer hat, da kann ich nur sehr gut denken, daß eine
solche Negierung moralisch verpflichtet sei, den Wünschen und Ansprüchen einer
solchen Partei Rechnung zu tragen. Solche feste Parteien existieren in diesem
Hanse nicht, und insbesondre jene Partei, die sich Seiner Majestät getreue Opp^
sition nennt, kann von uns wahrlich nicht als eine Partei mit einem festen Pro^
grauen betrachtet werden." Das kann der Herr von Koerber heute mit zehnmal
größerm Rechte sagen. Denn damals war immerhin die Erlösung Österreichs vom
Konkordat und eine Reorganisation des Volksschulwcseus ein Programm, das in
einigen Beziehungen Besserung versprach, und das Parlament hatte tüchtige Männer,
die wirklich verhandelten. Heute sind die einzigen sachlichen Reden, die man in den
Parlamentsberichten zu lesen bekommt, die des Sozialdemokraten Deszynski über
die galizische Schlachzizenwirtschaft, und nnr ausnahmsweise gelingt es manchmal,
wenigstens die Form einer parlamentarischen Verhandlung aufrecht zu erhalten. AM
17. Juni 1867 rief bei eiuer Rede Mühlfelds für ein' neues Religionsgesetz der
Pater Grcuter ein Pfui in den Saal, „Die Versammlung erklärte sich von diesem
ersten Zeichen einer schärfern Tonart verletzt und bezeichnete diese Form der Mi߬
billigung als unparlamentarisch." Aus dem Jahre 1871 erzählt ein andrer Ge¬
schichtschreiber (Walter Rogge): „Welch ein Wnchistubenton in dieser Körperschaft
(es ist vom Tiroler Landtage die Rede) eingerissen war, seitdem der ultramontane
Kapp das Präsidium führte, mag man daraus entnehmen, daß Giovanelli einen
Redner der liberalen Minderheit' mit dem Rufe: »Unsinn« unterbrechen, und als
dieser darauf etwas erwiderte, laut wie ein Straßenjunge »Kolossaler Unsinn!«
dreinschreien durfte, ohne daß es der Landeshauptmann rügte." Wie glücklich würden
sich alle anständige» Österreicher schätzen, wenn ihr Abgeordnetenhaus uoch einmal
so anständig würde, daß ein „Pfui,"°ein „Unsinn!" für unanständig gälte!
Das Buch Kölners ist keine Geschichte des österreichischen Staates, sondern
nur eine Geschichte der Verfassungskämpfe und der Parlamentssitzungen. Eine
solche Geschichte liest niemand zum Vergnügen, sondern man nimmt sie nur zur
Hand, wenn man sich über ein bestimmtes Ereignis unterrichten will oder den
Wortlaut einer Urkunde braucht. Solchen Zwecken wird ja das ganz objektiv ge¬
haltn« Werk durch Aufnahme aller Thronreden, Adressen. Kundgebungen, sowie von
Bruchstücken wichtiger Parlamentsreden so ziemlich gerecht. Doch vermißt man noch
so manches, wie den vollständigen Wortlaut des Oktoberdiploms, des Februarpatents,
der in den Jahren 1867 bis 1869 erlassenen hochwichtigen Gesetze. In der Politik
kommt es noch öster als auf andern Gebieten vor, daß die Streitenden den Gegen¬
stand, um den sie sich streiten, gar nicht kennen, deshalb muß ein Werk, das für
verständige Debatten Material liefern will, den Wortlaut der streitigen Gesetze mit¬
teilen, den man sich doch nicht eins Bruchstücken der Entwürfe, Anträge und Ver¬
handlungen selbst konstruieren kann. Der Verfasser würde den Wert seines Werks
außerordentlich erhöhn, wenn er dem zweiten Band als Anhang eine Urkunden-
saunnluug beifügte, die das hier Vermißte enthielte.
In Ur. 38 der Grenzboten hatten wir
von den Befestigungswerken von Paris gesprochen und von dem Projekt, die jetzige
Umwallung der West- und der Nordfront niederzulegen und sie als Neubau bis
"n die Seine vorzuschieben. Dieses Projekt fand Ausdruck in dem den Kammern
borgelegten Gesetzentwurf, der einen Kredit von 16 Millionen Franken für die Her¬
stellung der neuen Umwallung und eine Million für die von Flankierungswerken
Zwischen Se. Denis und dem Point du Jour verlangte. Mit diesen beiden Posten
waren aber die Forderungen nicht erschöpft. Es hieß wohl in den vorgelegten
Motiven, daß man jetzt nur die Ausgabe von diesen 17 Millionen ins Ange fasse;
da aber mit der Hinausschiebn»g der Umwallung eine Verlegung der Kasernen
verbunden sei, so müßte man hierfür einen weitern Kredit von sechs Millionen
beantragen. Über die Verwendung dieser 23 Millionen sagt der Artikel 5 des
Gesetzcutwurfs, daß 17 Millionen — als Hvchstbetrag — zur Herstellung einer
fortlaufenden Umwallung von der Porte de Paulin bis zur Seine, unter Be¬
rührung der Werke von Aubervillters, de l'Est und von Se. Denis und zur Er¬
bauung von Befestigungen auf dem rechten Seinenfer zwischen Se. Denis und dem
Point du Jour verwandt werden sollen. Die verbleibenden sechs Millionen aber
sollen zur Erbauung der neuen Kasernements (Oetroi-Kasernen) dienen. Hierüber
sollen aber noch weitre acht Millionen den: Finanzminister zur Verfügung gestellt
werden als ein der Stadt Paris zu leistender Vorschuß zur Herstellung der Arbeite»,
deren Ausführung der Seinepräfckt Namens der Stadt Paris mittelst Vertrags
vom 14. Februar d. I. übernommen hat.
Die Arbeiten sind folgende: die Niederlegung der über der Erdoberfläche
liegenden Umwallung, die Einebnung auf das Straßenniveau und die Herstellung
der Wege. Dazu gehört die Kaualisatio», die Beleuchtung und endlich die An¬
pflanzung von Bäumen. Für diese Arbeiten ist eine Zeitdauer von 18 Monaten
in Aussicht genommen. Die Stube wird Eigentümerin des Grund und Bodens
des Straßennetzes. Der bewilligte Vorschuß soll mit 2^ Prozent verzinst werden
vom zweiten Jahrestage der Unterzeichnung dieses Abkommens an gerechnet. Über
die Art der Bebauung und der sonstigen Ausnutzung dieses in Besitz der Stadt
übergehende» Terrains sind besondre Bestimmungen vereinbart worden.
tu Jena, den wir vor zwei Jahren
(siehe den 4. Band des Jahrgangs 1900 der Grenzboten S. 243) als einen Jünger
Haeckels kennen gelernt haben, der sich für seinen Meister aufopfert, hat als fünftes Heft
der bei Dr. W. Breitenbach in Odenkirchen erscheinenden darwinistischen Vorträge
und Abhandlungen gestiftet- Haeckels biogenetisches Grundgesetz und seiue
Gegner. Mit 10 Abbildungen. Wer es noch nicht wußte, erfährt es ans dieser
Polemik, daß das von Haeckel formulierte Gesetz, wonach die Entwicklung des In¬
dividuums (die Ontogenesis) eine abgekürzte Wiederholung der Entwicklung seines
Stammes (der Phylogenesis) sein soll, bis auf deu heutigen Tag unter den ange¬
sehenen Fachmännern Gegner hat. Uns Laien bleibt also nichts andres übrig, als
unser Urteil aufzuschieben, bis sich die Fachmänner, Botaniker, Zoologen und An¬
thropologen geeinigt haben werden. Oder würde es Herr Schmidt wissenschaftlich
finden, wenn wir Nichtfachmäuuer uns die Entscheidung anmaßen und in Zeitungen
und Zeitschriften urdi et ubi verkündigen wollten: Haeckel hat Recht, und seine
Gegner unter den Fachmännern sind im Irrtum? Natürlich haben wir nicht das
geringste dagegen einzuwenden, daß er für seine Lehre alles Beweismnterial bei¬
bringt, das er hat. Aber am Schlüsse dekretiert der Herr: „Dem dualistisch-teleo-
logischen Standpunkt (eines Forschers, der ohne Zwecksetzung nicht auskommen kann)
gegenüber zeigt die Relapitnlationstheorie mit aller Schärfe, daß die Ontogenie von
Wuss-g Et'fiLiolltes, von mechanischen Ursachen beherrscht wird, und das ist in der That
das höchste, was sie als naturwissenschaftliche Theorie leiste» kaun. . . . Das Problem
der generelle» Ontogenie ist durch Haeckels biogenetisches Grundgesetz endgiltig
gelöst: gelöst im Sinne einer monistisch-mechanischen Naturphilosophie." Dieser
doppelten Anmaßung gegenüber, ein Problem für gelöst zu erklären, das immer
verwickelter und unlösbarer wird, je tiefer die Einzelfurschuug hineinleuchtet, und
von dieser vorgeblichen Losung eines biologischen Problems aus die Grundfrage
der Metaphysik entscheiden zu wollen, müßten wir ihm zurufen: Schuster, bleib bei
deinem Leisten! Die Leser werden uns deu Zeitungen erfahre» haben, daß auch
Albert Fleischmann, Professor für Zoologie und vergleichende Anatomie in Erlangen,
den „Zusammenbruch der Abstammungslehre" verkündigt hat. Fleischmanns Buch,
schreibt Schmidt in der letzten Anmerkung, werde von unwissenden Laien fleißig
zur Beachtung empfohlen. Es gebe eben immer noch recht viel Leute, „die es einem
Lamarck, einem Darwin und Haeckel nicht verzeih« können, daß diese sie aus alleu
»Himmeln« herausgerissen und auf den richtige» Platz i» der Natur gestellt haben.
Sie als»e» nicht, diese Guten, daß die eigne Ontogenesis ihre Widerspenstigkeit gegen
die neue Natnrerlenntnis zu einer lächerlichen Farce macht." Der Herr verdächtigt
also alle Laien, die Haeckel nicht als den Unfehlbarer cinerkeuueu, daß sie ihm nur
aus religiöse» Gründen widersprächen. Mich wenigstens trifft die Verdächtigung
nicht; ich wüßte wahrhaftig nicht, aus welchem religiösen Grunde ich dem biogene¬
tischen Grundgesetz widersprechen sollte. Wäre es erwiesen, so würde ich mich sogar
darüber freuen, weil es ein sehr schönes Gesetz ist, und würde Gott, der diese
schöne Ordnung gestiftet hat, noch mehr bewundern. Aber daß der Gläubige nicht
gern auf den Himmel verzichtet, darüber sollen die Herren in Jena nur jn nicht
spotten. Wenn hungernde Strolche über einen von ihnen herfielen und ihn uicht
allein beraubten, sondern ausfräßen, wozu sie ja als Omnivoren das ontogenetische
und das phylogenctische Recht hätten, so würde den übrigen wohl das Lachen ver¬
geh». Geschieht dergleichen bei uns nicht so oft, als es geschehn könnte, so haben
Wir das einerseits der Staatsordnung zu verdanken, die die Teleologie anerkennt,
und in der auch der Professor der Zoologie Zwecke erfüllt, um deren willen die
in hungernden zweibeinigen Wölfen treibenden oansas oklieientes eingeschränkt werden,
andrerseits der Religion, die diese animalischen Triebkräfte innerlich bändigt und dem
Menschen seinen Platz nicht in der Reihe der Bestien anweist. — Das sollte be¬
sonders der Züricher Professor or. Arnold Döbel bedenken, der den Darwinismus
den Arbeitern predigt und es als einen unerträglichen Skandal beklagt, daß nicht
längst in allen Schulen die biblische Schöpfungsgeschichte von der darwinischen ver¬
drängt worden ist. Im Jahre 1889 hat er eine Reihe von Vorträgen unter dem
Titel: Moses oder Darwin? veröffentlicht, die in sieben Sprachen übersetzt worden
ist, und jetzt giebt er bei I. H. W. Dich Nachfolger in Stuttgart heraus: Ent¬
weder — Oder! Eine Abrechnung in Sachen der Frage: Moses oder Darwin?
Wir würden die Schrift mit der Bemerkung abfertigen, daß die Frage: Moses oder
Darwin? ungefähr so viel Sinn hat wie die Fragen: Moses oder Mozart, Darwin
°der Raffacl, Bismarck oder Euklid, wenn uns nicht die Persönlichkeit interessierte,
die aus der Broschüre spricht. Ein liebenswürdiger, von Menschenliebe beseelter
Mensch und erfolgreicher Pädagog, aber zugleich fanatischer und unduldsamer Pfaffe
des Atheismus. Das psychologische Rätsel ist nicht schwer zu lösen. Er gehört
SU den Naturwissenschaften:, die, weil sie es nicht anders gelernt haben, vvraus-
s^er, daß Naturwissenschaft und Bibel in unversöhnlichem Widerspruch zu einander
stünden, und die, weil es ihnen an Deukschärfe und an philosophischer Schulung
^sie, die Falschheit dieser Voraussetzung nicht zu durchschauen vermögen. Zugleich
wird er von dem Anblick der Gebrechen überwältigt, an denen die Kirchen ja
wirklich kranken, und der Sünde», die sie ja wirklich begehn, und die Erwägung
dieser Übel entflammt in ihm Haß gegen die christliche Religion, die er unter jener
.Voraussetzung und bei dieser einseitigen Betrachtungsweise für die ärgste Feindin
des Menschengeschlechts halten muß. Manche Abschnitte seiner Schrift verdienen
Pachtung, so der über die rnsseuverschlechterude Wirkung des Pricsterzvlibats, die
übrigens auch schon von andern hervorgehoben worden ist. Wenn in einem katho-
uschen Dorfe, schreibt Döbel, ein Bauer ein Häuflein. Buben hat, und darunter
einen recht geweckte», so nimmt diesen der Pfarrer und läßt ihn Geistlicher werden,
die Dummen aber pflanzen das Geschlecht fort, und durch diese verkehrte Auslese
wird mit der Zeit das ganze Volk dumm. Der Pastor hingegen heiratet das
Ichönste, klügste und bravste Mädchen im Dorfe und begründet ein Geschlecht gesunder,
tüchtiger und gescheiter Menschen. — Der or. MI. E. Dennert schreibt einen
Bericht Vom Sterbelager des Darwinismus (Stuttgart, Max Kielmann, 1903)
und mustert die mehr oder weniger ablehnende Stellung der heutigen Forscher dem
Darwinismus gegenüber. Der Verfasser beweist, daß der Darwinismus unwissen-
ichnftlich verfährt, und daß die heutige Abkühlung der Begeisterung, die er eine
>3eit lang erregt hatte, keineswegs von religiöse:: oder sonstigen Stimmungen, sondern
von der genauern Untersuchung des Thatsnchenmaterials herrührt. Aus dem oben
erwähnten Buche Fleischmauus führt er den Ausspruch an: „Auf Grund langjähriger
und sorgfältiger Prüfung bin ich zu der Ansicht gelangt, daß die Abstammungslehre
Alast begründet ist. Ich gehe sogar noch weiter und behaupte, die Diskussion der
örage gehöre gar nicht in den Bereich der exakten Zoologie und Botanik." Daß
Mtammuugslehreu nicht exakte Wissenschaft sind, was sie niemals werden können,
wildern Naturphilosophie, habe ich immer gesagt. Die meisten Kritiker des Dar¬
winismus verwerfen bekanntlich nicht die Deszendenztheorie, sondern nur die Fassung,
ihr Darwin und Haeckel gegeben haben. Dennert selbst schreibt ganz in unserm
^u»e: „Ich glaube, daß wir auch fernerhin wie seit vierzig Jahre» berechtigt sind,
u der Richtung der Deszendenz zu forschen, und glaube nicht, daß diese Forschung
w ganz hoffnungslos ist, wie Fleischmann es darstellt. Allein, und darin stimme
^) wieder vollkommen mit ihm überein, es handelt sich hier zunächst (und gewiß
Mr lange Zeit) nur um eine Hypothese, die in die Arbeitstube des Gelehrten, nicht
aber auf den Marktplatz des Lebens oder sagen wir lieber auf den Marktplatz
der Weltanschauungen gehört, und die vor allem nicht mit religiösen Fragen ver¬
Meyers großes Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens.
Sechste, gänzlich ncubearveitete und vermehrte Auflage. Mit mehr als 11000 Abbildungen im
Text und auf mehr als 1400 Bildtafeln, Karten und Plänen sowie 130 Tcxtbeilngen. Erster' Band. A bis Astigmatismus. Leipzig und Wien, Bibliographisches Institut, 1902
Welchen schafft man sich an, den Brockhnus oder den Meyer? Die Antwort
hängt vou dem Jahre ab, wo die Frage gestellt wird, deun natürlich schafft man
sich in unsrer Zeit der sich mit elektrischer Schnelligkeit vollziehenden Veränderungen
allemal deu neusten an, weil nur der über die neusten geographischen Entdeckungen
und Feststellungen, über die neusten politischen Ereignisse, über die neuste Statistik
und die jüngsten technischen Fortschritte Auskunft giebt. In der Güte würde sich
schwer ein bedeutender Unterschied herausfinden lassen. Das deutsche Konversations¬
lexikon stellt einen der Fälle dar, wo die Konkurrenz die Güte der Ware auf das
erreichbar Höchste steigert. Da der Konkurrenten nur zwei sind, die Vergleichung
also keine Schwierigkeit macht, so würde, wenn einer nachließe, der andre das Feld
ganz allein behaupten. Augenblicklich versorgt uns nun Meyer mit den neusten
Nachrichten, und es ist demnach selbstverständlich, daß sich die Käufer diesem zu¬
wenden. Was man von einem „Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens" ver¬
langen kann, das leistet er, und wir finden nichts, was an ihm auszusetzen wäre.
Er läßt uns bei keinem noch so seltnen Namen im Stich, mag er Asra, Assinibvia
oder Assunguy heißen, und die umfangreichen Artikel ersetzen jedem die Lehrbücher
in den Fächern, in denen er Laie ist und Laie bleiben will. Im vorliegenden
Bande sind das vorzugsweise geographische: Afghanistan, Afrika, Ägypten, Asien.
Sie sind mit vorzüglichen Karten ausgestattet. Bei Afrika und Asien finden wir
auch Karten der Entdeckungsreisen, die Brockhaus nicht hat, eine ausführliche bis
auf die jüngste Zeit herab geführte Geschichte der Entdeckungen und als Tcxtbeilagen
chronologische Tafeln dieser Reisen. Auch der Artikel Architektur ist ein kleines
Lehrbuch. Die auf zwölf Tafeln beigegcbnen saubern Illustrationen reichen nnr
bis ins achtzehnte Jahrhundert, aus dem Text erfahren wir aber, daß wir Proben
von den Bauwerken des neunzehnten Jahrhunderts bei den Artikeln über die Gro߬
städte zu erwarten haben. Im Vorwort wird richtig gesagt, das Konversations¬
lexikon solle kein Bilderbuch sein, aber die Architekturbilder und die Buntdrucke
sind doch so hübsch, daß man sie mit Vergnügen ansieht, was ja wohl keine Sünde
ist. Das Versprechen strengster Objektivität erfüllen die Artikel über politische
Persönlichkeiten und religiöse Gegenstände und Ereignisse (Abendmahl, Altkatholi-
zismus). Wenn in dem gründlichen Artikel „Arbeitslohn" die Abhängigkeit des
Lohnes von der Bevölkerungsspnnnnng, wie man heute das Verhältnis der Seelen¬
zahl zur Bodenfläche nennt, nicht deutlich genug hervortritt, so ist dafür nicht die
Leitung des Unternehmens sondern die zünftige und die unziinftige Nationalökonomie
verantwortlich zu machen, die diesen heikeln Punkt vorsichtig zu umgehn Pflegt; das
Kvnversationlexikon kann der Wissenschaft seiner Zeit nicht voranschreiten, sondern
nur ihr Niederschlag sein. Übrigens wird die erwähnte Abhängigkeit wenigstens
angedeutet, indem unter den Hindernissen der Lohnerhöhung auch angeführt werden-
Mangel an Thatkraft und Mitteln zur Auswandruug und Heimatliebe.
it Kielen andern hatten auch die Grenzboten angenommen, daß
der kaiserliche Erlaß vom 26. November 1900, indem er die
grundsätzliche Gleichberechtigung der drei Gattungen höherer
Schulen, des humanistischen Gymnasiums, des Realgymnasiums
und der Oberrcalschule (in Preußen), in ihrem Verhältnis zur
Universität aussprach, den heillosen Schulkrieg beenden und den Schulfricden
herbeiführen werde. Zwar haben alle Universitäten Deutschlands zunächst nur
die medizinische Fakultät den Abiturienten auch der Realgymnasien geöffnet, die
juristische nnr die preußischen, aber das sind immerhin 10, oder Straßburg
mitgerechnet, 11 von 21, und die Sperrung des juristischen Studiums für die
Abiturienten dieser Schulen oder vielmehr nur der juristischen Staatsprüfung
lst etwas so Unlogisches, daß es schwerlich Aussicht auf lauge Dauer hat.
Jedenfalls hatten die humanistischen Gymnasien alle Ursache, den Wegfall
^'es „Monopols" als eine Erlösung zu begrüßen, denn es hatte ihnen nur
Unsegen und Verkümmerung ihrer eignen Art gebracht. Sie hatten sich einem
das gesunde Maß der allgemeinen Bildung überschreitenden Betriebe der Mathe¬
matik öffnen, das Griechische nach Untertertia verschieben, das Französische in
den Anfangsklassen als Hauptfach, also als ein neues Versetzungshindernis
gefallen und sich so mit einem überspannten „Utraquismus" beladen lassen
müssen, der ein die Arbeitskraft des Durchschnittsschülers oft zu hohe Anfor¬
derungen stellt und leicht abstumpfend, nicht anregend wirkt. Deshalb durften
sie mit Genugthuung vernehmen, daß nunmehr jeder der drei Schulgattungen
freie Entfaltung ihrer Eigentümlichkeit gewährt werden sollte, und in der
^hat begann in Preußen nach den „Lehrplänen und Lehraufgaben" von 1901
wie leise Rückbildung nach der humanistischen Seite hin, die wenigstens die
schlimmsten Folgen der mißglückter „Reform" von 1892 heben kann. Aller¬
dings geschah nieder in Preußen noch in den andern Bundesstaaten, die diese
Reform entweder gar nicht oder nnr in sehr abgeschwächter Form mitgemacht
hatten, etwas zur Milderung des Utraquismus, und von seiner gänzlichen Be¬
seitigung kann natürlich auch gar keine Rede sein; er liegt im Wesen unsrer
Kultur, ja aller höhern und niedern Bildung und ist deshalb mit dem Neben¬
einander des Triviums und Quadriviums schon im Mittelalter ebenso gut vor¬
handen gewesen wie heute.
Hat sich nun diese gerechte Erwartung noch nicht erfüllt, obwohl wir an
der Hoffnung ihrer baldigen Erfüllung festhalten zu dürfen glauben, so droht
die.Hoffnung auf einen gedeihlichen ,.Schulfrieden" ganz zu schänden zu werden,
denn der Ruf nach ,,Schulreform" ertönt immer noch und eher lauter als
früher, und 'er richtet sich vor allem gegen das humanistische Gymnasium als
die ihrem Ursprung und ihrer Organisation nach älteste Schulgattung. Die
ungeheuern Fortschritte der Naturwissenschaften und der Technik, eine Welt¬
anschauung, die, hiervon ausgehend, das Christentum, das wertvollste Erbe der
antiken Kultur, entwurzeln und den Menschen nur auf das Irdische und
Gegenwärtige verweisen möchte, die Abkehr unsrer modernsten Kunst vom Alt¬
klassischen, eine ungesunde Überspannung des Nationalismus gegenüber dem
allgemein Menschlichen, die unleugbaren zahlreichen und schweren Übelstände
einer wesentlich städtisch-industriellen, kapitalistischen Kultur, die mit über¬
wältigender Schnelligkeit bei uns heraufgewachsen ist, die Zunahme der Nützlich¬
keitsfanatiker in einer Zeit, wo alle Stände und alle Völker im harten Kon¬
kurrenzkampf miteinander ringen, sogar in den regierenden Ständen bis in
die Fürstenhöfe hinauf, endlich der Sieg der antiklassischen Neuerer im Schul¬
wesen Ungarns, der skandinavischen Länder und Rußlands, das alles erzeugt
neue, scheinbar alleinberechtigte Bildungsideale und erschwert die Stellung des
humanistischen Gymnasiums.
Deshalb sind Anklagen und Bcsserungsvorschläge von berufner und un¬
berufner Seite seit Jahren an der Tagesordnung, und sie scheinen noch immer
kein Ende nehmen zu wollen. Dem einen erscheinen Paul de Lagardes geist¬
volle Schriften und das wunderliche Buch von Langbehn „Rembrandt als Er¬
zieher" (zuerst 1890) den richtigen Weg zu weisen, andre wollen davon nichts
wissen. Der Philosoph Theobald Ziegler in Straßburg nennt den Rembrandt
ein „thörichtes Buch," dessen weite Verbreitung in 45 Auflagen (bis 1900)
dem Urteil des deutsche« Publikums nicht zur Ehre gereiche, und einer unsrer
größten Historiker und warmherzigsten Patrioten, Heinrich von Treitschke, ist
mehrmals für eine humanistische Rückbildung des Gymnasiums zu stärkerer Be¬
schränkung und Vereinfachung seiner Bildungsmittel in die Schranken getreten
(1883 und 1890, siehe Deutsche Kämpfe, Neue Folge 1896, S, 219 ff. und
386 ff.). Neuerdings hat ein preußischer Gymnasiallehrer, Ludwig Gurlitt in
Steglitz bei Berlin, in einer selbständigen Schrift^) alle Klagen gegen unser
höheres Schulwesen, von eignen Erfahrungen verstärkt, zusammengefaßt und Ver-
besserungsvorschlüge daran geknüpft. In diesen Anklagen, die übrigens keines¬
wegs nur dem humanistischen Gymnasium gelten, steckt natürlich viel Wahres.
Aber recht vieles kommt auf Rechnung unsrer Gesamtkultur und nicht der
Schule (z. B. die Zunahme der Nervosität und — der Selbstmorde auch unter
den Schülern), andres ist nach meiner eignen Beobachtung, die ich doch wohl
auch geltend macheu darf, stark übertrieben. Es giebt Gott sei Dank noch viel
mehr Frische und Humor im sehnlicher, als Gurlitt gesehen haben will; das
uralte und unsterbliche Talent der holden Jugend, sich um zu schwere oder
ihr zu schwer erscheinende Arbeitslasten herumzudrücken und die Schwächen
einzelner Lehrer zu allerlei freilich nicht immer bequemer und niemals lobens¬
werter Kurzweil zu benutzen, hilft über so manches hinweg, und wenn ich
meine Jungen aus der Schule gehn oder auch in die Schule hereinstürmen
sehe, wenn ich sie sich drinnen auf dem Turnplatz, nicht nur in den Turn¬
stunden, sondern auch in den Pansen, tummeln sehe oder im fröhlichen Wett¬
spiel draußen am Waldesrand auf grünem, luftigem Wiesenplan oder gar am
Sedanfest, wenn nach stundenlangen Märschen und turnerischen Übungen der
mannigfachsten Art unter den Augen Hunderter von Zuschauern der starke
Sieger im „Fünfkampf" von seinen Kameraden jubelnd auf die Schultern ge¬
hoben und hereingetragen wird, dann nehme ich zwar einzelne blasse, hoch-
aufgeschoßne, blutarme und nervöse Jungen wahr, die wohl auch das Eltern¬
haus wehr ans dem Gewissen hat als die Schule, aber ich habe keineswegs
den Eindruck, daß die ganze Gesellschaft „Rekonvaleszenten aus einem Kranken¬
hause" gliche. Wenn ich das an einem großstädtischen Gymnasium erlebe und
an dieser Schule außerdem einen Turnverein, einen Fußballverein, einen
Schwimmvcrein habe und eigentlich nur noch einen Nnderverein vermisse, so
kann ich mir weiter sagen: ein stubenverhocktes Geschlecht ist das gar nicht,
und was bei uns thatsächlich besteht, das besteht auch an vielen andern Gym¬
nasien, oder es ist wenigstens möglich ohne eine grundstttrzende Reform.
Freilich, das englische Erziehungswesen, das auch Gurlitt, wie seinerzeit
Paul Güßfeldt, als ein Ideal vorschwebt, obwohl er es keineswegs ohne
weiteres übertragen will, das können nur in Deutschland nicht nachmachen.
Unsre Gymnasien sind im wesentlichen ans Schüler aus dem Mittelstande be¬
rechnet, nicht vornehme Internatsschulen für Söhne des Adels oder reicher
Geschlechter, wie Winchester, Eton. Rugby und Harrow. und wir haben nicht
die Möglichkeit zu einem so ausgebreiteten Betriebe körperlicher Übungen;
dafür bietet dann das Militärjahr reichlich Ersatz. Aber ich kann nicht finden,
daß der gebildete Deutsche in der Regel mit Abneigung seiner alten Schule
und seiner Schulzeit gedenke; mir sind so oft Beispiele treuer Anhänglichkeit
und Dankbarkeit entgegengetreten, daß ich das Gegenteil eher als Ausnahme
ansehen möchte, nicht nur bei unsern wenige«, den englischen ?ub1lo Lobools
einigermaßen ähnlichen Fürsten- und Internatsschulen, die ihre Zöglinge na¬
türlich stärker an sich fesseln als freie Gymnasien. Andrerseits sind auch die
Engländer von der Nortrefflichkeit ihres Bildungswesens keineswegs mehr so
fest überzeugt wie früher; sie finden sogar, daß es ihre Jngend mit dem, was
Zum Bestehn des heutigen Konkurrenzkampfes der Völker nötig sei, zu wenig
ausruhte, und daß wir ihnen darin überlegen seien.
In der Kritik ist auch Gurlitt wie alle die Neuerer viel stärker als in
den Besserungsvorschlägen. Was er über die Notwendigkeit sagt, den Unterschied
Zwischen Hauptfächern und Nebenfächern wieder entschiedner zu betonen, das
Wissen, namentlich das Gcdächtuiswissen zu Gunsten freierer Bewegung und
Selbstthätigkeit des Schülers zu beschränken, also mannigfache Abstriche am
Stoffe vorzunehmen, die Heimatkunde durch Anleitung zu vernünftiger Lektüre
bedeutender moderner Prosadichter mehr zu pflegen, die Überspannung des
Prüfungswesens und der damit eng verbundnen Dressur zu beseitigen, an der
die preußischen Gymnasien im ganzen weit mehr zu kranken scheinen als
z. V. die sächsischen, das ist alles zwar nicht neu, aber ganz richtig und be¬
achtenswert. Andrerseits aber ist es ungerecht zu verlangen, daß das Gym¬
nasium seine ältern Schüler auch in die moderne Welt- und Kunstanschauung
einführe. Die Schule kann in der Kulturentwicklung niemals eine leitende
Stellung einnehmen, wie etwa die Universitäten, sie kann ihr nur langsam
und vorsichtig folgen, nur Dinge, die sich schon durchgesetzt und bewährt
haben, pädagogisch verwerten, sonst versündigt sie sich an der Jugend. Welches
ist denn „die neue Weltanschauung," etwa die sogenannte naturwissenschaftliche,
die sich mehr und mehr als verfehlt herausstellt, weil sie ans zu einseitiger
Grundlage bauen will? Und welches ist die „moderne Kunstanschauung," die
die Schule an Stelle der klassischen lehren soll, oder ist ihr Sieg schon gewiß?
Die Schule soll ihre Zöglinge von ungeklärten Tagesfragen geradezu fern
halten, sie soll nur die Urteilsfähigkeit ausbilden; das weitere ist Sache der
Universität, überhaupt einer reifern Altersstufe. Daß aber auch das Gym¬
nasium der Kulturentwicklung nach beseelt Krusten gefolgt ist, das weiß doch
auch wohl Gurlitt; zwischen dein heutigen Gymnasium und dem der fünfziger
Jahre ist ein sehr großer Unterschied.
Jedenfalls steht das thatsächliche Ergebnis der Reformbewegung des letzten
Jahrzehnts, soweit sie radikale Veränderungen erstrebt, in gar keinem Verhältnis
zu dem großen Lärm, den sie gemacht hat und noch macht. Denn ihr einziges
greifbares Resultat ist das sogenannte Neformgymnasium nach dem Muster
des Gvethegymnasiums in Frankfurt, das deu Beginn des Lateinischen nach
Untertertia, den des Griechischen nach Untersekunda verschiebt, also die eine
klassische Sprache auf sechs, die zweite auf vier Jahre, allerdings mit etwas
verstärkter Jahresstundenzahl, beschränkt und diesen Unterricht auf einen mit
den (Reform-)Realgymnasien und deu Realschulen gemeinsamen lateinlvsen
Unterbau mit sehr starkem Betriebe des Französischen begründet. Auf diesem
lateinlosen Unterbau beruht überhaupt der übrigens keineswegs neue Grund-
gedanke der neuen Schule; er soll den Übergang der Schüler auf latein¬
lose Anstalten der andern Gattungen ohne Schwierigkeit ermöglichen und
somit für die Eltern die Entscheidung über die künftige Laufbahn des Sohnes
um einige Jahre hinausschieben, die endgiltige Wahl zwischen humanistischen
und Realgymnasium um fünf Jahre. Daß das ein gewisser Vorteil ist,
versteht sich von selbst; nur sind solche Übergänge doch immerhin Ausnahmen.
Sie würden schon erleichtert werden, wenn etwa ein gemeinsamer Unter¬
bau sVI, V, IV) für die humanistischen und Realgymnasien mit Beginn des
Französischen in Quarta statt in Quinta (des Englischen in Obertertia statt
in Untertertia) hergestellt würde. Bis Quarta muß es doch völlig klar sein,
ob sich der Knabe für die eine oder die andre der beiden Schulgattungen eignet,
denn in dieser Klasse steht er im zwölften oder dreizehnten Lebensjahre. Wer
aber seinen Jungen ans die latciulose Realschule schickt, der hat von An¬
fang an ein Studium nicht im Auge und muß die Folge» tragen, wenn
er sich dann hinterdrein anders besinnt, was thatsächlich höchst selten vor¬
kommt. Dazu wird die Ausdehnung der Berechtigung zum Universitätsstudium
die Notwendigkeit eines Übergangs von der einen Gattung der neunjährigen
höhern Schulen zur andern immer weiter verringern, also auch den Vorteil
des „Frankfurter Systems," dem doch der schwere Nachteil gegenübersteht, daß
von ihm aus jeder Übergang auf ein Normalgymnasium so gut wie abge¬
schnitten ist.
So ist der Vorteil selbst gering, und er wird sehr teuer, er wird aus
Kosten der alten Hauptfächer, der beiden klassischen Sprachen, und durch eine
Verstärkung des Französischen erkauft, für die es keine innern Gründe giebt.
Denn die Behauptung der Reformer, das Latein sei nnn eine völlig tote
Sprache, zu deren praktischem Gebrauch in Rede und Schrift ja auch das
Gymnasium gar uicht mehr anleiten wolle, müsse also zu diesem Zweck durch
eine moderne Sprache ersetzt werden, ist nicht stichhaltig. Wenn das Latein die
internationale Sprache der Wissenschaft nicht mehr in dem alten Umfange ist,
so hat es doch nicht ganz aufgehört, es zu sein. Man denke z. B. an das
große Vorxus insoiipticmuiu lickirmruiu Mvmmsens und andre Werke ähnlicher
Art, die für ein internationales Gelehrtenpublikum bestimmt sind und sich
deshalb des Lateinischen ebenso bedienen, wie das noch oft genug gelegentlich
internationale Gelehrtenversammluugen thun. Ferner ist das Lateinische be¬
kanntlich noch heute die amtliche Geschäftssprache der römischen Kirche, der
ausgedehntesten Organisation der Welt, ist also in diesem weiten Kreise seit
der Begründung des Christentums niemals gestorben, sondern hat auch nach
der Auflösung des weströmischen Reichs ununterbrochen weitergelebt. Deshalb
konnte der Fürstbischof Kopp von Breslau bei Gelegenheit der Schulkonferenz
im Dezember 1890 erklären: wenn der preußische Staat in seinen Gymnasien
das Latein noch weiter schwache, so werde seine Kirche in andrer Weise selbst
für seine Pflege sorgen müssen. Das hätte dann wohl eine keineswegs wünschens¬
werte starke Ausdehnung der Priestersennncirien zur Folge gehabt.
Für die Erhebung des Französischen als einer lebenden Hauptsprache zur
Grundlage des fremdsprachigen Unterrichts aber spricht positiv gar nichts. Es
ist durchaus kein deutsches Nationalinteresse, die im Rückgang begriffne Welt¬
geltung des Französischen, die nur wenig über zwei Jahrhunderte alt und im
diplomatischen Verkehr seit Bismarck bedeutend eingeschränkt worden ist, wieder
zu fördern, kein deutsches Vildungsinteresse, den Zugang zur französischen Lit¬
teratur zu erleichtern, die sich in ihrer witzigen, geistreichen, pointierter, durch¬
aus reflektierten Art am wenigsten für die Jugend eignet, kein deutsches Ner-
kehrsinteresse. das Französische in die erste Reihe zu rücken, denn in dieser
Ve-ziehung und durch seine Litteratur steht das Englische weit voran. Auch
fällt das Französische mit seiner reichentwickelten Formenlehre dem Knaben
kaum leichter als das Lateinische, wie die Zensuren gerade in der Quartn,
seiner gymnasialen Anfangsklasse, Jahr für Jahr beweisen, obwohl da schon
zwei Lateinjahre vorausgegangen sind. Es ist und bleibt doch auch für die
einfache Empfindung eines zehn- oder elfjährigen Jungen ein Widersinn, die
Wörter anders zu schreiben als sie auszusprechen; dieser Widerspruch erhöht die
Schwierigkeit des Lernens, und die grammatischen Begriffe, die seit zweitausend
Jahren am Lateinischen klar ausgebildet sind, müssen künstlich auf das Fran¬
zösische übertragen werden. Junge Franzosen wollen die Reformer natürlich so
wenig erziehn, wie das alte Gymnasium Griechen und Römer, aber sie mögen
das ernste Wort Treitschkes bedenken: „Unsre gelehrte Bildung ist nur darum
national, weil sie auf altklafsischem Grunde ruht. Das Latein erleichtert uns
den Zugang zu allen lebenden Kultursprachen, ohne uns dem eignen Volke zu
entfremden. Daß ein Deutscher zum Römer oder zum Hellenen werde, ist un¬
möglich, zum künstliche» Engländer oder Franzosen kann er sehr wohl werden."
. Sieht es also mit der innern, pädagogischen Begründung des neuen Lehr¬
gangs recht dürftig aus, so sind seine Folgen für die beiden antiken Sprachen
noch gar nicht abzusehen. Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß man in einem
wissenschaftlichen Fache, vor allem in einer fremden Sprache, dasselbe erreichen
könne, wenn man ihr in einer kürzern Zeit eine verhältnismäßig größere
Stundenzahl widmet, als wenn man ihr in einer längern Zeit eine geringere
Stundenzahl einräumt. Denn eine fremde Sprache will sozusagen verdaut sein,
und dazu bedarf es eben der Zeit, ruhiger Arbeit und langer Übung. Der Knabe
kann nicht wesentlich mehr lateinische Wörter und Regeln in einer Woche
lernen, wenn er zehn Lateinstnnden hat, als wenn er nur acht hat. Und diese
gewaltige Gedüchtnisarbeit, die der Sextaner und der Quartaner mit einer ge¬
wissen Leichtigkeit bewältigen — in keiner Klasse sind die Fortschritte so erstaun¬
lich wie in einer normalen Sexta —, die mutet das Neformgymuasium einem Alter
zu, wo die Gedächtniskrnst weitaus nicht mehr so stark ist, das durch die
körperliche Entwicklung und die Vorbereitungen zur Konfirmation — in der
Untersekunda auch durch das beginnende Gefühl der Männlichkeit — mannig¬
fachen Störungen ausgesetzt ist. Mit Recht nennt der erfahrne Stadtschulrat
Dr. Voigt in Berlin diese Verkennung des Verhältnisses von Gedächtnis und
Verstand „den psychologischen Grundfehler des Frankfurter Systems" (Päda¬
gogisches Wochenblatt vom 14. Mai 1902 S. 245).
Infolgedessen stellt das Neformgymnasium an Lehrer und Schüler höhere
Anforderungen, spannt ihre Kräfte stärker an als das Normalgymnasium, setzt
sich also mit den berechtigten Anforderungen nach Entlastung, nach freierer
Selbstthätigkeit der reifern Schüler und nach Vermindrung der Korrekturlasten
für die Lehrer in den schärfsten Widerspruch, gerät zugleich in die Gefahr,
seine Leute nur für bestimmte, beschränkte Aufgaben, für bestimmte Abschnitte
eines Schriftstellers zu drillen, statt sie zu einer gewissen Beherrschung der Sprache
zu bringen. Die Vermehrung der lateinischen und der griechischen Stunden
(Latein in IIIU und III ^ 10, in IIU bis IU 8, Griechisch von IIU an 8)
zwingt zugleich zu einer Herabsetzung der Mathematik auf drei Stunden von
IIU ab (statt 4 im Normalgymnasium). Und diese Schule macht den An¬
spruch, eine ganz besonders „moderne" und „nationale" zu sein, weil sie ^
mit dem Französischen anfängt?
Nun versichern allerdings die Reformer, die neue Schule leiste genan
dasselbe in den klassischen Sprachen wie das alte Gymnasium, habe also
die Probe bestanden. Sehr wahrscheinlich ist das von vornherein nicht. Die
Realgymnasialabiturienten, die an einem humanistischen Gymnasium ihre
Ergänzungsprüfung in Latein und Griechisch machen wollen und doch schon
tüchtig Latein getrieben haben, auch selbstverständlich immer begabte, streb¬
same Leute sind, kommen im Griechischen, auch wenn sie es schon vor ihrem
Abgange von ihrer Schule betrieben haben, sehr selten über mittelmäßige
Leistungen hinaus, und bei Seminaristen, die auch zuweilen die Sache ver¬
suchen, ' gelingt sie fast niemals, jedenfalls nur mit der schärfsten Anspannung,
und auch dann mit sehr schwachen, kaum noch zulässigen Leistungen. Wenn
nun aber auch das Frankfurter Reformgymnasinm einige Jahrgänge von Abi¬
turienten entlassen hat, so ist das noch leine genügende Probe seiner Leistungs¬
fähigkeit; von einer solchen wird erst dann die Rede sein können, wenn sich
seine Abiturienten in den Staatsprüfungen bewährt haben werden. Außer
dieser Anstalt giebt es noch heute nicht mehr als acht Reformgymnasicn in
Preußen (in Schöneberg bei Berlin, Charlottenburg, Breslau (2), Magdeburg,
Nheydt, Hannover, Danzig), die meist noch in der Entwicklung begriffen sind,
also noch" gar keine Erfahrungen haben, gegenüber mehreren hundert Normal-
ghmnasien, und diese schwachen Ansätze werden von manchem Reformer als der
moderne Flügel des humanistischen Gymnasiums bezeichnet! So steht es that¬
sächlich mit der „Erprobung" des Reformlehrplnns. Und schon lassen sich
Stimmen hören, die auch seine Leistungen anzweifeln. In dem Gutachten eines
dem Reformgymnasium sehr günstigen Berichterstatters wird ausdrücklich aner¬
kannt, daß die Frankfurter Resultate im Lateinischen seinen Erwartungen nicht ent¬
sprochen hätten. Andrerseits ist es „ein offnes Geheimnis, daß die Abiturienten
des Neformgymuasiums schließlich im Französischen nicht mehr leisten als
°le des Normalgymnasiums; was in den Unterklassen mehr gelernt wird,
Seht in den mittlern und obern, wo die alten Sprachen mit einem so ge¬
waltigen Hochdruck einsetzen, eben wieder verloren. Zum Teil geben die an
Reformgy.nnasien unterrichtenden Lehrer diesen Übelstand selbst zu, klagen dar¬
über, daß das mühsam und mit soviel Aufwand an Kraft aufgeführte Gebäude
Kor IIIZ oder IIL an wieder zerfalle, und sprechen deshalb dem Reformgym-
uasinm den Vorzug eiuer einheitlichen Organisation ab." Und wie steht es
mit den Leistungen in der Mathematik?
Mau kann nun ruhig zugeben, daß auch die neue Schule unter günstigen
Umständen, bei geringer Schülerzahl und sehr tüchtigen Lehrern, Gutes leisten
kann; es führen viele Wege nach Rom, und weshalb soll man nicht einen
neuen versuchen, wenn man sich davon besondre Vorteile verspricht? Aber nicht
darum handelt es sich, ob einzelne Anstalten dieser Art gedeihn tonnen,
sondern nach der Auffassung der Reformer soll vielmehr diese Form des huma¬
nistischen Gymnasiums zur herrschenden werden, also uuter allen Umständen und
überall durchgeführt werden. Nach den bisherigen Erfahrungen müssen wir
aber die Möglichkeit und die Zweckmäßigkeit einer allgemeinen Einführung be-
streiten.
Die Verhältnisse, unter denen das Goethegymnasium arbeitet, siud uicht
die gewöhnlichen, geschweige denn die allgemein herrschenden. In Frankfurt
scheinen zunächst nur solche Kreise ihre Sohne überhaupt auf das Gymnasium
zu schicken, die sie für fähig halten, den ganzen Kursus durchzumachen, was
bekanntlich im allgemeinen sonst nicht der Fall ist. Sodann ist die Zahl der
Schüler — am 1. Februar 1901 391, 1902 376 — für ein großstädtisches
Gymnasium uicht hoch (jedes Leipziger Gymnasium ist wesentlich stärker), die
Frequenz der Klassen von Untersekunda ab ziemlich schwach, und von den Ge¬
samtzahlen waren im Jahre 1901 141, im Jahre 1902 139 Juden, also 33
oder nahezu 37 Prozent, jüdische Schüler aber gelten im ganzen für gut
begabt. Ferner ist der Direktor des Goethegymnasiums, Dr. Karl Reinhardt,
ein hervorragender, für seine Sache begeisterter Pädagog und hat ein aus¬
gewähltes Lehrerkollegium um sich gesammelt, das gewiß mit aller Anspannung
an der Lösung seiner schwierigen Aufgabe arbeitet, und zu dessen Ergänzung
dem Direktor ziemlich unbeschränkte Mittel zur Verfügung zu stehn scheinen.
Dazu lebt die Schule jetzt noch unter dem scharfen Druck einer fortgesetzten
Probe, denn fortwährend wird an ihr inspiziert und hospitiert. Diese günstigen
Verhältnisse werden weder Dauer haben noch sind sie allgemein vorhanden-
Ein neugegründetcs Kollegium verringert allmählich ganz von selbst seine
Qualität, weil die besten seiner Mitglieder allmählich in höhere Stellungen
berufen werden und nicht immer durch ebenso tüchtige ersetzt werden könuen-
Die Spannung, unter der jetzt Lehrer und Schüler dieser Anstalt arbeiten,
wird gerade dann am ehesten nachlassen, wenn sie nicht mehr eine Ausnahme¬
stellung einnimmt, und die jetzt besonders günstigen Frankfurter Orts- und
Zeitverhältnisse werdeu sich immer nur vereinzelt finden; der Durchschnitt der
Lehrer und Schüler wird überall nur Mittelgut sein können.
Es bleibt also doch wohl bei dem, was mir einmal der leider zu früh
verstorbne preußische Kultusminister Bosse schrieb: „Man kann Reformgymnasien
wohl zulassen, aber nicht einführen." Einzelne Schulen der Frankfurter Art
mögen in großen Städten in freier Konkurrenz mit dem Normalgymnasium
gedeihn können, für die große Masse unsrer Gymnasialstüdte eignet sich das
Reformgymnasium nicht; ja bezeichnenderweise hat gerade Berlin, also unsre
größte Stadt, deren fortschrittliche Gesinnung über allen Zweifel erhaben ist,
noch heute keine Neformgymnasicn, und erst kürzlich hat sich hier der Stadt¬
schulrat Voigt rundweg gegen die Einführung des Frankfurter „Systems" aus¬
gesprochen. Daß es trotz dieser Einwände weitern Boden gewinnen wird,
daran kann man gleichwohl nicht eine Minute zweifeln. Namentlich städtische
Kollaturbehörden werden gewiß vielfach dazu übergehn, weil sie mehr oder
weniger von Stadtverordnetenversammlungen abhängig sind, in denen in der
Regel die Nützlichkcitsrücksicht überwiegt, und die Mehrheit solchen blendenden
Schlagwörtern, wie „Reform," „Fortschritt," „modern," „praktisch" und der¬
gleichen mehr blindlings nachläuft. Welche Konfusion freilich eine solche Ver¬
mehrung der Reformgymnasien in unser höheres Schulwesen bringen wird,
läßt sich leicht ermessen, wenn man erwägt, daß der Wechsel zwischen einer
Reformschule und einem Nvrmalgymuasium so gut wie ausgeschlossen ist, also
Eltern bei dein heute doch nicht gerade seltnen Wohnungswechsel in die schwerste
Verlegenheit geraten können.
Nun hat Dr. Reinhardt, selbst ein begeisterter Humanist, seinen neuen
Lehrgang in der ehrlichen Absicht aufgestellt, das schwer bedrohte humanistische
Gymnasium durch Konzessionen an moderne Strömungen zu retten. Ist diese
Rechnung richtig? Die grundsätzlichen Feinde der humanistischen Bildung
sehen dciriu nichts als eine Etappe auf dem Wege zur Vernichtung dieser
Bildung. Sic sind nicht befriedigt, sondern werden im Namen der „natio¬
nalen" und „modernen" Erziehung ihre Angriffe zunächst auf das Griechische
richten, und da bietet das Neformgymnasimn einen sehr verwundbaren Punkt,
nämlich deu Beginn des Griechischen in Untersekunda. Man kann in der That
fragen: Weshalb sollen die Schüler, die ans dieser Klasse mit dem Eiujährigcn-
zeugnis abgehn, noch mit den Anfangsgründen einer schwierigen Sprache gequält
werden, die ihnen kein lohnendes Ziel bieten und bald wieder vergesse,: werden?
Die vernünftige Konsequenz wäre dann also, den Anfang des Griechischen nach
Obersekunda zu verschieben. Alsbald würde sich dann herausstellen, daß in
drei Jahren nichts erreicht werden kann, was die harte Arbeit lohnt, und dann
ergiebt sich die weitere Forderung: Verwandlung des Griechischen in ein wahl¬
freies Fach für Theologen und' klassische Philologen nach der Art des He¬
bräischen, denn mir diese „brauchen" es unmittelbar für ihre Studien. Von
diesem Standpunkt ans ließe sich freilich noch viel eher die Abschaffung der
Mathematik rechtfertigen, denn diese „braucht" im künftigen Leben nur ein
kleiner Bruchteil der Gymnasiasten, und die sie nicht „brauchen," vergessen sie
später vollständig, ohne sie mich nur zu vermissen. Ohne Griechisch aber giebt es
kein modernes humanistisches Gymnasium, das heiß ersehnte Ziel der Neuerer,
seine Vernichtung, wäre dann erreicht. Denn nach dem heutigen Stand unsrer
Auffassung des Altertums ist die Kenntnis der griechischen Sprache, Litteratur
und Kultur das Wesentlichste der humanistischen Bildung. Wenn Friedrich
Paulsen trotzdem historisch zu begründen versucht hat, daß das Griechische erst
durch den Neuhumanismus zu seiner Stellung gekommen sei, und vor dieser
Zeit das Gymnasium diese Sprache nicht viel intensiver betrieben habe als
jetzt das Hebräische, daß also auch das moderne Gymnasium ohne Griechisch
besteh« könne, so beweist das gerade so viel, als wenn man aus demselben
Grunde die Erweiterung des mathematischen Pensums bekämpfen wollte,
nämlich gar nichts; wohl aber hat Paulsen durch diese Schlußfolgerung dem
humanistischen Gymnasium sehr viel geschadet. Hier heißt es also: Keine Kon¬
zessionen mehr! Denn darüber täusche man sich ja nicht: ist das Griechische
"is wesentlicher Bestandteil des Gyinnasialunterrichts einmal aufgegeben, dann
erhalten wir es niemals wieder zurück, sondern wir verlieren es für immer,
und unsre Bildung sinkt damit auf eine tiefere Stufe herab. Darüber mögen
sich namentlich die nicht täuschen, die eS angeht, und denen die Höhe unsrer
Bildung wirklich am Herzen liegt. „Wenn man erst soweit geht, den Wert
des Unterrichts nach dem sichtbaren Effekt zu bemessen, dann wird man auch
bald dahiii kommen, den Wert dessen, was man ans der Schule lernt, danach
>>» beurteilen, ob damit Geld zu machen ist oder nicht, dann ist Deutschland
verloren, dann ist es um seine führende Stellung unter den europäischen
Völkern geschehn, denn diese Stellung beruht ans seiner überlegnen geistigen
Bildung." (Abt Uhlhoru von Loccum in der Schulkonferenz von 1890.)
Die Neuerer begründen ihre Ablehnung des Griechischen gern damit, daß
das Altertum für unsre Gesamtkultur seine alte Geltung verloren habe, daß
es „verblaßt" sei. Damit aber wird die Frage ganz falsch gestellt. Es
handelt sich gar nicht um die Frage, ob das Altertum in dieser Beziehung
noch seine frühere Stellung behauptet, d. h. ob es so im Vordergründe des
Interesses steht wie vor hundert Jahren, sondern um die davon ganz ver-
schiedne: Welche Bildungsmittel sind am besten geeignet, in unsrer Jugend das
Bewußtsein des historischen Zusammenhangs unsrer Kultur mit der Vergangen¬
heit zu erwecken, ihr von dieser Kulturentwicklung einen ausreichenden Begriff
zu geben und ihre geistigen Fähigkeiten in ernster, eindringender Arbeit an
edeln, die Mühe lohnenden Stoffen so zu Schulen, daß sie sich dann in die
verschiedensten Aufgaben eines höhern Berufs hineinarbeiten kann, mag sie
auch das Gelernte im spätern Leben nicht in allen seinen Einzelheiten fest¬
halten und größtenteils vergessen? Als zugestanden wird dabei natürlich
vorausgesetzt, daß kein modernes Volk in der Lage der Griechen ist, nämlich
eine rein nationale, nnr mit Verwertung nationalen Geisteseigcntums eine
der Zeit gemäße höhere Bildung zu geben.
Alle zu solcher Bildung Aufstrebenden einen und denselben Weg führen
zu wollen, wäre heute eine Utopie; die Gliederung unsrer heutigen höhern
Schulen in Gymnasien, Realgymnasien und Oberrcalschulen ist aus natürlichen
und berechtigten Bedürfnissen erwachsen, läßt sich also auch nicht mehr zur
alten lateinischen Einheitsschule zurückschrauben. Alle diese Schulgattungen
erstreben jenes Ziel in ihrer Art. Die eine, mehr auf die unmittelbare Vor¬
bildung für das praktische Leben gerichtete, läßt die historischen Beziehungen
unsrer Kultur in den Hintergrund treten, für die andern sind gerade diese die
Hauptsache. Der gemeinsamen Basis dieser Kultur, dem Altertum, steht am
fernsten die Oberrealschulc, deun diese zeigt sie nnr in ihrer Wirkung auf die
deutsche, französische und englische Kultur, also indirekt, sozusagen von ferne.
Näher steht ihr das Realgymnasium, indem es auch ins Lateinische einführt,
dessen Litteratur zwar nur ein Abglanz der griechischen ist, immerhin aber
dieser zeitlich, örtlich und innerlich am nächsten kommt; auf dem gründlichsten
und direktesten Wege führt das humanistische Gymnasium zum Ziel. Es hat
deshalb zwar die Alleinherrschaft ruhig aufgeben können, aber es darf nicht
verschwinden, es muß immer die Schule bleiben, durch die die vorzugsweise
gehn, deren künftige Berufsthätigkeit eine gründliche, sprachlich-historische Vor¬
bildung voraussetzt, denn das, was es seinen Schillern bietet, wird durch kein
andres Bildungsmittel ersetzt.
Alle Litteraturen und Kulturen der modernen Völker sind abgeleitet und
unter fortgesetzt, bald stärker, bald schwächer wirksamen Einflüssen der Nachbarn
oder des Altertums erwachsen, auch in fortwährender Umwandlung begriffen.
Nur die hellenische Kultur ist schlechthin ursprünglich und selbständig, vom
Orient nnr in einigen äußerlichen Dingen vorübergehend beeinflußt, die sie sich
völlig assimiliert hat; sie redet zu uns in einer wunderbar biegsamen und reichen
Sprache, der vollkommensten der Welt, die jedem Gegenstand ohne ein Fremd¬
wort gewachsen ist; sie bietet einen erstaunlichen Reichtum der Erscheinungen,
der mit jedem neuen Funde immer mehr zu Tage tritt, und ist doch in deu
großen Zügen ihrer Entwicklung so folgerichtig und übersichtlich wie keine
andre, dazu in sich so abgeschlossn, daß sie von keiner modernen Zeit- und
Streitfrage berührt wird; sie ist also für die Schule durch nichts zu ersetzen,
weder durch die deutsche Litteratur und Kultur, noch durch die englische oder
gar die französische. Kein Epos kommt als Weltbild und in frischer, lebendiger
Anschaulichkeit dem homerischen gleich, das überhaupt in der englischen oder
der französischen Litteratur gar kein verwendbares Gegenstück bietet, Corneille
und Racine verschwinden vor Sophokles, Shakespeare überragt auch diesen,
aber seine Kulturbasis ist unendlich komplizierter. Die Historiker des Alter¬
tums haben gewiß ihre Mängel, aber sie sind die Söhne einer freien und
reichen Bildung, sie stehn, so weit sie für die Schule in Betracht kommen,
den dargestellten Ereignissen sehr nahe oder mitten in ihnen drin, geben also
ein frischeres, unmittelbarer cmpfuudnes Bild, als die meisten modernen Ge¬
schichtschreiber vermögen, die selten Zeitgeschichte schreiben, am wenigsten als
Mithandelnde; sie erzählen wirklich, ohne fortwährende Reflexion, sie schildern
verhältnismäßig einfache Verhältnisse ohne Überladung mit Einzelheiten, fast
alle auch ohne die moderne psychologische Analyse, die doch der Jngend noch
unverständlich ist, und doch in lebensvoller Herausarbeitung des Wesentlichen.
Die großen Redner sind meist zugleich Staatsmänner in tief erregter Zeit,
deren Bild sie lebendig widerspiegeln, und es giebt sicherlich keine bessere Ein¬
führung in die Philosophie, als die Betrachtung ihrer Aufänge bei den Griechen,
die sich zuerst die grundlegenden philosophischen Probleme gestellt haben.
Daß überhaupt alle Wissenschaften und alle Darstellungsweisen ihre
Wurzeln im Griechentum haben, das macht das geistvoll zusammengestellte
Lesebuch von Wilamowitz-Mölleudorff") jedem deutlich. Auch er faßt, wie
heute jeder Philolog, das Griechentum rein historisch; er will die Griechen
^eher nicht als unerreichbare Ideale und nicht als Muster zur Nachahmung,
wie ein früheres Zeitalter die lateinischen Autoren las, um sie nachzubilden, er
^ge vielmehr in der für jeden Gebildeten höchst beachtenswerten Vorrede:
"Weil unser Anschauen und Denken, unser Leben in Staat und Gesellschaft,
unser Eigenstes in Kunst und Wissenschaft und Religion mit dem Altertum
durch tausend Fäden verbunden sind, so können wir nicht verstehn, was wir
sind noch was wir sollen, ohne das Erbe des Altertums geschichtlich zu er¬
fassen. . , Daß das Verständnis dieser Weltperiode erreicht werde, daran hängt
dle Berechtigung der Jugendbildung, welche das Gymnasium verleihen will."
An diese Aufgabe eruste und ausdauernde Arbeit zu setzen, um ihretwillen
Griechisch nud Lateinisch zu lernen, an solch edelm Stoff unsre Jugend an
strenge Geistesarbeit und scharfes Denken zu gewöhnen, d. h. ihr formale
Bildung zu vermitteln, das lohnt auch heute noch der Mühe.
Das aber ist die Sache unsrer Lehrerschaft. Sie wird diese ihre moderne
Aufgabe nur lösen, wenn sie selbst von ihrer Bedeutung tief durchdrungen ist,
wenn sie selbst das klassische Altertum in sich lebendig macht und dein ver¬
alteten Formalismus gänzlich entsagt, wenn sie nie vergißt, daß hente die
alten Sprachen nur Mittel zum Zweck siud, wenn sie die Höhe der Leistung
nicht nach deu Extemporalien mißt und das lateinische Spezimen nicht zu
einer unnatürlichen Sammlung von Fallstricken macht, sondern daneben wo¬
möglich wieder zu einem freien Gebrauche des Lateinischen in Wort und Schrift
anleitet, also den Schülern wieder mehr das freudige Bewußtsein eines gewissen
Könnens giebt, endlich ihre wichtigste Aufgabe nicht darin sieht, möglichst ein¬
wandfreie Zensuren zu erhalten, sondern in dem sichern grammatischen und
sachlichen Verständnis eines lateinischen und griechischen Textes. Man plage
aber auch vou oben her das Gymnasium weniger mit Prüfungen aller Art,
deren allzustarke Betonung nur zur Dressur führt und Lehrern wie Schülern
die Freude an der Arbeit nimmt; man gewähre den reifern Schülern mehr
Freiheit zu selbständiger Thätigkeit, namentlich auch die Möglichkeit, sich in
die Bearbeitung eines deutschen Aufsatzes einigermaßen zu vertiefen, wozu
ihnen heute das Vielerlei der häuslichen Arbeit kaum mehr die Zeit läßt;
man gönne den Lehrern einige Entlastung vou Stundenzahl und Korrekturen,
statt jede „Lehrkraft" möglichst „auszunützen," auf die Gefahr hin, daß sie früh
zusammenbricht, was leider nur zu häufig vorkommt; man schaffe ihnen endlich
ein wirklich sorgenfreies Dasein, das sie als Familienväter mit heranwachsenden
Söhnen und Töchtern jetzt trotz aller dankenswerten Gehaltsverbcsserungen der
letzten Zeit auch bei den bescheidensten Ansprüchen eines bürgerlichen Haushalts
ohne eignes Vermögen thatsächlich immer noch nicht haben. Ein solches aber
ist bei Gymnasiallehrern selten vorhanden, denn sie kommen meist aus kleinen,
oft engen Verhältnissen, weil die ganze Laufbahn den Ehrgeiz nicht anlockt,
sondern eher abschreckt, also von Söhnen wohlhabender und reicher oder hoch¬
gestellter Väter fast niemals eingeschlagen wird. Dann wird sich ein zweites
gutes Wort Bosses erfüllen, das er wenig Monate vor seinem Tode (31. Juli
1901) geschrieben hat: „Wir brauchen für das Gymnasium nur freie Hand,
dann bleibt es von selbst oben."
s giebt in Österreich eine ganze Reihe von historischen Legenden,
die meist von der Presse suggeriert worden sind, die wohl jeder¬
mann nachspricht, aber keiner mehr recht glaubt. Zu diesen ge¬
hört anch die Wendung, das letzte deutsche Ministerium wäre
einzig und allein über die böhmische Frage gestürzt. Das be¬
streiten wir mit gutem Grund. Der Monarch fühlte sich allerdings tief ver¬
letzt, als man ihm seine erste Erwerbung für Österreich vergällen wollte, doch
ging diese Frage nicht an das Innere des Staatslebens, und so lag es durch¬
aus noch nicht in seiner Absicht, deswegen mit den Deutschen zu brechen, und
das Ministerium Auersperg blieb bis zum Februar 1879 im Amte, Aber
schon während der parlamentarischen und der Preßkämpfe des Jahres 1878
verrannte sich der deutsche Liberalismus immer mehr, der unausrottbare Mangel
an Verständnis des Kapitalismus für Machtfragen beherrschte die ganze öffent¬
liche Meinung, das verhängnisvolle Wort von der Beschneidung der Armee,
und daß Österreich aus zwei Mittelstaaten bestehe, die kein großes Heer be¬
dürften, fiel und wurde Parteischlagwort auch für die im Jahre 1879 ein¬
tretenden Reichsratsneuwahlen, Die deutschfortschrittliche Presse schwelgte in
Angriffen ans die „Innrer und Pfaffen." Ganz analog der preußischen Fort¬
schrittspartei in der Konfliktszeit wollte man also Österreich den „Großmachts¬
kitzel" austreiben, das Heer verkleinern und überhaupt den Kampf auf allen
Fronten führen. Der Vorstoß gegen die Armee, nicht die Opposition gegen
die Okkupation machte jede weitere Rücksicht auf die Deutschfortschrittlichen
unmöglich, sie wurden auf allen Fronten geschlagen, leider ging dabei auch
das letzte deutsche Ministerium in die Brüche. Kaiser Franz Joseph hat sich
sehr schwer zu dieser Wendung entschlossen, wohl ein halb Dutzend mal wurde
Dr. Herbst zu Verhandlungen in die Hofburg entboten, er hatte nichts zu
bieten wie das unfruchtbare Nein des unfehlbaren Doktrinarismus. Auch der
Versuch, nach dem Sturze des Ministeriums Auersperg aus der deutscheu
Verfassnngspartei ein neues Ministerium zu bilden, mißlang wegen der ge¬
heimen Intriguen und des offnen Widerstandes des Dr. Herbst. Wie der
Leiter des nun folgenden Zwischenministeriums, Dr. von Stremcchr, selbst er¬
zählt, wurde er von Herbst geradezu für einen Abtrünnigen erklärt, „ich wurde
aus der Partei, die sich zu ihrem Unglücke seiner Führung widerstandslos über¬
ließ, förmlich ausgeschlossen und in ihren Kind nicht mehr zugelassen."
Graf Taaffe wurde mit der Bildung des neuen Ministeriums betraut und
erklärte sich bereit, mit der deutschliberalen Linken zu gehn, wenn sie nur
seine Versöhnungsversuche nicht schon vorweg ablehnte. Da dies aber trotz¬
dem unter Führung des Dr. Herbst geschah, nahm er sich schließlich die von
der kapitalistischen Presse geschmähten Pfaffen und Junker, denn auch die ver¬
fassungstreuen Großgrundbesitzer, die bisher mit der Verfassungspartei gegangen
waren, schlössen sich dem Ministerium an, das nun noch die Tschechen zum
Eintritt in den Reichsrat bewog, wodurch die Dentschliberalen in die Minorität
gerieten. Damals ist der Grund zu der Verbitterung gelegt worden, nnter
der das Deutschtum jetzt zu leiden hat, aber nur halbwahr ist die in Öster¬
reich immer wiederholte Legende, das Unglück der Deutschen schreibe sich erst
vom Ministerium Taaffe her. Das trifft nicht einmal zeitlich genau zu, wie
^e eben angeführten Thatsachen beweisen, noch weniger kann ihm ein Bor-
Wurf der Deutschfeiudlichkeit daraus gemacht werden, daß er die Tschechen ins
Parlament zog. Er war österreichischer Minister, dem die Dentschliberalen
jede Unterstützung verweigerten. Übrigens hatte kurz vor dein Rücktritt des
Ministeriums Auersperg der Führer der Deutschen, or. Herbst, mit den in jener
6eit erst auftauchenden Jungtscheche», etwa ein halbes Dutzend Abgeordnete,
Verhandlungen angeknüpft, um sie zum Eintritt in das Abgeordnetenhaus zu
bewegen zu dem ausgesprochen Zweck, das deutsche Ministerium stürzen zu
helfen. In den ersten Novembertagen des Jahres 1878 trat das Leibblatt
des Dr. Herbst mit diesem Vorschlag an die Öffentlichkeit, den die Deutschen
zwar mit starrem Staunen totschwiegen, aber Herrn Dr. Herbst duldeten sie
doch weiter als cmerkmmten Führer.
Es war nötig, diesen Teil der Entwicklung der innern österreichischen
Politik ausführlicher zu besprechen, weil die Mitteilungen darüber sonst nicht
immer objektiv lauten, während die Vorgänge durchaus geeignet sind, zum
Verständnis der Zeitläufte im darauffolgenden Vierteljahrhundert beizutragen.
Die damalige» Dentschösterreicher sind ebenso wie die preußische Fortschrittspartei
in ihrem liberal-radikalen Kampf gegen Reaktion, Junkertum sowie Militär
und für die Parlainentsherrschaft unterlegen, aber sie scheiterten nicht an der
unbeugsamen Festigkeit eines monarchischen Ministeriums, sondern das ihrer
Nationalität ungehörige Ministerium wurde einfach mit ihnen unmöglich.
Preußen konnte freilich ganz ruhig den innern Konflikt aushalten, das Deutsche
Reich verträgt noch heute einen Eugen Richter mit seinen Anhängern und den
ihm gesinnungsverwandten Politikern, denn die Nachteile davon kommen nur
in geringem Maße den »venigen nichtdeutschen Staatsangehörigen zu gute. In
Osterreich liegt aber die Sache ganz anders, dort wächst jedes Teilchen von
Macht, das die Deutschen durch eine fehlerhafte politische Haltung einbüßen,
notwendigerweise deu Slawen und in dualistischen Angelegenheiten den Ma¬
gyaren zu, dort gilt es für die Deutschen, Macht zu gewinnen, aber nicht durch
eine politische oder parlamentarische Niederlage nach der andern an Ansehen
und innerer Kraft zu verlieret?. Dann hilft kein Jammern, kein Anklagen
der Regierung und kein Anrufen der Stauunesbrüder mehr. Mit dem Verlust
der Parlamentsmehrheit ist auch die Einigkeit, die damals, wenn auch auf
verfehlter politischer Grundlage, vorhanden war, verloren gegangen, und die
Erkenntnis, daß damals schwere Fehler begangen worden waren, hat zu
immer weitern Spaltungen geführt, die Thatsache, daß die Führer schlecht ge¬
führt haben, hat Beschimpfungen der besten Männer und der kleinen Partei¬
gruppen untereinander zur Folge gehabt, wie dies in keiner andern Nation
in Österreich der Fall gewesen ist. Aber trotz alledem hat man den Kardinal¬
fehler, der Ende der siebziger Jahre begangen wurde, noch immer nicht ein¬
gesehen; gerade die lautesten Parteien kennen auch heute nichts andres, als
den Kampf nach allen Fronten zugleich zu führen, die Opposition in jedem
Falle scheint ihnen die einzig mögliche Form der politischen Thätigkeit. Sie
führen immer das Wort deutsch im Munde, sind aber doch nichts andres als
liberalradikal.
Das Ministerium Taaffe war eine Notwendigkeit. Es mußte den Deutsch-
liberalen gezeigt werden, daß es ohne sie und ohne ihre konstitutionellen Grund¬
sätze ging, und Taaffe war der rechte Mann, ihnen die Nichtigkeit des Parla¬
mentarismus darzuthun. Das Schwungrad einer großen Staatsmaschine geht
nun freilich noch lange weiter, wenn auch die einzelnen Teile nicht mehr richtig
arbeiten, und der Strom der treibenden Kraft nachzulassen beginnt, sogar ein
Stümper vermag vor dem großen Haufen den Schein, daß noch alles in Ord¬
nung ist, aufrecht zu erhalten. Graf Taaffe war zwar in der politischen und
der diplomatischen Taktik sehr bewandert, aber staatsmännische Gedanken hatten
ihn nie sehr gequält. Während Bismarck seine Widersacher mehrfach auf den
springenden Punkt des modernen parlamentarischen Lebens hinwies, dessen
wahres Wesen in einer Reihe von Kompromissen bestehe, war Taasfe vollauf
davon befriedigt, daß ihm das „Fortwursteln" gelang. Sein Ministerium war
eine Notwendigkeit, aber es währte ein Jahrzehnt zu lang. Man hat dn
wieder die für Österreich charakteristische Erscheinung vor sich, daß man eine
Sache gehn ließ, weil sie ging, sie aber so lange gehn ließ, bis sie nicht mehr
ging. Das kann unter ruhigen äußern Verhältnissen ein nationaler Staat
aushalten, ein Staat aus einem bunten Völkergemisch muß dabei in Gärung
geraten. Es giebt nichts, was ein Staat auf die Dauer schwerer ertrüge als
den Mangel vorwärts drängender, emporführender Ideen; vorwärts zu neuen
Ziele», das ist die Forderung der Natur. Wird ihr nicht genügt, fehlt es
sogar an einer Idee, an einem Ziel des Strebens, dann tritt mißmutige Ver¬
stimmung ein, die Stimmung der Öde und Leere, die den Nährboden für den
Pessimismus und den Radikalismus nbgiebt. Hier liegt der Grundfehler des
sogenannten Systems Taasfe, nicht darin, daß er gegen die Deutschen regierte;
denn die wollten ja gar nicht mit ihm gehn, sondern wollten ihn stürzen. Auch
das Lob der Offiziösen, Graf Taaffes' Ministerium habe eine stattliche Reihe
grundlegender gesetzlicher Schöpfungen, wie die Neugestaltung der Wehrver-
sassung, die Reform der direkten Steuern usw. zu stände gebracht, ist par¬
teiisch. Wenn ein Vater seinen Kindern Schuhe verschafft, daß sie uicht barfuß
taufen, so beweist das noch gar nichts für seine pädagogische und wirtschaft¬
liche Tüchtigkeit. Daß Graf Taaffe, etwa nach vier Jahren seines Regiments,
undt daran gedacht, wenigstens nicht den Versuch gemacht hat, den hinreichend
gestraften Deutschliberalen einen der Bedeutung des Deutschtums nach Herkunft
und Kultur entsprechenden Anschlich an das innerpolitische Leben zu ermög-
lichen, ist eine Unterlassung, die nicht für seine stantsmännische Begabung
spricht. Damals hätte ein Ministerium Clarh oder Körber viel nützen können.
Das dauernde Verhalten des Grafen Taaffe hat aber mit vollem Grund
den Deutschen wieder ein Recht gegeben, über Benachteiligung zu klagen, denn
^ war der erste, der ihnen keine höhere Bedeutung beimaß als jeder beliebigen
andern österreichischen Nation. Dies und die Nonchalance, die er much allen
übrigen Fragen des Staatslebens gegenüber hervorzukehren pflegte, hat das
Vertrauen in den Ernst und das Verständnis für die Behandlung der Ne-
grerungsangelegenheiten in den obersten Kreisen stark erschüttert. Bei den
schwersten Schlägen nach 1859 und 1866 hatte sich jedesmal nach dem ersten
Aufschrei über die Kurzsichtigkeit und die Kopflosigkeit oben immer wieder alles
hvffnungs- und vertrauensvoll um Krone und Regierung geschart, während
der Negierung Tnasfes hat sich dagegen ein Strom des Radikalismus und cmti-
wonarchischer Anschauungen über Österreich ergossen, wie er früher gar nicht
sür denkbar gehalten worden wäre. Durch den dauernden Mangel an ftaats-
"'äunischen Ideen litt nicht bloß der Staat, sondern auch das Deutschtum, das
immer unheilbarer der parlamentarischen Zerklüftung verfiel. Die Versuche
einzelner deutscher Parteigruppen, bei deren Führern allerdings anch selbst¬
süchtige Beweggründe erkennbar wurden, sich in wichtige» Staatsfragen der
Negierung zu nähern, gaben dem Radikalismus willkommnen Anlaß zu den
wütendsten Angriffen und schufen die Grundlage für deu heutigen Zustand,
worin die parlamentarische Vertretung des Deutschtums in eine ganze Reihe
von ohnmächtigen Parteigruppen gespalten erscheint, die sich gegenseitig be¬
fehden und einander die Mandate abzujagen suche». Daß die auf Tciafse fol¬
genden Ministerien bis zum Ministerium Thun dieser Sachlage noch weitern
Vorschub geleistet habe», sei nur nebenbei bemerkt.
Die Dentschen in Osterreich habe» nie Glück mit ihre» Führer» gehabt.
Auch die Häupter der sogenannte» Verfassnngspartei,.die die große Mehrzahl
der dentschen Abgeordneten in eine große Partei zusammengefaßt hatten, folgten
der französischen Doktrin und standen nicht auf eignem österreichischem Boden.
Aber es war doch wenigstens eine Einheit vorhanden. Heute gilt gerade das
Gegenteil, und die Deutschösterreicher dürfen mit vollem Rechte den Spottvers
auf sich anwenden: „An Häuptern festes uns wahrlich nicht, uns fehlt es nur
an Köpfen." Wir sehen da lauter überzeugte und ehrliche Männer, aber leider
keinen nnter ihne», dessen Autorität über die engste Gefolgschaft hinaufreicht,
dem sie alle trauen, und der für sie alle einsteht. Es fehlt ihnen an jedem
Führer, dessen Kopf die Aktion ihrer Gruppen einheitlich zu leiten, dessen Wort
die Stellung der Gruppen zu verbürgen vermag. Daß es in den sla¬
wische» Parteien nicht viel anders steht, macht nicht viel zu Gunsten der
Deutschen aus. Die großen Gedanke» fehlen auf allen Seiten, aber die Deutschen
brauchen sie am notwendigsten, de.um mit der Beteuerung ihrer historischen Rechte
und der Erinnerung an die Leistungen ihrer Vorfahren allein kommen sie nicht
aus. Wollten sie daraus die einzig berechtigten und politisch praktischen Schlüsse
zieh», so könnten diese nur dahin lauten, daß ihre Aufgabe in dem aus
deutscher Grundlage mit der Krone gemeinsam geschaffnen Österreich nicht sein
kann, sich ans sogenannten prinzipiellen Gründen nud politischen Meinungen
mit jeder Regierung in mindestens unfruchtbare, wenn nicht dem Deutschtum
direkt nachteilige Streitereien einzulassen, sonder» zu jeder Unterstützung bei
allen ,,Staatsnotwendigkeiten," für deren Kosten sie doch so oder so aufkommen
müssen, bereit zu sein. Jeder Geschäftsmann handelt so, und die einfachste
Lebensklugheit müßte es lehren. Wir wollen das aber noch an einem Bei¬
spiele besonders ausführen. Die deutsche Verfnsfungspartei hatte 1879 gegen
die Armee agitiert, und wir nehmen an, daß die Herren in ihrer doktrinären
Befangenheit wirklich überzeugt waren, die österreichisch-ungarische Monarchie
könne die Kosten nicht ertragen. Nun, das war ein Irrtum, denn seither sind
die Kosten für eine viel größere Armee aufgebracht worden, und Österreich ist nicht
zu Grunde gegangen. Aber was war die Folge? Die Tschechen bewilligten,
was die Deutschliberalen verweigerten, die Deutschen mußten gemäß ihrer
Steuerkraft den Löwenanteil bezahlen, wurden aber politisch an die Wand ge¬
drückt, und zwar zeitweise so arg, daß sie ,,quietschten," um mich eines Bis-
marckischen Ausdrucks zu bedienen. Hatten sie das nötig? — Jetzt wollen wir
Eltern bei dem heute doch nicht gerade seltnen Wohnungswechsel in die schwerste
Verlegenheit geraten können.
Nun hat Dr. Reinhardt, selbst ein begeisterter Humanist, seinen neuen
Lehrgang in der ehrlichen Absicht aufgestellt, das schwer bedrohte humanistische
Gymnasium durch Konzessionen an moderne Strömungen zu retten. Ist diese
Rechnung richtig? Die grundsätzlichen Feinde der humanistischen Bildung
sehen darin nichts als eine Etappe ans dem Wege zur Vernichtung dieser
Bildung. Sie sind nicht befriedigt, sondern werden im Namen der „natio¬
nalen" und „modernen" Erziehung ihre Angriffe zunächst auf das Griechische
achten, und da bietet das Neformghmnasium einen sehr verwundbaren Punkt,
nämlich den Beginn des Griechischen in Untersekunda. Man kann in der That
?wgen: Weshalb sollen die Schüler, die ans dieser Klasse mit dem Einjährigen-
Zeugnis abgehn, noch mit den Anfangsgründen einer schwierigen Sprache gequält
werden, die ihnen kein lohnendes Ziel bieten und bald wieder vergessen werden?
Die vernünftige Konsequenz wäre dann also, den Anfang des Griechischen nach
^bersel'nuda zu verschiebe». Alsbald würde sich dann herausstellen, daß in
drei Jahren nichts erreicht werden kaun, was die harte Arbeit lohnt, und dann
ergiebt sich die weitere Forderung: Verwandlung des Griechischen in ein wahl¬
freies Fach für Theologen und klastische Philologen nach der Art des He¬
bräische,,, denn nur diese „brauchen" es unmittelbar für ihre Studien. Von
diesem Standpunkt aus ließe sich freilich noch viel eher die Abschaffung der
Mathematik rechtfertigen, denn diese „braucht" im künftigen Leben nur ein
kleiner Bruchteil der Gymnasiasten, und die sie nicht „brauchen," vergessen sie
!pater vollständig, ohne sie auch nur zu vermissen. Ohne Griechisch aber giebt es
kein modernes humanistisches Gymnasium, das heiß ersehnte Ziel der Neuerer,
Mre Vernichtung, wäre dann erreicht. Denn nach dem heutigen Stand unsrer
Auffassung des Altertums ist die Kenntnis der griechischen Sprache, Litteratur
und Kultur das Wesentlichste der humanistischen Bildung. Wenn Friedrich
^aulseu trotzdem historisch zu begründen versucht hat, daß das Griechische erst
durch den Neuhumanismns zu seiner Stellung gekommen sei, und vor dieser
<Me das Gymnasium diese Sprache nicht viel intensiver betrieben habe als
>M das Hebräische, daß also auch das moderne Gymnasium ohne Griechisch
bestehn könne, so beweist das gerade so viel, als wenn man ans demselben
Grunde die Erweiterung des mathematischen Pensums bekämpfen wollte,
nämlich gar nichts; wohl aber hat Paulsen durch diese Schlußfolgerung dem
humanistischen Gymnasium sehr viel geschadet. Hier heißt es also: Keine Kon¬
fusionen mehr! Denn darüber täusche man sich ja nicht: ist das Griechische
mis wesentlicher Bestandteil des Gymuasialuuterrichts einmal aufgegeben, dann
erhalten wir es niemals wieder zurück, sondern Nur verlieren es für immer,
und unsre Bildung sinkt damit auf eine tiefere Stufe herab. Darüber mögen
Reh namentlich die nicht täuschen, die es angeht, und denen die Höhe unsrer
^udung wirklich am Herzen liegt. „Wenn man erst soweit geht, den Wert
^Unterrichts nach dem sichtbaren Effekt zu bemessen, dann wird man auch'"it dahin kommen, den Wert dessen, was man auf der Schule lernt, danach
z» beurteilen, ob damit Geld zu machen ist oder nicht, dann ist Dentschlmid
verloren, dann ist es um seine führende Stellung unter den europäischen
Völkern geschehn, denn diese Stellung beruht auf seiner überlegnen geistigen
Bildung." (Abt Uhlhorn von Loccum in der Schulkonferenz von 1890.)
Die Neuerer begründen ihre Ablehnung des Griechischen gern damit, daß
das Altertum für unsre Gesamtkultur seine alte Geltung verloren habe, daß
es „verblaßt" sei. Damit aber wird die Frage ganz falsch gestellt. Es
handelt sich gar nicht um die Frage, ob das Altertum in dieser Beziehung
noch seine frühere Stellung behauptet, d. h. ob es so im Vordergrunde del-
Interesses steht wie vor hundert Jahren, sondern um die davon ganz ver-
schiedne: Welche Bildungsmittel sind am besten geeignet, in unsrer Jugend das
Bewußtsein des historischen Zusammenhangs unsrer Kultur mit der Vergangen¬
heit zu erwecken, ihr von dieser Kulturentwicklung einen ausreichenden Begriff
zu geben und ihre geistigen Fähigkeiten in ernster, «„dringender Arbeit an
edeln, die Mühe lohnenden Stoffen so zu Schulen, daß sie sich dann in die
verschiedensten Aufgaben eines hohem Berufs hineinarbeiten kann, mag sie
auch das Gelernte im spätern Leben nicht in allen seinen Einzelheiten fest¬
halten und größtenteils vergessen? Als zugestanden wird dabei natürlich
vorausgesetzt, daß kein modernes Volk in der Lage der Griechen ist, nämlich
eine rein nationale, nur mit Verwertung nationalen Gcisteseigentums eine
der Zeit gemäße höhere Bildung zu geben.
Alle zu solcher Bildung Aufstrebenden einen und denselben Weg führen
zu wollen, wäre heute eine Utopie; die Gliederung unsrer heutigen höhern
Schulen in Gymnasien, Realgymnasien und Oberrealschnlen ist aus natürlichen
und berechtigten Bedürfnissen erwachsen, läßt sich also auch uicht mehr zur
alten lateinischen Einheitsschule zurückschrauben. Alle diese Schulgattungen
erstreben jenes Ziel in ihrer Art. Die eine, mehr auf die unmittelbare Vor¬
bildung für das praktische Leben gerichtete, läßt die historischen Beziehungen
unsrer Kultur in den Hintergrund treten, für die andern sind gerade diese die
Hauptsache. Der gemeinsamen Basis dieser Kultur, dein Altertum, steht am
fernsten die Oberrealschule, denn diese zeigt sie nur in ihrer Wirkung auf die
deutsche, französische und englische Kultur, also indirekt, sozusagen von ferne-
Näher steht ihr das Realgymnasium, indem es auch ins Lateinische einführt,
dessen Litteratur zwar nur ein Abglanz der griechischen ist, immerhin aber
dieser zeitlich, örtlich und innerlich am nächsten kommt; auf dem gründlichsten
und direktesten Wege führt das humanistische Gymnasium zum Ziel. Es hat
deshalb zwar die Alleinherrschaft ruhig aufgeben können, aber es darf nicht
verschwinden, es muß immer die Schule bleiben, durch die die vorzugsweise
gehn, deren künftige Berufsthätigkeit eine gründliche, sprachlich-historische Vor¬
bildung voraussetzt, denn das, was es seinen Schülern bietet, wird durch kein
andres Bildungsmittel ersetzt.
Alle Litteraturen und Kulturen der modernen Völker sind abgeleitet und
unter fortgesetzt, bald stärker, bald schwächer wirksamen Einflüssen der Nachbarn
oder des Altertums erwachsen, auch in fortwährender Umwandlung begriffen.
Nur die hellenische Kultur ist schlechthin ursprünglich und selbständig, vom
Orient nur in einigen äußerlichen Dingen vorübergehend beeinflußt, die sie sich
Völlig assimiliert hat; sie redet zu uns in einer wunderbar biegsamen und reichen
Sprache, der vollkommensten der Welt, die jedem Gegenstand ohne ein Fremd¬
wort gewachsen ist; sie bietet einen erstaunlichen Reichtum der Erscheinungen,
der mit jedem neuen Funde immer mehr zu Tage tritt, und ist doch in den
großen Zügen ihrer Entwicklung so folgerichtig und übersichtlich wie keine
andre, dazu in sich so abgeschlossen, daß sie von keiner modernen Zeit- und
Streitfrage berührt wird; 'sie ist also für die Schule durch nichts zu ersetzen,
weder durch die deutsche Litteratur und Kultur, noch durch die englische oder
gar die französische. Kein Epos kommt als Weltbild und in frischer, lebendiger
Anschaulichkeit dem homerischen gleich, das überhaupt in der englischen oder
der französischen Litteratur gar kein verwendbares Gegenstück bietet, Corneille
und Racine verschwinden vor Sophokles, Shakespeare überragt auch diese»,
aber seine Kulturbasis ist unendlich komplizierter. Die Historiker des Alter¬
tums haben gewiß ihre Mängel, aber sie sind die Söhne einer freien und
reichen Bildung, sie stehn, so weit sie für die Schule in Betracht kommen,
den dargestellten Ereignissen sehr nahe oder mitten in ihnen drin, geben also
ein frischeres, unmittelbarer empfundnes Bild, als die meisten modernen Ge¬
schichtschreiber vermögen, die selteu Zeitgeschichte schreiben, am wenigsten als
Mithandelnde; sie erzählen wirklich, ohne fortwährende Reflexion, sie schildern
verhältnismäßig einfache Verhältnisse ohne Überladung mit Einzelheiten, fast
alle auch ohne' die moderne psychologische Analyse, die doch der Jugend noch
unverständlich ist, und doch in lebensvoller Herausarbeitung des Wesentlichen.
Die großen Redner sind meist zugleich Staatsmänner in tief erregter Zeit,
deren'Bild sie lebendig widerspiegeln, und es giebt sicherlich keine bessere Ein¬
führung in die Philosophie, als die Betrachtung ihrer Anfänge bei den Griechen,
die sich zuerst die grundlegenden philosophischen Probleme gestellt haben.
Daß überhaupt alle Wissenschaften und alle Darstcllungsweisen ihre
Wurzeln im Griechentum haben, das macht das geistvoll zusammengestellte
Lesebuch von Wilamowitz-Möllendorff*) jedem deutlich. Auch er faßt, wie
heute jeder Philolog, das Griechentum rein historisch; er will die Griechen
lesen nicht als unerreichbare Ideale und nicht als Muster zur Nachahmung,
Wie ein früheres Zeitalter die lateinischen Autoren las, um sie nachzubilden, er
sagt vielmehr in" der für jeden Gebildeten höchst beachtenswerten Vorrede:
"Weil unser Anschauen und Denken, unser Leben in Staat und Gesellschaft,
unser Eigenstes in Kunst und Wissenschaft und Religion mit dem Altertum
durch tausend Fäden verbunden sind, so können wir nicht verstehn, was wir
sind noch was nur sollen, ohne das Erbe des Altertums geschichtlich zu er¬
fassen. . . Daß das Verständnis dieser Weltperiode erreicht werde, daran hängt
die Berechtigung der Jugendbildung. welche das Gymnasium verleihen will."
An diese Aufgabe ernste und ausdauernde Arbeit zu setzen, um ihretwillen
Griechisch und Lateinisch zu lernen. an solch edelm Stoff unsre Jugend an
strenge Geistesarbeit und scharfes Denken zu gewöhnen, d. h. ihr formale
Bildung zu vermitteln, das lohnt auch heute noch der Mühe.
Das aber ist die Sache unsrer Lehrerschaft. Sie wird diese ihre moderne
Aufgabe uur lösen, wenn sie selbst von ihrer Bedeutung tief durchdrungen ist,
wenn sie selbst das klassische Altertum in sich lebendig macht und dem ver¬
alteten Formalismus gänzlich entsagt, wenn sie nie vergißt, daß heute die
alten Sprachen nur Mittel zum Zweck sind, wenn sie die Höhe der Leistung
nicht nach den Extemporalien mißt und das lateinische Spezimen nicht zu
einer unnatürlichen Sammlung von Fallstricken macht, sondern daneben wo¬
möglich wieder zu einem freien Gebrauche des Lateinischen in Wort und Schrift
anleitet, also den Schülern wieder mehr das freudige Bewußtsein eines gewissen
Könnens giebt, endlich ihre wichtigste Aufgabe nicht darin sieht, möglichst ein¬
wandfreie Zensuren zu erhalten, sondern in dein sichern grammatischen und
sachlichen Verständnis eines lateinischen und griechischen Textes. Man plage
aber auch von oben her das Gymnasium weniger mit Prüfungen aller Art,
deren allzustarke Betonung nur zur Dressur führt und Lehrern wie Schülern
die Freude an der Arbeit nimmt; man gewähre den reifern Schülern mehr
Freiheit zu selbständiger Thätigkeit, namentlich auch die Möglichkeit, sich in
die Bearbeitung eines deutschen Aufsatzes einigermaßen zu vertiefen, wozu
ihnen heute das Vielerlei der häuslichen Arbeit kaum mehr die Zeit läßt;
man gönne den Lehrern einige Entlastung von Stundenzahl und Korrekturen,
statt jede „Lehrkraft" möglichst „auszunützen," auf die Gefahr hin, daß sie früh
zusammenbricht, was leider nur zu häufig vorkommt; man schaffe ihnen endlich
ein wirklich sorgenfreies Dasein, das sie als Familienväter mit heranwachsenden
Söhnen und Töchtern jetzt trotz aller dankenswerten Gehaltsverbcsserungen der
letzten Zeit auch bei den bescheidensten Ansprüchen eines bürgerlichen Haushalts
ohne eignes Vermögen thatsächlich immer uoch nicht haben. Ein solches aber
ist bei Gymnasiallehrern selten vorhanden, denn sie kommen meist aus kleinen,
oft engen Verhältnissen, weil die ganze Laufbahn den Ehrgeiz nicht anlockt,
sondern eher abschreckt, also von Söhnen wohlhabender und reicher oder hoch¬
gestellter Väter fast niemals eingeschlagen wird. Dann wird sich ein zweites
gutes Wort Bosses erfüllen, das er wenig Monate vor seinem Tode (31. Juli
1901) geschrieben hat: „Wir brauchen für das Gymnasium nur freie Hand,
dann bleibt es von selbst oben."
s giebt in Österreich eine ganze Reihe von historischen Legenden,
die meist von der Presse suggeriert wordeu sind, die wohl jeder¬
mann nachspricht, aber keiner mehr recht glaubt. Zu diesen ge¬
hört auch die Wendung, das letzte deutsche Ministerium wäre
einzig und allein über die böhmische Frage gestürzt. Das be¬
streiten wir mit gutem Grund. Der Monarch fühlte sich allerdings tief ver¬
letzt, als man ihm seine erste Erwerbung für Österreich vergällen wollte, dochiADZMl'
/^M-
ging diese Frage nicht an das Innere des Staatslebens, und so lag es durch¬
aus noch nicht in seiner Absicht, deswegen mit den Dentschen zu brechen, und
das Ministerium Auersperg blieb bis zum Februar 1879 im Amte. Aber
schon während der parlamentarischen und der Preßkämpfe des Jahres 1878
verrannte sich der deutsche Liberalismus immer mehr, der unausrottbare Mangel
an Verständnis des Kapitalismus für Machtfragen beherrschte die 'ganze öffent¬
liche Meinung, das verhängnisvolle Wort von der Beschneidung der Armee,
und daß Österreich aus zwei Mittelstaaten bestehe, die kein großes Heer be¬
dürften, siel und wurde Parteischlagwort auch für die im Jahre 1879 ein¬
tretenden Reichsratsneuwahlen. Die deutschfortschrittliche Presse schwelgte in
Angriffen auf die „Junker und Pfaffen." Ganz analog der preußischen Fort¬
schrittspartei in der Konfliktszeit wollte man also Österreich den „Grvßmachts-
kitzel" austreiben, das Heer verkleinern und überhaupt den Kampf auf allen
Fronten führen. Der Vorstoß gegen die Armee, nicht die Opposition gegen
die Okkupation machte jede weitere Rücksicht auf die Deutschfortschrittlichen
unmöglich, sie wurden auf allen Fronten geschlagen, leider ging dabei auch
das letzte deutsche Ministerium in die Brüche. Kaiser Franz Joseph hat sich
sehr schwer zu dieser Wendung entschlossen, wohl ein halb Dutzend mal wurde
or. Herbst zu Verhandlungen in die Hofburg entboten, er hatte nichts zu
bieten wie das unfruchtbare New des unfehlbaren Doktrinarismus. Auch der
Versuch, nach dem Sturze des Ministeriums Auersperg ans der deutschen
Verfassnngspartei ein neues Ministerium zu bilden, mißlang wegen der ge¬
heimen Intriguen und des offnen Widerstandes des or. Herbst. Wie der
Leiter des nun folgenden Zwischenministerinms, or. von Stremahr, selbst er¬
zählt, wurde er von Herbst geradezu für eiuen Abtrünnigen erklärt, „ich wurde
aus der Partei, die sich zu ihrem Unglücke seiner Führung widerstandslos über¬
ließ, förmlich ausgeschlossen und in ihren Kind nicht mehr zugelassen."
Graf Tcmffe wurde mit der Bildung des neuen Ministeriums betraut und
erklärte sich bereit, mit der dentschlibernlen Linken zu gehn, wenn sie nur
seine Versöhnungsversuche nicht schou vorweg ablehnte. Da dies aber trotz¬
dem unter Führung des or. Herbst geschah, nahm er sich schließlich die von
der kapitalistischen Presse geschmähten Pfaffen und Junker, denn auch die ver¬
fassungstreuem Großgrundbesitzer, die bisher mit der Verfassungspartei gegangen
waren, schlössen sich dem Ministerium an, das nun noch die Tschechen zum
Eintritt in den Neichsrat bewog, wodurch die Dentschliberalen in die Minorität
gerieten. Damals ist der Grund zu der Verbitterung gelegt worden, unter
der das Deutschtum jetzt zu leiden hat, aber nur hnlbwahr ist die in Öster¬
reich immer wiederholte Legende, das Unglück der Deutschen schreibe sich erst
vom Ministerium Tcmffe her. Das trifft nicht einmal zeitlich genau zu, wie
die eben angeführten Thatsachen beweisen, noch weniger kann ihm ein Vor¬
wurf der Deutschfeiudlichkeit daraus gemacht werden, daß er die Tschechen ins
Parlament zog. Er war österreichischer Minister, dein die Dentschliberalen
jede Unterstützung verweigerten. Übrigens hatte kurz vor dein Rücktritt des
Ministeriums Auersperg der Führer der Deutschen, Dr. Herbst, mit den in jener
Zeit erst auftauchenden Jungtschechcu, etwa ein halbes Dutzend Abgeordnete,
Verhandlungen angeknüpft, um sie zum Eintritt in dus Abgeordnetenhaus zu
bewegen zu dem ausgesprochnen Zweck, das deutsche Ministerium stürzen zu
helfen. In den ersten Novembertageu des Jahres 1878 trat das Leibblatt
des Dr. Herbst mit diesem Vorschlag an die Öffentlichkeit, den die Deutschen
zwar mit starrem Staunen totschwiegen, aber Herrn Dr. Herbst duldeten sie
doch weiter als anerkannten Führer.
Es war nötig, diesen Teil der Entwicklung der innern österreichischen
Politik ausführlicher zu besprechen, weil die Mitteilungen darüber sonst nicht
immer objektiv laute», während die Vorgänge durchaus geeignet sind, zum
Verständnis der Zeitläufte im darauffolgenden Vierteljahrhundert beizutragen.
Die damaligen Deutschösterreicher sind ebenso wie die preußische Fortschrittspartei
in ihrem liberal-radikalen Kampf gegen Reaktion, Junkertum sowie Militär
und für die Parlameutsherrschaft unterlege», aber sie scheiterten nicht an der
unbeugsamen Festigkeit eines monarchischen Ministeriums, sondern das ihrer
Nationalität angehörige Ministerium wurde einfach mit ihnen unmöglich.
Preußen konnte freilich ganz ruhig den innern Konflikt aushalten, das Deutsche
Reich verträgt noch heute einen Eugen Richter mit seinen Anhängern und den
ihm gesinnungsverwandten Politikern, denn die Nachteile davon kommen nur
in geringem Maße den wenigen nichtdeutschen Staatsangehörigen zu gute. In
Osterreich liegt aber die Sache ganz anders, dort wächst jedes Teilchen von
Macht, das die Deutschen dnrch eine fehlerhafte politische Haltung einbüßen,
notwendigerweise den Slawen und in dualistischen Angelegenheiten den Ma¬
gyaren zu, dort gilt es für die Deutschen, Macht zu gewinnen, aber nicht durch
eine politische oder parlamentarische Niederlage nach der andern an Ansehen
und innerer Kraft zu verlieren. Dann hilft kein Jammern, kein Anklagen
der Regierung und kein Anrufen der Stammesbrüder mehr. Mit dem Verlust
der Parlamentsmehrheit ist auch die Einigkeit, die damals, wenn auch auf
verfehlter politischer Grundlage, vorhanden war, verloren gegangen, und die
Erkenntnis, daß damals schwere Fehler begangen worden waren, hat zu
immer weitern Spaltungen geführt, die Thatsache, daß die Führer schlecht ge¬
führt haben, hat Beschimpfungen der besten Männer und der kleinen Partei¬
gruppen untereinander zur Folge gehabt, wie dies in keiner andern Nation
in Österreich der Fall gewesen ist. Aber trotz alledem hat man den Kardinal¬
fehler, der Ende der siebziger Jahre begangen wurde, noch immer nicht ein¬
gesehen; gerade die lautesten Parteien kennen auch heute nichts andres, als
den Kampf nach allen Fronten zugleich zu führen, die Opposition in jedem
Falle scheint ihnen die einzig mögliche Form der politischen Thätigkeit. Sie
führen immer das Wort deutsch im Munde, sind aber doch nichts andres als
liberalradikal.
Das Ministerium Taaffe war eine Notwendigkeit. Es mußte den Deutsch¬
liberalen gezeigt werden, daß es ohne sie und ohne ihre konstitutionellen Grund-
sätze ging, und Taaffe war der rechte Mann, ihnen die Nichtigkeit des Parla¬
mentarismus darzuthun. Das Schwungrad einer großen Staatsmnschine geht
nun freilich noch lange weiter, wenn auch die einzelnen Teile nicht mehr richtig
arbeiten, und der Strom der treibenden Kraft nachzulassen beginnt, sogar ein
Stümper vermag vor dem großen Haufen den Schein, daß noch alles in Ord¬
nung ist, ansteche zu erhalten, Graf Taaffe war zwar in der politischen und
der diplomatischen Taktik sehr bewandert, aber staatsmännische Gedanken hatten
ihn nie sehr gequält. Während Bismarck seine Widersacher mehrfach auf den
springenden Punkt des modernen parlamentarischen Lebens hinwies, dessen
wahres Wesen in einer Reihe von Kompromissen bestehe, war Taaffe vollauf
davon befriedigt, daß ihm das „Fortwursteln" gelang. Sein Ministerium war
eine Notwendigkeit, aber es währte ein Jahrzehnt zu lang. Man hat da
wieder die für Österreich charakteristische Erscheinung vor sich, daß man eine
Sache gehn ließ, weil sie ging, sie aber so lange gehn ließ, bis sie nicht mehr
ging. Das kann unter ruhigen äuszern Verhältnissen ein nationaler Staat
aushalten, ein Staat aus einem bunten Völkergemisch muß dabei in Gärung
geraten. Es giebt nichts, was ein Staat auf die Dauer schwerer erträgt als
den Mangel vorwärts drängender, emporführender Ideen; vorwärts zu neuen
Zielen, das ist die Forderung der Natur. Wird ihr nicht genügt, fehlt es
sogar an einer Idee, an einem Ziel des Strebens, dann tritt mißmutige Ver¬
stimmung ein, die Stimmung der Öde und Leere, die den Nährboden für den
Pessimismus und den Radikalismus abgiebt. Hier liegt der Grundfehler des
sogenannten Systems Taaffe, nicht darin, daß er gegen die Deutschen regierte;
denn die wollten ja gar nicht mit ihm gehn, sondern wollten ihn stürzen. Auch
das Lob der Offiziösen, Graf Taaffes Ministerium habe eine stattliche Reihe
grundlegender gesetzlicher Schöpfungen, wie die Neugestaltung der Wehrver¬
fassung, die Reform der direkten Steuern usw. zu stände gebracht, ist par¬
teiisch. Wenn ein Vater seinen Kindern Schuhe verschafft, daß sie nicht barfuß
laufen, so beweist das noch gar nichts für feine pädagogische und wirtschaft¬
liche Tüchtigkeit. Daß Graf Taaffe, etwa nach vier Jahren seines Regiments,
nicht daran gedacht, wenigstens nicht den Versuch gemacht hat, den hinreichend
gestraften Deutschliberalen einen der Bedeutung des Deutschtums nach Herkunft
und Kultur entsprechenden Anschluß an das innerpolitische Leben zu ermög¬
lichen, ist eine Unterlassung, die nicht für seine staatsmännische Begabung
spricht. Damals hätte ein Ministerium Clary oder Körber viel nützen können.
Das dauernde Verhalten des Grafen Taaffe hat aber mit vollem Grund
den Deutschen wieder ein Recht gegeben, über Benachteiligung zu klagen, denn
er war der erste, der ihnen keine höhere Bedeutung beimaß als jeder beliebigen
andern österreichischen Nation. Dies und die Nonchalance, die er auch allen
übrigen Fragen des Staatslebens gegenüber hervorzukehren pflegte, hat das
Vertrauen in den Ernst und das Verständnis für die Behandlung der Re-
gierungsangelegenheiten in den obersten Kreisen stark erschüttert. Bei den
schwersten Schlägen nach 1859 und 1866 hatte sich jedesmal nach dem ersten
Aufschrei über die Kurzsichtigkeit und die Kopflosigkeit oben immer wieder alles
hoffnuugs- und vertrauensvoll um Krone und Regierung geschart, während
der Regierung Taaffes hat sich dagegen ein Strom des Radikalismus und anti¬
monarchischer Anschauungen über Österreich ergossen, wie er früher gar nicht
sür denkbar gehalten worden wäre. Durch den dauernden Mangel an staats¬
männischen Ideen litt nicht bloß der Staat, sondern auch das Deutschtum, das
immer unheilbarer der parlamentarischen Zerklüftung verfiel. Die Versuche
einzelner deutscher Parteigruppen, bei deren Führern allerdings auch selbst¬
süchtige Beweggründe erkennbar wurden, sich in wichtigen Staatsfragen der
Regierung zu nähern, gaben dem Radikalismus willkommnen Anlaß zu den
wütendsten Angriffen und schufen die Grundlage für den heutigen Zustand,
worin die parlamentarische Vertretung des Deutschtums in eine ganze Reihe
von ohnmächtigen Parteigruppen gespalten erscheint, die sich gegenseitig be¬
fehden und einander die Mandate abzujagen suchen. Daß die auf Taaffe fol¬
genden Ministerien bis zum Ministerium Thun dieser Sachlage noch weiter»
Vorschub geleistet haben, sei nur nebenbei bemerkt.
Die Deutschen in Österreich haben nie Glück mit ihren Führern gehabt.
Auch die Häupter der sogenannten Verfassnngspartei, die die große Mehrzahl
der deutschen Abgeordneten in eine große Partei zusammengefaßt hatten, folgten
der französischen Doktrin und standen nicht auf eignem österreichischem Boden.
Aber es war doch wenigstens eine Einheit vorhanden. Heute gilt gerade das
Gegenteil, und die Deutschösterreicher dürfen mit vollem Rechte den Spottvers
auf sich anwenden: „An Häuptern schief uns wahrlich nicht, uns fehlt es nur
an Köpfen." Wir sehen da lauter überzeugte und ehrliche Männer, aber leider
keinen unter ihnen, dessen Autorität über die engste Gefolgschaft hinaufreicht,
dem sie alle trauen, und der für sie alle einsteht. Es fehlt ihnen an jedem
Führer, dessen .Kopf die Aktion ihrer Gruppen einheitlich zu leiten, dessen Wort
die Stellung der Gruppen zu verbürgen vermag. Daß es in den sla¬
wischen Parteien nicht viel anders steht, macht nicht viel zu Gunsten der
Deutschen aus. Die großen Gedanken fehlen auf allen Seiten, aber die Deutschen
brauchen sie am notwendigsten, denn mit der Beteuerung ihrer historischen Rechte
und der Erinnerung an die Leistungen ihrer Vorfahren allein kommen sie nicht
aus. Wollten sie daraus die einzig berechtigten und politisch praktischen Schlüsse
ziehn, so könnten diese nur dahin lauten, daß ihre Aufgabe in dein aus
deutscher Grundlage mit der Krone gemeinsam geschaffnen Österreich nicht sein
kann, sich aus sogenannten prinzipiellen Gründen und politischen Meinungen
mit jeder Regierung in mindestens unfruchtbare, wenn nicht dem Deutschtum
direkt nachteilige Streitereien einzulassen, sondern zu jeder Unterstützung bei
allen ,,Staatsnotwendigkeiten," für deren Kosten sie doch so oder so aufkommen
müssen, bereit zu sein. Jeder Geschäftsmann handelt so, und die einfachste
Lebensklugheit müßte es lehren. Wir wollen das aber noch an einem Bei¬
spiele besonders ausführen. Die deutsche Verfnssungspartei hatte 1879 gegen
die Armee agitiert, und wir nehmen an, daß die Herren in ihrer doktrinären
Befangenheit wirklich überzeugt waren, die österreichisch-ungarische Monarchie
könne die Kosten nicht ertragen. Nun, das war ein Irrtum, denn seither sind
die Kosten für eine viel größere Armee ausgebracht wordeu, und Österreich ist nicht
zu Grunde gegangen. Aber was war die Folge? Die Tschechen bewilligten,
was die Dentschliberalen verweigerten, die Deutschen mußten gemäß ihrer
Steuerkraft den Löwenanteil bezahlen, wurden aber politisch an die Wand ge¬
drückt, und zwar zeitweise so arg, daß sie ,,quietschten," um mich eines Bis-
mnrckischen Ausdrucks zu bedienen. Hatten sie das nötig? Jetzt wollen wir
einmal sehen, was sie daraus gelernt haben. Es sind seit jener Zeit mehr als
zwanzig Jahre verlaufen, und einzelne Parteigruppen stimmen jetzt unverdrossen,
einige allerdings „mit Wahrung des Prinzips," für die Heeresvorlagen, aber
in der zahlreichsten Gruppe, der deutschen Volkspartei, und in den noch weiter
links stehenden Gruppen der Altdeutschen ist der alte Dcmokratenhaß gegen
alles Militärische noch lebendig, obgleich die Armee, deren Dienstsprache deutsch
ist, eine wesentliche Stütze des Deutschtums bildet, die man im deutscheu Lager
schonen sollte, wenn man wirklich etwas von Politik verstünde. Dazu weiß
mau, daß alle Angriffe auf die Armee vom Monarchen schwer empfunden werden.
Aber gerade darum thut mau es ja.
Seit der Radikalismus in Österreich herangebildet worden ist, macht sich
„der Männerstolz vor Königsthronen," der für die „immunen" Parlamentarier
ein ungefährliches Ding ist, ungemein breit, denn es imponiert dem Wühler,
der darob Beifall klatscht, und vor dem man um die Mandate wettkriecht, statt
ihn über den Ernst der Lage und die verantwortungsvollen Pflichten eiues
Abgeordneten für den Staat und für das deutsche Volk aufzuklären. Da wird
mit schmetternden Phrasen und Schlagworten gearbeitet, die bloß darauf be¬
rechnet sind, daß der Konkurrent um das Mandat — um wieder mit einem
Bismarckischen Bilde zu sprechen — „nicht höher springt." Und so geht es
wie im Zirkus, wo der junge Springer, berauscht vou dem Jubel des Publi¬
kums und den ihm zugeworfnen Kränzen und Apfelsinen, zu immer waghalsigerm
Anläufen ausholt, bis schließlich einmal die Katastrophe hereinbricht, und die
tosende Menge dann entsetzt die Stätte des Grauens verläßt, nach kurzer Zeit
an andern Orten aber unter ähnlichen Verhältnissen dasselbe Spiel fortsetzt.
Das ist freilich in andern Ländern auch der Fall, nud hierin liegt ja die wesent¬
lichste Ursache des allgemein beklagten Niederganges des Parlamentarismus,
aber für das Deutschtum in Österreich wirkt diese Entwicklung der Dinge nahezu
verhängnisvoll, weil es in seiner heutigen Lage nur ihrer Pflicht und ihrer
schweren Verantwortung bewußte Vertreter brauchen kann, denn jeder Fehler,
jedes Versehen auf deutscher Seite kommt den Slawen ohne deren Verdienst und
Bemühn von selbst zu gute.
Hier ist es auch Zeit, ans gewisse Eigentümlichkeiten der Deutschösterreicher
Zurückzukommen. Die schweren, wenn auch nicht gänzlich unberechtigten Vor¬
würfe, die in den letzten Jahren vereinzelt gegen die Deutschösterreicher, nament¬
lich die Deutschböhmen, in deutschen Blättern von guten Beobachtern erhoben
worden sind, und in denen von einer großen Leichtlebigkeit und Willeusschwnchc
die Rede ist, sollen hier nicht wiederholt werden. Jedenfalls ist es aber auf¬
fällig, daß der oft mit klingenden Worten in den Blättern und in Entrüstnngs-
vcrsnmmlnngen betonte nationale Kummer über die Zurttckdrängung des Deutsch¬
tums im gewöhnlichen Leben gar nicht zu Tage tritt. Man lebt ganz gemütlich,
für norddeutsche Gepflogenheiten etwas über die Verhältnisse weiter, und neben
den betrübenden Verhältnissen im Parlament finden die nettsten Wiener Börsen¬
witze und großstädtischen Lascivitäten immer noch das vornehmste Interesse.
Trotz aller entrüsteten Proteste und Resolutionen, die immer „einhellig" gefaßt
werdeu, wird man nie einer Gestalt begegnen, die über den Kummer des deutschen
Volkes und die Wege zur Abhilfe sinnt und brütet. Brutus schlaft, „das muß
die Negierung thun," sagt man. Der unbefangne Beobachter wird dem gegen¬
über nun freilich sagen: Unter solchen Umständen kann es ja bei euch gar uicht
so schlimm sein, wie ihr es macht. Ich will versuchen, dieser Erscheinung die
politisch-philosophische Seite abzugewinnen. Völker, die eine größere Vergangen¬
heit haben und sich deshalb nicht in die kleinere Gegenwart finden mögen,
pflegen mit der Vergangenheit auch zugleich die Fähigkeit verloren zu haben,
die politischen Lagen der Gegenwart und vor allem die eigne mit dem rechten
Namen zu nennen. Es fällt ihnen schwer vor sich selber und aus doppelte»
Gründen erst recht vor der Welt. Die Deutschösterreicher haben einst von der
Zuschauertribüne ein halbes Jahrhundert den deutschen Händeln zugesehen und
sich nnr gelegentlich dein Wortwechsel im Innern der Loge zugewandt. Jetzt
ist auf einmal die große Bühne für sie geschlossen, sie sind auf die innern
Verhältnisse angewiesen, die etwas vernachlässigt worden waren und sich infolge¬
dessen unerfreulich entwickelt haben. Aber den Spaniern, die Amerika für
Europa entdeckt hatten, hat dieses mit recht geringer Teilnahme den letzten
Rest amerikanischen Besitzes wegnehmen sehen, und den Deutschösterreichern
hilft die geschichtliche Thatsache nichts, daß aus ihrem Gebiet ein halbes Jahr¬
hundert lang die deutschen Kaiser gewählt worden sind. Historische Erinnerungen
sind nur Imponderabilien, die unter Umstünden eine ansehnliche unterstützende
Bedeutung gewinnen können, aber die praktische Politik beschäftigt sich bloß
mit der Macht, und diese kommt nur von der Tüchtigkeit der Völker und ihrer
Regierungen. Daran denken die Deutschösterreicher zu wenig. Sie sind seit
längerer Zeit der eigentlichen Politik entwöhnt, wenigstens einer solchen ernst¬
haften, die einige Trümpfe in der Hand hat und auch entschlossen ist, sie aus¬
zuspielen. Die dichterische Fähigkeit des Volkes verwechselt fortwährend die
Symbolik mit der Handlung und glaubt, durch jene dem Gegner Schaden zu¬
gefügt und die eigne Würde gewahrt zu haben. Es wird der Gegner beschimpft,
eine heftige Resolution gefaßt, aber dann ist die Stimmung vorüber. So gleicht
man den Franzosen, die einstimmig: „Nach Berlin!" riefen, aber sämtlich noch
jenseits der Grenze gefangen wurden trotz aller persönlichen Tapferkeit. Man
setzt in Deutschösterreich viel zu sehr das Wort für die That, und darum bleibt
die Wirkung aus. Es ist, um im Wiener Jargon zu reden, viel „Pflanz" dabei.
Es kann den Deutschösterreichern nur geraten werden, zu dem Element
der Politik zurückzukehren, und das heißt: Macht zu gewinnen. Diese kommt
uicht vou der schönsten politischen Theorie, sie geht nicht aus dem ausge¬
klügeltsten Parteiprogramm hervor, aber sie fließt aus der Einigkeit. Kerns
der zahllosen Parteiprogramme der letzten Jahrzehnte ist auch nur in einem
Punkte durchgeführt worden, den einzigen Erfolg, wenn auch nur einen de¬
fensiven, haben die Deutschen mit ihrem Pfingstprogramm erlangt, weil damals
wenigstens ihre Mehrzahl dahinter stand. Das Pfingstprogramm war auch
keine staatsmännische Meisterarbeit, es ist nicht frei an Widersprüchen, ist im
unpopulären Advokatendeutsch verfaßt, die Altdeutschen hielten sich im Gefühl
ihrer Übcrdeutschheit, die Deutschklerikaleu aus Mißtrauen gegen den Radi¬
kalismus von ihm fern; trotzdem wird keine österreichische Regierung wagen,
zu versuchen, die Deutschen hinter dieses schon fast vergessene Programm zurück-
zudrängen, weil man weiß, es würde mit neuer Lebendigkeit wieder aufersteh».
Wenn die Deutschen Politiker wären, könnten sie daraus etwas lernen. Gerade
jetzt, wo die Verhältnisse in Österreich für sie eine günstigere Wendung ge¬
nommen haben, sollten sie einsehen, daß mehr als je Einigkeit not thut. Alles,
was sie wieder spalten könnte, muß vermieden werden, wenigstens bis auf
weiteres. Wären sie nur halbwegs einig, so prallte der slawische Sturm noch
heute an ihrem festen Felsen ab. Schon die Spaltung in einen klerikalen
Flügel, der mit den Tschechen gegangen ist, selbst noch mit den hussitisch und
radikal angehauchten Jungtschechen, und einen liberalen Flügel hat ihr Elend
verschuldet, und die Spaltung des liberalen Flügels in eine Reihe machtloser,
sich gegenseitig bekämpfender Fraktionen vermehrt es noch. Man schreibe
nur einmal das Wort „deutsch," aber recht deutlich und ohne jede radikale
oder klerikale Zuthat, auf das Parteiprogramm, man lasse sich nicht von der
ganz andre Ziele verfolgenden kapitalistischen Presse auseinandersetzen; man
lerne den deutschen Bruder, der andrer Meinung ist, statt ihn zu schmähen,
wenn auch als vermeintlich Irrenden, dulden, und die Einigkeit wäre vor¬
handen, die Macht wäre sofort soweit in den Händen der Deutschen, daß nach
ihrem Willen regiert werden müßte, weil sie es in der Gewalt hätten, durch
den geringsten Kompromiß mit einer ihnen genehmen Fraktion jede parla¬
mentarische Frage zu entscheiden. Seit der Einführung der allgemeinen Wähler¬
klasse ist die Möglichkeit für die Deutschen, die parlamentarische Mehrheit für
sich allein zu erlangen, wohl für immer verloren gegangen, aber das wäre
für geschickte Politiker, die ihr Geschäft verstehn, gar kein Unglück, weil die
vereinten Deutschen als ausschlaggebende Macht von vielen Seiten umworben
würden und versöhnend und verbindend auftreten könnten, während die einfache
Mehrheit und damit Herrschaft im Parlament ihnen den Haß aller eintragen
würde. Freilich, so weit sind wir noch lange nicht; ehe die gegenwärtigen
deutsche» Parteien ihre Fraktionsbrille so weit geputzt haben werden, daß sie
diese ihnen ganz klar vorgezeichnete parlamentarische Stellung erkennen, kann
noch lange Zeit vergeh«. Vielleicht, daß den Deutschen ein Führer ersteht,
der die alles besser Wissenden zu meistern versteht, möglich, daß erst wieder
eine Art Badeni kommen muß, der die nur querulierenden ohnmächtigen
deutschen Gruppen beiseite zu schieben glauben könnte, sie sich dann aber plötzlich
geeinigt gegenüber sähe. Vor der Hand ist freilich nicht an eine Besserung zu
denken. Die Verbohrtheit der Fraktionspolitiker, die vom Altliberalismus her-
gekommne Arbeitsscheu, die den glücklichen Inhaber des Parteiprogramms von
jeder Thätigkeit und auch vom Denken entbindet, der Eigendünkel der Kleinen,
die meinen, weil sie sich auf die Fußspitzen stellen, bedeute ihr Ausguck den
politischen Horizont, die Leichtlebigkeit der gebildeten und besser gestellten deutschen
Gesellschaftsklassen, die aus cilledem hervorgehende Schwäche des Nationalgefühls
lassen es zu nichts kommen.
Von dem Einfluß der „führenden" hauptstädtischen Presse ist nichts zu
hoffen, denn diese dient ausschließlich kapitalistischen Zwecken, die nicht mit der
Einheit und Macht des Deutschtums zusammenfallen. Mahnende vernünftige
Stimmen in der Provinzprcsse werden um so lieber überhört, weil man sich
nicht sehr anstrengen mag. Ganz im Sinne unsrer Ausführungen sagte schon
vor einem Jahre einmal die „Tetschen-Bvdenbacher Zeitung": „Wenn den
Deutschen der Kampf gegen Rom mis die wichtigste nationale Aufgabe erscheint,
dann müssen sie trachten, im Abgeordnetenhause eine antiklerikale Koalition
der freiheitlichen Parteien aller Nationen zustande zu bringen. Stellen sie
dagegen das nationale Moment am höchsten, dann muß ein Zusammenschluß
aller deutscheu Vertreter ohne Rücksicht auf ihr politisches Bekenntnis herbei¬
geführt werden. Eins nach dem andern kann Erfolg versprechen. Aber der
kraftmeierische Versuch, gleichzeitig nach drei Fronten kämpfen zu wollen, muß
notwendig zur Vereinsamung und Ohnmacht führen." Diese Ausführung ist
doch zu einfach und zu klar, als daß sie nicht von sämtlichen deutschen Partei¬
häuptern — übersehen werden müßte. Vergeblich zürnte auch die „Leitmeritzer
Zeitung": „Mau sieht nur die Fraktion, man lebt nur für die Fraktion und
arbeitet nur für die Fraktion — das Volk selbst hat das Nachsehen. Solange
sich nicht der gesunde Geist im deutschen Volke gegen die Fraktionssucht auf¬
lehnt, solange ist eine Wendung zum Bessern nicht zu erwarten; denn bekanntlich
verdient jedes Volk die Abgeordneten, die es hat."
Es ist dem nnr noch wenig hinzuzufügen. Wenn sich die Deutschöster¬
reicher bedrückt fühlen und es zum Teil auch sind, so liegt das in der Haupt¬
sache in ihren Preß- und Parteiverhältnissen, die nur sie allein zu andern
vermögen. Alles Geschrei darüber ist wenig wert und hindert höchstens das
Nachdenken über die wahre Lage und die naheliegende Abhilfe. Glücklicher¬
weise sind die Dinge nicht ganz so schlimm, wie sie hingestellt werden, nament¬
lich als Gefahren für das Deutschtum. Wenn man liest, daß bei der letzten
Volkszählung im Jahre 1900 die Deutschen in Böhmen um ein geringes mehr
zugenommen haben als die Tschechen, so kann es mit der Vertschechung im
Lande nicht so gar gefährlich beschaffen sein, und wenn mau weiter erfährt,
daß die Jtalianisierung in Südtirol zum Stillstand gekommen ist und zurück¬
zufinden beginnt, so muß mau aus all diesen Thatsachen den höchst erfreulichen
Schluß zieh», daß in den Deutschösterreichern doch noch ganz andre Kräfte
und Gaben thätig sind, als bei ihren durch das Wahlschlagwort in das Parla¬
er Handelsverkehr zwischen Deutschland und der Levante vis, Ham¬
burg ist in den letzten zehn Jahren von 77 Millionen auf
157 700000 Mark gestiegen. Die europäische Türkei führte 1890
aus Deutschland für 1 Million Mark ein; 1901 war diese Zahl
auf 10 Millionen gestiegen. Die Ausfuhr der europäischen Türkei
stieg in derselben Zeit von 130000 Mark auf 7 Millionen. Die asiatische
Türkei hat ihre Einfuhr aus Deutschland in derselben Zeit von 300000 Mark
auf 10 Millionen, ihre Ausfuhr dorthin von 5600000 Mark auf 14600000
Mark gesteigert.
Diese Zunahme des Handels eröffnet die günstigsten Aussichten für die
Zukunft, wenn es gelingt, die fruchtbaren Landschaften der asiatischen Türkei
dem Verkehr zu erschließen. Diese Erschließung ist aber, wie z. B. der baldige
Bau der Bagdadbahu, abhängig von der finanziellen Bereitschaft der Türkei,
gewisse Garantien zu geben. Daraus ergiebt sich, daß der Handel ein hervor¬
ragendes Interesse an der Konsolidation der türkischen Finanzen hat.
Nach den vor Jahren angestellten Ermittlungen sind die Anleihen der
Türkei in der folgenden Art über Europa verteilt:
Diese Zahlen blieben schon damals nicht unwidersprochen, inzwischen hat sich
der deutsche Besitz wahrscheinlich stark vermehrt. Die Gläubiger aller Nationen
sind durch Delegierte in dem vonssil as l'^ämim^ration as la vstts ?v.b1lauf ver¬
treten, sie werden auf fünf Jahre gewählt und sind wieder wählbar. Ihre Er¬
nennung erfolgt durch die verschiednen Komitees. Das deutsche Komitee besteht aus
der Dentschen Bank, dem Bankhaus Bleichröder und der Königlichen Seehandlung,
die andern sind in Paris, London und Rom. Der Delegierte der Inhaber
der Prioritätsobligationen wird vou der Banane Ottomane ernannt. Die Ge¬
schichte der ottomanischen Staatsschuld und des Steuerweseus in der Türkei
enthält zahlreiche interessante Punkte, aus denen auch der Maßstab für die
Beurteilung der heutigen Verhältnisse entnommen werden kann. Uns beschrän¬
kend knüpfen wir hier an den Bericht des Lord Hobart aus dem Jahre 1863
an: Anfang 1862 beliefen sich die nicht konsolidierten Schulden auf 20 Mil¬
lionen Pf. Se. Der Papiergeldumlauf betrug 9 Millionen, die schwebende Schuld
'"ehe ganz 11 Millionen Pf. Se. Der Bericht führt aus, daß es der englischen
Kommission 1859 bis 1860 gelungen sei, diese Schuld um 15^ Millionen Pf. Se.
herabzusetzen; dieselbe Kommission bewirkte die Errichtung der Bcmque Otto¬
mane. Die Verhandlungen wurden mit der französischen Gruppe, vertreten
durch den Marquis de Ploeue, und mit der englischen Gruppe, vertreten durch
Mr. Gilbton, geführt. Die seit 1856 bestehende Banane Ottomane wurde auf
erweiterter Grundlage mit größern Privilegien ausgestattet. Das Kapital wurde
von 500000 Pf. Se. auf 2»/^ Millionen türk. Pf. festgesetzt, 1865 auf 4 Mil-
livrer, zur Hälfte eingezahlt, und 1874 auf 10 Millionen erhöht. Die neue
Bank trat 1863 mit der Emission einer Anleihe von 200 Millionen Franken
auf, 1865 folgte die Ausgabe neuer Obligationen von 150 Millionen Franken
zu 6 Prozent; von der Banque Ottomane zu 330 (nommat 500 Franken)
ausgegeben. In das Jahr 1865 fällt die von dem englischen Waffenlieferanten
Merton vorgeschlagne Errichtung eines Hauptbuchs der Staatsschuld und in
der Folge die Ausgabe einer Anleihe von 40 Millionen türk. Pf., wovon
29 Millionen zur Konversion alter Tieres dienen sollten, 7 Millionen sollten
zu spätern: Verkauf in Reserve gestellt werden; 4 Millionen wurden in Kon¬
stantinopel, London, Paris, Amsterdam und Frankfurt zur Zeichnung aufgelegt
zum Kurs von 47^ und der Ertrag nach Abzug der Kosten der Regierung zur
Verfügung gestellt. In Deutschland besorgte das Frankfurter Haus Erlanger
die Operation. Der Gewinn des Finanzkonsortiums an dieser Operation wird
auf 15 Millionen Franken angegeben. Der erste Coupon wurde am 13. Juli
1865 bezahlt, der folgende Coupon wurde notleidend, und die Rente fiel auf 28.
Große Aufregung. Die Börsen rechneten der Türkei vor, daß sie in den letzten
zwölf Jahren 70 Millionen Pf. aufgenommen hätte. Im Oktober wurde jedoch
der Coupon bezahlt, und sofort erfolgte eine neue Emission, 300000 Obli¬
gationen zu 6 Prozent von 500 Franken zu 415, rückzahlbar in 5 Jahren-
Dann erfolgt 1369 die Anleihe (Pinard) 6 Prozent von 555 550000 Franken
zu 315, dann die Eisenbahnanleihe (Hirsch) von 792 Millionen Franken, ans
die 1870 sofort 300 Millionen Franken öffentlich gezeichnet wurden. Hierauf
geben Dent, Palmer <K Komp. 1871 5700000 Pf. Se. zu 6 Prozent und 73 Pro¬
zent aus, garantiert durch den Tribut Ägyptens.
Die Banque Ottomane verteilt 13^ Prozent Dividende, und die Schützung
ihrer Reserven erreicht fast phantastische Zahlen. In Wien schreiten die Kredit¬
anstalt und der Bankverein zur Errichtung der Österreichisch-Türkischen Gesell¬
schaft, Kapital 40 Millionen türk. Pf., 40 Prozent Einzahlung. Im Hand¬
umdrehn steigt der Kurs des neuen Papiers von 120 auf 145, und es folgt
die Errichtung der Österreichisch-Türkischen Kreditanstalt, Kapital 20 Millionen
Gulden. Die Subskription erfolgte unter enormem Andrang, es wurden über
650 Millionen effektiv gezeichnet. Zwei Jahre später wurde die Liquidation
der Gesellschaft beschlossen.
Sofort nach der Gründung lieh die neue Gesellschaft der Türkei 900000 Pf-
Neben dieser Anleihe gelangten die „Delegationen," von der türkischen Regierung
ausgestellt, in Verkehr: Zahlungsanweisungen, die verschieden bewertet wurden,
die des Kriegsministeriums galten 80 Prozent, die des Palastes 50 bis 75 Pro¬
zent. Im Jahre 1872 bieten Raphael K Sons 11129200 Pf. neunprozentige
Schatzbons der Vilajets kurzfüllig an, einlösbar 1873 zu 55 Prozent gegen
Serie 2 der allgemeinen 5 Prozent-Schuld, Nominalkapital 20229000 türk. Pf-
Der Ertrag ist teilweise zur Tilgung der schwebenden Schuld bestimmt, die
1872 angegeben wurde, 223 Millionen Franken, nicht mitgerechnet 75 Mil¬
lionen Rückstände für Sold und Gehalte. Eine neue fünfprozentige Anleihe
von 50 Millionen türk. Pf., die das betreffende Komitee zu 63 übernommen
hatte, konnte nur bis zum Betrage von 3 Millionen ausgegeben werden. Dann
kam der Wiener Krach dazwischen. Merton sah den Zusammenbruch der An¬
leihewirtschaft voraus und verkaufte enorme Summen türkischer Tieres 5 ä6von?Lrt.
Aber die Türkei unterhandelte mit dem Lröäit Alodilisr I^neM um eine
neue Anleihe, und auf die Nachricht davon stieg der Kurs auf 58. Mertou,
vor einer ungeheuern Differenzenschuld stehend, nahm sich das Leben. Bald
darauf fiel der Kurs wieder auf 22 Franken, ein Jahr später auf 9. Die
Anleihe des 06dit Nodilior, 694 Millionen Franken zu 6 Prozent, rückzahl¬
bar in 33 Jahren, zu 42 Prozent fest übernommen, wurde ohne Erfolg auf¬
gelegt; nur 25 Prozent wurden gezeichnet.
Um den Sturm zu beschwören, kündigte die Pforte die Ausführung der
folgenden Maßregeln an: Säkularisation der Vatufgüter (Güter der Toten
Hand), denen die Steuerfreiheit genommen werden sollte; Reformen im Berg¬
bau; Einführung der Stempelsteuer; jährliche Veröffentlichung der Budgets.
Um den Coupon zu bezahlen, behilft sich die Regierung mit gelegentlichen
Anleihen, für die sie bis 1^2 Prozent pro Monat bezahlt. Im Januar 1874
trifft Sndyk, der Freund des Baron Hirsch, in Wien ein zu Unterhandlungen
mit der dortigen Finanzwelt. Von Wien fährt er nach Paris. In seinem
bescheidnen Quartier am Boulevard Hcmßmcmn empfängt er die Spitzen der
Pariser Finanzwelt und erreicht alsbald einen Vorschuß von vierzig Millionen
Franken, die die Couponzahlung am 1. März 1874 sichern. Am 18. Mai
unterzeichnet er eine Konvention aä röksisuclum: Reorganisation der Finanz¬
verwaltung, Reorganisation der Banque Ottomane nach Verschmelzung mit der
österreichisch-Türkischen Bank und die Erhöhung des Kapitals auf 250 Millionen
Franken. Sie soll fortan alle Einkassierungen zentralisieren und die nach Ein¬
vernehmen mit einem internationalen Syndikat angestellten budgetmüßigen Aus¬
gaben bezahlen. Hier ist der Keim der spätern Finanzreform.
Inzwischen hatte sich das Bild in Konstantinopel verändert. Der Ein¬
fluß der konservativen Partei hatte den Sultan gegen Sadyk aufgebracht, er
wurde abberufen, der Überschreitung seines Auftrags beschuldigt, die Kon¬
vention nicht ratifiziert. Das Syndikat zahlte die vierzig Millionen natürlich
nicht aus. Die Jnterimsschcinc wurden an der Börse exekutorisch verkauft.
Die Pforte klagt gegen die Mitglieder des Syndikats; ohne Erfolg. Bald
darauf ist Sadyk wieder im Sonnenschein der kaiserlichen Gunst und erhält
Auftrag, seine Pläne auszuführen. Jedoch das Syndikat erscheint in der Rolle
der Beleidigten. Jetzt greift die Banque Ottomane ein. Zunächst erfolgt die
Reorganisation der Bank. Sie wird der Kassierer der Regierung für Ein¬
nahmen und Ausgaben des Budgets. Sie wird beauftragt mit dem Verkauf
der Schatzbons und erhebt für sich eine Kommission von allen Emissionen;
von Einzahlungen und Aufzählungen bezieht sie ein halbes Prozent Kom¬
mission. Wenn diese Kommission 50 Millionen türk. Pf. jährlich nicht über¬
steigt, so erhält die Bank für jede ihrer Filialen 5000 türk. Pf. gezahlt.
Thomas Bruce, der Vorsitzende der englischen Aktionäre, sagt, diese Kon¬
vention sei ohne Beispiel in der Geschichte unabhängiger Gesellschaften und
der Finanzinstitute der Welt.
Die jährliche Veröffentlichung des Budgets wird angeordnet. Eine Kom-
Mission aus Vertretern der Banken, beauftragt mit der Feststellung des Budgets,
ermittelt eine schwebende Schuld von 340 Millionen Franken. Der Vorschuß,
den die Banque Ottomane zu leisten hat, wird erhöht auf 2700000 türk. Pf-
Dafür sollen acht Prozent Zins über dem Durchschnittsdiskout der Banken
von Frankreich und England gezahlt werden; zur Sicherheit werden sieben
Millionen türk. Pf. der fünfprozentigen Schuld hinterlegt, als Teil einer zu
schaffenden Serie 3. 1874 wird der darauf hingehende Kontrakt unterzeichnet.
Danach beläuft sich Serie 3 auf vierzig Millionen türk. Pf., wovon die Bank
fünfzehn Millionen zu 42 Prozent übernimmt, außerdem zwei Prozent
Kommission. Im September kamen 15900000 türk. Pf. zur Zeichnung zu
432/2 Prozent. Der Nest wird nacheinander für Vorschüsse hinterlegt. Im
Jahre 1875 neuer Vorschuß von 800000 türk. Pf. Ferner geben die Banken
in Galata 2 784000 türk. Pf. Vorschuß zu 1^ Prozent für den Monat.
Auf dem Thron war jetzt Abdul Aziz, der das Geld mit vollen Händen
ausstreute (als er 1867, um den König Wilhelm von Preußen zu begrüßen,
auf dein Rhein nach Koblenz fuhr, stellte er an sein Gefolge die Frage, ob
dieser Wasserlauf zu seinen Ehren angelegt sei?). Am 7. Oktober 1875 er¬
schien eine amtliche Mitteilung: Das Budget ergebe ein Defizit von fünf
Millionen türk. Pf. Um eine gründliche Reform zu bewirken, sollen die
Banken ein Syndikat bilden, und diesem sollen überwiesen werden: die Er¬
träge der Zölle, die von Salz und Tabak, der Tribut Ägyptens und, wenn
das alles nicht ausreicht, die Hammelsteuer. Die Zahlung der Zinsen auf
die Schuld soll fünf Jahre lang erfolgen: fünfzig Prozent bar, fünfzig
Prozent in Rente zu fünf Prozent. — Aufregung überall. Der Dienst der
Schuld erforderte jährlich 318 Millionen Franken, davon 280 Millionen für
die äußere Schuld.
Der Nominalbetrag der seit 1854 ausgegebnen Anleihen belief sich auf
4811 Millionen Franken; dazu 185 Millionen Schulden bei der Banque
Ottomane und andern Banken in Konstantinopel. Die in zwanzig Jahren
entliehene Effektivsumme betrug 2^ Milliarden Franken.
Inmitten schwerer politischer Wirren steigt Murat ans den Thron. Schon
am 31. August 1876 folgt ihm Abdul Hmnid. Im Krieg mit Ehren unter¬
legen, unterzeichnet die Türkei im Januar 1878 die Friedenspräliminarien-
Es folgt der Berliner Kongreß, der am 11. Juli den Vorschlag (vom Grafen
Corli, dem Vertreter Italiens, vorgetragen und von dem türkischen Vertreter
Karatheodory Pascha nicht zustimmend aber günstig aufgenommen) annimmt:
Die Türkei möge eine Finanzkommission aus Mitgliedern, die von den Re¬
gierungen ernannt werden, berufen. — Jetzt folgt eine Zeit der Verhand¬
lungen. Im Oktober 1880 wird bekannt, daß die Pforte die Komitees der
Gläubiger eingeladen hat, Delegierte nach Konstantinopel zu schicken, die über
die Aufnahme der Zahlungen beraten sollen. Dort treten am 1. September 1881
zur Beratung zusammen: Sir Robert Bonrke für England und Holland,
M. Valfrey für Frankreich, Baron Mähr für Österreich-Ungarn. Der deutsche
Delegierte, Justizrat Primkcr, wurde später ernannt und erschien zur vierten
Sitzung. Kommandant F. Mcmeardi, für Italien, erschien erst in der neunten.
In der 22, Sitzung am 7, Dezember 1881 wurde der Vorschlag der Pforte
in seinen Grundzügen angenommen, und am 8./20. Dezember 1881 (28. Mon-
harrem 1299) erging das unter dem Namen „Mouharrem" berühmt ge¬
worbn e Dekret.
Das Mouharremdetret überweist dem Dienst der Schuld sehr bedeutende
Einnahmen; darunter einen großen Teil der Jnselabgaben, den Tribut von
Ostrumelieu, die Überschüsse der Einkünfte Chperns. Von dem Reinertrag
sollen zunächst 590000 türk. Pf. für den Dienst der fünfprozentigen Obli¬
gationen verwandt werden. Einziehung, Verwaltung der Gelder und der
Dienst der äußern^ Schuld wurden einem Conseil übergeben, der aus Vertretern
der Gläubiger bestand: Lor8git as 1'^cwrmi8trg.einen as llr vstts ?ublieiuö. Der
Kasseudienst des Conseils vollzieht sich durch Vermittlung der Banque Ottomane
und der andern schon früher damit betrauten Kreditinstitute. Gegenüber den
Handlungen des Conseils steht der Negierung die Kontrolle zu; sie interveniert
selten und nur, wenn es sich um Meinungsverschiedenheiten über die Grundsätze
oder um die Tarife für die überwiesenen Einnahmen handelt.
„Malle" lautet der Titel des türkischen Finanzministeriums. Malle Naziri,
der Finanzminister, hat die alte Bezeichnung Defserdar ersetzt. Obgleich der
Finanzminister nicht vor parlamentarischen Einrichtungen amtiert, ist seine Auf¬
gabe schwer. Die erste Sorge gilt der Zivilliste.
Die sehr komplizierte Finanzverwaltung beruht auf derselben Einteilung
wie die politische Verwaltung: Bilcijets, Provinzen; Sandjaks, Kreise; Cazas,
Gemeinden. An der Spitze eines Vilajets steht als Finanzbeamter der Defserdar,
eines Sandjak der Muhassebedje; eines Caza der Mal-mndiri. Das Vilajet
hat sein eignes Budget, das dein Finanzminister zur Kenntnis unterbreitet wird.
Havales sind die Zahlungsauweisungen des Finanzministers auf die Kassen
der Vilajets. Wenn Verlegenheiten bestehn, werden sie zuweilen in größerer
Zahl ausgestellt, als rechnungsmäßig gerechtfertigt ist. An entfernten Orten
zahlbar und unregelmäßig zur Einlösung gelangend sind sie Gegenstand des
Handels geworden.
Im Malle tritt aller zwei Jahre eine Kommission zusammen, die das
Budget aufstellt; oft auf Grund schwankender Angaben aus den Provinzen.
Die Darstellung des Steuerwesens in der Türkei bietet des beachtens¬
werten viel, namentlich wegen der bevorstehenden Reform. Es ergiebt sich
daraus, daß die Hilfsmittel der Türkei keineswegs erschöpft sind. In der
Mehrzahl der Fülle sind sie nicht einmal ausgebildet, und es ist keine Über¬
treibung, zu sagen, daß der Ertrag bedeutend gesteigert werden kann. Eine aus-
führliche Darstellung dieser Verhältnisse findet sich in dem kürzlich erschienenen
Buche I,hö l^illgnoss as 1^ luranis von Charles Morawitz (bei Guillaumiu
in Paris). Eine deutsche Bearbeitung des Werkes wird von Georg Schweitzer
borbereitet und wird nach Neujahr im Verlag von Karl Heymann in Berlin
^scheinen.
Entwicklungsfähig sind auch die Zölle. Auf diesem Gebiet kann sich
die Türkei zur Zeit kaum rühren, da fast jede Maßregel den Einspruch der
Diplomaten hervorruft. Dasselbe gilt von der geplanten Pnteutsteuer. In
beiden Fällen handelt es sich um sehr entwicklungsfähige Einnahmequellen,
Zur Zeit liefern die Zölle ungefähr zwei Millionen türk. Pf. Sie sind
rein fiskalisch und nicht von Prinzipien und Theorien beeinflußt. Die Zölle
werden viüorsm erhoben, ohne Unterscheidung zwischen Rohstoffen und
Fabrikaten. Die Sätze betragen 8 Prozent für die Einfuhr, 1 Prozent für
Ausfuhr und Transit. In den Jahren 1861 und 1862 hat sich die Türkei
mit dreizehn Mächten verständigt: die in der Vereinbarung genannten Artikel
werden demgemäß verzollt, für andre Artikel, die Mehrzahl, ist die Verstän¬
digung zwischen Zollbehörden und Importeuren nötig. Der Zoll kann in
Naturalien gezahlt werden, und wo das nicht angeht, kann die Zollbehörde
das strittige Objekt kaufen. Die Tarifierung ist vor fünfzehn Jahren erfolgt.
Kautionen für den Transitverkehr werden bei Vorlage des Ausfuhrzertifikats
zurückgegeben; die dafür festgesetzte Frist von sechs Monaten ist zu kurz.
Dazu kommen noch Vinnenabgaben, die bis 1874 8 Prozent für Land-
nnd Seetransporte betrugen, seit 1874 werden sie nur vou den Seetransporten
erhoben. Die einheimische Produktion ist durch die Begünstigung der Einfuhren
stark benachteiligt. neuerdings ist die Abgabe auf 2 Prozent herabgesetzt,
sie sollte auch aus die Einfuhr ausgedehnt werden, aber das haben die Diplo¬
maten verhindert.
Eine Handelsstatistik giebt es nicht, nur einmal, 1878/79, erfolgte ein
Bericht über die Güterbewegung in den Zollhäusern.
Der auswärtige Handel wird so berechnet-.
Die Tribute, die der Türkei bezahlt werden, bestehn aus: dem Tribut
Ägyptens (einschließlich 15000 türk. Pf. für Zeilah am Golf von Aden)
765000, Ost-Rumelien 265000, Cypern 102596, Samos 3000, Berg Athos
720 türk. Pf.
Der Tribut Ägyptens reicht in das Jahr 1517 zurück, als Selim 1-,
Sieger über Tumult Bey, den letzten Mamelucken, Ägypten eroberte. Der
Tribut ist jederzeit pünktlich bezahlt worden; seit 1880 von der Ls-isss as es,
Dstts Lg^xtisirus unter Garantie der Mächte.
Die kaiserliche Zivilliste beläuft sich auf 577172 türk. Pf.; ferner 305378
türk. Pf. für Prinzen und Prinzessinnen. Seit 25 Jahren sind die Ausgaben
stark zurückgegangen. Der Sultan selbst hat keine kostspieligen Gewohnheiten-
Die Ausgaben erfordern jedoch so hohe Summen, daß sie ohne das sehr große
Privatvermögen des Herrschers nicht gedeckt werden könnten. Dieses wird von
einem Rat von elf Mitgliedern und einem Dvmünenvorstand von zehn Mit¬
gliedern verwaltet. Die Güter sind über alle Provinzen zerstreut; in Syrien
und in Mesopotamien bedecken sie 30 Prozent des bebauten Landes.
Die „Vciwfs" sind die Güter der Toten Hand. Ihr jährlicher Ertrag
figuriert jetzt mit 52250 leert. Pf. Sie sind in der Hauptsache steuerfrei.
Schon 18K7 hat Fazit Pascha Reformen vorgeschlagen, die aber an dem Wider¬
stände der Moslems gescheitert sind. Der Wert der Vaknfs wird ans zwei
Milliarden Franken geschützt. Es wird berechnet, daß der Jahresertrag auf
achtzig bis hundert Millionen Franken gesteigert werden kann, was genügen
würde, die gründliche Reform der türkischen Finanzen zu bewirken.
Die konsolidierte Schuld, die ein Jnhreserfordernis von rund fünf
Millionen türk. Pf. aufweist, setzt sich aus den folgenden Posten zusammen:
1. aus den durch den ägyptischen Tribut garantierten Anleihen, 2. den Anleihen,
deren Dienst dem Malle obliegt, 3. den Anleihen, deren Dienst der Oonseil als
is, Vstts besorgt, 4. den Anleihen, garantiert durch die Einnahmen, die dem
Conseil (lo poles überwiesen sind. Die zur Beurteilung unentbehrlichen
Einzelheiten wegen der Anleihen sind im folgenden zusammengefaßt:
Anleihen, die durch den Tribut Ägyptens garantiert sind: Den Tribut
bezahlt die ägyptische Negierung direkt an die Kontrahenten Dent, Palmer
^ Komp. und Rothschild Sons in London. Bon allen diesen Anleihen
waren am 14. März 1902 im Umlauf: 3815200 türk. Pf. Anleihe zu 4 Pro¬
zent von 1855, 5578 520 türk. Pf. Anleihe zu 4 Prozent von 1891, 7890780
türk. Pf. Anleihe zu 3^/., Prozent von 1894. Die erste Anleihe wurde
1854 zu 80 Prozent cuilliere: drei Millionen Pfund zu 0 Prozent und
1 Prozent Tilgung; 1855 folgten fünf Millionen zu 4 Prozent zu 102 «/^,
garantiert durch Frankreich und England. Die Garantie bezieht sich auf die
Zinsen, nicht auf die Tilgung. Natürlich warm die Inhaber zufrieden, eine
von England und Frankreich garantierte Rente zu 4 Prozent zu besitzen in
einer Zeit, in der englische 2"^ prozentige Konsols 113 notierten. Seit der
Zession Cyperns an England liegt England allein dem Dienst der Schuld ob,
obgleich offiziell die Garantie Frankreichs weiter besteht. — Im Jahre 1871
^folgten Anleihen von 5700000 Pfund zu 0 Prozent, zu 73 Prozent tilgbar
durch Ziehungen bis 1905; 1877 Anleihe von fünf Millionen Pfund zu
^ Prozent; 1891 Anleihe von rund 6^/,, Millionen Pfund zu 4 Prozent,
tilgbar durch Ziehungen bis 1950 zum Ersatz der 5 Prozent von 1877;
Emissionspreis für effektive Zeichnungen 93'/^ Prozent, für Zeichner, die die
Tieres von 1877 behielten, 93 Prozent; 1894 Anleihe von rund 8^ Millionen
Pfund zu 3'/z Prozent zum Ersatz der sechsprozentigen Anleihe von 1854 (1877
"uf 5 Prozent reduziert) und der 4^prozentigen Anleihe von 1871. Durch jähr¬
liche Ziehungen bis 1955 tilgbar, nach 1905 kann die Tilgung erhöht werden.
Die Emission fand gegen Barzahlung zu 94,25 statt.
Anleihen, deren Dienst dem Malle zusteht, waren: die Anleihe zu 5 Prozent
von 1880, rund (p/-, Millionen (die Zollanleihe, die jetzt durch die Banque
Ottomane in 4 Prozent konvertiert wird); Anleihe zu 4 Prozent (Tombac)
von 1893 eine Million Pfund, tilgbar durch halbjährliche Ziehung bis 1934;
sogenannte Eisenbahnanleihe 4 Prozent von 1894: 1670000 türk. Pf., tilgbar
^ 64 Jahren, garantiert durch die kilometrische Schuld von 1500 Franken
der Gesellschaft der Orientalischen Eisenbahnen.
Anleihen, deren Dienst durch die Vermittlung des «üonsoil als ig, Dyle«
erfolgt, sind:
Die fünfprozentige Anleihe von 1888 1650000 türk. Pf. (Fischereien);
die vierprozentige von 1890 4 999500 türk. Pf. (Osmcmie oder Konsolidation);
die fünfprozentige von 1896 3272720 türk. Pf.; die fünfprozentige von 1902
1254000 türk. Pf..
Über die schwebende Schuld sind übertriebne Borstellungen im Um¬
lauf, weil übersehen wird, daß neue Verbindlichkeiten vielfach eingegangen
worden sind, um die alten abzustoßen. Ende 1901 hat man sie auf 6^ Mil¬
lionen türk. Pf. geschätzt. Hierher gehören auch die Ansprüche Lvrcmdo und
Tubini, die 1901 zu der französischen Flottendemvnstration bei Mvsene ge¬
führt haben. Sie stammen aus den Jahren 1875/76 aus Anleihen der Kriegs¬
und Marineministerien. Der Lorando-Anspruch betrug anfangs 85000 türk. Pf.;
Tubini wurde 1882 durch das Tribunal der Handelskammer in Konstantinopel
auf 66000 türk. Pf. angewiesen. Die Zinsen haben beide Forderungen ans
die Höhe von 500000 türk. Pf. gebracht. Die Pforte hat den Vertretern
Tubinis sechzehn Monatstratten von je 10000 türk. Pf. gegeben; den Ver¬
tretern Lornndos ebenso von je 21000 türk. Pf., zahlbar vom März 1902 ab.
Hierher gehören auch die Ansprüche der Direktoren der 8ovi6t6 ach?Il»res (Vcmreal
und Baudony). Es handelt sich um Ländereien, die albanesische Einwandrer
besetzt haben. Die genannte Gesellschaft hat durch Vermittlung des französischen
Gesandten eine Anweisung von 27000 türk. Pf. auf die Einnahmen der Leucht¬
feuer erhalten.
Die russische Kriegsentschädigung war von Anfang an garantiert durch die
Einnahmen in den Provinzen Adann, Castamuni, Koma und Sivas. Dazu
kommen 55000 türk. Pf., an Rußland zu zahlen für Unterhaltung der Ge¬
fangnen. Die Banane Ottomane zahlte 1891 für Rechnung der Rückstände
an Nußland 1018000 türk. Pf. Im Jahre 1899 wurden die Zehntabgaben in
Brussa und Smyrna den Garantien hinzugefügt. Die Abgaben werden durch
die Bauque Ottomane eingezogen. Das zwischen Rußland und der Türkei
geschlossene Abkommen entbehrt jedoch in einzelnen Teilen der klaren Fassung!
Rußland könnte daraus folgern, daß ihm das Recht der Kontrolle der Ein¬
nahmen und ihrer Verwendung in den genannten Provinzen zustehe.
Der tüonsöil as 1s. vstts ist durch das Moühnrrem-Dekret mit dem Dienst
der folgenden Anleihen betraut: 1. Prioritätsobligationen. Sie wurden 1881
geschaffen zur Bezahlung der Forderungen der Bankiers von Galata. Nominal¬
kapital 185681500 Franken, rückzahlbar durch Ziehung in 24^ Jahren. Sie
wurden 1890 konvertiert in eine vierprozentige Anleihe von 195681000 Franken-
2. Anleihen von 1858 bis 1873: das verbleibende Kapital dieser Anleihen,
einschließlich der während der Zahlnngseinstellung gezognen Obligationen, betrug
Ende 1881:
Diese Kapitalien, vermehrt durch den Nominalbetrag der für die Hälfte
der nichtbezahlten Obligationen ausgegebnen Ramazau-Tieres, sind herab¬
gesetzt worden zum Durchschuittskurs (Emissionskurs und Vertragskurs) und
alsdann erhöht um 10 Prozent 1. der Nnmazan-Tieres, ausgegeben für die
Hälfte der verfallnen Coupons vor der Zahlungseinstellung, und 2. der bis
Ende 1881 notleidenden Coupons.
Die Neduktionssätze der Anleihen, nach diesen Grundsätzen berechnet, sind,
Wie folgt, festgestellt worden:^'"
Auf die vorstehende Zahl ist die Reduktion angewandt worden, die zur
Summe von 14211407 türk. Pf. geführt hat. Die Koeffizienten der Reduktion
betragen 45,09 für das Kapital und 19,18 für Prämien und Coupons.
Der Gesamtbetrag der Schuld, deren Dienst dem Conseil obliegt, ist dem¬
nach so zu resümieren:
Nach den überwiesenen Garantien zerfallen die Anleihen in vier Gruppen:
^ 2, 3> 4; genannt Serien L, Q, I).
^ Diese Gruppeneiuteilung dient dein Zweck, die Reihenfolge, in der die
^llgung geschieht, zu ordnen. In der Zinszahlung sind alle drei Gruppen
gleichberechtigt; "nsgenommen die Türkenlose, die zur .^eit keinen Anspruch
w'f Verzinsung haben.
Die Verwendung der Einkiinfte zum Dienst der Schuld bietet ein ver-
wickeltes Bild. Nach Erhebung von 5.90000 türk. Pf. für den Dienst der Prio-
ritütsobligationen werden vier Fünftel des Nestes den Zinsen zugewiesen, ein
Fünftel der Tilgung. Immer geht die Erhebung von 1 Prozent Zins der Tilgung
voran. Die Zinszahlung kann nur um Bruchteile von wenigstens ^ Prozent
erhöht werden und darf 4 Prozent des Kapitals nicht übersteigen. Jeder
Netrag unter ^ Prozent ist dem Dienst für das folgende Halbjahr zu über¬
weisen. Für die Tilgung darf nicht mehr als 1 Prozent des reduzierten
Kapitals aus den Einkünften entnommen werden. Dazu kommt aber der er¬
sparte Zins für die schon getilgten Stücke. Wenn die so verfügbare Summe
unter oder gleich V4 Prozent des reduzierten Kapitals ist, so wird sie der
Tilgung der Gruppe ^ zugewiesen. Ist sie über ^ Prozent, so wird der
Überschuß bis zu ^ Prozent der Gruppe IZ überwiesen, bis zu -'/^ Prozent
der Gruppe 0 und dann bis 1 Prozent der Gruppe v. Ergiebt sich dann
ein Überschuß, so wird er unter die Gruppen gleichmäßig verteilt.
Nach vollständiger Tilgung der Gruppe ^ wird die zur Tilgung ver¬
fügbare Summe der Gruppe 6 überwiesen bis '/^ Prozent des reduzierten
Kapitals; dann 0 bis '/z Prozent; dann v bis Prozent. Vom Über¬
schuß erhält dann jede Gruppe Nach Tilgung der Gruppe L wird das
erste Viertel 0 überwiesen, das zweite I). Bleibt ein Nest, so wird er zu
gleichen Hälften unter beide Gruppen verteilt.
Nach erfolgter Tilgung der drei ersten Gruppen arbeitet die Tilgung aus¬
schließlich zu Gunsten der Gruppe 4: Allgemeine Schuld und Türkenlose.
Das Monharremdekret bestimmt, daß „die Tilgung sich stets durch Kauf
oder Ziehung, halbjährlich, gemäß Entscheidung des Conseils," vollzieht, aus¬
genommen die Einschränkung, daß diese Tilgung nicht zu höhern Sätzen statt¬
sind en kann als zu:
Bis jetzt hat der Conseil keinen Gebrauch von dem Recht gemacht, zwischen
dem Rückkauf oder der Ziehung zu wählen. Er hat alle Tilgungen durch An¬
kauf an der Börse bewirkt. Er hat die Ziehungen nur bei der Serie ^. dann
angewandt, wenn der Kurs über 66,66 Prozent stand, und für die Türlenlosc,
die einem besondern Verfahren unterworfen sind.
Niemals hat eine Anleihe soviel Lärm veranlaßt als die Türkenlose.
Sie entstanden auf Grund einer Rente von 28 Millionen Franken, die dem
Baron Hirsch bewilligt wurde für den in der Konzession vom Jahre 1869
vorgesehenen Eisenbahnbau: 1. 980000 Obligationen zu 3 Prozent und
400 Franken nommat. Das jährliche Erfordernis betrug zu Anfang
23 760000 Franken und sollte sich von Jahr zu Jahr, nach Maßgabe der
Tilgung, vermindern. Dadurch wurden große Summen frei, die jährlich zu
Prämien verwandt werden sollten, und die 3600000 Franken jährlich bis
1910 und vou 1910 an 2335000 Franken jährlich betragen sollten bis zur
^folgten Tilgung. Außer den mit Prämien tilgbaren Tieres, deren Zahl auf
festgesetzt wurde, umfaßten die Ziehuugen ki M'i (400 Franken) rückzahl¬
bare Tieres, deren Zahl (heute 4800) vou Jahr zu Jahr steigt. Nach diesem
Plan sollten aus der Annuität von 28 Millionen Franken bezahlt werden:
Das Mouharremdetret unterbrach die Zahlungen; sie sollten wieder auf¬
genommen werden, wenn uach der zur vollständigen Zahlung der Prämien
notwendigen Summe ein Überschuß bliebe; „die Ziehungen der Tieres und die
Zahlung der Prämien sollen genau uach dem ursprünglichen Plan fortgesetzt
werden, insoweit die dafür ausgesetzten Beträge ausreichen."
Danach finden aller zwei Monate Ziehungen statt, und die gezognen
Nummern sind zahlbar mit den herausgekommenen Betrügen. Thatsächlich
aber hängt die Zahlung ab von den Summen, die der Conseil dafür anweist.
In den ersten vierzehn Monaten betrug die Zuweisung 182379 türk. Pf.,
wovon 25 Prozent zur Zahlung von 20 Prozent Prämien aus ältern Ziehungen
^stimmt waren. Der Überschuß diente zur Zahlung von 58 Prozent
(232 Franken) auf die mit 400 Franken gezognen Tieres. Man behielt eine
^reserve, um den Koeffizienten von 58 Prozent während der folgenden vier
^andre beizubehalten. Das sechste Budget führte so zu einem Defizit von
2783 türk. Pf., das aus deu Mitteln für das nächste Budget gedeckt wurde.
>in den Jahren 1888/89 waren die während der Zahlungseinstellungen ge¬
zognen Tieres getilgt, und die dafür bestimmten Mittel wurden frei. Der
Conseil schlug vor, deu Koeffizienten von 58 Prozent aufrecht zu erhalten und
"en Betrag zum Ankauf der Tieres an den Börsen zu verwenden.
Damals erfolgte die Konversion der Prioritätsobligativnen. Die sich
daraus ergebende Ersparnis von 145000 Pf. jährlich sollte zum Rückkauf
der Tieres der Serien L, 0, v verwandt werden. Die Lose waren aus¬
geschlossen. — Von allen Seiten kamen Proteste. Das österreichische Komitee
entwarf 1893 einen Plan zur Behandlung der Lose. Der Koeffizient sollte
"uf 75 Prozent erhöht werden. Alle Syndikate, ausgenommen das italienische,
Unarten zu, neue Kommissionen wurden eingesetzt, aber der Plan wurde
"ergessen.
Der Conseil hatte inzwischen gesucht, den Wünschen der Losbesitzer, soweit
Mre Macht reichte, entgegenzukommen: die zurückgekauften Lose sollen nicht
wlk dem Außerkurssetzungsstempel versehen werden, sondern sie sollen eine»,
pezmldossier zur Verfügung der Besitzer überwiese» werden. Tilgungen und
Prämien werdeu ans dem Fuß von 58 Prozent bezahlt, obgleich man die
Mittel zur Erhöhung besitzt. Die Erhöhung würde nur denen zu gute kommen,
die eine Prämie ziehn, und die schon 230 Franken für ein Papier erhalten,
dessen Kurswert ungefähr 110 Franke,? ist, — Jetzt kommt ein beachtens¬
werter Punkt: von den 99000 gezognen Lösen sind 4118, mehr mis 4 Prozent,
nicht zur Zahlung präsentiert worden. Diese verschollnen Lose belaufen sich
auf 3581000 Franken nominell, darunter ein Los von »00000, zwei von
300000 und drei von 60000 Franken.
Wo sind die Besitzer der Nummern 314551, 374718, 1519189, die sich
noch nicht gemeldet haben? Vielleicht sind die Lose in einer Bank deponiert.
Das Publikum, das den Kurszettel so eifrig liest, sollte fleißiger die Ziehungs¬
listen lesen. Die gezognen und verschollnen Lose stellen Prämien von 174000
bis 348000 Franken dar.
Die Konversion ist nur eine Frage der Zeit. Die ältern Projekte schei¬
terten daran, daß sie der Regierung große Summen sofort zur Verfügung
stellen wollten. Der Plan Nouviers, aufgestellt nach Einvernehmen mit der
Dentschen Bank, rechnet mit dein wichtigen Faktor der Zeit, um ein für
Gläubiger und Regierung vorteilhaftes Ergebnis zu erreichen. Rouvier schlägt
vor: eine neue vierprozentige Anleihe von 32175000 türk. Pf., gesichert durch
die dem Conseil überwiesenen Einkünfte in Höhe von 2290000 türk. Pf>
jährlich. Die Zukunft kann dazu eine Erhöhung der Zölle und die Ein¬
führung einer Patentsteuer bringen. Über den Betrag soll wie folgt verfügt
werden:
Der nach Versorgung der Serien L, 0, v nebst Kosten übrige Betrag
der neuen Anleihe wird zur Erhöhung der Reserve verwandt. Die Grund¬
lagen, auf denen die Konversion angeboten werden soll, sind: Die Inhaber
der Serie L erhalten soviel neue Tieres, daß ihr Ertrag 1,64 Prozent des
Ertrags des 1 Prozent darstellt, das die Inhaber der Serie L jetzt beziehen-
Die Überweisung von 240000 türk. Pf. für die Lose würde, wie seither,
zur Bezahlung der gezognen Tieres ohne Prämie mit 232 Franken verwandt.
Der Koeffizient für die Einlösung der mit Prämien gezognen Tieres würde
auf 100 Prozent erhöht. Der jährliche Überschuß soll zum Rückkauf um
der Börse oder zu außerordentlichen Ziehungen oder Prämie» verwandt
Werden. Nach Tilgung der Prioritätenanleihc. ungefähr im Jahre 1931, soll
'hre Annuität von 430 000 türk. Pf. verwandt werden: zum Rückkauf der
Tieres der neuen Anleihe und der Lose, in dein Verhältnis, das der Umlauf
beider .Kategorien aufweist.
Die von Nonvier vorgcschlagne Finanzoperation würde eine Annuität
von 1528000 türk. Pf. verlangen'; sodann 430 500 türk. Pf. für den Dienst
der Prioritäten (nicht in der Konversion einbegriffen) und 240000 türk. Pf.
für die Lose, die ebenfalls von der Konversion ausgeschlossen sind; zusammen
2198500 türk. Pf. Da die dem Conseil überwiesenen Einnahmen 2290000
türk. Pf. ausmachen, so bleiben ungefähr 90000 türk. Pf. übrig, die kapita¬
lisiert werden können, entweder um deu Betrag der neuen Anleihe zu er¬
höhen, oder in andrer Art: Erhöhung der Reserve oder der Überweisung an die
Regierung. Die Summe kann vermehrt werden, indem man die Tilgungsfrist
für die neue Anleihe hinausschiebt.
Für das deutsche Publikum bietet die Reorganisation der türkischen Finanzen
nicht allein das zunächst liegende Interesse der Inhaber türkischer Tieres. Darüber
hinaus kommt in Betracht das schnell wachsende Interesse des deutschen Kapi¬
tals, der Industrie und des Handels in der Türkei, der glänzende Erfolg der
Anatolischen Eisenbahnen. Das an Aussichten, die auf fester Grundlage be¬
ruhen, jede andre zeitgenössische Unternehmung in den Hintergrund verweisende
Projekt der Bagdadbahn und die eingangs dieser Darstellung berührte That¬
sache, daß allein der über Hamburg geleitete deutsche Handel mit der Levante
in zehn Jahren von 77 Millionen auf 158 Millionen Mark gestiegen ist. diese
Punkte geben den Fingerzeig für die fernere Entwicklung. Belehrung ist anch
zu schöpfen aus dem Erfolg der Banque Ottomane. Daß diese Bank Divi¬
denden bis zu 56 Prozent verteilt hat, soll hier nicht in Betracht gezogen werden,
da es sich dabei um außergewöhnliche Vorgänge gehandelt hat. — Nachdem
Zwischen der Banane Ottomane und der Deutschen Bank als Vertreterin der
Anatolischen Eisenbahnen ein Abkommen geschlossen worden ist. wonach 00 Pro¬
zent des für die Bagdadbahn nötigen Kapitals ans Deutschland, 40 Prozent
auf Frankreich entfallen, kann man auch in der Zukunft erwarten, daß sich
französische und deutsche Interessen dort einander begünstigend entwickeln. Unter
allen Umständen ist in den nächsten Jahren eine energische Bethätigung deutscheu
Unternehmungsgeistes in der Türkei zu erwarten. Der oben erwähnte Kon-
versionsplan Nouviers scheint jetzt nicht mehr im Vordergrunde zu stehn, es
hat den Anschein, als ob andre Verabredungen mit der Deutschen Bank an¬
gebahnt seien. Die Entwicklung muß abgewartet werdeu. — Man erfüllt nur
wie Pflicht, wenn man am Schluß auf die hervorragende Arbeit hinweist, die
der verstorbne Dr. G. von Siemers im deutschen Interesse in der Türkei ge¬
leist
im dritten Teile handelt Wissowa von den Formen der Götter¬
verehrung, Wie die Religion das ganze bürgerliche Leben durch¬
drang, sodaß Nieder eine private noch eine Stnatshcmdlung vor¬
genommen werden konnte ohne Anrufung oder Befragung der
! Götter oder religiöse Zeremonien, so wurde sie andrerseits selbst
von der den Römern eignen juristischen Anffnssnng aller Verhältnisse beherrscht.
„Grundlage und Voraussetzung der Götterverehrnng ist das Gefühl der
Abhängigkeit von der göttliche» Macht und Fürsorge," das eben durch das
Wort röMo ausgedrückt wird, und der Wunsch, sich die höher» Mächte gnädig
zu stimmen und zu erhalten. Zu diesem Zweck übernehmen der Einzelne und
der Staat in rechtsverbindlicher Form Verpflichtungen zu einmaligen oder wieder¬
kehrenden Leistungen. Durch deren gewissenhafte Einhaltung wird die Gottheit
zur Gegenleistung verpflichtet. Auf diese Weise häufen sich im Laufe der Zeit
eine Menge Verpflichtungen an, die das Sakralrecht ausmachen, das mit dem
Staate selbst entsprungen ist. Wie bei der Gründung einer Kolonie sofort nach
der Niederlassung die sakralen Verpflichtungen geregelt werden, so stellt mau
sich vor, daß, nachdem Romulus die Stadt gegründet und nach außen gesichert
habe, von seinem Nachfolger die sg-or^ xoxuli liounmi geordnet worden seien.
Das ,jus ätvinunr oder sacrum gilt als ein wesentlicher Teil des jus xublieuw.
Die Einführung neuer Götterdienste brachte dem Sakralrecht natürlich immer
neuen Zuwachs; doch behielten die al in<ljA6t6L gewisse Vorrechte vor den neuen
Göttern; sie allem hatten Einzelpriester Minines), nur ihre Festtage waren
ein für allemal konsekriert, d. h. als kerias dem menschlichen Verkehr entzogen,
und nur bei ihrem Dienste wurde das verwickelte und schwierige alte Ritual
angewandt.
Die Form, in der gewöhnlich eine neue Verpflichtung gegen einen alten
Gott oder die Verpflichtung, einem neuen Gott zu dienen, übernommen wurde,
war das Votum. Durch die feierliche Aussprache des Gelübdes bindet sich
der Gelobende. Bis zu dem Zeitpunkte, der über die Erfüllung oder die Nicht¬
erfüllung seiner Bitte entscheidet, ist er in der Lage des Angeklagten während
des schwebenden Prozesses, er ist voll rsu8. Wird sein Wunsch erfüllt, so ist
er zur Gegenleistung verpflichtet; er muß die gelobte Handlung verrichten oder
die versprochne Sache der Gottheit überweisen. Hat er das gethan, so bestätigt
ihm das der Berichterstatter mit der Formel: votum solvit ludsns rnsrito.
Vota für das Staatswohl im allgemeinen werden dnrch die Antrittsopfer der
höchsten Staatsbeamten an jedem Neujahr und durch die Lnstmtion am Schluß
jeder Zensusperiode gelöst. Besondre Anlässe zu öffentlichen Gelöbnissen sind
der Beginn eines Feldzugs, eine bevorstehende gefährliche Schlacht und Land-
Plagen. Die Wahl des Gottes, dem man etwas geloben will, hängt selbst¬
verständlich von der Natur des Erbetenen ab. Bei Seuchen ruft mau Apollo
oder Äskulap an, bei einem Erdbeben die Tellus. im Seesturm die Tempestates.
Der Sicherheit wegen wird manchmal eine lange Reihe von Göttern aufgezählt.
Im Kriege suchte man die Götter der Feinde durch Gelöbnisse zu bestechen.
Vor der letzten Entscheidung bat man die Götter der belagerten Stadt, die
Sache ihrer bisherigen Schützlinge aufzugeben und den Ort den Römern zu
überlassen, wofür ihnen in Rom Tempel und Gottesdienst zugesichert wurden.
Als Beispiel eiuer solchen Evotation haben wir seinerzeit das Gebet des Camillus
vor dem Sturm auf Veji angeführt. Ein solches Gelübde war „nichts andres,
als die rechtskräftige Anerkennung der Berpflichtnng des römischen Staates,
in die sakralen Verbindlichkeiten der von ihm politisch oder thatsächlich zu ver¬
nichtenden Gemeinde einzutreten, einer Verpflichtung, der die Römer innerhalb
des Nachbartrcises ihrer Stadt unweigerlich nachgekommen sind, ohne sie über
diesen hinaus für die Gottheiten fernerer und fremderer Stämme und Völker
anzuerkennen." Allen Lokalgöttern des spätern römischen Reichs einen Staats¬
kult in Rom einzurichten, wäre wohl auch nicht möglich gewesen; dazu hätten
weder die verfügbaren Räume noch die 365 Tage des Jahres gereicht.
Eine besondre Art des Votums war die Devotion, durch die der Feldherr
deu Unterweltsgöttern für die erhellte Vernichtung des feindlichen Heeres ent¬
weder das eigne Leben oder das eines andern römischen Bürgers verspricht.
Die Formel, mit der sich Decius in der Schlacht am Vesuv dem Tode geweiht
hat, teilt Livius im nennten Kapitel des achten Buches mit. Das eigentümliche
der Devotion besteht darin, daß die Leistung des Menschen der Leistung der
Götter vorhergeht. Findet der Geweihte im Kampfe den Tod, den er sucht,
so haben die Götter den Pakt angenommen und sind ihrerseits zu seiner Er¬
füllung verpflichtet; nehmen sie dagegen das Opfer seines Lebens nicht an, so
bleibt der Devovicrte, wenn er der Feldherr selbst ist, zeitlebens als ein mit
»"gelöster Gelübdeschuld Behafteter imxius, während der vom Feldherrn devo-
vierte Legionär im gleichen Fall dnrch eine symbolische Ersatzleistung und ein
Sühnopfer gelöst werden kann. Solche Selbstaufopferung und Opferung eines
Soldaten ist natürlich nur selten vorgekommen, wie denn auch die ursprüngliche
römische Religion überhaupt keine Menschenopfer kennt. In den wenigen Fällen
späterer Zeit, wo man solche, z. B. im hanuibnlischen Kriege, dargebracht hat,
ahmte man fremde Sitte nach. Die gewöhnlich gelobten Leistungen waren
Tieropfer, Veranstaltung von Spielen, Umsetzung von Ruhetagen (Ferien), Er¬
richtung von Tempeln oder Altären, Stiftung von Wcihegescheukeu. Hat man
eine Dnrbringung gelobt, so heißt die feierliche Übergabe der Knltusstätte oder
des Weihgeschenks, durch die sich der Weihende seines Eigeutumsrechts entäußert,
die Dedikation. Geschieht diese von Staats wegen, so ist die Dedikation zugleich
Konsekration, d. h. der geweihte Gegenstand wird eine rss SAvru. und bleibt
für immer dem menschlichen Rechtsverkehr entzogen. Was der Privatmann
weiht, wird nnr res rsliZic>8».; eine solche Sache steht zwar unter göttlichem
Schutz, aber wer sich an ihr vergreift, begeht uoch kein sac-rilössium.
Weil auf dem unverletzten Rechtszustande, der das ungetrübte Friedens¬
verhältnis zwischen der Gemeinde und den Göttern einschließt, das Wohl und
die Sicherheit des Staates beruhen, so werden von Zeit zu Zeit die Verschul¬
dungen gegen die Götter, die man sich uubewußterweise zugezogen haben könnte,
durch Lustrationen getilgt. Bei diesen kommt die Idee der Reinigung durch
die Anwendung von Wasser, Feuer und Räucherwerk zum Ausdruck, während
der feierliche Umzug um die zu lustriereudeu Personen oder Stätten, wobei
meistens das Opfertier herumgeführt wird, versinnbildlichen soll, daß diese
Personen oder Stätten dnrch göttlichen Schutz vor Gefahren, die von außen
drohen könnten, gesichert sind. So wurden bei den ländlichen Festen die Äcker
umwandelt, so das auf dem Marsfeld versammelte neukonstituierte römische
Volk bei dem vorzugsweise wstrnw, genannten Schlußakte des Zensus. Außer¬
ordentliche Lustrationen erachtet man gewöhnlich für notwendig, wenn dein
Senat xroäissig. gemeldet werden, die anzuzeigen scheinen, daß eine Gottheit
erzürnt ist oder warnen will. Welche Gottheit beleidigt, und womit sie zu
versöhnen ist, das haben die Priester als Sachverständige zu ermitteln. Die
Kulthandlungen sind also Rechtsgeschäfte. Von bürgerlichen Rechtsgeschäften
unterscheiden sie sich dadurch, daß der Vertrag, auf Grund dessen sie vollzöge»
werden, einseitig ist, indem nur der Mensch, sei es als Privatperson, sei es
als Vertreter des Staates, eine Erklärung abgiebt, während die Zustimmung
oder Beitrittserklärung des Gottes nicht wahrgenommen, sondern nur voraus¬
gesetzt wird. Der Priester handelt nicht als Vertreter der Gottheit, sondern
ist nur Gehilfe der geköderten oder der opfernden Magistratsperson, indem er
dieser Gebetsformeln vorspricht, symbolische Handlungen vormacht und über¬
haupt durch Leitung und Überwachung dafür sorgt, daß der ganze heilige
Prozeß ordnungsmäßig verläuft und Rechtskraft erlangt. Ist das Rechts¬
geschäft perfekt geworden, so ist die Gottheit zur Erfüllung der eingegangnen
Verpflichtung gezwungen. Soll aber das Rechtsgeschäft perfekt werden, so darf
keine der vorgeschriebnen Handbewegungen und kein Wort der Formel weg¬
gelassen oder geändert werden. Wichtig ist es namentlich, daß die Gottheit
mit dem richtigen Namen angeredet wird; dagegen ist es nicht nötig, daß der
Handelnde die in einer veralteten Sprache überkommene Formel versteht. Damit
sich nicht Feinde der Formel bedienen und über die Macht der Gottheit zur
Schädigung des Staates verfügen können, müssen Formeln und Zeremoniell
geheim gehalten werden. Die Kulthandlungen tragen also (Wissowa unterläßt
es, das hervorzuheben) den Charakter der Zauberei.
Unter den Kultakteu, die mau von den Griechen übernahm, wurden die
Lektistermen oder Götterbewirtungeu sehr beliebt. Die Tempel der auf Geheiß
der Sibyllinen eingeführten griechischen Gottheiten erhielten unter andern Aus¬
stattungsgegenständen ein pulvwar, ein mit Kissen belegtes Speisesofa, auf das
an gewissen Festtagen oder bei außerordentlichen Anlässen eine Puppe nieder¬
gelegt wurde, die die Gottheit vorstellen sollte, und die auf einem Tischchen eine
Mahlzeit vorgesetzt bekam. Im Jahre 399 wurde wegen einer Seuche dre:
Götterpaaren: Apollo und Latona, Herkules und Diana, Merkur und Neptun,
auf einem freien Platze ein achttägiges Lektisteruinm bereitet, und solche Schmäuse
für ganze Göttergesellschaften wurden dann zur großen Erbauung des zu¬
schauenden kindlichen Publikums öfter gegeben.
Wie Räume und Sachen, so wurden auch Tage nud Zeiten den Göttern
zum ausschließlichen Eigentum überwiese». Ein dem profanen Gebrauch eut-
zogner Tag heißt t'oren. Es ist nicht nötig, daß für einen solchen Kult¬
handlungen vorgeschrieben werden, aber natürlich sind alle großen Feste, an
denen feierlich geopfert wird, zugleich Ferien. ?vrmo pudlioao verpflichten das
ganze Volk zur Ruhe von Arbeit und Geschäften, l'ermo private nur die be¬
treffenden Personen. So z. B. war die I'wmmieÄ, die Gattin des Flamen
Dialis, so oft sie einen Donnerschlag gehört hatte, l'örmtÄ bis zur Vollziehung
des für den Fall vorgeschriebnen Lustrationsaktes. Wie oft mag sich in ge¬
witterreichen Sommern eine solche Dame gewünscht haben, durch Taubheit
diesen Störungen und Umstnudlichkeite» überhoben zu sein! Doch verpflichtete!!
sich auch Familien und Genossenschaften durch Gelübde, gewisse Tage zu feiern.
Die öffentlichen Ferien giebt der Kalender an. Er bezeichnet jeden ^ng ent¬
weder mit einem « oder je nachdem er »gi^tu» ist, sodaß die Vornahme
weltlicher Geschäfte an ihm ein ne-lÄL sein würde, oder lÄsws. Bon den (lies
t'asti wurde eine Anzahl als oonrilmlss für die Verhandlungen der Magistrate
mit dem Volke vorbehalten nud deshalb mit e bezeichnet; nur an den übrigen
durfte der Prätor auf dem Forum sitze» und Recht spreche». Elf Tage waren
zwischen de» Götter» und den Menschen geteilt; an ihnen ruhten die Geschäfte
nur einige Stunden. Voll den übrigen 344 Tagen gehörte» 109 de» Göttern,
sodaß den Menschen »ur 235 verblieben, von denen 192 c-omitialss waren.
Abgesehen von der zu großen Zahl der Feiertage war diese Regelung der Nnhe-
zeiten auch deswegen unpraktischer als die jüdisch-christliche Einsetzung jedes
siebenten Tages zum Ruhetage, weil die Ferien ganz ungleich über das Jahr
verteilt warm. Allerdings war nur jede nicht sakrale Handlung der Staats¬
beamten streng verboten, ebenso jede Offensivoperation im Kriege, doch er¬
klärten die Priester, daß der heilige Tag durch jede Werkeltagsarbeit, die nicht
unbedingt notwendig sei, entweiht, „befleckt" werde. Bei gesteigertem Verkehr
verlegte man sich auf die Kasuistik, um als erlaubt nachzuweisen, was man
'"ehe lassen konnte oder wollte, und die Priester mußten den Vogel Strauß
spielen. Da sie an Festtagen andre nicht einmal arbeiten sehen durften, so
mußte ein Herold vor ihnen hergehn und ihr Nahen ankündigen; wer bei
ihrem Vorübergehn seine Verrichtung nicht ruhn ließ, wurde in Geldstrafe
genommen.
Wie weit die gebotene Arbeitruhe den Sklave» zu gute kam, darüber
finden wir bei Wissowa keine Auskunft. Die Quellen müssen ihn also wohl
im Stich gelassen haben. Er verweist uuter andern auf Cato. der in seinem
Büchlein über den Ackerbau 2, 4 die Arbeiten anführt, die an Ferien verrichtet
werden dürfen: Grube» u»d Wiesen reinigen, Wege ausbessern, Dornsträucher
ausreuten, den Garten umgraben, Getreide stampfen und noch einiges. Der
praktische Sinn des Volkes hat also wohl hinreichend dafür gesorgt, daß man
die Sklaven an de» vielen Feiertagen nicht müßig gehn zu lassen brauchte,
"ut um, wird ihnen Arbeitruhe nur gegönnt haben an den Saturnalien, den
Ackersklaven außerdem an den eigens für sie bestimmten ländlichen Festen und
den städtischen an den Spieltagen, wo alle Welt den ganzen Tag im Zirkus
oder auf den öffentlichen Plätzen lag und das Gesinde daheim, weil die Aus¬
sicht fehlte, sowieso gefalllenzt haben würde. Die Spielfeste wurden am
nllergründlichsten gefeiert, über den im Kalender angesetzten Tag noch zwei,
drei, auch sieben Tage Hinalls. Spiele, Lustbarkeiten gehörten zum Wesen
des Festes. Tänze wie die der Salier waren geradezu gottesdienstliche Hand¬
lungen, und fast jedes Fest hatte seine besondre Belustigungsart! Verkleidungen,
Wettläufe von Knaben und Erwachsenen, Wettrennen und Wettfahren, Faust-
känlpfe, Tanzen auf einem Bein, das dadurch noch schwieriger gemacht wurde,
daß der Tänzer auf einem geölten Schlauch hüpfen mußte, und ähnliches. Die
großen Spiele der republikanischen Zeit, von den knall R.oren,ni angefangen,
wurden zwar ebenfalls zu Ehre» der Götter eingesetzt, trugen aber nicht einen so
streng sakralen Charakter wie die aus der Königszeit stammende». Sie wurden
nicht von Priestern sondern von Staatsbeamten geleitet lind nicht an heiliger
Stätte sondern im Zirkus oder im Theater aufgeführt. Mommsen hat nach¬
gewiesen, daß ursprünglich das Zirkusspiel ein Bestandteil des Triumphzngs
gewesen ist; daß dieser nicht auf dem Kapitol geendigt, sondern sich von da
zum Zirkus bewegt und mit Neuuspielen geschlossen hat; erst später sind
Triumphzüge ohne Spiele und Spiele ohne Triumphzüge vorgekommen. Den
circensischen Spiele» gesellten sich später die szenischen zu, und jene gliederten
sich nach griechischem Muster in gymnische, hippische und musische. Die
Gladiatorenkämpfe und Tierhetzen wenigstens, das muß zur Ehre der römischen
Religion hervorgehoben werden, haben niemals in irgend welcher Verbindung
mit dem Götterdienste gestanden; sie wurden auch nicht Ludi sondern Muncra
genannt. Von den clivL uft^sti waren die aufs rsliZiosi oder atri, die Un-
glückstage, gerade das Gegenteil; während jene ausschließlich dein Götter¬
dienste geweiht waren, durfte an diesen keine heilige Handlung vorgenommen
werden.
Dieses römische Religionswesen hat doch nicht bloß historische Bedeutung,
denn es lebt ja vor uusern Angen fort im katholischen Kultus. Nur ein
Blinder könnte verkennen, daß wie die christliche Theologie nur den Faden
der griechischen Philosophie weiter spinnt, sich so der christliche Kultus, der in
der Zeit vom zweiten bis zum siebenten Jahrhundert ausgebildet worden ist,
den altrömischen einverleibt und sich mit einigen jüdischen Elementen verbunden
hat. Die Umzüge, die Reinigungen, die Nämhernngen, die Weihungen, das
umständliche Zeremoniell, die Formeln, denen man eine mystische Wirkung zu¬
schreibt, die ausbleibt, wenn die Formel geändert oder verstümmelt wird, dre
Heiligenfeste, die Bilder, die Verbindung der Feste mit Volkslustbarkeiten, der
Fcstkaleilder, der ganze Apparat von heiligen Orten, Sache» u»d Personen,
der eine so bedeutende Rolle im Kirchenrecht spielt, das alles ist altrömisch.
Sogar technische Ausdrücke wie saerilszium, äöäioatio und oollssorAtio hat der
katholische Ritus und das katholische Kirchenrecht dem römischen entlehnt, ohne
ihren Sinn wesentlich zu ändern. Wenn wir das hervorheben, fügen wir
unser» katholische» Brüdern keine» Schimpf zu. Das Heidnische ist das Natur-
liebe. das Natürliche ist Gottes Schöpfung, und diese kann unmöglich etwas
Schändliches sein. Zudem ist die Bindung an Satzungen nicht die schlechteste
Form des Natürlichen, für Moral, Politik und Kultur im allgemeinen förder¬
licher als die ebenfalls natürliche Ungebundenheit. Nur dagegen müssen wir
protestieren, daß Unwissenheit oder Interesse das Heidnische für das spezifisch
Christliche auszugeben sucht. Die Religion Jesu ist nicht jedermanns Sache;
die Masse ist in allen christlichen Jahrhunderten in der einen oder der andern
Form heidnisch geblieben, geht aber trotzdem der Wohlthaten des Christentums
"icht verlustig. ' Die Religion der abendländische» Kirche ist niemals reines
Heidentum, sondern allezeit eine durch das Evangelium und die apostolischen
Einrichtungen veredelte, vergeistigte nud vcrsittlichte Naturreligion gewesen.
Man braucht mir daran zu denken, daß auch die katholische Kirche eine Stätte
der Belehrung und der katholische Priester von Amts wegen ein Lehrer ist, was
die römischen Tempel und Priester niemals gewesen sind, nud man wird den
ungeheuern Fortschritt begreifen, der in der Stiftung der christlichen Kirche
Uegt. und den die Übernahme des heidnischen Zeremouiendienstes keineswegs
zu nichte gemacht hat. Ohne diesen, der übrigens doch durch die Ausscheidung
alles Burleske» und Obszönen, durch die neue Bedeutung der alten Gebrauche
und durch die aus dieser erwachsene christliche Poesie und Musik erhebend,
reinigend und erbauend geworden ist, wären die Massen für die Predigt und
die Katechese gar uicht zu gewinnen gewesen. Dazu erwäge man die ungeheure
soziale Wirkung der Sonntagsruhe, die zweckmäßig über das Jahr verteilt
und ausdrücklich als eine Maßregel der Menschlichkeit, als ein Mittel, die
Sklaverei innerlich zu überwinden, anerkannt ist. Ja einzelne heidnisch-jüdische
Vorstellungen, wie die von gottgeweihten Personen und Sachen, die anzu¬
tasten als Sakrileg gilt, haben große weltgeschichtliche Aufgaben gelöst, denn
ohne die Gott und den Heiligen geschenkten Grundstücke, auf denen gottgeweihte
Mönche und Nonnen ihre Kulturarbeit leisteten, würde es mit der Kultivierung
und Zivilisierung des europäischen Nordens sehr langsam gegangen sein. Nur
der griechischen Kirche, namentlich ihrem russischen Zweige, kann der Vorwurf
nicht erspart werde», daß ihre Thätigkeit beinahe auf die Stufe eines rein
heidnischen >zeremoniendicnstes und Zauberhandwerks herabgesunken ist.*)
In der Auffassung des Priestertums hat sich die alte Kirche nicht der
römischen Staatsreligion, sondern dem Alten Testament angeschlossen. ..Die
römischen Staatspriester, saeerclows publioi xoxuli Roinimi Huirit-Wen, sind
nicht Vertreter der Gottheit in dem Sinne, daß sie in deren Namen mit der
Gemeinde und ihren Beamten zu verhandeln und an ihrer Statt Rechts¬
geschäfte abzuschließen hätten, auch nicht Vermittler zwischen Gottheit und
Mensch, durch deren Hände der Verkehr des Sterblichen mit der Gottheit ge¬
gangen wäre, sondern wie der ganze Staatskult ein Zweig der Staatsver¬
waltung ist, so sind die Priester Organe dieser Verwaltung, bestimmt zur Aus¬
führung aller der Gemeinde obliegenden laufenden Leistungen an die Gottheit
und zur Pflege und Bewahrung der für den Verkehr mit der Gottheit ma߬
gebenden Traditionen und Satzungen." Wie der Hausvater fiir sein Haus,
so war ursprünglich der König für den Staat der geborne Priester; jedes
Gcschlechtcrhaupt vertrat die Seinen wie in allem Weltlichen so auch der
Gottheit gegenüber. Arbeitsteilung blieb auch auf diesem Gebiete nicht aus,
und so löste sich das Priestertum vom Stcmtsamtc. Zuerst wurde der Götter¬
dienst einzelnen Geschlechtern, dann beim Schwinden der Geschlechterverfassung
Sodalitätcu, Priestern und Priesterkollegien übertragen. Die Sodalitäten, wie
die Salier und die Luperci, hatten mir bestimmte Kulthandlungen wie Tänze
und kostümierte Umzüge zu verrichten. Das Priesterlollegium umfaßte vier
Klassen von Personen: die fünfzehn oder sechzehn pontilivss: Berater des
pontitex nmxmws; den rsx L^orornm, der die priesterlichen Funktionen zu ver¬
richten hatte, die dem Könige vorbehalten gewesen waren; die Flamines:
Einzelpriester für bestimmte Gottheiten; es gab drei große (I'brmön vialis,
Mrrti'aM, ^uirinalis) und zwölf kleine; endlich die sechs vestalischen Jung¬
frauen. Opferpriester waren nur die llirininos, nicht die ponMoss. Der Opfer¬
priester hatte eine Anzahl Gehilfen und Diener zur Verfügung, die z. B. das
Schlachten besorgten, das er nur mit symbolischen Handbewegungen andeutete;
auch seiner Gattin lagen gewisse Verrichtungen ob, und seine unerwachsenen
Kinder miuistrierteu. Daß es kein Vergnügen war, die hohe Würde des
Flame» Dialis zu bekleiden, ist schon bemerkt worden. Der arme Mann durfte
nie länger als eine Nacht außerhalb der Stadt weilen, durfte kein Pferd be¬
steigen, kein Heer in Waffen sehen. Er war sein Leben lang (die Priester-
tiimer wurden ans Lebenszeit verliehen) fermws, d. h. durfte niemals arbeiten
und dürfte an Festtagen keinen andern Menschen arbeiten sehen. Er mußte
immer die priesterliche .Kopfbedeckung und Kleidung tragen und sogar seine
Bettruhe, sowie das Schneiden der Nägel und der Haare rituell regeln lassen.
Er durfte nichts anrühren, was auf Leichen Beziehung hatte, durfte nicht
schwören und von gewissen Dingen, wie von der Ziege, der Bohne, dem Epheu,
nicht einmal sprechen. Durch Häufung von Ehrenbezeugungen suchte man
das lästige Amt annehmbar zu machen, ebenso wie das der Vestalinnen,
deren Dienst, auch abgesehen von der geforderten Jungfräulichkeit, ebenfalls
schwer war.
Zum Schluß wolle» wir noch die Einführung des Demetcrdieustes er¬
wähnen, weil man dadurch sozusagen in das Innerste des religiösen Denkens
der Alten schauen und erkennen kann, wie sich Religion, Volkswirtschaft und
Politik in Rom zu einem organischen Ganzen verwebten. Im zweiten Jahr¬
zehnt der Republik wurde die Kriegsuot durch eine Mißerute verschärft, und
dazu stockte auch uoch die Getreideeinfuhr. Man befragte die Sibylliueu und
erhielt die Antwort, die griechischen Gottheiten Demeter, Dionysos und Kore
seien zu versöhnen, Demeter und Dionysos wurden im getreide- und wein¬
reichen Kompanien eifrig verehrt, und der Rat besagte deswegen eigentlich,
mau solle den Handelsverkehr mit Kampanien regeln. Das geschah denn auch,
»ut die Einführung des Kultus der genannten drei Gottheiten, denen man
»och den Handelsgott Hermes beigesellte, war nur das religiöse Symbol der
Regelung, Man behielt aber nicht, wie bei Apollo und einigen andern Griechen-
gottern, die griechischen Namen bei, sondern verehrte die neuen Gottheiten
unter den alten lateinischen Namen Ceres, Liber, Libera und Merkur, bezog
jedoch die Priesterinnen für die Geheimfeier der Ceres gewöhnlich aus Neapel
und Velia, Nun ist die reichliche Versorgung mit Getreide eine Angelegenheit,
von der vorzugsweise das Wohl und Wehe des ärmer,, Volkes abhängt.
Deshalb war der Cerestempel, dessen Einweihung in die Zeit der beginnenden
Emanzipation der Plebs fiel, ein plebejisches Heiligtum, und die plebejischen
Beamten, denen die Marktanfsicht und die eurg. Muoruuz übertragen wurde,
die Ädilen, bekamen von der aoäes Vororts, wo sie auch das Archiv der Plebs
verwahrten, ihren Namens Auf solche Weise entsteh,, neue religiöse Gebilde;
weder aus Studierstuben noch ans den Bemtungszimmern der Behörden
Pflegen sie hervorzugehn. Die Gelehrten und die Philosophen können Neu
bildungen vorbereiten, die Regierungen können ihre Entwicklung leiten, ent¬
steh« können sie nur aus den Anschauung«,, „ut die Bedürfnissen des Volkes
oder aus der Schöpferthat eines religiöse» Genies, das solche Bedürfnisse zu
befriedigen versteht.
le Montmervsche Haushaltung war in ganz Prag bei weitem die
^stattlichste. Das große Privatvermögen des Fürsten in Verbindung
mit den jährlich wachsenden Revenüen ans seinen gewerblichen An
lagen hatte ihn, erlaubt, einen Hausstand, wie er vor einem Jahr
^ hundert Sitte war, beizubehalten, während die meisten seiner Standes-
! genossen durch die Verhältnisse gezwungen worden waren, ihr Haus
einfacher einzurichten und sich mit einem Bruchteil der Bedienung zu begnügen, die
man noch zu Kmmitzens Zeiten für unentbehrlich hielt. Das Palais, ein gewaltiges
dreistöckiges Gebäude, dessen nach hinten nusspringende Seitenflügel einen geräumigen
Hof einschlossen, lag nicht im Herzen der Stadt, sondern etwas abseits. Die zu
no> führenden, meist menschenleeren Straßen waren zum großen Teil mit alter-
mmlichen Häusern, Palästen oder Stiftsgebäuden besetzt, und der Garten dehnte
Reh über welliges Land bis hinaus in die Vorstadt,
Man konnte mit der Dienerschaft, die man vom Lande mitbrachte und auch
wüst in der Stadt unterhielt, nie das ganze Palais bewohnen, nur Teile davon,
"ut das gab ihm etwas von melancholisch stimmender Größe, ein Gefühl, das sich
u»es in den Korridoren, Sälen und Zimmern nie recht verlor, weil alle Dimen-
sione» sür unsre nioderne, chinesisch znsanimengeschrumpfte Rllnmempfindnng zu stattlich
waren. Aber man geniöhnte sich much und nach an diese nicht eben behagliche
Übermäßigkeit, und wenn man. um zu Tisch zu gehn oder den Fürsten aufzusuchen,
von dem eignen ovi'ps alö lossi« aus jedesmal eine kleine Reise unternehmen mußte,
empfand man Ludwig XIV. seine Vorliebe für Marly und Trenmor nach. Auch ihm,
dem pomphaftesten und prnchtliebendsten König, war Versailles zu weitläufig.
Leben, lautes, geschäftiges, sich dem Auge und dem Ohre aufdrängeudes
Leben herrschte nur im Stallhofe. Von Stall- und Remisegcbäuden umgeben, die
an der vierten Seite das Reithaus zu einem Biereck abschloß, war er früh und
spät im ganzen Palais der einzige Fleck, von dem der schlafende Geist der Vorzeit
gebannt war. El» hoher offner Thorbogen. Portikus, führte nach dein Haupthöfe
und der Rampe, ein andrer nach den, Park, ein dritter direkt nach der Straße,
während der vierte, nur der Symmetrie halber gebant, die Fassade des Reithauses
schmückte, zu dem der Eingang natürlich an dessen oberm Ende war. Wenn es
nicht für den Fürsten und Angehörige des Hnnsstandes Ein- und Zweispänner,
Jngdzüge. Tandems oder Reitpferde zurecht zu machen gab, so wurden in der
durch deu Triumph Neptuns verherrlichte» Schwemme Wagen gewaschen, oder es
machte sich ein Zug Wagen- und Reitpferde unter der Führung eines Oberberciters
zum Ausreiter fertig, eine Leibesbewegung für Mann und Roß, die noch immer
von dem Stallpersonal als „Promenade" bezeichnet wurde, wie die ihm im Reithaus
oder ans dem Reitplatz davor erteilten Reitstunden mit ängstlicher Festhaltung am
Hergebrachten nach wie vor „Equitativnsstunden" hießen. Darüber soll um auch hier
nicht gespottet werden, denn was um wirklich feiner und vornehmer Reitkunst aus
frühern Jahrhunderten auf uns gerettet worden ist, verdankt Österreich der spanischen
Eciuitationsschule in der Burg und den ihr von den Magnaten des Reichs überall
nachgebildeten ähnlichen Anstalten.
Da im Stallhof die Kutscher und die Reitknechte bei sich zu Hause waren, so
durfte geschrieen, gepfiffen, gesungen, lant gegähnt, zugerufen und geflucht werden,
und jeder that das aus Leibeskräften, wie es ihm gerade zu Sinn war und in
den Mund kam. Auch die Frauen standen und liefen überall mit herum, und den
Kindern — diese scheinbar alle gleichen Alters und von überraschender Menge —
wurde, wie es im Evangelium heißt, nicht gewehrt, oder doch nur insoweit, als sie
nicht im Wege sein, mit ander» Worten sich nicht überfahren oder überreiten lassen
durften. Ein Blick auf deu bunten, muntern Schwarm genügte, einen, zu erklären,
warum der Stall des Fürsten nie Reitknechte oder Kutscher „suchte": er rekrutierte
sich aus sich selbst, und was er zuviel hatte, gab er an andre ab, die „suchten."
Wenn Graf Viktor da war, so galt er auf dem Stallhofe mehr als der i»
seinem Muschelwagen mit Vieren breit dahiustürmende Meergott. Er war von allen
der beste, sicherste, und was die Schonung des Pferdcmaterials anlangte, der vor¬
sichtigste Nciteri er entschied in oberster Instanz über das, was man die „Meriten"
eines Pferdes nannte, die von ihm mit einem Gaul erreichte Sprunghöhe wurde
als unübersteigliches Maximum angesehen, und was nun ihm an Äußerlichkeiten
nachmachen konnte, Haar- und Bartschnitt, Haltung des Rcitstocks, Auf- und Nieder-
beweguug beim Traben kopierte man unbesehens. Sämtliche Neitbeinkleider wäre»,
wenn er es darauf abgesehen hätte, in einer Woche eng und ..... nach einem aller¬
dings etwas längern Zeitraume — wieder weit geworden. Auch zu einen: Zopfe
würde man sich, wenn er angefangen hätte, einen zu tragen, verstanden habe».
Allerdings wegen der übrigen Prager Ställe langsam und ungern.
Die Dressur Emirs des Apfel- und Abduls des Fliegenschimmels war eine
Zeit lang Tagesgespräch. Auch die Damen und Graf Egon, den man, was das
Reiten anlangte, zu den Damen rechnete, weil er, selbst fromm, am beste» und
frommen Pferden fertig wurde, waren bisweilen mit herübergekommen und hatten
von der ..Loge" aus zugesehen. Araber sind, wenn man eine weiche Hand und ein
vornehmes Gemüt hat, außerordentlich leicht und rasch zu dressieren, was sie nicht
hindert, einen, bei der ersten Gelegenheit, wo man sie im Vertrauen auf ihren
ehrenvollen Charakter auf Trense reitet, meilenweit über Bahndämme und Mühl¬
graben weg durchzugehn, Emir, der für Komtesse Paula bestimmte Zelter, ging,
wenn er es sich und dem Reiter recht nett und behaglich machen wollte, sanft
wiegenden Paß. und Abdul hatte mit ein bischen Musik spanischen Tritt spielend
gelernt, wie ein Kind das Alphabet,
Mit der Dressur der beiden Vollblutpferde hatte nun zwar Prinz Hasse», nichts
zu thun, aber es waren doch „seine" Pferde, denn er war es. der sie in die
Bahn und zurück in den Statt brachte/ Nun kann allerdings ein Araber wie
jedes andre Pferd im Schritt in die Bahn gebracht werden, und in der Regel ist
dies ja auch der Fall, aber nach Mohrengeschmack, uach echter Mohrenart kann
das mit Schick und Anstand nicht anders geschehn als in Form einer pittoresken
Fnntasia. bei der der Mohr aus'Leibeskräfte,, renni, das von ihm geführte Pferd
ihn in möglichst tollen Sprünge» begleitet, und alles übrige „rettet, flüchtet." Wie
dem Sultan von Fez und Marokko, wenn er Gesandtschaften empfangt, im wilden
Lauf ein Heer von Pagen voranstürmt, da-? mit nichts andern, verglichen werden
kann als mit einem wild gewordnen Bienenschwarm, und wie der Hengst, auf dem
der unbeweglich vor sich hinblickende, halbverschleierte Kauf sitzt, nur dadurch einiger¬
maßen gebändigt werden kann, daß ihn uns jeder Seite des Gebisses ein baum¬
langer Schlagetot in, Zaum hält, so kamen anch Emir und Abdul, von Hassan
geführt, jedesmal wie eine Windsbraut an. Und es war nicht zu leugnen, der
Effekt dessen, was die französische Schauspielerin uno volle entree nennt, war kolossal:
Kops, Füße, Mähnen. Schweif, alles in der Luft wie eine sturmgepeitschte, das
steinige Gestade hinanfhastende Welle, und nicht neben, sondern mitten in diesen,
weißen Gischt der selbst jedesmal wieder durch deu Theatercoup wirklich erregte,
gewandte und kräftige schwarze Kerl mit der in alle Schattierungen von Gold und
'n alle Farben von Sammet und Seide schillernden Kleidung,
Diesen Theaterevnp hatte ihm Joseph el» paarmal verdorben, indem er Lord,
mit dein er den Stallhos nur betrete» durste, wenn er ihn an der Schimr hielt,
.unversehens" losgelassen hatte. Lord war jung >mo nnerfcchren. Wo gerannt
"ut nach allen vier Winde» aufgeschlagen wurde, da wollte er auch dabei sein
und mitspielen, »no wenn ihn Joseph heimtiickischerweise frei ließ, so gab es etwas
fürs Ange. Namentlich Emir, mit den, trotz der täglichen Borsührnngsfantasia, an
der er Gefälle» fand, el» Kind hätte fertig werden können, war dem Hunde gegen-
über über alle Maßen schreckhaft. Hassan meinte, er werde wohl als ganz junges
Johlen in der Wüste dabei gewesen sein, wie el» Löwe el» Pferd, vielleicht seine
Mutter angefallen habe, und könne das Gesehene noch immer nicht verwinden. Der
Hengst schien, wenn sich der Hund mit lautem Gebell, aber nur im Spiel auf ihn
zustürzte und ihm gegen den Hals und gegen die Brust sprang, jede Besinnung
z» verliere», bäumte hoch in die Luft, und ein paarmal hatte es an einem Haar
gehangen, daß er sich vor Angst und Aufregung überschlagen hatte. Schön hatte
dus auch ausgesehen, aber es war doch ein zu gefährliches Schauspiel, und was
die Hauptsache war, eins, das nicht ans den Stallhof sondern in den Zirkus ge¬
hörte. Graf Viktor hatte Joseph in sehr ernster Weise seine Meinung gesagt und
ihm das Mitbringen des Hundes el» für allemal verboten. Wenn Graf Viktor
"uf solche Weise einem Spaß ein Ende machen wollte, so wußte mau, daß es wirklich
auch damit zu Ende war, Lord hatte sich nicht wieder auf dem Stallhof gezeigt,
und wenn sich Joseph in die Nähe des schwarzen Prinze» gewagt hatte, um ihn,
auf gut Tschechisch zu versichern, daß sei» Vater el» Ehrloser und seine Mutter
eine Hündin sei, so hatte Hassan, der allerdings nur an den Gesten und am Tone
Josephs merken konnte, daß es sich nicht um Schmeicheleien und Segnungen handle,
die ihm zu Gebote stehenden Schimpfworte aus sieben Sprachen, nnter denen
Kntnvö und Li>A'rip!M() Schmeichelnamen waren, mit wahrhaft königlicher Freigebig¬
keit über den Angreifer ausgegossen.
Heute war alles nach Wunsch gegangen. Da Joseph auf den Berg zum
Prior bestellt war und deshalb weder in die Reitbahn noch auf den Stallhof
hatte kommen können, so hatten Hassans Eltern, der schwarze König und dessen
Gattin vor der Zunge des rachsüchtigen jungen Ministranten Ruhe gehabt. Die
Montenervsche Familie war etwas früher als gewöhnlich in corpore abgezogen,
denn man erwartete die Äbtissin zum zweiten Frühstück, und die Etikette verbot, die
hochgestellte und nach dem Herkommen fürstlichen Rang einnehmende Dame auch nur
eine Minute warten zu lassen. Als es zum zweitenmal läutete, waren der Fürst,
die jungen Leute und der Kaplan schon im sogenannten Lederzimmer versammelt,
und als die Gräfin mit der Äbtissin eintrat, konnte sofort zu Tisch gegangen werden.
Auch bei dieser grundsätzlich formlosen und intimen Mahlzeit war wieder alles,
womit hier im Monteneroschen Palais der etwas zu klein geratene moderne Mensch
zu thun hatte, zu stattlich und zu feierlich. Der Saal war zu groß, dessen Decke
zu hoch, der Tisch, an dem man saß, zu breit, und die von geräuschlos agierenden
Offizianten und Lakaien bewirkte Fütterung würde etwas geisterhaftes gehabt haben,
wenn sich die drei Alten, der Fürst, die Äbtissin und die Gräfin, in dieser Feierlich¬
keit und Größe nicht wie der Fisch im Wasser befunden hätten: auf sie, auf ihre Eltern,
auf ihre Großeltern war die Sache zugeschnitten gewesen; sie paßten hinein; sie
waren von Jugend auf die große Bühne gewohnt gewesen, ihre Bewegungen, ihre
Sprache waren natürlich, entsprechend und am Platze, während die jungen Leute
den Eindruck machten, als seien sie eine kleinere Bühne gewohnt, wo es mit etwas
weniger Grandezza und etwas mehr Sichgehnlassen und Witz ergötzlicher sei.
Auch Graf Egon, der neben der Äbtissin saß und sich ihrer besondern Gunst
und Gnade erfreute, machte keinen recht wohlthuenden Eindruck. Auch er gehörte
dem neuen Geschlecht an, das da, wo es sich um die leichten anmutigen Formen
der großen Geselligkeit handelt, gegen früher ein wenig zurückgegangen ist. Auch
die Gabe der fesselnden, auf den Interessenkreis des andern berechneten Unterhaltung
war ihm nicht verliehen, und die arme Äbtissin mußte ihm, sie mochte wollen oder
nicht, in alle Einzelheiten folgen, die er von der Auffindung eines illuminierten
tschechischen Missale aus dein sechzehnten Jahrhundert zu berichten für gut fand, weil
das ihn interessierte. Kirchliche Altertümer, wenn sie tschechischen Ursprungs waren,
begeisterten ihn, er sammelte solche Seltenheiten und verstand sich wirklich darauf.
Daß er bei der Äbtissin nicht dieselbe Teilnahme voraussetzen konnte, fiel ihm nicht
ein, und wenn der auf der andern Seite der Äbtissin sitzende Fürst nicht noch bei
rechter Zeit mit ein paar Stadtnenigkeiten und ein paar gutmütigen Späßen ein¬
gesprungen wäre, so würde die gute alte Dame in einen magnetischen Schlaf gefallen
sein, den man, wenn möglich, bei seinen Tischgästen vermeidet. Als sie sich beim
Dessert durch ein mächtiges Glas Madeira — via ana är)' — wieder etwas ge¬
stärkt hatte, veranlaßte sie den Kaplan, das Dankgebet zu sprechen, und entführte
nach ausgehöhlter Tafel den Grafen Egon in den Wintergarten, wo sie, von Ka¬
melien und tropischen Pflanzen umgeben, Privataudienzen zu erteilen und ihr Nach¬
mittagsschläfchen zu halten pflegte.
Der Graf, der sich für alle Fälle mit einem tüchtigen Glas desselben köstlichen
Weins für die Strapazen einer neuen Redekampagne gerüstet hatte, saß zu ihre»
Füßen auf einem niedrigen Korbstnhl in der seelischen Verfassung eines Lcibmopses,
der sich geliebt weiß und in seligem Nirwana die streichelnde Hand erwartet.
Sie sind nicht herzlich, nicht innig, nicht zärtlich genug, Egon, sagte die Äb¬
tissin, seine Schulter mit ihrer noch immer schönen, wenngleich etwas zu vollen
Hand berührend.
Der Schreck, den der Graf über diesen Vorwurf und über das, was nun folgen
konnte, empfand, malte sich zu deutlich in seinen Züge», als daß die Äbtissin sich
nicht hätte bemühen sollen, ihn einigermaßen zu beruhigen. Ich spreche, sagte sie,
von der Art und Weise, in der Sie unsrer lieben Paula begegnen. Es fehlt Ihnen
an Feuer, um Leidenschaft.
Ja, darin hatte die Äbtissin Recht, Wo es sich nicht um kirchliche Altertümer
tschechischen Ursprungs handelte, fehlte ihm die Begeistrung. Der geistliche Herr,
der mit seiner Erziehung betraut gewesen war, hatte alles, was wie Phantasie und
Herz aussah, unbarmherzig beseitigt, und an dessen Statt blinden Glauben und
Kadavergehorsam gesetzt. Er war sehr stolz auf sein Werk gewesen und hatte die
Erziehung des Grafen für sein gelungenstes Werk angesehen. Und nun verlangte
'"ein plötzlich von dem Grafen Gefühl, Feuer, Leidenschaft. Er empfand, daß das
unter den gegebnen Umständen eine unbillige Forderung war, und daß das Loblied
der Venus Amathnsia, zu dem sich die würdige Dame anzuschicken schien, im Munde
ewer Frau von der Stellung seiner Gönnerin etwas sonderbares hatte. Er seufzte
""d schwieg.
Wenn Sie Paula gewinnen wollen, fuhr die Äbtissin fort, der es um den
Zweck, den sie erreichen wollte, zu thun war, und die mit echt weiblichem Ver¬
ständnis recht wohl sah, was allein zu dessen Förderung dienen konnte, wenn Sie
Paula gewinnen wollen, müssen Sie ihr von Ihrer Liebe zu ihr reden. Ihr Blick
muß Sie verraten, Sie müssen unruhig ihre Nahe suchen, sich bemühen, ihre Hand
zu fassen, sie in Ihre Arme schließen.' Paula hat kein Verständnis für kirchliche
Altertümer, keine Freude daran. Ich selbst, Egon — das Missale von heute mittag
uwchte ihr die Augen geöffnet haben > verstehe nicht viel davon, schwärme nicht
dafür, wie sollte Paula, die doch wie andre junge Mädchen ist, an so etwas Alter¬
tümlichem Gefallen finden.
Aber, hochwürdigste Tante, das Missale ist wirklich einzig in seiner Art.
Für Sie, Egon, nicht für uns Frauen. Da hat Viktor viel besser den Weg
on Paulas Herzen gefunden.
Mit dem Apfelschimmel? Meinen Sie das, hochwürdigste Tante?
Ach, larifari, armes Kind! Geschenke empfangen wir Frauen ja doch nur von
denen gern, denen wir ohnehin gut sind.
Aber, wie wissen Sie denn alles das, Tante? platzte hier der Graf heraus,
^avon steht doch in keinem Buche etwas, und Ihre Schciflein werden ihrer Ober-
Nrtin von dein, was sie davon wissen, doch auch keine Mitteilung gemacht haben!
Daß sie, wie jedes andre Menschenkind, auch selbst Erjahrnngen gemacht hatte,
langen Jahren, als sie noch jung und schön war wie Paula, Erfahrungen, mit
^enen die Kirche nichts zu thun gehabt hatte, konnte sie freilich einem Neffen nicht
l!Ut erzählen, am »venigsten so einem, dem das natürliche, entgegenkommende Ver¬
ständnis für dergleichen ein wenig zu fehlen schien. Sollte doch die Erziehung, die
Man dem Grafen gegeben hatte, nicht ganz das richtige getroffen haben? War es
"" ihr, nachzuholen, was versäumt worden war? Daß man nicht von dem ersten
esten Stück Eisen, das einem unter die Hände kommt, erwarten kann, es werde
"es Magnet dienen, fiel ihr nicht ein. Aber es dämmerte doch so etwas in ihr
"uf, als wenn Graf Egon in Paulas Fall nicht ganz der richtige Schäfer wäre, und
" s ob Graf Viktor schon einen zu großen Bvrsprnng vor ihm hätte, als daß auch
'uit Zärtlichkeit und Feuer noch etwas z» machen wäre. Vielleicht war es ihr aber
"och möglich, Paula das Heiraten überhaupt auszureden und sie zum Eintritt
"6 Stift zu bewegen. Wenn sie nur ein wenig mehr von den Absichten des Fürsten
"egen seiner letztwillige» Verfügungen gewußt hätte!
link Sie es gut sein. Egon, sagte sie, und vergessen Sie, ums ich gesagt
n?^' Ihnen das Missale mehr am Herzen liegt, und das thut es doch,
uuyt wahr?
Der Graf sagte nicht nein . . .
Mi« 'se das ja von der Vorsehung sehr gut und weise eingerichtet, denn das
Ilale haben Sie, und Paula bekommen Sie doch nun und »immermehr. So, und
»n werde ich noch ein wenig »nahte»ke».
Der Fürst hatte die Gräfin mit zu sich in sein Kabinett genommen, und daß
er die zweite Thür nach'! seinem Salon, die er hinter der ersten hatte anbringen
lassen, auch noch verschloß, bewies der Gräfin, daß es ernste und wichtige Dinge zu
besprechen gab. Sie hatte sich mit ihrer Arbeit auf ihren gewöhnlichen niedrigen Lehn¬
stuhl am Kamin gesetzt, er nahm ihr gegenüber Platz, schürte das Feuer etwas an
und sagte- Ich bin Ihnen eine Mitteilung schuldig, liebe Mine; ich habe vor
einigen Tagen mein Testament gemacht, und da das auch für Sie und Ihre
Tochter nicht ganz ohne Bedeutung ist, so möchte ich nicht, daß Sie durch Dritte
davon erführen oder gar erst nach meinem Tode bei Lösung der Siegel , , ,
Ach nein, liebe (Mine, darin täuscht Sie Ihre Anhänglichkeit an mich. Das
mir gesteckte Ziel ist nicht mehr fern, und wie mit Recht gesagt wird, der letzte
Wille hat noch keinen ums Leben gebracht. Aber ehe wir hiervon reden, wollen
Sie mir eine offenherzige Frage erlauben, eine Frage, die Sie nicht für unbe¬
scheiden ansehen werden, weil Sie wissen, wie sehr ich Ihnen und Paula zugethan
bin? Hat Paula über ihre Zukunft bestimmt, haben Sie in dieser Beziehung besondre
Absichten und Wünsche? . . .
Viktor? Sie glauben, sie liebe Viktor, und Sie denken, es werde doch über
kurz oder lang mit einer Heirat beider enden? . . .
Sie fürchten, ich mache Ihnen aus Ihrer Bereitwilligkeit, nachzugeben, eine»
Vorwurf? Einen Vorwurf, weil Viktor ein Freigeist und schon längst nur noch
dein Namen nach ein Katholik ist? . . .
Ich will mich Ihnen gegenüber über diesen Punkt ganz offen anssprechen-
aber nicht wahr, beste Cüline, was ich Ihnen hier sage, bleibt unter uns? Ich
habe dem Kardinal nnter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt, wie ich ver¬
fügt habe, und ich glaube, er ist mit mir einverstanden, obwohl ihm seine Stellung
verbietet, das in klaren Worten zu sagen.
Sehen Sie, liebe Celine, ich habe mein Lebe» laug geistliche und weltliche
Dinge getrennt, und das ist der große Vorwurf, den mir die Kirche macht. Was
ich für Viktors Seelenheil und Seelenfrieden wünschen würde, ist etwas für sich-
Es ist einem natürlich, daß man denkt, was einem Glück und Frieden gebracht hat,
muß das geeignetste sein, auch deuen Glück und Frieden zu bringen, die man liebt-
Aber ich habe längst eingesehen, daß wir Menschen auch hierin verschieden sind, und
daß wir weise handeln, wenn wir es Gott überlassen, ans welchem Wege er jeden
von uus zu sich führen will.¬
Aber mit der Frage, wie jemand in geistlichen Dingen denkt, hat meine Ent
schließung, ob ich ihn zum Erben meines Vermögens machen will oder nicht, nichts
zu thun. Für die Kirche ist in unserm Lande ohnehin reichlich gesorgt, und daß
es Viktor auf unserm Besitze an gut dotierte« Kirchen und Schulen nie wird fehlen
lassen, das weiß ich. Auch davon bin ich überzeugt, daß Ihre Interessen, Mine,
bei ihm in den besten Händen sind. Ich habe ihn zu meinem Universalerben ein¬
gesetzt. Sie, liebe Mine, werden von den, Fahrgeld, das ich für Sie bestimmt
habe, nach wie vor, das weiß ich, den besten Teil an die Armen und Notleidenden
geben. Wenn, wie Sie eben sagten, die beiden ein Paar würden, wenn sie d"s
würden mit Ihrer freudigen und herzlichen Zustimmung, so wäre damit jeder Wunsch,
den ich hier noch haben könnte, erfüllt.
Und die beiden, Viktor und Paula? Die waren zusammen in den Park ge¬
gangen um - Tannenzapfen zu suchen. Das war ungefähr noch das einzige, was
um diese Jahreszeit ein verliebtes Paar im Freien suchen konnte, und das Tannen¬
wäldchen, wo man die meisten und schönsten zu finden hoffte, war ganz am andern
Mioe des Parks, über dem kleine» Hügel drüben, wo niemals jemand hinkam,
wenn es nicht die Jungen waren, um da Räuber und Gendarmen zu spielen.e-
Und dn hatte denn Viktor, als es ihm klar war, daß er nicht vergeblich g
hatte ....... der Beweis dafür war so entzückend, daß er nicht oft genug mit
Mica Kuß »ach den» andern und einer Umarmung über die andre wiederholt werden
kannte —, etwas spät die Ketzerfrage aufs Tapet gebracht und sich über seinen
Glauben an eine individuelle Offenbarung ausgesprochen.
Dein Glaube, Herzenskind, sagte er, länft mit mir nicht die mindeste Gefahr,
dein, ich achte und ehre jede persönliche Überzeugung, ich beuge wich ehrfurchtsvoll
^or jede,! Form der Gottesverehrung. die auf der Vorstellung eines höchsten voll--
wnunnen Wesens bericht. Was du'glaubst, was du glauben willst oder glauben
kannst, ist deine Sache, Ju dem einen Hauptpunkte, daß Gott unser liebender Vater
^se, und daß wir ihm dafür, wie wir um unsern Brüdern handeln, verantwortlich
W>d, sind wir doch ohnehin mit einander einig. Alles weitere wollen wir im Geiste
der Liebe und Duldsamkeit so ausgleichen, daß es gewiß nie ein Ärgernis geben wird.
Und die Messe wirst dn regelmäßig besuchen? fragte Paula, dem zu allem
breiten die Hand drückend.
Graf Viktor mochte an den verschmitzten BSnruer denken — und auch der war
Wießlich doch der von seineu tvusurierten Feinden geleiteten Mörderhand erlegen,
>;ni, er würde die Messe regelmäßig besuchen und sich jedem vorgeschriebnen Brauche
fügen. Er Hütte vielleicht auch noch mehr versprochen, wenn mau ihm das Ver¬
brechen in Amors Namen abverlangt hätte. Ganz bei Besinnung ist in solchen
Augenblicken doch keiner, und Versprechungen, für die man im nächsten Moment
'"'t einem Kusse belohnt zu werden hofft, wiegen keinem besonders schwer.
Und den Kaplan, Viktor?
Den lassen wir dem Onkel, Der hat bisher immer mit dieser Perle fertig
M werden yerstanden. Und für uns nehmen wir einen frommen, friedliebenden
-.cultu, dem eS mehr um die Ausbreitung des unsichtbaren Reiches Gottes auf
^rden als um die weltliche Macht und den Reichtum der Kirche zu thun ist; einen,
er uur daran denkt, zu raten, zu helfen und zu trösten, und der nicht vor allen
^ngen darauf aus ist, uus Laien das schwere Joch Roms auf die Schultern zu
^lien, uns unter dessen geistige wie leibliche Thrnnuei zu beugen.'
Und die heiligen Väter,Viktor?
Die halten wir uus zehn Schritt vom Leibe, , ,
Das schien Komtesse Paula in der Gemütsverfassung, in der sie sich befand,
^ehe ausführbar. Was waren denn all diese klugen und beharrlichen schwarzen
'Perren, wenn sie Viktor den Siegreichen gegen sie hielt, Viktor, der von nun an
?)nzig und allein in ihrem Herzen »vollen und gebieten würde? Auch das gestaltete
und im Lcinfe der Zeiten etwas weniger rosig, als sich ihr die Aussicht darauf im
Zauberischen Lichte der alles verklärenden Gegenwart gezeigt hatte. Aber — das
'kgt freilich schon außerhalb des Rahmens unsrer Erzählung — sie sich vom Leibe
zu halten, gelang schließlich in der Hauptsache doch, wenn auch uicht gerade volle
zehn Schritt, wie der junge Held so zuversichtlich behauptet hatte,
Als Joseph vom Berge zurückkam, war alles wieder still und alltäglich qc-
""rden. sodaß er nichts merkte. Im Kamin verbrannte Komtesse Paula Tannen-
"">-'se», einen nach dem andern, sieben, soviel hatten sie gefunden. Ob die gnädige
- ointesse mehr Tannenzapfen »volle, hatte der umherschleichende Kater gefragt, im
^°lzstall unter lägen sie körbeweise. Aber Komtesse Paula hatte diesen Vorschlag
nahe mit Entrüstung zurückgewiesen! vielleicht ist es ein heiliger Zauber, dachte
^°>eph, „ut es dürfen bloß sieben sein, wenn es helfen soll,
, Auch die Äbtissin war nach einem erquickenden Schlummer uuter Palmen zu
zu si ^"i^er zurückgekehrt, mit denen sie uur vom Glück der himmlischen Liebe
niet^ brauchte. Da war vornehme Salbung immer um Platz, und man war
ge» s ""gesetzt, sich mit gewagten Ratschlägen, die wie die dem Grafen
geölten ein wenig nach weltlicher Kuppelei schmeckten, die Zunge zu verbrennen.
G . Joseph war von der Leutseligkeit und der hohen Einsicht des Priors im höchsten
"de erbaut und entzückt. Ja, das war ein Mann, Das war einer, der dus
Gras wachsen hörte, und der für alles Rat wußte. Einer, der einem nicht erst
ausdrücklich zu sagen brauchte, thue das, thue jenes, sondern der es einem nur so
ganz von ungefähr nahe legte, wie man es anfangen könne, um an so einem elende»
schwarzen Mädchcnjciger, so einem Hunde sein Mütchen zu kühlen, ohne daß einem
jemand dafür etwas anhaben konnte. Wäre er von allein und ohne des Priors
Hilfe auf so einen kluge» Gedanken gekommen? Nein, ganz gewiß nicht. Und
auch darin hatte der Prior recht, es mußte gleich geschehn, ehe der Mohr getauft
war; denn sowie er getauft war, durfte ihm der Prior — das hatte er so schön
und so salbungsvoll auseinandergesetzt — als Christen nur Gutes nud segensreiches
wünschen.
Gleich bei seiner Rückkehr vom Berge hatte er auf den Rat des Priors scheinbar
Frieden mit dem schwarzen Nebenbuhler geschlossen, um ihn desto sichrer verderbe»
zu können, und die Versöhnungskomödie hatte, wie ihm von dem Prior gleichfalls
in Aussicht gestellt worden war, gleich in der ersten Stunde für das Nachrichten¬
wesen gute Früchte getragen. Der Mohr, der nicht nachträglich war und — zu
Bozenkas*) ewiger Schande sei es gesagt — leinen Grund hatte, den weißen Neben¬
buhler zu hassen, hatte ihm erzählt, daß der Fürst und Graf Viktor morgen auf
den beiden Arabern nach Vysocän reiten wollten. Der Fürst nahm natürlich einen
seiner Reitknechte mit, der Bassah Conde ihn, den Mohren. 'Uol-un pnsecko «eliiu-nM'!
Ein Ausruf des Stolzes und der übermütigen Frende,
Was wollen sie in Vysoeän. Sohn der Hölle, hatte Joseph gefragt. Den
Schmeichelnciinen hatte er auf Tschechisch gesagt, und das hatte dem Mohren so weich
geklungen wie Gulnarens Küsse. Für den Ausdruck kameradschaftlichen Wohlwollens
hatte er diesen tschechischen „Sohn der Hölle" gehalten.
UfMseiivK somieM (Herzensbruder), jagen werden sie, und abends oder in der
Nacht nach dem Diner heinireiten.
Wie günstig wäre die Gelegenheit gewesen, einen Plan auszuführen, auf den
ihn die Fragen des Priors gebracht hatten, wenn den Emir statt des Grafen der
Schwarze geritten hätte. Er, Joseph, hätte sich unter irgend einem Vorwande nuf
der dem Stifte gehörigen Meierei Kolokno, die auf der Vysvenner Straße keine
anderthnlbe Stunde von Prag lag, aufhalten und den Hund, der ihm überallhin
folgte, bei nächtlichem Dunkel auf den Schimmel des im Gefolge seines Herrn vor¬
beireitenden Mohren loslassen können. Wenn der Kerl mit einem gebrochnen Bei»
oder einer ausgefallneu Kugel davon gekommen wäre, so hätte er für die Qualen,
mit denen er ein verliebtes Christenherz gemartert hatte, den verdienten Lohn ge¬
habt. So mußte man eine andre Gelegenheit abwarten, wo der Mohr nur mit
seinem Herrn einen Ausflug machen und dabei vielleicht den Apfelschimmel reiten
würde.
Wie vom Donner gerührt und zu Tode erschrocken war er, als ihm noch
demselben Abend der Mohr, der eben aus dem Zimmer des Kaplcms kam, niitteilte,
der Fürst und der Graf würden morgen nach dem Diner z» Wagen nach Pr"n
heimkehren und ihre Pferde an der Hand zurückschicken.
Geht er gut zur Hand, der Emir? fragte Joseph mit vor Aufregung zitternder
Stinime.
Zur Hand geht er gar nicht, molisedslc somisäk, aber die kleine Fuchsstute,
die ich hinwärts reiten werde, geht gut zur Hand, und den Emir werde ich selb!
heimreiten. Ans dem sitzt sichs wie in einer Wiege, Kolonie» masebol (das kann,
du mir glauben)!
Woher weißt du, daß sie zurück fahren?
Der Pater hat es mir eben gesagt, aber ich soll davon schweigen. Er sagt,
sie brauchen unten im Stalle nichts davon zu wissen. Hnssan weiß zu gehorchen.
Morgen! Joseph hätte es lieber gesehen, wenn die Sache nicht so kurz an¬
gerannt gewesen wäre, wenn er sie sich ein paar Tage hätte überlegen können.
Würde es mit dem Hengst, der so jäh stieg, daß er sich nur durch ein wahres
Wunder uoch nicht überschlagen hatte, und dessen Bewegungen im Schreck und in
der Angst blitzschnell und unberechenbar wie die eines Aales waren, nicht ein größeres
Unglück geben als das, wils er dem Mohren als tückischem und glücklichem Neben¬
buhler zugedacht hatte? War es nicht doch vielleicht besser, eine andre Gelegenheit
"bzuwnrten, wo man wenigstens genan wußte, was man that, und wo dem Zufall
nicht Thor und Thür geöffnet waren?
Gerade als er am unschlüssigsten war und, die Stirn gegen die kalte Scheibe
gepreßt, durch eines der hohen Korridorfenster in die Nacht hinaussah, hörte er,
wie der Kaplnn nach ihm rief. Er solle sich einrichten, morgen zur Weinlese nach
Kvlokno hinauszugehn. sagte ihm der Kaplan, da werde es tüchtig zu thun und
abends Musik und Essen geben. Der Prior habe ihm eben darum geschrieben, und
er, der Pater, werde mit der Gräfin Rücksprache nehmen, damit er sich gleich nach
der Frühmesse aufmachen könne. Wenn er nur am andern Tage zur Messe wieder
da sei, so werde es keine Not haben.
Wie hatte sich Joseph bisher auf diese Lese gefreut. Und nun lag ihm
der nächste Tag wie ein Stein auf dem Herzen. Aber er wollte „es" lieber doch
nicht thun. Er wollte ohne Lord gehn. Damit war jeder weitern Versuchung
vorgebeugt. Am andern Tage hatte er sich auch wirklich ohne den Hund, den er
sorgfältig eingesperrt hatte, ans den Weg gemacht, als ihm dieser — er war schon
draußen in der Vorstadt — in großen Sprüngen nachgesetzt kam. Nun in Gottes,
er hätte sagen sollen: in des Teufels Namen! Aber wer konnte den Hund heraus-
gelassen haben?
Eine kalte, dunkle Herbsinacht. Der Prior sollte beim Kardinal zu Abend
essen. Er wartete auf den Wagen, der ihn ins Fürsterzbischöfliche Palais bringen
sollte. Er war allein. Allein mit seinem Gewissen. Dessen leise, eindringliche
Stimme kam aus denselben unergründeten und unergründlichen Tiefen, aus denen,
wie Graf Viktor glaubte, dem Menschen auch hie und da die Gabe kam, Über¬
natürliches zu fassen und sich dafür zu begeistern. Mit seinem Gewissen stand der
Prior ans einem kühlen, korrekte» Fuße. Er wußte besser als dieses, was recht war,
und was er zu thun hatte, und er nahm, wenn es vorlaut sprach, die Gelegenheit
wahr, es zu' belehren. Und sonderbar, wenn er sich dabei in die offenbarsten
Widersprüche verwickelte, merkte er es nicht, und sein Gewissen, das ihn und seine
Kasuistik längst satt haben mochte, gab dann jedes weitere Zureden oder Abmahueu
"uf. Wenn man durch an sich unverfängliche Handlungen ein Ereignis herbei¬
führte, dessen Eintritt und Ausgang noch immer vom Zufall abhing, so war man
ohne Schuld, sobald man das Ereignis nicht gewollt, sondern nur als möglich und
sehr wahrscheinlich angesehen hatte. Der überlegne Kasuist wußte sich der aus¬
drücklichen Absicht zu enthalten und begnügte sich mit den, wunschlosen Abwarten,
ob das Ereignis eintreten werde oder nicht. Damit wäre an sich, sollte man
meinen, dem Gewissen gegenüber der Beweis geführt gewesen, daß einem jede be¬
denkliche Absicht fern lag.' Und doch konnte sich der Prior nicht enthalten, seinem
Gewissen im nächsten Augenblick auseinanderzusetzen, daß er das Ereignis, das er
für möglich und wahrscheinlich halte, im Interesse der heiligen Mutter Kirche
herbeizuwünschen verpflichtet sei. Nur wenn es eintrat, konnte ihr schwere Ein¬
buße an Einfluß, an Reichtum und Länderbesitz erspart werden. Es war ihr gegen¬
über seine Pflicht gewesen, die Konstellation, wie sie war, herbeizuführen, es war
ehr gegenüber seine Pflicht, zu wünschen, daß der Ansgnng ein für sie günstiger
Er hatte recht und weise gehandelt, und sie war ihm Dank schuldig. Er
hoffte, das kleinere Übel werde geschehn und so ein größeres verhüten. Das Übel,
das die Kirche bedrohte, war immer als das größere anzusehen. Menschenleben
waren Sandkörner, die der Wind verwehte, und inmitten deren der Fels Petri
fest und für die Ewigkeit gegründet stand. Wieder die blinde Vermessenheit, die
den Fanatiker antreibt, der leitenden und richtenden Hand der Vorsehung vorzu¬
greifen und an Stelle von deren Allwissenheit und Gnade sein eignes kurzsichtiges
Urteil und das seiner Meinungsgenossen zu setzen.
Beim Kardinal fand der Prior den Grafen Egon, und man saß noch beim
Mahl, als der Kammerdiener diesem etwas ins Ohr flüsterte.
Der Kaplan ist da, sagte der Graf, und läßt mich wissen, daß er mich sogleich
sprechen muß.
Jemand, der mit dem Kardinal bei Tisch saß, ohne zwingende Notwendig¬
keit herausrufen zu lassen, konnte dem Pater Aloysius nicht einfallen. Der Graf
eilte zu ihm hinaus und kehrte im nächsten Augenblick leichenblaß und verstört mit
ihm ins Speisezimmer zurück.
Es ist ein großes Unglück geschehn, Vincenz, stammelte der Graf. Das
Pferd des Fürsten hat sich überschlagen, und der Fürst ist tot: er hat das Genick
gebrochen.
Der Fürst? fragte der Prior, als wenn sich der Graf versprochen habe, und
als wenn er, der Prior, vom Tode eiues andern zu hören gefaßt gewesen sei.
Der Reitknecht ist eben angekommen, sagte der Kaplan, um einen Wagen zu
holen, und die Gräfin bittet den Herrn Grafen mit hinauszufahren, um dem Grafen
Viktor, der die Leiche hereinbringen wird, beizustehn.
Bester Kaplan, sagte der Kardinal, melden Sie der Gräfin, daß ich an¬
spannen lasse und in einer Viertelstunde bei ihr sein werde.
Beim Hinausgehn hatte der Prior dem Kaplan noch zuflüstern können: Sorgen
Sie vor allem dafür, daß der Junge nus keine Ungelegenheiten macht. Niemand
darf etwas davon erfahren, daß er geglaubt hat, die Herren seien nach der Stadt
zurückgefahren, und der Mohr sitze auf dem Schimmel. Er muß überhaupt von
nichts wissen. Das Ganze ist nur ein Unglücksfall gewesen wie jeder andre: es
hat niemand die Hand dabei im Spiel gehabt.
Doch, es hatte einer die Hand im Spiel gehabt, dem der Prior alles zu
überlassen versäumt hatte, weil er sich selbst zuviel zutraute und zu sehr mit der
Kirche und deren weltlichen Interessen beschäftigt war. Ihr gegenüber — und
das war ihm die Hauptsache — traf ihn keine Schuld. Wie hätte er voraus¬
sehen können, daß Graf Viktor dem Fürsten für den Heimritt zu dem weichen
Paßgänger zureden, und daß dieser und nicht der Graf im entscheidenden Augen¬
blicke auf dem schreckhaften und dann schwer zu bewältigenden Hengste sitzen würde?
Mehrere Jahre waren seitdem vergangen, als mich an einem schwülen Sommer¬
tag ein gewaltiger Platzregen oben aus dem Hradschin überraschte. Ich war, von
dem Palais Toskana herkommend, nicht vorn an dein reizenden Brunnen mit der
Statue des den Lindwurm vom Pferd herab bekämpfenden heiligen Georg vorbei,
sondern hinter dem Se. Veitsdom weg an den Häusern hingegangen, die zum Kapitel
gehörend dem Domplatz ein ziemlich ernstes und griesgrämliches Gesicht zuwenden,
sich dafür aber nach der andern Seite hin durch eine herrliche Aussicht über alte be¬
wachsene Gräben hinweg in die blaue Ferne der Moldauuiederung entschädigen. Ein
klerikal aussehender, wohlbeleibter Offiziant, der in der offnen Hausthür stand und sich
an demi herabstürzenden Regen, der ihm nichts anhaben konnte, weidete, hatte Mit¬
leid mit mir und hieß mich untertreten. Gesehen hatte ich den Mann, seitdem
ich wieder in Prag war, noch nicht, aber es dämmerte mir. als müßte ich früher
mit ihm zusammengekommen sein. Er wolle ins Haus gehn, hatte er mir gesagt:
ich solle nicht weggehn, bis er wiederkomme. Da könne, wenn ich Wache stehn
Wolle, die Hausthür inzwischen offen bleiben. Als er nach einer Weile zurückkam,
sah ich am Ende des Korridors eine Gestalt, die eine Soutane trug. Der geistliche
Herr, den ich nur wie einen Schatten gesehen hatte, verschwand, kam aber wieder
und lud mich ein, einzutreten. In einem sehr behaglichen Parterrezimmer mit der
Aussicht auf die Gärten saß Graf Egon. Auch er war im geistlichen Gewände,
und vor ihm auf dem Tisch lagen allerhand alte Schwarten und Manuskripte.
Der Herr in der Soutane, den ich im Gang gesehen hatte, war Pater Aloysius,
und die menschenfreundliche Seele, der ich meine Rettung aus der Sündflut verdankte,
der gute, dicke Joseph. Das Haar war ihm noch immer tief in die Stirn hinein¬
gewachsen und machte, daß er wie ein Kapuzineräffcheu aussah. Alle drei schienen
glücklich und zufrieden zu sein und sahen wohlgenährt und behäbig aus. Deu
frühen Tod des Kardinals konnte ich mit ihnen nur aufrichtigst beklagen; daß es
dem inzwischen verheirateten Fürsten Viktor und dessen Tante gut ging, wußte ich,
auch daß der Prior und die Äbtissin nicht mehr da waren. Es blieb mir nur
»och übrig, uach Hassan zu fragen. Witz und gute Laune hatte ich früher an
dem Grafen Egon nicht gekannt. Er stand auf und holte aus einem der rings¬
herumstehenden Bibliothekschränke ein Buch, dessen etwas wie Milchkaffee gefärbten
Rücken ich mir betrachten mußte. Aller zehn Monate eins oder zwei von der
Farbe, sagte er, und die beiden Herren wollten sich vor Lachen ausschütten. Bozenka?
fragte ich, um ganz sicher zu gehn.
Nun freilich, Bozenka, die ganz dick und rund geworden ist.
Und was sagt denn Joseph dazu?
Der vertritt uns, wenn wir bei den kaffeefarbnen Kindern Pate stehn.
Die Aufsätze über Rußland, die Ernst
von der Brügger in den Grenzboten veröffentlicht hat, waren Teile einer größern
Arbeit, die jetzt unter dem Titel: Das heutige Nußland, Kulturstudien von E.
v- d. B. bei Veit Co. in Leipzig erschienen ist. Wir würden gewünscht haben,
daß der Verfasser noch einige weitere Abschnitte seines Werkes in den Grenzboten
hätte abdrucken lassen, z. B. die Schilderung des materiellen Elends des Bauern
S. 122 ff., seines geistigen Elends S. 133 ff., seine Charakteristik auf S. 151, wenn
nicht zu fürchten gewesen wäre, daß dann mancher Leser ans die Anschaffung des
Buches verzichtet hätte, weil er den Hauptinhalt zu kennen glaubte. Bei dem ge¬
waltigen Einfluß aber, den die Zustände des Nachbarreichs auf unsre eignen Ge-
!chicke üben, müssen wir wünschen, daß das Buch die weiteste Verbreitung finde
u»d von möglichst vielen Deutschen ganz gelesen werde.
Über Rußland ist in deu letzten Jahren von Russen und Nichtrussen so viel
geschrieben worden, und die Schilderungen und Urteile aller Beobachter und Be¬
richterstatter, auch die der Zettungen aller Parteien, stimmen so vollkommen mit¬
einander überein, daß wir uns vom heutigen Rußland ein ganz klares Bild machen
Wurm, an dessen Treue und Zuverlässigkeit wir nicht zu zweifeln brauchen. Bei
von der Brügger finden wir dieses Bild fertig und vollständig, bis in die kleinsten
Einzelheiten von Meisterhand und mit einer Wärme und lebhaften Farbengebung
gemalt, zu der nur die persönliche Anschauung befähigen konnte. Wir versuchen,
„Hauptergebnisse seiner Forschungen in wenig Sätzen zusammenzufassen. Das
russische Volk hat weder eigne Kultur zu schaffen noch sich die von Westen ein¬
geführte anzueignen vermocht. Es vegetiert in materiellem Elend, in tiefer Un-
wissenden und in einem Zustande sittlicher Verwilderung, der mit dem Elend zu¬
sammen Fäulnis erzeugt und die Existenz des Volles bedroht; die frühere starke
Bevölkerungszunahme stockt. Es fehlt dem Russen nicht an guten Anlagen, aber
seine Willensschwäche und die äußern Umstände hindern ihn, sie zu entfalten und
davon Gebrauch zu machen. Unter den äußern Umständen ist der schlimmste eine
Regierung, die im Streben nach äußerer Macht und äußern: Glänze, statt dem
Volke bei seinem vielfach erwachten Kulturstreben behilflich zu sein, dieses unter¬
drückt und die Unterthanen durch unvernünftige Steuern bis zur Entziehung der
notwendigsten Nahrungsmittel ausplündert, um diesen Raub nebst den in Frank¬
reich zusammengeborgten Geldern ans Kriegsherr und Flotte, auf Eroberungen
und auf eine Kolonisation zu verwenden, die möglicherweise den Chinesen, den
Japanern, den Amerikanern und allen unternehmenden europäischen Nationen, aber
nimmermehr den Russen zu gute kommen werden. Mit dieser widersinnigen Politik,
die jetzt in Wildes Finanzkünsten v-z, baucius spielt, hat sich in den letzten Jahr¬
zehnten ein nicht weniger widersinniger Nationalismus und Orthodoxismus ver¬
bündet. Die Regierung baut Kirchen und stattet Geistliche mit guten Pfründen
aus, um in den Greuzprovinzen Katholiken, Protestanten und Buddhisten zu be¬
kehren, läßt dafür aber im Innern Rußlands die Popen der orthodoxen Kirche
verlumpen und hat kein Geld für Schulen und Volksschullehrer. Alle Keime und
alle blühenden Pflanzstätten geistigen Lebens bei den russischen Sektierern, im
protestantischen Finnland und Baltenland vernichtet sie. Die in der kurzen Periode
der Reformen eingeführte Selbstverwaltung der Landschaften wird wieder unter¬
drückt zu Gunsten des Tschin, der bestechlichen und faulen Bureaukratie, die Auf¬
lehnung gegen ihre Willkürherrschaft und ihr unbequeme provinzielle Verschieden¬
heiten nicht duldet. Ruft der gute Wille des Volks oder Einzelner irgendwo auf
irgend einem Gebiete, z. B. auf dein der Volksbildung, nützliche Einrichtungen her¬
vor, so werden diese nicht etwa vom Beamtentum auch in andern Gegenden ein¬
geführt, sondern als Störungen der bequemen Uniformität schleunigst unterdrückt.
Die schier unlösbaren Schwierigkeiten einer Reform auch in dem Falle, daß der
gute Wille dazu oben vorhanden wäre, werden im Schlußkapitel: „Verfassungs¬
fragen" erörtert, und im Vorwort wird bemerkt, wir Deutschen hegten nur freund¬
liche Wünsche für Rußland: der deutsche Industrielle wünsche den großen Nachbar
kaufkräftig, der deutsche Agrarier wünsche, daß sich der russische Bauer satt esse,
statt sein Korn über die Grenze zu schicken, aber die Lage Rußlands sei nicht derart,
daß wir uns Erfüllung dieser Wünsche versprechen dürften.
Graf Alexander Keyserling ist der gelehrten
Welt namentlich als Geognost und Paläontologe, sowie als geistvoller, bahnbrechender
Forscher auf dem Gebiete der Pflanzenkunde und der Zoologie bekannt. Eine
„Lebensskizze," von seinem inzwischen verstorbnen Sohne Grafen Leo Keyserling ver¬
faßt und nebst einzelnen Tagebuchblttttern im Jahre 1894 bei Cotta erschiene»,
hatte in großen Zügen mit den Lebensschicksalen und Leistungen des außergewöhnlich
begabten Maunes auch die bekannt gemacht, die den vom Grafen Alexander ge¬
förderten besondern Wissenszweigen ferner standen. Das vor kurzem im Verlage
vou Georg Reimer, Berlin, erschienene, von der Tochter aus Briefen und Tagebuch¬
blättern zusammengestellte ausgeführtere „Lebensbild""') vervollständigt in erfreulicher
Weise die Skizze des Sohnes: es ist in jeder Beziehung ein empfehlenswertes und
ausgezeichnetes Buch.
Zu der edeln und wahrhaft vornehmen Gestalt, die uns Freifrau von Taubers
Buch zeigt, konnte sie freilich nichts hinzuthun, und eines belebenden oder gar ver-
adelnden Zusatzes bedürfte es mich in der That nicht. Denn ihr Vater ist ein
^ter, feiner, gewissenhafter und geistig bedeutender Mann gewesen, der sich nur
Zu zeigen braucht, wie er ist, damit man ihn schätzt und verehrt und sich an seiner
Weisheit und seinem Beispiel aufrichtet und erbaut. Aber bei der Zusammenstellung
"er Mosaikbruchstückc, aus denen ein solches „Lebensbild" besteht, sind doch auch
Abständige Beiträge nötig, die mitunter mehr als man glaubt für den Eindruck
des Ganzen von Bedeutung sind. Da kann man denn die lesende Welt nur be¬
glückwünschen, daß sich eine Fran, die es auf den am schwersten zugänglichen Gebieten
"anschlichen Wissens und Urteils mit so manchem hochgebildeten Mann ausnehmen
rann, der an sich nicht leichten, aber ihrem liebenden und verehrenden Tochter-
Herzen willkommen gewesenen Arbeit einer solchen Zusnmmenstelluug unterzogen hat.
Es ist auf diese Weise ein Buch entstanden, wie man es homogener, korrekter,
wohlthuender und befriedigender nicht wünschen kann. In den baltischen Provinzen
wird es so leicht in keinem Gelehrtenzimmer, in keiner Gntsbibliothel fehlen dürfen,
""er auch für uns in Deutschland ist es von allgemeinem und man möchte sagen
dwmatischeiu Interesse. Das hat seinen Grund einmal darin, daß Graf Alexander
^le vielen seiner geistreichsten und bedeutendsten Zeitgenossen in regem und zuni
^eil ineinem geselligem oder schriftlichen Verkehr stand. Ich nenne unter den
"»gemein bekannten nur die Großfürstin Helene und unsern großen Bismarck,
von Gelehrten Sir Roderick Murchison, Edouard de Verneint, Alexander von Hum-
°°ibd, A. E. von Baer, Dr. Ludwig Strümpell, Professor Theodor Schiemann,
^ Georg von Seidlitz; von Leuten aus der großen Welt Curucu Shiva, Baronin
^dieba von Rasten, Fürst Alexander Suworow, Geheimrat Orreus. Andrerseits
lst die Art, wie das Nussentnm, dieser Koloß, der bisher im Schlafe des Werdens
gelegen hatte aber immer mehr zum Bewußtsein seiner Kräfte und Aufgaben er¬
dachte, deu jungen Mann an sich gezogen, bald gefordert und verwöhnt, bald
^on sich gestoßen und zurückgesetzt, ihn endlich aber durch eine merkwürdige Ver¬
leitung der Umstände um deu freundlichen, friedlichen letzten Ausblick in die Zukunft
gebracht hat, mit dem Moses für seine Pflichttreue noch unmittelbar vor seinem
-^ode belohnt worden war, ein im höchsten Sinne tragischer Vorgang, dessen
Schilderung etwas tiefschmerzliches. bis ins Innerste rührendes hat.
Die Keyserlings, obwohl ursprünglich ans Westfalen flammend, waren schon
u> fünfzehnten und im sechzehnten Jahrhundert in Livland und Kurland angesessen.
'Wh das von der Mutter des Grafen Alexander als Mitgift zugebrachte Kabillen,
Wo er am 15. August 1815 geboren wurde, war ein kurländisches Gut, und wenn
°und einzelne Mitglieder der Familie durch den Besitz von Gütern sowohl in Rußland
in Preußen, wie der technische Ausdruck lautet, „gemischte Unterthanen, 8u^es
wxiW" waren, so ist der uus hier beschäftigende Graf Alexander Keyserling bis
Zu seinem Tode nur kaiserlich russischer Staatsunterthan gewesen, und seine uner¬
müdlichen, erfolgreichen Leistungen in den verschiedensten vou ihm bekleideten ehren-
'oller Ämtern sind ausschließlich seiner russischen Heimat zu gute gekommen.
Die Familientraditionen und die Erziehungsweise waren freilich, wie in vielen
albern baltische» Adelsfmutlien, auch bei den Keyserlings zum großen Teil deutsch,
^elleicht erinnert sich der Leser, erfahren zu haben, daß sowohl Kant als dessen
'Nachfolger an der Königsberger Universität, Prof. Chr. I. Kraus, in der Keyserliugschen
6"mille längere Jahre als Hauslehrer gelebt hatten. So war auch die Universität,
e G^-gs. Alexander besuchte, eine deutsche: er studierte in Berlin, und während
./^.Studienzeit wurde auch der Grund zu der treuen Freundschaft gelegt, die
bis an sein Ende mit unserm großen Kanzler verband.
>> ^ Bericht über eine im Jahre 1835 von dem damals zwanzigjährigen
^ "deuten in Gesellschaft zweier Gefährten, des später als Zoologe bekannt ge-
" Professors I. H. Blasius und eines Herrn Hartlaub in das Karpnten-
lviss!^,' """^"kund bis in dessen Zentralstock, die Tatra, hinein unternommne
Nenschaftliche Exkursion ist in jeder Beziehung lesenswert- wegen der primitiven
Zustände, die noch vor siebzig Jahren in diesen Gegenden herrschten, wegen der
Energie und der Anspruchlosigkeit, mit der sich die Reisenden ihnen anbequemt hatten
oder ihrer Herr geworden waren, und wegen der erstaunlich reichen wissenschaft¬
lichen Ausbeute, die man gehabt hatte, und für deren gebührendes Bekanntwerden
sich sofort Männer wie Professor Lichtenstein, Karl Ritter, Alexander von Humboldt,
Leopold von Buch interessierten. Auch der Übergang über die Alpen aus dem
Martellthal, ein Paß, der heutzutage zu den vielbetretener Touristeubahnen gehört,
und rin dem es Keyserling im Jahre 1836 versuchte, war damals der wissen¬
schaftlichen Welt noch so fremd, daß die Schilderung seines Befundes, wie er sie
auf Leopold von Vnchs Veranlassung verfaßte, im neuen Jahrbuch für Mineralogie,
Geographie, Geologie und Petrefaktenkunde, Jahrgang 1837, abgedruckt wurde.
Eine Forschungsreise, die der Graf mit dem Botaniker Dr. Grisebach in die
Balkanländer, nach Makedonien und Jllyrien vorgehabt hatte, war nicht zustande ge¬
kommen. In Goldingen, wohin sich seine Eltern von Kabillen ans zurückgezogen
hatten, und wo er sich während der ersten Monate des Jahres 1840 aufgehalten
hatte, wurde ihm von dem Baron Alexander von Meyendorff der Vorschlag ge¬
macht, sich an einer geognostischen Exploration zu beteiligen, durch die nnter den
Auspizien der russischen Regierung und mit ihrer Beihilfe für einen Teil des russischen
Reichs Ermittlungen angestellt werden sollten über die Ausdehnung und Ertrags¬
fähigkeit vorhandner oder noch vermuteter Steinkohlenlager. Keyserling erklärte sich
zur Teilnahme bereit. Zwei ausländische Autoritäten, der spätere Sir Roderick
Murchison, damals noch Mr. Murchison und der als Geognost bekannte Edouard
de Verneuil, hatten ihre Mitwirkung zugesagt. Die Reise, deren Ergebnisse, nament¬
lich was die Umgebung von Tula und Kaluga, sowie von Orel und von Tschugujef,
dem Hauptort der Militärkolonien, anlangte, den Wünschen und Hoffnungen des
kaiserlichen Finanzministeriums entsprachen, hatte den für die spätern Lebensschicksale
des Grafen bedeutsamen Nebenerfolg, daß er im Hause des hochbegabten und ein¬
flußreichen Finanzministers Georg Grafen Cancrin bekannt wurde und sich Anfang 1844
mit dessen ältester Tochter Zeneide verheiratete.
Diese Verbindung, der ein Sohn und zwei Tochter entsprossen, hat zwar in
der großen Hauptsache sein Lebensglück begründet, scheint ihn aber doch, soweit
das kurzsichtige menschliche Auge nicht zur Verwirklichung gekommne Eventualitäten
erkennen kann, behindert zu haben, dem höchsten ihm durch seine Begabung ge¬
steckten Ziele zuzustreben und sich als bahnbrechender Naturforscher allerersten Ranges,
namentlich aber als klassifizierender Systematiker mit immer wachsendem Erfolge
und immer zunehmender Autorität zu bethätigen. Daß er die Befähigung dazu
hatte, darin stimmt das ans uns gekommene Zeugnis der maßgebendsten unter
seinen Zeitgenosse» überein.
Seine Gemahlin hatte ihm das esthlcindische Gut Raiküll südlich von Reval
und zwei benachbarte kleinere livländische Güter, darunter das Holzgut Könno, das
der Sohn, Graf Leo, später übernahm und bewohnte, als Mitgift zugebracht. Es
handelte sich für ihn darum, deu, wie es scheint, dnrch rücksichtslose Ausbeutung
der Vorbesitzer oder durch die Ungunst der Zeiten etwas hernntergekommnen Besitz,
auf den man natürlich wegen der Einkünfte angewiesen war, durch weise, zeit¬
gemäße Vorkehrungen in die Höhe zu bringen. Unter ihnen stand die Ersetzung
des seitherigen Fronverhältnisses durch freie Pachtverträge in erster Reihe.¬
Bei der Schwierigkeit, die es gehabt haben würde, sich in einem so ent
scheidenden Augenblicke durch einen Fremden vertreten zu lassen, war es die Not¬
wendigkeit, mit dem Auge des Herrn selbst nach dem Rechten zu sehen, die den
Grafen an die Scholle fesselte und einen guten Teil seiner Zeit in Anspruch nahm,
obwohl sie ihn andrerseits nicht hinderte, in den verschiedensten ständischen und staat¬
lichen Andern, namentlich als Ritterschaftshauptmann. Landeshauptmann, Landrichter,
Kurator der Universität Dorpat Hervorragendes zu leisten. Dabei leitete er die Er¬
ziehung seiner Kinder, erteilte ihnen vielfach selbst Unterricht, war schriftstellerisch thätig,
beschäftigte sich mit Entomologie, Botanik und Gartenbau, pflegte seine schöne An-
^?ge zur Musik und versah zeitweise das uns Verehrung für die Großfürstin
Helene übernommene Vertrauensnmt, sie und ihre Töchter auf Auslandsreisen zu
begleiten. ^ ^ !
Sein wesentlicher Wohnsitz blieb Raiküll, das er verschönerte, und dessen
^ciuerngemeinde er allmählich aus den bedrückenden Verhältnissen, in denen die
^ente lebten, in glücklichere und menschenwürdigere hob. Krankheit und Tod waren
^, die seine Umgebung unnachsichtig heimsuchten und ihm so die schwersten Schläge
Ersetzten. Sie beraubten ihn seiner Eltern, seiner innigst geliebten jüngern Tochter,
inner Gattin, seiner sämtlichen Geschwister (es waren neun gewesen) und vieler
"ndrer, die ihm, wie namentlich seine Schwiegereltern und die geistvolle Editha
^n Rechten, besonders nahe gestanden hatten. sein Sohn, der durch fortgesetzte
Kränklichkeit gezwungen gewesen war, die gewählte ihm wegen der sitzenden Lebens¬
weise nicht zusagende Karriere eines Geschichtsforschers aufzugeben, hatte sich ver¬
tratet und lebte in dem benachbarten Könno, auch seine Tochter, mit dem Freiherrn
^tlo von Taube von der Jssen vermählt, lebte ganz in seiner Nähe auf dem ihren
Schwiegereltern gehörenden, von ihrem Gatten bewirtschafteten Gute Serwakant.
An die Enkel, namentlich an die beiden Enkelsöhne Otto Junior Taube und
Hermann Keyserling hatte sich der alte Herr mit besondrer Liebe und Herzlichkeit
^geschlossen, und er würde einem schönen friedlichen Lebensabende entgegengegangen
'^n, wenn sich nicht am Horizont der baltischen Provinzen das unheimliche Gewölk
er in den höhern Regionen mehr und mehr zur Geltung kommenden staatlichen
kirchlichen Nivellierungstendenzen immer bedrohlicher aufgetürmt hätte.
Graf Keyserling hat die zu verschiednen Zeiten aus diesem Anlaß gegen ihn
""gesponnenen Intriguen in seiner Korrespondenz wie in seinem Tagebuche kaum
eruhrt, oder seiue Tochter hat doch die darauf bezüglichen Stellen absichtlich
gestrichen. Es würde sich deshalb für den abseits stehenden Referenten kaum schicken,
venu er nun selbst auskramen wollte, was ihm darüber seinerzeit bekannt geworden
i- Nur das eine soll hier erwähnt werden, daß nach dem Urteil wohlinformierter
Hofleute die Gunst, deren sich Graf Alexander allerhöchsten Orts, man möchte
^ geu, sporadisch zu erfreuen hatte, für etwas ganz Außergewöhnliches galt, und
'v man sie für einen Anhaltspunkt ansah, den ungenutzt zu lassen, wie es von
er Seite Keyserlings geschehen war, für einen Beweis geradezu unglaublicher
Eigennützigkeit galt. Als ich viel später einmal der auch hier im Buche berichteten
Zuziehung Keyserlings und des Fürsten Suworow zur kaiserlichen Fcunilientafel,
utter den gegebnen Umständen in der That eines halben Wunders, einem russischen
eneral gegenüber erwähnte, schloß dieser die Augen und sagte mit matter Stimme,
" so etwas könne er nicht denken, ohne daß es ihm schwindlig im Kopf werde:
psnzg pg,8> ggig, Mg clorms 1s vsrtiAk. War es die schwindelnde Höhe oder der
'^wirbelnde Abgrund, den sich der General vergegenwärtigte? Ich weiß es nicht,
^ ^' der bange, bedenkliche Gesichtsausdruck, mit dem er sprach, steht mir noch
pente vor Augen.
^ ^üunal, zur Zeit der sogenannten Mnchernschen Unruhen, war es Keyserling
areis ^ gelungen, die sich für die baltischen Provinzen schon nahenden durch-
nb; Repressivmaßregeln, zu denen man den Kaiser zu überreden gewußt hatte,
erit/ gelang ihm eine solche Vermittlung nicht wieder. Sein Rnck-
vcrs>'^^ Motive niemand im unklaren war, von der Stelle eines Uni-
Zu ^ ^"rators, wurde genehmigt, und wenn er auch für seine Person völlig wieder
Gnaden aufgenommen worden ist, mit einem großen Teile der den baltischen
A«? ^" bisher gelassenen Selbstverwaltung und mit der von der Staatskirche den
^ Mlgern des evangelischen Glaubensbekenntnisses gegenüber geübten weitherzigen
^ercmz war es vorbei.
der ""^ Graf, und, man mag nun über die heutigestags von
russischen Regierung wegen ihrer den baltischen Provinzen gegenüber befolgten
Grundsätze denken, wie man will, daß es so war, ist ihm gerade in den letzten
Jahren seines Lebens, wo öfteres Alleinsein seine Empfindlichkeit in solchen Dingen
gesteigert hatte, überaus schmerzlich gewesen. Es war das, was ihm immer von
neuem Kummer, Unruhe und Besorgnis verursachte, wahrend er für die Kalamitäten
des Privatlebens sein Herz mit dreifachem Erz zu panzern verstanden hatte.
Der Schwiegersohn hatte das durch den Tod seines Vaters in sein und seiner
Mutter Eigentum übergegnngne Gut Serwakant verkauft, um im Auslande zu leben
und die Kinder irgendwo in dentschen Landen mit mehr Vertraue» in die Zukunft
neu anzusiedeln: es stand dem alten Herrn deshalb in nicht zu ferner Zeit eine
Trennung von der von ihm so innig geliebten Tochter bevor, wahrend sich Graf
Leo, obwohl auch er über die Zukunft der baltischen Provinzen beunruhigt war.
fürs erste «och als Friedensrichter und praktischer Land- und Forstwirt den heimischen
Angelegenheiten mit Eifer und Erfolg widmete.
Graf Keyserling ist vor einem so langen, schmerzensreichem Siechtum, wie es
seine Gattin mit heroischer Standhaftigkeit ertragen hatte, verschont geblieben. Eine
ursprünglich in Form eines bösartigen Nesselfriesels auf der linken'Stirnseite und
am linken Schädel zu Tage getretene ernste Erkrankung, bei der es zu eiuer innern
Blutung gekommen zu sein scheint, raffte den etwas mehr als fünfuudsicbzigjährigen
aber für sein Alter noch rüstigen Mann so rasch und unerwartet dahin, daß keines
seiner Kinder rechtzeitig benachrichtigt werden konnte. Nur die Taubischen Enkel¬
kinder mit ihrem Hauslehrer waren anwesend. Aber das Ende war, wie der ganze
Lebenslauf des Grafen, gottergeben und friedlich.
Von dem eigentlichen Zauber des Buchs, der in der außergewöhnlich vor¬
nehmen und hochherzigen Gesinnung und Dcnknngsweise des Verstorbnen liegt,
kann dieser kurze Abriß freilich keine Vorstellung geben. Aber er wird den, Leser
doch wenigstens im allgemeinen andeuten, welchen außergewöhnlichen Genuß er zu
erwarten hat, und ihm hoffentlich den Wunsch nahe legen, sich selbst eingehend mit
einem Werke bekannt zu machen, das zu den schönsten und edelsten Blüten unsrer
deutscheu Memoirenlitteratur gehören dürfte.
Ein schlichter, aber entschlossener deutscher Mann, der
seine Jünglings- und Mnnnesjahre in Südafrika vom Ackerknecht bis zu einer hervor¬
ragenden militärischen Stellung durchlebt, nein durchkämpft hat, erzählt hier seine
Lebensgeschichte, die in eigentümlicher Weise eng verbunden ist mit der tragischen
Geschichte der südafrikanischen Republik. Gerade weil der Held und Erzähler des
Buches sich von unter heraufgedient hat und von den Grenzkämpfen mit Zulu
und Kaffern langsam in den Mittelpunkt der Geschicke des Freistaats gerückt ist,
wo er endlich in dem letzten Kriege gegen England mit an erster Stelle stand, ist
das Buch ein viel lehrreicherer Beitrag zu der neuern und der jüngsten Geschichte
Südafrikas als manche von den Kriegserinnerungen, mit denen wir jetzt überschwemmt
werden. Denn hier sehen wir die Gegensätze zwischen Engländern und Buren in
beschränktem Bezirk sich schärfen und einander immer näher rücken, und wir er¬
halten ganz besonders einen auch in rein menschlicher Beziehung fesselnden Einblick
in die Eiugebvrnenpolitik der beiden Völker, deren Grundverschiedenheit soviel dazu
beigetragen hat, daß zuletzt die Entscheidungskampfe unvermeidlich geworden waren-
Zwischen beiden stehend, beurteilt er sie von Person zu Person und von Ereignis
zu Ereignis, fällt kaum irgendwo ein Gesamturteil, läßt vielmehr uns selbst die Summe
seiner Erfahrungen ziehn, die, wie zu erwarten ist, für beide Seiten nicht die Meinunge»
der Verehrer und der Hasser rechtfertigen. Ich lege indessen, wenn ich das Buch
empfehle, nicht auf diese belehrende Seite das Hauptgewicht, sondern ans die Freude,
die jedem Leser von gesundem Sinn die Bekanntschaft mit dem Obersten selbst und
manchen seiner Freunde und seiner Feinde gewahren wird. Diese Männer von
kaltem Blut und warmem Gemüt, die wenig Worte macheu. aber in der Regel
eine gegebne Lage mit ihrem unverbildeten Verstand treffend beurteilen, die fast
noch rascher zu handeln als zu denken wissen und in der Regel fast instinktiv das
Nichtige thun, ob es sich um einen zerbrochnen Wagen oder um eine verfahrne
Staatsaktion handelt, erquicken uns. Einige davon sind Deutsche, andre sind Buren,
"»es tüchtige Engländer lernen wir kennen, wenn auch im allgemeinen kein günstiges
Licht auf die englische Politik und ihre Vertreter in Südafrika, die Dip omaten.
Missionare und Soldaten, fällt. Volle Gerechtigkeit läßt Schiel der Mission zu
teil werden, im Gegensatz zu so manchen „aufgeklärten" Landsleuten. Endlich ist
"'ich seine Beurteilung der Farbigen maßvoll, billig; auch in ihnen zollt er dem
höchst ungleichen Kämpfen bewährten Heldenmut bereitwillig den Zoll einer so¬
zusagen mitempfindenden Bewunderung. Die Sprache des Buches ist die klare,
einfache Sprache der Männer, die von ihren Handlungen zu erzählen haben. Die
Illustrationen sind erwünscht, soweit sie nach Photographie Landschaft oder Personen
darstellen, die komponierten Vollbilder sind von geringerm Wert. Dankenswert ist
die Karte und ganz vortrefflich das Register.
Adolf Schiel verließ 1878 Deutschland, wo er Offizier gewesen war. diente
W Natal ein Jahr bei einem Farmer und zog 1880 nach Transvaal, um mit
"nßerst geringen Mitteln „selbst anzufangen"; hier wurde er 1881 als Greuz-
leutnnnt'und Sekretär des Eingeborueukvmmissars Ferreira angestellt. In Ferreira,
der den Nanptantcil an dem Sieg vou Mnjnba (27. Februar 1881) gehabt hatte,
lernte er den besten Typus des Buren kennen: Hüne von Gestalt, ausgezeichneter
Reiter, mutig wie ein Löwe, von seltner Geistesgegenwart und dabei ein liebens¬
würdiger Kamerad. Von Ferreira hat Schiel die Führung der Eingeborncnpolitck ge¬
lernt; er ist später an der Matabelcgrenze selbst Eingebornenkoinmissar geworden, und
die Erfolge, die er dort unter den schwierigsten Verhältnissen erzielte, bahnten ihm
den Weg zu höhern Aufgaben. Dort kam er mit einem noch öfter genannten
Buren von ganz unteren Typus, mit General Joubert, in Berührung, der dann
sür Jahre sein Vorgesetzter wurde.
Joubert war ein schwerfälliger Mann vou entsprechendem Phlegma, Neue¬
rungen, besonders auf militärischem Gebiet, abhold, raschem, zielbewußtem Denke»
und Handeln gleich abgeneigt, vorsichtiger als sich für einen Offizier ziemt, dabei
"ber schlau und durch Ruhe und Geduld manches erreichend. Daß er zu den
wenigen angesehenen Buren gehörte, die nach der englischen Annexion von 1877
den Engländern gegenüber mit Ruhe und Würde ablehnend blieben, war eins seiner
passiven Verdienste, aber sein Anteil an den Siegen von 1881 wurde ihm ver¬
hängnisvoll, denn er sog daraus die Überhebung, die die militärischen Machtmittel
der Republik schwach, die Armee in Unordnung erhielt. Im allgemeinen stimmt
Schiels Urteil die übertriebne Schätzung des Bureucharakters weit herunter; Helden
wie Ferreira oder Henning Pretorius ragten aus der Menge hervor, die sehr
viel beschränkte, empfindliche, den Staatszwecken und besonders jeder Disziplin
egoistisch widerstrebende, in Gefahren unzuverlässige Elemente umschloß. Besonders
seine Schilderung des Ausmarsches und der ersten Kämpfe im Spätjahr 1899
»ringt sehr unerfreuliche Thatsachen; freilich ist auch nichts darunter, was nicht in
den Kriegserinneruugeu von Dewct u. c>. seiue Bestätigung fände. Seine frühern
Erlebnissewgt sehr unerfreuliche Thatsachen; freilich ist anch nichts darunter, was ^den Kriegserinnerungen von Dewet u. a. seiue Bätigng fände. Seine f übern
Erlebnisse nnter den Buren haben manchmal recht humoristische Z"gs' °^ 'es
freilich heute ausncchmlos tragisch von dem dunkeln Hintergründe des ^der Vurenfreistaaten abheben. Die Geschichte von dem Bnrenhospital ^ d r Kaffern
grenze, wo „Taute" Joubert an deu Verwundeten herumdoktert .ab Jouber dem
Erzähler, der sich über die Mißstttude beschwert, unter denen das Lazarett l et,einen Vortrag über die Heilkraft frische» Ziegenmists hält, worauf jener „dem Doktor
einen allerdings kürzern, aber viel energischer» über seine Schlappheit hält, sich von
ein paar alten Frauen schulmeistern zu lassen," oder der Verlust einer Kanone in
demselben Kaffernkrieg durch die Feigheit der Truppenführer gehören ganz ent¬
schieden mit in eine Vorgeschichte des Krieges von 189» bis 1901. Schiel ist
kein Engländerfeind, aber seine Urteile über das Verhalten Englands und der
Engländer in Südafrika fallen mit wenig Ausnahmen ungünstig aus, wobei als
hervorstehendere Charakterzüge rücksichtsloses Verfahren mit den Rechten andrer,
Heuchelei und krasse Unwissenheit hervortreten. Das sind vor allem die Merkmale
ihrer Eingebornenpolitik, deren Früchte ihnen selbst schon längst höchst unschmackhaft
vorkommen, und nicht minder auch ihrer Burenpolitik. So wie wir in der ein¬
fachen Erzählung dieses Buches im kleinen und zuletzt im großen ihr Auftreten
verfolgen können, erscheint uus die Katastrophe, der die Unabhängigkeit der Buren
zum Opfer fiel, auch schon darum unvermeidlich, weil Englands Staatsmänner,
Offiziere und Missionare Treu und Glauben selbst bei den Eingebornen verloren
hatten, und den Wettbewerb mit den Ausländern in einer in Wirtschaft und Kultur
aufblühenden Burenkonföderation, die im freien Verkehr mit der ganzen Welt stand,
nicht mehr wagen konnten. Nicht weil die Engländer 1881 und schon vorher in
den Vasuto- und Zulukriegen ihre militärische Geltung verloren hatten, sondern weil
sie auch ihr allgemeines politisches und Knlturübergewicht bedroht sahen, mußten
Transvaal und Oranjefreistnat erdrückt werden, und zwar noch ehe Ausländer von
dem Schlage Schiels die trag und rückständig gewordne Burenbevölkerung aufge¬
rüttelt und organisiert hatten. Da wir keinen Auszug aus dem Schleifchen Buche
geben wollen, möchten wir die Greuzbvtenleser nur noch auf zwei Abschnitte hin¬
weisen: auf deu Einmarsch in Natal und den Kampf bei Elaudslaagte, wo
Schiel schwer verwundet wurde, und auf die Erzählung seiner Gefangennehmung
und Gefangenschaft, die reich ist an interessanten Menschen- und Znstandsschilde¬
rungen. Gerade zur Kenntnis englischen Charakters und englischer militärischer Ein¬
richtungen und Auffassungen sind die humorvollen Kapitel über das Gefangnen-
leben auf der „Penelope," bei Simonstown und ans Helena noch sehr ergiebig.
Es ist bekannt, in wie intimen
frenndschnftlichem Verkehr der baltische Gelehrte und Staatsmann Graf Alexander
von Kehserling bis zu seinem im Jahre 1891 erfolgten Tode mit unserm großen
Kanzler Bismarck gestanden hat. Im zweiten Bande des von uus heute besprochnen
„Lebensbildes" giebt Graf Keyserling Seite 193 der bekannten geistvollen Hofdame der
Großfürstin Helene, Baronin Editha von Rasten gegenüber sein Urteil über Buschens
„Bismarck und seine Leute" ab. Er sagt in einem Briefe vom 14. August 1879:
Dieses Mal schreibe ich Ihnen, meine liebe Baronin, zunächst, um Ihnen für
die Lectüre des Buchs über „Bismarck und seine Leute" von Busch zu danken.
Nach den Essenzen, die davon in die Zeitungen hinein destilliert werden, und nach
den vergnüglichen Bosheiten, die Valbert mit gewohnter Meisterschaft daraus ge¬
macht, hatte ich mein Urteil dem Dufte dieser Präparate angepaßt und finde nun,
daß es unrichtig gewesen. Wie die Photographien von Kunstwerken mehr Werth
haben, trotz der schroffen Kleckse, als heruutergemilderte Lithographien und Zeichnungen,
so erregt auch das Buch von Busch mehr Wohlgefallen als viele anspruchsvolle Schil¬
derungen. Man hat die Wahrheit vor sich, wenn auch uicht die gnuze, und das
erfreut, schon weil es so selten ist. Die Schreibart ist klar, kurz und markig. Nur
das Eine fand ich nicht, und zum großen Lobe des Buches, jene Jndiseretionen,
über welche leeres Geschrei gemacht worden. Wenn der arme Abeken nach Kräften
zum Narren gemacht wird, so findet das seine Entschuldigung nicht nur in der
Mlousiv av mstiizi', soudern auch in dem Umstände, daß dieser gefeierte Staatsschriften--
fertiger von Bismarck selbst und seinen Leuten zur Erheiterung der Welt förmlich
geweiht worden ist. Soweit mein Zeugnis reicht, will ich es nicht zurückhalten und
aussprechen, daß man den leibhaftigen Bismarck in der Schrift des Dr, Busch immer
wieder finden wird oder wieder finden kann. —
Und an seinen Freund den Baron von Nextull schreibt Graf Keyserling drei
Tage später, am 17. August 1879 (Seite 195, Band II):
Die Baronin Rasten hat meiner Tochter zur Lectüre während der Genesung
das Buch von Busch über Bismarck zugeschickt. . , . Inzwischen habe ich es durch-
gelesen und freue mich, damit ein sehr unbegründetes Urteil losgeworden zu sein.
Ich halte das Buch für eine werthvolle und seltene Erscheinung. Es ist nicht gleich
den litterarisch fa^onnierten französischen Memoiren, aber es ist wahr wie eine klecksige
Photographie, und das erfreut inmitten der vielen Verlogenheit. Man hat ja den leib¬
haftigen Bismarck vor sich, wenn auch nichts von seinen uuter der Meeresfläche ver¬
borgenen etwaigen Vorausberechnungen und verwegenen Combinationen, von denen
andere nicht viel wissen können, da er selbst so wenig davon weiß. Kurz, ich rathe
Ihnen sehr, sich das Buch einst in extenso vorlesen zu lassei,, da es sich nach dem
Duft, den die Zeitungen daraus gezogen haben, und nach den vergnüglichen Bos¬
heiten Valberts in der liovno (los äeux morales schwerlich beurteilen läßt. —
Nachdem noch ganz vor kurzem zwei unsrer deutschen Gelehrten, Herr Professor
Kohl und Herr Professor Lorenz, das Buschische Werk schmähen zu dürfen geglaubt
haben, scheint es billig, mit ihrem Urteil das eines Mannes zu vergleichen, der
ihnen gegenüber nicht bloß die Autorität des gleichfalls als „gewissenhaft und ob¬
jektiv" bekannten Forschers, sondern auch die „des ältesten und intimsten Freundes"
Bismarcks in die Wagschnle werfen konnte, denn als solchen bezeichnet ihn der
Reichskanzler selbst in seinem an den Schwiegersohn des Verstorbnen gerichteten
Beileidstelegramme. (Band II des Lebensbildes, Anhang, Seite 655.)
Der wohlbekannte, weitverbreitete „zweibändige Weber" erscheint hier in völlig
neuer Gestalt, auf vier Baude erweitert, völlig umgearbeitet und durch zahlreiche
ganz neue Abschnitte vermehrt, also als ein fast neues Werk. Die Redaktion des
Ganzen liegt in den Händen des durch seine Bearbeitung des Putzgerschen Histo¬
rischen Schnlatlasses längst vorteilhaft bekannten Leipziger Historikers Alfred Baldamus,
der selbst zwei Bände, den zweiten und den dritten, übernommen und durch Her¬
beiziehung andrer bewährter Fachmänner dafür gesorgt hat, daß jeder Gegenstand
den geeignetsten Bearbeiter gefunden hat. Die allgemeine Einteilung des ungeheuern
Stoffes in die Abschnitte Altertum, Mittelalter, Neuere Zeit, neuste Zeit, auf die je
ein Band entfällt, ist beibehalten worden, ebenso die Gliederung nach den Pe¬
rioden der politischen Geschichte. Aber der Einfluß der modernen Auffassung zeigt
sich darin, daß einerseits die Kulturentwicklung und das Zuständliche überall auf
das eingehendste berücksichtigt, andrerseits der Kreis der dargestellten Völker wesent¬
lich erweitert worden ist und die orientalischen Völker mit umfaßt. Im ersten Bande
(von E. Schwabe in Meißen) folgt demnach auf einen ganz neuen allgemein orien¬
tierender Abschnitt (der prähistorische Mensch, Menschenrassen und Sprachen, Religions-,
Staats- und Wirtschaftsformen) das erste Buch mit der Geschichte der morgenländischen
Völker von den Chinesen bis zu den Persern in der hier natürlichen geographisch¬
ethnographischen Anordnung, dann in zwei Büchern die Darstellung der griechischen
Welt und'die römische Geschichte. Der zweite Band beginnt mit einer zusammen¬
fassenden Übersicht über die beiden das Mittelalter beherrschenden Mächte, das Christen-
tum und das Germanentum. Die eigentliche Erzählung seht mit dem Beginne der
sogenannten Völkerwandrnng ein und führt sie in acht Büchern bis zum Ende des
Mittelalters. Wieder sind auch hier die Reiche des Orients mit aller wünschens¬
werten Ausführlichkeit dargestellt, im ersten Buche das byzantinische Reich und der
Islam bis um 750, im vierten Buche das byzantinische Reich und der Islam vom
achten bis zum dreizehnten Jahrhundert, im achten Buche der europäische Orient,
Asien und Nordafrika. In der durchdachten, die Zusammenhänge möglichst wäh¬
renden und doch die großen Gruppen übersichtlich in sich vereinigenden Einteilung
liegt ein besondres Verdienst des Buchs. Die Ergebnisse der neuen Forschung, die
namentlich die Geschichte des Altertums so vielfach umgestaltet haben, sind überall
sorgfältig verwertet, das Urteil ist besonnen und unbefangen, die Darstellung hebt
immer das eigentlich Wichtigste, auch die leitenden Ideen heraus, wird aber durch
zahlreiche Ausführungen in kleinerem Druck ergänzt. Stammbäume der wichtigsten
Dynastien erleichtern im zweiten Bande die Übersicht über die so oft entscheidenden
genealogischen Verhältnisse. So wird das Buch in seiner erneuerten Gestalt viel¬
fachen Bedürfnissen entgegenkommen und namentlich für Geschichtslehrer wie für
reifere Schüler ein sehr praktisches und empfehlenswertes Hilfsmittel sein. Die Aus¬
Nachdem wir dieses Prachtwerk im vorigen Jahre (3. Band S. 192) und
im ersten Bande des laufenden Jahrgangs (S. 748) gebührend gewürdigt haben,
brauchen wir jetzt nur uoch den Lesern die erfreuliche Kunde zu bringen, daß die
zweite Hälfte vollendet ist und das schöne Ganze auf den Weihnachtstisch niedergelegt
werden kann. Im 26. Heft werden die deutsch-evangelische Kirchenverfassung und die
Kämpfe um sie dargestellt. Das 27. und das 28. enthalten Charakterköpfe ans
dem evangelischen Deutschland (darunter Herder, Hebel, Oberlin, Claus und Ludwig
Harms, Vilmar, Hengstenberg, Gerok, Kögel), das 29. und das 30. große Theologen.
Unter den Meistern der Kanzelberedsamkeit im 31. finden wir auch Bitzius (Jere-
mias Gotthelf). Die folgenden Hefte stellen „die evangelische Verkündigung in Heer
und Marine, evangelisches Christentum außerhalb der Landeskirche, das evangelische
Volksschulwesen des neunzehnten Jahrhunderts" dar. Dann folgen die Dichtkunst
und die bildenden Künste. Diese werden sehr vorurteilslos behandelt; die neuern
Meister: Abbe, Klinger, Thoma, Böcklin, Meuuier sind sehr reichlich, beinahe reich¬
licher bedacht als Cornelius, Ludwig Richter und Schwind, und während wir uns
nach einer Probe aus Schuorr von Carolsfelds herrlicher Bilderbibel vergebens
umgesehen haben, ist auch Gabriel Max nicht übergangen. Elf Hefte stellen das
protestantische Christentum in den übrigen Ländern Europas und in Amerika dar,
das vorletzte Heft behandelt den Protestantismus in der politischen Geschichte des
neunzehnten Jahrhunderts, und das letzte, das fünfzigste, den Protestantismus unter
Kaiser Wilhelm II. Der überaus reiche Bilderschmuck hält bis aus Ende, was die
ersten Hefte versprochen haben.
evisionen des geschichtlichen Urteils sind von Zeit zu Zeit un¬
vermeidlich. Nicht uur neuerschlossene Kenntnis der Quellen
zwingt dazu, sondern auch die Veränderung der geschichtlichen
Auffassung verschiedner Generationen. Die deutsche Kaiserpolitik
des Mittelnlters, die eiuer enttäuschten und verbitterten Zeit als
eine verhängnisvolle und verderbliche Verirrung galt, erscheint uus jetzt, nach¬
dem wir Kaiser und Reich wieder haben, als eine natürliche, großartige Welt-
Politik, als die sie auch früher schon angesehen worden war. Die Politik der
Hohenzollern, die seit I. G. Droysen allzusehr als eine bewußt auf ein deutsches
Ziel gerichtete aufgefaßt worden war, betrachten wir jetzt unbefangner als ein
Ergebnis der gefährdeten Lage des Staats und der klugen Energie bedeutender
Monarchen für brandenburgisch-preußische Zwecke, nur daß diese Zwecke mit
deutsch-nationalen Interessen zusammenfielen und ihnen deshalb dienten, denn
die thatsächlichen Leistungen Preußens für die Größe und die Einheit der
Nation brauchen heute nicht mehr historisch bewiesen zu werden. Auch die
vielgescholtne Politik der Mittelstaateu erscheint uns heute in einem mildern
Richte; seitdem sie sich dem Reich eingefügt haben und ihm ehrlich dienen,
können wir sie rein geschichtlich als die Folge besondrer Verhältnisse und
Interessen begreifen. Nur darf freilich das Bestreben, verkannte oder falsch
beurteilte Richtungen der Vergangenheit gerechter zu beurteilen, nicht zu vor-
schnellen Kombinationen verführen. Wenn sich z. B. Max Lehmann zu be¬
weisen bemüht, daß Friedrich der Große 1756 die Erwerbung Sachsens beab¬
sichtigt habe, wie Österreich die Wiedererwcrbung Schlesiens, daß also zwei
(politische) Offensiven aufeinander gestoßen seien, so hat diese den bisherigen
Ergebnissen moderner archivnlischer Forschung schroff widersprechende Meinung
w der wiederholten Revision der Frage keine Bestätigung gefunden.
Ob ein Versuch, das Urteil über das Verhältnis Wilhelms I. und Vis-
mcircks zur Reichsgründung wesentlich umzugestalten, die Bedeutung des Mo¬
narchen mehr zur Geltung zu bringen, wie ihn soeben Ottokar Lorenz in
^mein umfangreichen Werke unternommen hat,^) besser gelungen ist, das ist
eine Frage, die nur ein unbefangnes, von Gunst und Haß unbeirrtes Urteil
entscheiden kann. Von vornherein wird zugegeben werden müssen, daß für
die allgemeine Auffassung Bismarcks überragende Größe die Persönlichkeit des
Königs und Kaisers, also auch seinen persönlichen Anteil an den großen Ent¬
scheidungen oft zu sehr überschattet hat. So hat soeben Friedrich Thinae
im jüngsten (3.) Heft der Historischen Zeitschrift (N, F. Bd. 53: Wilhelm I.,
Bismarck und der Ursprung des Anncxionsgedankens 1866) nachgewiesen, daß
der Gedanke um umfassende Annexionen auf den König zurückgeht, daß dieser
hier also „wenn nicht vor Bismarck, so doch neben ihm, gewißlich nicht hinter
ihm genannt werden" muß. Bei Lorenz aber kommt eine Gruppe von mit¬
wirkenden Zeitgenossen zu Worte, die in den schweren Kämpfen um die Reichs-
gründung ihren selbständigen, mit Bismarcks Politik nicht immer übereinstim¬
menden, zuweilen im einzelnen ihr zuwiderlaufenden Weg gegangen ist, wenn
sie auch dasselbe Ziel im Auge hatte. Es siud das die Freunde und
Gesinnungsgenossen des unglücklichen Kronprinzen Friedrich: sein Schwager,
der Großherzog Friedrich von Baden, Großherzog Karl Alexander von Sachsen-
Weimar, der Bruder der Kaiserin Augusta, in der Bismarck seine gefährlichste
Gegnerin sah, der Herzog Ernst von Kolmrg-Gotha, der Schwager des Gro߬
herzogs von Baden und andre mehr, die bekanntlich auch in der innern
Politik eine liberale, populäre Richtung verfolgten. Diese fürstlichen Herren
haben dem Historiker ihre Erinnerungen, Aufzeichnungen und Akten zur Ver¬
fügung gestellt, also gewiß einen hochinteressanter, wertvollen Stoff. Nur
freilich ist das noch gar keine Gewähr für ein unbefangnes Urteil, denn die
Herren selbst waren doch auch Partei, und obwohl Lorenz im Vorwort ver¬
sichert, seine eigne „Stellungnahme" sei in jeder Beziehung uuabhüugig, so
ist sein Buch ebeu doch ein Nachhall jenes alten Gegensatzes geworden, voll ver¬
hüllter oder offner Kritik an Bismarck und voll Opposition gegen Sybels grund¬
legendes Werk. Aber mit diesem selbst hält es keinen Vergleich aus. Schwer¬
fällig und weitschweifig geschrieben, nicht einmal immer korrekt stilisiert, giebt
es fast nirgends lebendige Bilder der Ereignisse oder der Persönlichkeiten,
nirgends eine zusammenfassende Übersicht über die Weltlage, die Bismarck bei
jeder Wendung aufs sorgfältigste berücksichtigte. Lorenz versteht überhaupt
nicht eigentlich zu erzähle», er reflektiert und räsonniert fortwährend, setzt vieles
als „bekannt" voraus, bleibt also oft unvollständig und sieht mit einer
geradezu unerträglichen Prätension auf die ganze bisherige Geschichtschreibung
über diese Zeit hinab, die er als „leisetretend," „eitel," „verfälscht," „voreilig"
charakterisieren zu dürfen glaubt. Und doch ist die Benutzung längst bekannter
Quellen bei ihm höchst ungleichmäßig, also mangelhaft, und das Urteil des Ver¬
fassers, das sich dem Leser fortwährend aufdrängt, ist oft genug unbillig, ober¬
flächlich oder geradezu falsch. So macht das Werk keinen erfreulichen Eindruck
und liest sich außerdem schwer. Man muß deshalb geradezu bedauern, daß die
Bearbeitung der neuen Materialien nicht in andre Hände gelegt worden ist;
es wäre besser gewesen, sie als Quellenbeiträge zu veröffentliche», was in den
umfänglichen Anmerkungen doch mir mit einigen wenigen geschieht. Jeden¬
falls ist die Geschichte der Reichsgründung auf Grund der seit Sybel so
wesentlich vermehrten Kenntnis erst noch zu schreiben; das Buch von Lorenz
löst diese schöne Aufgabe nicht.
Versuchen wir um die neuen Ergebnisse in den Hauptsachen einiger¬
maßen zu fixieren nud zu kritisieren. Im einleitenden Kapitel betont Lorenz
besonders, daß Wilhelm I. schon als Prinz, schon seit 1848 als sein politisches
Ziel die Einigung des außerösterreichischen Deutschlands unter preußischer
Führung ins Auge gefaßt und eine Auseinandersetzung mit Österreich für un¬
vermeidlich gehalten habe, aber vou einer populären, demokratischen Initiative
dazu, wie sie 1848/49 versucht worden sei, nichts habe wissen wollen. Er sei
deshalb später zwar jeder Verfolgung deS 1859 gegründeten Nationalvereins
entgegengetreten, aber durch die Bemühungen seines linken Flügels seit 1861,
die Bildung eines deutschen Milizheeres mit Hilfe der Turner- und Schützen-
Vereine zu innern und äußern Zwecken vorzubereiten, mißtrauisch gemacht
worden. Die mittelstnatlichen und die österreichischen Bnndesreformpläne bis
1863 werden dann summarisch behandelt, von der Lösung der Schleswig-hol¬
steinischen Frage 1364 und dem damit eng zusammenhängenden sehr ernsten
Versuche Bismarcks, die ganze deutsche Politik auf ein enges Einvernehmen
der beiden Großmächte zu begründen, ist kaum die Rede. Die zusammen¬
hängende Darstellung beginnt erst mit 1866. Dabei wird nun Lorenz von
der Meinung beherrscht, daß Bismarck von Anfang an Bayern viel zu weit
entgegengekommen sei: mit seinem Vorschlage vom 24. März, Preußen und
Bayern sollten gemeinsam die Berufung eines deutschen Parlaments bean¬
tragen, wie mit dem Vundesreformentwnrf vom 10. Juni, der Bayern die
militärische Leitung Süddeutschlnnds zudachte. Der schlechthin teutschgesinnte
Patriot wird es als ein wahres Glück bezeichnen, daß diese Pläne, die einen
preußisch-bayrischen Dualismus an Stelle des preußisch-österreichischen gesetzt
hätten, gescheitert sind, denn was Deutschland brauchte, war die Einheit unter
Preußen, nicht ein neuer Dualismus, uicht ein „Gleichgewicht." Aber patrio¬
tische Bayern mögen es schwer beklagen, daß die unfähige Politik von der
Pfordtcus diese unwiederbringliche Gelegenheit für Bayern, bei der Neu¬
gestaltung der deutscheu Dinge eine maßgebende Rolle zu spielen, aus der
Hand gelassen hat. Nur lag der Fehler auf der Seite Bayerns, nicht Bis¬
marcks.' Auch bei dem Friedensschluß soll Bayern zu gut weggekommen sein,
obwohl es doch dreißig Millionen Gulden Kriegskosten zahlen und uicht un¬
beträchtliche Abtretungen macheu mußte, ja anfangs sogar mit der Heraus¬
gabe der alten hoheuzolleruscheu Fürstentümer Ansbach und Vayreuth bedroht
wurde. Deu schwersten Vorwurf aber macht Lorenz Bismarck daraus, daß
er in Nitolsburg auf die Ausdehnung der Bundesreform über ganz Deutsch¬
land verzichtet habe, obwohl Frankreich in seiner damaligen militärischen
Schwäche thatsächlich gar nicht hätte einschreiten können, und daß er damals
die Bildung eines süddeutschen „Vereins" zugelassen habe, dem der vierte Ar¬
tikel des Prager Friedens sogar eine internationale unabhängige Existenz zu¬
gestand. Damit habe er Deutschland in eine „Sackgasse" hineingeführt, aus
der es nur ein ganz unvorhergesehenes Ereignis, wie der deutsch-französische
Krieg, wieder habe herausbringen können. Nun handelte es sich damals gar
uicht nur um Frankreich, sondern auch um die keineswegs besonders günstige
Stimmung in Rußland und England. Gegen diese ließen sich offenbar die
großen norddeutschen Annexionen und die Ausdehnung der Bundesreform auf
Süddeutschland zugleich nicht durchsetzen; da König Wilhelm aber auf den
Annexionen bestand und das Dringendste die Aufrichtung einer straffen
Bundesverfassung im Norden, d. h. in drei Vierteln des außerösterrcichischen
Deutschlands war, die sich mit den süddeutschen Staatsmännern und einem
auch vou Süddeutschland beschickten Reichstage damals ganz bestimmt nicht
Hütte erreichen lassen, so wich Bismarck eben einen Schritt zurück und begnügte
sich mit dem Erreichbaren statt des an sich Wüuschenswcrten, Gegenüber den
süddeutschen Staaten hatte die Bismarckische Politik in diesen Jahren des Über¬
gangs zweierlei zu leisten und hat das geleistet: den Abschluß und die An-
erkennung des Zoll- und des Wehrbündnisses, die Bismarck mit voller Energie
durchsetzte, und die Verhinderung des von Osterreich bctriebncn Südbundes,
wobei ihm Baden dnrch seine standhafte Ablehnung aller derartigen Pläne die
wirksamste Hilfe leistete. Ihre Seele war von der Pfordtens Nachfolger Fürst
Hohenlohe, und zweimal hat er einen Anlauf genommen, im März 1867 mit
einer darauf zielenden Konvention zwischen Bayern und Württemberg, die
auch eine staatenbündische Vereinigung des Südens mit dem Nordbuude und
einen gemeinsamen Bundesrat ins Auge faßte, aber in Karlsruhe wie in
Berlin rundweg zurückgewiesen wurde, und Anfang 1868 durch ein ähnliches
Projekt Heinrichs von Gagern, das kein besseres Schicksal hatte. Nicht einmal
die von Bayern vorgeschlagne dauernde süddeutsche Militürkonvention kam zu
stände. Jeder dieser Staaten reorganisierte nur für sich sein Heerwesen in bald
schwächerer, bald stärkerer Annäherung an die norddeutsche Wehrverfaffuug-
Daß die Stimmung nicht nur der leitenden süddeutschen Kreise während dieser
Jahre immer partikularistischer wurde, weist Lorenz an einer Reihe von charakte¬
ristischen Einzelheiten, namentlich auf Grund der Berichte des badischen Ge¬
sandten in München, R. von Mohl, ausführlich nach.
Den Höhepunkt der selbständigen, souveränen „europäischen" Politik er¬
reichte Bayern mit dem Rücktritt des Fürsten Hohenlohe und der Berufung
des Grafen Bray-Steinbnrg zu seinem Nachfolger im März 1870. Gewiß ist
das Ganze ein höchst uncrbauliches Kapitel deutscher Geschichte. Bayern fühlte
sich damals eben noch ganz als Nheinbundsstaat, darin liegt die geschichtliche
Erklärung seines Verhaltens; aber eine hinter 1806 zurückgehende Geschichts¬
betrachtung hätte gezeigt, daß Bayern diese Scheinsouveränitüt nicht seiner
eignen Kraft verdankte, sondern europäischen Umwälzungen und der Gunst
Frankreichs, daß es vor 1806 tausend Jahre lang niemals etwas andres ge¬
wesen war als ein Stück deutschen Neichsbodens, ein kaiserliches Lehen, daß
auch die Wittelsbacher ihre Stellung kaiserlicher Belehnung verdankten, daß der
Staat zu einer selbständigen „europäischen" Politik niemals die Kraft gehabt,
jeden Versuch dazu vielmehr mit schweren Leiden bezahlt hat, daß er die
Rettung vor der Annexion durch Österreich lediglich dem Einschreiten Friedrichs
des Großen verdankte. Hätte man sich das innerhalb der blauweißen Grenz¬
pfühle immer gegenwärtig gehalten, statt sich diese geschichtlichen Thatsachen
durch partikularistische Fabeln und impotente Großsprechereien verdunkeln zu
lassen, so wäre Bayern vor ungesunder, selbstgefälliger Sondcrtümelei auch
nach 1866 bewahrt und für Deutschland manche bittere Erfahrung erspart ge¬
blieben. Man könnte über diese Dinge jetzt zur Tagesordnung übergehn, wenn
nicht diese veralteten Auffnssungeu in Bayern auch heute noch eine gewisse
Rolle spielten.
Gerade die schwülen Jahre 1866 bis 1870 haben nun bewiesen, daß die
Politik, deren höchste Weisheit in dem Satze gipfelte: „Wir wollen hübsch für
uns bleiben," unmöglich war. In der europäische,, Politik bedeutete Bayern
damals trotz seiner „europäischen Stellung" gar nichts, und in der deutschen
reichte sei» Einfluß nicht über seine eignen Grenzen hinaus; niemals hat er
so tief gestanden wie in diesen Jahren unbeschränkter Souveränität. Die er¬
ziehende Kraft dieser Erfahrungen auf die Masse der Süddeutschen war freilich
sehr gering, wie H. von Treitschke noch in dem Aufsatze „Badens Eintritt in
den Bund" vom März 1870 konstatieren mußte (Zehn Jahre deutscher Kämpfe
I", 265 ff.); aber Bismnrck hielt ein unfehlbares Mittel in der Hand, seiner-
zeit den Anschluß des Südens zu erzwinge«: die Kündigung der im Jahre
1877 ablaufenden Zollvcrträge, und er würde es ohne Zweifel ebenso energisch
angewandt haben, wie er 1867 die Fortdauer des Zollvereins an die Annahme
der Wehrbündnisse knüpfte. Es ist also nicht wahr, daß er 1866 Deutschland
in eine „Sackgasse" geführt habe, und es ist ebensowenig wahr, daß jene
Jahre „Deutschland in seiner größten Zersplitterung" gezeigt hätten; im
Gegenteil, die „Zollverträge und die Schutzbündnisse hatten dem ganzen
Deutschland die stärkste Form politischer Einheit gegeben, wovon unsre Ge¬
schichte zu melden weiß" (Treitschke a. a. O. S. 267).
Wie schwer es noch 1870 beim Ausbruch des Kriegs den bayrischen und
wiirttembergischen Stnatsmänneru wurde, sich zu einer nationalen Auffassung
zu erheben, zeigt Lorenz ausführlich. Die Mobilisierung, die unter dem Drucke
der von ihm weit unterschätzten tieferregten Volksstimmung verfügt wurde, war
nach der Ansicht der Kammcrmehrheiten zunächst nur im Sinne einer bewaffneten
Neutralität gemeint, und erst nach einigen Tagen stellten beide Könige ihre
Truppen vertragsmäßig unter preußischen Oberbefehl. Immerhin, sie thaten
es und hielten damit den Vertrügen die Treue. Für die künftige Neugestaltung
Deutschlands war damit freilich noch nichts entschieden. Noch inmitten der
stürmisch aufwogenden nationalen Begeisterung verständigten sich Bray und
Varnbüler in München über die gemeinschaftliche Sicherung der souveränen
..europäischen" Stellung beider Staaten, die Ludwig II. selbst noch beim Ab¬
schiede vom Kronprinzen diesem besonders ans Herz legte. Eine nähere politische
Verbindung mit dem Nordbunde folgte also aus dem militärischen Anschluß
noch keineswegs, geschweige denn der Eintritt in diesen Bund. Um so glän¬
zender hebt sich von diesem Hintergrunde die wahrhaft nationale Haltung des
Großherzogs von Baden ab.
Die Verwicklungen, die zum Kriege führten, werden bei Lorenz nicht auf¬
gehellt, sondern verdunkelt. Er fällt in die überwundnen Anschauungen Sybels
zurück, erklärt mit dem überlegnen Lächeln des Spottes die große französisch-
österreichisch-italienische Kriegsverschwörung für eine „Legende," obwohl er doch
fortwährend von der feindseligen Gesinnung der leitenden österreichischen Kreise,
vielfach nach eignen Erfahrungen, berichtet, und schneidet sich dadurch selbst
jede Möglichkeit ab, die auf dieser Voraussetzung beruhende Politik Bismarcks,
namentlich seine energische Förderung der spanischen Thronknndidatur eines
Hohenzollern zu versteh«. Daß jene Verabredungen zu keinem förmlichen
Bündnis geführt haben, steht allerdings fest; aber wenn, wie 18?0 geschah,
schon Feldzugspläne entworfen wurden, wenn der Kaiser von Österreich am
14. Juni dem französischen General Lebrun seine Teilnahme am Kriege in
Aussicht stellte, falls die Franzosen als ,,Befreier" (von Preußen) in Süd¬
deutschland aufträten, und wenn der bisherige französische Gesandte in Wien,
der Herzog von Gramont, am 15. Mai Minister des Auswärtigen wurde (wie
Fürst Kemnitz, der österreichische Botschafter in Versailles, 1753 in Wien), so
waren doch das alles sehr „feuergefährliche" Dinge. Daß man in Berlin seit
1866 mit diesen Gefahren sehr ernsthaft rechnete, das beweisen zahlreiche
Äußerungen eingeweihter Persönlichkeiten: des Kronprinzen, Kcudells, Abekens,
Usedoms. Bernhardis, vor allem Bismarcks selbst, z. B. in seiner großen Reichs¬
tagsrede am 6. Februar 1888 und ausführlich in den Gedanken und Erinne¬
rungen II, 103. Sahen alle diese Männer nur Gespenster? Aber Lorenz
hat sich offenbar um diese ganze Litteratur zu wenig gekümmert. Er hätte
auch manches aus den Tagebuchblättern von Moritz Busch lernen können, wenn
er nicht in diesem unschätzbaren, von sehr „ernsthaften" Historikern wie Georg
Kaufmann, Max Lenz, Erich Marcks als eine der wichtigsten Quellen aner¬
kannten Werke ein „trauriges Buch," das Produkt „eines untergeordneten
Geistes," „Kammerdienergerede" und dergleichen gesehen und ganz vergessen
Hütte, daß die neue Ausgabe von 1900 nur eine vervollständigte war, daß
das bis 1884 in sechs starken Auflagen unter dem Titel „Graf Bismarck und
seine Leute im Kriege gegen Frankreich" verbreitete Buch von Bismarck selbst
durchgesehen und gebilligt worden ist. Aber freilich, die „ernsthafte" Geschichte
will ihre Helden immer in großer Uniform und in Pose sehen; daß sie nebenher
auch Menschen sind, das kommt für sie nicht in Betracht, und gerade daß
Bismarck als solcher bei Busch hervortritt, wie er leibte und lebte, das macht
das Buch so wertvoll für jeden, der es wagt, der ganzen Wahrheit frei ins
Auge zu sehen, also vor allem für den Historiker. Wahrscheinlich sind dann,
wenn jene Bündnisverhandlungen für eine „europäische Verschwöruugsfabel"
und „Legende" gehalten werden müssen, auch Moltkes Fcldzugsplüne, die er
seit 1867 unermüdlich bearbeitete und umarbeitete, und zwar seit 1868 immer
in der Voraussetzung eiues Doppelkrieges gegen Frankreich und Österreich
(siehe Moltkes militärische Korrespondenz III. 1, Ur. 12. 14. 15. 16. 18. 24),
nur militärische Stilübungen gewesen, mit denen sich der Chef des Großen
Generalstabs zum Zeitvertreib oder zur Übung des Scharfsinns beschäftigt hat.
Wie erklärt nun Lorenz, daß Bismarck so nachdrücklich für die spanische
Thronkandidatur eingetreten ist, was doch anch er nicht leugnen kann? Aus
seinem Nationalstolz, der erwachte, als die französische Diplomatie sie be¬
kämpfte (S. 244). Das geschah aber doch nicht schon im Februar oder
März 1870, sondern erst seit Anfang Juli, als die Annahme der Kandidatur
eine vollendete Thatsache war! Und war es jemals Bismarcks Art, persönliche
Empfindungen zum Ausgangspunkt politischer Entschlüsse zu machen? Nein,
die Kandidatur war für ihn eine der Gegenminen gegen die werdende Koalition,
so gut wie die sorgfältige Pflege des engen Einvernehmens mit Rußland
und die Zusammenkunft König Wilhelms mit dem Kaiser Alexander II. in
Eins zu Anfang Juni 1870, bei der sich Bismarck der freundlichen Neutralität
Rußlands (im Falle eines also für sehr möglich gehaltenen Krieges!) unter
der Voraussetzung, daß gegen die süddeutschen Staaten kein Zwang geübt
werde, versicherte. Wer freilich alle die Koalitionsverhandlungen für unver¬
bindliche Unterredungen phantasievoller Minister hält, der kann das alles nicht
versteh», und der versteht also auch Bismarcks Größe nicht.
Völlig mißlungen ist nun auch der Versuch, das Urteil über das Ver¬
hältnis Wilhelms und Bismarcks zu den entscheidenden Vorgängen am 13. Juli
1870 in Eins und Berlin zu korrigieren. Gewiß, König Wilhelm war im
Rechte, wenn er, was Bismarck tadelt (Gedanken und Erinnerungen II, 84),
zunächst allein, ohne diplomatischen Beirat, mit Benedctti verhandelte, denn
er sah die spanische Angelegenheit ganz ehrlich als Familiensache an. Aber
er hat doch sehr bald diplomatischen Beirat herbeigezogen, hat schon am 8. Juli
seinen Pariser Botschafter von Werther berufen. Ebenso gewiß hat er gegenüber
dem Drängen würdige Festigkeit mit hochherzigen Entgegenkomme» verbunden,
aber in diesem Bestreben gerade das gefördert, worin Bismarck eine schwere
nationale Niederlage sah, den Verzicht des Prinzen Leopold vor dem fran¬
zösischen Preß- und Kammerlärm, denn dazu hat er unter der Hand zwischen
dem 10. und 12. Juli in Sigmnringen geraten (S. 259 f.). Er hat dann am
13- Juli, selbst schwer gereizt, die neuen Forderungen Benedettis mit ruhiger
Festigkeit abgelehnt, aber den Gesandten nun doch an weitere Verhandlungen
zwischen den Ministerien verwiesen, also ihn nicht schlechtweg abgewiesen. Diese
Verschleppung, die nnr den französischen Rüstungen und Koalitionsverhandlungen
Zu gute gekommen wäre, hat erst Bismarck mit seiner Redaktion der Emser
Depesche verhindert, er hat dadurch mit vollem Bewußtsein im rechten Augen¬
blick den Bruch herbeigeführt, er allein! Das wußte Treitschke schon zu Anfang
August 1870 (a. a. O. I, 315). Wenn trotzdem Lorenz (S. 253) behauptet, „daß
der König persönlich der handelnde Meister und Herr aller folgenden Ent¬
scheidungen war," so ist gerade das die volkstümliche „Legende" von 1870,
und sie wird schon dadurch widerlegt, daß Wilhelm, als er am Morgen des
14. Juli die Depesche Bismarcks erhielt, betroffen sagte: „Das ist der Krieg!"
(E. Marcks, Kaiser Wilhelm I., 4. Auflage S. 315). Er hat also seine eigne Ab¬
lehnung der französischen Forderungen keineswegs als die Veranlassung zum
Bruch aufgefaßt Ju der klassischen Darstellung aber, die Bismarck' selbst
von dem großartigsten Augenblick seines Lebens in den Gedanken und Er¬
innerungen (II, 87 ff.) giebt, aber auch schon viel früher mit leichten Versionen
gegeben hat, was Lorenz beiläufig auch aus dem verachteten Busch Hütte
lernen tonnen, sieht dieser ,,ernsthafte" Geschichtschreiber nur eine „charakte¬
ristische, feine und heitere Darstellung," die ,,der große Kanzler" mich ,,in
ewem heitern Sinne" erzählt habe, und er spöttelt von der Höhe seiner Kenntnis
herab über die Leute, die noch glaube», ,,daß durch Auslassung von einem
Dutzend Worte eine der größten .Katastrophen verursacht worden sei." (S. 265.)
Von der Schwere dieser weltgeschichtlichen Stunde empfindet er nichts! Man
traut seinen Augen nicht, wenn man diese unglaublichen Sätze liest. Und
welche Vorstellung hat Lorenz von Bismarcks Geschäftsführung, wenn er breit¬
spurig die Frage erörtert (S> 266 f.), ob er sich damals in Varzin vollständig
von den Geschäften zurückgezogen habe, ,,wie er sonst zu thun pflegte." Bis-
marck in den Ferien, wie ein junger Referendar ,,in vollständiger Zurück-
gezogenheit von den Geschäften," ,,abgesperrt von seinem Amte," ,,unauffindbar"
is. 251), in der That ein „heiteres" Bild!
In den nächstfolgende» Kapiteln treten die Verhandlungen, die zum An¬
schluß der süddeutschen Staaten an den Norddeutschen Bund und zur Wieder¬
aufrichtung des Kaisertums führten, vielfach in ein schärferes Licht, namentlich
auch der höchst bedeutende Anteil des unermüdlich anregenden und vermittelnden
Großherzogs von Baden. Von ihm ging die Denkschrift über die Einigung
zwischen deu süddeutschen Staaten und dein Nordbunde aus, die sein Minister
Jolly schon am 2. September den preußischen Vertretern in Berlin und Karls¬
ruhe überreichen ließ, vou ihn? der Antrag ans einfachen Eintritt Badens in
den norddeutsche» Bund am 2. Oktober, der auch das widerstrebende Bayern
vorwärts drängte; er war es, der die bayrischen Pläne auf Umtausch der
badischen Pfalz gegen den Elsaß stolz zurückwies und für die Verwandlung
dieses eroberten Gebiets in eine preußische Provinz oder in ein „Reichsland"
eintrat. Graf Vray wollte von dem Eintritt Bayerns eigentlich nichts wissen;
er hätte im Einvernehmen mit Beust, der es wieder einmal für angebracht
hielt, in Berlin auf den vierten Artikel des Präger Friedens hinzuweisen, am
liebsten Österreich irgendwie mit herbeigezogen und gebürdete sich noch in
Versailles so, als ob Bayern mit seinem Eintritt ins Reich diesem eine große
Konzession mache. Erst als Bismarck endlich um 15. November mit Baden
und Hessen allein abschloß und der Abschluß mit Württemberg nahe bevor¬
stand, bequemte sich Bray am 23. November zur Unterzeichnung und nannte
dann diesen Vertrag trotz aller Zugestündnisse Bismarcks „das Ende Alt-
Bayerns" (S. 365). Wie man damals in Norddeutschland dachtz, ist noch in
lebhafter Erinnerung. Auch die in Versailles versammelten deutschen Fürsten
beklagten diese weitgehenden Zugeständnisse, und der Kronprinz hatte darüber
am 16. November eine so heftige Aussprache mit Bismarck, daß dieser den
Großherzog von Baden um seine Vermittlung ersuchte. Ihm gegenüber be¬
tonte der Kanzler die europäische Lage, die ihm damals, wo sich der Krieg
endlos in die Länge zog und die Entscheidungen vor Paris und Orleans erst
bevorstanden, schwere Sorgen einflößten, und die Drohung Bayerns, sich,
wenn die verlangten Konzessionen verweigert würden, an Österreich anzuschließen
und seine Truppe» abzuberufen, während es andernfalls das Kaisertum zu¬
gestehe (S. 367 ff.), sodaß der Großherzog sich zur Vermittlung verstand.
Wie unter diesen Umständen Lorenz gegen Bismarck seine üblichen Vorwürfe
wegen zu großer Nachgiebigkeit gegen Bayern erheben kann, ist unverständlich-
Alle Einwände, die er voraussah, hat der Kanzler »och am Abend des 23. No¬
vember in vertrautem Kreise widerlegt, als er tiefbewegt eintrat mit den
Worten: „Die deutsche Einheit ist gemacht, und der Kaiser auch." Auch das
hätte Lorenz bei Busch schon in der ursprünglichen Fassung des Buchs
(II«, 257, vergl. Tagebuchblätter I, 427 ff.) lesen können. Auch der nord¬
deutsche Bundesrat und der Reichstag machten große Schwierigkeiten; in jenem
nahmen vierzehn Staaten unter der Führung Sachsen-Weimars die Verträge
nur unter dein Ausdruck des Bedauerns über die Zugeständnisse an Bayern
nu (385 f.). Aber es bleibt doch bei dem Urteil Treitschkes (vom 7. Dezember,
die Vertrüge mit den Südstaaten, Deutsche Kämpfe I», 403): „Das (süddeutsche)
Volk bezweifelt gar nicht mehr, daß die deutsche Einheit jetzt gegründet werden
'Nüsse. Was soll denn werden im Süden, wenn auch jetzt die Einigung nicht
zustande kommt? Eine heillose Verwirrung, deren Ende niemand abzusehen
vermag." Die nationale Pflicht gegen den Süden war es also, die dein
Norden die Annahme dieser Verträge gebot, und was auch immer die bayrischen
Diplomaten, noch ganz befangen in den unseligen rheinbündischen Traditionen,
damals an der deutschen Einheit gesündigt haben mögen, wenn auch König
Ludwig II., wie Bismarck einmal sagte, sein einziger mächtiger Freund in
Bayern war, das bayrische Volk und die bayrischen Truppen haben das
alles gut gemacht, und die Gefahr eines neuen, eines preußisch-bayrischen
Dualismus ist damals endgiltig beseitigt worden.
Die bayrischen Schwierigkeiten sind es anch gewesen, die in dem König
Wilhelm die Abneigung hervorriefen, den Kaisertitel anzunehmen; dieses
Kaisertum erschien ihm als zu machtlos und leer. Die Kaiserwürde selbst
wies er an sich nicht zurück, er bestand vielmehr ans dem Titel „Kaiser von
Deutschland," und mit ihm waren alle in Versailles anwesenden Fürsten für
diese Form. Den Kaisertitel, den wenige kleine Fürsten (Weimar, Koburg,
Meiningen, Oldenburg) schon im Jahre 1866 vorgeschlagen hatten, brachte 1870
amtlich zuerst die badische Denkschrift vom 2. September in Anregung. Daß
ebenso der Kronprinz damals eifrig dafür eintrat (und zugleich die Verwandlung
des Bundesrath in ein fürstliches Oberhaus vorschlug), nimmt auch Lorenz an
gegenüber deu abweichenden Allgaben Bismarcks in den Gedanken und Er¬
innerungen (II, 116) und in einem Gespräch mit ihm selbst am 14. Ok¬
tober 1889, dessen Inhalt ihm der Fürst noch am 24. Oktober 1896 bestätigte,
(S. 616 f.). Diese längst sichere Entscheidung wäre ihm erleichtert worden,
wenn er beachtet hätte, daß Bismarck in einem Gespräch mit Vnsch am
26. September 1888 selbst die Idee des Kronprinzen von dem Deutschen
König statt des Deutschen Kaisers ganz richtig auf das Jahr 1866 verlegt
hat (Tagebuchblütter III, 245), und wenn er sich vergegenwärtigt hätte, daß
die letzten Redaktionen solcher Erzählungen nicht immer die sichersten sind.
Er hätte weiter aus Busch seinen Irrtum berichtigen können, daß der Kron¬
prinz und Bismarck erst am 24. August hätten zusammentreffen können (S. 408,
vergl. über diese Zusammenkunft auch Busch I, 106 f. aus Ligny); denn der
Kronprinz besuchte den Kanzler schon am 20. August in Pont-n-Moussou
von Nancy aus (Tagebuchblätter I. 91, vergl. G. Freytag, Der Kronprinz und
die deutsche Kniserkrone 29 f.), und er würde bei diesem selben Busch (III, 245)
dieselbe Erzählung, die er mit so großer Wichtigkeit behandelt, schon aus dem
vorhergehenden Jahre (1888) mit der Zeitangabe „vor oder gleich nach Sedan,
bei Veaumont oder bei Dvnchery" und der Ortsbestimmung: „in einer langen
Allee, wo wir nebeneinander herritten" („auf einer Wiese" bei Lorenz) gefunden
haben,") Oder hat Busch vielleicht much diese aus dem damals uoch gar nicht
vorhandnen Manuskript der Gedanken und Erinnerungen abgeschrieben?
Über den weitern Verlauf der Angelegenheit werden dann manche neue
Einzelheiten mitgeteilt, die übrigens das schon feststehende Bild nicht wesent¬
lich ändern. Fast dramatisch gestalten sich nach dem eingehenden Bericht des
Großherzogs von Baden (452 ff,, vergl. Dove, Großherzog Friedrich S. 165 f.)
die Schlußszenen: wie König Wilhelm noch in der letzten Beratung am
17. Januar 1871 erregt auf dem Titel „.Kaiser von Deutschland" bestand,
Bismarck uach seiner Abmachung mit den bayrischen Ministern an dem
„Deutschen Kaiser" festhielt, wie dieser Widerspruch überhaupt an diesem Tage
nicht geschlichtet wurde, und der König noch am Morgen des 18. Januar un¬
mittelbar vor der Proklamation dem Großherzog von Baden sagen ließ, es
bleibe beim „Kaiser von Deutschland"; wie dieser im letzten Augenblick noch
eine Verständigung versuchte, und da sie ihm nicht gelang, sein Hoch schlecht¬
weg auf „Kaiser Wilhelm" ausbrachte. Warum Lorenz zum Schlüsse die
Erzählung Bismarcks (Gedanken und Erinnerungen II, 122), der Kaiser habe
ihn nach der Proklamation „ignoriert," bestreitet, weil der dicht dabei stehende
Herzog von Meiningen davon „nicht das mindeste bemerkt" habe, gehört
wieder zu seinen Sonderbarkeiten, denn es ist schlechterdings nicht einzusehen,
warum hier das negative Zeugnis des ganz unbeteiligten Fürsten eine größere
Beweiskraft haben sollte, als das positive des sehr stark beteiligten und schmerz¬
lich betroffnen Bismarck.
Die beiden letzten Kapitel (Versailles und der Friede, Der Abschluß der
Reichsgründung und die allgemeine politische Lage) bringen wieder einzelne
neue Züge in das Bild, fallen aber teilweise einigermaßen aus dem Thema
heraus. Jedenfalls ist das Ergebnis des Buchs nicht das von Lorenz be¬
absichtigte; er hat manches neue beigebracht und einzelnes berichtigt, aber die
Umwertung der politisch-historischen Werte, eine Revision des geschichtlichen
Urteils zu Ungunsten Bismarcks ist ihm nicht gelungen. Der Weisheit letzter
Schluß wird hier für alle Zeiten der Satz bleiben: eine kleine Gruppe großer,
starker Charaktere hat in fortgesetzten! Ringen miteinander das neue Reich ge¬
schaffen, und jeder hat etwas von seinem Wesen in diese Schöpfung hinein¬
gebracht, der eine mehr, der andre weniger, der Meister des Werks aber bleibt
Fürst, Bismarck.
as Deutsche Reich hat sich, indem es durch den Frankfurter
Friedensschluß das Reichsland Elsaß-Lothringen wieder mit
Deutschland vereinigt hat, nicht ein einziges Dorf angeeignet,
das nicht früher zum Deutschen Reiche gehört hätte. Wohl aber
hat Deutschland, da es sich nnr durch Rücksichten ans die eigne
Sicherheit leiten ließ, als es gegen Frankreich die neue Grenze zog, kein Be¬
denken getragen, anch ehemals deutsche Gebictsstücke an sich zu bringen, die
dem französischen Sprachgebiete angehören, nämlich eiuen kleinen Teil der
Gebiete, von denen Kurfürst Moritz von Sachsen und dessen Verbündete 1551,
als sie „die welschen Bistümer" an den König von Frankreich als Schutz¬
herrn auslieferten, erklärten, daß diese „von alters her zum Reich gehören
und mit deutscher Sprach seind." Solcher welscher Gebietsstücke hatte das
Reich außer diesen Bistümern noch andre, wie Savohen, die Freigrafschaft
Burgund, die Grafschaften Mümpelgard und Ober-Salm, die Herzogtümer
Lothringen und Bar und die „wallonischen Quartiere" der Niederlande, die
auch unter spanischer Herrschaft, gleich der Freigrafschaft Burgund, Lehen vom
Reiche blieben.
Als die deutsche Verwaltung in Elsaß-Lothringen 1871 die Sprachver-
hültnisfe des Landes ermittelte, um eine Grundlage für das Gesetz vom
31. März 1872 über die Gcschäftssprciche und zugleich für den Sprachunter¬
richt und die Unterrichtssprache in den Volksschulen zu gewinnen, hat sie nicht
eine Jndividualzählung vorgenommen, sondern auf Srnnd der Wahrnehmungen
und Ermittlungen der Behörden der verschiednen Dienstzweige eine Sprach¬
grenze festgestellt und dabei vom deutschen Sprachgebiet ein rein französisches
und ein gemischtes Sprachgebiet ausgeschieden. In den beiden letzten Sprach¬
gebieten wurde „bis auf weiteres" der Gebrauch der französischen Geschäfts¬
sprache erlaubt. Dabei scheint sich die Negierung eine Berichtigung der ersten
Aufstellung vorbehalten zu haben, da zunächst die Ergebnisse der Options-
bewegung und der damit verbundnen Auswanderung, die erst am 1. Ok¬
tober 1872 ihren Abschluß finden sollte, abgewartet werden mußten. Schon
die Verordnung vom 5. Dezember 1877 hat dann die Zahl der von dem
Gebrauch der deutscheu Geschäftssprache ausgenommenen Gemeinden auf 420
von der Gesamtzahl (1696) festgesetzt. Seitdem ist diese Zahl um 109 weitere
Gemeinden vermindert worden, sodaß nur noch 311 Gemeinden ausgenommen
sind; von ihnen gehören 22 zum Uuterelsaß, 3 zum Oberelsaß und 286 zu
Lothringen. Für die Städte Metz, Dieuze und Chnteau-Salms wurden, und
Mar für Metz schon 1883, für Dieuze 1888, für Chateau-Salms 1889 be¬
sondre Bestimmungen getroffen, wonach amtliche Berichte und Schreiben an
die Behörden des Reichs und des Landes und öffentliche Bekanntmachungen
deutsch verfaßt, die Standesregister in deutscher Sprache geführt und deutsch ver¬
faßte Anträge von Privaten in derselben Sprache beantwortet werden sollten.
Wenn wir die Ergebnisse der Volkszählung vom 1. Dezember 1895 zu
Grunde legen und für die Zahl der Gemeinden wie für die Bodenfläche den
Stand von 1899, so erhalten wir für die Sprachverhältnisse in der Zivil¬
bevölkerung folgendes Zahlenbild, das die heute noch bestehenden Ausnahme¬
verhältnisse darstellt, während die am 1. Dezember 1900 ermittelten Sprach¬
verhältnisse diesen Ausnahmeverhältnissen nicht mehr ganz entsprechen.
Es gehören im ganzen Reichslande vom hundert:
im Bezirke Lothringen allein:
Aus den letzten Zahlen ist deutlich erkennbar, daß das französische Sprach¬
gebiet in Lothringen in der Hauptsache durch eine große Anzahl kleinerer
schwach bevölkerter Gemeinden zusammengesetzt wird, und würden wir die
Städte Metz, Dieuze und Chateau-Salms, für die die ersten Ausnahme¬
bestimmungen bedeutend eingeschränkt worden sind, außer Rechnung lassen
oder dem deutschen Sprachgebiete zuzählen, so würden sich zwar die Prozent-
zcihlen der Gemeinden und der Fläche nur wenig ändern, dagegen sich die
Prozentzahlen der Zivilbevölkerung des Ausncchmegcbiets fast um ein Drittel
vermindern; die Zivilbevölkerung dieser drei Städte zusammen betrug am
1. Dezember 1900: 51112 Personen beider Geschlechter. Schon daraus er¬
giebt sich, daß die von der Regierung 1872 angenommene Voraussetzung, daß
in Lothringen ein rein französisches Sprachgebiet bestehe, durch jede spätere
Jndividualzählung eine Berichtigung Hütte erfahren müssen, weil besonders im
letzten Jahrzehnt eine starke deutsche Einwanderung nach Lothringen beobachtet
werden konnte, wobei wir von den Wirkungen des Schulunterrichts, der Er¬
füllung der Wehrpflicht in altdeutschen Garnisonen und von den Einflüssen
des Verkehrs überhaupt ganz absehen.
Nun ist bei der Volkszählung vom 1. Dezember 1900 auch eine Er¬
hebung über die Muttersprache der Ortsanwesenden im ganzen Deutschen Reiche
vorgenommen und auf diese Weise die Möglichkeit gewonnen worden, einen
Vergleich zwischen den Erhebungen von 1872 und von 1900, zwischen den
Ausnahmcverhültnissen und den Zählungsergebuissen zu ziehn. Bei solcher
Vergleichung sind wir aber wegen der Verschiedenartigkeit der bei diesen zwei
Erhebungen angewandten Methoden zu begreiflicher Vorsicht genötigt. Die
Erhebung von 1872 war eine Schätzung, die von 1900 eine Zühlung. Im
Jahre 1872 wurde die bei der allgemeinen Zühluug ermittelte ortscmweseude
Bevölkerung dem auf andre Weise ermittelten Sprachgebiete zugezählt, die
welschen Minderheiten des rein deutschen Sprachgebiets mußten dabei ebenso
außer Berechnung bleiben, wie die deutschen Minderheiten des rein französischen
Sprachgebiets, da für solche Unterscheidung Zahlen überhaupt fehlten. Am
1. Dezember 1900 dagegen ist im ganzen Lande die Muttersprache aller Orts
anwesenden ermittelt worden.
Eine Vergleichung muß deshalb notwendig beschränkt bleiben auf die Ge¬
meinden, die von dem Gebrauch der deutschen Geschäftssprcichc noch heute aus¬
genommen sind, wobei zu untersuchen sein wird, ob nach den Ergebnissen der
Zählung von 1900 dieses Gebiet als geschlossenes französisches Sprachgebiet
noch heute betrachtet werden kann oder nicht. Was dagegen das deutsche
Sprachgebiet betrifft, so kann nnr im allgemeinen untersucht werden, ob etwa
die jüngste Zahlung einen Irrtum nachweist, der bei der seit 1872 erfolgten
Zuteilung der einen oder der andern Gemeinde zu diesem Gebiet erfolgt sein
könnte. Dabei sind nicht ethnographische oder nationale Rätsel zu lösen, wir
müssen uus vielmehr auf die Frage beschränken, ob die bestehenden Be¬
stimmungen über die Amtssprache den Ergebnissen der Zühlung von 1900 noch
entsprechen. Dann erst werden wir uns eine Meinung in der Sache bilden können
und von dem ersten — sür die deutsche Sprache allerdings ungünstigen —
Eindrucke befreit werden, die die Zahlen über die Muttersprache bei oberfläch¬
licher Betrachtung ergeben könnten.
Nach der Zühlung vom 1. Dezember 1900 sind in den 311 Ausnahme¬
gemeinden 111163 Personen der Zivilbevölkerung beider Geschlechter und aller
Altersstufen gezählt worden, die der französischen Zunge angehören; im ganzen
Lande dagegen haben sich 198173 zur französischen Muttersprache bekannt.
Auf das deutsche Sprachgebiet sind also von dieser Gesamtzahl 87010 zu be¬
rechnen, wovon auf Unterelsaß 12184, auf Oberelsaß 24453, auf Lothringen
50373 entfallen. Wir wissen nun zwar nicht, wie weit diese Zahlen durch
die Anwesenheit von Ausländern erklärt werden können, wovon, wenn wir
nur Franzosen, Schweizer, Luxemburger und Belgier in Rechnung stellen, am
1- Dezember 1900 rund 40000 im Lande gezählt wurden (Franzosen 15000,
Schweizer 12000, Luxemburger 11000, Belgier 2000); wir Nüssen anch nicht,
ob nicht etwa das Wort „Muttersprache" so aufgefaßt wurde, als ob nach
der Sprache der noch lebenden oder vielleicht schon verstorbnen Mutter gefragt
worden wäre, wobei man noch bedenken muß, daß vor und nach 1870 Ehen
zwischen Angehörigen beider Zungen sehr zahlreich waren; vollends aber können
wir darüber nur Vermutungen anstellen, ob nicht vielleicht bei der Beantwortung
der Frage uach der Muttersprache Einheimische da und dort in pietätvoller
Erinnerung an die Vergangenheit, und weil ihre ganze Bildung französisch
War, bei Nennung der Muttersprache die französische Sprache bevorzugen zu
müssen glaubten. Auf Unregelmäßigkeiten deutet schon hier das Mißverhältnis
der Zahlen für die Angehörigen der beiden Geschlechter und der Altersstufen
über und unter vierzehn Jahren, die der französischen Zunge zugeschrieben
werden. Die Leute französischer Zunge im deutschen Sprachgebiete haben wir
"icht nur in den Städten und an der Grenze zu suchen, wo sich die Fremden
zumeist ansammeln, sondern überdies im gemischten Sprachgebiete, d. h. in
den 109 Gemeinden, in denen nach 1872 die deutsche Geschäftssprache ein¬
geführt worden ist. In den größern Städten des deutschen Sprachgebietes,
in Straßburg, Colmar und Mülhausen, dürfte es zusammen kaum mehr als
6000 Einheimische oder Fremde französischer Zunge geben; der Rest verteilt
sich im Elsaß auf das gemischte Sprachgebiet in den Thälern der Breusch,
der Leberau und von Kaysersberg, wo — nahe an der Grenze — viele be¬
deutende Fabrikbetriebe bestehn, während z. B. in den rein deutschen unter-
elsässischen Kreisen Straßburg (Land), Erstem, Hagenau, Weißenburg und
Zabern insgesamt nur 1594 Leute französischer Zunge gezählt worden sind.
In deu elsässischen Kreisen Molsheim und Nappoltsweiler, wo haupt¬
sächlich französisches und gemischtes Sprachgebiet liegt, beträgt aber die Zahl
der Personen, die sich zur französischen Muttersprache rechnen, wenn wir von
den Gemeinden absehen, denen die französische Amtssprache noch zugestanden
ist, weit weniger als die Hälfte der ortsanwesenden Bevölkerung, Wir können
also, bevor ausführlichere Einzelheiten veröffentlicht sein werden, jetzt schon an¬
nehmen, daß in: deutscheu Sprachgebiete des Elsaß ein Rückgang nicht zu be¬
merken ist, wenngleich die Zahl der Leute der französischen Zunge seit 1872
eine natürliche Vermehrung erfahren hat, die deutsche Einwandrnng aber zurück¬
geblieben ist. Einen Fortschritt der deutscheu Sprache im rein französischen
Sprachgebiet des Elsaß kann man dagegen auch nicht erkennen. Dabei handelt
es sich jedoch nur um 24 Gemeinden, von denen noch 16 weniger als 10 Prozent
Deutscher enthalten; ganz französisch ist noch eine kleine Gemeinde mit 105 Ein¬
wohnern (Bliensbach im obern Breuschthale).
Ganz anders haben sich dagegen die Verhältnisse im Bezirke Lothringen
gestaltet, wo die große Mehrheit der Gemeinden des französischen und des
gemischten Sprachgebiets liegeu, nämlich 286 Gemeinden, die noch von dem
Gebrauche der deutschen Amtssprache ausgenommen sind, und 83 Gemeinden,
in denen seit 1872 diese Ausnahme beseitigt worden ist. Diese 286 Ge¬
meinden sind bisher dem rein französischen, die 83 Gemeinden dem gemischten
Sprachgebiete zugerechnet worden. Sie bilden zusammen ein geschlossenes
Gebiet zwischen der französischen Grenze im Westen lind einer Sprachgrenzlinie
im Osten, die in nordöstlicher Linie vom Winkel bei Deutsch-Oth, wo die
französische, die luxemburgische und die deutsche Grenze zusammentreffen,
mehrfach gegen Osten buchtend, bis zum Donon verläuft.
Von den 83 Gemeinden des gemischten Sprachgebiets in Lothringen
gehören 28 dem Landkreise Metz an (während die Stadt Metz selbst noch bis
jetzt zum überwiegend französischen Sprachgebiet gerechnet wurde), acht dem
Kreise Bolchen, neun dem Kreise Chateau-Salms, dreizehn dem Kreise Dieden-
hofen, fünf dem Kreise Forbach, zwanzig dem Kreise Saarburg. In diesen
83 Gemeinden sind 42541 Leute der französischen Zunge ermittelt worden;
bei dieser Zahl müssen wir dieselben Vorbehalte machen, was die Anwesenheit
von Fremden und die mißverständliche Auffassung oder absichtliche Ver-
kennung der Bedeutung des Wortes Muttersprache betrifft, wie für das Elsaß-
Schon die vorstehenden Zahlen über die Verteilung der 33 Gemeinden nach
Kreisen deuten darauf hin, daß sich diese gemischten Gemeinden auf das ganze
Grenzgebiet zwischen Deutsch-Oth und dem Donon verzetteln; eine größere zu¬
sammenhängende Gruppe sind nur — als Enklave im rein französischen Sprach¬
gebiete — zwölf Gemeinden der nächsten Umgegend von Metz.
Die Fortschritte der deutschen Sprache in Lothringen sind aber auch im
französischen Sprachgebiet weit bedeutender als im Elsaß. Von den 286 Ge-
meinten des Ausnahmegebiets hatten ani 1. Dezember 1900 128 mehr als
zehn vom Hundert der Einwohner mit deutscher Muttersprache, In der Stadt
Metz selbst" haben sich zur französischen Muttersprache 12835 bekannt, zur
deutschen 31699. In zwölf Gemeinden der unmittelbaren Umgebung von
Metz, in denen seit etwa zehn Jahren die deutsche Amtssprache eingeführt ist,
sind von der ganzen Zivilbevölkerung (20 728) nur 7340 französischer Zunge.
In mehreren Gemeinden des weiter von Metz entfernten Jndustriebezirks
spricht die Mehrzahl der Einwohner deutsch. New französisch find nur mehr
zwei entlegne winzige Gemeinden des Kreises Metz, die zusammen 149 Ein¬
wohner haben. Im ganzen französischen Sprachgebiete des Bezirks Lothringen
sind 95629 der französischen, 46907 der deutschen Muttersprache zugezählt
worden, während 1872 diesem Sprachgebiete die ganze Zivilbevölkerung zu¬
gezählt worden war. Ein rein französisches geschlossenes Sprachgebiet besteht
in Lothringen nicht mehr, vielmehr uur gemischtes Sprachgebiet ueben dem
deutschen. Die auf Grund der Zählung von 1895 und der Schätzung vou
1872 berechneten Anteile beider Sprachen an den Zahlen der Gemeinden, der
Zivilbevölkeruug und der Fläche sind deshalb überhaupt nicht mehr haltbar.
Es liegt hier das Ergebnis einer starken deutschen Einwcmdruug vor. Dem
..Statistischen Handbuch für Elsaß-Lothringen" (Straßburg, 1902) kann man
z- B. die überraschende Thatsache entnehmen, daß in der Stadt Metz — im
im Laufe der Jahre 1883 bis 1898 — 11864 eheliche Kinder geboren wurden,
die eingewanderte Deutsche zu Vätern hatten, dagegen nur 6081 Geburten
aus Eheu einheimischer Eltern. Innerhalb desselben Zeitraums haben in
Metz 3997 Eingewanderte aus Deutschland Ehen geschlossen und nur 2232 Ein¬
heimische. Von der Gesamtzahl dieser Ehen waren 2236 zwischen einheimischen
und eingewanderten Brautleuten geschlossen worden. Die schon früher er¬
wähnten Einschränkungen der Ausnahmebestimmungen von 1883 über die Ge¬
schäftssprache in Metz und die Einführung der deutscheu Geschäftssprache in
den erwähnten zwölf Nachbardörfern haben also durch die jüngste Zählung
«ne zweifellose Rechtfertigung erfahren. Die Wirkungen der Einwandrnng,
des Schulunterrichts, des Heeresdienstes und des Verkehrs — oonnudium se
eomwsrewna — haben sich in dem einer ungeahnten Höhe des Industrie¬
betriebs erschlossenen Bezirk Lothringen rascher und eindringlicher bethätigt
als in den entlegnen Vogesenthälcrn des Elsaß.
Es muß uoch erwähnt werden, daß bei der Zählung vom 1. De¬
zember 1900 für 7070 Personen zwei Muttersprachen, die deutsche und die
swnzösische angegeben worden sind. Im ganzen Deutschen Reiche sind damals
252918 Personen ermittelt worden, die neben der deutschen noch eine andre
Muttersprache angeben zu sollen glaubten, insbesondre eine slawische (z.B.polnisch,
masurisch und kassubisch, zusammen genommen: 182184). In der Öffent¬
lichkeit ist eine Erklärung des Wortes Muttersprache bei der letzten Zählung
nicht bekannt geworden. Man scheint also von der gewiß allgemein geteilten
Annahme ausgegangen zu sein, daß der Mensch nur eine Muttersprache hat.
Die Muttersprache ist also nicht aufzufassen als die Sprache der Mutter im
Gegensatze zu der des Vaters; die Frage ist auch bei der Zählung nicht ge¬
stellt worden, um die Sprachkenntnisse der einzelnen zu ermitteln, etwa wie
in Belgien, wo nicht nur nach der einen der drei Landessprachen (französisch
joder wallonischj, vlämisch und deutsch), sondern auch nach der Kenntnis von
zwei oder der drei Sprachen gefragt wird. Man wollte in Deutschland die
Sprache des Hauses, der Familie ermitteln. Es wäre schon bedenklich, wenn
man aus den Angaben über die Muttersprache die Stärke der Volksstümme
berechnen wollte, wobei etwa, wie es bei der Verwertung der Sprachenzählung
in Preußen (1890) geschehn ist, die Zweisprachigen je zur Hälfte dem einen
oder dem andern Sprachstämme zugeteilt werden. Wenn wir die Zählungs-
ergebnisse vom 1. Dezember 1900 nur zur Beurteilung der Frage verwerten, wie
die Bestimmungen über die Geschäftssprache zu regeln sein werden, kann kein
Zweifel darüber aufkommen, daß man die Zweisprachigen getrost der deutschen
Sprache zurechnen kaun.
Wir müssen uus aber mir der Dvppelsprachigkeit noch weiter beschäftigen;
sie bestand bei den Deutschen des Landes schon früher; sie besteht zum Teil
noch, und sie wird dnrch die Einführung des deutschen Unterrichts in den
Volksschulen des französischen Sprachgebiets geradezu gezüchtet. Die 7070
Doppelsprachigen, die 1900 gezählt wurden, sind wohl nur eine kleine Minder¬
heit der wirtlich im Lande schon vorhandnen Doppelsprachigen. Der Mül-
hanser Dichter August Stöber hat vou seinen elsässischen Landsleuten durch¬
aus zutreffend gesagt: „Sie babble dieses, sie rede deutsch, sie parliere welsch."
Die Beseitigung des französischen Sprachunterrichts im deutschen Sprachgebiete
wird im Elsaß die Folge haben, daß mehr und mehr die Kenntnis der welschen
Sprache schwinden wird; in Lothringen dagegen entsteht durch den deutschen
Unterricht in den Volksschulen eine neue Dvppelsprachigkeit, deren Nutzen
und lohnende Verwendbarkeit von der Bevölkerung keineswegs verkannt wird.
Und so werden sich denn die Erwartungen, zu denen die Sprachverhältnisse
im Elsaß und in Lothringen uns von Anfang an zu berechtigen schienen,
zunächst in das Gegenteil Verkehren. Gntmeinende Deutsche hatten sicher er¬
wartet, daß sich die Elsässer, zum Bewußtsein ihres Deutschtums gebracht,
reumütig und gründlich bekehren, und daß die Lothringer an den Elsassern
sozusagen abfärben würden. Es ist anders gekommen. Während der Elsässer,
der früher auf öffentliche Kosten in der Schule französischen Unterricht erhielt
und dadurch zur Auswanderung „ins Frankreich" befähigt wurde, der deutschen
Negierung noch lauge wegen der Entziehung einer so guten Gelegenheit grollen
wird, erkennt es heute schon der französische Lothringer dankbar an, daß die
Kinder in der Schule eine zweite Sprache lernen, die diesen ein besseres Fort¬
kommen im Lande sichert. Da der Lothringer doch ein waschechter Welscher
ist und als solcher nicht zu besorgen braucht, daß er Verkannt werden könnte,
so wird er sich rascher, leichtherziger und unbefangner ins Unvermeidliche
schicken, als jene Elsässer, die glauben, sie müßten sich als in ihrer Mutter¬
sprache gekränkte Welsche gebärden.
Wir müssen von diesem Standpunkt ans auch die Forderung übereifriger
deutscher Patrioten betrachten, die in dem Bestreben, eine Art nationaler Rein¬
lichkeit im Reichslande zu schaffen, die Forderung stellen, es solle die französische
Sprache mit Stumpf und Stiel recht bald ausgerottet werden. Solche Wünsche
sind unvernünftig und unerfüllbar. Diese deutscheu Chcmvins, die es als
eine ärgerliche Thatsache empfinde», daß in Metz und Umgegend noch französisch
gesprochen wird, scheinen die Sache so aufzufassen, als ob dort schon ganz
kleine Kinder aus Bosheit weisesten. Die Stadt Metz und das alte „Pays
Messin" waren niemals deutscher Sprache.
lZiliiisaös nannte schon 1214 ein Chronist die Lothringer — sie waren
es aber nicht in dem Sinne, daß der Lothringer damals zwei Sprachen sprach
oder verstand, sondern das Land war damals schon, wie auch heute uoch, von
zwei Stämmen bewohnt. Die Herzoge von Lothringen haben aus ihren
deutschen Ländern ein gesondertes Amt, das „Vailliagc d'Allemagne," schon
im zwölften Jahrhundert gemacht, das durch den „Bailly d'Allemagne," den
das deutsche Volk den „Dntschbelissen" nannte, verwaltet wurde. So hatten
auch die Bischöfe von Metz gesonderte Einrichtungen für das „Pays Roumain"
und für die „Gens Tudesques," und die Herzoge von Luxemburg herrschten
über wallonische und über deutsche „Quartiere." Im sechzehnten Jahrhundert
begannen die welschen Lothringer, deren Verkehr damals nach dem „Reiche"
wies, ihre Kinder in die Schulen von Zabern, Schlettstadt oder Straßbnrg
zu schicken oder mit den Nachbarn im Elsaß und im Trierischen „Kinder¬
tausch" zu treiben. Nachdem im Elsaß das lutherische Bekenntnis angenommen
worden war, predigte die katholische Geistlichkeit in Lothringen gegen dieses
alte Herkommen, verlangte und erreichte auch das Verbot dieser Sitte, die
für das Volk eine Quelle von Gefahren wegen der oontagion ä<z 1a xests
Körvtiauo sei. Die Spaltung der Bekenntnisse hat die katholischen Lothringer
den deutschen Nachbarn noch mehr entfremdet als die Politik. Sogar an
der Sprachgrenze ist eine Doppelsprachigkeit der seßhaften Bevölkerung nicht
entstanden. Wenn sich einzelne auch die fremde Sprache aneigneten, so ver¬
erbte sich doch eine solche Anpassung nicht. Heute, wo der Verkehr zu solcher
Anpassung nötigt, wird der Schulzwang ein Ersatz für die Vererbung sein.
Es wird sich dann ein ähnlicher Vorgang erneuern wie unter französischer
Herrschaft, und zwar in rascherer Gangart, da Frankreich den Schulzwang
nicht kannte. Im Elsaß und im deutschen Lothringen ist, ungefähr seit der
Revolution, der Gebrauch und damit allmählich auch die Kenntnis der deutschen
Schriftsprache geschwunden. Die Fähigkeit, beide Schriftsprachen zu beherrschen,
blieb ein mühsam errungner Vorzug von wenig Auserlesenen, die Neigung
und Muße hatten, alte und in der Heimat wenig verwertbare Überlieferungen
M Pflegen. So verschwand die deutsche Schriftsprache; unverwüstlich aber er¬
hielt sich die Mundart des Volkes, das „dieses" dachte, sprach, betete und
dichtete.
Die alte, vornehme französische Kultursprache wird nicht etwa zu einer
UuMg. vWiuwulg, ausarten, wenn sie in den Volksschulen des französischen
Sprachgebiets nicht mehr gelehrt werden wird, sondern sie wird, im Elsaß
wie in Lothringen, einfach verschwinden. Haarscharf erkennbar ist die Grenze
der Spracherrungenschaft aus der letzten Periode des französischen Schul¬
unterrichts in Lothringen. Wo Fortschritte errungen wurden, wurde das
neuste Schriftfranzösisch den Kindern beigebracht; wo seitdem der französische
Sprachunterricht aus den Schulen entfernt wurde, spricht heute schon Alt und
Jung wieder das „Patois Messin" oder das „Patois Lorrain," wie vor etwa
fünfzig Jahren, und daneben wird ein dialektfreies Deutsch gesprochen, freilich
nur von den Jungen. Diese Mundarten werden bestehn bleibe»; die französische
Schriftsprache aber wird, einmal aus den Volksschulen verwiesen, zunächst aus
den Dörfern verschwinden, von der städtischen Bevölkerung aber noch durch
mehr als eine Gcschlechtsfolge gepflegt werden, sie wird aber mehr und mehr
nur landfremde Sprache werden. Es ist dabei immer zu bedenken, daß sich
in einem Grenzlande wie das Reichsland, das gegen Frankreich eine Grenz-
strecke von mehr als 500 Kilometern hat, Fortschritte in der Sprache langsam
vollziehn werden. Aufgabe Deutschlands kann es aber nicht sein, die französische
Sprache oder Mundart auszurotten. Deutschland hat vielmehr als Herr im
Lande die Pflicht, seine eigne Sprache im Lande zu Ehren zu bringen; dies
wird geniigen, die nationale Aufgabe zu erfüllen. Es wird aber auch die ein¬
fache Vernachlässigung der französischen Sprache genügen, ihr Schicksal zu
besiegeln.
So berechtigen uns denn schon die bisherigen Vorgänge und Erfahrungen
zu der zuversichtlichen Erwartung, das; die Sprachenfrage in Elsaß-Lothringen
niemals die innere Bedeutung — vom äußern Umfange ganz abgesehen —
der Sprachcnfrage in der Ostmark des Deutschen Reichs gewinnen wird. Im
Elsaß hat die deutsche Verwaltung das Zerstörungswerk der französischen Re¬
gierung unterbrochen; in Lothrittgen wird die französische Volkssprache ihrem
Schicksal überlassen und die deutsche Sprache eingeführt. Die Einführung
der deutschen Sprache im Landesausschusse hat bisher zu keinen nennens¬
werten Schwierigkeiten geführt. Zur Verwertung der Spracheufrage zu einem
politischen oder nationalen Kampfmittel reicht der Rückhalt, den Gegen-
bestrebungen im Volke selbst finden konnten, nicht aus. Es bedarf keiner Ge¬
waltmaßregeln zur Entfernung der französischen Sprache; der Rückgang wird
sich allmählich durch die Umstände selbst ergeben.
Und doch berechtigen uns andrerseits die bei der Zählung gewonnenen
Erfahrungen noch keineswegs zu der Erwartung, daß wir fortan nur stetige
weitere Fortschritte ohne weitere Thätigkeit der Negierung zu verzeichnen haben
werden. Die starke Einwcmdrung ans Altdeutschland muß teilweise zurück¬
geführt werden auf die mit der Optionsbewegnng nicht abgeschlossene, sondern
noch viele Jahre lang fortgesetzte Auswandrung nach Frankreich. Diese Aus-
wandrung hatte nicht nur die Wirkung, daß Welsche oder Berwelschte aus¬
geschieden sind, sondern ein großer Teil des Grundbesitzes im Lande ist auch in
den Händen dieser dem Lande Entfremdeten geblieben. Es ist eine alte, anch
anderwärts bestätigte Erfahrung, daß die öffentliche Meinung eines kleinen
Grenzlandes durch die Auswandrung in ein großes Nachbarland nicht weniger
beeinflußt lvird als durch Leute und Dinge daheim. Diese Nebenwirkungen
der Auswandrung darf man nicht unterschätzen. Auch hat sich trotz der starken
Einwandrung über den Rhein und nach Lothringen die Zahl der Altdeutschen
im Reichslande nicht in dem Maße vermehrt, wie man nach der Stärke der
ersten Bewegung erwarten konnte. Unverkennbar hat sich die Einwcmdrnng
ins Elsaß, Straßburg etwa ausgenommen, nicht auf der ersten Höhe erhalten,
während insbesondre die Einwandrung aus der Schweiz ins Elsaß gewachsen
ist; auch die verstärkte deutsche Einwandrung nach Lothringen hat nicht völlig
ausgleichend gewirkt. Es hat sich längst dieselbe Unterströmung bemerkbar
gemacht wie in Posen — die bedenkliche Neigung der eingewanderten Alt¬
deutschen zur Rückwandrung in die verlassene Heimat. Das Deutsche Reich
hat nicht die Machtmittel, die den französischen Königen nach den Friedens¬
schlüssen vou Münster und von Nußwijk zu Gebote standen, die französische
Einwcmdruug im Elsaß festzuhalten. Es sind nicht mehr, wie damals, Erd¬
leben, Pfandschaften, Kanonikate, Stiftsprübenden, Kommenden, Panisbriefe usw.
zu vergeben, mit deren Hilfe man erwünschte» Zuzug ins Land führte; es
werden auch nicht, wie damals, verödete Dorfbanne und herrenlose Güter an
Einwandrer verliehen. Das Deutsche Reich ist auch nicht in der Lage, gleich
den französischen Königen durch Bevorzugung des einen oder durch Beein¬
trächtigung des andern Bekenntnisses politische Zwecke zu fördern. Deutsch¬
land war zunächst darauf beschränkt, die durch den Wegzug der französischen
Beamten erledigten Stellen der verschiednen Dienstzwcige durch Altdeutsche zu
besetzen. Auf den Zuzug unter dem Zeichen des Verkehrs hat das Deutsche
Reich keinen unmittelbaren Einfluß; überdies ist diese Eiuwcmdrung unaus¬
bleiblichen Schwankungen unterworfen. Gleiche Wahrnehmungen haben in der
Ostmark den Entschluß gereist, nicht nur die Dieustbezüge, sondern auch die
Ruhegehälter der im Lande verbleibenden Beamten zu erhöhen. Im Reichs-
lande kann man insbesondre in den kleinen Städten seßhaft gewordne ehemalige
Beamte ans Altdeutschland nicht häufig finden; die in Ruhestand versetzten
deutschen Beamten ziehn zumeist wieder in die Heimat, die auch von den
Hinterbliebnen der verstorbnen Beamten in der Regel wieder aufgesucht wird.
Aber auch noch eine andre beschämende Erfahrung muß zugestanden werden.
Vermöge seiner fatalen Anpassungsfähigkeit verfällt der vereinzelte Deutsche
nur allzuleicht eiuer Art von nationaler Mimikrie; leichtherzig entäußert er
sich der heimische» Art, um sich durch Aneignung einer schützenden Ähnlichkeit
von der fremden Umgebung nicht unvorteilhaft zu unterscheiden. Ans den
deutschen Kolonien in den überseeischen Ländern verlautet, daß sich seit der
kräftigen Entfaltung des Deutschen Reichs die eigne Haltung und die fremde
Wertschätzung unsrer Landsleute gehoben haben, und daß das gesunkne natio¬
nale Selbstbewußtsein wieder zum Vorschein kommt, wenn sich die deutsche
Flagge zeigt. Im Reichslande ist es nicht anders. Vor allem wird es immer
Sache der Reichsleitnng sein, die öffentliche Meinung für die neuen Ver¬
hältnisse zu gewinnen; wenn im Reichslande die Vorteile zum allgemeinen
Bewußtsein gebracht sein werden, die die Zugehörigkeit zu einer aufstrebenden
mächtigen Nation bietet, dann werden die noch bestehenden Ungleichartigteiten
gründlicher und nachhaltiger beseitigt und entwertet werden, als dies durch
eine Reihe von Maßregeln der Landesverwaltung erreicht werden könnte.
Zunächst liegt also auch in der Sprachenfrage nicht etwa nur ein ein¬
faches Problem für die Landesverwaltung vor. der allein etwa die Aufgabe
gestellt werden könnte, die Erfüllung der nationalen Erwartungen anzubahnen,
die sich allerdings durch Empfehlung von Geduld und Gleichmut so schlechtweg
nicht werden abfertigen lassen; die Landesverwaltung kann aber anch nicht
den Standpunkt einnehmen, daß noch weitere Wirkungen des nationalen Zu¬
sammenlebens abgewartet werdeu müssen; sie wird vielmehr ihren aus den
ersten Maßnahmen erkennbaren Vorsatz zu weiterer Ausführung bringen müssen,
die deutsche Amtssprache allmählich zur alleinigen Geltung zu bringen. Die
Miszstände im Osten des Reichs siud ohne Zweifel einer frühern Unterschätzung
der Bedeutung der Sache zuzuschreiben; auch in Österreich erntet man jetzt
die Folgen einer unverzeihlicher Nachlässigkeit.
Die Ergebnisse der Zählung von 1890 scheinen deutlich darauf hinzu¬
weisen, wo zunächst begonnen werden muß. In diesen Zahlen drückt sich die
Thatsache aus, daß die Kenntnis und der Gebrauch der deutschen Sprache
in dem 1372 als rein französisches Sprachgebiet betrachteten Landesteile
— und zwar nicht nur in den Städten — große Fortschritte gemacht hat. Ein
rein französisches Sprachgebiet besteht in Lothringen nicht mehr. Die zum Teil
recht ansehnlichen deutschen Minderheiten in Lothringen können füglich dieselbe
Berücksichtigung beanspruchen, die seit 1872 französische Minderheiten im ge¬
mischten Sprachgebiet erfahren haben, dieselbe Berücksichtigung, die Frankreich
dem rein deutschen Sprachgebiet im Elsaß und in Lothringen aus denselben
Gründen der staatlichen Notwendigkeit versagt hat, die das Deutsche Reich im
Reichslande zu Gunsten der deutschen Amtssprache mit gleichem Rechte wird
geltend machen können.
Die Einteilung in Sprachgebiete wird man aufgeben müssen, und es wird
in einer nahen Zeit in Erwägung gezogen werden müssen, ob man nicht an
Stelle der Ausnahmen von Orten — nach dem Vorbilde der Reichsjustiz¬
gesetzgebung — nur mehr die Ausnahmen von Personen von dem Gebrauche
der deutschen Geschüftssprache zuläßt. Wie sich die Verhältnisse jetzt schon
mit 'und ohne Zuthun der Behörden gestaltet haben, wird eine solche An¬
ordnung weit weniger einschneidend wirken, als man vielleicht jenseits des
Rheins annehmen mag.
Fürst Bismarck hat 1871 bei der Beratung des Gesetzes über die Ver¬
einigung von Elsaß-Lothringen mit dem Deutschen Reiche in Aussicht gestellt,
daß sich im Reichslande zunächst ein Partikularismus entwickeln werde, der
den Übergang zum innern Anschluß an das Reich schaffen solle. Diese Vor¬
aussetzung hat sich erfüllt. Der Partikularismus darf aber kein internatio¬
nales Gepräge erhalten. Elsässischen oder lothringischen Stammestrotz — die
Eigentümlichkeit aller deutschen Stämme — kann das Deutsche Reich recht
wohl vertragen, aber fremdländisches Wesen kann als besondre Art der deutschen
Elsässer und Lothringer nicht anerkannt werden. Wer sich die deutsche Sprache
nicht aneignen will, der mag auf die Beteiligung an den öffentlichen An¬
gelegenheiten verzichten. Das ganze Elsaß und das deutsch redende Lothringen
haben sich — etwa drei Jahre vor dem Kriege — empört aufgebäumt, als die
französische Regierung den Entschluß kund gab, die deutsche Sprache aus
Schule und Kirche zu verdrängen; die katholische Geistlichkeit stellte sich damals
an die Spitze dieser Bewegung gegen die Neuerung. Wenn nun — wieder
unter der Leitung der katholischen Geistlichkeit — von der deutschen Negierung
die Wiedereinführung der französischen Sprache in den Volksschulen verlangt
wird, so kann ein solches Verlangen nicht ernsthaft genommen und nicht als
berechtigter oder als erträglicher Stammestrotz anerkannt werden.
An die Vorgänge dieser Zeit wird man lebhaft erinnert durch eine Wahr-
nehmung, die sich jetzt jedem aufmerksamen Beobachter aufdrängt. Die aus¬
gestorbne oder verschwindende Generation im Elsaß beherrschte die französische
Sprache so mangelhaft, daß ein französischer Inspektor der Akademie — kurz
vor dem Kriege — den Eltern den Rat gab, die Kinder, damit sie sich, un¬
beirrt durch heimische Einflüsse, die französische Sprache tadellos aneigneten,
nach Nußland zu schicken. Aber die jüngere Generation der städtischen Be¬
völkerung, die jetzt in das öffentliche Leben getreten ist, spricht ein einwand¬
freies Französisch. Wie kommt das? Viele Leute haben ihre Bildung in fran¬
zösischen Schulen erhalten, andre vielleicht in gut geleiteten kleinen Neben¬
schulen im Lande selbst.
Nicht nnr die deutsche Einwandrung im Lande, sondern anch die ein¬
heimische deutsche Bevölkerung kann gegenüber den ans dem Inlande und
aus dem Auslande stammenden fremden Einflüssen nicht eines starken Rück¬
halts bei der deutschen Regierung entbehren. Auch für die mit Verfassungen
und Volksvertretung«!, ausgestatteten Staaten der Neuzeit, auch für das
Reichsland, gilt noch immer der Ausspruch eines altgriechischen Staatsmannes:
"Die Seele des Staates liegt in der Kraft der Negierung."
meer deu Verhandlungen der Provinzialsynvden der altpreußischen
Landeskirche sind es die der Synode der Provinz Brandenburg,
die die öffentliche Aufmerksamkeit am meisten auf sich zu lenken
pflegen. Denn Brandenburg ist die volkreichste Provinz dieser
Landeskirche, die Provinz, die die Reichshauptstadt mit umfaßt,
und in deren Synode neben sonstigen hervorragenden Männern auch Mitglieder
der größten und angesehensten deutschen Universität ihren Sitz haben. Duzn
kommt, daß, weil die Synode in Berlin tagt, die in ganz Deutschland ge¬
wesenen Berliner Zeitungen ausführlich über ihre Verhandlungen berichten,
und daß so die dort gefaßten Beschlüsse überall im Reiche bekannt werden.
Diese Umstünde wirken zusammen, die brandenburgische Provinzialsynode
In besondrer Bedeutung zu erheben und ihr — neben der nur aller sechs Jahre
zusammentretender Generalsynode — bis zu einem gewissen Grade den Charakter
ernes Sprachorgans der gesamten Landeskirche zu geben.
Auch in dem Inhalt ihrer Verhandlungsgegenstände und Beschlüsse zeigt
Ach die hervorragende Stellung, die die in Berlin tagende Provinzialsynode
Annimmt. ^ sind zum Teil Angelegenheiten der Gesamtkirchc, die auch auf
M zur Erörterung gelangen, und es sind für das gesamte kirchliche Leben
anschneidende Fragen, über die sie Beschlüsse faßt.
Unter ihren Verhandlungen in der diesjährigen Tagung haben vor allem
die über die theologische Richtung der Universitätsprofessoren und die Be¬
deutung und den Zweck der Kandidatcnseminare die allgemeine Aufmerksamkeit
auf sich gezogen. Wieder sind hier — wie schon früher wiederholt in Ver¬
sammlungen der Gesamtsynode — von orthodoxer Seite Klagen erhoben, und
von der ganz überwiegenden Majorität Beschlüsse gefaßt worden, die sich gegen
die auf den Universitäten vertretenen freiern Richtungen wenden und die Not¬
wendigkeit der Erziehung der angehenden Geistlichen in „bibelglüubiger" und
„bekcnntnisgemäßer" Richtung betonen.
Die Klagen über den Mangel an Orthodoxie bei den Professoren der
evangelischen Theologie sind ja nichts neues; nur die Form, in der sie auf¬
treten, die Begründung und die Folgerungen, die aus ihnen gezogen werden,
unterscheiden sich von frühern Vorgängen. Und sie thun das in der That,
zum Teil in sehr beachtenswerter Weise.
Die alte Forderung, daß die theologischen Professuren nur mit Vertretern
der orthodoxen Richtung besetzt werden dürften, fehlte zwar in den Verhandlungen
nicht. Auf Grund eiuer Petition des Lutherischen Vereins für die Provinz
Brandenburg wurde von Freiherrn von Manteuffel und Genossen der Antrag ge¬
stellt, an den Kultusminister die Bitte zu richten, es möchten für das Lehramt in
den evangelisch-theologischen Fakultäten „nur solche Männer" dem König vor¬
geschlagen werden, „die imstande sind, die ihnen anvertraute theologische Jugend
so auszurüsten, daß diese dereinst das geistliche Amt ehrlicherweise dem Or-
dinationsgelübde gemäß auszurichten vermag": es wird von orthodoxer Seite
eben angenommen, daß eine Amtsführung „gemäß dem Ordinationsgclübde"
„ehrlicherweise" nur von Geistlichen geschehn könne, die auf orthodoxen
Boden stehn.
Und nicht minder deutlich verlangte Stöcker, daß akademische Lehrer, die
„die Heilswahrheiten bestreiten," nicht zu den Lehrämtern berufen würden.
Nur als Privatdozenten oder in Schriftwerken dürfe ihnen gestattet werden,
ihre Ansichten zu vertreten."')
Weniger weit als die von dieser Seite erhobne Forderung der Besetzung
aller theologischen Lehrstühle mit Vertretern der Orthodoxie ging der Antrag
Barthold und Genossen, der nur wünschte, ,,daß die theologischen Lehrstühle
in ausreichendem Maße mit solchen Männern besetzt werden, die nicht nur die
gehörige wissenschaftliche Befähigung besitzen, sondern vor allem fest im Glauben
der Kirche stehn."
Hier also wird orthodoxer Standpunkt nicht mehr von sämtlichen, sondern
nur von einer „ausreichenden" Anzahl theologischer Professoren verlangt: neben
den orthodoxen sollen auch andre Lehrer der Theologie mit Amt und Würden
betraut werden dürfen.
Beide Anträge nun — der Manteuffelsche und der Bartholdsche — wurden
zurückgezogen zu Gunsten eines dritten, von dem Superintendenten Baethgc
mit 57 Genossen gestellten Antrags, der schließlich mit ganz überwiegender
Majorität — gegen nur fünf Stimmen — von der Synode angenommen wurde.
Dieser Antrag spricht sich wegen der Ernennung der Professoren dahin aus,
daß an den Kultusminister die dringende Bitte gerichtet wird, ,,bei der Be¬
rufung der Dozenten dauernd ans solche Männer bedacht zu sein, welche durch
rechten und besonnenen Gebrauch der evangelischen Freiheit der Wissenschaft
den Anforderungen der Kirche Rechnung tragen." Er bittet zugleich „die
Mitglieder der hochwürdigen Fakultäten als Lehrer der zukünftigen Diener am
Wort um ihre Mitwirkung nicht allein an der wissenschaftlichen Ausrüstung,
sondern auch an der christlichen Charakterbildung der Jugend."
Mit diesem Beschluß hat die orthodoxe Partei die von ihrer überwiegenden
Mehrheit so lange festgehaltene Forderung fallen lassen, daß nur Auhüuger
der orthodoxen Richtung oder mindestens, so weit möglich, Anhänger dieser
Richtung in die theologischen Fakultäten berufen werden sollten. Auch erkannte
der Referent, Konsistorialrat Pfarrer Dr. Keßler an, daß „die Theologie als
Wissenschaft der Bewegung des gesamten geistigen Lebens unterstehe" und sich
von dieser Bewegung „nicht emanzipieren könne." „Sie müsse mit den wissen¬
schaftlichen Mitteln arbeiten, welche die Zeit ihr darbiete." Der theologische
Nachwuchs bedürfe der „umfangreichsten Ausrüstung geistlicher Art" und dürfe
nicht „wie Treibhauspflanzen" betrachtet werden, „die vor jedem Luftzug zu
bewahren seien." „Die evangelische Theologie sei eine freie Wissenschaft und
müsse es unter alleu Umständen bleiben. Sie könne nur in dieser Luft leben
und existieren, und zwar müsse diese Forderung nicht nnr im Namen der
Wissenschaft ausgesprochen werden, sondern im Namen der evangelischen Kirche."
Insoweit darf man diese Ausführungen und den ihnen entsprechenden
Teil des zum Beschluß erhobnen Antrags Bacthge als sehr erfreulich be¬
zeichnen. Sie bedeuten, wie der Kirchenrechtslehrer an der Berliner Universität,
Professor Kahl, in einer Zuschrift an die „Nationallibcrale Korrespondenz"
mit Recht hervorhebt, „einen ungeheuerm Fortschritt und atmen einen neuen
Geist"; ,,man kann uns auf künftigen Synoden nicht mehr mit den alten Zu¬
mutungen kommen." Um deswillen hat auch die Mittelpartei, die Evangelische
Vereinigung, für den Antrag Baethge in seiner Gesamtheit gestimmt — nach
Verlesung einer Erklärung, die gegenüber andern Sätzen des Antrags recht
große Bedenken geltend machte und ihnen gegenüber als „Einschränkung und
Verwahrung" bezeichnet wurde.
Und in der That: uur in diesem Verlassen des frühern Standpunkts
und der damit in Zusammenhang stehenden Anerkennung der Möglichkeit, mit
den gegenwärtig bestehenden Fakultäten zu gedeihlichem Zusammenarbeiten an
der Ausbildung der jungen Theologen zu gelangen, liegt das Erfreuliche des
Beschlusses der Provinzialsynode.
In andern Beziehungen giebt er zu sehr schweren Bedenken Anlaß.
Schon der bisher liesprochne Teil des Beschlusses: die Bitte an deu
Minister, bei Berufungen dauernd auf solche Männer bedacht zu sein, die von
der evangelischen Freiheit „rechten und besonnenen Gebrauch" machen und
damit „den Anforderungen der Kirche Rechnung tragen," enthält an sich einen
'-'echt schweren Vorwurf — nicht nur gegen einen Teil der Professoren der
Theologie, sondern auch gegen die Vorgänger des jetzigen Kultusministers.
Denn eine solche „dringende Bitte" hat doch nur einen Sinn, wenn sie um
deswillen notwendig erscheint, weil ihrem Inhalt bisher nicht entsprochen
wurde, weil also die Synode annimmt, daß das Ministerium bisher auch
Dozenten berufen hat, die von der evangelischen Freiheit der Wissenschaft nicht
den nötigen „rechten und besonnenen Gebrauch" machen, und von denen das
Ministerium ein solches Verhalten vorauszusehen imstande sein mußte.
Ein weit schärferes Mißtrauensvotum gegen einen Teil der Professoren¬
schaft enthalt der Eingangssntz des Beschlusses: „Prvvinzialshnvde erkennt
mit Bedauern, daß sich in der Theologie Richtungen geltend machen, welche
die Substanz der christlichen Lehre antasten," und es hallt wieder in der Auf¬
forderung des Referenten an die Professoren, „Selbstzucht zu üben in der
Richtung, daß mau nicht alles, was doch nur ein vorübergehender Einfall
oder eine Phase in der Entwicklung ist, gleich als gesichertes Ergebnis der
Wissenschaft hinstellt," wie in der Mahnung der Professors Kasten, die Do¬
zenten „müssen daran denken, daß, wenn gewisse Dinge in die Gemeinden
hineingeworfen werden, sie Anstoß und Ärgernis hervorrufen müssen." Dazu
kommt noch des Referenten Vorhalt: „die Instanzen, in deren Händen die
Versorgung der Fakultäten mit Dozenten liege, sollten sich immer vergegen¬
wärtigen, daß zu den wissenschaftlichen Qualifikationen sich auch noch persön¬
liche gesellen müssen."
Hat unsre Professorenschaft und hat das Ministerium, und wer sonst noch
unter den „Instanzen" in dem letztangeführten Satze begriffen sein mag, diese
Vorwürfe verdient?
Es dürfte schwerlich auch nur einen einzigen Professor der Theologie
— gleichviel, welcher Richtung — in Deutschland geben, der einen „vorüber¬
gehenden Einfall" oder irgend eine Ansicht, die er nicht für fest bewiesen er¬
achtete, als „gesichertes Ergebnis der Wissenschaft" hinstellte, und ebenso¬
wenig einen solchen, der sich nicht jederzeit der schweren auf ihm lastenden
Verantwortung bewußt wäre, daß er die Pflicht hat, von der Lehrfreiheit
„rechten und besonnenen Gebrauch zu machen."
Freilich — darüber, was als gesichertes Ergebnis wissenschaftlicher Forschung
anzusehen, wie darüber, was mit dem „rechten und besonnenen Gebrauch" der
akademischen Lehrfreiheit vereinbar ist, und was durch ihn geradezu gefordert
wird: darüber werden die Ansichten bei den Theologen wie bei den Lehrern
in andern Fakultäten wohl jederzeit mehr oder weniger auseinandergehn."
Je starker die „Persönlichkeiten," je mächtiger die „persönlichen Leistungen
sind, die gerade der Referent forderte, um so weniger wird der Einzelne bereit
sein, sich darin an konventionelle Überlieferungen zu binden. Auch die Bitte
des Shnodalbeschlusses, es möchten die Professoren „anch um der christlichen
Charakterbildung der Jugend mitwirken," erscheint als ein überflüssiger Appell:
denn auch hier kann man ruhig behaupten, daß sich die theologischen Hoch¬
schullehrer aller Richtungen dieses Ziel setzen. Freilich: was zur „christlichen'
Charakterbildung gehört, darüber dürsten auch hier die Ansichten nicht ganz
übereinstimmen.
In der Hauptsache sollen wohl alle diese Klagen und Mahnungen nur
abgeschwächte Wiederholungen des an die Spitze des Beschlusses der Provinzial-
shnode gestellten Vorwurfs sein, „daß sich in der Theologie Richtungen geltend
machen, die die Substanz der christlichen Lehre antasten" — Richtungen, nicht
nur eine Richtung.
Was die orthodoxe Mehrheit der Synode — die Mittelpartei hat gerade
gegen diesen Satz insbesondre Verwahrung eingelegt — unter dieser „Substanz
der christlichen Lehre" versteht, ist einigermaßen klar, wenn es auch nicht offen
ausgesprochen ist. Es kehrt in der Erklärung wieder in der Form des
.Bodens der Grundwahrheiten und Heilsthatsachen des Evangeliums," auf
den „die Kirche sich immer auss neue zu stellen hat," und klingt durch in
der „Befestigung im Mbelglauben und im Bekenntnis der Kirche," auf die
bei Ausbildung der Kandidaten in den Seminaren und ähnlichen Anstalten
was dem Schlußsatz des Beschlusses „das Hauptgewicht zu lege» ist."
'
Doch es kommt hier nicht darauf an, festzustellen, was nach orthodoxer
Anschauung zur „Substanz der christlichen Lehre" gehört — die orthodoxe
Auffassung der Gottessohuschaft und die im zweiten Artikel enthaltenen Aus¬
sagen über Christus stehn dabei jedenfalls im Mittelpunkt —, sondern darauf
kommt es an: Hat die orthodoxe Partei ein Recht, im Namen der Kirche fest¬
zustellen, was als „Substanz der christlichen Lehre" zu gelten hat? Dieses
Recht muß ihr nicht minder wie jeder andern Richtung bestritten werden.
So wenig wie die Konzilien der ältesten Zeit und des Mittelalters, so
wenig wie Luther und seine Zeitgenossen, so wenig ist auch irgend eine der
heutigen theologischen Richtungen berechtigt und berufen, mit unfehlbarer
Autorität für die evangelische Kirche festzulegen, was zu den Grundwahrheiten
des Christentums gehört. Nur die katholische Kirche erkennt eine Unfehlbar¬
keit in Glaubenssachen an. Für die evangelische Kirche eine solche behaupten
zu wollen, heißt, katholische Anschauungen in sie hineintragen, heißt, ihr den
Lebensnerv unterbinden, heißt, ihre Existenzberechtigung untergraben.
Das Fundament, ans dem die Reformatoren die evangelische Kirche ge¬
gründet haben, war die unerschütterliche Überzeugung, daß nur die in ernstester
Gewissensprüfuug gewonnenen Ergebnisse") die Grundlage der Religion bilden
dürften; und daß ein vor solcher Prüfung nicht stand haltender Lehrsatz auch
dann nicht als Inhalt religiösen Glaubens anerkannt werden dürfe, wenn auch
die höchste Autorität der Kirche seine Richtigkeit behaupte.
Nur auf diesem Fundament kann die evangelische Kirche fortbeftehn und
fortwirken: andernfalls ist sie selbst in Katholizismus verfallen. Um deswillen
kann die evangelische Kirche keine höchste Autorität in Glaubenssachen an¬
erkennen und eine solche weder in der Geistlichkeit, noch in dem Landesherrn,
uoch in den Konsistorien, noch in den Synoden sehen.
Nur seiner eignen Überzeugung kann und darf jeder Lehrer der protestan
Aschen Theologie folgen: handelt er anders, so handelt er nicht in Überein-
stimmung mit den Pflichten, die sein Amt ihm auferlegt. Auch „das Be¬
kenntnis" ist darum — auch abgesehen von seiner orthodoxe« Auslegung —
kein „Vollwerk," an dem er Halt zu machen hätte. Wen seine Wissenschaft-
lichen Forschungen zu der Überzeugung bringen, daß Bestandteile des „Be¬
kenntnisses" wissenschaftlich unhaltbar sind, der hat als akademischer Lehrer die
Pflicht, diese Überzeugung — unbeirrt um Angriffe, von welcher Seite sie
auch kommen mögen — seinen Schillern zu lehren.
So liegt in der Thatsache, daß sich „in der Theologie Richtungen geltend
machen," die Glaubenssätze „antasten," die nach orthodoxer Anschauung zur
„Substanz der christlichen Lehre gehören," nichts, woraus diesen Richtungen
mit Recht ein Vorwurf gemacht werden könnte.
Aber wenn nun die Freiheit der theologischen Wissenschaft in diesem weiten
Umfang anerkannt werden muß, führt das nicht mit Notwendigkeit zu den
schwersten Mißstünden für die Kirche?
„Die zwischen der theologischen Wissenschaft und der Kirche entstandne
Spannung stellt einen schweren Mißstand dar," „ruft schwere Sorge hervor," „ist
ein ungeheures Unglück" — so der Referent der Provinzialsynode und Stöcker.
Daß diese „Spannung" ein Mißstand ist, wird von keiner Seite bestritten
werden. Aber ist es wirklich eine Spannung zwischen der Wissenschaft und der
Kirche? Wer hat denn in der evangelischen Kirche das Recht, zu behaupten:
„die Kirche" stehe bei theologischen Streitfragen aus einem bestimmten Stand¬
punkt, der von dem der wissenschaftlichen Vertreter der Theologie abweicht?
Wer ist berechtigt, solchergestalt einen bestimmten Standpunkt als den Stand¬
punkt „der Kirche" hinzustellen? Etwa die Vertreter der Orthodoxie, weil sie
finden, daß sie im ganzen — in manchen Einzelheiten doch auch nicht mehr —
auf dem Glaubensstandpunkt Luthers stehn, oder die Mitglieder der Behörden
des landesherrlichen Kirchenregiments, weil sie berufen sind, auch über Irrlehre
zu entscheiden? Stehn denn etwa die Professoren, die Männer, die ihre ganze
Lebensarbeit daran setzen, der Erforschung des wahren Christentums zu dienen,
nicht innerhalb der Kirche? Haben sie nicht dasselbe Recht wie die praktischen
Geistlichen, mitzusprechen bei Beantwortung der Frage: Was ist Wahrheit in
Bezug aus religiöse Dinge? Worin besteht das Wesen des Christentums? Die
Aufstellung eines solchen Gegensatzes zwischen den Vertretern der theologischen
Wissenschaft und der „Kirche," wie sie der Referent unternommen hat: „Die
Theologie sucht die Wahrheit zu erforschen, die Kirche aber befindet sich nicht
auf dem Wege zur Wahrheit, sie ist sich bewußt, die Wahrheit zu besitzen — ^
diese Wahrheit, die über alles Irdische und über den Wechsel der Wissenschaft
erhaben ist," ist schon um deswillen verfehlt, weil beide Behauptungen nur
richtig sind, wenn unter „Wahrheit" in beiden etwas dein Umfange nach
durchaus Verschiednes verstanden wird. Denn der Satz, daß die Kirche „die
Wahrheit besitzt," kann doch nur in dem Sinne als zutreffend anerkannt
werden, daß die evangelische Christenheit überzeugt ist, in ihrem Christenglauben
die wahre Religion zu haben — nicht aber in dem Sinne, daß eine be¬
stimmte Auffassung des Inhalts des Christentums ein für allemal als die
der „Kirche" und damit als „die Wahrheit" anzusehen ist. Wäre das letzte
denkbar, daun müßten die Lehrer der Wissenschaft ja Narren sein, wenn ste
ihre volle Lebensarbeit an die Mitarbeit zur Erforschung einer Wahrheit setzten,
die greifbar und klar schon im Besitz der Kirche, deren Glieder sie selbst sind,
erkennbar vor ihnen liegt!
Wie alle menschliche Erkenntniss so ist mich die Gotteserkenntnis und die
Erkenntnis der religiösen Wahrheiten der Vertiefung fähig und damit dem
Wandel unterworfen. Auch hier gilt der Satz: Stillstand ist Rückschritt. Auch
hier ist darum das Streben nach einem Fortschritt geboten, und die evange¬
lische Kirche kann dieses Streben nicht entbehren. Es widerstreitet dem Wesen
der evangelischen Kirche, für sie einen ein für allemal unabänderlichen
Glnnbensstand zu behaupten — baut doch sogar die katholische Kirche noch
an dem ihren.
Nicht also zwischen der ..Kirche" und der ..wissenschaftlichen Arbeit der
Theologie" besteht die Spannung: sondern zwischen den Ergebnissen der
wissenschaftlich-theologischen Forschung und den Anforderungen, die von der
Orthodoxie und — vielfach wenigstens — von den Inhabern der lirchen-
regimentlichen Ämter an die angehenden und an die amtierenden Geistlichen
wegen des Glaubensstandpunkts gestellt werden.
Gewiß ist diese Spannung beklagenswert. Aber man darf sie nicht als
eine Spannung zwischen der Wissenschaft und der „Kirche" bezeichnen und
daraus dann folgern, daß nur durch ein Nachgeben der Wissenschaft, dadurch,
daß diese, wie der Beschluß der Provinzinlsynvde es fordert, „den Anforde¬
rungen der Kirche Rechnung trage." der Konflikt gehoben werden könne.
Die Vertreter der Wissenschaft dürfen und können nicht Wider ihre Über¬
zeugung lehren — und ebensowenig wider ihre Überzeugung schweigen, wo zu
lehren ihres Amtes ist: das scheint auch die Majorität der Proviuzialsynode
erkannt zu haben. Aber zu dem Standpunkt, daß um deswillen der Konflikt
zwischen der wissenschaftlichen Lehre und den Anforderungen des Kirchenregiments
nnr dadurch gehoben werden könne, daß diese Anforderungen nach den Ergeb¬
nissen der wissenschaftlichen Forschung gemodelt würden, hat sich die Proviuzial¬
synode nicht emporgeschwungen. Sie hat geglaubt, noch ein andres Mittel zu
finden, den jungen Theologen den Übergang aus der wissenschaftlichen Luft
der Hörsäle in die vom Kirchenregimeut — jedenfalls vielfach — verlangte
"ut von der Synode für notwendig gehaltne Anschauungsweise zu erleichtern.
In dem Vorbereitungsdienst für die pfarramtliche Praxis, der zwischen dem
Verlassen der Universität und dem Eintritt in das Pfarramt liegt, „in Lehr-
w'lärmten, Predigcrsemiuareu, regelmäßigen Konferenzen der Ephoren mit den
Kandidaten" soll „das Hauptgewicht" darauf gelegt werden, „daß die zukünf¬
tigen Geistlichen im Bibelglauben sowie im Bekenntnis der Kirche befestigt
werden" — so der Schlußsatz des von der Synode angenommnen Antrags
Vaethge.
Also: was die jungen Theologe» in den Universitätsvorlesungen an
"Irrlehren" in sich aufgenommen haben, das soll nun im Seminar wieder
aus ihnen ausgetrieben'werden, und an Stelle der wissenschaftlichen Arbeit
soll die „Befestigung im Vibelglauben und im Bekenntnis" treten.
Kann man einen solchen Gegensatz zwischen Universitütslehre und Semiuar-
lehrc wirklich für ersprießlich und auf die Dauer für durchführbar halten?
Und sollte es den Seminaren wirklich möglich sein, die ihnen hier gestellte
Aufgabe zu erfüllen, die jungen Theologen, die jahrelang nach wissenschaft¬
licher Erkenntnis mich über die Bibel und über das Bekenntnis gerungen
haben, nun einfach „im Vibclglauben und im Bekenntnis der Kirche" — wie
es vou der Majorität der Synode gemeint ist: unter dessen wortgetreuer,
orthodoxer Auslegung — zu befestigen? Werden diese Bemühungen nicht
weit eher dahin führen, in den Herzen der angehenden Geistlichen Zwiespalt
zu erregen und ihnen schwere Gewissensskrupel zu erwecken als sie geschickt zu
machen, in Freudigkeit in die Amtsansübung zu treten?
Zudem: was heißt „Bibelgläubigkeit," und was heißt „Befestigung im
Bekenntnis der Kirche"?
Daß in den biblischen Erzählungen Wahrheit mit Dichtung und Legende
gemischt ist, daß sich auch in dein apostolischen Glaubensbekenntnis Ausdrücke
finden, die bei dem heutigen Staude der allgemeinen Bildung nur im bild¬
lichen oder im übertragnen Sinn verstanden werden können —- hingewiesen
sei nur auf das „sitzend zur rechten Hand Gottes" und auf die „Auferstehung
des Fleisches" —, das wird wohl auch von orthodoxer Seite kaum bestritten
werden.
Eine Buchstnbengläubigkeit also gegenüber der Bibel und dem Bekenntnis
kann auch auf den Seminaren nicht gelehrt und beim Eintritt in die praktische
Amtsthätigkeit nicht gefordert werden. Nur um ein Mehr oder Weniger des
Abweicheus vom Buchstabenglauben kann es sich auf der Universität wie bei
der Zulassung zum Amtsantritt handeln.
Unüberbrückbar erscheint danach die Kluft nicht. Ungangbar aber erscheint
der von der Proviuzialshnode empfohln« Weg, einen Gegensatz des Unterrichts¬
ziels von Universitäts- und Seminarbildung zu schaffen und solchermaßen in
der Semiuarbilbung eine Brücke über die Kluft zu schlagen.
Giebt es noch einen andern Weg?
Will man ihn finden, fo ist es zunächst nötig, fest im Auge zu behalten,
daß es sich nicht um eine Kluft zwischen „Wissenschaft" und „Kirche" und
ebensowenig um eine Kluft zwischen „Wissenschaft" und „Glauben" handelt,
sondern allein um einen Unterschied zwischen den?, was weit verbreiteten Rich¬
tungen der heutigen theologischen Wissenschaft, und dem, was der überwiegenden
Mehrheit der Inhaber der für die Zulassung der Geistlichen zum Amt in Be¬
tracht kommenden kirchenregimentlichen Ämter als Inhalt der christlichen
Glauben sich re erscheint.
Eine Änderung ihrer Lehre von den Vertretern der Wissenschaft zU
fordern ist unmöglich, denn sie können und dürfen nicht gegen ihre Über¬
zeugung lehren. Eine Änderung der Anforderungen aber, die vom Kirchen¬
regiment an den Glaubensstand der angehenden und der amtierenden Geist¬
lichen gestellt werden, ist möglich. Hier wird nicht verlangt, daß die Herren
vom Kirchenregiment ihre Überzeugung wandeln; es wird in keiner Weise das
Ansinnen an sie gestellt, den streng orthodoxen Standpunkt, sofern sie auf
ihm stehn, zu verlassen. Nur Duldung solcher Anschauungen, wie sie auf den
Universitäten als Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung von streng religiös
denkenden Theologen vertreten werden, auch bei den in das Pfarramt ein¬
tretenden angehenden Geistlichen ist es, was verlangt werden darf. Denn du?
Übung dieser Toleranz ist der einzige Weg, zahlreichen jungen Theologen die
Gewissensskrupel zu ersparen, die bei Zulassung zum Pfarramt ihnen heute
noch auferlegt werden. Und eine solche Weitherzigst in der Duldung jedes
in echter Religiosität auf Grund wissenschaftlicher Überzeugung gewonnenen
Glaubcnsstandpunkts wird zugleich dazu dienen, dem Dienste der evangelischen
Kirche neue und zahlreiche Kräfte zuzuführen, während der heute meist fest-
gehaltne strenge Standpunkt der kirchenregimentlichen Behörden nicht wenige
vom edelsten religiösen Streben beseelte Jünglinge zum Schaden der Kirche
dem theologischen Berufe fernhält.
meer den Helden des Dreißigjährigen Krieges in Württemberg, die
in der geschichtlichen Erinnerung noch fortleben, ist Konrad Wider¬
hold der volkstümlichste, der tapfere Verteidiger Hohentwiels, der
fromme und wohlthätige Obervogt über Stadt und Amt Kirchheim.
Die Stadt Kirchheim, die ungemein lieblich zu Füßen der stolz in
malerischen Linien aufsteigenden alten Burg Teck liegt, des einstigen Schlosses
der alten Herzöge von Teck, ist heute noch voll von geschichtlichen und monu¬
mentalen Erinnerungen an Widerhold. Auf dem „Widerholdsplatz" liegt eine
Grabnische zwischen zwei Strebepfeilern der südlichen Außenwand der statt¬
lichen Kirche, das „Rnhekämmerleiu," das er für sich und seine Gemahlin
gewählt hatte. Zu dem ursprünglichen Denkmal vor dem großen Brande, der
einen Teil der Kirche und nahezu die ganze Stadt im Jahre 1690 in Asche
^gte, gehört der links an westlichen Strebepfeiler eingefügte Grabstein mit
dein Wappen Widerholds und dein seiner Gattin Anna Armgard, gebornen
^urckhartsch. Widerhold hatte sich schon längere Zeit vor seinem Hinscheiden
seinen Sarg und seinen Grabstein fertigen lassen und für diesen die Inschrift
s^bst gewählt. Das auf diesem ältesten Teil des Denkmals angebrachte
Wappen Widerholds zeigt einen in die Höhe stehenden Widder, das Wappen
seiner Gattin einen unter einem Baum ruhenden Hirsch. Unter dem ersten
steht die Inschrift:
Unter dem andern steht der Reim:
Unter beiden Inschriften sind anßer dem Schriftwort: „Selig sind die Toten,
^ in dem Herrn sterben von nun an; ja der Geist spricht, daß sie ruhen
von ihrer Arbeit, denn ihre Werke folgen ihnen nach," die Personalien der
»eiden Gatten angebracht in nachstehender Form:
„Also ruhen allhier der weiland Hochedle Gestreng und wahrhafte Held,
,
Herr Conrad Widerhold von und zu Neidlingen,
Fürstl, Württemb. Rath, Obrister Obercommandant der Festung Hohentwicl
und Obcrvogt allhier zu Kirchheim.
Nachdem er in der Welt für Gottes Ehr und Lehr ritterlich gestritten und
gearbeitet 52 Jahr und die himmlische Nitterkrone erlangt im Jahr 1667 am
13, Tag des Monats Junii, seines Alters im 70. Jahr.
Dem ist vorangegangen seine tren geliebte Ehegehülfsin, die weiland auch
Hochedle wohl- Ehren- und Tugeudreiche Frau Anna Armgartin Widerholdin,
geborene Burkharti, die mit gedachtem ihrem Herrn 49 Jahre in guter Ehe,
doch ohne Leibeserben, gelebt, ist selig verschieden im 73. Jahr ihres Alters,
den 1. Tag Martii und nllhier beigesetzt den 4. gMsä. Anno 1666, welche
beide Gott wieder mit Freude» erwecken wolle!"
Alle übrigen Teile des Monuments gehören der neuern Zeit an. Nach
dem großen Stadtbrande am 3. August 1690 wurde durch die Behörden der
Stadt und durch die edle Herzogin Henriette von Württemberg das Monument
wieder hergestellt und ihm die neue würdigere Gestalt gegeben, die es jetzt
noch hat. Im Turm der Nische ist nur eine Inschrift angebracht auf dem
östlichem Strebepfeiler, die die wichtigsten Notizen über das Leben, die Familie,
die Heldenthaten und Verdienste Widerholds enthält. In der Mitte zwischen
der alten und der neuen Gedenktafel steht ein über zwei Meter hoher Grab¬
stein, der in einer Vertiefung hinter einem leichten Gitter eine Urne enthält
und unter ihr die Inschrift zeigt:
In treue Herzen trugst die Nachwelt du,
Darum in treuem Herzen trägt sie dich.
(Jahr der Renovation.)
Zu beiden Seiten des Grabsteins stehn auf Postamenten die Büsten Wider¬
holds und seiner Gattin, links auf der Westseite die Widerholds mit der In¬
schrift auf dem Postament:
Der Commandant von Hohentwiel
Fest wie sein Fels, der niemals fiel,
Des Fürsten Schild, des Feindes Tort,
Der Künste Freund, des Armen Hort,
Ein Bürger, Held und Christ wie Gold,
So schläft hier Conrad Widerhold.
Das rechts ans der Ostseite stehende Postament mit der Büste der Gattin zeigt
die Worte:
Sanft ruht auch seines Hauses Zier,
Frau Anna Armgard Burkhartsch hier,
Von Delmenhorst war ihr Geschlecht,
Im Glauben rein, von Tugend ächt,
Gott über dir, du edles Paar!
Im Segen bleibt Ihr immerdar.
Diese Inschriften stammen von dem bekannten württembergischen Dichter-
und Stadtpfarrer Albert Knapp, der einige Jahre hier Geistlicher war, die
Büsten von Professor Wagner, der sie nach einem Originalgemälde Wider¬
holds auf dem Rathaus und nach dem auf der innern Seite des Chors
hängenden Porträt der Gattin gefertigt hat. An Widcrhold erinnern ferner
noch seine frühere Wohnung sowie die im Saale des Dekanathauses aufge-
stellte Bibliothek und verschiedne vergoldete Abendmahlskcmnen in der Sakristei
mit Wappen und Namenzug.
Vor allem erhält sein Andenken die ursprünglich aus 15000 Gulden, heut¬
zutage aus mehr als 70000 Mark bestehende Stiftung, die für sechzehn Theo¬
logen und zwei weltliche Studierende von Widerhold testamentarisch gegründet
worden ist. Hunderte von Studierenden haben seit seinem Tode dieses Stipen¬
dium genossen und haben dadurch die Möglichkeit oder wenigstens eine
wesentliche Erleichterung ihres Studiums erhalten.
Es ist ein reichbewcgtes Lebensbild, das sich hier vor uns entrollt.
Geboren in der frühern Landgrafschaft Hessen-Kassel, in der Stadt und
Festung Ziegenhain am 20. April 1598 als der Sohn eines dortigen wohl¬
habenden Bürgers und Ratsherrn, wurde er nach dem frühen Tode des Vaters
von der Mutter in streng lutherischem Glauben erzogen. Gleich mich vollendeter
Schulzeit zeigte er Neigung zum Soldatenstand, und schon nach zurückgelegtem
siebzehnten Lebensjahre trat er. im Jahre 1615, als Reiter unter die
hanseatischen Truppen, die in Verbindung mit den Holländern unter der An¬
führung des Grafen von Solms die von dem Herzog Friedrich Ulrich von
Braunschweig belagerte Stadt Braunschweig entsetzten. Nach Beendigung dieses
kurzen Feldzugs nahm er im Jahre 1616 als Musketier Dienste bei der Stadt
Bremen, wo er zum Gefreite» ausrückte. Aber auch diesen Dienst verließ er
bald wieder; am 10. August 1617 vermählte er sich mit Anna Armgard Burt-
hartsch, Tochter des Kommandanten von Heiligenland (Holstein), die sich
damals bei der Herzogin Maria von Schleswig in Itzehoe aufhielt.
Infolge einer schon vorher übernommnen Verpflichtung, in veueticinische
Kriegsdienste zu treten, mußte er seine ihm kaum angetraute Gemahlin wieder
Erlassen. Er lerute in Venedig im Jahre 1619 den Prinzen Magnus von
Württemberg keime», der ihn bewog, mit ihm nach Württemberg zu kommen.
Hier wurde er von dem Herzog Johann Friedrich als Exerziermeister, damals Drill¬
meister genannt, angestellt, ein Amt, das er drei Jahre lang versah. Im Sommer
1622 rückte er zum Kapitänleutnant und am 11. März 1627 zum Kapitän¬
major vor. nahm an verschiednen Unternehmungen der württembergischen Truppen
im Schwarzwald teil und zeichnete sich namentlich bei der Einnahme vou
Schramberg am 12. August 1633 so rühmlich aus. daß er dem Herzog Eber¬
hard III. durch den schwedischen Oberst Martin von Degenfeld als einer der
tüchtigsten und einsichtsvollsten seiner Offiziere bezeichnet wurde. Bald darauf
wurde er zum Kommandanten der Festung Hornberg ernannt; vom 14. April
bis 16. Mai 1634 war er bei den württembergischen Truppen, die in Ver¬
bindung mit deu Schweden unter dem Feldmarschall Horn bei der vergeblichen
Belagerung von Überlingen mitwirkten. Am 13. Juni 1634 wurde er, nach-
dem er sich bei der Belagerung von Villingen noch hervorgethan hatte, dem
Kommandanten von Hohentwiel, von Rochau, beigegeben.
Nach der für die Schweden und ihre Verbündeten unglücklichen Schlacht
bei Nördlingen, am 27. Angust 1634, überschwemmten kaiserliche Truppen
bas Herzogtum Württemberg, alles fürchterlich verheerend und verwüstend.
Nun erhielt Major Widerhold durch einen Erlaß des Herzog Eberhard, der
sich nach Straßburg geflüchtet hatte, am 14. September 1634 das Ober-
kommando auf Hohentwiel. Für die Erhaltung und den Ausbau der Festungs¬
werke, die damals nur eine Besatzung von 124 Musketieren hatten, sollte er
selbst Sorge tragen. Hohentwiel, das im Hegciu, in reizender Landschaft liegt,
die geognostisch, geschichtlich und malerisch gleich interessant ist, war seit Herzog
Ulrich im württembergischen Besitz. Diese natürliche, auf einem vulkanischen
Kegel 629 Meter über dem Meer liegende Festung hatte schon dem Herzog
Ulrich als Operationsbasis für seine kriegerischen Versuche zur Wiedereroberung
Württembergs gedient und war von ihm und seinen Nachfolgern mit Geschütz
gut versehen worden.
Widerhold wußte schon in den ersten Jahren seines .Kommandos Hohcntwiel
durch glückliche Streifzüge gut zu verproviantieren. Vom Jahre 1635 an wurde
die Festung von den kaiserlichen Truppen unter Oberst von Vitzthum belagert
und eingeschlossen. Herzog Eberhard schrieb Widcrhold von Straßburg aus, daß
„ihm seine seither bewiesene Treue, Standhaftigkeit und Tapferkeit zu ganz
gnädigem Gefallen gereiche, und daß er sein beständiges, sonderbares Vertrauen
in ihn setze, diese ihm anvertraute Festung männiglich mannhaft zu verteidigen
und zu behaupten." Es kann nicht die Absicht dieser Zeilen sein, diese von
Widerhold so ruhmvoll mit ebensoviel Tapferkeit und Mut, Entschiedenheit
und Treue als Klugheit, militärischem und diplomatischem Geschick geführte
Verteidigung Hohentwiels im einzelnen genau zu beschreiben. Wer sich näher
dafür interessiert, den verweisen Nur auf die heute noch sehr lesenswerte, mit
ungemeiner Sorgfalt und Objektivität geschrielme „Geschichte von Hohcntwiel,"
eine sehr anziehende, im Auftrage des nmrttemb ergischen statistisch-topographischen
Bureaus von dem verstorbnen Generalmajor Carl von Wartens verfaßte Mono¬
graphie. Das Haus Österreich setzte damals seine ganze Kraft ein, dieses Boll¬
werk in seine Hände zu bekommen. Widerhold, dem sein Herzog ursprünglich be¬
fohlen hatte, sich bis auf den letzten Blutstropfen zu verteidigen, und auch auf
die beiden ersten, ihm vom Herzog ausgefertigen Befehle, die Festung zu über¬
geben, in Zukunft nicht zu achten, ehe der dritte Befehl dazu erfolge, blieb
auch dann später auf seinem Posten, als Herzog Eberhard in höchster Not ihn
ernstlich aufforderte, die Festung abzutreten. Widerhold sah sich damals durch
seine Isolierung genötigt, sich mit Herzog Bernhard von Weimar und durch
ihn mit Frankreich zu verbinden.
G. Droysen hat in seiner trefflichen Monographie über Bernhard von
Weimar, in der er allerdings auf seiue Beziehungen zu Widerhold nicht näher
eingeht, gezeigt, wie Bernhard von Weimar den Anmaßungen, der Perfidie,
Habgier und Herrschbegier der Krone Frankreichs gegenüber immer bemüht
war, seine deutsche Selbständigkeit zu wahren, und wie er ausdrücklich nach
seiner Verbindung mit Frankreich erklärte, daß das mit französischem Geld
gebildete und erhaltene Heer unter seinem selbständigen Befehle sein und bleiben
müsse. Als ans eine persönliche vom Kaiser Ferdinand III. am 19. Juli 1639
an Herzog Eberhard geschriebn«: Aufforderung hin dieser an Widerhold den
ausdrücklichen Befehl erteilte, die Festung an den österreichischen Feldmarschall
von Geleen zu übergeben, blieb Widerhold unerschütterlich fest und verpflichtete
sich nach dem Tode Herzog Bernhards dem in Diensten des französischen
Königs Ludwig XIII. stehenden schweizerischen General von Erlach. Am
29. August 1640 erließ Ludwig XIII. einen unmittelbaren Befehl an Wider-
hold mit der Aufforderung, dein Stellvertreter des Generals von Erlach, dem
General vou Oysouville Folge zu leisten. Die Überschrift lautet: ^ Nousisur
^iävrllslä sZouunanäaut xour mon ssrviso a HolrsQtvisl. Widcrhold suchte
much hier, oft mit Erfolg, seine Selbständigkeit zu wahren. Nach dem Tode
Ludwigs XIII. verlangte Ludwig XIV. von Widerhold die Erneuerung seines
Eides und die Unterzeichnung einer schriftlichen Verpflichtung gegen ihn, die
er ihm durch den General von Erlach zustellen ließ. Widerhold, der sich
nicht zu fest binden lassen wollte, machte Schwierigkeiten, worauf ihm König
Ludwig am 12. April 1645 selbst einen sehr artigen Brief schrieb, worin er
ihn einlud, die Ilrtuude zu unterzeichnen. Dieser Brief, der geschichtlich
interessant ist, lautet also:
Nousisur Ah V/iäsrllolä, a^ant. vstS iutorurs ass äiMou1t,6s aus vous aver
Kutos 5, xasssr la xrorussss se. rsuouvsllsmout an ssrursut a^us ^i'avois or-
souns an 8r ä'Lrlaoli as rsosvoir as Vous, avos assurauos an xaz^siusut se
sutrstiöllusiusnt as 1a Zaruisou as Lollsnwisl srr ooutiuuairt as 1s. ^aräsr
«c>U8 uron obsissauos avss I» inssurs üäslits se allsotiou a wou serviss a.us
^ ins suis tori^ours xromiss as Vous se u'7 az^aut risu su 1a ans xrornssss
Mi us soit soukorin aux xrsssäoutss c-us Vous avsn kaitss an kön roi mon
8siMsui- se xsrs as Zlorisuss insinoirs, 5'a^ visu voulu xar l'avis as 1a
Ksins rs^Sues Naäains ins. msre Vous tsruoiZusr xar ostts lottrs c^us 5'aurais
^ xlaisir se eins 5s ässirs Mg Vous xassis?i se siMis? an xlus tot 1a ans
proinssss su 1a torus on'fils Vous a ssts suvo^Sö xar 1s 8r Lrlaou sans ?
axportsr auouu oirangsrnsnt ni rstaräsrusns, Vous assuraut a^us Vous tsrsö
onsss <irii ins ssra trss aZrsabls se c^u'su x satistaisaut, Vous rsosvrs? as
wo^ 1s traitsmsut <zus Vous sse promis, se su autrs 1a rsoouuoissanos
<ius Vos ssrvioss xourroirt uioritvr, aux oooasious <^ni s'ollrirout xour Votrs
^vautaZs.
Le 1a xrsssuts u'sstaut xour autrs um 5s xris visu q.u'11 Vous a^s,
^ir as V^iäsrllolt, en 8a saints Saras
?aris, 1s 12 ^prit 1645
Noch zwei Briefe von Ludwig XIV. vom 21. Juni 1645 und 24. Juli
1649 an Widerhold, die ebenfalls sehr wohlwollend und anerkennend sind,
sind vorhanden.
„Im Griffe seines Schwertes lag damals in der That Württemberg,
auf seiner Felsenburg hatte das Evangelium noch Zuflucht und freie Übung."
Ganz auf sich selbst und sein lebendiges Gottvertrauen gestützt, ohne andre
Hilfsmittel als die, die sich sein erfinderischer Geist selbst schuf, holte er sich
seinen Bedarf an Waffen und Mundvorrat vom Feinde, erspähte jede Blöße
des Gegners mit Blitzesschnelle, benutzte sie immer mit glücklichem Erfolg und
brach alle Burgen rings umher, die ihm gefährlich werden konnten. Während
immer stärkere Befestigungswerke die kleine Schar gegen jeden Angriff sicherer
deckten und fünf Belagerungen tapfer abgeschlagen wurden, baute er seinem
Gott zum Dank auf seiner Feste ein Gotteshaus, holte sich dazu den Prediger
mitten durch den Feind, die Orgel aus dem überfalluen und eroberten
Städtchen Überlingen und war, so lange ein Prediger fehlte, selbst der Tröster
seiner Kranken und Verwundeten, mit dem Worte Gottes in der Hand. Seine
Verwundeten besuchte und tröstete er immer selbst; Fluchen und Schwören,
Roheit und Grausamkeit duldete er nicht, ebenso keine Ausschweifung und
Bedrückung des friedlichen Bürgers.
Wenn der treffliche Vnrcnbüler bei dein Westfälischen Friedensschluß 1648
seinem Herzog alles Verlorne wieder errang, wenn der schwedische Kanzler ihm
dabei kräftig zur Seite stand, während Frankreich ihn verließ, so ist es ganz
besonders auch Widerholds tapfre und glückliche Behauptung Hohentwiels ge¬
wesen , der diese überraschend günstige Wendung der Geschicke Württembergs
zu verdanken ist.
Für Hohentwiel selbst hat sich Widerhold auch durch die Errichtung einer
großen Windmühle, die Erbauung eines neuen Kirchleins, sowie durch Ver¬
besserung und Erweiterung der Festungswerke Verdienste erworben. Deshalb
ist auch heute der ehemalige, zum Aussichtsturm hergerichtete Kirchturm, von
dem aus sich der prachtvolle Blick auf die herrlichen Gestade des Bodensees
und die majestätisch vor uns aufsteigende Alpenwelt eröffnet, mit seiner Büste
geschmückt. Tausende haben sich an dieser durch Scheffels Ekkehard später von
neuem anziehend gewordnen Festung auch in ihren heutigen Trümmern erfreut.
Als endlich im Jahre 1648 der heiß ersehnte Friede über das Land kam und
Widerhvld Hohentwiel verließ, da brach für ihn die letzte, nicht mehr durch
glänzende kriegerische Erfolge hervorragende, aber um so lieblichere und segens¬
reichere Lebensstation an. Der Herzog schenkte ihm zum Lohn für seine Ver¬
dienste das Scholle Rittergut zu Neidlingen, Naudeck und Ochscnwang. Zugleich
ernannte er ihn, da er mit dem 53. Lebensjahre »och in voller Rüstigkeit
stand, zum Obervogt von Kirchheim u. Teck, zum Oberinspektor von Nürtingen
und zum Kriegsrnt. Da galt es für ihn, der furchtbaren Not, dein gräßlichen
Elend, das vor allem in Württemberg herrschte, dessen Einwohnerzahl von
400000 auf 50000 herabgesunken war, in seinem Bezirke nach Kräften abzu¬
helfen. Er kannte genau den Wert der Volksbildung, des niedern und des
höhern Schulwesens, der christlichen Gesittung und war bemüht, durch Milde
und Strenge zugleich in seinem verwilderten, entvölkerten, verwüsteten Bezirk
mit kräftiger Hand Ordnung und Wohlstand wieder herzustellen. Ein strammer,
evangelischer Christ — darin dein großen Schwedenkönig Gustav Adolf ähn¬
lich —, ein Mann der That, war er zugleich ein Mann echter christlicher
Humanität.
Die von ihm selbst am 28. Januar 1667 verfaßte Urkunde über die reiche,
von ihm hinterlassene Stiftung bestimmt ausdrücklich, daß vor der Bezahlung
der Geldsumme an die betreffenden Studierenden wissenschaftliche Arbeiten
der Bewerber eingesandt werden müssen. Jedem, dein er irgend eine Arbeit
für die Verwaltung der Stiftung meent, setzt er anch dafür eine Belohnung
aus. Zur weitern wissenschaftlichen Ausbildung der Geistlichen des Bezirks
legte er seine heute noch bestehende Bibliothek an; ein Helles Auge, ein warmes
Herz, ein starker Wille, eine unermüdliche Thätigkeit kennzeichnete auch seine
Wirksamkeit in den Zeiten und Geschäften des Friedens. Als Bekümpfer der
Trunksucht und des Bettels, als Beförderer strenger und echter Sonntags-
heilignng. als christlicher Charakter voll Demut und praktischen Geschicks hat
er die Thätigkeit, die wir heute unter dem Namen „innere Mission" zusammen-
fassen, in seiner scharf und reich ausgeprägten hingebenden Persönlichkeit schon
damals ausgeübt. So gelang es ihm durch unablässige Sorgfalt, die Wunden,
die der Krieg dem Bezirk geschlagen hatte, nach Kräften zu lindern. Donnerstag,
den 13. Juni 1667 verschied er im siebzigsten Jahre seines Lebens in Kirch¬
heim. Herzog Eberhard kam selbst mit seinem ganzen Hofstaat von Stuttgart
zur Beerdigung seines treuen Dieners. Eine hohe Gestalt ohne Tadel, voll
Glaubensernst, Glaubeustiefe und Glaubenskraft, dnrch und durch wahr, ein
Mann der That, fest wie Stahl und treu wie Gold, so stand sein Bild vor
den Augen seiner dankbaren Zeitgenossen, und so stehts auch vor der Nachwelt.
Das Gedächtnis an diesen wackern Helden ans dem Hessenlande bleibt mit der
Geschichte Württembergs unzertrennlich verknüpft.
le „Nation," das Publikationsorgan des Abgeordneten Barth,
hat einen mit der Überschrift „Was uns noch retten kann" ver¬
sehenen Aufsatz des fünfundachtzigjährigen Professors Mommsen
veröffentlicht, zugleich ist der Aufsatz in der Sonnabend-Morgen-
„nummer der Berliner „Vossischen Zeitung" erschienen, die diese
Publikation als ein politisches Ereignis ersten Ranges feiert. Veröffentlichungen,
von Mommsen ausgehn, sind — welcher Art auch immer ihr Inhalt sein
möge — der allgemeinsten Beachtung in: voraus sicher. Der hochbetagte Ge¬
ehrte erfreut sich eiuer meisterhaften Beherrschung der Sprache, bei aller Form-
äewcmdtheit einer großen Sicherheit des Ausdrucks, einer sich dem Lapidnrstil
nähernden Schreibweise. Als ein Mnsterlescstiick für die höhern Gymnasial-
nassen könnte ein solcher Aufsatz ohne weiteres gelten, wenn der Inhalt auf
derselben Höhe stünde wie die Form. Bei allen Fragen, die die Wissenschaft
^rühren, darf Mommsen einen hohen Grad von Autorität für sich in Anspruch
"ebenen, als Politiker streitet er mit Virchow um den Preis der Kurzsichtigkeit.
7^>n Historiker Mommsen ist die bewundernde Anerkennung für bestimmte
Mete seines Forschens ohne jede Einschränkung zu teil geworden, aber sobald
^ seinen Lehrstuhl — zum Glück nur in seltenen Füllen - dem Tagespolitiker
Abtritt, ruft er statt der Bewunderung Kopfschütteln hervor. Diesem Schicksal
Erfüllt auch der in Rede stehende Aufsatz, dem Mommsen die Überschrift der
^vestenscheu Broschüre aus dem Jahre 1861 gegeben hat
do , in der dieser den
mnaligen Chef des Militärkabinetts, General von Manteuffel, den spätern
Feldmarschall und Statthalter der Reichslande als „den unheilvollen Mann
"l unheilvoller Stellung" bezeichnet hatte. Dies trug ihm eine Duellfordcrnng
Manteuffels. eine schwere Armwundc und ein Mandat für das Abgeordneten¬
haus ein. Nach Königgrätz ist dieser Vorkämpfer der FortschrNtsparte: dann
ans ihr ausgeschieden und einer der Hanptbegründer der natwnawberalen
Partei in Preußen geworden. Hätte Mommsen diesen Verlauf der Dinge be-
dacht — Vielleicht hätte er für seinen Aufsatz doch einen andern Titel gewählt,
Mommsen hat einen politischen Weg gemacht, der dein seines holsteinischen
Landsmannes Tochter entgegengesetzt war. Schon als Professor in Leipzig
wurde er in die Bewegung von 1848/49 verwickelt, 1873 trat er als national¬
liberales Mitglied in das preußische Abgeordnetenhaus und gesellte sich dann
später der Liberalen Vereinigung zu. Seit 1882 gehört er dem Parlament nicht
mehr an, aber seine politische Auffassung ist noch mehr nach links gegangen,
sie reicht — wenigstens in seinem neusten Aufsatze — nahe an die Sozial¬
demokratie heran. Schade, daß der Fünfuudachtzigjührige kein Mandat mehr
annehmen kann. Er würde seinen Platz ja sicherlich auf der äußersten Linken
wählen und da, in der unmittelbaren Nachbarschaft der Sozialdemokraten,
wahrscheinlich sehr schnell und sehr gründlich von der idealen Beurteilung ge¬
heilt werden, die er ihnen jetzt zu teil werden läßt.
Wenn ein Historiker von der Bedeutung Mommsens den Satz nieder¬
schreibe: „Der Umsturz der Reichsverfassung entwickelt sich rasch," so fordert
er damit unvermeidlich das Urteil aller politisch denkenden Deutschen heraus.
Was ist denn eigentlich geschehn? Infolge der Nachlässigkeit in der parla¬
mentarischen Pflichterfüllung, die sich leider ein nicht geringer Bruchteil
der Reichstagsabgeordneten hatte zu schulden kommen lassen, war es einer
Minderheit von 58 Sozialdemokraten gelungen, die parlamentarische Herrschaft
derart an sich zu reißen, daß es thatsächlich von ihr abhing, wie sich die Ge¬
schicke Deutschlands vollenden sollten. Gegen diese Diktatur hat sich die öffent¬
liche Meinung und schließlich auch die Mehrheit des Reichstags aufgebäumt,
die dem Reiche die Möglichkeit des Abschlusses von Handelsverträgen gesichert
wissen, die Zolltariffrage nicht zum Gegenstand eines der Entfesselung aller
politischen Leidenschaften dienenden Wahlkampfes werden lassen und die zur
Förderung der Geschäfte des Reichstags errichtete Geschäftsordnung nicht länger
als Werkzeug der Verhinderung mißbrauchen lassen wollte. Der Reichstag
hat in seiner Mehrheit innerhalb seiner verfassungsmäßigen Zuständigkeit ge¬
handelt. Ein so vorgeschrittner Liberaler wie Mommsen wird doch vor allen
Dingen nicht an dem Mehrheitsprinzip rühren wollen. Das Mehrheitsprinzip
ist doch gewiß ein demokratisches Prinzip. Nachdem aber seine verfassungsmäßige
Herrschaft einmal anerkannt ist, darf sie doch nicht deshalb als verwerflich gelten,
weil eine bis weit in die Mittelparteien hineinreichende Allianz endlich, fast zu
spät, davon Gebrauch macht! Mommsen nennt das einen „Umsturz der Reichs¬
verfassung." Man sollte meinen, daß der greise Gelehrte seine politische Tages¬
nahrung nur aus dem „Vorwärts" beziehe, denn außer den Sozialdemokraten
ist noch kein Mensch auf eine solche Idee oder gar ans einen solchen Aus¬
spruch gekommen. Die Reichsverfassung ist durch keinen Eid geschützt, weder
des Kaisers noch der Volksvertretung. Aber dennoch dürfte es nur wenige
Verfassungen geben, die durch so viele Kautelen gegen den Umsturz von oben
— denn einen solchen scheint Mommsen doch im Sinne zu haben — gehütet
sind wie die Verfassung des Deutschen Reichs. Auf die praktischen Bedürf¬
nisse ebenso wie auf das politisch Erreichbare meisterhaft zugeschnitten, hat sie
sich in einem für Norddeutschland fünfunddreißigjährigen, für Gesamtdeutschland
zweiunddrcißigjährigen Bestehn als ein Einignngsband erwiesen, das weder dnrch
die Tragik des Dreikaiserjahres noch durch die mächtige Bewegung der Geister
nach der Entlassung Bismarcks irgendwie tiefer berührt worden ist. Ungeachtet
der schweren Verwundung des Reichsoberhaupts im Jahre 1878 war das
Deutsche Reich damals imstande, die Völker Europas zu einem Kongreß in
seine Hauptstadt zu entbieten, wie er an Umfang und Tragweite noch nicht
dagewesen war, und mit ihnen Festsetzungen zu verabreden, die sich seitdem
ein Vierteljahrhundert als feste Grundlage für den Frieden Europas bewährt
haben. Den Umsturz, sogar den gewaltsamen, dieser Reichsverfassung sowie
aller Landesverfassungen hat die Sozialdemokratie seit einem Menschenalter
als ihr Ziel und ihre Aufgabe proklamiert, aber so lange die Mittel dieser
Verfassung zu ihrem Schutze ausreichen, werden weder die Regierungen noch die
auf Erhaltung der staatlichen Ordnung bedachten Parteien ihrerseits einen Um¬
sturz, nicht einmal auf geordnetem legislativen Wege, in Aussicht nehmen. Nach
Mvmmsens Auffassung dagegen stehn wir „am Beginn eines Staatsstreichs,
durch den der deutsche Kaiser und die deutsche Volksvertretung dem Absolutis¬
mus eines Jnteressenbundes des Junkertums und der Kaplanokratie unterworfen
werden sollen." Als Phrase liest sich das ausgezeichnet, der Inhalt ist jedes
Verständnisses bar. Im Deutschen Reiche giebt es kein Gesetz, dem nicht die
deutschen Bundesregierungen zustimmen. Nun ist aber kaum jemals eine Vorlage
regierungsseitig so gründlich vorbereitet und nachher so endlos diskutiert worden,
wie die des jetzigen Zolltarifs, irgend einen neuen Gedanken zu diesem Gegen¬
stande vorzubringen, ist kaum möglich. Die Nation, soweit sie nicht in Partei¬
interessen verrannt ist, verlangte nach dem Schluß. Diese Mehrheit, die „den
deutschen Kaiser ihrem Absolutismus unterwerfen U'ni", ist genau dieselbe, mit
der Bismarck seine Zollreform von 1879 gemacht hat, und die sich dann als
Wirtschaftliche Vereinigung noch bis zu den Septcnnntskämpfcn erhalten hat.
Aber ja, es giebt einen Staatsstreichgednnken! Wo der eigentlich liegt, das
verrät Mommsen höchst naiv einige Zeilen später. Nachdem er den Zusammen¬
schluß „aller nicht in diese Verschwörung verwickelten Parteien" „unter Einschluß
der Sozialdemokraten" gefordert und sodann erklärt hat, es gebe im politischen
Leben weder Ordnungs- noch Umsturzparteien, jede Partei sei eine Umsturz-
partei, schreibt er wörtlich: „Was sind die Ziele bei uns Liberalen . . .? Die
Liberalen mochten das Reichsoberhnupt in deu ersten Beamten des Staates
verwandeln nach dem Muster Englands (?) und Nordamerikas. Für unsre
Nation mit ihrem tiefen, auscheinend (!) unzerstörbaren dynastischen Gefühl ist
das der Umsturz." Der antimonarchische Charakter der „an der Verschwörung
gegen den deutschen Kaiser" nicht beteiligten Parteien wird damit von Mommsen
ebenso naiv proklamiert, wie die Thatsache anerkannt wird, daß diese Parteien
im Gegensatz zu dem „anscheinend unzerstörbaren dynastischen Gefühl unsrer
Nation" stehn. Mommsen spricht zwar nur vom Kaiser, aber man darf
als selbstverständlich annehmen, daß er hinsichtlich der andern deutschen Fürsten
dieselbe Ansicht hegt. Und nun vergegenwärtige man sich dem gegenüber
den Lärm, der in der linksliberalen Presse entstehn würde, wenn der Kaiser
"der einer der Bundesfürsten Herrn Mommsen öffentlich als im Gegensatz zu
dem dynastischen Gefühl der Nation stehend und den Umsturz des monarchischen
Prinzips predigend bezeichnen wollte!
Sodann erhebt sich Mommsen zu dem Gemeinplatz: „Alles Staatsrcgiment
besteht in der Ausgleichung gegensätzlicher Interessen, in der Herbeiführung
Von Zuständen, wo die rivalisierenden Richtungen sich in leidlicher Weise in¬
einander schicken, während keine voll ihren Willen durchsetzt und also das Ge¬
meinwesen balanziert." Denselben Gedanken hat nun freilich — Herr Mommsen
möge uns das nicht übel nehmen — ein gewisser Bismarck mündlich und
schriftlich viel besser zum Ausdruck gebracht, und Mommsen wird sich am Ende
für ein Mitglied wider Willen der Staatsstreichverschwörung halten, wenn er
erfährt, daß der jetzige Reichskanzler, Graf Bülow, von der Zolltarifvorlage
wiederholt erklärt hat, sie sei das Ergebnis des Ausgleichs der einander gegen¬
überstehenden wirtschaftlichen Interessen und bewege sich auf der mittlern Linie
zwischen ihnen. Das ist doch nichts andres als die Mommsensche „Balan-
zierung des Gemeinwesens," von Bismarck „die Diagonale der im Staate
lebendigen Kräfte" genannt.
Herrn Mommsen scheinen freilich schon während des Schreibens allerlei
Bedenken hinsichtlich des Znsammengehns mit der Sozialdemokratie zu kommen,
er fühlt, daß das Jahrhundert „diesem Ideal nicht reif ist." Deshalb meint
er, daß sich alles politische Zusammengehn nicht auf die letzten Ziele beziehe,
sondern auf die nächstem Aber wenn nun diese „nächsten" Ziele erreicht
sind, was dann? Dann kommen die folgenden und dann die weiter fol¬
genden ^— bis auch die letzten erreicht fein werden, und Herr Mommsen, falls
er es erlebt, mit Staunen sehen wird, was er angerichtet hat. Doch hören
wir weiter:
„Das natürliche und jetzt mehr als je gebotne Zusammengehn zwischen
dem ehrlichen (!) Freisinn und den durch die Habsucht der Jnteressenkliqueu
gedrücktem und zum Teil erdrückten (!) grollenden Arbeitermassen muß in die
That umgesetzt werden. Es darf nicht mehr geschehn, daß der Freisinnige
dem unverschämten oder verschämten Reaktionär seine Stimme lieber giebt als
dem Sozialdemokraten."
Hat Herr Mommsen nie davon gehört, daß die Zentrumswählcr in Baden
und am Rhein bis in die jüngste Zeit lieber jedesmal für einen Sozialdemo¬
kraten als für einen Nationalliberalen gestimmt haben? Daß Herr Bebel in
der vorigen Legislaturperiode das Straßburger Mandat nur durch die Stimmen
der dortigen Katholiken gegen einen national gesinnten Landsmann erhalten
hat? Weiß Herr Mommsen nicht, daß die Sozialdemokraten es ehedem an
Gegenleistungen beim Zentrum niemals haben fehlen lassen? Und wie denkt
er nun über das „zu innerer Einigung führende Zusammengehn gegen den
gemeinschaftlichen Feind " ?
Nach Mommsens Ansicht ist die Sozialdemokratie „die einzige große
Partei, die Anspruch hat auf politische Achtung." Freilich kann mich
er dieser so „geachteten" Partei den Vorwurf nicht ersparen, daß sie an der
„fast verzweifelten Lage der Staatsverhültnifse einen guten Teil der Schuld
trage," indem sie das Gute nicht anerkenne, das die Regierung sowie ein Teil
„der Anhänger der kapitalistischen Wirtschaft" in ehrlicher Weise und im Wege
der Gleichberechtigung für den Arbeiter anstrebe und thue; er erinnert an Krupp
und nennt es eine „unbegreifliche Gemütsroheit," „daß die Massen für
solches Wollen und zum Teil auch Vollbringen gar keine Empfindung zu
haben scheinen." Aber, bester Herr Mommsen, darin folgen die Massen ja
lediglich ihren Führern im Parlament und in der Presse, die von Ihnen in
einem Atem als die Bundesgenossen und Kampfgenossen gegen die Staats-
streichvcrschwvrung gepriesen worden sind!
Oder sollte das Exempel doch nicht stimmen? Sollte Mommsens Gut¬
mütigkeit und politische Unschuld nur von Herrn Dr. Barth zu einer Abvnnements-
reklame für die „Nation" gemißbraucht worden sein, wobei zugleich noch für
die „Bossische Zeitung" ein Bürsteuabzug als Primeur abfiel? Und soll der
von Vebel als Verräter beschimpfte Engen Richter much zu dieser Waffenbrüder¬
schaft gehören?
Die Ehrfurcht vor dem Gelehrten Mommsen verbietet die allzuscharfe
Kritik, die hier am Platze wäre. Aber sein Rezept würde Deutschland
uicht retten, sondern dem Untergange weihen, die Verfassung nicht vor
dem Staatsstreiche sichern, sondern der Notwendigkeit einer Änderung ausliefern.
Mommsen selbst hat die Grenzlinie bezeichnet, die im politischen Meinungs¬
kampfe die Geister scheidet. Diese Grenzlinie zieht „das anscheinend unzerstör¬
bare dynastische Gefühl des deutschen Volkes." Was uns noch retten kann,
^legt diesseits dieser Grenzlinie, jenseits liegt, was uns nicht retten kann.
Wir zweifeln nicht, daß auch Mommsen es vorziehn wird, seinen Platz dies¬
seits zu nehmen.
us Jahr der politischen Aufregung in Deutschland 1848 hatte auch
in der ehemals polnischen Bevölkerung der preußischen Provinz Posen
Hoffnungen auf Wiederherstellung ihrer nlteu polnischen Wirtschaft
und Libertät oder — sagen wir besser — ihrer polnischen Anarchie
erweckt. Die much dem Straßenkampf in Berlin aus dem Zellen-
_jgefnngnis in Moabit soeben entlassenen und amnestierteu Polen,
darunter Ludwig von Miervslnwsti und Dr. Libell, gründeten nun in der Stadt
Posen ein sogenanntes „polnisches Nationalkomitee," das die Reorganisation der
Provinz Posen leiten, d. h. ihre Losreißung von dem preußischen Staat planmäßig
^treiben sollte. Als die Regierung endlich gegen dieses Treiben einschritt, hatte
^ revolutionäre Bewegung in Posen schon solche Fortschritte gemacht, daß ihre
Niederwerfung durch die Truppen ernste .Kämpfe erforderte. Es handelte sich nicht
'un eine Erhebung und Unterdrückung der polnischen Nation, nicht um eine Wieder¬
erweckung des polnischen Reichs, wie man die Deutschen glauben machen wollte,
es war mir das Todesröcheln, bei dem sich die hinsterbende Nation in Posen noch
^naeit zum Leben aufzurichten suchte. Da ich an diesen Kämpfen teilnahm und
dabei meine Feuertaufe erhielt, so sei es mir erlaubt, hier einiges davon aus
uieiuer Erinnerung zu erzählen.
Gleich nach meiner Entlassung aus dem Kadetteukorps war ich als Offizier
mien der Regimenter zugeteilt worden (dem 7. Infanterieregiment), die in der
^tutt und Festung Posen versammelt wurden. Die Stimmung uuter der polnischen
^^lkerinig der Stadt war sehr aufgeregt. Die Pole» zogen mit der polnischen
6nhne durch die Straßen und riefen die polnische Republik aus? sie rissen die
preußischem Adlcrschilde herunter oder verdeckten sie durch die darüber gehängte
polnische Adlerfahne. Ich that in dem Lnudschaftsgebäude zu Pose» meine erste
Offizierwcichc, dn drang am Abend die Wilhelmsstraße herauf ein wüster Lärm.
Aus dem tobenden Geheul von tausend Stimme» glaubte ich deutlich nur den
immer wiederkehrenden Ruf: „Will sie heraus! Will sie heraus!" zu unterscheiden.
Ju der dadurch erweckten Meinung, daß es sich darum handle, einem von den tobenden
Volkshaufen bedrohten weiblichen Wesen Schuh und Beistand zu leisten, sandte ich sofort
eine Patrouille von meiner Wache mich der Gegend, woher der Lärm kam. Als diese
lauge wegblieb, übergab ich die Wache einem Unteroffizier und begab mich selbst
nach einem Hotel nahe an dem Wilhelmsplatze, wo sich das lärmende und tobende
Volk drängte, aber alle meine Bemühungen, näheres über die Ursache des Lärmens
zu erfahren, blieben fruchtlos, weil die Leute hier alle polnisch sprachen, was ich
nicht verstand. Einer der mir zunächst stehenden, an deu ich mich wandte, sah
mich erst eine Weile stumm und verwundert an, dann brüllte er mir überlaut in
das Ohr: „Will fe raus!"
Endlich gab mir ein deutsch sprechender Kellner aus dem nahen Hotel den
gewünschten Aufschluß. „Der Geueral von Willisen ist als Kommissar von der
Regierung ans Berlin eingetroffen, um hier Frieden zu stiften, sagte er, und
weil sie den nicht mögen, so wollen sie ihn mit einer Katzenmusik weggraulen, des¬
halb schreien sie: Willisen heraus!" Ich gab der angenommnen Patrouille einen
Wink, einen der Hauptschreier vou „Will se raus" neben mir zu arretieren. Dann
begab ich mich mit meinem Gefangnen nach der Wache zurück und schickte über das
Vorgefallne eine Meldung nu die Kommandantur.
Während noch die Kommissare der Regierung damit beschäftigt waren, auf der
Landkarte eine imaginäre Demarkationslinie zwischen dem deutschen und dem polnischen
Element in der Provinz Posen zu ziehe», hatte das polnische Nationalkomitee vier
kleine Orte, Wresche» (neuerdings viel genannt durch deu Aufstand der polnischen
Schulkinder), Schroda, Miloslow und Xions zu Brennpunkten eiues allgemeine» Auf-
standes in der Provinz Posen bestimmt und unter der Leitung herbeigerufner fran-
zösischer Ingenieure uach milan Regeln der Kunst mit Barrikaden, Schanzen, Ver¬
dauen usw. zur Verteidigung einrichten lassen. Hier sammelte sich das durch allerlei
Versprechungen verlockte Landvolk. Die meisten waren mit der alten polnischen
Nativnalwnffe, der gerade nufgerichteteu Sense, bewaffnet, andre mit Schußwaffen-
Unter jungen Edelleuten wurden die Insurgenten einexerziert, von Geistlichen in
der Kirche für die Befreiung Polens geweiht und für kugelfest erklärt.
Nach langem Zögern entschloß sich die preußische Negierung, die Insurrektion
an ihren Hauptherden zu unterdrücken. Der Truppenkoloune, die zu diesem Zwecke
gegen Tions gesandt wurde, war unser Bataillon zugeteilt.
Am 29. April morgens elf Uhr stand unser kleines Korps unter Oberst von
Brandt gefechtsbereit an dem Wege von Sabrina, eine kleine Stunde von Lions. Unser
abgesandter Parlamentär wurde mit Hohngelächter und Schüssen abgewiesen. Da
begann der Augriff. Während einige Geschütze auf einer Anhöhe nördlich von der
Stadt abprotzten und Granaten in die Stadt warfen, drangen die Kompagnien
der Avantgarde unter Tirailleurgefecht in die Gärten und Höfe der Vorstadt ein.
Unser Bataillon wurde vorgezogen und einige Schritte von dem stark verbarrika¬
dierten Haupteingang (an der Schrimmer Straße) in einer Terrainmnlde aufgestellt.
Das an Heftigkeit zunehmende Kleingewehrfeuer ließ auf den hartnäckigsten Wider¬
stand schließen, auf den unsre Avantgarde bei ihrem Vordringen durch die Höfe
und Scheunen der östlichen Vorstadt gestoßen war. Die Aufgabe, die unserm
Bataillon zufiel, war nicht leicht. Die Barrikade, die wir zu nehmen hatten, be¬
stand aus einem Erdwnll von zwei Metern Höhe, in ihrem Kern aus Mauerwerk
und Feldsteinen mit darüber gelegten Baumstämmen, in die Schießscharten einge¬
schnitten waren. Die Besatzung der Barrikade — Büchsenschützen und Kosseuiere
(Sensenmänner) — hielt unerschüttert aus, obgleich sie keinen andern Rückzug hatte,
als in die Flammen, die in den mit Stroh und Schindeln gedeckten Scheuern der
Vorstädte durch hineingefallne Granaten ausgebrochen waren und sich schnell von
Dach zu Dach bis auf den Marktplatz verbreiteten. .e
Die vorderste der beiden gegen die Barrikade vorgesandten Kompagnien wurd
von dieser her und uns den Häusern zu beiden Seiten der Straße mit einem
heftigen Feuer empfangen und löste sich nach und uach größtenteils im Straßen-
und Häusergefecht auf. Die folgende geschlossene Kompagnie, bei der ich stand,
nahm bet dem Einbiegen in die Hauptstraße, etwa hundert Schritt vor der Barri¬
kade, dos Gewehr zur Attacke rechts und ging im Sturmschritt uuter dem Rufe: „Es
lebe der Prinz von Preußen, Hurra!" ") auf die Barrikade los. Die Kosseniere streckten
uns, zum äußersten Widerstande entschlossen, ihre langen Sensen mit den kurzen
scharfen Widerhnkeu zum Einhaken und Fortziehen der lebenden Leute über die
Barrikade entgegen, wahrend die Flammen schon zu ihren Häuptern emporloderten,
aber schon blitzten auch die Bajonette und Gewehrläufe der uns vorangegangnen
Kompagnie aus den Fenstern nud Dachluken der seitwärts liegenden Häuser und
machten eine längere Verteidigung der Barrikade unmöglich. Die Übersteigung
des steilen Walles unter dem fortdauernden heftigen Feuer der Polen bot dennoch
manche Schwierigkeiten und Gefahren. Sie wurde hauptsächlich an einer schmalen
Stelle nnsgeführt. die vorher als Durchlaß gedient hatte und erst im letzten Augen¬
blick durch'Karren, Balken und Gerümpel aller Art geschlossen worden war.
Dem von dem 7. Regiment mit der Erstürmung der Hauptbarrikade gegebnen
Impulse folgte« auch die andern an deu Eingängen der Stadt kämpfenden Truppen.
Von allen Seiten drangen jetzt die stürmenden Kompagnien in der innern Stadt
bis auf den Marktplatz vor. Hier bot sich ihnen ein grausiges Bild. Auf dem
Marktplatze knieten die von allen Seiten eingeschlossenen Polen zu mehreren Hun¬
derten, die Sensen und Flinten vor sich niedergelegt zum Zeichen ihrer Unter¬
werfung, und reckten gnadeflehcnd ihre Hände zum Himmel empor, die meisten in
ihren langen Kitteln, die Haare wild über die Stirn herab hängend, in Antlitz
und Kleidern noch Spuren des mitgemachten Kampfes; andre in Schnurröcken,
die Konföderiertenmütze in den Händen zusammenpressend, die Blicke trotzig auf
den Boden geheftet.
Schon war es für Freund und Feind Zeit, die Stadt zu verlassen, die sich
allmählich in ein wogendes Feuermeer verwandelte. Auf einem Platz angesichts
der brennenden Stadt wurden die Gefangnen gesammelt. Besondres Aufsehen er¬
regte ein mitgefanguer Priester, der in seiner Amtskleidung mit Wort und That
an dem Straßenkampf teilgenommen hatte. Unser Bataillonskommandeur. Major
d- G., wußte schon vorher von der Anwesenheit dieses Mannes auf oder hinter
den Barrikaden von Xions und hatte vor unserm Ausmarsch zum Gefecht einen
Chnmpagnerthaler — so nannte er die Doppelmünze — als Belohnung für den
ausgesetzt, der ihm diesen Priester als Gefangnen bringen würde. Als dieser nach
der Beendung des Gefechts dem noch zu Pferde sitzenden, grimmig dreinschauenden
Major wirklich vorgeführt wurde in seinem theatralischen Auszug, den Schleppsäbel
am breiten Gurte über dein Ornate tragend und das Krenz mit dem Rosenkranz in
der Hand, konnte v. G. sich nicht enthalten, ihm. dem „reißenden Wolf in der
Pnesterkntte." eine auf seine Art mit Kraftnnsdrücken gespickte Strafpredigt zu
halten, die dieser mit gesenktem und entblößtem Haupt über sich ergehn lassen
mußte. Den Säbel ließ v. G. ihm abnehmen und legte ihn selbst an, um „die
Waffe, die jener in Unehren geführt, wieder zu Ehren zu bringen." Als dann
die Gefangnen aufbrechen sollten, um nach Posen transportiert zu werden, wandte
sich der gedemütigte Priester an den Major mit der Bitte, daß man ihm die Ver¬
günstigung gewähren möge, fahren zu dürfen, was aber v. G. mit einer Variante
des bekannten Sprichworts: „Mitgefangen — mitgegangen!" kurzweg abschlug.
Dann, sagte der geistliche Herr, sehe er sich zu einem Geständnis genötigt, und
er fügte mit gedämpfter Stimme nur für deu Major eine Mitteilung hinzu, die
ans diesen den Eindruck des Unerwartetem zu machen schien; denn er fuhr plötzlich
mit verändertem Ton heraus: „I das wäre! Wenn das wahr ist, dann sind Sie
ja trotz alledem in Ihrer Art ein Ehrenmann, mein Herr!" — Er ließ einen Arzt
rufen, und nachdem dieser festgestellt hatte, dnß der kriegsgefangne geistliche Herr,
der — wie ich und die Mehrzahl meiner Kameraden — heute zum erstenmal im
Feuer gewesen war, eine nicht unbedeutende Verwundung erhalten und die Kugel
noch in der Wade sitzen habe, fuhr v. G. fort: „Das ändert die Sache, «ein,
Mann Gottes, Sie sollen nicht gehn, Sie sollen aber auch nicht fahren, Sie sind
verwundet, Sie haben Ihre Feuerprobe — wenn auch ans der falschen Seite — doch
gut bestanden, Sie sind in Ihrer Art ein Ehrenmann. Sie sollen Ihre volle
Freiheit wieder erhalten, ich werde es verantworten. Kehren Sie heim! Predigen
Sie Ihren Landsleuten den Frieden und sagen Sie ihnen, daß ich, der Major
v. G., meine Gefangnen nobel behandle, wenn sie in ihrer Art Ehrenmänner sind."
Noch harrte unser eine ernste Arbeit. Noch lagen unsre Toten an den Straßen¬
ecken und Barrikadentrümmern, wo sie gekämpft hatten. Es galt, ihnen ein Ehren¬
grab zu schaffen. Major v. G. ließ in der folgenden Nacht in der Nähe unsers
Biwakplntzes zwei große Gräber graben, wo unsre Toten noch vor Tngesgrauen
mit militärischen Ehren bestattet wurden. Die Stelle wurde durch ein einfaches
hölzernes Kreuz bezeichnet. Jetzt mag sie kaum noch kenntlich sein:
Bei einem der Leichenhaufen, nahe an dem Schrimmer Ausgang, lag ein
Mann von vornehm schönem Antlitz, leichenblaß, bei dem es zweifelhaft schien, ob
er schon tot, oder ob noch ein Funke Leben in ihm war; durch den geöffneten Rock
sah man auf der Brust eine dreieckige, blutige Wunde, die augenscheinlich von einem
preußischen Bajonette herrührte. Der Verwundete schlug die Angen matt zu den
umstehenden Soldaten auf und gab mit einer schwachen Gebärde, die anfänglich
nicht verstanden wurde, sein Verlangen nach einem kühlen Trunk zu erkennen.
Ein Kamerad brachte eine Scherbe mit Wasser herbei, er hielt sie lange an die
bleichen Lippen, diese zuckten nach einmal, aber der Verwundete hatte nicht mehr
soviel Lebenskraft, den Labetrunk zu sich zu nehmen. Einige der umstehenden
Offiziere kannten den Sterbenden: „Das war Dombrowski," sagte eine Stimme.
Der Sprößling eines edeln polnischen Geschlechts war hier als Chef der polnischen
Jnsurgentenbanden im Strnßenkampf gefallen. Mir und meinen Kameraden schien
es, als käme von seinen Lippen der alte Schmerzensruf Koseiuszkos 1<'1mis ^oloniao!
Die Worte hatten aber jetzt noch einen andern Sinn, als einst in dem Munde
Koseinszkos. Sie bedeuteten: Das Ende Polens ist beschlossen; Polen ist durch
keinen Krieg und keinen Aufstand, durch keinen Reichstag und keine Verhandlung
wieder herzustellen, aber ihr Erben der ehemaligen polnischen Nation, wollt ihr
die Keime eurer künftigen Bedeutung und Wohlfahrt retten, so schließt euch ernst
und aufrichtig an die überlegne Macht, der ihr angehört, und lernt von ihr, wie
Religion und Gesittung, Arbeit und Pflichterfüllung, Gesetz und Freiheit den Frieden
und den Fortschritt der Menschheit zu gemeinsamen großen Zielen fördern!'
Von der Walstatt bei Xions brach unser Korps gegen Neustadt an der Warthe
auf, wo ein Zusammentreffen und andern Jnsurgentenhaufen zu erwarten war.
Wie wir jedoch unterwegs erfuhren, waren diese sämtlich nach Miloslaw gezogen,
einem Ort, der an diesem Tage (30. April) von einer andern Kolonne, bei der
unser zweites Bataillon stand, angegriffen wurde. Nur ein Detachement unsers
Korps wurde bei Neustadt über den Fluß gesetzt und gegen Miloslaw vorgeschoben.
Den Verlauf des Gefechts bei Miloslaw setzen wir als bekannt voraus. Mangel
an einheitlicher Führung und Unterschätzung des Gegners machten den preußischen
Angriff auf den verschanzten Ort scheitern. Bei der Deckung des Rückzugs zeichnete
sich unser zweites Bataillon aus, hatte aber leider auch schwere Verluste zu beklagen,
darunter zwei allgemein geachtete und beliebte Kameraden, die Leutnants von Ath-
enäum und von Gahette. Rebmann, dessen Name durch seine Zeichnungen (Bilder
aus dem Leutnantsleben) in militärischen Kreisen auch weiter bekannt geworden
war, war in der Stadt gefallen und zurückgelassen worden, doch wurde die Stelle,
Wo er gefallen war, von verschiednen Zeugen verschieden angegeben. Möglich, daß
er schon verwundet gewesen war, als er die tödliche Wunde empfing, und daß von
einigen schon der Platz seiner ersten Verwundung irrigerweise als die Stelle
bezeichnet wurde, wo er gefallen Wäre. Diese Unsicherheit der Angaben erregte
bei der in Schweidnitz lebenden Mutter Zweifel, ob ihr Sohn wirklich gefallen
oder ob er vielleicht doch noch am Leben sei, vielleicht irgendwo verborgen und
gefangen gehalten werde, eine Vermutung, in der sie dnrch die Aussagen einer
sogenannten Somnambule, die damals in Leipzig viel von sich reden machte, bestärkt
wurde Diese sagte ihr, als Frau von Athenäum selbst zu ihrer Befragung nach
Leipzig kam: „Dein Sohn lebt noch, aber sein Leben steht in großer Gefahr, er
wird in dem letzten Quartier, das er am Tage vor jener Schlacht inne gehabt hat,
von polnischen Kossenieren versteckt und gefangen gehalten. Schnelle Hilfe thut
not." — Die unglückliche, getäuschte Mutter kam nun selbst nach Posen, aber das
letzte Quartier ihres Sohne!s war schwer zu finden — es war auf der Feldwache
unter freiem Himmel gewesen. Sie bereiste nun alle Orte im Posenschen, wo ihr
Sohn während des Krieges Quartier gehabt hatte, alles ohne Erfolg; sie kam nach
Miloslaw, sie ließ durch Vermittlung der Militärbehörden noch am Abend ihrer
Ankunft die große Grube auf dem Kirchhof öffnen, in die nach dem Gefecht die
Gefallnen versenkt worden waren, sie ließ die Toten jenes Tages mit den zum
Teil schon in Verwesung übergegnnqnen Zügen noch einmal emporholen, sie leuchtete
jedem einzelnen mit der flackernden Laterne in das starre Antlitz — er war nicht
darunter. Die unglückliche Mutter reiste ohne jede Nachricht vou ihrem Sohn
wieder in die Heimat, sie überließ sich der schmerzlichen Täuschung, daß ihr Sohn
noch lebe, anch noch fernerhin, nachdem die strenge amtliche Untersuchung das
Gegenteil festgestellt hatte, bis zu dem Wiedersehen in einer andern Welt. — Leut¬
nant v. Gayette war, durch mehrere Kugeln und Sensenhiebe schwer verwundet,
bewußtlos und für tot in der Stadt zurückgelassen worden und wurde ebenfalls
einige Zeit ganz vermißt. Als wir einige Tage darauf durch die Gegend von
Miloslaw marschierten, wurde ein Offizier des Regiments in meiner Begleitung nach
Miloslaw abgeschickt, Erkundigungen über Gayette einzuziehn. Wir fanden ihn
endlich in guter Privatpflege. Zwei anmutige junge Polinnen in weißen Kleidern
(der polnischen Nationaltrauertracht) saßen als seine treuen Pflegerinnen an seinem
Lager und weigerten sich entschieden, den Kranken aus ihrer Pflege zu lassen, wofür
dieser ihnen sehr dankbar zu sein schien. Im folgenden Jahre erlag er zu Mernn,
wo er Genesung gesucht hatte, seinen Wunden.
Der Erfolg vou Miloslaw gab der Insurrektion neuen Aufschwung; aber
"und auf der rudern Seite wurde jetzt mehr Ernst gezeigt. Die beiden Kolonnen,
die bei Xions und Miloslaw gefochten hatten, wurden zu einem Korps vereinigt,
und die Operationen unter Leitung des Generals von Wedell wurden mit Nach¬
druck wieder aufgenommen. Mieroslawski. dessen Jnsurgentenkorps auf nahe an
zehntausend Muni gewachsen War. war klug genug, einem abermaligen ernsthaften Zu¬
sammenstoß mit den Truppen auszuweichen, und wandte sich den ganz polnischen Grenz¬
distrikten im nordöstlichen Teile der Provinz zu, wohl in der Hoffnung, den Aufstand
von hier aus nach Russisch-Polen hinüberzuspielen und durch Zuzug von dort unter¬
stützt zu werden. Bittere Täuschung! Auch die russische Regierung hatte ihre Vor¬
kehrungen getroffen. Die Grenze war durch einen Kosakenkordon abgesperrt worden,
und in den russischen Grenzstädten Kalisch, Peisern usw. standen russische Truppen
bereit, die etwa übertretenden Jnsurgentenhaufeu sogleich in Empfang zu nehmen.
Für uus galt es unterdessen, den Spruch Turennes zu bewähren, daß die
Taktik in deu Beinen liege. Nach einigen Kreuz- und Querzügen über Gnesen,
Trzemeßno, Mogilno, Witkowo hatten wir die Insurgenten endlich derart von allen
Seiten umstellt und gegen die russische Grenze gedrängt, daß ihnen keine Wahl
mehr blieb, als einen verzweifelten Kampf zu wagen oder die Waffen zu strecken,
^hre Anführer wählten das letzte, aber schon hatte ihr Wort keine Geltung mehr.
Noch ehe die mit ihnen abgeschlossene Kapitulation zur Ausführung kam, löste sich
dre Mieroslawskische Armee von selbst auf. Die Leute schössen auf ihre etgueu
Führer und liefen davon, oder sie warfen sich in die Wälder und trieben dort
noch als Räuberbanden eine Zeit lang ihr Unwesen.
Schon auf dem Marsche unsers Bataillons nach dem Rendezvonsplatz, wo
der geschlossenen Kapitulation gemäß die gesamte polnische Jnsnrgentenarmee angesichts
der preußischen Truppen die Waffen strecken sollte, fiel eine solche Bande von etwa
zehn bis zwölf Strolchen in unsre Hände, die in ihrer tierischen Verwilderung
einen entsetzlichen Eindruck machte. Unser Major v. G. drohte, an ihnen ein furcht¬
bares Beispiel aufzustellen. Er ließ die Strolche auf einem Ackerstück an der
Landstraße niederkauern und kündigte ihnen an, daß sie durch ihren wiederholten
Treubruch die Todesstrafe verwirkt hätten, die auch sogleich an ihnen vollstreckt
werden sollte. Vorher ließ er ihre Personalien aufnehmen. Dabei ergab sich, daß
einer der Gefangnen Schuhmacher von Gewerbe war. Als der Major dies erfuhr,
beschloß er, mit diesem eine Ausnahme zu machen, da „das ehrbare Schuhmacher¬
gewerbe ohnehin selten" werde. Die Vollstreckung des Todesurteils an ihm sollte
vorläufig sistiert werden; dafür sollte er sogleich ein Probestück seiner Geschicklichkeit
ablegen und ein Paar wasserdichte Stiefel für ihn anfertigen. Er ließ sich auf
der Stelle Maß dazu nehmen, ließ Material und Handwerkszeug durch einen Capi-
taine d'armes herbeibringen und hieß den Gefangnen sich in den Straßengraben
niedersetzen und unter Bewachung eines Postens mit gespanntem Gewehr sofort
seine Arbeit beginnen. Wenn er binnen zwei Stunden fertig wäre und die Stiefel
sich in der That als wasserdicht bewährten, sollte er begnadigt, im andern Falle
aber „erst recht" totgeschossen werden, weil „ein Mensch, der nicht einmal sein Ge¬
werbe verstehe, auf der Welt zu nichts nütze" sei. Während der geängstigte Schuh¬
macher ans Werk ging, begab sich der Major zu seinen übrigen Gefangnen zurück
und ließ uuter Umkehrung ihrer Taschen ihren Vermögensbestand feststellen. Es
ergab sich, daß die meisten nur im Besitz einiger Kupfermünzen waren, während
andre gar nichts hatten. Nur einer, der Schreiber auf dem Gute eines polnischen
Edelmanns gewesen war, hatte eine gefüllte Börse, in der sich über fünfzig Thaler
vorfanden. „Ihr wollt Gütergleichheit haben — sagte v. G- —, vor euerm Tode
soll sie euch werden," und ließ sogleich das Teilnngsexempel machen. Damit konnte
die Mehrzahl freilich einverstanden sein, und die vor Todesangst fast erstarrten
Gesichtszüge der gefangnen Strolche belebten sich noch einmal mit unheimlichem
Leuchten, als sie ihre Finger nach dem ihnen zugewiesenen Anteil an dem „Gemein¬
gut" ausstreckten, sie wußten nnn ja, daß sie nicht ganz ohne bare Habe zum Himmel
oder zur Hölle zu fahren brauchten.
Der Schuhmacher im Straßengraben hatte sich unterdessen sehr beeilt, durch
Herstellung der wasserdichten Stiefel sein Leben in Sicherheit zu bringen. Noch
ehe die gesetzte Zeit abgelaufen war, waren die Stiefel fertig, allerdings etwas
plump aussehend, aber sie hielten die Probe ans, ließen keinen Tropfen Wasser durch-
Der Major v. G. zog die Stiefel sogleich an und nickte ihrem Verfertiger seine
Zufriedenheit zu, worauf dieser, eingedenk des erhnltnen Versprechens, sich anschickte,
eiligst die Flucht zu ergreifen. „Halt! so war das nicht gemeint," rief der Major,
aber in den plumpen, hochschaftigen Stiefeln mußte er jede» Versuch, ihm nachzu¬
setzen, als vergeblich einstellen, und der Schuster wäre entwischt, hätten nicht auf
den Wink des Majors einige von den umstehenden Mannschaften ihn wieder er¬
griffen und zurückgebracht. „So war das nicht gemeint, rief der Major ihm zu,
als er zitternd wieder vor seinen Augen stand. Glaubt Er, daß ich, der Major
v. G., mir ein Paar Stiefel bei Ihm bestellen werde, ohne die Rechnung zu be¬
zahlen? Hier, nehm Er meine Schuldigkeit mit, und werde Er lieber ein ehrlicher
Schuster als ein Strauchdieb!" — Verwundert strich der Schuster den aufgezählten
Arbeitslohn mit höflichem Dank ein und zog daun ungehindert vergnügt seines
Weges.
Diese Freilassung ihres frühern Spießgenossen weckte neue Lebenshoffnung auch
in den übrigen, die noch immer von einer Sektion mit gespannten Gewehren be¬
wacht wurden. Als der Major wieder zu ihnen zurückkehrte, umfaßten sie gunde-
flcheud seine Kniee. Der Major, der im Ernst wohl nie daran gedacht hatte,
seine Drohung wirklich vollstrecken zu lassen, rechnete ihnen die ausgestandne Todes¬
angst für die Strafe selbst ein und schenkte ihnen großmütig die Freiheit, nachdem
er sie hatte geloben lassen, daß sie fortan brave und rechtschaffne Menschen, treue
und gehorsame Unterthanen werden und sich nie wieder ans den polnischen Nevolutions-
schwiudel einlassen wollten.
Der Feldzug war zu Ende, der Kriegszustand in der Provinz dauerte fort.
Täglich wurden größere oder kleinere Patrouillen ausgesandt, das Land nach
allen Richtungen zu durchstreifen, die Bevölkerung zu entwaffne», die verstreuten
Banden zu überfallen. Bei einer solchen Veranlassung hatte ich das Glück,
einen der Führer des aufgelösten Jnsurrektioushceres, auf den schon längere Zeit
vergeblich gefahndet worden war, in Haft zu nehmen. Erst vor kurzem sorglos
in.f sein Landgut heimgekehrt, hatte er sich, als er Haus und Garten Plötzlich von
Husaren meiner Patrouille umstellt sah, dadurch zu retten versucht, daß er einen
langen Bauerukittel über feinen Schnürrock zog und sich im Garten mit dein Spaten
in der Hand zu thun machte, aber die Weiße Leibwäsche und die gespornten Reit¬
stiefel verrieten ihn trok der Verkleidung. Während ans dem Hof der Wagen für
den Gefangnen angespannt wurde, stürzten plötzlich zwei Damen, eine ältere und
eine jüngere, ans dem 5w.se und beschworen mich unter Thräuenausbruchen und
Beteurnug seiner Unschuld, die eine in polnischer, die andre in französischer Sprache,
den Gefangnen, der ihr Gatte, ihr Vater sei, freizugeben. Ich setzte ihren stürmischen
Bitten ein kühles Rio ivMwio entgegen; aber ich mußte meine ganze Kraft zu¬
sammennehmen, um diesen Thränen und Bitten gegenüber standhaft zu bleiben und
mich der von der jungen schönen Polin mir drohenden Umarmung zu entziehn.
Unser Major führte ein eigentümliches Justizverfahren ein, das ihn der Weit¬
läufigkeit enthob, die Gefangnen nach der Festung Posen abzuliefern, von wo sie
nach kurzem Aufenthalt in den Kasematten doch wieder freigelassen wurden. Er
l'eß nämlich den eingebrachten Gefangnen, nachdem er eine körperliche Züchtigung
ihnen hatte vollstrecken lassen, mit einer Auflösung von Höllenstein, die für lange
Zeit durch kein Waschen zu entfernen war, ein Ohrläppchen schwarz brennen. Wurde
einer der so gezeichneten bei einer Bande wieder ergriffen, so ließ der Major die
körperliche Züchtigung in verschärfter Weise wiederholen und demnächst auch den
andern Ohrzipfel schwarz brennen. Wer mit zwei schwarzen Ohrzipfeln gefangen
wurde, entging dem Arme des Gesetzes nicht mehr und wurde ohne Erbarmen
«ach Posen 'abgeliefert und in die Festungskasematten gesperrt, schon wegen seiner
Dummheit, sagte der Major, sich dreimal fangen zu lassen. Obschon er mit diesem
Verfahren die Grenzen seiner militärischen Befugnisse überschritt und sogar die
Entrüstung der damals in Berlin lagerten preußischen Nationalversammlung erregte,
hatte er sich doch durch sein eigenmächtiges Auftreten und Handeln in weitem Um¬
kreise seines Standquartiers zu Plescheu unter polnischen und deutschen Einwohnern
in solches Ansehen gesetzt, daß sich diese mit allen Klagen unter Umgehung der Ge¬
richte und Behörden nnr noch an ihn wandten und sogar in Faniilieuaugelegenheiten,
bei Heiratsverträgeu, Scheiduugsklageu oder häuslichen Zwisten seinen «Schiedsspruch
anriefen und ohne Widerrede anerkannten. Als der Major v. G. die Stadt verließ,
wo er nach der polnischen Insurrektion mehrere Monate laug als preußischer Pascha
gewaltet hatte, widmeten ihm die deutschen sowie die polnischen Einwohner des
Stadt- und des Landkreises von Pleschen einen Nachruf, worin sie ihm für die
Gerechtigkeit dankten, die er unter ihnen jederzeit geübt habe. Major v. G. nahm
bald darauf seineu Abschied und trat in die Schleswig - holsteinische Armee, in der
er sich als Generalmajor und Führer der Avantgarde (1»50) rühmlich auszeichnete.
Diese Art von Originalen ist in der letzten Zeit in der preußischen Armee ausge-
storben; sie hatten bei aller äußern Rauheit und Derbheit doch ihre achtungswerten
Seiten, denn wenn sie sich mit ihrer rücksichtslosen Energie auch öfters in den
-Ritteln vergriffen, so verfehlten sie doch selten den Zweck.
s wcir das letzte Konzert vor Weihnachten. Der jüngste ordentliche
Professor der Universität — es wcir noch gar nicht so sehr lange
her, daß er in seiner Heimatstadt einfach Geheimrath Waldemar ge¬
nannt wurde — hatte seinen Platz eingenommen und wartete gespannt.
Weniger ans den Beginn der Musik, obgleich es ein Programm war,
das ganz seiner Liebhaberei entsprach, als auf die Inhaberinnen der
beiden noch leeren Plätze jenseits des Mittelgangs ihm gegenüber. Es waren die
Witwe eines berühmten Gelehrten und ihre Tochter, und diese Tochter entsprach
ganz der Idee, die er sich von weiblicher Vollkommenheit machte. Das war ihm
nach jedem Ball klarer geworden — eine vornehme, edle Gestalt, eine wahre Diana
mit dunkelm Haar, klassischem Gesichtsschnitt und vollendetem Weltschliff. Reich mich,
aber das war Nebensache, denn er konnte ihr eine Stellung bieten, die auf derselben
Höhe war wie die ihres verstorbnen Vaters, und einen Namen, der an und für sich
einen ebenso guten Klang hatte, und den er selbst uoch klangvoller machen wollte, das
durfte er sich zutrauen.
Seit Anfang des Semesters war er hier in der Musenstadt. Der Ruf an die
Universität hatte ihn ereilt, wahrend er in Italien war, wo er die letzten Jahre
Riegen seiner Kunststudien zugebracht hatte, denn er war Archäologe und Kunsthistoriker.
Er hatte sich natürlich nicht einen Augenblick besonnen, denn der Ruf war höchst
ehrenvoll. Und schließlich war er, da sich der Abschluß von Studien, die er be¬
gonnen hatte, hinauszog, ohne den Umweg über seine Heimat hierhergekommen und
hatte seiue Lehrthätigkeit begonnen. Es war nicht anders möglich gewesen; die
Mutter hatte allerdings geschmollt, aber sein alter Herr war einverstanden gewesen.
Er war ja selbst Professor der Architektur am Polytechnikum daheim.
Und dann war das geschehn, was sehr häufig alsbald zu geschehen pflegt, wenn
man ledigerweise ordentlicher Professor wird, er war seinem „Ideal" begegnet.
Er hatte auch nicht die Absicht, lange zu fackeln. Zeichen davon, daß seine unver¬
hohlene Bewunderung nicht mißfällig aufgenommen wurde, glaubte er bemerkt zu
haben; es war auch ganz natürlich, Gleich gesellt sich zu Gleich, und von allem
andern abgesehen, er war doch ein famoser Kerl und hätte als Gardekavallcrieoffizier
ebenso gut Figur gemacht wie als Knnstprofessor. Die Weihnachts- und die Neujahrs¬
gesellschaften boten Gelegenheit zu weiterer Annäherung, und bet einer dieser Ge-
legenheiten wollte er es zur Entscheidung bringen. Er hatte auch heim geschrieben,
zuerst andeutungsweise, daß er vielleicht in den Weihnachtsferien verhindert sein
könnte, heim zu kommen, dann bestimmt, es wäre nicht möglich, und endlich hatte
er verblümte Anspielungen auf ein Ideal gemacht. Die Mutter hatte einen Brief
voll Ausrufungszeichen geschrieben und ihrem Jungen dringende Mahnungen erteilt,
nichts Übereiltes zu thun und sein Herz recht zu prüfen — es hatte ihn königlich
amüsiert —, und der Vater hatte geschwiegen. Also war er einverstanden mit den
Absichten des Sohnes, der ja auch als ordentlicher Professor wissen konnte, was
er that.
Der Kapellmeister klopfte auf sein Pult, Der Saal war voll, aber die beiden
Plätze Waldemar gegenüber waren uoch leer. Wo sie nur blieben? Das schönste
um der Musik war doch, daß sich ihre Augen dabei immer wieder begegneten.
Die Ouvertüre war vorbeigerauscht; die Sängerin hatte ihr ^b xviüclo! in
das entzückte Publikum geschmettert — der Professor hatte zerstreut hingehorcht,
war sich aber nicht ganz klar darüber geworden, was er hörte, denn die beiden
Plätze waren immer noch leer. >
-.^
Also heute war er auf sich allein angewiesen. Er zerknüllte sein Programm
nervös, gab sich aber Mühe, sich zu sammeln, denn jetzt kam das, was ihm das
Hauptstück des Programms war — natürlich neben der Symphonie ^. dle Rosa-
"mndenmnsik von Schubert. Und wie es nun anhub, süß und bestrickend, da war
er auch ganz bei der Sache, das heißt, da schwebte seine Phantasie mit ihm auf
den Tönen davon. Da starrte er auf die schmucklose Wand drüben unter der Galerie
und wußte nichts mehr von dem, was ihn umgab, von all den Hunderten von Leuten,
dem taktierenden Dirigenten und dem arbeitenden Orchester. Seine Phantasie malte
ihm bunte Bilder auf die leere Wand, und die klingende Schönheit der Töne weckte
eine Schönheit nach der andern, die er im Herzen trug. War das nicht ein leuch¬
tender Frühlinaswald mit Blätterrauschen und Quellengemurmel und Vögelgesang?
War das nicht, wie die Melodien in das sanfte Moll glitten. Mundeszauber im
dunkeln Walde? Und wie bevölkerten sich alle diese wechselnden Szenen: Sie kommen,
sie nahen, die Himmlischen alle, mit Göttern erfüllt sich die irdische Halle! Jetzt
wüscht es' heran — das ist sie, umgeben von bacchantischem Gewimmel — ja du
bist es, Diana mein Ideal, deine Züge sind es--Er schloß die Angen und
malte weiter__Es war eine seltsame Störung in das Bild gekommen: eigentlich
sollte sie doch blond sein---Er grübelte: Kannst du dir die Diana von Ver¬
sailles schwarz denken, oder muß sie blond sein? Sie mußte blond sein; und doch,
sie, die ihr glich wie-----—
Rauschendes Händeklatschen riß ihn unsanft aus seinen Träumen. Er fuhr auf.
Wie nlberu. jetzt war es zu Ende, und er hatte nicht aufgepaßt! Und in demselben
Augenblick that sich die Thür drüben auf. und seine Diana rauschte herein. Pracht¬
voll wie immer, ein stolzes Lächeln auf den Lippen, eine rote Kamelie in dem
batteln Haar, und hinter ihr--
Es ging eine Bewegung durch den Saal, alle Kopfe wandten sich nach dem
schone« Paar — hinter ihr kam nicht die Mutter, wie es sonst geschah, sondern
stolz und seines Eindrucks bewußt — ein Gardereiterrittmeister. Mit dem Säbel.
Sie bogen in den Mittelgang ein und setzten sich auf die beiden leeren Platze.
Nebeneinander. Ihr Blick streifte erst strahlend das Auge des Reiters und flog
dann an dem Professor vorbei scheinbar gleichgiltig über die Menge.
Dem Professor wurde es elend zu Mute; ganz elend. Aber er hielt tapfer
die Lieder der Sängerin ans — was sie sang, davon hatte er keine Ahnung; er
sah nur ihre albernen Gesten. Und er hielt die Pause aus, stand auf wie die
andern Herren und sah sich gleichgiltig wie sie im Saal um. Und als er nicht
vermeiden konnte, einem Paar dunkler Augen ihm gegenüber zu begegnen, vermochte
es über sich, eine weltmännische Verbeugung zu machen. Und er hielt die ganze
^endclsso husche Amollsymphonie aus, auf die er sich so sehr gefreut hatte — es
war ein Glück, daß sie ohne Pausen hintereinander weg gespielt wurde —. aber
^ war ihm, als hörte er ein ganz fremdes Musikstück, und bei dem wunderbaren
Schlußjubel war es ihm, als sollte er weinen. Und dann drängte er sich hinnus und
wng uicht wie sonst nach den Konzerten zu den Freunden in den Thüringer Hof. son¬
dern nach Hause und direkt ins Bett. Ohne Nachtessen und ohne Schlummerpunsch.
Aber er konnte auch uicht schlafen. Er hatte Heiniweh. entsetzliches Heimweh,
^"es seinem Mütterchen. Ja, sie hatte Recht gehabt! Wie nnr ein ordentlicher
Professor imstande war, sich nach seinem Mütterchen zu sehnen und wirkliche Thränen
in sein Kopfkissen zu weinen. Aber so geschah es dem großen Jungen wirklich-
Und endlich schlief er doch ein mit dem Gefühl, daß das alte liebe Mütterchen ihm
sanft mit der Hand über die Stirn strich. Gott sei Dank, daß er noch ihr Junge
war! Und wie er in den Traum hinübersank, wußte er es auch, daß die Diana
von Versailles blondes Haar habe. Wundervoll goldblondes. Woher wußte er
es nur?
Am andern Morgen hatte er merkwürdigerweise prachtvollen Appetit. Löwen-
appetit. Die Eier waren exquisit, und der Kaffee war eine Wonne. Ich werde
sie überraschen, dachte der Professor, während er frühstückte; das wird famos. Dann
wunderte er sich, daß es ihm so schmecke. Eigentlich müßte er doch schmerzlich
niedergebeugt sein, dachte er; gramvoll und verzweifelt. Ein andrer würde in
einem solchen Falle hingegangen und Einsiedler in einem härenem Gewände ge¬
worden sein. In einer Höhle, vor die eine primitive Fassade gemanert war, mit
einer kleinen Glocke unter einem kleinen Dach, die er läuten konnte, daß ihm fromme
Leute ein gutes Frühstück brächten; mit einem Reh vor der Thür und einem Eich¬
horn auf einen: Aste der dicken Eiche, die sich über der Einsiedelei wölbte. — Du
hast kein Herz, Waldemar! sagte der Professor zu sich. Oder dein Herz war nicht
wirklich im Spiele. Die Blamage ist ja grenzenlos —
Er konnte doch plötzlich nicht recht schlucken, als er sich wieder vorstellte,
wie er gestern abend dagesessen und den Schicksalsschlag empfangen hatte. Es war
doch hart, wenn eine rauhe Hand so mit einem Stoß ein Luftschloß zerstörte,
woran man so lange und mit solcher Zuversicht gebaut hatte. So lauge? Na,
Waldemar, mehr als vier Wochen waren es eigentlich nicht. Und gesteh es nur,
es war doch auch etwas Eitelkeit und geistiger Hochmut bei dieser Gefühlsent¬
wicklung xs,r äistÄnec!.
Eigentliche Liebe konnte es ja noch gar nicht gewesen sein, wenn ihn auch
diese klassische Schönheit hingerissen hatte. Er senkte die Stirn, als er an das
schöne Mädchen dachte und an den Rittmeister mit dem Schnurrbart und dem
Siegerblick, und es wollte sich doch ein schmerzlicher Zug um seinen Mund legen.'
Gott sei Dank, dachte er, indem er aufstand, daß die Sache noch so PA
ciiLtaves abgelaufen ist. Große Blößen hatte er sich noch nicht gegeben. Nur bei
denen zu Hanse durfte er auf etwas Spott rechnen. Nein, bei der Mutter nicht;
ihr würde vielleicht das Herz mehr weh thun, als ihm selbst.
Wenn sie nur dem Onkel Zinnober nichts gesagt hatten — — das wäre
gräßlich!
Aber je mehr er nu den Onkel Zinnober dachte und an sie alle zu Hause,
desto sehnsüchtiger wurde er.
Es ist doch famos, daß ich sie nun wirklich so gänzlich überrasche! dachte er,
indem er eilig seinen Koffer Päckte. Und dann rasselte er in der Droschke ans den
Bahnhof, und dann saß er in dem warmen Cvupü und fuhr durch das winterliche
Land, der Heimat zu.
Nun war es schon länger als drei Jahre her, seit er zum letztenmal den Fuß
über die väterliche Schwelle gesetzt hatte. Er saß grübelnd in seiner Ecke und sah
in die schneebedeckte Landschaft hinaus. Weite, weiße Fläche«; dann und wann
ein Wald — kahle Bäume oder dunkle Tannen, deren Zweige der Schnee nieder¬
beugte, dann und wann ein Dorf mit hochbeschneiten Dächern; gelbe Glanzlichter
im Wintersonnenschein und violette Schatte». Auf den Stationen überall Menschen¬
gedränge — alle Leute hatten die Arme und die Hände voll Pakete. Dann wieder
die große, hehre Einsamkeit der Natur. — Daß er gar nicht an Ärmchen gedacht
hatte! Das war doch merkwürdig. Freilich, es hatte ja eine andre Gestalt alle
seine Gedanken erfüllt und ihn der Heimat so fremd gemacht, daß er nicht einma
zu Weihnachten hatte heimkommen wollen. Zu den seinen, zu den warmen Herze»,
die immer bei ihm waren, wenn er auch falschen Göttern anhing!
Er dachte an all die fernen Weihnachten zurück, die hinter ihm lagen. Alle so
warm, so strahlend, so voll Liebe. Und zu allen diesen Weihnachten hatte auch Onkel
Zinnober gehört, schon als Waldemar noch ein ganz kleiner Junge gewesen war.
Denn Onkel Zinnober war der beste Freund seines Vaters, seit die beiden
ein ihrem ersten Schultage auf einer Bank nebeneinander gesessen waren. Sie hatten
zusammen die Schule durchgemacht, hatten zusammen studiert und waren immer
unzertrennlich gewesen. Und das waren sie noch heute, wo sie anfingen, alte Männer
zu werden, und da Onkel Zinnober unverheiratet geblieben war, so hatte er den
Beruf eines Familienonkels ergriffen und war als solcher alle die vielen Jahre
pünktlich am Sonntag Mittag zum Essen erschienen. Da blieb er dann — ebenso
«n allen Feiertagen — den ganzen Nachmittag da und zum Abendbrot; an den
Wochentagen würde ihn niemand dazu gebracht haben, auch die größte Freundlich¬
keit der Frau Mama uicht, an den Mahlzeiten teilzunehmen. Onkel Zinnober hatte
seine festen Grundsätze für das Maß der Gastfreundschaft, das man in Anspruch
nehmen durfte. Die Geburtstage wurden natürlich zu den Feiertagen gerechnet.
Wie mochte er nur zu dem wunderlichen Namen gekommen sein? Vielleicht
hatte er ihn schon von seinen Studiengenossen auf der Akademie erhalten, an der
^' jetzt der Professor der Zeichen- und Malklassen war. Was für Dampf die
Schüler vor ihm hatten! Aber er konnte auch was. Es kam doch wohl selten
lor wie bei ihm, daß einer nie in seinem Leben ein Bild auf einer Ausstellung
gehabt und doch jedes schon verkauft hatte, ehe es nur im Rahmen war. Warum
der Onkel wohl nicht geheiratet hatte? Ob die Frauenzimmer alle auch solchen
Dampf vor seiner Hakennase über dem Spitzbart und dem bösen Mund und vor
den dunkeln funkelnden Augen gehabt hatten, wie die Akademiker? Er sah wirklich
wie ein bösartiges Wurzelmännlein aus, und doch, wie freundlich konnte der böse
Mund lächeln, und konnten die scharfen Augen blicken. Aber man mußte ihn freilich
^hr gut kennen, wenn man keine Angst vor ihm haben wollte.
Es wird das Gescheiteste sein, dachte der Professor, ich gebe den Koffer auf
^e»> Bahnhof ab und lasse ihn erst am Abend heimbringen, und gehe derweilen zum
^ulei Zinnober und rauche eine Zigarre bei ihm, bis es Bescherungszeit ist, und
wir zusammen zu den Eltern gehn können. Sie dürfen es nicht wissen, daß ich
da bin, bis der Baum brennt.
Unvermerkt hatte die Landschaft sich verändert, dnrch die er fuhr. Da waren
ichvn die Hügel, an denen der Wald emporstieg mit dem Gestrüpp des Unterholzes,
das die braunroten dürren Blätter festhielt. Und unvermerkt war die Sonne über
die Mittagshöhe hinweggegangen, und die Nachmittagsfarben logen gedämpft über
der Natur.
Ja, das war auch ein Weihnachten gewesen, wie Ärmchen ins Haus gekommen
war, ein mageres Mädchen mit flachsblondem Ruschelkopf. Er sah es noch so
deutlich mit seinen verstörten braunen Augen, wie es der Onkel gebracht hatte. Die
braunen Augen waren ihm so wunderlich gewesen, wie sie aus den blonden Locken,
dle ihr ins Gesicht fielen, hervorgeschaut hatten. Es war das einzige Kind
^ Schwester Onkel Zinnobers. Die Eltern waren plötzlich beide an einer Seuche
gestorben, die den Ort Heiingesucht hatte, wo die armen Leute gelebt hatten,
^ulei Zinnober war in seinem Nadmautel zu den Eltern gekommen und hatte ihnen
>e Nachricht gebracht. Dann war er mit einem Gesicht, vor dem die Leute sich
wrchteteu, auf die Buhu gestiegen und davon gefahren. Nach ein paar Tagen, am
^echnnchtsabend, war er mit dem zitternden Kinde an der Hand zurückgekommen
"o hatte mit dem bösesten Gesicht zu der Mutter gesagt: Da habe ich die Range,
as fange ich nun mit ihr an? Dabei waren ihm die dicken Thränen die Wangen
uV^""/^ gelaufen. — Geben Sie das Kind nur her, hatte die Mutter geantwortet
A^de es an sich gezogen. Dann hatte sie mit ihren schönen strahlenden Augen
zum Vater aufgeschaut. Nicht wahr, Mann, dn läßt es mir? hatte sie gefragt;
°"s soll unser Christkind sein.
So war es bei ihnen geblieben und heran gewachsen. Der Professor mußte
lachen, wie er daran dachte, was für ein seltsamer wilder Kobold das Kind ge¬
wesen war, und wie es immer in bitterer Feindschaft mit ihm, dem großen Jungen,
gelebt hatte. Sie waren ja wie Bruder und Schwester zusammen erzogen worden.
Aber es war immer ein komischer Gegensah zwischen ihnen gewesen. Er wußte nie
recht, haßte sie ihn, oder hatte sie ihn gern. Und auch als sie schou ein großes
Mädchen und fast erwachsen war, war sie von einer wunderlichen Herbheit gegen
ihn gewesen. Er hatte sie ja wirklich lieb gehabt, wie man eine Schwester lieb
hat, und er war ihr manchesmal zärtlich genaht. Aber dann war sie immer
scheu vor ihm zurückgewichen. Den Eltern gegenüber war sie hingebend und an¬
schmiegend wie eine Tochter, und zwischen ihr und dem wunderlichen polternden
Onkel herrschte ein eigentümliches zartes Verhältnis, obgleich er ihr immer barsch
und oft geradezu feindselig gegenübertrat. Das entsprang, es war dem Professor klar,
aus dem Gefühl, daß er den Freunden eine große Last und Verantwortung auf¬
gebürdet hätte; er wachte mit Argusaugen darüber, daß das Kind seinen Pflege¬
eltern Ehre mache und sich seiner Dankespflicht bewußt sei. Aber worin hatte
Ärmchen den Grund zu ihrem seltsamen Benehmen ihm selbst, dem Pflegebruder
gegenüber? Der Professor schüttelte den Kopf, als er es sich vergegenwärtigte.
Es war doch wohl das Gefühl, daß sie sich als Eindringling betrachtete, wenn
auch niemand ihr Anlaß dazu gab. Er freilich, er hatte ihr ja in seiner super¬
kluger Jungenhaftigkeit tausendmal Anlaß gegeben, in zornige Thränen auszubrechen,
das konnte er sich nicht verbergen; aber Jungen sind nun einmal Flegel, und ein
guter Bruder war er ihr doch immer gewesen.
In, du kluger Professer Waldemar mit deinem zerstörten Ideal; ein guter
Bruder! Aber weißt du deun, was in einem Mädchenherzen vor sich geht, das
einer Schwester gehört, die gar keine Schwester ist? Ich, der deine Geschichte
schreibt, weiß es, aber du weißt es trotz aller Gelehrtheit nicht!
Und dann warst du am Ziel. Du ordnetest an auf dem Bahnhof, was du
dir ausgedacht hattest, und gingst auf die Straße hinaus. Es herrschte schon ein
mattes Dämmern, als du um den Wall gingst, und im Westen schimmerte orange¬
gelbes Licht dnrch die Stämme der Anlagen.
Wenn sie wüßten, daß ich jetzt hier gehe! dachte der Professor. Eilige Leute
überholten ihn oder kennen ihm entgegen. Es war noch alles geschäftig bei den
Weihnachtsbesorgungen. Da fiel ihm eine schlanke Mädchengestalt auf, die mit
elastischem Schritt vor ihm her ging. Ein Hut mit mächtigen Federn saß auf
einem prachtvollen blonden Haarknänel. Das ist ja eine merkwürdige Farbe! dachte
er; die ganze Gestalt war auffallend. Wundervolle Shmmetrie, und diese Be¬
wegungen! Die reine Musik! Wie die Pelzjacke die feine Gestalt umschließt!
Wenn sie doch einmal den Kopf ein wenig —
Da wandte sie ihn, nur ein wenig, aber er erhaschte doch etwas von ihrem Profil.
Donnerwetter, sagte er und drehte sich so rasch zur Seite, daß er beinahe
einen Jungen mit einem Christbaum umgerannt hätte. Donnerwetter, wenn sie
mich gesehen hätte!
Er eilte über den Fahrdamm einem Gäßchen zu, das in die Stadt hinein¬
führte. An der Ecke sah er sich noch einmal vorsichtig um. Drüben ging die schlanke
Gestalt und sah gerade vor sich. Jetzt verlor sie sich zwischen den Menschen. Das
mußte Ärmchen gewesen sein. Aber wie hatte sich das Mädchen herausgemacht.
Die reine Di — —
Der Professor stolperte verblüfft über diesen unvollendeten Gedanken. Zu dumm!
Ein andrer Dianakopf stand wieder vor ihm. Aber dieses Blond — und wie sie
den Kopf trug — —
Da, nur noch um die Ecke, das war die alte wunderliche Straße mit ihren
Biegungen und den hochgiebligeu Häusern. Und hier war die Thür. Er zog an
der Klingel und hörte den schrillen Ton drinnen im Haus, den er so gut kannte.
Dann hörte er, wie sich der Riegel zurückschob, und trat ein. Es war schon ganz
dunkel im Treppenhaus. Er tastete sich vorwärts und stieg die Treppe hinauf.
Das Herz klopfte ihm. Oben wurde es lichter. In der Korridorthür stand Marianne
und wartete, wer käme.
Guten Abend, Marianne! Ist der Professor zu Hause?
Herr du meines Lebens! Der — der Herr Professor! Nein, Herr Pro¬
fessor, der Herr Professor sind ausgegangen, werden aber bald retour sein. Wollen
uicht der Herr Professor — —
Ja, ich gehe ins Atelier und warte. Aber Marianne, wehe, wenn Sie ein
Sterbenswörtchen--
Die Alte kicherte. Nein, gewiß uicht! Aber diese Überraschung, Herr Waldemar;
es dachte doch kein Mensch —
Es weiß es auch kein Mensch. Ich bin ganz heimlich gekommen. Gerade
komm ich vom Bahnhof. Also Stille!
Sie machte ihm die Atelierthür auf. Gleich wird er wieder da sein. Nein,
die Freude, die er haben wird!
Es war schon ganz dämmerig in dem Raume. Aber eine angenehme Wärme
umfing den Professor. Er zog seinen Überrock aus und legte ihn samt dem Hut
auf den wirren Haufen Studienmappen und Skizzenbücher, die auf dem -nächtigen
frei im Raume stehende» Tische lagen, und sah sich um. Eine mehr als manns¬
hohe Leinwand stand auf der großen Staffelei, deren Querbrett ganz hinunter¬
geleiert war; neben ihr, gegen das Fenster, auf einem Hocker der offne Farben¬
kasten, auf den Tuben die Palette, dahinter im Dunkeln auf kleinern Staffeleieu
^n paar wohl fertige Bilder in Rahmen; er konnte nicht mehr unterscheiden, was
sie darstellten. An den Wänden hingen die Skizzen über und unter den Wand¬
brettern mit dem alten Gerät, wie sonst, und um das große Atelierfenster rankte
sich der Epheu, den der Staub auf seinen Blättern offenbar nicht am Wachstum
hinderte. Der Professor trat an das Fenster und sah eine Weile auf die beschneiten
Dächer hinaus. Drüben im Westen zog sich noch ein dunkelgelber Ltchtstrcifen unter
den Schneewolken hin, aber auf die Stadt rieselte schon das Dunkel des frühen
-Winterabends; die Fenster der Häuser fingen an, sich vom Lampenlicht zu erhellen,
und von der Straße blitzte eine Laterne nach der andern herauf, wie sie der Laternen-
wann anzündete, dessen dunkle, hurtig vou einer Seite zur andern huschende Gestalt
der Professor verfolgte, bis er sie aus den Augen verlor. Dann wandte er sich in
das Zimmer zurück.
Der Ofen prasselte behaglich; rotes Licht strömte aus dem Zugloch und den
Kursen des Thürcheus, und manchmal stoben knisternde Funken heraus.
Der Professor setzte sich in den Sorgenstuhl Onkel Zinnobers und sah dem
Funkcnspiel eine Weile träumerisch zu. Daun streckte er die Beine behaglich von
sich und schloß die Augen. Es war doch eine feine Gestalt gewesen, schlank und
d°es so kräftig gebildet. Es war schade, daß er ihr Gesicht nicht ordentlich hatte
leben können. Wie sicher und nett hatte sie die Füße gesetzt bei dem raschen Gang,
^"d den Kopf mit dem dicken Haarknoten unter dem runden Federhut hatte sie
getragen wie eine Königin. Es war etwas wie Musik gewesen in den rhythmischen
Bewegungen des schlanken Körpers. — Ja, wirklich. — Wie Musik. — Ja. —
H^r Gott, Onkel Zinnober, rief der Professor auf einmal, indem er auffuhr;
vie siud Sie denn hereingekommen? Ich habe Sie ja gar nicht kommen hören. Was
machen Sie denn da?
b? lianz verblüfft an, der in seinem großen Radmantel, den
vreMrempigen Hut auf dem Kopf, die Palette und einen Haufen Pinsel in der
urcu Hand vor der Staffelet stand und mit einem ganz großen Pinsel in der
rechten Hand in der Luft hin und her fuhr.
Onkel Zinnober wandte ihm das Mephistogesicht über die Achsel zu und blitzte
")n und den schwarzen Augen an.
Bleib nur ruhig sitzen, sagte er, als der Professur Miene machte, aufzustehn.
Was ich hier mache? Das siehst du doch. Ich muß das gute Mondlicht benutzen,
die Sache anzulegen.
Richtig, der Mond war aufgegangen und schien durch das große Atelierfenster
herein. Es war fast taghell im Raum, und die Leinwand, vor der der Onkel
in schwarzen Umrissen stand, glänzte weiß zu Wcildemar herüber.
Wenn ich es jetzt nicht festhalte, ist es auf und davon! fuhr der Onkel Zinnober
fort. Du hast ja keine Eile. Du willst nur auf andre Gedanken kommen — der
Onkel hatte sich der Leinwand wieder zugewandt, und der Professor hatte das un¬
angenehme Gefühl, daß der Alte boshaft vor sich hinlache —; da kannst du mir
ja ein bischen zusehen. Es ist gar nicht übel für einen Kunstprofessor, manchmal
zu sehen, wie es gemacht wird. Technik! Wie oft hast du das Wort unnütz im
Munde geführt. Technik! Du weißt ja kaum, wie man den Pinsel ansetzt. Und daß
Technik weiter nichts ist, als wie man es herausbringt. Mit dem Stiel oder mit den
Borsten oder mit dem Spachtel, das ist jedes eigne Sache und ganz einerlei, wenns
nur was wird. Sieh doch nur — der Onkel fuhr mit dem Pinsel in die Farben —
Aber Onkel, wollen Sie nicht wenigstens ablegen? In Mantel und Hut —
Der Onkel fuhr herum. Thörichtes Geschwätz! Wie soll ich denn barhäuptig —
siehst du nicht, daß ich nur den Sommerhavelock anhabe?
Das war richtig. — Aber Onkel, im Mondlicht! Man kaun ja die Farben
gar nicht unterscheiden!
So? Kann man nicht? Der Onkel fuhr mit dem Pinsel eben über die Lein¬
wand. Ist das Kobaltblau, oder was ist es? Siehst du, ganz leuchtendes Frühlings¬
blau! Und siehst du hier — sieh nur! das sind Wölkchen, schneeweiß, leuchtend —-
ja, nicht wahr, ein bischen Jaune brillant, das machts, daß sie leuchten, wenn sie
auch nur weiß erscheinen. Kremserweiß allein thuts freilich uicht. Aber der ge¬
brannte lichte Ocker, und der gelbe Ocker und das Neapelgelb, die hineingemischt
sind, geben auch noch kein Jaune brillant, sondern erst die Spur Zinnober und
Kadmium, die drin siud, die machen es. Denkst du denn, ich wüßte nicht, was Jaune
brillant ist? Ich brauche Mewes und Schönfeld nicht dazu. Das kaun man sich
überlegen! So was Brutales, wie roter Zinnober und Kadmium, uicht wahr? Aber
nun sieh nur die Wölkchen, wie sie schimmern, hier, zwischen den Bäumen durch!
Er hatte nach einem andern Pinsel gefaßt, ihn in die Farbenhäufchen auf der
Palette gestoßen und fuhr hastig damit auf der Leinwand hin und her. Wcildemar
sah in starrem Staunen zu.
Siehst du, fuhr der Onkel zwischen seinem eiligen Arbeiten fort, wie sich die
Bnumwipfel ineinander weben und die Zweige sich leise in dem Sommerhauche be¬
wegen? Da stehn die Stämme, und das Unterholz wächst an ihnen hinauf. Sieh,
wie die Souue durch das Blattgewirr funkelt. Und dort drüben, hinter der dicken
Eiche geht es ganz dunkel und dämmerig in den Wald hinein. Aber hier in der
Mitte — siehst du, da liegt die Waldwiese, halb im Schatten, halb im Sonnen¬
schein, und über das Gehege weg, zu dem der Pfad hier durch die Wiese führt,
siehst du zwischen den Waldkulissen in die duftige Ferne — warte, das müssen wir
zart machen — siehst du das Dörfchen ganz im Duft und dahinter den feinen Höhen¬
zug — und siehst du jetzt, wie die Wolken am Himmel vorüberziehn und das Himmels¬
blau bald verdecken, bald durchschauen lassen, und wie sie dnrch die Zweige leuchten?
Immer heftiger fuhr die geschäftige Hemd zwischen Palette und Leinwand hin
und her. Wie seltsam das war. Fast die ganze weiße Fläche der Leinwand war
verschwunden, und ein golddurchglänztes Landschaftsbild that sich vor Waldemars
Augen auf. Und wunderbar; es schien zu wachsen und sich auszudehnen. Die
Zweige bewegten sich, die Wolken zogen — ja dort drüben vor dem Dorfe, ganz
in der Ferne, waren Leute mit Pferden und Wagen. Sie machten Heu, man sah
es deutlich, wie sie hartem und aufluden, und ein hochgetürmter Wagen fuhr davon.
Das ist doch wundersam, dachte der Professor. Es ist doch nur ein Bild,
und doch scheint es zu leben und sich zu bewegen. Aber hier vorn — am untern
Rand ist doch wirklich mir weiße Leinwand!
Nicht wahr? rief der Onkel, als hätte er seine Gedanken erraten. Warte
nur, das werden wir gleich haben. Siehst dn, dort hinten rechts, hinter der großen
Buche, die ich hier in den Vordergrund male, ganz im Waldesschcitteu? Ja, es ist
ein moosiger Fels, über deu ein Bächlein herabrinnt. Sieh, wie es hervorläuft,
hinter den Büschen und Kräutern hier vorn weg, ganz vor — da, jetzt rinnt es
vor bis an den Rand der Leinwand und plätschert an der Waldwiese vorbei —
sieh, wie die Büsche dort links in der Ecke sich darüber neigen. Da möchtest du
baden, was? Nein, das geht nicht gut. Dort drüben kommen die Dorfbuben schon
angelaufen und klettern über das Gehege. Komm rasch — spring herüber! Ach, du
großer Professor! hast du Angst vor dein Bächlein?
Da stand der Onkel drüben über dem Wasser und rieb sich die Hände und
lachte dazu so boshaft, daß der Professor sich ärgerte. Er sprang von dem Sorgen¬
stuhl auf, nahm einen Anlauf und war mit einem Satz hinüber. Der Onkel hatte
ihm wieder den Rücken zugekehrt und lief mit eiligen Schritten den, Walde zu.
Siehst du, wie gut es war, daß ich den Havelock an- und den Hut aufbehalten
habe? rief er über die Schulter zurück. Es ist recht, daß du wenigstens den Hut
"ufgesetzt hast.
Ja, das ist wirklich gut, dachte der Professor, indem er sich an den Kopf
faßte. Er hatte sich den Hut in der That aufgesetzt. Dann eilte er dem Voraus¬
gehenden nach, blieb aber einen Augenblick stehn und sah nach demi Bache zurück,
on dem mit lustigem Geschrei die Dorfjungen liefen, die ihre Hüte und Jacken ins
Gras warfen und sich auszuziehn begannen, um zu baden.
Als er sich wieder nach dem Onkel umsah, war der verschwunden. Er eilte
rasch die Böschung hinan, auf die er ihn hatte zugehn sehen, mußte über einen
Hag klettern und stand mitten in dem dämmerigen Walde. Onkel! rief er. Onkel
Zinnober!
Hier! tönte es aus der Ferne zurück. Komm nur!
Er mußte sich einen Weg durch das Gestrüpp bahnen — da hatte er einen
Pfad vor sich, der sich dnrch die Stämme wand. Er schritt rasch zu. Onkel! rief
er wieder. Onkel, wo bist du?
Hier! tönte es aus weiter Ferne.
Mein Gott, dachte der Professor, kann der Alte laufen! Man kommt ja ganz
außer Atem. Na, er Wird schon auf mich warten.
Er ging etwas langsamer. Droben durch das schaukelnde Blättergewirr leuchtete
der Sonnenglanz mit funkelnden Lichtern, aber hier unten war es schattig und still.
war ihm wohlig zu Mute in dieser Waldeinsamkeit. Ein angenehmer Duft
umwehte ihn, und von allen Zweigen tönte das Singen und Zwitschern der Vögel.
>Miner tiefer ging er in den Wald. Gold träufte durch die Wipfel auf seinen
^lat. Man meint, man Hort es klingen, dachte er; und es ist doch nur Sonnen¬
gold. Der Wind flüsterte durch die Zweige, die Vögel sangen auf allen Seiten —
^ wirklich! es war tropfendes Gold, was von den Blättern herniederrieselte, und
^ fiel klingend auf den Waldboden um ihn, leise und süß tönend, rhythmisch —
^ horchte und horchte, und jetzt verstand er den Rhythmus und die Symphonie,
M der sich all das Tönen verband. Natürlich, dachte er, es ist ja die Rosamunden-
^wischenaktmusik. Freilich, so versteht man sie erst wirklich.
Lauschend und träumend ging er dahin. Das Sonnenlicht drang jetzt von
j/s ^ Zwischen den Baumstämmen durch; über ihm wurde es schattiger,
as Gold träufte spärlicher herab, und es schien, als wollte das Klingen leise
aymsterben. Er blieb unwillkürlich stehn und legte die Hand über die Augen
wahrend er den verwesende» Tönen lauschte. Aber dann sagte er plötzlich laut
^es. und ließ die Hand sinken. Verwundert sah er um sich. Wie war nur an
ewmal diese Veränderung möglich? Ans einmal alles dunkel und Nacht? Nein
sieh doch, dort lugt es hell herein — das ist der Mond! Und es webt schon
silbern wie ein zarter Lichtschleier zwischen den Bäumen, und die Blätter blitzen
und funkeln — und horch, jetzt hebt auch das Klingen wieder an. Ja, das ist
ganz Schubert, dieser Wechsel von Dur und Moll! Das ist der echte Rosamnnden-
ton, der immer und immer bei ihm anklingt!
Und sieh! dort wird es licht; ob da der Wald sein Ende hat?
Es war ihm, als würde er von der Musik getragen, als er auf die Lichtung
vor sich zueilte. Da öffnete sich eine Waldwiese vor ihm, auf der das Mondlicht
lag. Er sah erstaunt um sich. Die Bäume kannte er doch, den Bach, der dort
rieselte, und drüben über dem Gehege die verschleierte Ferne — wo hatte er sie
nur gesehen? Mein Gott, dachte er, bin ich denn im Kreise gegangen, das ist
doch das Bild, das Onkel Zinnober--wo ist er nur? Er wollte den Mund
aufthun, um ihn zu rufen, da blieb er starr stehn und sah auf eine seltsame Gruppe
drüben unter den Bäumen. Da saß ein Faun und blies auf der Syrinx, und
neben ihm zusammengekauert, sich an ihn schmiegend, saß eine Faunin und tränkte
ihr Junges. Daher kam also das süße Getön, das ihn gelockt hatte! Er stand
atemlos da und wagte nicht, sich zu rühren, um das entzückende Bild und die
holden Klänge nicht zu stören. „Der Vollmond strahlt auf Bergeshöhn" — o Gott
ja, so mußte es klingen, wie der es da drüben blies — —
Da fuhr er zusammen. Dicht neben ihm war etwas ins Gras geplumpst von
dem Baum über ihm. Er sah auf den Boden: da saß schimmernd im Monden-
schein mit seinein nackten Körperchen ein allerliebster kleiner Putte, der die Ärmchen
rückwärts ins Gras stemmte und ihn mit schelmischen Augen anlachte.
Mich wundert gar nichts mehr, sagte der Professor. Du bist der reine
Rafael, aber du Paßt zu der Musik. Was treibst du kleiner Reuaisscmcebcngel
denn hier?
Über ihm kicherte es. Er hob die Augen und sah droben über sich auf einem
Aste eine ganze Reihe Putten sitzen, die sich im Takte zu der Musik schaukelten
und ihn anlachten. Plötzlich flatterten sie alle herab in das Gras, fingen an sich
zu seinen Füßen zu überkollern, zu springen und um ihn zu tanzen.
Jungens, rief er, treibt es nicht zu toll! Da kann man ja schwindlig werden!
Aber da flatterten sie alle auf einmal auf, über die Wiese gegen den Wald zu
und gaukelten um einen Zug, der aus dem Walde herauskam, gerade da, wo der
Professor ebeu erst herausgetreten war.
Voran kam dick und weinselig Silen auf seinem Esel geritten, rechts und
links von ein paar üppigen Nymphen gestützt. Der Esel hob ein paar mal den Kopf
und legte die Ohren zurück, als wollte er zu schreien beginnen, aber sobald der
flötende Faun den Finger erhob, ließ er den Kopf wieder sinken, spitzte die Ohren
nach vorn und schritt ehrbar weiter. Vorbei an der Faunfamilie, quer über die
Waldwiese — ein Gedränge von thyrsosschwingenden und beckenschlagenden Satyrn
und tanzenden Nymphen hinterher — war das noch die Zwischenaktsmusik? Nein,
das war ja gar nicht mehr Schubert. Was war es nur? Ach ja! Jetzt wußte
er es — das erhob sich wie gewaltiges Sturmgebrause, das war der Weihegesang
am Schlüsse der Anoli.
Und mit einem mal war es, als flösse alles Licht und alles Tönen in einen
Glanz auf eine Stelle zusammen: aus dem Walde traten zwei Weiße Hirsche, die
einen zweirädrigen Wagen zogen, auf dem ein herrliches Frauenbild ruhte. Mit
ruhigem Schritt gingen in hochgeschürztem Chiton Jägerinnen mit Köchern und
Bogen neben dem Wagen und hinter ihm her, und schlanke Jagdhunde umkreisten
ihn mit zierlichen Sprüngen.
War es der Mond, was wie ein silbern leuchtender Schein um sie stand?
Ging das Licht von ihr selbst aus? Weiß schimmerten die herrlichen Glieder zu
ihm herüber, licht wie Mondesstrahlen war das leichtgelockte Haar, das ihren Kopf
mit dem glänzenden Diadem umgab und sich am Hinterhaupt in einen Knoten
sammelte; überirdisch schön das feine Antlitz, das sich zu ihm wandte und ihn aus
dunkeln Augen ansah.
Sprach sie zu ihm? War es ihre Stimme, die ihn mit himmlischem Wohl¬
laut umfing?
Er sank in die Kniee und breitete die Arme nach ihr aus. Ja, du bist es,
rief er mit bebenden Lippen, du bist es, die Poesie, mein Ideal! Nimm mich
mit dir! Ich weiß es, es war Thorheit, daß ich dich in dem irdischen Weibe sah.
Nur dir gehöre ich. Nun folge ich dir in deine himmlischen Gefilde.
Sie schüttelte leise das Götterhaupt, und ein mildes Lächeln verklärte ihren
Mund. Ihr leuchtender Arm erhob sich und winkte nach dem Walde. Und zu¬
gleich wurde das schöne Bild blaß und blässer, nur noch wie ein Hauch, in silbernem
Nebel zog es an ihm vorbei. Die Musik verhallte leis in der Ferne — alles
war verschwunden. Silen und die Nymphen, Faune und Putten, Hirsche und
Hunde — vou fern her tönten wieder leise verhallend die Klänge des Schnbertschcn
Liedes, und dann rauschten nur noch die Bäume über ihm, und drüben hinter den
fernen Hügeln tauchte die Scheibe des Mondes hinab.
Aber während er noch ganz vergessen vor sich hinschaute und langsam auf¬
stand, hub es wieder an zu klingen. Mein Gott, dachte er, ist denn alles nnr
Musik? Das ist doch wieder die Durmclodie aus der Rosamunde! Ja! Und
ste bringt Tageslicht und Sonne! Sieh, wie die Morgenröte über den Himmel
fährt! Wie es leuchtet nud blitzt im Grase. Wie es auf den Blättern funkelt,
und die Ferne sich aufthut — ach, diese balsamische Morgenluft, und diese Flut
von Sonnengold.
Es ist merkwürdig, dachte der Professor, wie wunderbar es berührt, wenn
Schubert so geheimnisvoll mitten aus seinem sonnigsten Dur in das Moll hinüber¬
gleitet — er legte einen Augenblick die Hand über die Augen, als wollte er ein
^vrbeigeglittenes Bild festhalten —>, und wie er dann plötzlich wieder ganz in dem
belebenden Sonnenlicht des Durs schwebt. Ja, das ist Dur! Er sah um sich,
^a, Onkel Zinnober, du verstehst es auch! Da ist ja die ganze Wonne des Sommer-
r°gs, wie du ihn gemalt hattest. Aber still, was kommt dort?
Aus den Büschen trat eine schlanke Mädchengestalt. Goldnes Haar quoll unter
ven leichten Sommerhut hervor, der auf dem feinen Köpfchen über dem hinten
"ufgebundnen dicken Zopfe saß. Der schlanke Nacken war geneigt, denn die Angen
des entzückend geschulteren Gesichts suchten auf dem Boden, und hin und wieder
beugte sich die Gestalt — Anmut in allen Bewegungen — nieder, um eine Blume
Pflücken. Richtete sie sich dann wieder aus und fügte das Blümlein stillstehend
Zu dem Strauße, den sie in der Hand trug, so war die ganze Gestalt Rhythmus
und Musik. Die halb geöffneten süßen Lippen, um die es wie ein horniges Lächeln floß,
>"ngen halblaut vor sich hin — su, daher kam das süße Klingen, das den Professor
U'nwob. Wo hatte er doch dieses feiugeschnittne edle Gesicht gesehen, eben erst? Er
l^h mit atemloser Staunen auf die liebliche Gestalt. Auf einmal kam es ihm!
Ann— rief er mit der größten Überraschung. Annchen!
Ein leiser Schrei antwortete ihm. Aber zugleich fuhr Finsternis um ihn. Es
nnr ihm wie einem, der im Traum aus einer schwindelnden Höhe herabstürzt und
n/h mit pochendem Herzen in seinem Bette wiederfindet. Wie so einer saß er da in
niet Zinnobers Sorgenstuhl, klammerte sich mit den Händen an die Armlehnen und
arrte wild aus seinen Augen. Sonnenschein und Waldesweben warm verschwunden,
' e vom Sturm verweht, die Klänge waren verstummt; es rauschte nur noch in
keinen Ohren, wie ein verschwimmender mächtiger Akkord — nnr eins blieb hell¬
euchtend vor ihm in dem Dunkel, das war das liebliche Antlitz, das ihn mit großen
dunkeln Augen ansah.
Annchen! wiederholte er.
Sie stand wie unentschlossen in der Thür. Jetzt sah er, daß sie ein Licht in
^er einen Hand trug, das sie mit der andern beim Eintreten schützend beschattet
hatte. Sie hatte auch keinen Sommerhut auf dem Kopfe, auch nicht mehr den großen
Federhut, sondern ein feines schwarzes Tuch, auf dem Schneeflocken schimmerten,
und unter dem die blonden Löckchen lustig hervorquollen. Aber es waren immer noch
die entzückenden, feinen Züge.
Mein Gott! sagte sie, immer noch in der Thür, woher kommst — wie kommst
du nur hierher? Ich wollte auf Onkel Zinnober warten und ihn zur Bescherung
mitnehmen — —
Er war aufgesprungen und sah unsicher um sich. Dort knisterten die Funken
aus der Ofenthür, dort schien das verschleierte Mondlicht durch das Atelierfenster
herein, und dort stand die große Leinwand kalkweiß auf der Staffelei.
Das begreife, wer will, sagte er. Geschlafen habe ich nicht!
Ein leises, silbernes Lachen tönte von der Thür her — es klang wie Musik.
Er fuhr herum. Fing das Tönen schon wieder an?
Nein, Ärmchen stand dort und lachte ihn mit belustigten Augen an. So, ge¬
schlafen haben Sie nicht?
Ich? Nein, gewiß nicht. Aber so komm doch herein. Es zieht ja infernalisch-
Und was soll denn dieses wunderliche Sie?
Sie trat in das Atelier und schloß die Thür hinter sich. Vor allem wollen
wir erst einmal die Lampe anbrennen! sagte sie, während sie ihre Handschuhe auszog.
Onkel muß ja gleich kommen. Sie hob die Glocke von der auf dem Tische stehenden
Lampe, nahm den Cylinder ab und hielt das Licht an den Docht. — Den Cylinder,
die Glocke wieder darauf — gleich war es behaglich hell in dem Raume, und sie
blies das Licht aus. Er sah ihr stumm zu, und ein eigentümliches Gefühl ergriff
ihn, als er die geschickten feinen Hände beobachtete, wie sie die Sache verrichteten.
Wollen wir uns nun nicht erst einmal ordentlich guten Tag sagen? fragte er,
indem er ihr die Hand hinhielt.
Gewiß, warum nicht? sagte sie, indem sie einen Augenblick ihre weiche Hand
in die seine legte. Aber ich bin noch immer ganz starr, wie Sie auf einmal hier
hereingeschneit sind. Ihre Eltern —
Aber Ärmchen! rief er, was soll nur dieses thörichte Sie?
Ich habe mir vorgenommen, wenn du kämst, dann sagte ich Sie zu dir!
sagte sie fast heftig. Aber wer dachte denn, daß dn kommen würdest!
Ja, ich dachte es ja auch nicht, sagte er traurig. Aber dann zog es mich doch
so mächtig — — ich wollte die Eltern überraschen, und deshalb bin ich erst hierher
zu dem Onkel gekommen, um den Abend abzuwarten.
Sie stand hoch aufgerichtet vor ihm und sah ihn mit großen Augen an. Eine
Überraschung wird es freilich — es ist eine große Überraschung! sagte sie.
Es hatte sich ein herber Zug um ihren Mund gelegt. Es war ihm, als finge
der Boden leise an, unter ihm zu schwanken, wie er sie ansah. Vor den Ohren
begann es ihm zu klingen — das war die Syrinx, die der Faun blies —
Es ist unbegreiflich, wie ähnlich Sie ihr sehen — er sagte unwillkürlich
auch „Sie."
Wem? fragte sie hart. Ihre Lippen zitterten.
Der Diana von Versailles.
Der Di . . . ?
Ja, sagte er.
Sie sah ihm ganz erstaunt in die Augen. Wie kommen Sie darauf, etwas so
Wunderliches zu sagen? Es war dumm von ihr, aber sie fühlte, daß sie errötete.
Ärmchen! rief er. Ich habe es ja selbst gar nicht gewußt. Aber wie du vorhin
ans dem Walde — —
Er stockte und fuhr sich mit der Hand in den Bart.
Wie ich was? fragte sie verwundert.
Das ist doch zum Verrücktwerden! dachte er. Wie ich — wie ich — —
natürlich, doch — freilich, es war doch auf dem Walle! Du hast mich gar nicht
bemerkt. Aber ich ging, als ich von der Bahn kam, ein Stück hinter dir her.
Ich hatte die größte Angst, daß du dich umdrehen und mich bemerken würdest.
Ich war ganz erstaunt, als ich dich erkannte. Und wie ich dich gehn sah, so groß
und so — — — er stockte wieder; beinahe hätte er gesagt: so schön und so
graziös in deinen Bewegungen — es war ja wie Musik! Aber er sagte nur:
so verändert!
Sie hatte sich halb abgewandt von ihm. Es ist gräßlich heiß hier! sagte sie.
Ich lege solange ab! Sie knöpfte die Pelzjacke auf, zog sie aus und legte sie auf
einen Stuhl. Dann hob sie die Arme und nestelte an dem Tuch auf ihrem Haupte.
Ich war vorhin noch einmal zu Hause, sagte sie, nur um etwas zu sagen, und habe
das Tuch umgebunden, weil es anfing zu schneien, ehe ich mit meinen letzten Be¬
sorgungen für den Onkel fertig war.
Der Professor meinte, nie so schöne Umrisse gesehen zu haben. Er wandte in
seltsamer Verwirrung die Augen mit Gewalt von ihr ab, trat an das Fenster und
sah hinaus. Der Mond schien nicht mehr draußen. Nur ein matter Schein dämmerte
noch durch deu Schleier des herabwehenden Schnees. Und auch der wurde immer
schwächer. Dichter und dichter fielen die Flocken, bald war es ganz dunkel vor den
Scheiben, und mau sah nur noch die Flocken, die im Bereich des Lampenlichts
vorüberhuschten. Weit draußen im Lande, jenseits dieser Mauern, wo die Wolke,
die diesen Schauer herabsandte, uicht hinreichte, lag wohl lichter Mondschein auf der
träumenden Flur und verklärte den winterlichen Wald. Es war dem Professor,
als lockte und zöge es ihn, weg, hinaus, in die Ferne, in ein Traumland. Ärmchen
sagte nichts mehr. Er hatte das drückende Gefühl, daß sie ihm grolle, und sein
Gewissen sagte ihm, daß er Grund genug dazu gegeben habe. So wagte er das
Schweigen uicht zu unterbrechen und sah finster in das Dunkel vor dem Fenster
und ans die wirbelnden Flocken. Eine ganze Weile — eine Ewigkeit deuchte es
ihn. — Ob er denn gar nicht kommt? sagte er Plötzlich laut. Er erschrak fast über
seine Stimme. Zögernd wandte er sich um. Ärmchen hatte sich in Onkel Zinnobers
Sorgenstnhl gesetzt und sich mit geschlossenen Angen darin zurückgelehnt.
Er muß ja jetzt gleich kommen, antwortete sie, ohne die Augen zu öffnen.
Da nahm er einen Stoß Mappen von einem Hocker am Tisch, warf die Mappen auf
den Boden und rückte den Hocker neben deu Sorgeustuhl. Daun setzte er sich darauf
und betrachtete sie träumend. War sie uicht gerade wie Sie? Dieselben feinen,
klassischen Formen; genau so, wie Sie auf dem Wagen, lag sie hingegossen. War
diese Wirklichkeit nicht noch schöner als ein Traum?"
Und dein Ideal? fragte sie Plötzlich — jetzt sagte sie „dem —, ohne sich
Zu bewegen und die Augen zu öffnen.
O Ärmchen! flüsterte er — er wußte nicht, wie es kam, daß er rede« ihrem
Stuhl kniete. Er ergriff ihre feine Hand, die über die Armlehne herabhing — sie
guckte ein wenig, gab sich aber doch gefangen — und küßte sie. Mein Ideal?
^es habe es gesucht, und ich hatte mich verirrt — ich wußte ja uicht, daß ich es
Herzen trug, und daß es fest verankert darinnen war, während ich es suchte.
Er spürte es, daß sie leise weinte. Er wollte sich erheben und sich über sie
^ugen. Da polterte es an der Thür.
Was? rief eine scharfe entrüstete Stimme, während sie beide aufführe». Wie?
sehe ich hier?
Aber Onkel! rief Ärmchen, die empor flog und sich vor ihn stellte. Wie kannston um — du bist wirklich abscheulich!
Wie kann ich nur? Höhute er, darf ich uicht mehr in mein Atelier, wenn ich will?
^le^ Was? Geh nur beiseite, ich will wissen, was da hinterm Sorgcnstuhl steckt.
Aber Onkel, es ist ja doch nur Wal—
Was? Nur Waldemar?
Onkel, sagte dieser, indem er sich endlich von seinen Knieen erhob, Sie
Wessen doch, daß ich es bin!
Ich weiß es? Seh einmal einer den langen Schlingel von Kunstgelehrten!
Wie kommst du denn da hinter meinen Sorgenstuhl?
Aber Onkel, ich habe doch die ganze Zeit bei Ihnen — und dann im Wal—
Waldemar stutzte wieder und fuhr sich wieder mit der Hand in den Bart.
Was sagt er dn? Was faselt er?
Onkel Zinnober hatte Ärmchen beiseite geschoben und stand jetzt vor dem Pro¬
fessor. — Geradeso wie vorhin, den großen Schlavphnt hatte er auf dem Kopfe,
den Radmnntel um die Schultern, wie ein Doppelpilz sah er aus, nur daß auf
dem Hntdeckel, der Krempe und deu Schultern eine dicke Schneekruste lag. Die
schwarzen Augen flogen funkelnd zwischen Ärmchen und dem Professor hin und her,
und ein ganz gewaltiger Grimm prägte sich auf deu scharfen Gesichtszügen ans.
Dieses ist ja nett! sagte er. Na wartet! Mich gehts ja nichts an, aber —
na! — Haft du mir besorgt, wozu ich dich beauftragt habe? fragte er Ärmchen. —
Ja. — Wo sind die Pakete? -— Hier! — Also fort, marsch.
Er ging zur Thür, sperrte sie auf und stellte sich daneben.
Die beiden waren zu ihren Sachen geflogen, hatten sie angezogen und huschten
an dem Onkel vorbei auf den Korridor und zu der Ausgnngsthür. Dort blieben
sie klopfenden Herzens stehn und warteten. Aber sie sahen den Onkel nicht, denn
er stand uoch im Atelier und bog sich vor Lachen — ganz leise lachte er — und
rieb sich die Hände wie besessen. Er sah aus Wie ein ganz fideles Wurzelmännleiu.
Dann fuhr er aus der Thür. —nenne! rief er mit seiner schrillen
Stimme. — Herr Pro — fest — for? scholl es in demselben Tonfall aus der Küche. —
Wir gehn jetzt. Mache Sie alles ordentlich zu und folge Sie uns dann. — Jawoll,
Herr Professor.
Also hinaus, ihr Gelichter!
Sie eilten zur Thür hinaus und die Treppe hinunter. Hinter ihnen her polterte
der Onkel.
Draußen, schneite es, daß man kaum die Laternen sah. Einhaken! komman¬
dierte Onkel Zinnober, indem er die Hausthür hinter sich zuzog.
Ärmchen steckte gehorsam die Hand durch Waldeinars Arm. Er griff mit der
freien Hand nach dem warmen Händchen, das leicht auf feinern Arme lag, und
drückte es fest.
Vorwärts!
Sie stapften voran durch den tiefen Schnee gegen den Wind, der ihnen die
Flocken ins Gesicht und in die Auge» trieb.
Verfluchtes Wetter! Am heiligen Abend! schalt der Alte hinter ihnen her,
keuchend, denn er vermochte ihnen kaum nachzukommen.
Wie freue ich mich, daß er es zuerst erfahren hat! sagte Ärmchen, indem sie
des Professors Arm an sich drückte. Der gute Onkel!
Was denn, Ärmchen?
Aber Waldemar! Schäme dich! — Ich glaube, keiner hat es sich so gewünscht,
wie er!
Du auch nicht, Ärmchen?
Sie ging einen Augenblick etwas langsamer und lehnte ihr Köpfchen ganz
leise — der Onkel konnte es ja nicht sehen in dem Gestöber — an seine Schulter.
Dann waren sie am Hanse. Onkel Zinnober hatte sie jetzt eingeholt, stellte
sich vor sie an die Thür und klingelte. Als sich die Thür aufthat, marschierte er voran
und stieg die Treppe hinauf, als gingen sie ihn nichts an, und legte im Vorraum
Mantel und Hut ab. Dann ging er in das Wohnzimmer. Hier sind wir —
hörten sie ihn beim Eintreten sagen.
Der Professor half Ärmchen aus der Jacke und zog seinen Überrock aus,
während sie das Tuch abnahm und ihr Haar ordnete. Dann trat er auf sie zu
und legte deu Arm um ihre Taille. Es durchzuckte ihn, wie er die Wärme spürte,
die das seidne Kleid ausströmte.
Sie wandte den Kopf ab und drängte ihn von sich. Dein ganzer Bart ist
ja voll SchneeI sagte sie, und als er stutzte und danach griff, lachte sie leise und
huschte durch die Wohnstubenthür.
Am Tisch saß der Vater mit dem weißen Haar, ihr den Rücken zukehrend,
vor einem dicken Buche — es war die Bibel —, worin er gelesen hatte, während
die Mutter nebenan schcifterte. Nach alter Gepflogenheit wurde zuerst das Weih-
unchtsevangelium vom Geheimrat gelesen, bevor es dann drüben klingelte. Onkel
Zinnober hatte sich dem Vater gegenüber in einen Lehnstuhl gesetzt und blitzte München
aus den schwarzen Augen an, während er die Daumen umeinander drehte.
Sie beugte sich über den Vater, hinter seinem Stuhl stehend, und sagte:
Guten Abend/Vnder. — Guten Abend, Kind! — Aber wie sie das Wort „Vater"
^gte, stutzte sie und warf rasch einen Blick auf den gleichmütig die Daumen
umeinander drehenden und vor sich niedersehenden Onkel. Sie wurde plötzlich
dunkelrot, fiel dein Vater um den Hals und küßte ihn leidenschaftlich auf Stiru,
Mund und Augen.
Aber Kind, was hast du denn? fragte der Geheimrat erstaunt; doch in dem¬
selben Augenblick verschloß ihm eine Hand die Augen. Waldemar war ganz leise
hereingeschlichen.
Wer ists? jubelte Ärmchen.
Deine Hand ists uicht! sagte der Vater und griff nach der, die über seinen
-lugen lag.
Onkel Zinnober, Ärmchen! Seid ihr denn endlich da? Ich bin ja längst
fertig! rief die Stimme der Mutter durch die Thürspalte. Heller Lichterglanz blitzte
hervor. Denn ging die Thür ganz nnprogrmnmmäßig ein ganzes Stück auf. Die
Frau Geheimrätin stand da, als wäre sie — heute, am heiligen Abend! — in
eine Salzsäule verwandelt worden wie weiland Loth Frau. Der Lichterbaum
hinter ihr strahlte in funkelnder Pracht.
Waldemar!
Der Vater fuhr herum und stieß einen Ruf der Überraschung aus. Die
fesselnde Hand hatte ihn freigelassen und haschte nach einer andern. Aber Ärmchen
log an dem Onkel vorbei und an der starren Mutter vorüber in das Christbaum-
zunmer, und der Professor Waldemar stürzte hinter ihr her, und die Fran Geheimrat
^ef, während much ihr Mann, der aufgesprungen war, an ihr vorübereilte: Nein,
«lese Kinder! Dn hört doch alles ans! Aber ihr Herz sagte ihr, was passiert sei,
und helle Thränen glänzten auf ihren rundlichen Wangen, als sie sich wandte und
de» andern folgte.
Onkel Zinnober aber rieb sich die Hände wie besessen und grinste dabei über
ganze Gesicht wie ein Satan; dann tanzte er ganz leise einen Menuett, ehe
auch ex hinüberging zu dem Lichterbaum. Und dabei hingen ihm, was gar nicht
5U seinem auffälligen Benehmen paßte, zwei dicke glänzende Perlen um Schnurrbart,
"» jed
n dem Augenblick, wo die Grenzboten die Arbeit des zu Ende gehenden
^ Jahres abschließen und sich zu der für das kommende rüsten, möchten sie
eine Bitte an ihre Leser richten. Sie dürfen hoffen, daß sie deren Zufriedenheit
erworben haben. Die alten Leser haben zu einem stark ermäßigten Preis in
den Heften dieses cinundsechzigsten Jahrgangs reichern Stoff erhalten, als
ihnen die frühern Jahrgänge geboten haben; die neuen Leser haben gesehen,
daß die Grenzboten mehr bringen als irgend eine andre Zeitschrift ihrer Art,
aber nicht nur mehr an Stoff und Seitenzahl, sondern mehr vor allem an
innerm Gehalt. Die Grenzboten glauben deshalb, an ihren neuen Lesern auch
neue Freunde gewonnen zu haben. Von seinen Freunden darf man aber
hoffen, daß sie, soweit sie dazu imstande sind, hilfreich mit Hand anlegen bei
einer Arbeit, die zum Nutzen der Gesamtheit, des Vaterlands dienen soll.
Wer Wert auf das Wirken der Grenzboten legt, wird sie auch gern zu
fördern suchen. Der beste Hebel ist die Fürsprache im Freundeskreise; also
werden unsre Leser gebeten, diese nicht zu versäumen vor dem Beginn des neuen
Jahrgangs, wo sie Gelegenheit dazu haben. Sie können durch die Verbreitung
des Probeheftes und dnrch die kleine Mühe einer Postkarte, durch die sie Be¬
kannte zum Lesen der grünen Hefte auffordern, mit dazu beitragen, daß weitere
Kreise für diese gewonnen werden. Es steht jedem der Leser jede Anzahl von
Exemplaren des ersten Heftes des neuen Jahrgangs zur Verfügung. Man
wolle nur bestelle»; je mehr Bestellungen kommen, desto froher wird an die
Arbeit gehn
lnsreZeit ist in besondern: Grade sozialpolitisch, Sie scheint aber
zugleich eine Zeit wieder erstarkenden Standeshochmuth, Klassen¬
dünkels und Kastengeistes zu sein. Viele, auf die etwas zu geben
ist, siud überzeugt davon, wenn auch die mit dieser Strömung
! treibenden natürlich nichts davon wissen wollen. Die soziale Frage
steht mit Recht mehr als jemals im Vordergrund unsrer innern Politik. Die
Sozialpolitik der Sozialdemokratie muß überwunden werden durch die rechte
Sozialpolitik; die arbeitenden Massen — das ist das dringendste — müssen von
der Herrschaft der Sozialdemokraten befreit und wieder zu eignem Beobachten
und eignem Überlegen gebracht werden. Der Kaiser hat ihnen in Breslau
wiederum die Hand gereicht. Unsre Sache ist es, alles aufzubieten, daß seinen
humanen, arbeiterfreundlichen Absichten im Volk die Wege geebnet werden.
^>cum die, die die Arbeiter von der Herrschaft der Sozialdemokratie befreien
Wollen und sollen, noch mehr in Klassendünkel und Kastengeist hinein geraten,
so werden die Aussichten auf wirklichen Erfolg nur schlechter werden. Viel¬
leicht ist diese Geistesströmung uuter den führenden Klaffen, den sogenannten
»bessern" Ständen, schon mit daran Schuld, daß trotz aller Sozialpolitik, die
sie gemacht haben, die verhängnisvolle Macht der Sozialdemokratie über die
lassen eher zu- als abgenommen hat.
In seinem neuen Buche über die deutschen Universitäten sagt Friedrich
Paulsen über die Stellung der akademisch Gebildeten in der Gesellschaft, ihre
Gesamtheit stelle in Deutschland eine Art „geistiger Aristokratie" dar. Es
gehörten dazu die Geistlichen und Lehrer, die Richter und Beamten, die Ärzte
und Techniker, kurz alle, die sich „durch einen Kursus auf der Hochschule"
en Eintritt in einen der „gelehrten und dirigierenden Berufe" verschafft hätten.
Sie bildeten in ihrer Gesamtheit eine Art Amtsadel, wie sie denn anch alle
an der Staatsregierung und Staatsverwaltung beteiligt seien. Wir fänden
Ve „in den Bureaus und Gerichtshöfen, in den Konsistorien und Schulkollegien,
"?„^ hygienischen und technischen Verwaltung aller Stufen nebeneinander
thätig." Und erklärend fügt er dann noch wörtlich hinzu: „Im ganzen bilden
dle Inhaber dieser Berufe eine homogene gesellschaftliche Schicht; sie erkennen
sich, eben auf Grund der akademischen Bildung, als sozial Gleichstehende an,
was natürlich weder Rangunterschiede innerhalb des Berufs noch auch Ab¬
stufungen in der Vornehmheit der Berufe selbst ausschließt; allerlei Rivali¬
täten, so z. B. zwischen Technikern und Juristen, haben hierin ihren Ursprung-
Aber im ganzen gilt doch: wie die akademischen Bürger auf der Universität
sich grundsätzlich als Gleichstehende, als Kommilitonen anerkennen, wenn auch
diese oder jene Gruppe ihren privaten Hochmut hat, so erkennen sich auch die
Inhaber aller akademischen Berufe grundsätzlich als Gleichstehende um, und
wäre es nur darin, daß die »Satisfaktionsfähigkeit« keinem prinzipiellen Zweifel
unterliegt."
Es ist von Interesse, daß Paulsen hier die Duellfrage mit besondrer
Betonung in Betracht zieht. „Satisfaktionsfähig" ist doch nnr der, der dein
Standesgenossen mich Satisfaktion mit der Waffe giebt und sie anch von ihm
fordert, kurz der sich der Duellsitte unterwirft. Mit dem studentischen Pauk¬
boden hat das nichts oder sollte es nichts zu thun haben. Die Mensur, und
gerade die Bestimmnngsmensnr hat ihre besondre erziehende, für manche un¬
ersetzbare Bedeutung. Sie soll nicht unterschätzt, aber auch nicht überschätzt
werden. Wenn sie dahin führt, die Duellsitte zu fördern, so muß das be¬
dauert und bekämpft werden. Die Duellsitte ist und bleibt ein unsrer Kultur
Hohn sprechender Unfug, das Duell selbst eins der traurigsten notwendigen
Übel. Wenn die bestehende Rechts- und Gesellschaftsordnung und — so muß
man hinzufügen — die zurückgebliebne oder entartete öffentliche Meinung dem
gebildeten Manne den zur Aufrechterhaltung seiner sittlichen Persönlichkeit in
der Gesellschaft unerläßlichen Schutz gegen Ehrenraub versagt, so bleibt ihm
uuter Umständen keine andre Wahl, als sich selbst Recht zu nehmen, sich selbst
zu rächen. Man schlägt damit nicht immer den Beleidiger nieder, mau kann
ebensogut von ihm niedergeschlagen werden, aber man schlägt sicher die er¬
bärmliche Gesellschaft ins Gesicht, die einen im Stiche läßt, und darin hat
man Recht. Aber man muß dann auch den Mut haben, die Folgen davon
zu tragen. Nur die allerschwersten Beleidigungen sollten eigentlich das Duell
entschuldigen, und nur ein Duell unter den schwersten Bedingungen sollte
eigentlich entschuldigt werden. Für Duellanten sollte es vernünftigerweise
nebeneinander keinen Platz mehr in ein und derselben Gesellschaft geben. „Ent¬
weder du oder ich" — nur so hätte das Duell rechten Sinn. Wenn sich der
tödlich Beleidigte und der Beleidiger — man denke z. B. an einen nieder¬
trächtigen Ehrenraub begangen an der Fran, der Schwester, der Mutter ^
einige Säbelhiebe versetzt haben und dann — gehörig zusammengeflickt — beide,
als wäre nichts geschehn, in derselben „guten" Gesellschaft die alte Rolle
spielen, so ist das eine Lächerlichkeit, aber keine Sühne. Unsre Gesellschaft er¬
scheint noch ganz unfähig, in Ehrensachen Recht zu sprechen, Recht zu finden-
Wer nicht gedankenlos ins Leben hineingelebt hat, dein müssen sich bei einiger
Erfahrung in solchen Dingen diese Gedanken aufgedrängt haben. Aber die
Gedankenlosigkeit, das heißt die nichts als konventionelle und formelle Be¬
trachtung des Menschenlebens ist leider gerade unter den Gebildeten nur zu
sehr verbreitet. Von allen zu verlangen, daß sie sich unter allen Umstünden
über diese Schwächen der Gesellschaft mit Verachtung hinwegsetzen sollen, geht
freilich nicht an. Aber wenn es überhaupt ethische Ziele und Imperative für
den Einzelnen und für die Gesellschaft giebt, so gehört die energische Be¬
kämpfung der Duellsitte dazu.
Die höchste Achtung verdient deshalb das Streben der Männer, die sich
aus reinem sittlichem und religiösem Empfinde» heraus in diesem Kampf zur
Führung entschließen, mehr Achtung sicher als die Redereien derer, die die
Ehreustellung des gebildeten, namentlich des „akademisch" gebildeten Mannes,
des jungen wie des alten, des robusten und gewandten wie des schwächern
und ungeschickter», im zwanzigsten Jahrhundert nur noch mit dem Säbel in
der Faust anerkennen zu wollen vorgeben. Natürlich hat Paulsen diesen
Förderern des Duellunfugs nicht nach dem Munde reden wollen, aber bei
der das Duell fördernden Strömung fordert es zu besondrer Prüfung heraus,
daß er auch nur so, wie er es thut, die Duellsitte zum Hauptmerkmal der
Stellung der Inhaber akademischer Berufe zu einander und zur Gesellschaft
macht. Trotz der kaltem ducllfördernden Strömung ist das thatsächlich nicht
ganz richtig. Der Stempel, der den akademisch Gebildeten das gemeinsame
Gepräge giebt, ist denn doch auch heute uoch ein andrer. Auch der großen
Masse' der Studenten auf den deutschen Universitäten gilt, dank zum Teil
Wohl ihrer humanistischen Vorbildung, die Wissenschaftlichkeit ihres Berufs,
das freie Forschen nach der Wahrheit, kurz der Idealismus als das, was ihn
auszeichnet. Es paßt — Gott sei Dank — noch immer nur auf eine Minderheit
unter den deutschen, auch unter den preußischen Studenten, was Paulsen
treffend schildert, wenn er schreibt: „Freilich nicht ganz vermag ich der Be¬
sorgnis mich zu entschlagen, daß das Zeitalter der »Realpolitik«, dessen Spuren
im Leben des deutschen Volkes überall zu erkennen sind, auch in die studierende
Jugend mit allerlei Wirkungen Eingang gefunden habe: Hochschätzung des Reich¬
tums und Prunks, Werktagen auf äußere Erscheinung und konventionelle Formen,
Nachobensehen und Korrektheitsfanatismus, all das spielt jetzt auch in der
akademischen Jugend seine Rolle. Ich gestehe, daß die philiströse Ängstlichkeit,
womit heute in manchen Kreisen auf »patentes« Auftreten und Repräsentation ge¬
halten wird, mir mit dem Wesen des Studenten weniger verträglich zu sein
scheint, als ein Übermaß von Gleichgiltigkeit gegen diese Dinge, wie es früher
Wohl vorkam. Es zeigte doch den Mut, eigne Wertmaßstübe gegenüber dem
Geltenden anzulegen. Die allzu bereite Unterordnung unter die Korrektheits¬
forderungen der Talmivornehmheit läßt auch für die Folge nicht viel Selb¬
ständigkeit des Urteils und des Charakters erwarten."
Das sind goldne Worte, deren Wert wir hoch anschlagen, wenn wir auch
hier den eisernen Imperativ, der daraus zu folgern ist, ungern vermissen.
Wir können es uns nicht versagen, auch noch folgende Sätze Paniscus wörtlich
anzuführen: „Und ein andres geht damit zusammen: die Schätzung der Menschen
nach ihrem innern Wert, unabhängig von Besitz und Rang. Jene Talmi¬
vornehmheit pflegt mit pöbelhaftem Hochmut gegen geringe Leute und schmieg¬
samer Unterwürfigkeit gegen Macht und Reichtum zusammen zu gehn. Auch
hier empfand der deutsche Student in der ersten Hälfte des Jahrhunderts
freier, als es in der Gegenwart vielfach der Fall ist. Wir Deutschen fürchten Gott
und sonst nichts auf der Welt; der Mann, der das Wort zuerst sprach, durfte
so reden. Aber unter denen, die es ihm nachsprechen, sind, fürchte ich, nur zu
viele, die sich vor allen Dingen in der Welt fürchten, nnr nicht vor Gott, die
sich fürchten vor der Gesellschaft und der öffentlichen Meinung, vor dem Geld
und dem Nang, vor jedermann, der einmal nützen oder schaden kann, ja vor
jedermann aus dem Volke, und wenn er nichts kann als die Nase rümpfen."
Aber es ist doch noch immer nur eine Minderheit der deutschen Studenten,
auf die diese Beschreibung paßt, doch kommt leider diese Minderheit vielfach
als „Elite" äußerlich immer mehr zur Geltung und versteht es wohl auch
besonders gut, „Karriere" zu machen, gerade weil sie die unverfälschtesten
„Realpolitiker" schon als Studenten sind oder werden, unangekränkelt von irgend
welchem Idealismus. Das sind die Musterschüler für den erstarkenden Standes¬
hochmut, Klassendünkel und Kastengeist, für das anmaßende, rücksichtslose
Strebertum, das um so verderblicher wirkt, je mehr talentvolle, kluge und
fleißige junge Leute ihm verfallen.
Auf den technischen Hochschulen haben sich die Verhältnisse anders ent¬
wickelt als auf den Universitäten. Sie können auch jetzt noch nicht ohne
weiteres über denselben Kamm geschoren werden, wie das vielfach Mode zu
werden scheint. Der Idealismus des freien Universitätsstudiums ist bei den
studierenden Technikern vielfach unterbunden worden durch den Zwang, sich
von Anfang an für den ergriffnen praktischen Spezialberuf, der häufig in der
Sphäre des Erwerbslebens liegt, eine Masse praktisch verwendbarer Kenntnisse
anzueignen. Das „Student spielen" hat erst neuerdings mehr überHand ge¬
nommen; leider, wie es scheint, erst uuter der modernen, von Paulsen ge¬
schilderten realpolitischen Strömung. Ob das Streben der neuen Techniker¬
korps ein wirklicher Fortschritt ist im Vergleich mit dem Streben der alten
Vereine der Polytechniker, ist mehr als zweifelhaft. Die Erziehung zur Duell¬
sitte hat Wohl kaum viel zur Veredlung der jungen Herren beigetragen, die
neumodische Dressur zum korrekten Strebertum sicher gar nichts.
Unter den Beamten, Ärzten, Geistlichen, Gymnasiallehrern tritt die Rück¬
sicht auf die Duellsittc als Merkmal der Zugehörigkeit zu einem besondern
und zwar ausgezeichneten Berufsstande bis jetzt noch mehr in den Hinter¬
grund, als das schon unter der Masse der Studenten immer noch der Fall
ist. Ob die Propaganda für den krummen Säbel darin eine wesentliche
Änderung herbeiführen wird, bleibt abzuwarten. Daß diese Propaganda weniger
zu einer Einschränkung der Pistolenduelle als zu einer Zunahme der Duelle
überhaupt führen würde, wenn sie Erfolg haben sollte, kann man annehmen-
Lange würde die Freude wohl nicht dauern. Immerhin ist schon die Mög¬
lichkeit einer bemerkbaren Neubelebung des Faustrechts uuter deu Gebildeten
und namentlich unter den akademisch gebildeten Beamten gerade bei den
dringenden sozialpolitischen Aufgaben der Gegenwart ernst zu nehmen. Es
könnte den ungebildeten Massen gar kein schlechteres Beispiel und ihren sozial¬
demokratischen Verhetzeru gar keine willkvmmnerc Handhabe für ihre Wühl¬
arbeit gegeben werden, als wenn die höhern Beamten das Faustrecht als das
charakteristische Vorrecht ihres Berufsstandes vor der öffentlichen Meinung
Praktisch zur Anerkennung brächten. Aber die ganze Duellfrage interessiert
hier doch nur nebenher.
Wenn unsre höhern Beamten mehr als früher des Kastengeists, des Klassen¬
dünkels und des Standeshochmuth beschuldigt werden und sich schuldig macheu,
so ist doch von vornherein zu sagen, daß sich eine ähnliche beklagenswerte Er¬
scheinung auch in andern Berufsstünden zeigt. Zunächst bei den Kaufleuten
und den Industrielle». Nicht mir zwischen ihren drei Hauptklassen, den Unter¬
nehmern, den Angestellten und den Arbeitern, herrscht ein die Sozialrefvrm er¬
schwerender und ihre gute Wirkung oft aussehender Kastengeist und Klnssen-
dünkcl, sondern auch zwischen den verschiednen Klassen der Unternehmer und
zwischen den Angestellten untereinander. Die verletzende persönliche Überhebung
der Unternehmer und der Angestellten gegen die Arbeiter hat vielleicht etwas
abgenommen. Man hat der Not gehorchend sich zu humanen Formen bequemt
und ist damit dann Wohl auch hier und da zu humanen Anschauungen gelangt.
Leider wird man den Arbeitern zum Teil recht geben müssen, wenn sie sich
für diesen Fortschritt den Sozialdemokraten zu Dank verpflichtet fühlen. Den
in ihrer Allgemeinbildung und ihrer geschäftlichen und technischen Tüchtigkeit
den „Chefs" im allgemeinen kaum nachstehenden bessern Angestellten gegenüber
ist der Kastengeist und der Staudeshochmut der Unternehmer viel ärger und
auf die Dauer verbitternder als die Überhebung der höhern Beamten über die
niedern von gleicher persönlicher Bildung. Hier treibt das sogenannte Protzen-
tum seine allerunangenehmsten Blüten, gegen die auch der alte Adelshochmnt
und Adelsknstengeist anmutig erscheint. Der Nepotismus hat in der modernen
Unternehmuugsfvrm der Aktiengesellschaft ein beklagenswert günstiges Bethäti¬
gungsfeld gefunden, und es ist nicht unmöglich, daß sich das über kurz oder
lang an unsern Großbetrieben und damit an der ganzen deutschen Volkswirt¬
schaft, soweit sie auf Handel und Industrie beruht, empfindlich rächt.
sozialpolitisch ist dieser kaufmännische Kastengeist der wirksamste Bundes¬
genosse der Sozialdemokratie. Ihn zu bestreiten, ist ganz unmöglich. Man
frage nur einmal bei den Herren und den Damen unsrer „großen Häuser" nach,
die jedem Nichtsthuer, der aus einem ebenso großen Hause kommt, bereitwillig
ihre geselligen Pforten öffnen, ob es ihnen auch nur denkbar erscheint, eine»
jungen kaufmännischen Angestellten, der kein großes Vermögen ererbt oder zu er¬
erben but, gesellig zu empfangen, mag er ihnen auch als uoch so gebildet und tüchtig
bekannt sein. Wie die Dinge in dieser Beziehung liegen, ist es nicht wunderbar,
wenn gerade tüchtige und gebildete junge Angestellte immer zahlreicher offen
^ur Fahne der Sozialdemokratie schwören. Im Herzen thut es vielleicht schon
die große Mehrzahl. Die rühmlichen, sogar nicht allzu seltenen Ausnahmen,
wo Großunternehmer ihren Angestellten persönlich die berechtigte Gleichachtung
und freundschaftliche Teilnahme erweisen, zeigen, daß es auch so geht, und sie
rechtfertigen gerade deu schweren Vorwurf, den wir den Protzen machen. Freilich
der Untcrnehmerkastengeist reicht weit hinunter bis in die Sphäre des Klein¬
handels und des Handwerks. Vielfach nimmt er hier nur andre, vollends brutale
Formen an.
Und wenn sich die Kaufleute und die Industriellen über Beamtenhochmut
beklagen, so ist, auch wenn die Klagen zum Teil begründet sind, doch auch hier
daran zu erinnern, daß ihr Protzentum, ihre übertriebne Wertschätzung des
Reichtums und des äußern Genusses und Prunks, der ihn voraussetzt, den ge¬
bildeten Beamten eine größere Exklusivität, ein schärferes Wahren ihres hohem,
idealem Standpunkts in der Gesellschaft zur Pflicht macht. Diese Pflicht wird
eher zu wenig als zu viel erfüllt in unsrer „realpolitischen" Zeit. Obwohl
freundschaftliche Geselligkeit zwischen dem reichen Kaufmann und dem vermögens¬
losen höhern Beamten und Gelehrten nicht nur möglich ist, sondern sehr er¬
freulich und für beide Teile ehrend sein kann, und obwohl in solchen Fällen
ein Kerbholz über die gegenseitig dargebotenen geldwerten Aufwendungen zu
führen auf beiden Seiten das alleruuvornehmste sein würde, so giebt es
doch kaum etwas widerlicheres, als den gebildeten Beamten, der beim Protzen
schmarotzt, d. h. sich dnrch den geselligen Verkehr mit ihm die materiellen Ge¬
nüsse zu verschaffen sucht, die er sich aus eignen Mitteln nicht verschaffen zu
können bedauert. Das Volk hat ein feines Gefühl für dieses Schmarotzen,
und der sozialdemokratischen Propaganda kommt es sehr zu gute. Das Gefühl
dafür auch im Beamtentum wieder recht scharf zu machen, ist eine der wichtigsten
Aufgaben der Negierung. Leider führt die andressierte Talmivornehmheit
der studierenden Jugend von dem gebotenen Ziel immer weiter ab. Was die
Beamten immer noch in der Gesellschaft auszeichnet, das ist ihre Stellung über
dem Erwerbsleben, über dem immer schärfer entbrannten Kampf um Geldgewinn.
Der ideale Vorzug dieser Stellung kann gar nicht genug betont werden. Nirgends
hat das Wort: „Was ist Wahrheit!" eine so verhängnisvoll große Bedeutuug
wie in der modernen Jagd nach Geld. Man muß lachen, wenn man sich die
Wahrheitsliebe der Geschäftsinteresse»^» daraufhin ansieht. Da ist auch nicht
einmal mehr ans Adam Niese Verlaß. Die Wahrheit, die andern Geld bringt,
darf nicht gelten, aber die Wahrheit, die einem selbst was einbringt, möchte
man sich immer patentamtlich schützen lassen. Diesem Banausentum — im
weitesten Sinne des Worts — gegenüber haben der Richter, der Geistliche, der
Verwaltungsbeamte, der Lehrer und der Professor doch wirklich eine beneidens¬
wert ideale Stellung, und man wird auch heute noch — so viele Ausnahmen
es giebt — sagen können, daß das den deutschen akademisch gebildeten Beamten
hauptsächlich den gemeinsamen besondern Stempel aufprägt, der ihr Verhältnis
zur Gesellschaft und untereinander bestimmt. Freilich, je mehr die Talmi¬
vornehmheit, von der Paulsen schreibt, überHand nimmt, um so mehr wird
die akademische Beamtenprägung zur Falschmünzerei. Nur aus diesem Idealis¬
mus nimmt die deutsche Beamtenvornehmheit ihr Recht, ohne ihn werden die
Bernfsbeamtcn trotz aller andressierten Korrektheit und krummen Säbel auch
in Deutschland einer vapitis äsinwutio verfallen.
Von einem agrarischen Protzentum zu reden könnte bei der finanziell un¬
günstigen Lage, in der die meisten deutschen Landwirte zur Zeit sind, als
Anachronismus erscheinen. Und doch gab es, giebt es teilweise noch und wird
es bei zunehmendem Wohlstande wieder vor allem ein Bauernprotzentnm geben,
das hinter dem städtischen an Widerwärtigkeit und sozialer Schädlichkeit nicht
zurücksteht. Der Bauernstolz ist ja sprichwörtlich im Übeln Sinne. Es ist
jetzt vielfach Mode geworden, sich für alles, was bäurisch ist, zu begeistern.
Bei Städtern, die die Bauern gar nicht verstehn, fast an? meisten. Wir wollen
uns dei solchen Nnrrheiten hier nicht aufhalten, aber es wird hohe Zeit, daß
wir gebildeten Deutschen auch in dieser Beziehung wieder zu denken anfangen.
Wo das Protzentnm auf dem Lande auftritt, da ist es bäurisch. Den Adels¬
hochmut, den Ädelskastengeist, die Adelsvorurteile nennt man ihrer historischen
Vnsis wegen nicht Protzentnm, wenn sich in neuster Zeit auch manche Ver¬
gleichspunkte zwischen beiden Erscheinungen ergeben. Den in der Gesellschaft
lebenden möge es überlasten sein, darüber ihre Beobachtungen und sich Ge¬
danken zu machen. Die sozialen Pflichten der Großgrundbesitzer werden viel¬
fach noch besonders mangelhaft erfüllt. Hoffentlich wird, wenn die leidigen
Zvllfrngen zur Ruhe gekommen sein werden, die soziale Frage auf dem Lande
mit all dem Ernst, den sie verdient, in Behandlung genommen werden. Hier
ist die Gefahr der Ausbreitung der sozialdemokratischen Herrschaft über die
Arbeiter ungeheuer. Alles wird dabei auf die Imponderabilien ankommen, die
gerade auf dem Lande das Verhältnis zwischen Herr und Arbeiter bestimmen,
und die ganz wesentlich im Standeshochmnt, Klassendünkel und Kastengeist der
Herren ihren unberechenbaren Ausfluß haben. ?6invorg. muta-nor et ne.8
umtÄnmr in Ws. Der Patriarchalismus von heute muß ein ganz andrer sein
als der vor fünfzig Jahren. Wer das nicht wahr haben will, der ist der
schlimmste Feind jeder ländlichen Aristokratie in Deutschland. Und die brauchen
wir nun einmal, namentlich in Altpreußen. Die sogenannte Selbstverwaltung
setzt eine gründliche Reform der sozialen Gesinnung dieser Aristokratie ganz
besonders voraus. Ein in Kastengeist und Klassenhochmut befangner Gro߬
grundbesitz kann in Deutschland eine zur Selbstverwaltung taugliche Gentry
nimmermehr abgeben, die bei der Lösung der dringenden sozialen Aufgaben
der nüchsteu Zukunft mehr nützte als schadete. Die Sozialdemokratie kennt
die Schwächen unsrer Zustände in dieser Beziehung, und sie wird sie kräftig
ZU ihrem Vorteil benutzen. Auch die Berufsbeamten in den ländlichen Bezirken
werden danach ihr Verhalten in der Gesellschaft, namentlich dem neumodischen
Junkertum gegenüber, vielfach revidieren müssen. Es wird nicht allen leicht
fallen, denn die Talmivornehmheit, die die Abhängigkeit von den sogenannten
Junkern verleiht, hat in den Augen vieler Vorgesetzten einen besonders echten
Schein und fordert die „Karriere" deshalb oft ganz vortrefflich. Aber Talmi
bleibt Talmi. Die Beamtenvornehmheit, die darauf beruht, muß sich in schweren
Zeiten als jämmerlich unecht und unzuverlässig erweisen. Von den sozialen
Aufgaben soll sie ganz die Finger lassen.
Von dem alten „Liberalismus" der Junker, der sich in der Abneigung
gegen die Berufsbeamten erschöpfte, ist mich heute noch ein gehöriges Quantum
vorhanden, nur daß man den alten liberalen Umschlag nicht mehr gebraucht.
^ ist zu fadenscheinig geworden, und ein neues Muster ist noch nicht am
Markte. Wie unser Junkertum aussieht, so ist zu fürchten, daß sein Einfluß
die von Paulsen geschilderte „realpolitische" Richtung unter den sich vorberei¬
tenden jungen akademisch gebildeten Beamten leider ebenso begünstigt wie der
Einfluß des städtischen Prvtzentums. — Womit durchaus nicht gesagt ist, daß
der deutsche Adel, der ja mit dem Junkertum von heute ganz und gar nicht
identisch ist, das Zeug hat, uns wirklich vornehme Beamten in großer Zahl
zu stellen.
Der tadelnswerte Kastengeist, Klassendünkcl und Standcshochmut der Be¬
amten äußert sich in seiner sozialen Schädlichkeit sowohl nach außen gegen die
Staatsbürger ohne Beamtencharakter als auch innerhalb des Beamtentums selbst.
Zunächst sucht mau denn doch der akademischen und namentlich der Universitäts¬
bildung viel zu allgemein einen viel zu hohen Wertstempel aufzuprügeu. Die
wissenschaftliche Bildung ist auch in Deutschland viel weniger mehr Monopol
der Universitäten als noch vor fünfzig Jahren, und auf der andern Seite hat
die oft erwähnte „Realpolitik" der Studenten der alten idealen Wisfenschnft-
lichkeit schon gehörig Abbruch gethan. Aber abgesehen davon: was für Banausen
und Böotier treten nicht schon immer Jahr für Jahr nach ril<z durchgehaltenen,
manchmal sogar fleißig durchochsteu Semestern und genügend bis gut absol¬
vierten Staatsexamen in die verschiednen akademischen Berufsstände ein. Und
wieviele versäuern erst gar nach dem Staatsexamen zu so ausgesprochnen Phi¬
listern, daß ihre höhere ideale und wissenschaftliche Bewertung andern unnla-
demisch gebildeten Staatsbürgern gegenüber der reine Hohn ist.
Gewiß ist die Berufsthätigkeit der höhern Beamten eine Schule des
Idealismus und der Wissenschaftlichkeit oder kann und sollte es sein. Auch,
ja ganz besonders, die Berufsthätigkeit der Juristen, vornehmlich der Richter.
Man ist wenig geneigt, das anzuerkennen, weil man überhaupt die Bedeutung
des positiven Rechts und des gesicherten Rechtswegs nicht mehr anerkennen
will oder zu verstehn viel zu gedankenlos ist. Man denkt nicht daran, daß
den Richtern Tag für Tag berufsmäßig die vielgestaltigen Erscheinungen des
vollen, praktischen Menschenlebens vor Augen geführt werden, die festzustellen,
in ihrem Wesen zu versteh» und nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen und nach
den Regeln der Logik zu beurteilen sie die Aufgabe haben. Und das immer
unter der unmittelbarsten, schärfsten Verantwortung, denn die vor Gericht
unterliegende Partei ist der gefährlichste Kritiker. Kein andrer Beruf ist so
unausgesetzt zur wissenschaftlichen — gerade dieses Wort ist zu brauchen —
Prüfung der menschlichen Dinge gezwungen, kein andrer Berufsstand so un¬
ausgesetzt in der Übung, sich über den Parteien, über den Interessen zu halten
und kein Ansehen der Person gelten zu lassen. Das Luuin <mi«u<z triousro
ist wie vor zweitausend Jahren noch jetzt die herrliche Devise, die oberste
Berufspflicht des Juristen. Darauf vor allem zielt die ganze Schulung des
Verstandes und Charakters beim Rechtsstudium ub, uicht nur auf der Uni¬
versität, sondern erst recht in dem viel längern praktischen Vorbereitungsdienst,
der in sehr viel höherm Maße, als jetzt gewöhnlich behauptet wird, seine
wissenschaftliche Seite hat. Daß das Universitätsstudium von den meisten
angehenden Juristen so arg vernachlässigt wird, bringt den Beruf leider M
Verruf, und man kann nur wünschen, daß in dieser Richtung endlich durch¬
greifend Wandel geschafft wird. Freilich, die Talmivornchmheit, die man M
bedauerlicher Verblendung gerade um den jungen Juristen besonders zu lieben
scheint, macht das immer schwerer. Durch Gigerltum und Strebertum wird
der Idealismus, den das Nechtsstudium in so hohem Grade pflegt und voraus¬
setzt, und durch deu es die Juristen zu den berufensten Sozialpolitikern macht,
natürlich zu Schanden.
Vor allem wird in der Gegenwart eine möglichst vollkommene juristische
Schulung von Verstand und Charakter bei den höhern Verwaltungsbeamten
verlangt werden müssen. Es ist ein verkehrter Weg, sie dnrch eine Sammlung
technischer, statistischer und dergleichen Spezialkenntnisse ersetzen zu wollen.
Auch ein Halbjahr auf einer Domäne oder in einem Bankhause wird wenig
helfen. Was in dieser Beziehung im Kolleg, in den Seminaren und in kurzen
Spezialknrscn usw. gelernt werden kann, erspart es den jungen Verwaltungs-
beamten doch nicht, sich immer wieder neuen Erscheinungen des praktischen
Lebens gegenüber zu sehen, wo es immer wieder gilt, Jurist zu sein, Nilum
euihug triduors. Die juristische Vorbildung ist deshalb in der Regel, d. h. für
den Durchschnitt der Beamten, unersetzlich, und zwar eine juristische Vorbildung,
zu der — wieder in der Regel — eine ein- bis zweijährige Thätigkeit als
Gerichtsassessor wünschenswert erscheint. Wenn sich der höhere Verwaltungs¬
dienst aus den soweit ausgebildeten Juristen rekrutierte, so würde er am besten
fahren, gerade der Sozialpolitik gegenüber. Techniker und Spezialisten wird er
daneben natürlich immer brauchen und auch reichlich zur Verfügung haben.
Überhebung und Rücksichtslosigkeit der untern Beamten gegen das Pu¬
blikum sind eine ziemlich allgemeine Klage von jeher. Wie sehr sie der sozial¬
demokratischen Propaganda nützen, namentlich, wenn sie mit ausgesprochner
Mißachtung des positiven Rechts verbunden sind, liegt aus der Hand und
sollte unserm höhern Beamtentum am wenigsten zweifelhaft sein. Ob solche
^echtsmißachtungen von Unterbeamten in neuerer Zeit häufiger vorkommen
als früher, ist schwer zu sagen. Sie werden jetzt häufiger an die große Glocke
gebracht, und jedenfalls sind sie jetzt viel schädlicher, ist sie zu verhindern viel
wehr geboten. Das liegt durchaus an den höhern Beamten. Ein höheres
Beamtentum, das nicht von dem rechten persönlichen sozialen und humanen
Geist beseelt ist, das selbst an Überhebung, Standeshochmut, Rücksichtslosig¬
keit gegen vermeintlich Tieferstehende leidet, ist nicht nur unfähig, das Mi߬
verhalten der Unterbeamten abzustellen, fondern es regt sie dazu an.
Der heutige Stand des Kastengeistes im Beamtentum wird, wenn auch
nicht im einzelnen durchweg zutreffend, so doch im ganzen treffend ausge¬
drückt durch die Behauptung, in Preußen Verkehre der Negierungscisfessor kaum
Uvah mit dem Gerichtsassessor. Es kommt dabei vor allen Dingen darauf
"n, einzusehen und anzuerkennen, daß bei uns in Preußen, und zwar namentlich
Ul den Ostprovinzen, die von Paulsen angedeutete Talmivornehmheit mit
allen ihren Ausflüssen am allerärgsten ihr Wesen zu treiben anfängt, und
daß wir in dieser Beziehung sehr viel von den Süddeutschen lernen können,
^ins die Lorbeeren der Väter pochend uns jeder Kritik zu entzieh», wäre das
falscheste, was wir machen könnten, und würde uns bald genug so ins Hinter¬
treffen bringen, daß wir erschrecken müßten. Diesem Pochen ans der Väter
Lorbeeren hat die Geschichte der letzten hundert Jahre allerdings Nahrung
gegeben, und die patriotische Geschichtschreibung über die Begründung des
Deutschen Reichs hat ihm kräftig Vorschub geleistet. Was ' Preußen für
Deutschland gewesen ist, darf uns mit berechtigtem Stolz erfüllen und gegen
die Verkleinerungssucht des nichtpreußischen Partikularismus empfindlich machen.
Aber ein Recht auf Überhebung kann das heutige Geschlecht in Preußen auf
keinen Fall daraus ableiten, so schön die Phrasen much klingen, durch die es
scheinbar begründet wird. Das Preußen, das das Deutsche Reich schaffen
konnte, das haben die Hohenzollern in vielfachem hartem Ringen gegen die
Preußen geschaffen, und die Geschichte weiß, wie zahlreich ihnen in großen
Zeiten Nichtprenßen dabei gute Diener waren. Aber den Kastengeist und den
Standesdünkel, soweit er jetzt das preußische Beamtentum gegenüber dem süd¬
deutschen unvorteilhaft auszeichnet, ans der Geschichte rechtfertigen zu wollen, ist
überhaupt ohne Sinn, so oft es auch vou Preußen und überprenßischen Nicht¬
Preußen noch versucht werden wird. Wir haben unsre Pflicht und Schuldigkeit
zu thun, und kein neumodischer Historismus darf uns an der Erkenntnis
hindern, daß wir in der fraglichen Beziehung schleunigst und ganz bescheiden
bei den Süddeutschen in die Schule gehn müssen. Wer Gelegenheit gehabt
hat, in Süddeutschland das soziale Verhalten der höhern Beamten zu den
untern und zum Publikum kennen zu lernen, der muß zugeben, daß es im
Vergleich mit den preußischen Zuständen ist wie Tag und Nacht. Er wird
aber auch namentlich darüber nicht in: Zweifel sein, daß gerade diese fehler¬
hafte Seite des preußischen Wesens der partikularistischen Strömung fort und
fort neue Nahrung zuführt. Der preußische Beamtenkastengeist, diese andressierte
Korrettthnerei, die jeden dienstlichen Rangunterschied auf alle außerdienstlichen
Verhältnisse zu übertragen bemüht ist, die die Beamtenklasse auch unter den
Frauen und Kindern zur Anerkennung bringen möchte und auch die Nicht-
beamten nach ebenso ursachlichen, eingebildeten äußerlichen Merkmalen in Klassen
einteilt und demgemäß verschieden behandelt, ist dem süddeutschen gebildeten
Manne und der ganzen süddeutschen Bevölkerung mit Recht in der Seele
zuwider. Es ist nicht wahr, daß die süddeutschen höhern Beamten an wirk¬
licher Vornehmheit hinter den altpreußischen irgendwie zurückstünden, nur
auf die Talinivornehmheit versteh« sie sich nicht so gut. Der wirklich Vor¬
nehme darf sich gehn lassen. Das gilt auch uoch in gewissem Grade für Rhein-
Preußen im Unterschiede zu den Ostproviuzcu. Alle Versuche, diesem .Kasten¬
geist schließlich doch noch seine guten Seiten abzugewinnen, mißglücken einem,
wenn man die süddeutschen Zustände gründlich und unbefangen kennen lernt. Vor
allem ist es uicht wahr, daß die Pflichttreue, der Beanllengehorsam, die Dis¬
ziplin durch das Fehlen des Kastengeistes in Süddeutschland beeinträchtigt würde.
Das Gegenteil ist richtig. Wo sich die höhern Beamten kastenmäßig abschließen,
da schließen sich anch die untern ab und verfolgen ganz natürlich dienstlich
und außerdienstlich ihre Svnderinteresseu gegen die obern, die davon nichts
sehen und hören, weil sie auf ihrer eingebildeten Hohe keinerlei Verständins
für das persönliche Empfinden und Denken der untern haben. Dank ernten
diese obern auch fast niemals von den untern, wenn sie sich selbst ostensibel
darum bemühn. Denn sie verletzen gerade die Besfern unter den Untergebnen
durch ihr talmivornehmes Wohlwollen. Der Dienst wird geschädigt, statt ge¬
fördert. Die äußerliche Unterwürfigkeit bei innerlicher Abneigung macht es,
daß der beste Teil der Leistungsfähigkeit unter den Tisch fällt, und erzeugt
mu unfruchtbares, bureaukratisches oxus ovsrg.wir. Die zu diesem Verhalten
erzogneu oder in ihm erhaltenen untern Beamten selbst sind sicher nichts
weniger als sympathisch. Man gewinnt vielfach den Eindruck, daß sie die
Behandlung erfahren, die sie verdienen. Es will einem manchmal fast so
scheinen, als ob die Deutschen westlich von der Elbe nicht so ganz Unrecht
hätten, wenn sie die unechte Vornehmheit wie die falsche Unterwürfigkeit im
Osten auf die Versetzung mit slawischen Blute zurückführen, obwohl das gerade
gegenüber der Zunahme des Kastengeistes und des Klassendünkels in der Gegen¬
wart ganz unhaltbar ist. Auch im östlichen Preuße» zeigen sehr zahlreiche,
erfreuliche Ausnahmen noch heute, daß es auch anders sein kann, und daß es
da, wo es schlecht ist, uicht schlecht bleiben darf. Es giebt schlechterdings
keine Entschttldigung dafür, daß wir uicht nur in sozialpolitischer Beziehung
mit unserm Beamtentum aufnngeu, dem Süden gegenüber ins Hintertreffen
zu geraten.
Es mag dahingestellt bleiben, ob die Ansicht richtig ist, daß die süd¬
deutsche Sozialdemokratie ungefährlicher sei als die preußische. Das aber steht
fest, daß es der Sozinldemvkratie in Süddentschland bisher bei weitem nicht
in dem Grade und Umfange gelungen ist, die Arbeiter in eine unversöhnliche,
sie ganz beherrschende Verbitterung hinein zu hetzen, wie in den preußischen
Städten und Industriezentren. Fast ebenso fest steht es, daß dazu das Fehlen
des widerwärtigen Kastengeistes, des unnötigen Verschärfens der gesellschaft¬
lichen Klassengegensätze, der wachsenden sozialen Überhebung in Süddentschland
sehr viel beiträgt. Die sozialen Reformen gelingen dort weit leichter, müssen
weit leichter gelingen, weil den Behörden und den Beamten die soziale Arbeit
frei und natürlich vou der Hemd geht, während sie in deu preußischen Ost-
Provinzen zum großen Teil Behörden und Beamten zugemutet werden muß,
die bis über die Ohren im Kastengeist und in ganz unsozialen Anschauungen und
Gewohnheiten drin stecken. Wenn nun unsre akademisch gebildeten Beamten
und ihr Nachwuchs auf den Universitäten immer mehr, wie Paulsen sagt, in
übermäßige Hochschätzung des Reichtums und des Prunks, in Wertlegen ans
äußere Erscheinung und konventionelle Formen, in Nachobenschen und Korrekt¬
heitsfanatismus, in jene Talmivornehmheit hineingeraten sollten, die mit pöbel¬
haftem Hochmut gegen geringe Leute und schmiegsamer Unterwürfigkeit gegen
Macht und Reichtum zusammengeht, wie sollen wir da die nötigen Sozial¬
reformen in Stadt und Land durchführen, wie der Sozialdemokratie Termin
abgewinnen und sie an weitern Eroberungen hindern?
Eine gewisse Art vou Sozialpolitik zu machen ist ja freilich auch das
blutigste Strebertum imstande. Leute, die persönlich ganz und gar jenen von
Paulsen genannten „realpolitischen" Grundsätzen huldigen und nachleben, sehen
wir vielfach als eifrige theoretische, legislative und büreaukratische Sozial-
Pvlititer an der Spitze. Daß sie selbst für sich deu schärfsten Kastengeist und
Standcshochmut bethätigen, bar sind jedes Wohlwollens und jeder Nächsten-
liebe gegen den einzelnen äußerlich niedriger und im Einkommen viel schlechter
gestellten Mitmenschen, unterwürfig nach oben, herrisch nach unten, nur den
eignen Nutzen suchen, geniert diese Herren Sozialpolitiker nicht. Der moderne
Sozialismus und auch die moderne Ethik begünstigen leider diese Art. Danach
braucht Nächstenliebe überhaupt kaum noch unmittelbar gegen den Nächsten ge-
gcübt zu werden. Sie ist Sache der Gesamtheit und braucht nur uoch theoretisch
erwogen, durch Gesetze vorgeschrieben und bureaukratisch inszeniert zu werden.
Was dabei herauskommen muß, ist klar. Der Sozialdemokratie werden die
Geschäfte damit glänzend besorgt werden, und wenn dann die Flinte schießen
und der Säbel hauen muß, um die Kasten- und Klassenprärogative zu schützen,
erst recht.
Der politische Liberalismus ist am Materialismus zu Schanden geworden.
Mit ihm hat unsre Sache nichts zu thun. Aber den echten, rechten, idealen und
sozialen Liberalismus an den Universitäten und im Beamtentum, den brauchen
wir heute in Preußen dringender als jemals, und ihn zu fördern hat man die
Macht, wenn man nur will.
is das zweite Plenarkonzil der Bischöfe in den Vereinigten
Staaten von Nordamerika im Oktober 1866 in Baltimore ge¬
feiert wurde, sprachen die versammelten Väter den lebhaften
Wunsch ans, daß in diesem Lande eine Universität errichtet werde,
„an der alle Zweige der Litteratur und des Wissens, sowohl
der heiligen wie der profanen Wissenschaften, gelehrt werden sollten." Die
Zeit für eine solche Gründung war noch nicht gekommen, und erst als sich
die Väter zum dritten Plenarkonzil von Baltimore im Jahre 1884 versammelt
hatten, konnte etwas geschehn.
Hauptsächlich auf Veranlassung von Monsignore John Lancaster Spalding,
Bischof von Pevria, hatte sich Miß Mary Gwendoline Caldwell von Newport
(Rhode Island) entschlossen, der amerikanischen Hierarchie 300000 Dollar, das
sind 1200000 Mark anzubieten, „zu dem Zwecke der Gründung eines großen theo¬
logischen Seminars zur höhern Ausbildung des Klerus der Vereinigten Staaten,
in der Erwartung, daß es die Grundlage einer zukünftigen katholischen Uni¬
versität abgebe." Selbstverständlich wurde die fürstliche Schenkung angenommen,
und ein Ausschuß wurde mit der Erledigung der Borarbeiten betraut. Am
26. Januar 1885 versammelte sich dieser Ausschuß in New Ac'rk und stellte
den in der Überschrift mitgeteilten Namen der zukünftigen Anstalt fest. Als
Sitz der Hochschule wurde am 7. Mai des genannten Jahres Washington
bestimmt und die Geschäfte von einem mittlerweile gebildeten Verwaltungsaus-
schuß (boarä ok tru8tsss) übernommen. Durch den Erlaß vom 20. Oktober 1885
billigte Leo XIII. den ihm vorgctragnen Plan und bestätigte im allgemeinen
die schon getroffnen Entschließungen.
In einer mir vorliegenden, jetzt schon seltener gewordnen Schrift Oon-
sMutwinzs eiMolioÄö Huivorsitg-Ah ^.msrieao g. SMvtii Lsäo gxxrob^t^o pun
üooumkutis -uiuöxis (Komas, ox t^xo^r-ixlria xol^glotta NI)V0LI.XXXIX)
sind sieben der wichtigsten Aktenstücke, die vom 25. Oktober 1886 bis zum
23. März 1889 erlassen wurden, vereinigt, und am Schlüsse folgen die Oon-
«tiwtionös AöuöiÄlss sowie die vonstiwtionss kaoullatis iM6o1oAie,g.6. Für die
zahlreichen sonstigen Angaben dieses Aufsatzes verweise ich auf das ^öM-boo^
°k tue 0-Motiv University ok ^.msrioa 1902-1903 (Washington, 1902) und
eine Anzahl Aufsätze in Zeitungen und Zeitschriften. An passender Stelle
werde ich dann noch einige Streitschriften namhaft macheu, die, wenigstens
indirekt, mit der Universitätsfrage zusammenhängen. Die von der Universität
hernusgegebnen 0ireuw-8 ok wtorllmrion sowie ello 0g.ed.ollL Huivörsiv Lullstiu
kommen als Nebenquellen für die folgende Darstellung in Betracht.
Im Jahre 1886 bestand der Verwaltungsausschuß der zukünftigen Uni¬
versität aus dem Kardinal Gibbons von Baltimore, den Erzbischöfen von
Boston, New York und Philadelphia, drei Bischöfen, einem apostolischen Vikar
und sechs Priestern. Diese versammelten sich, zusammen mit fünf in Geschäften
anwesenden Erzbischöfen, beim Kardinal in Baltimore am 25. Oktober und
richteten eine Eingabe an Papst Leo XIII. und einen Brief an den General-
präfekten der Propaganda, Kardinal Simeoni. Nach Aufzählung der bisher
unternommenen Schritte und der gefaßten Beschlüsse wird der Vorschlag ge¬
wacht, den Bischof von Richmond, Monsignore John Joseph Kcaue, zum
Rektor der Universität zu wählen und ihn zu bevollmächtigen, daß er Pro¬
fessoren für die zunächst in Aussicht genommene theologische Fakultät aus¬
wähle.
Mit ewigem Rechte hatte der oben genannte Bischof von Peoria, Mon¬
signore Spalding, darauf gerechnet, daß der Verwaltnngsausschuß ihn zum
Rektor vorschlage, da seinem Einwirken die Schenkung zu verdanken war. In
der Qualifikation' bestand zwischen Keauc und Spalding keinerlei Unterschied,
da beide gute Redner und häufig gelesene Schriftsteller sind, wenngleich keiner
von beiden auf dem Gebiete der eigentlichen wissenschaftlichen Theologie
w nennenswerter Weise hervorgetreten war. Da jedoch die einflußreichsten
Mitglieder des Ausschusses, der Kardinal Gibbons nud der Bischof (heute
Grzbischof) von Se. Paul, Monsignore Ireland, eine größere Förderung ihrer
Pläne von Kcaue erwartete», so'setzten sie, zum großen Ärger Spaldings, die
Wust dieses Prälaten durch.
Am 27. Oktober reiste Monsignore Keane mit den notwendigen Akten
und Dokumenten nach Rom, begleitet — merkwürdigerweise — von Mon¬
signore Ireland von Se. Paul, und dort eröffneten die beiden Prälaten schon
am 6. Dezember 1886 einen geharnischten Feldzug gegen die Deutschen in den
Vereinigten Staaten, anstatt die Geschäfte der Universität zu regeln. Hier¬
über mag man sich ans der höchst interessanten Schrift unterrichten, die den
Titel führt: lislatio as ciug.68tiontZ ^ermÄllie» in flatibus tÄöätMtis Ä liöV.
?. N. ^.bbelvn, ssosräote Nilvauodiensi oonsorixt» » Kino se Illino N. Lsiss,
arodiexisooxo Nilvauodiertsi axxrodata et sgoi'im vollArvZÄtlooi ac xroxa-
gÄlläg. lids NisvM ^ovvmkri 1886 8uvwi88g,; 8<ZMUntrir objöotlonW pluri-
nrorum lievmoruin vrg.63u1um. <zia«zrn L. OoiiArL^iltioni propv8ita>z. Man kann
von diesem Büchlein sagen, daß in os.u6g, vsvönllin sitzt, indem die öl^öotionss
von solcher Abneigung und solcher Blindheit gegen das wackre deutsche Ele¬
ment unter den Katholiken Nordamerikas zeugen, wie sie kaum noch überboten
werden können. Als Anmerkung mag hier noch auf die gehässige „Denkschrift
über die deutsche Frage in der Kirche Amerikas" (Nsraormle 8uIIg. questions
asi 1«zal<Z8olu nsIlÄ col<i!8Ä all ^mgriea) verwiese» werden, mit der die Bischöfe
von Cleveland und Se. Augustiue schon am 2. Oktober 1885 die Propaganda-
kongrcgation belästigt hatten. Wenn die beiden Verschwornen, Keane und
Jrclciud, mit ihrem rücksichtslosen und objektiv sehr angreifbaren Vorgehn
beabsichtigt hatten, die künftige katholische Universität bei den deutschen Katho¬
liken in den Staaten in Mißkredit zu bringen, so hatten sie damit den aller¬
besten Anfang gemacht. Es wird sich noch Gelegenheit geben, diesen Punkt
des nähern auszuführen.
Unter dem 10. April 1887 erließ Leo XIII. das Breve (Zuocl in no-
vi83imo, worin er in allgemeiner Weise die bisherigen Maßnahmen lobt und
anerkennt, jedoch den Beschluß vom 7. Mai 1885 nochmals an die gesamte
Hierarchie Nordamerikas zurückwies; man solle die Bischöfe einzeln befragen,
in welcher Stadt die Universität errichtet werden solle. Während drüben unter
dem 21. April die Hochschule gesetzlich inkorporiert wurde, am 7. September
die Abstimmung der Bischöfe für Washington als Sitz endgiltig entschieden
hatte, und am 4. Mai 1888 die feierliche Grundsteinlegung vorgenommen
wurde, gingen die Verhandlungen in Rom langsam weiter.
Man hatte ein sehr großes und schön liegendes Grundstück in Washington
am Treffpunkte der Michigan Avenue und Fourth Street Northeast erworben
und begann alsbald mit der Errichtung der Caldwell Hall, die auch heute
noch das Hauptgebäude der Universität ist. Obschon es vor den Thoren der
Stadt liegt, kann man den Zugang sowohl durch die elektrische Straßenbahn
wie durch die Vvrortseisenbahnzüge leicht erreichen, da beide Linien eine eigne
Haltestelle für die Universität errichtet haben. Das äußere Ansehen der Hoch¬
schule, soweit die Gebäude und der zugehörige Park in Frage kommen, ist
unzweifelhaft durchaus entsprechend.
Mittlerweile hatte man die Konstitutionen der Universität entworfen, und der
Verwaltungsausschuß unterbreitete sie durch Eingabe vom 13. November 1883
dem Papste zur Prüfung und Genehmigung. Zugleich wurde der Genercil-
prüfekt der Propaganda durch ein Schreiben hiervon verständigt. Hierauf er¬
folgte am 7. März 1889 das Breve Nagni modi8 g'-nulii als Antwort, worin
die kanonische Errichtung der Universität ausgesprochen wird mit den Wörtern
Urne eorum 8ville!ntÜ8 ^08 6ö1M8, I>so8 po8tnIiMc>nivri8 V68tri,8 lidöntöZ
gnnnvnt.68 8t>Aend.g, 1vM8 UniverÄtg-Ah vWtrao xor K3.8 1nom8 Anetorilci-es
Rostra xrobsmus, siäövaquö xroxris, iustav av Isgitiinas Unlversitatis «tu-
clwrum wi-g, tridnimus. Ferner wird jedesmal der Erzbischof von Balti¬
more, als das ssanpt der katholischen Kirche in den Staaten, zum Kanzler der
Hochschule ernannt, der unter Oberaufsicht des apostolischen Stuhls die Ge¬
schäfte leiten soll. Endlich darf leine weitere Universität von den Katholiken
Nordamerikas gegründet werden, ohne vorherige Beratung mit der .Kurie,
damit die Universität von Washington nicht durch vorzeitige Konkurrenz in
ihrer Entwicklung gehemmt werde (vergl. das Reskript der Propaganda an den
Rektor vom 23. März 1889).
Kraft dieses Breves wurde dann die Universität am 13. November 1889
feierlich eröffnet, und die theologische Fakultät trat sofort in Thätigkeit. Als
der Verwaltuugsrat im April 1891 zu seiner regelmäßigen Sitzung zusammen¬
trat, lag ein Anerbieten des Priesters James Mac Mahon ans New Uork vor,
wonach'dieser sein Vermögen, das hauptsächlich aus Grundstücken bestand, im
Werte von 400000 Dollars (1600000 Mary der Universität anbot. Am
L- April wurde die Schenkung mit herzlichem Dank angenommen, die Objekte
wurden veräußert und mit dem Erlöse die Erbauung einer Mac Mahon Hall
für die philosophische und staatswissenschaftliche Fakultät beschlossen. Nachdem
"in 27. April 1892 der Grundstein gelegt worden war, konnte am 1. Oktober 1895
die Einweihung des Hauses und die Eröffnung der Lehrthätigkeit vorgenommen
werden. In, Sommcrsemester 1896 (24. März) erfolgte die Errichtung des
Kurses für technische Wissenschaften, und sechs Monate später wurde der seit¬
herige Rektor Keauc vom Papste gezwungen, sein Rektorat niederzulegen. Am
22. November 1896 wurde Dr. I. Conaty zum zweiten Rektor der Universität
ernannt und am 19. Januar 1897 feierlich in sein Amt eingeführt. Nachdem
er dann am 2. Juni zum Hausprälaten erhoben worden war, erfolgte seine
Konsekration zum Titularbischos von Samos am 24. November 1901.
Für die Professoren nud die Studenten ans dem Laienstande hatte man
ein eignes Haus errichtet, dem man bei der Eröffnung am 30. Januar 1897
deu Namei/Keane Hall gab. Die Trennung der juristischen Vorlesungen von
denen sozialer und volkswirtschaftlicher Art, sowie die Vereinigung der Lektoren
""t der philosophischen Fakultät erfolgte am 8. Februar 1898. sodaß jetzt
die Universität besteht: 1. ans der theologischen Fakultät mit den vier Haupt¬
abteilungen für biblische, dogmatische, moraltheologische und geschichtliche Wissen¬
schaften- 2. aus der philosophischen Fakultät mit den fünf Hauptabteilungen
s'-r Philosophie im engern Sinne. Philologie, physikalische, biologische und
soziale Wissenschaften; 3. aus der juristischen Fakultät mit den drei Haupt¬
abteilungen der allgemeinen Kurse, der Gesetzeskunde und der Jurisprudenz in
philosophischer, historischer und vergleichender Beziehung; 4. aus den techno¬
logischen Kursen.
Die Universität ist ausgestattet: 1. mit einer Kapelle, in der alle religiösen
Funktionen, die mit dem akademischen Leben zusammenhängen (Eröffnung.
Schluß des akademischen Jahres. Patronatstage usw.). feierlich begangen werden.
Die von der Baronin von Zeotwitz gebornen Caldwell mit einem Aufwand von
50000 Dollars errichtete Kapelle ist für die heutigen Verhältnisse zu klein ge¬
worden, sodaß man bald mit dem Bau einer neuen beginnen muß; 2. mit einer
in drei Teile zersplitterten Bibliothek, die im ganzen ungefähr 45000 Bände
umfaßt; 3. mit einem leidlich besorgten Zeitschriftenlcsczimmer, wo mich eine
Anzahl Zeitungen aufliegt; 4, mit einem kleinen ethnologischen Museum, das
hauptsächlich Americana enthält; 5. mit einem psychologischen, 6. chemischen,
7, physikalischen Laboratorium; 8, mit einem chemischen Museum; 9. mit
einem kleinen astronomischen Observatorium und 10. mit einem in den ganzen
Bereinigten Staaten hochberühmten Herbarium, worin die Begetation von Kali¬
fornien, den Rocky Mountains-Staaten und -Territorien in fast abschließender
Vollständigkeit vertreten ist.
Der Universität sind eine Anzahl andrer theologischer Lehranstalten der
Staaten affiliiert, d. h. unter voller Wahrung ihrer eignen Autonomie haben
sie sich mit Erlaubnis des Verwältnngsrcites der Universität dieser angeschlossen,
und sie genießen dafür die Vorzüge, daß die an diesen Anstalten dnrch eine
günstige Schlußprüfung erlangte Vorbildung ohne weitere Nachprüfung von
der Universität als genügend für die Jnmmtriknlation angesehen wird. Unter
diese Anstalten gehören: 1. das Erzdiözesansemiuar von Se. Paul, Minne¬
sota; 2. das Se. Thomas College, d. h. das Noviziat und Scholastikat der
Kongregation von Se. Paul (Paulistenväter); 3. das Mnrist College, d. h. die
theologische Lehranstalt der Gesellschaft Maria; 4. das Holy Croß College,
d. h. das Studienhaus der Kongregation vom Heiligen Kreuz; 5. das OoIIsgs
ok tus Holzs IliZ,na, d. h. das Noviziat der Franziskaner, in dem Missionare
für das Heilige Land ausgebildet werden, und 6. das Se. Austins College,
d. h. das amerikanische Scholastikat der Snlpizianer.
Mit Ausnahme des Seminars von Se. Paul liegen alle diese Anstalten
in der Nähe der Universität, sodaß deren Insassen, wenn sie den gewöhnlichen
Seminarkurs in Philosophie und Theologie beendet haben, die Vorlesungen
der Universität zur höhern Ausbildung und Erlangung akademischer Grade
besuchen können. Meistens werden diese Universitätsftudeuten nach Beendi¬
gung ihrer akademischen Laufbahn als Professoren in andern Anstalten ihres
Ordens oder ihrer Kongregation verwandt.
Die Konstitutionen der Universität handeln in zwölf Kapiteln 1. Vom
allgemeinen Zwecke der Hochschule. 2. Vom Verwaltungsrat. 3. Vom Kanzler-
4. Vom Rektor, der Priester und Doktor der Theologie sein muß, vom Ver¬
waltungsrate gewählt und vom heiligen Stuhle bestätigt wird; er hat Sitz
und Stimme im Verwciltnugsrate, dessen Beschlüsse er auszuführen hat. 5. Vom
Vizerektor und Generalsekretär; der erste wird vom Rektor und vom Senat
gewählt und vom Verwaltungsrate bestätigt, er hat die verantwortliche Ver¬
waltung der Hochschule unter sich, soweit deren materielle Interessen in Frage
kommen. Der Generalsekretär führt die Register und Matrikeln, die Prüfungs¬
rollen und das Tagebuch der Universität. 6. Vom akademischen Senate; dieser
besteht ans dem Rektor als Vorsitzenden!, dein Vizcrektor, dem Generalsekretär,
den Vorstehern der affiliierten Anstalten, den Fakultätsdekanen, die aller zwei
Jahre von den ordentlichen Mitgliedern der Fakultät gewählt werden, und
einigen andern Professoren; einmal im Monat ist Sitzung, und zwar immer
nach den Fakultätssitzungen. 7. Von den Dekanen, Vizedekanen und Pro-
fessoren; diese scheiden sich in ordentliche (Dootorös) und außerordentliche
Professoren (vootorss Looiati) und Privatdozenten (^oaägmioi), wobei zu be¬
merken ist, daß sich die deutschen Begriffe nicht ganz mit dem Inhalte der
lateinische» Ausdrücke decken; thatsächlich werden unterschieden xrotsssors,
a88ooig,t«z xrotssMrs, ^siswnt xrotsssors, Isowrsrs und es11c>v8. 8. Von
den Lehraufträgen und den Studierenden; die Studenten sollen, von Aus¬
nahmen abgesehen, alle in den verschiednen Gebäuden der Universität wohnen,
und wenn sie gegen die Disziplin verstoßen, werden sie entweder verwarnt
oder entlassen oder davongejagt, je nach der Schwere des Falles. 9. Von
den akademischen Graden, über die ich weiter unten sprechen werde. 10. Von
den Studieukosten- 11- Von den himmlischen Patronen der Universität, d. h.
der Bestimmung, daß die ganze Universität unter deu Schutz der Gottesmutter
gestellt ist, und die Fakultäten ihre gesonderten Patrone verehren, wie das im
ganzen Mittelalter geschah und teilweise noch heute üblich ist. 12. Von der
Beobachtung der Statuten, die ohne Genehmigung des apostolischen Stuhles
nicht geändert werden können.
Das Studienjahr ist uach englischer Sitte in drei Teras eingeteilt:
Fall Term, Winter Term und Spring Term. Das akademische Jahr beginnt
am ersten Dienstag des Oktobers und endigt am Donnerstag, der am nächsten
beim 7. Juni liegt. Im laufenden Studienjahr regeln sich die Teras folgender¬
maßen: 1. Vom 7. Oktober bis zum 23. Dezember 1902. 2. Vom 5. Januar
bis zum 8. April 1903. 3. Vom 14- April bis zum 10. Juni 1903. Der
Bestand an Professoren im Studienjahr 1901/02 ist aus folgender Zusammen¬
stellung ersichtlich:
Hierzu muß man bemerken, daß der emeritierte Professor der Kirchen¬
geschichte Monsignore O'Gorman jetzt Bischof von Sioux Falls ist, also nicht
mehr liest. Es bleiben mithin nur 24 eigentliche Lehrkräfte übrig. Von diesen
sollten die beiden Ässiswnt xrotsssors vom 1. Oktober laufenden Jahres zu
2«80e,ig.es xroik88or8 befördert werden, doch scheint daraus nichts zu werden, wie
man aus folgenden Mitteilungen der amerikanischen Blätter entnehmen kann:
„Was ist denn los an der katholischen Universität in Washington? Sieben
Professoren, so lautet die Nachricht, sind gezwungen worden, zu resignieren,
und die Resignation des Rektors Monsignore Conaty wird verlangt. Geld¬
mangel soll die Entlassung jener sieben Professoren nötig gemacht haben.
Wir schenken der letzten Nachricht keinen Glauben. Was immer die Ursache
der innern Zerwürfnisse sein mag — an Geld festes nicht. Die Universität
ist irisch, so irisch, wie sie sein kann, und da denken wir immer an die Kilkenny-
katzen, die sich so lange bekämpften, bis zuletzt nur die Schwänze übrig blieben."
Die vorstehende Auslassung des Katholischen Sonntagsblattes von
Chicago (Ur. 10 vom 11. Mai 1902) irrt gewiß, wenn sie die Geldfrage aus¬
schaltet, wie man aus dem 'West-srii ^Vateninan (Ur. 26) von Se. Louis, dessen
Herausgeber ein überspannter Bewundrer des Erzbischofs Ireland von Se. Paul
ist, ersehen kann: Ins too millions in bonas eng-t drinAnZ in nos xsr
vont Iris dssn rsinvöstscl tour xsr veut. 'In^t rnsNrs g. skrinkg-^ö ok
^ 20000 in its rövsnns8. ^.s g. oonsecinenes soiue Isetnrss ng.of dssn äis-
vontinneä. Das heißt mit andern Worten: Das Vermögen der Universität
im Betrage von 8 Millionen Mark war zu 5 Prozent angelegt, gab also
einen Zinsgcnuß von 400000 Mark und mußte aus nicht bekannt gegebnen
Gründen zu 4 Prozent neu investiert werden, wodurch ein ganz bedeutender
Ausfall herbeigeführt wurde. Eine Anzahl Vorlesungen mußte also sistiert
werden, da man die Lehrkräfte fürderhin nicht mehr bezahlen konnte.
Es muß anerkannt werden, daß außer den materiellen Streitigkeiten auch
sonstige vorhanden sind, so zwar, daß in einer langen Korrespondenz des
I'rö6wÄv'8 ^current offen ausgesprochen wurde, daß es sich entscheiden müsse,
ob die katholische Universität ein Fehlschlag oder ein Erfolg zu nennen sei.
Die beiden vergangnen Jahre waren sehr schwer, und es gab Zeiten, in denen
die Gelehrten des Landes versucht waren, zu erklären, daß alles verloren sei.
Aber die Leute, die die Kämpfe kennen, die keiner jungen Einrichtung erspart
bleiben, weisen es ab, eine solche pessimistische Anffcifsnng zu hegen. Das
nächste Jahr jedoch muß eine Konzentration katholischer Gelehrsamkeit, Kraft
und Überlegung herbeiführen.
Es muß hier eiugeschciltct werden, daß sich die Universität eines sehr
starken Deutschenhasses von Anfang an befleißigt hat, daß sie sich zum Mittel¬
punkte gewisser Gedankenkomplexe gemacht hat, die später von Rom verurteilt
wurden, daß sie Wege gewandelt ist, die ihr von allen treuen Katholiken sehr
verübelt wurden. Daraus folgte, daß die Begeisterung für die Universität
in weiten Kreisen sehr müßig war, und die Beisteuern zu ihrer finanziellen
Sicherung von vielen Millionen von Katholiken Nordamerikas rundweg ver¬
weigert wurden. Als dann zwei deutsche Professoren nnter erschwerenden Um¬
ständen sozusagen hinausgetrieben wurden, weil sie sich mit gewissen liberalen
Ansichten in der Erziehungs- und Schnlfrage und mit andern Anschauungen
nicht befreunden konnten und durften, da sperrten sich sämtliche dentschen
Katholiken der Staaten gegen eine von ihnen verlangte Dotation eines Lehr-
stnhls für deutsche Litteratur, der auch heute noch nicht eingerichtet ist. Zahl¬
reiche Katholiken andrer Nationalitäten hegten dieselben Anschauungen wie die
deutschen Katholiken, sodaß sich nur die in der Mehrzahl beteiligten Iren der
Universität annahmen.
seinerzeit glaubten die Macher, Ireland und Keanc, auch ohne die
„Reaktionäre" fertig werden zu können, da im Anfange große Summen ge¬
geben wurden; heute sehen auch sie ein, daß die Universität so gestaltet werden
muß, daß sie die Sympathien aller Katholiken in den Staaten notwendig hat,
wenn sie nicht zusammenbrechen soll. Es wäre das deswegen zu bedauern,
weil Leo XIII. dieser Gründung immer sein liebevollstes Interesse entgegen-
gebracht hat, weil er alles gethan hat, ihr die Wege zu ebnen, weil er mit
ängstlicher Sorge die Entwicklung der schwierigen Verhältnisse verfolgt.
Es war in den Blättern gemeldet worden, daß Monsignore Conaty, der
Rektor der Universität, wegen der entstandnen Ausfälle in den Einnahmen
aus dem Amte scheiden wolle. Er hat dieser Nachricht sofort widersprochen,
wie ich der ausgezeichneten Zeitschrift ki-soie-M von Se. Louis (Ur. 18
vom 8. Mai) entnehme. Es wird dort weiter gemeldet, daß es ein offnes
Geheimnis ist, daß die Universität seit einiger Zeit und jetzt noch in einer
Übeln Lage ist. Sie hat nicht die Unterstützung gefunden, ans die sie als eine
zeitgemäße und würdige päpstliche Gründung rechnen zu können glaubte. Noch
jüngst mußte sie einen außerordentlichen Fiskalprokurator zur Sammlung von
Beiträgen ernennen und eine Anzahl außerordentlicher Professoren und Lek¬
toren entlassen, weil sie keine Mittel mehr hatte, sie für ihre Dienste zu ent¬
schädigen. In einer an die Tagespresse gelangten Mitteilung, die augenscheinlich
auf den Rektor oder seine nächste Umgebung zurückgeht, werdeu die Hierarchie
und der Klerus wegen ihres Mangels an Interesse für die Universität getadelt.
Daß ein solcher Mangel an Interesse fühlbar geworden ist, kann niemand
leugnen. Und wir verletzen niemandes Vertrauen, wenn wir sagen, daß es
nicht so sehr auf einen Mangel an Anerkennung des Ideals des Heiligen
Vaters bei der Errichtung der Universität oder der Notwendigkeit einer solchen
Einrichtung im Amerika des zwanzigsten Jahrhunderts zurückgeführt werden
wußte und muß, wie auf die Fehler und Mißgriffe bei der Verwaltung, wie
sie sich namentlich unter dem frühern Rektor zeigten. Nachdem man die Pro¬
fessoren Pohle und Schröder so ungerecht behandelt, nachdem man Dr. Perles
so ohne alle Komplimente hinausgedrängt und deren Stellen mit wissen¬
schaftlichen Nullen ausgefüllt hatte, konnten die Universitätsbehörden nicht
erwarten, daß die deutschen und die französischen Katholiken, die auf diese
tüchtige» Männer als ihre besondern Vertreter in der Fakultät hinschauten,
ein größeres Interesse an einer Einrichtung zeigten, die sie von Anfang an
wie einem gewissen Mißtrauen wegen der liberalisiereuden Ansichten einiger
ihrer Hauptgrüuder betrachtet hatten. Auch konnten sie nicht hoffen, auf das
große katholische Publikum mit ihrem Wunsche und ihrer Fähigkeit, die Fakultät
Z-u einem Stern erster Größe zu machen, erfolgreich einzuwirken. Ohne von
Professor Bouquillon zu sprechen, der seinen früher ausgezeichneten Ruf durch
seine öffentliche und unerbetene Befürwortung falscher und gefährlicher Er-
zuchungsgruudsätze im berühmten Schulstreit untergraben hat, hat die Uni¬
versität heute in ihrem ordentlichen Lehrkörper nur einen Gelehrten, dessen
Name allgemeine Hochachtung einflößt.
Mau muß anerkennen, daß diese Skizze der ReView leider durchaus den
thatsächlichen Verhältnissen entspricht. Aus der stellenweise etwas gereizten
Sprache der katholischen deutschen Zeitungen Nordamerikas kann man ent¬
nehmen, daß das Schuldkonto der Universität nicht so ganz belanglos sein
dürfte. Jules Tardivel, der geistvolle journalistische Führer der katholischen
Kanadier, hat in einer Polemik gegen den ^un an LIsiA«? von Langres in
Frankreich (vom 14. November) die hart angegriffnen katholischen Deutschen
der Vereinigten Staaten warm in Schutz genommen. Ans seinem langen
Aufsätze in der Vorits (Quebec) Ur. 21 Seite 2 und 3 hebe ich die folgende
Stelle heraus:
„Mehr noch. Sieht man nicht zwischen diesen Zeilen etwas von dem
nationalen Vorurteil hervorschimmern, das man sogar bei den besten französischen
Schriftstellern zu finden gewohnt ist? Ein Franzose vermag — besonders
seit 1870 — sehr schwer Deutschland und die Deutschen gerecht zu beurteilen.
Auf alle Fälle finden wir, die wir über diesem Standpunkte stehn, dieses Ur¬
teil, das von dem ^.mi an «üler^o über die katholischen Deutschen der Ver¬
einigten Staaten gefällt wurde, sehr ungerecht. Vielleicht sind diese guten
Deutschen nicht immer sehr umgänglich (<Z0in,inoä«Z8): sie haben ihre Fehler
wie andre Leute auch. Aber im allgemeinen glauben wir mit Bestimmtheit,
daß ohne die Anwesenheit der deutschen Katholiken in den Vereinigten Staaten
die katholische Kirche der Union in einem unendlich traurigern Zustande sein
würde als jetzt.
„Es ist eine bekannte Thatsache, daß die deutschen Katholiken der Ver¬
einigten Staaten treue Anhänger der »römischen« Ideen sind. Bei ihnen
findet man nicht die Merkmale des »Amerikanismus«, den Leo XIII. in seinem
berühmten Schreiben zu verdammen für notwendig fand. Sie erkennen auch
besser als viele der andern die absolute Notwendigkeit der Pfarrschulen und
die ernsten Gefahren der staatlichen Erziehungsanstalten. Mit einem Wort:
die deutschen Katholiken der Vereinigten Staaten sind die Hauptwiderstands¬
kraft gegen das Eindringen der Irrtümer des Modernismus in die Kirche der
amerikanischen Union. Und wenn es vor einigen Jahren in der katholischen
Universität zu Washington zu einer Zänkerei kam, so geschah das gerade wegen
dieser Anhänglichkeit der Deutschen an die wahrhaft katholischen Ideen in
Sachen des Unterrichts."
Diese völlig zutreffende Charakteristik des französischen Kanadiers bietet die
beste Erklärung für die bisher ablehnende Haltung der katholischen Deutschen
gegenüber der Universität. Wie dem nnn auch in der Vergangenheit gewesen
sein mag, das eine steht fest, daß die Hochschule in Washington in demselben
Augenblicke die lebhafte Unterstützung sämtlicher Katholiken der Vereinigten
Staaten erhalten wird, da sie aufhören wird, Sonderinteressen zu pflegen, die
Anstalt einer Partei, die Pflanzschule der Ideen des verurteilten Amerikanismus
zu sein, und wo sie sich rückhaltlos auf den ganz katholischen Boden stellen
wird. Man darf hoffen, daß die gegenwärtige schwere Krisis die maßgebenden
Persönlichkeiten zum Einlenken bewegen wird, damit des Papstes Gründung
nicht an innerer Haltlosigkeit und üußerm Brotmangel zu Grunde gehe."')
^) Vergl. 0not^ir, L.., I-u. ^usstion spots-irs MX Mg,es-IIMs. t^ronodls, Lmstior
«t I)in'6viol, 1892. (Nxtr-ut us I-i, Ksvus osMoli^no Aos Instiwtioris se an Oron.) Der ge¬
wandte Verfasser wendet sich darin in aller Schärfe gegen Professor Bouquillon von Washington
und Erzbischof Ireland von Se. Paul im berühmten Faribault-Falle.
Des weitern vergleiche Tacitus und Germanicus, ^uÄi^tur et -ilters, zM«, Ant¬
wort auf die bekannte Denkschrift über die deutsche Frage in der Kirche Amerikas. Chicago,
Mühlbauer und Behrls, 1890. Mit erdrückenden Beweismaterial werden die oben erwähnten
Wie man in Rom über die Universität denkt, kann man aus dem Schweigen
des Papstes über die Hochschule in seinem Breve vom 15. April 1902 ent¬
nehmen. Leo XIII. dankt der nordamerikanischen Hierarchie für ihre Glück¬
wünsche zu seinem Jubiläum, und er berührt im Breve alle Punkte, über die
er irgend etwas Lobenswertes sagen kaun. Über Erziehung und Unterricht
bemerkt der Papst das Folgende:
„Es ist Uns nicht unbekannt, ehrwürdige Brüder, wie jeder von euch
eifrig die Gründung und den Ausbau von Schulen und höhern Lehranstalten
zur rechten Erziehung der Jugend betreibt. Diese Aufgabe entspricht durchaus
den Ermahnungen des Heiligen Stuhls und deu Dekreten des Konzils von
Baltimore. Die aufopfernde Fürsorge, die ihr den Priesterseminarien ge¬
widmet habt, giebt zudem gegründete Hoffnung, daß sich die Zahl der Geist¬
lichen zugleich mit ihrer Tüchtigkeit vermehren möge."
In diesem Zusammenhange erwartet man notwendig ein Wort über die
höchste katholische Lehranstalt der Staaten. Der Papst jedoch übergeht die
Universität mit eisigem Schweigen, ein deutliches Zeichen für den Kenner der
Verhältnisse, daß Leo nichts zu ihrem Lobe sagen konnte und wollte.
Nach dieser kleinen Abschweifung will ich die Schilderung der Organi¬
sation der Universität fortsetzen.
Die Studenten werden eingeteilt in immatrikulierte und hörende. Die
Matrikel erhält, wer die von den Statuten geforderte Vorbildung durch an¬
erkannte Zeugnisse oder ein Examen nachweist. Macht er diese Prüfung an
der Universität, so ist er bis zur Ablegung „Kandidat für die Matrikel." Nur
die Immatrikulierten können akademische Grade erlangen. Wer nur bestimmte
Fächer belegen will, ohne zu promovieren, gehört zur Klasse der spsoi-it
«wäeuts, und die übrigen werden schlechtweg Hörer genannt. Diese Hörer
müssen für jede Vorlesung, die sie belegen wollen, die ausdrückliche Erlaubnis
des betreffenden Dozenten nachweisen.
In der theologischen Fakultät gilt das Aufnahmeexamen. an dem sich
nur solche Studenten beteiligen können, die den ganzen philosophisch-theolo¬
gischen Kurs eines Seminars mit Erfolg absolviert haben, als Baccalaureat
der Theologie. Die Klausurarbeit hierfür muß in vier Stunden angefertigt
werden, während die mündliche Prüfung eine Stunde dauert. Nach zwei¬
jährigem Besuche der Universität kann dnrch eine von der Fakultät genehmigte
Dissertation und durch die öffentliche Verteidigung von fünfzig Thesen aus
dem Lehrstoffe der beiden Jahre der Grad eines Lizentiaten erworben werden.
Nach weitern zwei Jahren wird auf Grund einer zu druckenden, selbständigen
wissenschaftlichen Arbeit und einer öffentlichen Verteidigung von 75 Thesen
Angriffe der Prälaten Ireland und Kenne zurückgewiesen, und für die deutschen Katholiken wird
»ut Recht in Anspruch genommen, daß sie weitaus das gesetz- und ordnungsliebendste Element
unter den nordamerikanischen Katholiken seien.
Endlich verweise ich noch auf die Schrift Xuo^notliinAiswo olörical on isslior-»in:s
«löriWls in»tiörö roliMvuso ä»us 1'IZgIiso LatKoliciug clos llwts-IInis. Diese aus dem
Deutschen übersetzten Aufsätze des Pastoralblattcs von Se. Louis sind eine glänzende Apologie
«er deutschen Katholiken gegenüber den irischen Hetzern aller Grade.
(an zwei aufeinander folgenden Tagen je drei Stunden lang) der Doktorhut
erteilt. Die Theologen zahlen jährlich tausend Mark für Wohnung, Ver¬
pflegung und Unterricht. Die Promotionsgebühren betragen vierzig Mark für
den Baccalaureus, vierzig Mark für deu Lizeutiaten und hundert Mark für
den Doktor. Die Gesamtzahl der Studenten der Theologie im abgelaufnen
akademischen Jahre betrug 44.
In der philosophischen Fakultät wird nur immatrikuliert, wer den
Grad eines Baccalaureus einer andern Anstalt von Ruf erhalten hat oder
ein entsprechendes Examen ablegt. Nassistsr MlvMpbüiö kann ein Student
uach zwei Jahren auf Grund einer mündlichen Prüfung und einer selbstän¬
digen wissenschaftlichen Arbeit — die Fakultät bestimmt von Fall zu Fall, ob
die Arbeit gedruckt werden soll — werden. Nach dem dritten Studienjahre
findet die Doktorpromotion statt, wenn die üblichen Bedingungen (Examen
und Dissertation) erfüllt worden sind. Die Kollegiengelder dieser Fakultät
betragen 300 Mark im Jahre; die Gebühren für die beiden ersten Grade sind
zwanzig, für das Doktorat hundert Mark. Im Jahre 1901/2 waren 35 Stu¬
denten immatrikuliert und 29 als spsoig-l stuäöiits eingeschrieben worden, zu¬
sammen also 64.
Wegen der Eigentümlichkeiten der amerikanischen Gesetzgebung und der
Praxis der Juristen, die ganz ans englischem Vorbilde beruhn, ist die Promo¬
tionsordnung für die Juristen recht kompliziert, die uns hier in den Einzel¬
heiten nicht interessieren kann. Es genüge zu sagen, daß man vootor ovum,um8
^uris und 1)voor vivilis ^uris werden kann. Wer in beiden Abteilungen pro¬
moviert, heißt vootor utrwseius Mris. Wer diesen Titel erworben hat und
noch zwei Jahre vergleichende Rechtswissenschaft studiert, kann vootor logar
(äoetor ok 1g.Ms) werden. Außerdem kann man noch vootor Mris und vootor
leM vivills werden. Diese beiden letzten Titel werden von der Fodool ok l^v,
die andern von der LeKool ok ^urisxruäönvö erteilt. Die Kollegiengelder in
beiden Schulen betragen jährlich 300 Mark und die Promotionskosten jedes¬
mal hundert Mark. Wohnung und Verpflegung kann für zwanzig Mark die
Woche geboten werden. Die Zahl der immatrikulierten Studenten betrug im
abgelaufnen Jahre 38.
Für die technologische Abteilung waren immatrikuliert sechs Studenten;
zwei andre hatten sich als speciig-l swäsnw eingeschrieben, sodaß nur acht
Studenten überhaupt im abgelaufnen Jahre gezählt wurden.
Bei einem aktiven Lehrkörper von 24 Dozenten gab es demnach im aka¬
demischen Jahre 1901/2 154 Studenten, von denen 44 Theologen, 64 Philo¬
sophen, 38 Juristen und 8 Techniker waren. Am 5. Juni 1901 — für 1902
liegt mir das Ergebnis noch nicht vor — wurden folgende Grade erteilt:
Baccalaureat in der Theologie siebzehn mal, Lizentiat in der Theologie acht mal;
Baccalaureat in der Philosophie einmal, rrmZistsriniri, einmal, Doktorat einmal;
LittZLslÄuröÄtus te-Zum achtmal, MÄMtsriuin einmal, Mris äoetoratnL dreimal
(unter den Kandidaten hierfür waren zwei Japaner); das Diplom eines Zivil¬
ingenieurs wurde einmal vergeben. Im ganzen erfolgten also für alle ver¬
schieden Grade 41 Promotionen, von denen vier für das Doktorat waren.
Neben den obengenannten 750 000 Dollars (300000 Caldwell, 400 000
Mac Mahon. 50000 für die Kapelle) oder 3 Millionen Mark erhielt die
Universität folgende Stiftungen von einzelnen Persönlichkeiten oder Korpo¬
rationen: 1, Die Dotation von elf Lehrstühlen im Betrage von je 50000 Dol¬
lars gleich 200000 Mark, also zusammen 2200000 Mark. 2. Die Dotation
von zwei Fellowships im Gesamtbeträge von 80000 Mark. 3. Die Dotation
von achtzehn Stipendien oder Bursen im Gesamtbetrag von 360000 Mark.
Diese mir einzeln bekannt gewordnen Summen im ganzen von 5640000
Mark stellen nun nur den Teil der Zuwendungen dar, die in ganz großen
Summen zur freien Verwendung oder für bestimmt umschriebne Zwecke ge¬
geben wurden. Annähernd sechs Millionen Mark ergaben die allgemeinen
Sammlungen in den Vereinigten Staaten, sodaß ein verzinslich angelegtes
Kapital vou acht Millionen Mark übrig blieb, als man die sämtlichen Bau-
und Einrichtungskosten bestritten hatte.
Überschaut man die Gesamtleistungen der katholischen Universität von
Amerika seit der Eröffnung am 13. November 1889. so lautet das Urteil
nicht ganz so günstig, wie man nach Maßgabe der reichen Mittel hätte er¬
warten dürfen. Die Auswahl der Lehrkräfte kann man nur in seltenen Fällen
eine vorzügliche nennen, und dann handelt es sich immer um europäische
Gelehrte. Uuter den Amerikanern hat Professor Shahan eine solide Bildung
erworben, doch hat er uoch keine in weitern Kreisen bekannt gewordnen
größern Arbeiten herausgegeben. Der heutige Bestand an Lehrkräften ent¬
spricht im allgemeinen nicht den hohen Zielen, die sich die Universität ge¬
setzt hat.
Sieht man ans die Zahl und die Qualität der Studenten, so ist auch
dort kein wirklich bedeutsames Resultat gezeitigt worden. Der Besuch war
immer schwach und ist heute noch durchaus unbefriedigend. Die auf dem Papiere
stehenden Anforderungen, die man bei der Immatrikulation stellen soll, werden
dahin ausgelegt, daß man z. V. den Primaner eines deutschen Realgymnasiums
anstandslos immatrikulierte. Das steht in schneidendem Gegensatze zu den Para¬
graphen. Als mildernder Umstand hierfür muß allerdings angeführt werden,
daß die Universitäten Nordamerikas fast ausnahmlos in ähnlicher Weise bei
ihren Jmmatrikulatiouen vorgehn. sodaß man es drüben kaum anders kennt.
Es soll nun keineswegs geleugnet werden, daß die Universität eine ganze Zahl
tüchtiger, für die Wissenschaft begeisterter Männer herangebildet hat; jedoch
steht ihre Zahl in keinem Verhältnis zur Katholikenzahl der Staaten. Diese
privilegierte Hochschule sollte viele Hunderte von Studierenden zählen, nnter
denen das Laienelement sehr stark vertreten sein müßte. Statt dessen muß man
leider feststellen, daß eigentlich nur ausnahmsweise Laien nach Washington gehn,
wie denn auch nur fünfzehn Laien unter sämtlichen 41 Graduierten des Jahres
1901 waren.
Ich drücke den Wunsch ans, daß die junge Hochschule am Scheide¬
wege den richtigen Pfad in Zukunft verfolgen möge, damit die Ziele ver-
wirkliche werden können, die für die Gründung maßgebend, jedoch durch dok-
trinelle und kircheupolitischc Streitigkeiten stark hintangesetzt worden waren.
Denn hat sich eine Universität auf ausschließlich katholischen Boden gestellt,
so steht und füllt sie mit der vollen Anerkennung des gesamten katholischen
Glaubens- lind Übcrlieferungsinhalts. Die Wahrheit dieses Satzes hat die kurze
Geschichte der katholische» Universität von Amerika schon so weit illustriert,
daß es nicht geraten erscheint, den Beweis für die Richtigkeit des Gegenteils
weiter fortzuführen, wie es bisher geschehn ist. Da man nicht annehme»
kann, daß die Prälaten von Se. Paul und Dnbuque, die bisher die Richtung
wesentlich unbestimmten, ihre Anschauungen ändern werden, so dürfte der erste
Schritt zur Sanierung der Verhältnisse in der Ausschaltung ihres Einflusses
liegen. Wenn dann weiterhin der jetzige Rektor etwas vorsichtiger im Ge¬
brauche der lateinischen Sprache werden würde, die gänzlich unbedeutenden Pro¬
fessoren durch bessere wissenschaftliche Kräfte ersetzt werden und der gesamte Lehr¬
körper — Hyvernat und Bouquillon ausgenommen — mehr wissenschaftliche
Leistungen von anerkannten objektivem Werte produzieren würde, so wäre das
als ein bedeutender Fortschritt mit Freude zu begrüßen. Der ziemlich gro߬
sprecherische Text des?sg.r-LooK müßte auch etwas umgestaltet werden, daß er
mehr den thatsächlichen, wesentlich bescheidnern wirklichen Verhältnissen ent¬
spreche, weil man bisher leider hat feststellen müssen, daß Wort und That
nicht immer zusammengehn. Bei der persönlichen Kenntnis, die ich von der
Universität und vielen ihrer Mitglieder habe, glaubte ich die vorstehenden Be-
merkungen als Zeichen meines aufrichtigen Interesses aussprechen zu sollen,
um mein Scherflein zur Besserung der Dinge beizutragen.
er Leser braucht vor dem Gange, zu dem ich ihn heute einlade,
kein Grauen zu empfinden. Was an dem Hause, in das ich
ihn führe, grauenhaft ist, verbirgt sich dem Blick des Unein¬
geweihten so vollständig, daß man flüchtige Besucher oft fast er¬
schrocken sagen hört: Aber nach allem, was ich hier gesehen
habe, sind diese Leute ja viel glücklicher darau, haben es viel besser, als so
mancher brave ehrliche Mann da draußen, der trotz des heißesten Ringens
mit dem Dasein nicht aus den Sorgen um die notwendigsten Bedürfnisse des
täglichen Lebens, um ein schützendes Obdach für seine Familie, um das täg¬
liche Brot für seiue Kinder herauskommt! — Gewiß, o gewiß! für die Jnsasse»
dieses Hauses ist täglich der Tisch — „gedeckt" kann man allerdings nicht
sagen, aber — bereitet. Auf die Sekunde pünktlich wird ihnen dreimal täg¬
lich das Essen gebracht; auf die Sekunde pünktlich dürfen, nein — müssen sie
ihre Lagerstatt, die gut und reinlich ist, aufsuchen; kein vergeblich Urbild
suchender ist unter den sechs bis acht Hunderten. Sogar für den täglichen
Spaziergang, für gute Bücher, für Hilfe in manchen Krankheitsfällen, ja mich
für Unterricht ist vom Staate gesorgt. „Eigentlich fehlt dir doch hier absolut
nichts als — na ja — als höchstens die Freiheit," sagte neulich einmal ein
höherer Anstaltsbcmnter zu einem Sträfling, der einst bessere Tage gesehen
hatte. Und der Mann hatte durchaus Recht. „Höchstens die Freiheit!" Und
„Freiheit" — das ist eben für die Menschen, die sie genießen, ein so selbst¬
verständliches Ding, daß sie meist gar nicht darüber nachdenken, worin sie
eigentlich besteht, ja daß sie sogar, wenn sie darüber nachzudenken versuchen,
nicht selten zu dem Schluß kommen, sie sei überhaupt bloß ein Begriff, den
es in Wirklichkeit gar nicht gebe.
Die Insassen dieses Hauses, die auch darüber nachgedacht und dazu auch
Zeit gehabt haben, denken freilich anders. Sie sind ganz genau über diesen
„Begriff" im klaren, und wenn sie auch, je nach Charakter nud Anschauungs¬
weise, nach Erziehung und Lebensgang, das eine oder das andre Merkmal
dieses Freiheitsbegriffs höher schätzen und für wichtiger halten — sie alle
wissen, daß „Freiheit" kein abstrakter Begriff ist, und sie alle seufzen unter
dein furchtbar lastenden Drucke des gänzlichen Freiheitsmangels, unter dem
sie leben. Und sie alle — ob sie nun in der Verübung schändlicher Lüste
oder im Faulenzen und Müßiggehn, im Voll- und Tolltrinken oder in der
Arbeit für Weib und Kind, in dem abenteuerlichen Leben des Gewohnheits¬
verbrechers oder in der Befriedigung ihres Ehrgeizes das wesentlichste Merk¬
mal der Freiheit sehen —, sie alle sehnen sich, ob sie stets wiederkehrende
Stammgäste oder ängstlich entsetzte Neulinge sind, ob sie als „Lebensläng¬
liche" kaum zu hoffen wagen, oder als „Einjährige" nur eine kurze Gastrolle
geben, nach dem Zeitpunkt, wo sich die Fülle der Riegel und der Schlösser
und die eisernen Thore vor ihnen öffnen und der „Begriff" Freiheit für sie
wieder Wirklichkeit werden soll.
Nach diesem Augenblick geht all ihr Denken und Trachten, mit einer
Sehnsucht, einer Energie, die, wieder je nach Charakter und Anschauungs¬
weise, die einen zu wirklicher Selbstverleugnung, die andern zu mühsamster,
jahrelanger Verstellung, die dritten zu den gewagtesten und grausigsten Thaten
der Verzweiflung treibt. —
Es ist ein ganz schmuckes kleines Kirchlein, in das ich den Leser führen
will. Er wird wohl kaum glauben, wie viel diese wirklich kirchenmäßige Ge¬
staltung des Andachtsraumes den Gefangnen wert ist, wie sehr sie auf fast
alle einwirkt. Ich weiß von einem Gefangnen, der gar nicht besonders religiös
war, und der fast ein Jahr in Untersuchungshaft gesessen und während dieser
Zeit nnr die aller zwei bis drei Wochen nbgehaltnen mehr als nüchternen
Andachten in einem schmutzigen Arbeitssaale mitgemacht hatte, daß er förm¬
lich anfjubelte. als er nach seiner Verurteilung und seinem Transport ins
Zuchthaus zum erstenmal dieses kleine schlichte Gotteshaus betrat. Dieser
durch zwei Stockwerke hindurchrageude Raum mit seinem weißen Anstrich und
Goldleisten, mit dem großen Altarbau in Barockstil, der erhöhten Kanzel an
der linken Empore, der Orgel an der dem Altar gegenüberliegenden Eingangs¬
wand macht wirklich auf den um die öden kahlen vier Wände seines Arbeits-
Saales oder seiner Einzelzelle Gewöhnten einen so erhebenden freundlichen
Eindruck, daß sogar unter den allcrstnmpfesteu Naturen nur wenige sich ihm
vollständig entziehn können.
Über die meisten kommt doch, bis Gewöhnung und Zwang sie auch in
dieser Beziehung abgestumpft haben, das Gefühl: Hier bist du frei, auf die
eine bis anderthalb Stunden wenigstens, die der Gottesdienst dauert. Und
wenn auch körperlich uicht ganz frei, so doch geistig und sittlich; du kannst
deinen eignen Gedanken nachhängen oder dem nachdenken, was das gesungne
Lied oder die Worte des Geistlichen dir in den Sinn zu prägen versuchen;
du kannst dem, was du jetzt hören wirst, Glauben oder stummen Spott ent¬
gegenbringen, dn kannst dem Hauch des Übermenschliche«, des Überirdischen,
des Reinen, von allem Zwange Freien und Befreienden, des Ewigen, der dich
hier umweht, dein Herz verschließen oder es ihm öffnen, daß es auch dich
rein und frei mache von all dem Häßlichen und Grüßlicheu, das dich hierher
gebracht hat; du kannst das alles, du kannst, was du sonst in diesem Hanse
nicht kannst und darfst, du kannst wollen!
Und zugleich mit dieser durch die äußere Umgebung angeregten Ahnung
einer nur beschränkten und doch viel höhern Freiheit, als die ist, deren
er sich früher erfreute, bringt diese äußere Umgebung ihm allerlei Erinne¬
rungen in den Sinn. „Nun bist du wieder in einer Kirche; wann warst
du zum letztenmal in einer Kirche draußen? Wars damals, als du deinen
Jüngsten taufen ließest und — dich nachher so furchtbar betraukst, daß
du deinen besten Freund mit dem Messer bedrohtest? Oder wars damals,
als du dein Weib zum Altar führtest, dein Weib, das dir ihr Bestes,
ihr eignes Selbst anvertraut hatte, und das nun, von dir schnöde verlassen,
mit der härtesten Not des Lebens ringt? Oder war es damals, als du
eingesegnet wurdest — weißt du uoch, wie der alte Pastor dir den Spruch
auf deu Lebensweg mitgegeben hatte — wie hieß er doch? »Der Herr
kennt die Seinen, es trete ab von der Ungerechtigkeit, wer den Namen Christi
nennt!« Richtig, du kannst ihn noch; und wie du vom Altar tratest, wer
umarmte dich da, glücklich und doch thränenden Auges? Lebt sie noch, deine
Mutter? Du weißt es nicht? Wie lange hast du überhaupt uicht an sie ge¬
dacht? Und mußtest du solche Wege gehn, mußtest du bis an diese Stätte
kommen, daß du dich endlich wieder einmal ihrer erinnerst? Du senkst das
Haupt und hast so ein würgendes Gefühl in deiner Kehle und so ein heißes
Aufsteigen hinter deinen Augenlidern! O — um alles in der Welt, jetzt
keine Thränen! nichts merken lassen, bloß nichts merken lassen vor den mit¬
leidig spöttischen Blicken der Genossen und ihren Stichelreden und vor den
beobachtenden Augen des Aufsehers da drüben, deines Todfeindes, der dich
immer so verächtlich behandelt und so gemeine Redensarten führt — wenn
ihn sonst niemand hört. Nein — bloß nichts merken lassen!" Und er richtet den
Kopf wieder in die Höhe und schaut mit starren Blicken vor sich hin.
Wir wollen uus etwas umsehen in der kleinen Kirche. Hier, rechts
vom Mittelgang sitzen dicht aneinander gedrängt, zu siehe» auf jeder Bank,
die Leute der Gemeinschaftshaft, die massg. xsräiw, an der nach höherer Ansicht
nichts mehr zu verderben ist durch schlechte Gesellschaft, nichts mehr zu bessern
durch einsames Nachdenken, Dort drüben, links, nur je drei auf einer Bank
also in großen Abständen voneinander, die Isolierten, meist junge Burschen.
Oben auf dem Chor auch noch Gemeinschastsgefmigne. Ein mächtiger Altar!
Die beiden schweren Säulen zu seiner Seite rahmen das große Altarbild ein -
es ist schon stark gedunkelt, und bei dem Schein der vier brennenden Wachs¬
kerzen kann man nur mühsam erkennen, daß es Jesum den Gekreuzigten dar¬
stellt, den, der für die Sünder gestorben ist. Auch für diese hier? In goldnen
Buchstaben flammt ihnen allen, die hier versammelt sind, von der Altardecke
das größte und holdeste Wort entgegen, das je gesprochen worden ist: „Kommet
her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken."
Wer kann so sprechen? Wenn ein Mensch hente so spräche, sei es draußen
auf der lärmenden Gasse zur haftenden Menge, sei es hier drinnen im stillen
Kirchlein zu den Insassen des Zuchthauses — müßte dem nicht die unruhige
Flamme des Größenwahns aus dem unsteten Auge lodern? Wer kann so
sprechen, hente noch wie einst? Gott — Gott — ein leises Achselzucken, ein
spöttischer Zug um die Mundwinkel verrät, was in jenem Gefangnen dort
vorgeht, der diese Gedankengänge macht; er läßt sein Auge weiter schweifen,
da trifft ihn hoch oben von der Wölbung der Altarnische das wohlbekannte Wort:
«Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, und den Menschen ein
Wohlgefallen!" — und nun wird das Achselzucken energischer und verächtlicher,
um die blassen Lippen spielt bitterster Hohn. Jawohl! Friede auf Erden —
um Zuchthaus! deu Menschen ein Wohlgefallen — im Zuchthaus — im
Zuchthaus!
Da rasselt wieder ein Schlüsselbund, ein Riegel knarrt, eine Thür wird
geöffnet; ernst und gemessen schreitet der Geistliche durch den Mittelgang und
tritt in den kleinen als Sakristei dienenden Raum. Und nun braust Orgel¬
klang durch die Kirche.
Wie unendlich viel hängt hier von dem Manne ab, der in dieser
Umgebung, nnter diesen Verhältnissen an den Seelen dieser Menschen zu
arbeiten hat!
Silvesterabend! Zwar noch ist es nicht recht Abend, erst vier Uhr nach¬
mittags; der Gottesdienst muß beendet, und die Leute müssen wieder in ihre
Räume eingerückt sein, ehe die Austeilung der Abendsuppe um 5^ Uhr be¬
ginnt. So kämpft das vom großen Hofe durch die vergitterten Fenster herein¬
fallende Tageslicht noch ein Weilchen mit dem hellstrahlenden Glänze der
weit mehr als hundert Kerzen, die von den beiden großen Tannenbünmen herab-
schimmern, die rechts und links vom Altar aufgestellt und mit Lametta und
andern, Flitter behängt sind. Diese Kerzen brannten schon vor einer Woche,
bei dem Gottesdienst, der am heiligen Abend um dieselbe Stunde wie heute
die Gefangnen zur bitter wehmütigen Weihnachtsfeier vereinte.
Die Orgel — sie ist nicht groß und auch an Tönen wenig umfangreich,
aber für den kleinen Raum völlig ausreichend — hat nach kurzem Vorspiel
das ergreifende Silvesterlied der Fürstin Reuß intoniert:
Das Jahr geht still zu Ende,
So sei auch still, mein Herz!
und gern und lebhaft singen die meisten Gefangnen mit, auch die härtesten
und ungläubigsten.
Scheu wir uns während des Gesanges die Insassen dieses Hauses ein
wenig an. Der flüchtige Blick bemerkt ja nur wenig Unterschiede. Sie sind
alle gleich gekleidet: dicke, schwarze Tuchjacken, braune Beiderwcmdhosen, niedrige
Lederschuürschuhe, um den Hals ein blauweißes Halstuch, das nur wenig über
den Kragen der bis oben geschlossenen Jacke hinausragt; in der Hand eine
schwarze Tuchmütze und das Gesangbuch. Das Kopfhaar ist ganz kurz geschnitten,
die Gesichter sind glatt rasiert. Dadurch und durch die kurze, kaum bis
an die Hüften reichende Jacke erhalten die Gestalten ein so seltsam un¬
natürlich jugendliches Aussehen, das, namentlich wenn der Haarwuchs spärlich,
die Gesichter recht tief gefurcht und die Haltung gebückt ist, oft so widerwärtig
abstoßend wirkt. Mußten diese Menschen so fratzenhaft entstellt werden?
Doch uicht lauter abschreckende Gestalten füllen den Raum. Dort der
zweite auf der ersten Bank der Isolierten — ist das nicht ein bildschöner
Mensch? Diese ebenmäßige, geschmeidige Gestalt, diese stramme Haltung, dieser
tadellos gebaute eiförmige Schädel, und dieses schöne regelmäßige Gesicht mit
den großen, fast dunkelblauen Augen und dem feingeschnittenen Munde! Zwei¬
undzwanzig Jahre ist er alt. Auf der Außenfläche der rechten Hand, die
das Gesangbuch hält, sieht man bei scharfem Hirschauer einen Anker in dunkel¬
blauer Farbe eintätowiert. Ein Matrose also! Und was hat den hierher¬
gebracht? fragt man erschrocken. Ja, was von den Leuten hier zwei Drittel,
nein, drei Viertel — nein, fünf Sechstel und noch mehr hierhergebracht hat:
der Alkohol. Vor kaum zwei Jahren schwamm er noch draußen in den
chinesische» GeWassern auf einem deutschen Kriegsschiff, einer der slottesten
und frischesten „blauen Jungen," da kam ein Fest, wobei den Mannschaften
Bier gegeben wurde, er trank zuviel, trank wohl auch dazwischen einen Schnaps
auf eigne Rechnung, er wurde laut und übermütig, ein Unteroffizier wies ihn
zur Ruhe, er antwortete; es gab einen Wortwechsel, der damit endete, daß
der Unteroffizier ihn zur Meldung zu bringen drohte. Da kam gerade der
Offizier vom Dienst vorbei, der Unteroffizier tritt an ihn heran und macht
ihm eine Meldung über etwas ganz andres. Der Matrose aber glaubt, daß
es sich um ihn handle, und in seiner Beschämung, daß er, der bisher Un¬
bestrafte und allgemein Beliebte, dem in kurzem die Unteroffizierabzeichen sicher
gewesen wären, bestraft werden solle, stürzt er sich in einer durch deu Alkohol
entflammten ungezügelten Wut auf den vermeintlichen Angeber und schlägt
mit dem Bierglas nach ihm. Dies ist nun schon seine zweite Silvesterfeier
in diesem Hause; noch dreimal wird er sie hier verleben müssen.
Ja, der Alkohol! Wollen wir noch mehr von den Heldenthaten dieses
Seelenverdcrbers hören? Dort, gleich der Nebenmann des Matrosen, ist ein
früherer Volksschullehrer; unglücklich verheiratet kam er so recht aus dem
Rausch uicht heraus, bis er sich in seinem wüsten Bierdunst an seinen Schul-
müdchen vergriff. In der zweiten Reihe, der mittlere, der mit den todtraurigen
Augen, ist ein junger Bergmann, kaum neunzehn Jahre alt, Totschlüger im
Rausch; sein Nachbar, auch ein Bergmann, vor dreiviertel Jahren erst als Ge-
freiter vom Militär gekommen, Messerstecher, Landfriedeusbrecher im Rausch; in
der dritten Bank, der stramme, frische Junge mit den klaren, grauen Augen, ein
echter Pommer, natürlich auch einst Matrose: draußen in einem chinesischen
Hafen auf Urlaub an Land bekam er in Gemeinschaft mit einem Kameraden
in der Bezcchtheit Händel mit einem englischen Konstabler, dem er sein scharf-
geschliffnes Seitengewehr ins Bein stich. Aus Angst vor der Strafe beschlossen
beide Matrosen, nachdem der Alkohol ihre Sinne verwirrt hatte, zu desertieren —
deutsche Seeleute, in China! Er darf nun sechs Jahre darüber nachdenken,
was die Kriegsartikel von Desertion vor dem Feinde halten.
Und so geht es weiter, fast immer spielt der Alkohol seiue verhängnis¬
volle Rolle in den Trauerspielen, deren letzter Akt in dieses Haus führt.
Und nun gar hier, auf der rechte» Seite, nnter den Leuten der Gemeinschafts¬
haft, finden wir oft auf einer ganzen Bank keinen einzigen, den nicht direkt
oder indirekt der Alkohol hierhergebracht Hütte. Hier, der Alte mit dem spär¬
lichen weißen Haar: den größten Teil seines Lebens hat er in Gefängnissen
und Zuchthäusern zugebracht, und in der Zeit, die er draußen verlebt hat,
war er nur nüchtern, wenn er zum Stehlen ging. Und oft auch dann nicht
einmal, sonst hätten sie ihn z. B. beim letztenmal gar nicht bekommen. Sein
Nachbar ist auch ein Säufer. Als ihm die Zechschulden über den Kopf
wuchsen, zündete er sein Haus an und Hütte die Versicherungssumme bis zum
letzten Pfennig vertrunken, wenn er sich nicht im Rausch selbst verraten Hütte.
Der nächste ist ein Messerstecher im Wirtshaus; nebenan sitzt ein Mörder,
ein Epileptiker,' der Sohn eines Säufers; der nächste, ein Gewohnheitsein-
brecher, der das Trinken so wenig lassen kann, daß er neulich — er ist in
der Tischlerei beschäftigt — eine ganze Flasche Politurflüssigkeit hinunter¬
gegossen hat; der nächste — nein, der säuft nicht, den hat die Habsucht zum
Meineid verleitet.
In der zweiten Bank der erste — ja, das ist ein origineller Kerl. Ihn
Zeichnete seit seiner Jugend eine wahnsinnige Angst vor der Arbeit ans; sogar
das Stehlen war ihm zu mühsam, doch blieb ihm zuweilen nichts andres
übrig, denn auch er trank gern. Jetzt verbüßt er seine elfte Strafe wegen
Diebstahls, die siebente Zuchthausstrafe, die zwischen Ostern und Pfingsten
abgelaufen sein wird. Dann sagt er aber nicht etwa „Adieu!" sondern nur „Auf
Wiedersehen!" und die Aufseher necken ihn auch schou mit der Frage: „Na, wirst
Pfingsten wieder da sein, Hannes?" und „Hannes" erwidert ganz treuherzig:
"Ick denke doch, et wird stummen, Harr Upseiher!" Und er hofft auch wirklich
ganz ehrlich, daß es „stummen," d. h. glücken wird, unmittelbar nach seiner
Entlassung, sobald der ihm mitgegebne Spargroschen vertrunken ist, irgend einen
unbedeutenden, möglichst offenkundiger Diebstahl zu begehn und sich dabei
5"sser zu lassen; und wenn dann — er ist natürlich gestündig — die rächende
Themis diesen einfachen Fall mit einiger Routine behandelt, so können in der
That Untersuchungshaft, Anklage, Verhandlung und Verurteilung in zwei bis
drei Wochen erledigt sein, sodaß er noch rechtzeitig mit dem letzten Transport
vor Pfingsten im Zuchthaus wieder eintrifft. „Je, sub mal, Minsch — sagte er
bei seiner letzten Ankunft zu einem Neuling, der ihn neugierig fragte, warum
er, der doch erst vor anderthalb Monaten entlassen sei, sich schon wieder habe
erwischen lassen —, sub mal, wat schall cet dor buten? Dor heww cet keen Ver¬
wandte nur Bekannte nich, keen Fründ nich — nah den Frugensminscher frag
cet nich nach —, de Bottcl — na ja — äwerst et jeiht vel ohne! Arm Heer — Heer
heww cet min regelmäßigst Eden nur nun Raub nur mine vier Bekannten
nur mine Fründe, nur de Upseihers mögen mi ok liber, wil dat cet sonn
vier Stammgast bün, nnn wenn cet krank wer, heww 'et 'n Dotter nur allens
in sine Rejelmäßigkeit. Dor mach cet man ümmer, dat cet halt wedder Heer
bün, dünn weet cet doch, wo cet ann bün!"
Man könnte meinen, der Kerl Hütte es doch offenbar noch viel zu gut
im Zuchthaus, und auf den paßte nicht, was ich eben von dein Sehnen dieser
Leute nach Freiheit gesagt habe. Und doch irrt mau sich! Erstens darf man
von einer solchen Abnormität keine verallgemeinernden Schlüsse ziehn, und
dann sehnt sich auch „Hannes" nach dem Tage der Freiheit und der „Bottcl,"
und wenn er sich in die Freiheit das mitnehmen könnte, was er für die
wünschenswertesten Lebensgüter hält, sein „Eden" und seine „Fründe" und
allenfalls noch ,,de Dokter," so würde er vielleicht sogar das Stehlen lassen. Aber
vielleicht brächte ihn der Alkohol, dem er dann sicher verfallen würde, doch
auf anderen Wege wieder hierher, denn der scheut kein Mittel und keinen Weg. Es
giebt kaum eine einzige Verbrechensart, zu der nicht der Alkohol die größte
Kandidatenzahl stellte, teils mittelbar, teils unmittelbar, und wenn ich fort¬
fahren würde, die einzelnen Reihen durchzugehn und die Geschichte der Leute,
die hier sitzen, zu erzählen, so würde man erschaudern vor dem himmelhohen
Berge von Sünde und dein jähen Abgrund von Jammer und Elend, die
durch diesen Volksverderber geschaffen werden. Und dann würde man vielleicht
mit andern Augen die Tempel ansehen, ob sie elegante Weinstuben, stolze
Bierpalüste oder schmutzige Destilleu sind, in denen allen man diesem Todes¬
götzen opfert. Man würde sich entsetzen vor allen den Brauereien und Bren¬
nereien, in denen die Gewinnsucht wohnt mit der allzu leichten Kainsfrage
auf den genußsüchtigen Lippen: „Soll ich meines Bruder Hüter sein?" Und
man würde sich angeekelt wegwenden vor einer Staatsweisheit, die sich „aus
finanziellen Gründen" scheut, diese Bolkspest energisch zu bekämpfen und sich
aus denselben Gründen nicht scheut, Maßnahmen zu treffen, die notwendig
noch weitere größere Kreise dieser Seuche zutreiben müssen.
Aber wenn auch der Alkohol oder wenigstens sein überreichlicher Genuß
aus der Welt geschafft werden könnte — die Zuchthäuser würden zwar auf
ein Sechstel oder ein Achtel ihrer jetzigen Zahl verringert werden können, aber
die übrig bleibenden würden darum doch nicht leerstehn. Das Menschen herz
birgt noch andre Abgründe, wo das „ewige Licht" ihm nicht leuchtet. Eifer¬
sucht und Haß, Genußgicr und Leichtsinn, Ehrsucht und Geiz, und wie sie
alle heißen mögen — sie alle fordern ihre Opfer, die man hier sehen kann-
Jener dort erschoß seine Braut, weil er sie für untreu hielt, dort der kleine
Alte hat seine Frau umgebracht, um sie zu beerben. Der neben ihm unter¬
schlug Gelder, um alte Leichtsinnsschulden zu bezahlen; jener junge Bursche
steckte seinem Nachbar die Scheune an, weil er ihn haßte, der andre wollte
durch einen Millionendiebstcchl reich werden.
Und sie alle singen nun das schöne Silvesterlied, ihnen allen leuchten
die brennenden Christbaume, Was zieht dabei wohl durch ihre Seelen?
Der Gesang verstummt, die Orgel verhallt, zur Kanzel schreitet die hohe
Gestalt des Geistlichen. Was wird er ihnen sagen? Was soll er ihnen
künden?
O, es muß furchtbar schwer sein, dieses Amt der Liebe und Gnade denen
gegenüber zu verwalten, für die die Welt nur Härte und Strafe kennt! Aber
der Mann, der hier die Kanzel besteigt, weiß seines Amtes zu walten. Wer
ein sich selbst die Liebe und die Gnade Gottes erfahren hat, der kann
sie auch andern künden; und er kann es nicht nur, er kaun nicht anders.
Und das wissen und fühlen sie auch, alle, die ihm zu Füßen sitzen. Auch die
Härtesten, die stumpfsten, die Ungläubigsten, die Verbittertsten — sie fühlen,
daß hier nicht nur ein Mund zu ihren Ohren, sondern ein Herz zu ihrem
Herzen spricht; daß der Mann da oben sie liebt, wirklich liebt, mit der Liebe
des Gekreuzigten, von dem er nicht müde wird ihnen zu predigen, daß er in
die Welt gekommen sei, zu suchen und selig zu machen das Verlorne! Auch
dich! auch dich! gerade dich, der du wieder und wieder dieses Haus aufsuchst,
gerade dich, dich mit den blutigen Händen, gerade dich, der du dich sträubst
zu glauben, gerade dich, der dn seit Jahren schon die Gefängniskrankheit, die
Schwindsucht, mit dir herumschleppst und es fühlst, daß du heute zum letzten¬
mal den Weihnachtsbaum brennen siehst, gerade dich, und gerade heute, am
letzten Tage dieses Jahres, vielleicht des dreißigsten, das du hier verlebst,
vielleicht des zwanzigsten, das dn überhaupt erst erlebst, gerade dich, und
gerade heute am Silvesterabend.
Ja, es muß furchtbar schwer sein, den Gebundnen die Freiheit, am Silvester¬
abend im Zuchthaus ..das angenehme Jahr des Herrn" zu verkünden; aber
der da oben, der kann es, weil die Liebe alles kann.
Und wie wirkt sein Wort auf die Gefangnen? Nun, natürlich heißt es
hier gerade so gut wie anderwärts: „Vierfach ist das Ackerfeld." Nicht alle
merken so gespannt auf, wie dort der hübsche junge Mensch mit dein frischen,
fast rosigen Gesicht, der mit seinen sonnigen hellblauen Friesenaugen den: Pastor
fast jedes Wort von deu Lippen zu saugen scheint, oder wie jener ältere, der
f" gern, ach so brennend gern glauben möchte, was er heute hört, was er
aus diesem Munde so oft schon gehört hat. Mancher brütet stumpf vor sich
hin, nur hier und da durch einen wärmern Ton der Stimme, durch ein un-
gewohntes Wort oder durch sonst einen äußern Anstoß veranlaßt, aufzuhorchen
und eine Weile zuzuhören, bis er wieder in sein altes Brüten zurückfällt.
Mancher andre merkt absichtlich nicht auf, aus Opposition gegen das ganze
Wesen, das ganze Räderwerk, das ihn gefaßt hat und gefangen hält. Aber
heute, am Silvesterabend, will es doch so recht nicht glücken mit der Unauf¬
merksamkeit. Es sind gar eigne seltsame Gedanken, die so ein brennender
Christbaum, die das nahe Jahresende, die Jahreswende weckt. „Werde ich
uoch hier sein übers Jahr, oder wird man mich bis dahin schon hinausgetragen
haben auf den kleinen kahlen Zuchthausfriedhof, in einem der engen schwarzen
Kasten, die ich selbst neulich in der Tischlerwerkstatt habe zimmern helfen —
unter rohen Witzen und frivolen Späßen. Wie schnell das hier gehn kann!"
Und so mancher Genosse fällt ihm ein, der nicht wieder zurückgekommen ist
aus dem Lazarett, nachdem er sich eines Morgens krank gemeldet hatte; und
dann jener, der neulich den Aufseher beschimpft hatte, mir, um in Arrest ge¬
sperrt zu werden, und der dort in der dunkeln Arrestzelle endlich ein ein¬
sames Plätzchen fand, wo er seinem verfehlten Dasein ein Ende machen konnte;
und vor wenig Wochen erst, sein langjähriger Kamerad an derselben Hobel¬
bank, der sich nachmittags beim Spaziergang plötzlich an die Brust griff, um¬
fiel und — frei war! So ein Herzschlag, und alles ist vorbei! Alles?
„Noch ist es Zeit, thu es heute, heute am letzten Tage des alten Jahres!
Wirf ab die Last der Sünde, die dich zu Boden drückt; ergreife die Hand,
die dir geboten ist; laß an dieser Hand dich hinüberführen ins neue Jahr,
daß es dir auch hier in diesem Hanse ein Jahr des Segens, ein Jahr des
Friedens werde!" So tönt ihm eben die Stimme des Geistlichen ins Ohr,
und es wird ihm schwer, unter der eindringlichen Gewalt dieser bittenden,
sorgenden, herzlichen Stimme wieder in die trotzige Unaufmerksamkeit zu
verfallen.
O gewiß — gar viele Worte, die von dieser Kanzel herabtönen, gehn
verloren; aber doch bei weitem nicht alle! Wer weiß, wann das Gehörte ein¬
mal seine Wirkung thut, ob es nicht schon im Dunkel dieser Nacht, die sich
nun langsam herniedersenkt, aufwachen wird, tief drinnen im Herzen bei einem,
der sich schlaflos auf seinem Lager wälzt?
Mit einem Dank für das alte und einer Bitte für das neue Jahr hat der
Pastor seine Predigt geschlossen. Wieder durchtönt Orgelklang und der Gesang
der Gefangnen das lichtgeschmückte Kirchlein. Dann erteilt der Geistliche vom
Altar aus der Gemeinde den Segen. Die Silvesternndacht ist zu Ende.
Noch stiller als sonst geht es heute zu auf dem Wege von der Kirche zu
den Arbeitssälen oder zu den Zellen. Manches Haupt, das sonst trotzig hoch
getragen wird, ist heute gesenkt, manches Augenpaar, das sonst frech um sich
blickt, schaut heute zu Boden. Während sonst keine noch so geringe oder ge¬
wagte Gelegenheit versäumt wird, dem Verbot entgegen zu plaudern, ist heute
gar keine Stimmung dafür vorhanden. Ist dennoch einer leichtfertig genug,
seinem Nachbar irgend eine Albernheit zuzuflüstern, so kann er heute sicher sein,
keine Autwort zu erhalten. Doch der begleitende Aufseher hat es gehört: „Na,
wer kann da wieder 's Maul nicht halten?" fragt er, sich umdrehend nach der
Richtung, aus der die Worte kamen. Aber dabei bleibt es auch; eine große
Untersuchung darüber anzustellen, wer der Schuldige sei, dazu mangelt auch
ihm heute die Lust.
Noch einige Stunden bis 9 Uhr abends, dann ist das Tagewerk zu Ende-
In den Schlafsülen und in den Zellen liegen die Gefangnen auf ihrem Lager-
Da schweifen die Gedanken wohl wieder zurück in die Vergangenheit. Wie
waren die frühern Silvesternächte so ganz, ganz anders! Und wenn es auch
nicht immer schäumende Sektkelche oder duftende Puuschgläser waren, die das
neue Jahr begrüßten — eins brachte das neue Jahr doch immer mit sich:
neuen Mut, neue Hoffnungen, neue Erwartungen. Die dicken Eisenstnbe, d:e
dreifachen Riegel und die meterdicken Wände hier predigen keinen Mut: der
Gedanke a» die Strenge des Gesetzes, an die Mitleidlosigkeit der Menschen
und — der Blick in das eigne Herz wecken keine Hoffnungen. Und Erwar¬
tungen? — ach ja, erwarten darfst du mancherlei, nur nichts Gutes, nichts
Frohes, nichts Schönes mehr! Was erwartet dich, wenn die Stunde der Freiheit
dir einst schlägt? Wenn du nach verbüßter Strafe aus dem Zuchthaus ent¬
lassen, in die Welt hinaus, unter deine Brüder trittst? Ach, wo ist da einer,
der nicht dem ältern Bruder des Gleichnisses gliche, der da zornig wurde, als
seines Vaters Verlorner Sohn wiedergekehrt war, und der es nicht mit ansehen
konnte, daß jenem wieder der Tisch gedeckt wurde? New, erwarte nichts mehr,
wenn du in diesem Hanse gewesen bist. Wenn deine Strafe verbüßt ist, so
fängt sie eigentlich erst an!
Das sind die Silvestergedanken, mit denen sich die ernstern unter den Ge¬
fangnen tragen, die Unglücklichen, die nicht Stammgäste werden wollen in diesem
Hanse, in das ich den Leser heute zu flüchtigen Besuche geführt habe. Wie
wäre es, wenn diese Silvesterfeier den Leser dazu anregte, sich im kommenden
Jahre nicht bloß mit einem kalten Geldbeitrag für irgendeinen der „Fürsorge-
Vereine für entlassene Sträflinge," deren Name allein schon die Hilfesuchenden
abschreckt, abzufinden, sondern dem jüngern Bruder selbst freundlich die Hand
zu reichen, wenn er etwa an seiue Thür klopfen sollte?
chon UM die Mitte der zwanziger Jahre des neunzehnten Jahr¬
hunderts sind die realistischen Schulen aufgekommen, deren erste
energische Lebensbethätigung sich in heftiger Polemik gegen „die
auf der Sitzbank vermüfften Geschöpfe" des Gymnasiunis'äußerte,
wie es Immermann in seinem Zeitspiegel, den „Epigonen," einem
Realschulmann in den Mund legt. Auch damals schon siel im
Lager der glücklich Besitzenden, der Freunde der absoluten Gymnasialbildung,
manches Wort, das in spätern Zeiten wieder erklungen ist, und auch manche
Parteiphrase. Dann wurde es wieder auf lange Zeit ruhig; die Vertreter
der humanistischen Bildung glaubten sich weiter ihres ungestörten Besitzes er¬
neuen zu können, obwohl die Gegner, rührig wie jede Attivnspartei° nicht
müßig blieben, bis dann endlich vorausfliegende Sturmvögel auch dem behag¬
lichsten Schulmann in der Geißblattlaube eines kleinen Städtchens, dem un¬
gläubigsten Optimisten einen Orkan gegen alles, was ihm bisher teuer gewesen
war, verkündete.
Nun wurde mobil gemacht im Philologeulager; der Abfall weniger, die
chrer Wissenschaft nicht froh geworden waren, zählte nicht viel, machte die
Leiden noch nicht dünner. Aber leider war die Mobilmachung doch nicht
allgemein; die Universitäten hielten sich fast ganz beiseite. Männer, von denen
man erwartet hatte, daß sie ihre bisher bei jeder Gelegenheit so kräftig be¬
herrschende Stimme erheben würden, schwiegen oder meinten, die Wissenschaft
würde dadurch, daß sie den Boden der Schule verlöre, in sublnner Höhe über
ven Erdenstnub schwebend nur um so freier die glänzenden Schwingen ent-
falten, wie sich ja auch die Oricntalistik für sich selbst entwickelt habe. Das
wurde zum Leitmotiv mancher Universität, man hörte den gefährlichen Trug¬
schluß immer wieder, besonders ans dem Munde der jüngern Dozenten. So
standen die Schulmänner, deren Ideal die hurtiger Federn schnellfertiger
Journalisten zu durchlöchern suchten, und deren Persönlichkeiten bis in die
Romane der Eintagsdichter hinein lächerlich gemacht wurden, ziemlich allein.
Das hat ihnen trotz aller Bitterkeit, die sich bei ihnen ansammelte, nicht ge¬
schadet.
Denn man besann sich aus sich selbst, man lernte die Ideale, die von ernsten
Gegnern angegriffen, von frivolen besudelt wurden, durch genane Prüfung
aller der gegen sie erhobnen Gründe neu beleben, und der Glaube an sie
wurde nnr noch stärker; so nützte uns der Streit nicht weniger, als der Theologie
in den siebziger Jahren die vielen Angriffe der Gegner. Auch auf den Universi¬
täten besann man sich wieder ans seine Pflicht, nicht etwa, weil sich nach 1890
die Hörsäle der Philologen reißend leerten, sondern in der Erkenntnis der ge¬
waltigen Gefahr, die unsrer deutschen Kultur drohte, und was versäumt worden
war, suchte man nachzuholen. Durch öffentliche Vortrüge, dnrch populäre
Schriften, die dazu bestimmt waren, für Griechenlands Geistesarbeit bei denen
zu wirken, die des Griechischen unkundig waren, wurden erfreuliche Ergebnisse
erreicht. So fand denn die neue Schnlkonferenz die Häupter der humanistischen
Bildung aus ihrem Platze; es machte tiefen Eindruck, mit welcher Wärme, mit
welcher bedingungslosen Energie z. B. der Theologe A. Harnack für die Er¬
haltung des Griechischen eintrat.
Der Streit ist noch lange nicht zu Ende damit, daß das Gymnasium nun
nicht mehr allein die Reife zur Universität giebt. Denn jetzt geht man dem
Ghmnasium selbst in seinem innersten Kerne zu Leibe, dem Griechischen. Mit
diesem aber steht und fällt das Gymnasium: das ist unendlich oft gesagt
wurden, muß aber ebenso oft wiederholt werden. Das Lateinische will man
bestehn lassen, weil man meint, daß die unerbittliche Logik seiner Satzfttguug
im Verein mit der Mathematik den jungen Geist in die beste Denkmahl
zu nehmen vermöchte, und weil man dem Römcrvolke doch für die juristische
Vcrstaudesschuluug einen gewissen Dank zu schulden glaubt. Aber allein mit
dem Lateinischen, ohne das Griechische steht das Ghmnasium da wie ein
Kavallerist zu Fuße.
Fast alle geistigen Kämpfe werden gelegentlich mit frivolen Mitteln ge¬
führt. Es ist aber oberflächlich, die Gegner, weil unter ihnen auch frivole
Gesellen sind, geistig zu verachten. Der neue Kulturkampf, worin wir mitten
drin stehn, ist nicht vom Zaune gebrochen; es ist falsch, wenn O. Jäger sagt,
man habe der Nation den ungeheuern Bären aufgebunden, daß sie unzufrieden
mit ihrem Schulwesen sei. Man kann, wie ich eS selbstverständlich mich thue,
den Gegnern keinen Schritt zu weichen gesonnen sein, aber man muß zugeben,
daß die Wurzeln des Streits tiefer liegen. Der Kampf gegen das Ghmnasium,
deu man mit übel angebrachten Pessimismus schon den Todeskampf des Gym¬
nasiums genannt hat, ist nur ein Teil der litterarisch-künstlerischen Revolution,
die in deu achtziger Jahren begonnen hat. Man hatte sich an den traditionellen
Konflikten der die klassischen Dichter unsrer Nation mehr oder minder nach¬
ahmenden Poeten, am hohlen Pathos, am akademischen Wesen der bildenden
Künstler so übersättigt, daß man nach Neuem, nach Originellem geradezu schrie.
Und das Neue, das Originelle kam, es kam in der Litteratur mit Ibsen,
Tolstoi und einer Reihe begabter deutscher Autoren, die ohne jede Tradition,
ganz voraussetzungslos arbeiteten; es kam in der Kunst mit einer Reihe ur¬
sprünglicher Kräfte, die mau Wohl ablehnen kann, deren Energie man aber
bewundern muß. Dieser Strom schoß denn auch Hera» gegen die bisherige
allgemeine Bildung und suchte auch sie als einen Nest' einer vergangnen,
Vielleicht seinerzeit ganz verdienstlichen, aber doch jetzt ganz und gar über¬
lebten Erscheinung hinwegzuspüleu. Hier aber fand er Widerstand; es regten
sich viele scharfe Federn, als der neue Kulturkampf das ganze Gebäude unsrer
bisherigen geistigen Bildung niederlegen wollte. Der Kampf wurde wesentlich
auf' dem Boden unsers Vaterlandes geführt, denn die Engländer und die
Amerikaner, deren klassische Bildung doch an äußerlichen Drill alles übertraf,
was die Gegner unsern klassischen Abrichtuugskünsteu nachsagten, sie dachten
gar nicht daran, ihre Schulen zu reformieren, dieselben Nationen, deren nrattsr
öl tagt-Wesen man jetzt so gern nach Deutschland übertragen hätte. Nur in
Skandinavien, im Vaterlande Ibsens und Kjellands, dessen Litteratur solchen
Einfluß auf Deutschlands Deuten und Dichten gewann, empfand man teilweise
ähnlich wie bei uns, zum deutlichen Zeichen, wie sehr diese Bewegung Teil
einer größern. elementaren gewesen ist.
<<..^^.
Diese Sturzwelle, die neben trübem Schlamm auch belebende Fluten
brachte, hat sich noch nicht ganz verlaufen. Aber die Gewässer haben sich
geklärt. Man will keine klassizistischen Dichtungen mehr, man null keine
akademischen Bilder, aber man will dein Neuen in der Litteratur und in der
Kunst Raum geben, ohne dem Alten Lebewohl zu sagen, man null das Ori¬
ginale, Gute ganz abgesehen von seiner Zeit genießen. Das ist em gesunder
Standpunkt, er wird von unzähligen geteilt; unzählige freuen sich am Modernen,
wenn es gut ist, und vertiefen sich doch in Goethe »ut lassen sich von kündigen
Interpreten in die klassische Zeit deutscher Litteratur einfuhren.
Mail redet heute so viel von bildender Kunst, man ereifert sich für und wider
mit solcher Leidenschaft, daß man bei der allgemeinen Teilnahme an die Heftigkeit
der alten Kirchenstreitigkeiten erinnert wird. Aber viel zu wenig erinnert man sich
bei dein Schlagwörterwechsel daran, daß es auch eine litterarische Kunst giebt.
Mau urteilt über Dichtungen hinweg, ohne sich der feinen Kunstgesetze. der
Kunstmittel ihres Schöpfers bewußt zu werden. Gewiß ist der Beifall eines
naiven Gemüts für deu Autor die beste Belohnung, aber die Kunst verlangt
allerwärts Studium, was der Meister unter Herzklopfen und Nachdenken er¬
schaffen hat, das sollen wir nachschaffend genießen lernen. Wir Deutschen
sind ja das Volk der edelsten Kunstkritik der Welt, Goethe und Schiller,
Lessing und Neroer sind schlagende Namen, in neuerer Zeit setzen Männer
wie V. Hehl/und E. Schmidt'unsern alten Ruhm fort. Aber woher kommt
uns diese Kunst Sie ist erwachsen aus der gründlichem Beschüftiguug mit
den antiken Poeten; als es außer Klopstock, Ramler, Gellert noch keine
eigentliche deutsche Litteratur gab, sann Lessing, geschult an seinen antiken
Klassikern, über den Aufbau, über die Grundbedingungen poetischer Erzeugnisse
«ach; er erkannte ein Kunstgeheimnis Homers, er prüfte an dieser Norm die
Neuern, und voll des Gelernten schuf der große Knnstdenker Dramen, die sich
bis heute erhalten haben. Aber man versteht sie bis ins einzelne nur, wenn
"wu auch die Muster Lessings kennt. Lessing hat sich, tapfer wie er jeder¬
zeit war. bemüht, die Kunstregeln des Aristoteles zu ergründen- Es ist ihm
'"ehe geglückt, aber geglückt ist ihm der Beweis, wie oberflächlich die Franzosen
den Aristoteles deuteten und befolgten. Gewiß, wir sind über die technologischen
"ut etwas pedantischen Anschauungen des Aristoteles von der Poesie hinaus-
gediehen, aber wir dürfen nicht vergessen, welche ungeheure Bedeutung seine
Lehre für unsre Litteratur gehabt hat.
. Wenn sich Goethe einen Nomeriden nannte, so wissen wir, wen er als
semen Meister bezeichnete. Ein wirklich künstlerisches Verständnis von
«Hermann und Dorothea" ist ohne Römer völlig unmöglich. Es soll hier
natürlich nicht geleugnet werden, daß die Frage, ob sich Goethe und besonders
Schiller in der Nachahmung der Antike nicht zuletzt doch verirrt haben, offen
bleibt; Goethe ist es ja mich schon bei seinen Lebzeiten vorgeworfen worden.
Aber das trifft nicht auf Hermann und Dorothea zu; es ist mit das Deutscheste,
was Goethe, ganz in Homer lebend, geschaffen hat. Wenn aber ein Geist
wie Goethe Befriedigung fand in dem bescheidnen Gefühl, ein letzter Homeride
zu sein, da sollten wir uns doch auch des Ursprungs aller Poesie in unserm
Abendlande wieder bewußt werden. Freilich durfte nur ein Goethe in den
Spuren des Meisters gehn, ohne ein Nachahmer zu werden, nur bei ihm,
dem Größten, vollzieht sich die Verbindung zwischen Deutschem und Griechischem
lebendig; um so tiefer aber dringen wir darum auch durch die Kenntnis des
Griechischen in Goethe ein. Man lese das genannte Idyll in einer Real¬
schule und auf einem Gymnasium: gewiß, unbefangne Gemüter werden den
unendlichen Reiz der Dichtung in sich aufnehmen. Dazu aber braucht es
nicht der Schule. Die Schule aber, hat sie einmal die Deutung der Litteratur
übernommen, muß ihrer Arbeit auch ganz walten. Und halbe Arbeit bleibt
es zuletzt, wein? der Lehrer den Schülern mitteilt, Homer, für sie eine un¬
bekannte Größe, habe hier sehr mitgewirkt. Wie anders aber, wenn der
Schüler, der in seinem Homer lebt, nun für sich selbst die Probe vollzieh»!
kann, selbst für sich die Entdeckungen wiederholt und in gemeinsamer Arbeit
mit dem Lehrer seines Goethe, den er als Ganzes doch kaum zu ahnen vermag,
wenigstens in einem Teile froh wird.
Aber noch viel weiter müssen wir gehn. Wo haften denn überhaupt die
letzten Wurzeln unsrer Poesie, weshalb bezeichnet man die Dichtungsgattung
von Hermann und Dorothea mit dem herkömmlichen Namen Idyll? Der
deutsche Prosaroman ist ein Abkömmling des englischen und des französischen
Romans, der wieder in der italienischen Novelle wurzelt.,, Die italienische
Novelle aber geht durch die Vermittlung der lateinischen Übersetzungen aus
dem Griechischen auf hellenische Vorbilder zurück. Wieviel diese taugen, ist
einerlei, das Original, das von den Griechen erfundne schriftstellerische Genre
ist vorhanden, feine tiefste Wurzel steckt in griechischem Boden.
Jeder Abend im Theater, jedes Schauspiel führt uns hinüber nach Griechen¬
land. Ich bin nicht so thöricht, zu meinen, daß sich mimische Aufführungen
nicht überall von selbst erzeugen können. Aber die Kunstform in unserm
Abendlande ist hellenischen Ursprungs. Wir kennen ein englisches, ein fran¬
zösisches, ein italienisches, ein deutsches, auch ein spanisches Theater. Shake¬
speare und auch der französische Einfluß haben unser deutsches Theater erzeugt-
Aber ohne den römischen Poeten Seneeci hätte sich die Tragödie in keinem
Lande ausbilden können, die Kunstform fand in ihm ihr Vorbild, solange man
die griechischen Tragödien noch nicht kannte. Seneca ist aber ohne die Griechen
nicht denkbar, so frei er sie behandelt, so sehr er sie verwässert; so hat die
griechische Tragödie mittelbar die Kunstform der modernen geschaffen, sie selbst
aber ist ohne Original ursprünglich auf dem Boden ihres Vaterlandes gewachsen-
Fast noch mehr zeigt sich dasselbe Verhältnis bei der Komödie. Das
französische Lustspiel Molieres wird, mag man vieles darin veraltet finden,
mag sein oft burlesker Witz unserm Geschmacke nicht immer zusagen, doch
immer für klassisch gelten; durch Moliere —das wird wohl jedermann zugeben
ist das französische Lustspiel geschaffen worden, und damit mehr oder minder
auch das deutsche. Aber Moliere ist keineswegs ursprünglich, er kennt seine
römischen Komödien gut; eins seiner besten Stücke, I/g.?g.r6, ist die Nachahmung
eines lateinischen Originals, aber die römischen Komödien, deren Bau auf die
deutschen Stücke des Mittelalters, deren Geist auf Moliere gewirkt hat, sind
allzumal Übersetzungen oder Bearbeitungen griechischer Originale. Die schönen
Worte: noirio sum, oder: sum.ro.urli M8 summa injuri», sie sind zuerst ni
griechischer Sprache erklungen. Das bürgerliche Schauspiel ist eine Schöpfung
griechischen Geistes, wieder ohne Original, ursprünglich auf dem Boden von
Hellas erwachsen.
Steigen wir nun einmal im Hause der Poesie ein paar Stockwerke tiefer,
gewissermaßen ins Kinderzimmer. Da tönen uns aus dein Munde der Kleinen
die niedlichen Fabeln mit ihrer trocknen, hausbacknen Moral entgegen. Auch
da säuselt der feine Hauch der griechischen Muse. Die deutsche Kabeldichtung
stammt aus der französischen, die französische ist eine Tochter der lateinischen,
und die Römer übersetzten wie immer so auch hier aus dem Griechischen.
Treten wir, wohin wir wollen, ins Reich der litterarischen Kunst, lesen wir
einen Roman, lassen wir uns von der Tragödie erschüttern, von der Komödie
erheitern, hören wir auf den Kindermund: überall zeigen sich dem Wissenden
uralte Beziehungen, lächelt ihm aus den jüngsten Schöpfungen die ewige
Jugend uralter Kultur. Das ist nicht etwa Nachahmung, Anlehnung an Vor¬
bilder, nichts, was wir der Renaissance, der Humanistenperiode verdanken, das
ist nicht der heute auch von Philologen unnötig verschrieene Klassizismus,
das ist ein geheimes Fortwirken der griechischen Kultur, eine latente, ununter-
brochne Umsetzung, das ist, um es kürzer zu sagen, die Immanenz des hel¬
lenischen Geistes in unserm Denken und Schaffen, von der wir, so modern
wir auch empfinden mögen, uns nicht lösen werden, diesen Zustand hat der
sausende Webstuhl der Zeit selbst geschaffen.
Diesen Zusammenhang kann kein noch so scharfsinniges Menschenwort,
kein frivoler Spott wegleugnen, keine Phhsische Gewalt unterbrechen. Wir
sagen nicht, daß was das Altertum auf dem Gebiete der Kunst geschaffen hat,
unerreichbares Muster bleibe. Die Verhältnisse des Daseins waren damals
einfacher, und einfacher ist auch der Ausdruck dafür gewesen. Mit Recht wird
auch darauf hingewiesen, daß das Altertum keine Historiker wie Ranke hervor¬
gebracht hat, keinen Geist, der wie Treitschke alle Wesensäußerungen einer
Zeit in jedem ihrer Pulsschläge zu spüren versucht hätte; eine Biographie
wie die Wilhelms I. von E. Marcks wäre, so wenig bekannt uns auch die
Biographie des Altertums im ganzen ist, in jener ganzen Zeit unmöglich ge¬
wesen. Aber wieder stehn wir hier am Ende einer langen Entwicklungsreihe.
Von den Griechen, von Thukhdidcs und Plutarch und ihren lateinischen Nach¬
ahmern — denn die Römer haben auch hier alles von Griechenland empfangen —
lernte man Geschichte schreiben, die Kunstformen der Prosa sind von den Hel¬
lenen geschaffen. Daß wir sie übertroffen haben, darf uns uicht undankbar
wachen, um so weniger, als die großen Meister unsrer historischen Litteratur
immer wieder zu den Alten zurückgekehrt sind und sich an ihrer Erhabenheit
erfrischt, von ihrer wuchtigen Einfachheit gelernt haben. Vor noch nicht langer
Zeit hat ein Forscher des Altertums ein Buch über die antike Kuustprosa ge¬
schrieben; er beginnt mit dem sechsten Jahrhundert v. Chr., er schließt, die
Kontinuität dieser Litteratur nachweisend, mit der Renaissance.
Noch einmal sei es gesagt: wir denken nicht daran, ein Litteraturprodukt
aus dem Altertum, nur weil es alt ist, für schön auszugeben, es vorbildlich
M nennen. Das Altertum hat wie unsre Zeit auch schlechte Skribenten hervor¬
gebracht. Genuß hat der unbedingte Klassizismus in frühern Zeiten geschadet,
aber der Schade ist nicht so groß, wie man ihn neuerdings, nachdem ein be¬
deutender Geist einmal das Motiv angegeben hat, im Chöre der Philologen
zu machen sucht. Deun niemand darf leugnen, daß das Griechentum fast auf
Mem Gebiete des Denkens Klassisches geschaffen hat. Ein solches Volk, das
?les nus sich selbst vermag, ist eben ein klassisches, auch wenn wir nicht
leder seiner geistigen Lebensäußerungen dieses Attribut geben werden.
An den antiken, d. h. den griechische» Autoren geschult liest man mit
um so feineren, geweckterm Sinne'das Moderne und prägt sich dessen Schön-
yelten um so tiefer ein. Der große Germanist Müllenhoff riet jedem jungen str-
ömten, sicher oft zu dessen größter Verwundrung, eine» antiken Autor mit
einem guten Kommentar gründlich durchzuarbeiten; erst wenn das geschehn war,
ließ er ihn zu seinen deutschen Übungen zu. Wir leugnen nicht, beiß z. B.
ein Kaufmann, der seinen Dickens, seinen Cervantes mit Behagen liest, ganz
denselben verfeinerten Genuß kosten kann wie der humanistisch Gebildete bei
seinen Klassikern; aber um seinem Dichter recht nahe zu kommen, muß er
eine Gedankenarbeit gleich dem humanistisch Geschulten leisten. Ohne diese
Arbeit ist der Genuß keines Schönen in der Kunst zu erreichen, dazu aber
gehört vor allem die Kenntnis der Sprache des Originals.
Und dann, in welcher Sprache sind uns denn die Worte des Herrn, ist
die Kunde von ihm uns überliefert? Es ist doch kein Zufall, daß das Neue
Testament griechisch geschrieben ist, daß die ganze älteste Litteratur des Christen¬
tums nur in dieser Sprache redet, also daß auch die heidnischen Gegner zumeist
nicht anders als griechisch antworten. Wer könnte das Christentum vom Boden
des Altertums ablösen! Die Männer, die in Wort und Schrift den neuen
Glauben verteidigten, waren zum großen Teil Griechen; in griechischen Sym¬
bolen fand man mystischen Ausdruck für den Namen des Herrn, in den Kata¬
komben Roms herrscht die griechische Sprache. Wer das Griechische aus dem
Gymnasium vertreiben will, der nimmt der Schule auch deu Urtext des Neuen
Testaments. Aber es ist ja übersetzt! Jawohl, übersetzt, durch einen Mann, der
es verstand zu übersetzen, wie niemand vor ihm noch nach ihn?, der aus seiner
Übersetzung ein Litteraturdeukmal geschaffen hat. Aber weder er noch seine
Nachfolger dürfen sich rühmen, das Werk zu Ende geführt zu haben. Wer
kann Paulus in Luthers Übersetzung oder einer neuen wirklich ganz verstehn,
wieviel deutet unsre theologische Wissenschaft noch um ihm herum! Wie gut
ist es da für unsre Gymnasiasten, wenn ihnen nach der Konfirmation in den
obern Klassen der griechische Text in die Hände gegeben wird. Noch erinnere
ich mich deutlich, mit welcher Ehrfurcht ich deu kleinen Tischendorf aufschlug
und nun, mit Verwundrung ein höchst unklassisches Griechisch lesend, alle die
alten wohlbekannten Geschichten, die eindringlichen Sprüche im Original mit
Freuden wiederfand. Und warum will man denn den Schülern, denen hier
das Präparieren verhältnismäßig wenig Mühe macht, die echt deutsche Freude
am tiefeindringenden Nachsinnen, am Grübeln, wie dieser oder jener Satz des
Paulus gemeint sei, nehmen, warum will man sie auf diese Weise zurückhalte«,
des Lehrers Auffassung am Urtexte zu prüfen und wieder ein Stück sonst ge¬
meinsamer Arbeit durch die sx oicklisärg. gegebne Erklärung ersetzen? Es ist
ja doch gerade einer der herrlichsten Vorzüge des evangelischen Daseins, daß
es bei uns nicht Priester und Laien giebt, daß wir die Lehre vom allgemeinen
Priestertum vertreten. Es ist doch der ungeheure Fortschritt der Reformation
gewesen, daß sie die Tradition beiseite schob, beiseite schob die erbärmliche
Vulgata, durch die bisher dein, der die Bibel las, Kunde wurde vou dem Ur¬
sprünge seines Glaubens, daß sie auf die Urtexte zurückging. Wenn wir dieses
Werk jetzt aufgeben, nicht fortsetzen, so erstarren wir. Dann wird sich wieder
eine vornehme Oberschicht bilden, ein Konzil von vielleicht sehr streitsüchtigen
Philologen und Theologen; die mögen dann über die Deutung des Neuen
Testaments ohne Kontrolle beschließen und den Laien ihre Meinung auf¬
drängen. Nein, wir müssen neben der großen Christengemeinde auch noch eine
kleine haben, eine Gemeinde von Kundigen, die es weiß, was es mit dem
Neuen Testament auf sich hat, die es kennt und gern in der Ursprache liest.
Und durch die historische Notwendigkeit dieser Ursprache soll uns die große
Bedeutung des Griechischen für unsre Religion klar werden. Das ganze
jüdische Volkstum war von hellenischer Kultur durchzogen; begeisterte Juden
schrieben griechisch, nicht etwa, um dadurch bessere Propaganda zu machen,
sondern wesentlich, weil ihnen diese Sprache die natürlichste war. So ist es
auch mit Paulus, der nach Christus selbst uns die wichtigste, die anziehendste
Persönlichkeit bleibt. Kein Mensch kann in eiuer andern als in der ihm eigen-
kleinlichen Sprache so etwas Göttliches schreiben wie 1. Korinther 13. Und
diese Sprache, die Ursprache unsers Glaubens, muß immerdar eine Gemeinde,
eine Gemeinde nicht nur von Philologen und Theologen finden.
Es ist bisher ausschließlich vom Altertum die Rede gewesen; ich habe
uuter anderm gezeigt, wie die griechische Antike in römischer Übertragung durch
das Mittelalter hindurch auf unsre Zeit gewirkt hat. Aber diese Kontinuität des
Griechentums hat noch eine andre Seite. Als das römische Reich im Westen
vor den Germanen zerfiel, da blieb der Name Roms nur noch ans die Ost¬
hälfte beschränkt. Man ist gewohnt, uuter den Byzantinern etwas ganz ver-
kommnes zu verstehn, das Wort Byzantinismus enthält, hente schon in seiner
Ableitung für viele ganz unverständlich, einen verächtlichen Sinn. Aber die
Kultur des griechisch redenden Ostens war vermöge ihres Alters für den mehr
oder minder barbarischen Westen durchaus maßgebend. Wenn auch durch
längere Strecken halbbarbarischer Zeiten unterbrochen, herrschten hier doch Wissen¬
schaft und Kunst; die alten Autoren fanden pietätvolles Studium, eine unge¬
heure neue Litteratur wuchs heran. Von solcher Produktion, solcher Kunst-
übung war der Westen noch weit entfernt. Aber er lernte hier. Der byzan¬
tinische Geschmack bestimmte die Hoftracht der deutschen Kaiser, die Kunst des
Ostens, die noch immer, wenn auch uoch so steif und hölzern geworden, von
antiker Überlieferung lebte, beherrschte die des Westens, noch in Cimabue er¬
kennt man die byzantinische Schule. Vollends ist ja Rußland, das seine
Religion von Byzanz empfangen hat, eine Domäne des römischen Östreichs.
Und endlich, was hat dieses früher so vielfach verachtete Ostreich gethan,
um in einem achthundertjührigen Kampfe ein Bollwerk gegen den Islam zu
sein! Erst mit dem Falle Kvustnntiuopcls wurde die orientalische Frage
dringend für den Westen. Bis dahin schützte dieses Bollwerk griechischer
Kultur, die Stadt, in der die Pflege der reinen antiken Sprache Ehrensache
für die Gelehrten war, in der eine nie unterbrochne Tradition bis zum
Jahre 1453 herrschte, die abendländische Gesittung vor der Barbarei der
Orientalen. Und wie innig verwachsen mit dieser Kultur die des Westens
ist, lehrt nicht zuletzt eine Tradition, die man vielleicht für ein urdeutsches
Sngenvermächtnis unsers Volkes hält, die Sage vom wiederkehrenden Kaiser.
Wir kennen alle die Kyffhäusersagc; sie ist heute fast ein integrierender Be¬
standteil unsrer patriotische!! Festreden geworden. Aber ihre letzten Wurzeln ruhen
im byzantinischen Boden; der schöne deutsche Mythus mit seinen Nebenzttgen
ist erzeugt dnrch die griechisch-mittelalterlichen Vorstellungen von einem End¬
kaiser, der das Sehnen seines Volkes dereinst stillen soll/
Wir können hier nicht das Thema erschöpfen, was uns die Kultur des
Volkes bedeutet, in dessen Sprache Homer sang, Äschylvs dichtete, Platon
schwärmte, Paulus predigte, und das mittelalterliche Volk des Ostens sich wunder¬
same Mnreu zuraunte vom Ende der Dinge. Man könnte eine Zeitschrift
gründen, die manchen Jahrgang erleben würde, um nur zu sagen, was die
Griechen geleistet haben. Noch haben wir ganz und gar nicht unser Augenmerk
auf die Philosophie der Griechen, auf die ewigen von ihnen gefundnen sittlichen
Wahrheiten, auf die exakten Wissenschaften, auf die von den Griechen gefundnen
besetze des Daseins gerichtet. Aber das Gesagte möge genügen; denn so
wichtig es ist, zu sehen, wie scharf die Griechen die Welt um uns erkannten
und zu studieren suchten, wie ihnen der Sinn für die vielberufne voraussctzuugs-
wse Wissenschaft zu allererst verliehen worden ist, so haben doch die von den
Griechen gemachten Entdeckungen nur historischen Wert, gegcbnenfalls auch
vwaktischen, indem sie uns lehren sollen, bei der Betrachtung der Leistungen
Mer Zeit nicht zu vergessen, wie weit die Hellenen mit unvollkommnen Mitteln
gediehe,! sind. Es ist in unsern Tagen von dem berühmten Philologen
^llamowitz-Möllendorff ein griechisches Lesebuch erschienen, das Lesestücke aus
der Geschichte, der Philosophie, der religiösen Betrachtung, der Mathematik,
der Technik der Griechen enthält und so den Beweis liefert, was überall von
diesem Volke geleistet worden ist. Man kann leider von einem solchen:
Werke befürchten, daß es zu einer Art Propaganda benutzt wird. Propaganda
aber bleibt gegenüber der mit Recht oft kritisch denkenden Jugend der obern
Klassen ein etwas gefährliches Ding. Es kann hier wie mit dem Patriotis¬
mus gehn. Die stete begeisterte Hervorhebung dessen, was unser Volk ge¬
schaffen habe, begegnet leicht, wenn nicht dem Unglauben, so doch dem kritischen
Zweifel, den wir nicht hinweg pädcigogisiercn können noch dürfen, den wir nnr
durch die ruhige Vorführung der Thatsachen im voraus widerlegen können.
So könnte es auch hier gehn. Je weniger aber die reifern Schiller eine Tendenz
merken, desto mehr wird sie die Gewalt der Thatsachen überzeugen. Eine
Wissenschaft aber, deren moderne Fortschritte ihnen in der Mathematik- und
der Phhsikstunde vor die staunenden Augen geführt wird, historisch zu begreifen,
ist die Mehrzahl noch nicht imstande: das vermögen ja nicht einmal alle Er¬
wachsenen. Aber das kann jeder Schüler begreifen, was in unsrer Kultur von
der antiken lebt. Das sind nicht nur die neu auf die mittelalterliche Anschauung
gepfropften Reiser des Humanismus, die etwas hypertrophisch gewachsenen
Blüten eines historisch betrachtet durchaus unverüchtlichen Klassizismus, das
ist vielmehr Saft und Trieb innerhalb der mittelalterlichen, innerhalb auch
der modernen Kultur, die Versetzung altgriechischer Kraft, das ist innerhalb
unsrer Kultur das Fortleben der hellenischen Kultur. Der Genius eines
Volkes aber, das solches geschaffen hat, redet nur im Nnturlaut seiner Sprache,
die er selbst erzeugt hat: diese Sprache aber verbannen heißt nicht etwa nur
eine reine Quelle des Schönen verstopfen, ehe man auf anderm Gebiete be¬
lebenden Trank gefunden oder mühsam erbohrt hat, sondern heißt die Quelle
unsrer Kultur überhaupt verschütten.
rudchen Leverkühn war ein hübsches, junges, strebsames Mädchen. Sie
war mit Pensionsberechtigung angestellte Lehrerin an der städtischen
Bürgerschule und bewohnte eine Mansardenstube vier Treppen hoch
in Aftermiete bei einem Schuster. Diese Wohmmg, die vier Treppen,
und der Schustergeruch, der gar nicht fern zu halten war, und der
jedesmal vom Vorsaal herein quoll, wenn die Thür geöffnet wurde,
waren der schwarze Punkt ihres Lebens. Sie hatte gethan, was sie konnte, ihre
„Bude" zu verschönern, sie hatte alle ihre Ersparnisse in hübschen Möbeln angelegt
und die Wände mit Bändern, Brandmalerei und Kerbschnitzwerten verziert, aber
hatte es dadurch nicht ändern können, daß die Wände schief und die Tapeten ver¬
räuchert waren. Und sie hätte doch gar zu gern ein wenig Komfort um sich ge¬
sehen, wie sie es aus der Zeit, wo ihr seliger Vater noch lebte, gewohnt war. Aber
konnte sie mit ihren neunhundert Mark hoffen, je eine Wohnung zu finden, wie ste
sie gern gehabt hätte? und mußte sie nicht Gott danken, daß sie wenigstens eine
sichere Lebensstellung gewonnen hatte?
Dies hatte sich Trudchen Leverkühu wieder einmal gesagt, und darauf hatte
sie sich resigniert ihren Studien zugewandt.
Vor ihr lag aufgeschlagen: F. W. Grcmduers Nationalökonomie auf rechnerischer
Grundlage. Man fragt: Was hat Triwcheu Leverkühu, die alle Monate ihre fünf-
undsiebzig Mark auf der Stadtkasse bar und richtig erhob und in der Zwischenzeit
ihre Mädchen im Lesen und Schreiben unterwies, mit Nationalökonomie zu thun?
Aber mau würde mit dieser Frage den wissenschaftlichen Bildungstrieb der Schüle-
rinnen des Reicheuauschcu Seminars unterschätzen. Der Direktor dieser Anstalt hatte
es verstanden, bei seinen Schülerinnen eine» wahren Bildungshunger zu erwecken.
Sie Ware» an der Hand des Meisters eingetreten durch das so vielen verschlossene
Thor der höhern Wissenschaft und hüllen Metaphysik und mathematische Psychologie
studiert. Trudchen Levertnhn fürchtete sich auch uicht vor einer Nationalökonomie
auf rechnerischer Grundlage. Und da die Nationalökonomie nun einmal zeitgemäß
war, so studierte sie sie mit Eifer.
Es ist wahr, das Buch war sehr gelehrt. Der Verfasser behandelte die wirt¬
schaftlichen Erscheinungen als Kräfte. Er brachte alle diese Kräfte auf Krafteinheiten
und rechnete mit ihnen unter Zugrundelegung des Gesetzes vom Parallelogramm
der Kräfte. Alle wirtschaftlichen Hemmungen und Störungen erklärte er aus der
Divergenz der wirtschaftlichen Kräfte, dagegen lehrte er den Parnllelismns der Ziele
und kam zu dem Resultate, daß das Heil der Welt in der Koalition liege. Bei
dieser Zusammenfassung der Kräfte ergab sich nun, wie rechuerisch nachgewiesen
wurde, ein Ersparnugskoeffizient von 0,8505. Wenn also der Jahresverbrauch einer
Person, so wurde gezeigt, durchschnittlich 302,17 Mark beträgt, so haben zwei Per¬
sonen, um zu derselben Kraftwirkung zu kommen, zwei Jahresbeträge, also 604,34 Mark
multipliziert mit dem Erspnruugskvefsizieuteu 0,8505, also nur 513,191170 Mark
zu verwenden, drei Personen 771,000955 Mark. Es würden demnach drei Personen
soviel wirtschaftliche Kraft entwickeln, als wenn sie statt 906,51 Mark 1065 Mark
hätten.
Großartig! Wirklich großartig! Was die Wissenschaft heutzutage vermag, ist
enorm! Zwar war uicht recht einzusehen, wie der Versasser zu seinen Nechuungs-
unterlagen gekommen war, aber ausgerechnet hatte er unzweifelhaft richtig, bis auf
die sechste Dezimalstelle.
Hierauf ging der Verfasser zu geschichtlichen Betrachtungen über, nämlich zu
einer Historie der Koalition, die er von dem wirtschaftlichen Betriebe der alt-
testamentlichen Patriarchen über die altgrichischen Syzygien, über das mittelalter¬
liche Mimchswesen bis zu den Volksküchen, zu den Kvusumvereinen, den Klubhäusern
old dem amerikanischen Hotellebeu der Gegeuwcirt verfolgte. Das Resultat war dies:
die natürlichste und erfolgreichste, weil auf strengem Parallelismus der Ziele ge¬
gründete Koalition sei die Ehe.
Hier schlug Trudchen Levertuhu unmutig das Buch zu, schlug auf den Tisch
und sagte: Zum Kuckuck, wenn ich hätte heiraten wollen, so hätte ich nicht nötig
gehabt, so viel zu studieren. Dann hätte ich die Ermittlung des Ersparuugskoeffi-
zienten meinem Manne überlassen und Suppen koche» können.
In diesem Augenblick wurde nach heftigen: Anklopfen die Stnbenthiir aufge¬
rissen, und eine junge Dame, groß, männlich und mit kurzgeschnittenem Haar trat
im Theaterschritte herein, während eine Welle Schustergeruch nachflntete.
^b! ?mMo! saug sie. Es waren die ersten Töne der großen Konzert- und
Schreiarie, mit der sie in der Philharmonie in Berlin Erfolg gehabt hatte. Darauf
ließ sie sich auf den nächsten Stuhl niederfallen, schlenderte ihren Hut in irgend
eine Ecke und rief: scheußlich!
Was ist denn scheußlich? fragte Trudchen.
Es ist einfach zum rasend werden. Man kann singen wie die Lilli Lehmann und
unterrichten wie die Marchesi, es hilft alles nichts. Meine vier Treppen steigen die
Göre» uicht hinauf. Also wieder nichts. Aber ich kann mir doch keine herrschaft-
liebe Wohnung im ersten Stocke mieten! Das wirfts nicht ab. Nein, es ist scheußlich!
scheußlich!
Fräulein Gross! (eigentlich hieß sie Große), entgegnete Trndchen etwas altklug,
das erste ist, daß Sie sich abregen, und dann lassen Sie uns die Frage methodisch
anfassen. Die Wissenschaft — '
Ich bitte Sie um Gottes willen, unterbrach sie die Sängerin, bleiben Sie
mir mit der Wissenschaft vom Leibe.
Erlauben Sie, sagte Trudchen. Unterschätzen Sie die Wissenschaft nicht. Wissen
Sie zum Beispiel den Wert der Koalition zu schätzen? Die Koalition ist die wirt¬
schaftliche Kraft des zwanzigsten Jahrhunderts.
Ich soll mich wohl mit der Rechenberg-Zeising koalisieren? Es ist schlimm
genug, daß ich, anstatt auf den Hohen der Kunst zu wandeln, zu denen ich mich
berufen fühle, mein Brot mit Singstunden verdienen muß, aber vor dieser schander-
haften Person, der Rechenberg-Zeising, zu Kreuz kriechen — niemals. Nein, lieber
sterben als das!
Trudchen wurde immer erhabner. Sie ließ die Freundin austoben, kam auf
ihre Wissenschaft zurück und sagte im Lehrton: Der durchschnittliche Lebensunterhalt
einer Person beträgt bekanntlich 302,17 Mark —
Damit käme ich nicht aus, schaltete die Sängerin ein —
Ich auch nicht, fuhr Trndchen fort, aber der wissenschaftliche Wert ist nun
einmal 302,17 Mark, für zwei Personen sind es 513, für drei 771 Mark. Das
giebt ein Ersparnngsverhnltnis von — ich weiß nicht mehr, wieviel. Egal, es ist
jedenfalls ganz riesig. Einzeln stehende Damen sollten sich also koalisieren. Wissen
Sie, Fräulein Grossi, wir sollten uns zusammenthun, eine Wohnnngsgenvssenschast
gründen und eine Familieuwohnung zwei Treppen hoch mieten. Das kostete weniger,
als wir beide einzeln zahlen, ich hätte ein hübsches Heim, und Sie kriegten Schüle¬
rinnen. Und wenn es zu zweien noch nicht reicht, so koalisieren wir uns zu dreien.
Fräulein Grossi staunte. Als sie den Plan begriffen hatte, sprang sie ans,
holte ihren Hut aus der Ecke, stülpte ihn ans den Kopf und sagte: Kommen Sie,
wir mieten uns eine Wohnung.
Aber heute abend doch nicht mehr, erwiderte Trudchen.
Das war richtig; für heute abend war es zu spät, dagegen noch Zeit genug,
den Plan gründlich zu überlegen. Die Sängerin blieb also den Abend dn. Man
trank viele Tassen Thee und stellte als ausgemacht fest, daß, wenn man in ge¬
dachter Weise eine Wvhnungsgenossenschaft gründe, kein Anlaß vorhanden sei, zu
heiraten oder Familienanschluß (schrecklich!) zu suchen. Und so schwur man sich
zum Schlüsse zu einem Rütlibnnde ein, umarmte sich und trank bei Thee Brüder¬
schaft. Es war ein herrlicher Abend.
Am nächsten Mittag sagte Lieschen Probst zu ihrer Mama: Mama, aber
heute war Fräulein Leverkühn zu komisch. Sie hat immer gelacht. Und in der
Zwischenstunde hat sie mit uns getanzt. Und dann hat sie uns gefragt, ob wir
wüßten, was eine — Koh — Kvhlv—unzi oder so etwas sei — ich weiß nicht mehr.
Es war was von .Kohl drin — Und da hat Emmi Ninklebeu gesagt, eS wäre
eine Verlobung. Und da hat sie Fräulein Leverkühn geküßt und gesagt, es wäre
noch etwas viel schöneres als eine Verlobung. So dumm. Als wenn es was
schöneres gäbe!
Währenddessen standen zwei junge Damen draußen auf der Straße und be¬
trachteten das zweite Stockwerk des Hauses, wo in einem Fenster der bekannte
Vermietungszettel zu sehen war. Man sah ihnen äußerlich nicht an, wie unent-
schlossen sie innerlich waren, und wie eine heimlich zur andern sagte: Geh dn doch.
Es war Trudchen Leverkühn und Eleonore Grossi. Da sich nun herausstellte, daß
die Sängerin trotz ihrer dramatischen Haltung die schüchternere war, so ging
Trudchen voraus. " Man klingelte, man ließ sich von Lieschens Mutter die Woh¬
nung zeigen, man fand sie wunderschön und auch nicht zu teuer. Aber sie war
eins eine Genossenschaft von drei Personen berechnet. Gut, so nehmen wir eine
dritte hinzu, sagte Trudchen. Die Vermieterin drang darauf, sich bald zu ent¬
scheiden, da noch andre Herrschaften — und so weiter —, und so entschloß sich
Trudchen Leverkühn kurz und mietete die Wohnung.
In dieser Stunde begannen die Sorgen. Es war nicht so leicht, wie sie
gedacht hatte, eine dritte Teilnehmerin zu finden. Ein Konfektioneuse oder so etwas
durfte es doch nicht sein. Und ans die Anzeige im Blatte meldeten sich nur wenig
Reflektanten. Endlich nach endlosen Verhandlungen und vielen Enttäuschungen,
und nachdem Trudchen, weil sie doch die Wohnung gemietet hatte und also die
Verantwortung trug, schon ganz nervös geworden war, endlich fand sich eine dritte
Teilnehmerin, ein Fräulein Scherbitz, eine an der Hauptpostkasse angestellte Dame,
die glücklicherweise nicht Uniform trug, aber so steif war, wie mau es von einem
ordentlichen Kassierer nur verlangen konnte. Man teilte also die Wohnung nnter
sich und behielt eine Kammer und die Küche übrig für den dienenden Geist.
Neue Sorgen. Genusse alte Damen, die als maßgebende Personen angesehen
werden müssen, und die von der Genossenschaft gehört hatten, erklärten, es sei
unpassend, daß drei junge Mädchen allein und unbeschützt eine eigne Wohnung
bezögen. Trudchen entrüstete sich, redete von unwürdiger Sklaverei, in der das weib¬
liche Geschlecht gehalten würde, und fragte, warum man denn für die Studenten keine
Anstandsdamen hielte, die brauchten es nötiger als sie. Aber was half es? Gegen
Vorurteile kämpfen Götter selbst vergeblich. Eine Hnnsdame zu engagieren verbot
der Ersparuugskveffizieut, aber man konnte ja eine alte Köchin anstellen. Ging
wieder nicht, denn es war unmöglich, die verschiednen Interessen zu vereinige».
Trudcheu konnte nur zwischen zwölf und zwei Uhr essen. Fräulein Scherbitz hatte bis
fünf Uhr Dienst, und Eleonore Grossi wollte sich überhaupt an keine bestimmte
Zeit binden.
Da erblühte unerwartet ein großes Glück. Von gewisser tantenhafter Seite
wurde auf Jungfer Antonie, gemeinhin die berühmte Antonie genannt, aufmerksam
gemacht. Besagte Antonie war bei dem Herrn Schloßprediger fünfunddreißig Jahre
im Dienste gewesen und hatte ihrer Zeit jenachdem als Cerberus oder Mittels¬
person eine große Rolle gespielt, ja sie hatte zu den Stützen der Schloßgemcinde
gezählt, solange nämlich, als der Herr Schloßprediger lebte. Als dieser gestorben war,
»ut man sich um andre Sonnen sammelte, wurde die zuvor unentbehrliche Antonie
schnöde beiseite gesetzt, was ihr einen großen Schmerz bereitete und sie ver¬
anlaßte, ihre Meinung von dem Werte der Mitwelt sehr herabzusetzen. Also dieses
Juwel wurde den drei Koalisierten vorgeschlagen. Trudchen^ suchte klopfenden Herzens
das Juwel ans und fand es in einer Bodenstube eines Hinterhauses Kaffee trinkend.
Sie trug ihr Anliegen vor und fand Erhörung. Nur eine Bedingung stellte
Antonie, es müsse ihr erlaubt sei», alle Missions- und Bibelstunden zu besuchen.
Dies wurde bereitwilligst zugestanden; aber Antonie erweiterte die Erlaubnis aus
eigner Machtvollkommenheit auch dahin, zu allen Trauungen von Bedeutung nud zu
allen Begräbnissen von dritter Klasse an gehn zu dürfen. Sie war also reichlich
viel abwesend.
Man zog ein. Jungfer Antonie erhielt ihre Kammer und ihre Küche, wofür
sie die Verpflichtung hatte, gewisse häusliche Arbeite» zu verrichten und die Aufsicht
über das Logis zu führen. Trudchen verwandte die freie Zeit einer ganzen Woche
dazu, ihre Zimmer zu einem Schmuckkästchen zu machen, Fräulein Scherbitz be¬
handelte ihr Zimmer geringschätzig, stellte ein paar alte eckige Möbel hübsch
ordentlich hinein und war fertig. Und Eleonore Grossi war sehr aufgeregt und
machte viele Umstände, bis ihr Flügel endlich den richtigen Standpunkt gefunden
hatte. Dann setzte sie sich hin, sang Wagnersche Töne und ließ alles stehn und
liegen, wie man es hineingetragen hatte. Hierauf erschien die berühmte Antonie,
einen laugen Strickstrumpf in der Hand. Sie blieb in der Thür stehn, sah sich
die Unordnung mit mißbilligenden Blicken an und sagte: Fräulein, das mich ich
Ihnen aber sagen: Bei Ihnen sieht es ja aus, wie in Sodom und Gomorrha.
Beim seligen Herrn Schloßprcdiger wurden immer erst die Strümpfe weggethan
und dann gesungen.
Eleonore Grossi nahm keine Notiz von der Vermahnung, Worauf sich An-
tonie mit ihrem Strickstrumpfe zu Trudchen Leverkuhn begab und sie für die Unord¬
nung bei ihrer Freundin verantwortlich machte. Bei Schloßpredigers hätten sie
jeden Morgen allemal erst Buße gethan, und dann hätte kein Mensch die Strümpfe
auf dem Klavier liegen lassen dürfen. Was wollte Trudchen Leverkuhn machen?
Sie begab sich zu ihrer Freundin und stiftete Ordnung. Was ihr jedoch immer
nur auf kurze Zeit gelang, denu Eleonore Grossi war gar zu genial und nicht
dazu zu bringen, früh nach dem Kaffee allemal erst Buße zu thun.
Man konnte unmöglich das große Ereignis des Einzugs vorüber gehn lassen,
ohne ein Einzugsfest zu feiern. Nach langen Verhandlungen fand sich ein Abend,
der alleu Beteiligten paßte. Trudchen Leverkuhn hatte die Rolle des Familien-
Hauptes übernommen. Sie hatte ihre Stube besonders schon geschmückt. Man sah
eine bekränzte, dnrch Brandmalerei hergestellte Tafel, auf der die Zahl des Ersparungs-
toeffizienten 0,8505 prangte. Darunter lag F. W. Grandners Nationalökonomie
auf rechnerischer Grundlage, und rechts und links davon standen die Photographien
von zwei Professoren, die vielleicht in entfernter Weise mit der Sache in Ver¬
bindung gebracht werden konnten. Für Theegebäck war reichlich gesorgt, auf dem
stummen Diener sang ein ansehnlich großer Theekessel, den Trudchen Leverkühns
Mama gestiftet hatte. Um acht Uhr erschienen feierlich die beiden Geladnen, fünf
Minuten darauf Jungfer Antonie ungeladuerweise. Man sah sich unwillig an
und flüsterte sich zu, was denn die Person wolle, aber niemand wagte es, ihr zu
sagen, daß sie nicht willkommen sei. Der Abend war zu schön, als daß man ihn
sich durch so eine Person hätte verderben lassen sollen. Man ließ sie ihre läng¬
lichen Geschichten von dem seligen Herrn Schloßprediger erzählen und trank viele
Tassen Thee. Sogar Fräulein Schcrbitz laute ans und steckte sich eine Zigarette
an. Zuletzt erhob sich Trudchen Leverkuhn, hielt eine Rede über die Notwendigkeit
der Zusammenfassung der Kräfte, über die Bildung von Familien der Unver¬
heirateten und schloß mit einem Hoch auf die Freiheit.
Jungfer Antonie sah währenddessen mit mißbilligender Verwundrung von
der einen zur andern und sagte, ohne mit ihrer Theetnsse mit anzustoßen: Die
Freiheit ist nämlich vom Teufel.
Was ist? fragte man lachend. Die Freiheit ist vom Teufel?
Ja, erwiderte die berühmte Antonie, angelegentlich auf ihren Strickstrumpf
schauend, so sagte der selige Herr Schloßprediger. Und daß ichs nun sage, niemals
ist beim Herrn Schloßprediger bis Glocke elf Thee getrunken worden, und niemals
hat man mit den Theetassen auf dem Teufel sein Reich angestoßen.
Die jungen Mädchen hätten zerknirscht sein müssen, sie waren es aber nicht,
sondern sagten sich vergnügt Gute Nacht und wünschten der Jungfer Antonie, daß
sie vom Teufel träumen möchte. Dies hatte zur Folge, daß Jungfer Antonie deu
ganzen folgenden Tag eine strenge Miene machte, und daß sie noch weniger als
sonst geneigt war, zu hören, wenn man etwas von ihre wollte.
So war also das große Werk gelungen. Wenn sich Trndchen, nachdem sie
ihren Unterricht beendet und ihre Hefte korrigiert hatte, mit einem guten Buche in
der Hand auf dem gemeinsamen Balkon in ihren Triumphstuhl setzte, so that sie
es rin dem Selbstbewußtsein des kleinen Klaus im Märchen, als er mit sechs
fremden Pferden pflügte und rief: Hu, alle meine sieben Pferde. So hatte sie
sichs in ihren kühnsten Träumen gedacht. Heil der Wissenschaft, Heil dem Er-
sparungskoeffizicnten! selbständig, unabhängig und doch nicht vereinsamt oder vier
Treppen hoch in die Sphäre vo» Schustern verbannt! Dies war ein Teil der
Lösung der Frauenfrage. Es genügt doch nicht, der Frau einen selbständigen
Beruf zu schaffen, man muß die selbständigen Frauen zu Familie» zusammenfassen,
zu Familien Gleichberechtigter, nicht zu Zwangsanstalten, in denen der Hausherr
kommandiert. Es war unbegreiflich, wie man diese Zwangsanstalt als den° Kinunel
auf Erden preisen konnte, und wie sich so viele Mädchen nichts bessres wünschten
als dies. Nein, Trndchen Leverkühn lobte sich ihre goldne Freiheit. Und so sah
sie mit überlegnem Wohlwollen auf ihre Kolleginnen herab, wenn sie unten aus der
Straße vorübergingen, ohne eine Ahnung zu haben, wie gut sie es haben könnten,
wenn sie Nationalökonomie auf rechnerischer Grundlage verstünden, und mit be¬
dauerndem Mitleid ans Frau Rektor Heinrich, wenn sie mit ihrer Kinderschar aus¬
zog. Man sah es allerdings der Frau Rektor an, das; sie eine schwere Last zu
schleppen hatte. Wenn aber Herr Gustav Vulpins mit einer Blume im Knopfloche
vorüberkam und schüchtern heraufgrüßte, so nahm sie eine wahrhaft erhabne Miene
um und dankte mit großer Zurückhaltung. Was fällt dem Menschen ein? sagte sie
zu sich. Fällt mir gar nicht ein, meine goldne Freiheit aufzugeben. Und überhaupt,
ein Seifensieder, wenn er anch ein ganz anständiger Mensch ist. Habe ich darum soviel
studiert, daß ich zuletzt Frau Seifensieder Vulpius werden sollte?
Auch die beiden andern Teilhaberinnen der Genossenschaft waren zufrieden.
Fräulein Eleonore Grvssi bekam Schülerinnen, und Fräulein Scherbitz rühmte sich
bor ihren Kolleginnen der nobeln Lage ihrer Wohnung, rauchte zu Hanse Zigaretten
und rückte ihre Stühle in eine tadellose Reihe.
Nur war der Himmel dieses Glückes doch nicht ganz wolkenlos. Jungfer
Antonie war nicht dazu zu bringen, die Küchenthür zu schließen, und so gab es
auf dem Korridor allerlei ordinäre Gerüche, was Trndchen durchaus nicht leiden konnte,
und was sie uur zu sehr an den Schuster im vierten Stock erinnerte. Jungfer
Antonie war zwar ihren eignen Reden nach ein Juwel, aber in Praxi ließ sie es doch
sehr an der Erfüllung ihrer Obliegenheiten fehlen. Zum Beispiel ans die Leiter steigen
und Fenster Putzen, das gab es nicht, das verbot ihr die Schamhaftigkeit durchaus.
Wer Putzte denn aber bei Oberpredigers die Fenster? fragte Trndchen.
Das that die Minna. Diese war aber ein Weltkind, entgegnete Antonie.
Auch hielt sie es für unziemlich, wenn Fräulein Grossi Hoiahoh und Hojottohoh
sang — sie übte die Walkürenszene —, das seien unchristliche Töne, und bei Schloß-
Predigers sei so etwas nie gehört worden. Oder wenn Fräulein Scherbitz eine
Zigarette rauchte, oder wenn sich Trudcheu vor alleu Menschen draußen ans der
Straße in den Trinmphstnhl legte. Ja, diese Antonie fing an, eine wahre Thraunei
nusznüben, überall zu schulmeistern, in alles ihre Nase zu stecken und so zu thun,
mis wenn sie die Hauptperson im Hanse sei. Und wenn man ihr etwas sagte, so waren
ihre Ohren und ihr Verständnis gänzlich verschlossen. Was aber dabei das übelste
war, jedes der drei jungen Mädchen versteckte sich hinter dein andern. Eleonore Grossi
wütete, wenn sie mit den andern allein war, wenn sie aber der Antonie entgegen¬
treten sollte, verlor sie alles Walkürenhafte, Fräulein Scherbitz lehnte die Zumutung,
für die andern einzutreten, kühl ab, sie halte sich nicht für berechtigt, sich in die
Angelegenheiten andrer einzumischen, und Trndchen Leverkühn dachte seufzend um
ihren seligen Papa, der kurzen Prozeß gemacht haben würde. Und so kam man
nicht über einige bescheidne Vorstellungen hinaus, die auf die berühmte Antonie,
wie gesagt, gar keinen Eindruck machten. Und es zeigte sich die merkwürdige Ano¬
malie, daß der strenge Parallelismus von drei Kräften keinen Kraftzuwachs brachte,
oder mit andern Worten, daß drei junge Mädchen zusammen immer nur drei Hasen
blieben.
So verging ein Vierteljahr. Die Miete mußte bezahlt werden, was Trudcheu
Leverkühn, die den Mietkontrakt unterzeichnet hatte, zu vermitteln hatte. Fräulein
Scherbitz war die Pünktlichkeit selber gewesen. Aber die Grossi ließ nichts von
sich sehen. Schon war Mittag vorüber. Man blamierte sich tödlich, wenn die
Miete nicht auf die Minute bezahlt wurde. Trudcheu zitterte scho« vor Ungeduld.
Es blieb nichts andres übrig, als die säumige Freundin zu erinnern. Eleonore
Grossi that sehr unbefangen. Sie habe ebeu den kleinen Betrag nicht flüssig. Auch
habe die Sache ja keine Eile. Die Sache habe große Eile, erwiderte Trudchen
entrüstet, und sie wenigstens hätte keine Lust, sich vor Probsts zu blamieren.
Dann möchte man die Kleinigkeit auslegen, sagte Eleonore.
Fräulein Scherbitz lehnte mit kühler Bestimmtheit ab, für irgend jemand Ver¬
pflichtungen zu übernehmen. Was war zu thun? Trudcheu mußte in die eigne
Tasche greifen und die Miete auslegen.
Und diese Korridorglocke! Sie konnte einen Menschen nervös machen. Fort¬
während klingelt es. Streichhölzer zu verkaufen, ein Weinrcisender, ein Mausefallen-
mauu, Strohdecken, Gott weiß, wer da alles kam. Und diese Bettler! In den
vierten Stock gelangten sie nicht so leicht, nud wenn einer sich einmal so hoch ver¬
stiegen hatte, dann war er dem Schuster in die Hände gefallen, der ihn mit Hurra
wieder hinabschaffte. Aber hier — es war, als wenn sie es gewußt hätten, daß
hier drei alleinstehende Damen wohnten. Sie wußten es auch wirklich. Denn
draußen um der Wand des Treppenhauses standen drei Dreiecke eingekratzt, was
in der Hieroglyphenschrift der Lumpen bedeutet: Hier giebts nur drei Frauen. Und
so kamen sie in Scharen und waren, wenn sie einmal in den Korridor eingedrungen
waren, nur mit äußerster Mühe wieder hinauszuschaffen. Und nie war es genug,
was sie kriegten, und immer war das Ende eine große Schimpferei.
Das war ja nnn zwar lästig, wäre jedoch noch zu ertragen gewesen, aber
man las in der Zeitung, daß Mord- und Raubanfälle in der Stadt auf einzeln
stehende Damen, Lehrerinnen, Beamtinnen und Reutncrinneu verübt worden seien.
Aller acht Tage wurde ein neuer Fall berichtet. Das war ja schrecklich. Neulich
war keine drei Häuser weit ein Kerl bei einer alten Dame eingedrungen, und wer
weiß, was geschehn wäre, wenn nicht glücklicherweise der Schornsteinfeger hinzu¬
gekommen wäre, der dem Mörder mit dein Besen über den Kopf gehalten hatte,
ihn aber doch nicht dingfest hatte machen können.
Unsre drei Wohnnngsgcnossenschafter fürchteten sich nicht, Gott bewahre, aber
sie erschraken doch jedesmal, sobald die Thürglocke erklang. Es müßte doch scheußlich
sein, so in der Blüte der Jahre von so einem Mörder abgemurkst zu werden.
Und drei alleinstehende Damen in einer Wohnung ohne männlichen Schutz, das
mußte doch zu einem Mordanfnlle förmlich herausfordern. Geht es denn wirklich
nirgends in der Welt ohne diese Männer?
Wozu hatte man aber die berühmte Antonie ins Haus genommen? Wozu
ertrug man ihre Tyrannei und Schnlmeistereien nud Küchengerüche, wenn nicht dazu,
daß sie das Haus beschützte? Aber die berühmte Antonie war nie da, wenn man
sie brauchte. Antonie war sozusagen christlich-vergnügungssüchtig. Sie mußte früh
bei jeder Trauung sein und mit Gleichgesinnten die Kleider der Braut und der Braut¬
jungfern besprechen, sie mußte nachmittags bei jedem Begräbnis zur Bildung des
Franenchors beitragen, sie durfte abends bei keiner Missivnsstunde fehlen und mußte
sich je nachdem für das Heil der Kaffern oder der Papuas begeistern, da konnte so
natürlich nicht zu Hause auf die Thür achten.
Ja, was noch schlimmer war, sie ließ selbst die Thür regelmäßig offen steh».
Erst neulich war ein Mensch bis in die Stube von Fräulein Scherbitz vorgedrungen.
Fräulein Scherbitz war bis auf den Tod erschrocken, und es war nicht auszudenken
gewesen, was hätte geschehn können, wenn nicht in diesem Augenblicke das Hoiottoho
einer Walküre aus dem Zimmer von Fräulein Grossi erklungen wäre.
Nun aber machte man der Jungfer Antonie ernste Vorstellungen.
Na, was deun? erwiderte das Juwel, bei Schloßpredigers wurde die Thür
nie zugeschlossen. Der selige Herr Schlvßprediger — ach Gott, was war das für
ein Mann! — sagte immer, es ist Sünde, sagte er, wenn man die Thür zuschließt-
Und daß ich es Ihnen nur sage, Sie haben alle kein rechtes Gottvertrauen, sonst
würden Sie sich uicht so haben.
Sprachs, ging zu einem Begräbnis erster Klasse mit Marschällen und dein
großen Leichenwagen und ließ die Thür wieder offen stehn.
Das waren, wie gesagt, dunkle Punkte; im übrigen aber befand sich die Woh-
nnugsgenossenschnft ganz wohl. Man zankte sich nicht. Die Leute sagen, daß manche
weibliche Genossenschaft schon daran zu Grnnde gegangen sei, daß man sich nicht
vertragen habe. Man vertrug sich sehr gut. Fräulein Scherbitz kümmerte sich grund¬
sätzlich nicht um das Wohl und Wehe andrer Leute, Eleonore Gross! schwebte in
den obern Regionen der Kunst und ließ in den irdischen Regionen alles gehn, wie
es gehn wollte, und Trudchen machte alle Arbeit, die den andern unbequem war.
Trudchen war energisch und praktisch und griff lieber selber zu, als mit rudern
lange Reden über das ob und wie auszutauschen.
Als der Herbst kam, hatte man Rat gehalten, wie man die Wohnung ver¬
schönern könnte. Zunächst bedurften die Fußböden eines neuen Anstrichs. Probsts
waren nicht zu bewegen gewesen, etwas für die Wohnung zu thun; aber auf eigne
Kosten den Maler kommen zu lassen, war eine zu terre Sache. Wißt ihr was?
sagte Trndchen, wir streichen uns unsre Dielen selber. Fräulein Scherbitz hatte
Bedenken, und Eleonore Gross! war zu solcher Arbeit unbrauchbar. Also blieb die
Sache wieder bei Trudchen hängen, die sich auch nicht lange besann, Farben und
Pinsel kaufte, ihre Stube auskramte, ein entsprechendes Kostüm anlegte, und während
die beiden Genossinnen aufmerksam zuschauten, anfing, den Fußboden ihres Zimmers
nach allen Regeln der Kunst anzustreichen.
Die Arbeit wurde sehr schön. Schon hatten Kleid, Hände und Gesicht ihr
Teil Farbe abbekommen — Herr Gott, da klingelte es. Wo war Antonie? An-
tonie war natürlich nicht dn. Wenn Trudchen die Thür nicht selbst zugeschlossen
hätte, so hätte natürlich die Thür wieder aufgestanden, und man hätte den Menschen
schon auf dem Halse. Eben erst hatte man von einem neuen Überfall auf eine
dreiuudsiebzigjährige Dame, die vor Schrecken krank geworden war, gelesen, wer
sagte gut dafür, daß der da draußen nicht der Mörder war, der ein neues Opfer
suchte? — Es klingelte wieder, hart, grausam, gewaltthätig. So konnte mir ein
Mörder klingeln. Trudchen war aufgesprungen. Die Gesangsheroine zitterte, und
Fräulein Scherbitz machte sich bereit, sich in ihr Zimmer zurückzuziehn und die Thür
zu verrammeln. Aber etwas mußte geschehn. Trudchen schlich sich ein die Kvrridor-
lhür und schaute durch das Guckloch. Da stand ein Mensch draußen mit breit¬
krempigen Hute, unter dem eine spitze Nase hervorsnh, und einem Banditcnmcmtel.
Mau sah nichts weiter als Hut, Nasenspitze und Mantel. In der Hand konnte er
lwuz gut ein Brecheisen und in der Tasche Dolch und Revolver tragen. Trudchen
lehrte zurück und berichtete.
Wenn uur ein Dienstmädchen im Hause wäre, sagte Eleonore Gross!, die konnte
nufmncheu, und einem Dienstmädchen thut kein Mörder etwas. Und wir könnten
uns einschließen.
Gut, sagte Trudchen, ich werde das Dienstmädchen vorstellen.
Der Mensch draußen klingelte schon wieder. Es war nicht mehr schön, wie
er die Glocke in Bewegung setzte. Eleonore Grossi und Fräulein Scherbitz ver¬
schwanden in der nächsten Thür, die zum Musikzimmer führte, Trndchen nahm ihren
Farbenpiusel in die Hand, entschlossen, dem Menschen, wenn er sich irgend gewalt¬
thätig zeigen würde,° mit dem Pinsel und SMativ in die Augen zu fahren, was
""es ein Mörder nicht vertragen kann.
Sie öffnete. Da stand ein ganz gefährlicher Mensch vor ihr. Ein bleiches,
bartloses Gesicht, aus demi eine krumme, scharfe Nase hervorsah, eiugekniffner Mund,
stechende Augen, dazu ein Garibaldihut und ein Radmnutel, dessen rechter Flügel
über die linke Schulter geworfen war. In der Hand trug er eine Papierrolle.
Was aber war in dieser Rolle? Niemand konnte es wissen. Trndchen erschrak
"ut faßte ihre Waffe fester. Ach, es war nur ein Ölfarbenpinsel, und sie war,
obwohl Vorsteherin einer Wohnungsgcnossenschnft, doch nur ein Mädchen, das sich
vor jedem Manne fürchten mußte. Doch sie ließ sich nichts merken, sondern fragte
schnippisch, was der Herr wolle.
Der Mann in der Thür antwortete mit lnnter, tönender Stimme, daß er die
Gross! sprechen wolle.
Die Grossi? Was das für eine Ausdrucksweise war! — Ach, Sie meinen
Fräulein Grossi? fragte Trndchen.
Meinetwegen Madame Grossi, sagte der Mensch. Aber bitte, ein bischen hopp!
hopp! Ich stehe hier schon eine halbe Stande.
Wollen der Herr nicht näher treten? fragte Trndchen. Aber wohin mit ihm?
In Fräulein Grossis Zimmer sah es schlimm aus, auch war die Sängerin keines-
Wegs in empfangsmäßigem Anzuge. Auf dem Korridor und in ihrem Zimmer
herrschte der Greuel der Verwüstung, blieb also uur der Scherbitz Zimmer übrig.
Dahin führte sie ihn. Es roch dort zwar nach Tabak, aber das half nnn nichts.
Sie setzte einen Stuhl in die Mitte der Stube, bat Platz zu nehmen und verschwand.
Gott sei Dank, bis jetzt war es gut gegangen.
Als Trndchen ihrer Freundin mitteilte, daß sie gewünscht werde, wollte diese
verzweifeln. Sie raste ini Zimmer umher und erklärte, daß sie nicht für alle
Schätze der Welt hingehn werde. — Aber es gehe doch nicht an, den Menschen
vergeblich warten zu lassen. — Trndchen mochte mitkommen. — Das gehe mich
nicht, da Trndchen ja die Rolle des Dienstmädchens spiele. — Sie sei anch nicht
angezogen. — Dann solle sie schnell Toilette machen.
Herr Gott, da klingelte es schon wieder. Es waren der Briefbote und ein
Dienstmann. Der Dienstmann brachte ein lose zusammengefaltetes Paket in Gestalt
einer Düte für Trndchen, und der Briefbote einen amtlichen Brief für Fräulein
Scherbitz. — Man möge alles nnr dort ans den Tisch legen.
Die Grossi vermochte es kaum, mit ihren zitternden Händen ihr Kleid einzu-
ziehn. Beide Freundinnen halfen, und so wurde man endlich fertig. Trndchen
schlich zu der Thür von Fräulein Scherbitzens Zimmer und schaute durch die Thiir-
spnlte. Der Mensch saß noch immer auf seinem Stuhle, pfiff und trat dazu den
Takt mit dem Fuße. Daraus »vor freilich nicht mit Sicherheit zu schließen, ob er
zu den guten oder den bösen Menschen gehöre. Als mau Eleonore Grossi dem
Menschen zuführte, sträubte sie sich, als wenn sie zum Schafott geführt würde,
aber es half ihr nichts. Trudchen steckte ihr noch einen Galanteriedolch in die Hand,
daß sie ihn im Kleide verberge und ans alle Fälle gerüstet wäre. Als man sie
durch die Thür schob, sah man noch, wie sich der Mensch erhob, und wie Eleonore
ihren Dolch in der Verwirrung ans die Erde fallen ließ. Dann war es still, eine
lange, lange Zeit. Trudcheu und Fräulein Scherbitz, die vor der Thür stehn ge¬
blieben waren, sahen sich besorgt an. War es nicht unrecht gewesen, daß sie ihre
Freundin allein in die furchtbare Gefahr hinausgestoßen hatten? Es war tödlich
still im Zimmer. Vielleicht war schon alles vorüber, und Eleonore Grossi lag ab¬
gemurkst am Boden. Da rückte ein Stuhl, und die tönende Stimme des Menschen
sagte etwas abschließendes. Dann that sich die Thür auf, und Fräulein Eleonore
Grossi erschien in der geöffneten Thür mit dem Ausdruck strahlenden Glücks. Und
auch der Mensch sah entschieden menschlicher aus.
Die Grossi sagte: Mein lieber Herr Direktor, gestatten Sie, daß ich Ihnen
meine Freundinnen vorstelle, Fräulein Scherbitz, Postschwedin und — Trudcheu
winkte ub und suchte die Grossi daran zu erinnern, daß sie, Trndchen, ja Dienst¬
mädchen sei; aber sie merkte nichts — und Fräulein Leverluhn —
Mädchen für alles, sagte Trudchen, einen Knicks hinsetzend.
Herr Direktor Kuchenreuter, fuhr die Grossi fort, der mir eben ein Engage¬
ment für B. überbracht hat.
Das ist famos, rief Trudcheu und fiel ihrer Freundin jubelnd um den Hals.
Der Direktor sah sich die Szene mit Verwundrung an und sagte: Erlauben
Sie mal, meine Damen, Sie scheinen ja hier ein merkwürdiges Kollegium zu
bilden.
Thun wir anch, sagte Trndchen, eine Wohuungsgeuosseuschnft auf wisseuschaft-
licher Grundlage mit dem Koeffizienten 0,8505, Ein kleiner, ganz moderner national-
ökonomischer Staat.
Es scheint mir aber, fuhr der Direktor fort, daß ich Ihren famosen Staat
eben gesprengt habe. Denn die Grosfi nehme ich gleich mit. Und Sie kriegen
sie auch nicht wieder. Also auf Wiedersehen fünf Uhr neunzehn zum Schnellzuge!
Habe die Ehre, meine Damen.
O weh! Das war freilich eine betrübende Folge des frohen Ereignisses.
Fräulein Scherbitz griff in die Tasche und brachte ihren Brief heraus, den
der Postbote gebracht hatte, und sagte etwas verlegen: Was ich sagen wollte, ich
habe hier meine Versetzung nach H. bekomme». Ich werde zum nächsten Ersten
mich aus der Genossenschaft ausscheiden müssen.
O weh! Ein einziger Augenblick, und die Wohnungsgenossenschaft zerfiel in
Atome. Und Trndchcn Leverkühn, die allein übrig blieb, saß da mit der Wohnung
und der Miete und der berühmte» Antonie. Würde es sich der Mühe verlohne»,
die Genossenschaft zu rekonstruieren mit der gewissen Aussicht, daß sie über Nacht
doch wieder auseinander fliegen werde? Gab es denn für einzelne Damen keine
dauernden Bande als Ehebande? Gab es denn keinen soliden Parallelismus der
Kräfte in der Welt als das harte Muß?
Fräulein Scherbitz und Eleonore Grosfi waren mit ihren eignen Angelegen¬
heiten zu lebhaft beschäftigt, als daß sie sich hätten um Trndchen Leverkühn und
deren Sorgen bekümmern können, und so wandte sie sich traurig ihrer Arbeit wieder
zu. Was half ihr nun ihr Anstrich? Am liebsten hätte sie den Pinsel in die
Ecke geworfen. Aber das ging doch nicht. Die angefangne Arbeit mußte zu Ende
geführt werden. Und so setzte sie sich ans die Erde und strich ihre Farbe auf und
seufzte zum Erbarmen
Da seufzte es hinter ihr eben so tief. Trndchen sah sich erschrocken um. Wer
stand da in der Thür im Frack und weißer Binde? Herr Gustav Vulpins.
Wie mich das dauert, sagte Herr Gustav Vulpins, so jung und so hübsch und
so klug, und so arbeiten müsse», wie ein Dienstbote, und dabei so unglücklich! —
wie mich das dauert!
Dem guten Gustav Vulpius traten die hellen Thränen in die Augen.
Trndchen errötete vor Unwillen und rief: Was wollen Sie hier, wer hat
Ihnen erlaubt —
Aber Fräulein Leverkühn, sagte Gustav Vulpius demütig, Sie haben doch mein
Bvncmet und den Brief erhalten, worin ich geschrieben habe, ich würde mir die
Freiheit nehme», zu komme», wemi Sie es mir uicht verböte».
Was für ein Bouquet? Da lag das Paket, worin unzweifelhaft Vouquet und
Brief enthalten waren, noch uneröffnet auf dem Tisch. Mnu hatte es über deu schreck¬
liche» Ereignisse» der letzte» Stunde» völlig aus dem Auge verloren. Wenn nun Gustav
Vulpius kam, wenn er sich Hoffnung gemacht hatte, so war sie, Trudcheu, nicht ohne
Schuld. Sie durfte also ihren treuen Verehrer nicht ungnädig behandeln. So bat sie
ihn lachend, Platz zu nehmen, und man setzte sich auf das Kanapee, das auf einer
noch ungestrichnen Insel der Stube stand. Und Gustav Vulpins hätte seinen Cylinder
beinahe in die frische Farbe gesetzt. Und Trndchen, deren Herz übervoll war, erzählte
auf die Frage Gustavs, warum sie so geseufzt hätte, die traurige Geschichte von der
Wohuuugsgeuossenschaft, und daß sie jetzt auch ausziehn und zu einem Schuster im
vierten Stocke zurückkehren müsse. Denn sie allein könnte die große Wohnung uicht
brauche» und anch nicht bezahlen. Und es sei doch hier gar zu hübsch gewesen.
Fräulein Trndchen, sagte Herr Vulpius, der mit innigem Anteil zugehört hatte,
und der es schon wagte, Fräulein Trndchen zu sagen, Sie brauchen nicht ciuszu-
ziehn. Das Seifengeschäft muß sowieso vergrößert werden, und dazu kann ich meine
Wohnung sehr gut gebrauche». Nun will ich Ihnen was vorschlage». Sie bleibe»
wohne», »ud ich trete in die Ge»osse»schaft als zweiter Teilhaber el». Meinetwegen
gleich zum ersten Januar. Wollen Sie?
Was wollte Trudchen machen? Sie sagte Ja und nahm ihren Seifenfabri¬
kanten — der Wohnung wegen, wie sie später behauptete, seiner mitleidigen Augen
wegen, wie sich die Sache wirklich verhielt. Das geschah aber nicht in der halb
gestrichnen Wohnung, sondern später im Hause der Frau Mutter, wie sich das
gehörte.
Und die berühmte Antonie erhielt ihre Kündigung. Dafür hielt sie den beiden
übrigen Genossenschafterinnen bei der nächsten Gelegenheit eine Strafpredigt und
schloß: Und daß ich es Ihnen nur sage, ich habe es schon lange zu der Malern
gesagt, daß ich in diesem gottlosen Hause nicht bleibe, wo man nichts weiter thut,
wie singen und rauchen und auf Triumphstühleu herumliegen, und wo man nicht
einmal Zeit hat, zu einem feinen Begräbnisse zu gehn.
Ein Zusammen¬
wirken zwischen Deutschland und England im fernen Ausland ist, mit Ausnahme
der chinesischen Wirren, an deren Unterdrückung sich alle Mächte beteiligten, bis
jetzt nur in dem einen Fall eingetreten, der augenblicklich die Welt beschäftigt. Die
gemeinsame Aktion britischer und deutscher Kriegsschiffe an der venezolanischen Küste
ist schon aus diesem Grunde ein wichtiger Vorgang, ganz abgesehen von seiner
sonstigen Bedeutung. Sie beweist, was viele von Britenhaß verblendete Deutsche
nicht zugeben wollen, daß ein Zusammengehn zwischen Deutschland und England
gegebnenfalls sehr wohl von Wert sein kann. Und mehr als die Möglichkeit eines
Zusammenwirkens in einem Einzelfall hat niemand gewollt. Nur diese darf nicht
durch eine Geschäftspolitik, die sich stellenweise bis zum Paroxysmus gesteigert hatte,
versperrt werden. An ein allgemeines Bündnis denkt kein Deutscher, ganz einerlei,
wie sich England dazu stellt. Das britische Weltreich wäre vielleicht für ein Bündnis
mit Deutschland zu haben, wenn wir ihm den Besitz Indiens gegen Rußland ver¬
bürgen wollten. Darauf kann das Deutsche Reich sich selbstverständlich niemals
einlassen. England wäre dann „fein heraus," es hätte den Vorteil von Indien,
während uns die Verteidigung dieses englischen Besitzes unter Herausforderung des
russischen Hasses auf unser Haupt verbliebe. Und hier handelt es sich nur um ein
Entweder—Oder, ein Mittelding giebt es nicht.
Auf einem völlig andern Blatt steht die Frage, ob wir uns die Bahn frei
halten wollen, um gegebnenfalls mit England in Fragen zusammen zu wirken,
die uns gerade so nahe berühren wie die Briten. Deren lassen sich sehr viele
konstruieren, doch wäre es thöricht, sie hier aufzählen zu »vollen. Eine haben wir
ja in eonoroto vor uns: die venezolanische, und hier ist die gemeinsame oder
parallele Aktion in vollem Gange. Dabei liegen aber die wichtigsten Fragen nicht
im Vordergrunde der Bühne, sondern weiter zurück, teilweise noch hinter den
Kulissen. Venezuela hat 2^ Millionen Einwohner auf einem Gebiet von der
doppelten Größe Deutschlands. Ein solcher Staat ist in der Aggressive ohnmächtig,
in der Defensive stark. Will man mehr thun als die Häfen in Beschlag nehmen,
so steht man vor einer schwierigen Aufgabe. Die Besetzung der Häfen hätten wir
auch ohne England leicht ausführe» können. Aber alsdann wäre ein gellendes Ge¬
schrei erhoben worden, das jedenfalls Deutschlands Ruf noch schlechter gemacht hätte,
als er durch Unbesonnenheit und Ruhmredigkeit auf unsrer und Verleumdung auf
feindlicher Seite schon ist; es hätte vielleicht eine unfreundliche Haltung der Ver¬
einigten Staaten heraufbeschworen, sicherlich aber die Widerstandskraft der Veue-
zolcmer gehoben und Leben und Eigentum unsrer im Orinokostaat wohnenden
Landsleute noch mehr bedroht. Das Zusammenwirken mit England hat dies alles
geglättet. Es hat den südamerikanischen Republiken gezeigt, daß die Rechnung ans
Uneinigkeit zwischen den europäischen Großstaaten denn doch ein Loch haben kann.
Die sehr weit verzweigte Hetzarbeit gegen Deutschland sieht sich behindert, wenn
auch dick Antipathie gegen unser Land in den englischen Blättern noch immer zu
Tage tritt.
Vor allem hat die Verdächtigung schweigen müssen, daß Deutschland in Vene¬
zuela auf Landerwerb ausgehe. Nur wen» es das thäte, hätte man die Monroe-
doktri» mit Erfolg anrufen können. Da das aber ausgeschlossen ist, so hat sich
die offizielle amerikanische Politik von jedem Schritt zu Gunsten Venezuelas fern
gehalten und Präsident Castros Hoffnungen auf mächtigen Beistand völlig enttäuscht.
In der That ist in dieser Richtung auch Präsident Roosevelt, so freundlich er sonst
zu dem Expansionsgedanken steht, ganz klar und folgerichtig gewesen. In seiner
ersten Kongreßbotfchaft vom Anfang Dezember 1901 sagte er: „Die Monroedoktrin
stellt sich durchaus nicht irgend einer Nation der Alten Welt feindlich gegenüber,
und noch weniger soll sie einen Übergriff einer Macht der Neuen Welt ans Kosten
einer andern decken. , . . Wir gewähren keinem Staat Sicherheit gegen Strafe für
ungebührliches Verhalten, es sei denn, die Strafe bestehe in der Erwerbung von
Land durch eine anßernmerikcmische Macht; und wir haben nicht den leisesten Wunsch,
irgend welches Laud von unsern Nachbarn zu erwerben." Und in Übereinstimmung
damit heißt es in der neuen Botschaft vom 2. Dezember 1902: „Keine unabhän¬
gige Nation in Amerika braucht irgend welche Furcht zu hegen, von den Ver¬
einigten Staaten angegriffen zu werden. Jede muß Ordnung in ihren Grenzen
halten und ihre Verpflichtungen gegen die Ausländer erfülle». Wenn sie dies thut,
sei sie stark oder schwach, so möge sie versichert sein, daß sie nichts von Ein¬
mischung vou außen zu fürchten hat."
Darin ist dreierlei enthalten: 1. Die amerikanischen Staaten finden Hilfe bei
der Union, wenn eine außereuropäische Macht ihnen Territorium zu rauben droht.
2. Sie finden keine Hilfe, wenn außereuropäische Mächte nur die Erfüllung ein-
gegangner Verpflichtungen fordern (was bei Venezuela der Fall ist). 3. Sie brauche»
keine Sorge vor »ordamerika»löcher Angriffen zu haben.
Für Deutschland ist die Zeit, in Südamerika zu kolonisieren, vollständig vorüber.
Das geben sogar Organe zu, die im Vordergründe des Kampfes für „schärfere
Betonung unsrer nationalen Ansprüche" stehn. Es ist lächerlich, von Erwerbnngs-
pläuen durch deutsche Kolonisation zu sprechen. Am dichtesten wohnen die Deutschen
im brasilianischen Staate S. Catharina, und doch machen sie unter 283000 Ein¬
wohnern nur 50000, d. h. ein Sechstel aus. In Rio Grande zählen die deutsch
sprechenden Brasilier unter 897 000 Einwohnern nur 120000. Überall sonst sind
sie Fremdlinge unter einer spanisch oder portugiesisch sprechenden Bevölkerung. Auch
ist unsre Auswanderung nach Süd- und Mittelamerika ganz verschwindend.
Unsre Auswanderung nach Südamerika ist also niemals von großem Belang
gewesen, überdies ist sie noch stark zurückgegangen. Die Masse der Einwandrer
nach Südamerika kommt von Italien und Spanien. Im Jahre 1898 wanderten
53822 Personen nach Brasilien ein, darunter waren nur 785 Deutsche; 1900
kamen nach Argentinien 105902 Personen; in demselben Jahre gingen aus Deutsch¬
land nach ganz Amerika ohne Vereinigte Staaten und Brasilien 364 Personen.
Die deutsche Auswanderung nach Südamerika ist also gegenüber der sonstigen dor-
eigen Einwanderung verschwindend. Auf Grund von Kolonisation kann also so wenig
eine Erwerbung amerikanischen Gebiets in Aussicht genommen werden wie auf jede
andre Weise.
In Deutschlands Interesse liegt die Unabhängigkeit Süd- und Mittel-
amerikas. Und darin begegnet es sich ganz dem englischen. Für die Vereinigten
Staaten hat Präsident Novsevelt in den beiden erwähnten Botschaften dasselbe
proklamiert. Er ist ein Ehrenmann, an seinen Worten darf man nicht zweifeln.
Etwas andres ist es, ob immer ein so besonnener Mann an der Spitze der großen
Republik flehn wird. Vvlksleidenschaften, wirksam angefacht, reißen in einer Re¬
publik, die sich aller zwei Jahre ein neues Repräsentantenhaus und aller vier Jahre
einen neuen Präsidenten giebt, leicht die offizielle Politik mit fort. Solche Leiden¬
schaften sind vorhanden. Seit dem raschen und glücklichen Kriege gegen Spanien
spielen Expansion und Imperialismus eine große Rolle im Sinnen und Trachten
des amerikanischen Volkes. Die schichzöllnerischen Großfabrikanten im Nordosten hatten
schon viel länger ihr panamerikanisches Programm. Sie wollen möglichst viele neue
Märkte erobern und durch ihre Zollgrenzen die europäische Konkurrenz davon aus¬
sperren. Die Blnineschen „Reziprozitätsverträge" waren Werkzeuge zu diesem Zweck.
Die Annexion Hawaiis, Portorikvs und der Philippinen hat noch vollständigere
Arbeit gemacht. Kuba wird aller Wahrscheinlichkeit nach nur ganz vorübergehend
eine selbständige Existenz haben. So ist es denn sehr begreiflich, daß sich der
Blick einen weitern Horizont sucht.
Auch in Südamerika ist man für diese Dinge nicht blind geblieben. Der pan¬
amerikanische Gedanke hat dort keine Fortschritte gemacht; auch die „panamerikanische"
Ausstellung in Chicago und der „panamerikanische Kongreß" in Mexiko haben das
wachsende Mißtrauen nicht zu beschwichtigen vermocht. Nach der wirtschaftlichen
Bevormundung durch den Norden trägt man kein Verlangen. Mögen die nord-
amerikanischen Exporteure nnn durch „Reziprozitätsverträge" oder durch Annexion ihr
Absatzmonopol im Süden erhalten: die dortigen Konsumenten müssen alsdann ihre
Bedarfsartikel gerade so teuer bezahlen wie jetzt, aber wenn diese dann aus dem
Norden kommen, so liefern sie kein Geld in die Zvllknssen, und die Bürger Süd¬
amerikas müssen für ihre eignen Staatszwecke die Mittel dann auf andre Weise
aufbringen. Die Korruption ist ja leider auch in Südamerika wohlbekannt. Aber
am wenigsten kann man es leiden, wenn die bestechlichen Beamten und die be¬
trügerische» Lieferanten ihren Raub im fernen Lande verzehren. Die Besorgnisse
in Südamerika gehn aber noch viel weiter. Man fürchtet, daß die mächtige Union
unter dem Vorwande, den kleinen Schwestern im Süden helfen zu wollen, all¬
mählich die Stellung einer anerkannten Schutzniacht erlangt. Schon vor einigen
Jahren erregte es große Erbitterung im Süden, daß ein nordamerikanisches Kriegs¬
schiff den Amazonenstrom hinauffuhr, ohne zuvor die übliche und völkerrechtlich
sanktionierte Erlaubnisforderung bei der Landesregierung erledigt zu haben. Bei
einer Wiederholung in diesem Jahre hat man die Formalität allerdings peinlich
beobachtet. Dafür haben sich aber wichtigere Dinge am obern Ainnzvnenstrom,
vielmehr an seinem mächtigen Nebenfluß, dem Madeira, zugetragen. Es giebt dort
einen auf alleu Karten verzeichneten, im Stielerschen Atlas Bolivia zugeschriebnen
dreieckigen Zipfel Landes, der in Wahrheit zwischen Brasilien und Bolivia streitig
ist. Verschiedne Verträge zwischen den beiden Staaten, die die Sache ins reine
bringen sollten, verfehlten ihren Zweck. Seit dem vorigen Jahre organisieren sich
in Manaos, der Hauptstadt des brasilianischen Staates Amazonas, Banden, um
dieses Gebiet — es nennt sich Acre — für Brasilien zu gewinnen oder als selb¬
ständige Republik zu organisieren. An ihrer Spitze fleht Galvez, ein prachtvoller
Typus des südamerikanischen Cvndottiere. Ihm und seinen Banden ist es wohl
am meisten darum zu thun, bei ihren „Bcfreiungs"feldzügen Beute nu Gummi
elnstikum zu machen, das dort in großer Menge gewonnen wird und in deu
Haciendas vorrätig lagert. Der Staat Amazonas hat sträflicherweise und im
Gegensatz zur Zentralregierung in Rio de Janeiro die Unternehmung geduldet.
Bolivia hat einmal mit Erfolg Truppen gegen die Abenteurer aufgeboten und dann
das ganze Gebiet mit allen obrigkeitlichen Rechten auf 99 Jahre an einen nord¬
amerikanischen Trust perpachtet. Wenn etwas im Süden verhaßt und gefürchtet
ist, so sind es die Dankeetrusts. Brasilien bestreitet nun mit verdoppeltem Nach¬
druck Bolivien das Recht, das Gebiet von Acre zu verpachten. Inzwischen ist
Galvez mit seiner Bande zur offnen Erklärung der Republik Acre übergegangen.
Kleiner sind die nordamerikanischen Eingriffe in Kolumbien. Auch dort tobt
wie in Venezuela die Revolution. Nun haben sich die Vereinigten Staaten das
große Verdienst erworben, durch Ausschiffung von Truppen in Panama und Colon
den Jsthmnsverkehr zu sichern. Kolumbien sieht das aber als eine unerlaubte Ein¬
mischung an und rächt sich, indem es erhöhte Forderungen für den Ban des
Panamakanals ausstellt. Chile liegt in einem alten Streit mit seinem nördlichen
Nachbar Pern. Es hat sich erst bereit erklärt, den panamerikanischen Kongreß zu
beschicken, nachdem ihm perbürgt worden war, daß sein Streit mit Peru nicht vor
das Schiedsgericht dieses Kongresses gezogen werden sollte. Mit unverbrüchlicher
Konsequenz hat Argentinien jegliche Annäherung an die Union zurückgewiesen.
Freundschaft und Kundschaft Europas sind ihm viel wichtiger. Venezuela allein
wendet sich jetzt an die Bereinigten Staaten, aber offenbar nur unter dem Druck
einer augenblicklichen Notlage.
Man sieht also nahezu ganz Südamerika mit Abneigung jeden Versuch, eine
Vormundschaft des Nordens zu errichte», abwehre». Europäische Bestrebungen,
es darin zu unterstützen, sind keineswegs aussichtslos. Man kann sagen, daß sich
die Verhältnisse völlig umgekehrt haben. Von Europa geht kein Versuch mehr aus,
die Unabhängigkeit Südamerikas anzutasten, vielmehr gebietet das eigue Interesse
Europas, diese mit allen Kräften zu stützen und zu kräftigen. Und dabei sind die
europäischen Interessen solidarisch. Keine Macht könnte es sich als einen Vorteil
deuten, wen» ein Teil Süd- oder Mittelamerikas unter die „Kontrolle" der Ver¬
einigte« Staaten gelangte. Denn, ob ausgesprochen oder unausgesprochen, deren
Tendenz geht immer dahin, dnrch Zölle und andre Abwehrmaßregeln die euro¬
päische Konkurrenz fern zu holten und den Markt allein in Beschlag zu nehmen.
Bleiben die süd- und die mittelamerikanischen Staaten nnabhnngig, so konkurrieren
Europa und Nordamerika uuter gleichen Bedingungen.
Allen den Republiken ist die Kundschaft Enropas um ein Vielfaches wichtiger
als die der Bereinigten Staaten, und so werde» sie n»f die Dauer diesen frei¬
willig keine Vorzugstarife einräumen. Die jetzige nordamerikanische Regierung hat
sicherlich keinerlei aggressive Absichten gegen die südlichen Republiken. Was aber
einst an ihrer Stelle in Washington regieren wird, weiß kein Mensch. Und da
ist es doch für Deutschland und England als den beiden hauptsächlichsten Ausfuhr¬
ländern, dann aber auch für Frankreich, Belgien, Spanien, Italien geboten, mit
alle» Mitteln auf den Schutz der Unabhängigkeit Süd- und Mittelamcrikns hin¬
zuwirken. Die Mouroedoktrin wird jetzt uicht von Europa bedroht, pielmehr
geradezu geschützt. Nur muß mau sie dahin interpretieren: Amerika nicht den Nord¬
amerikaner», sonder» Nordamerika den Nordamerikanern, Südamerika den Süd-
cunerikaueru.
Ihren wirksamsten Schutz müssen die südlichen Republiken in der Hebung
ihrer Staaten suchen. Wege, wie sie Präsident Castro einschlägt, müsse» gerade
ihnen z»in Verderben gereichen. Dmi Aufruhr und den, Bürgerkriege muß ein
Ende gemacht werden. Reformen im ganze» Stnatsgefüge müssen es unmöglich
mache», daß sich Präsidenten und Machthaber bereichern. Ist man dazu gelangt,
so fällt der hauptsächlichste Anreiz zur Revolution weg. Dann können Ruhe,
Ordumig, bürgerlicher n»d äußerer Frieden ihre wohlthätige Macht entfalten.
Vielleicht wäre der wirksamste Schutz, den sie sich darüber hinaus noch bereite:?
könnten, die Bildung eiues Bundes der süd- und der mittelamerikanischen Republiken.
Eine Religion, ein Kulturstand, nahezu eine einzige Sprache und eine einzige Na¬
tionalität — das sind schon mächtige Bindemittel. Sie haben zusammen etwa
45 Millionen Einwohner: über einen solchen Bund gehn auch die expansions¬
lustigsten Großstaaten nicht leicht zur Tagesordnung über. Gemeinsame Besorgnis
vor einer gemeinsamen Gefahr kann die entgegenstehenden Hindernisse wohl
Man könnte behaupten: jeder Erdteil hat
den Wettcrwinkel, den er verdient. Auf Europa, Asien und Afrika mag dies zu¬
treffen, aber auf Südamerika nicht. Die ganze geschichtliche Entwicklung beweist,
daß dort moderne Kultur und veraltete Sitten, rohe Machtverhältnisse und gut
ausgearbeitete Gesetze, mit einem Worte: Wille und Fähigkeit im schweren Kampfe
um die Oberhand ringen. Verfehlt wäre es also, hier, weit vom Schüsse aber
auch weit von den Thatsachen, vorschnell zu urteilen. Will man gerecht sein, so
soll man erwägen, daß nur eine lange Entwicklung, deren Ende auch nicht eine
große Flotte von nordamerikanischen oder gar europäischen Schiffen herbeiführen
wird, den Ländern des südamerikanischen Kontinents den von ihnen selbst gewünschten
Frieden bringen kann.
Liest man die jüngsten Zeitungsberichte über Venezuela, daun ist man ordentlich
froh, daß man recht weit von dieser Gegend entfernt ist, dann ist man aber auch
empört darüber, daß solche Zustände heutzutage noch vorkommen können. Da kämpft
Präsident Castro, vereinigt mit General Garrido, gegen den aufständischen Mendoza,
da bricht das Kriegsschiff „Nestnurador" unter falscher Flagge in Ciudad Bolivar
ein und bombardiert die Stadt; da werden oder sollen schließlich alle Kabel zer¬
stört werden. Ein Gebiet des Bundesstaats erklärt sich endlich gar für unab¬
hängig und erklärt einem andern Vundesgliede den Krieg. Des Schlechten bei¬
nahe zu viel! Obwohl ich nicht einen Augenblick zweifle, daß wir bald noch
Schlimmeres hören werden. (Diese Voraussage, die ich vor längerer Zeit machte,
als ich diese Zeilen schrieb, ist nun eingetroffen.) ^ Is, xuorrv eommv ^ is, gusrig.
Es liegt mir fern, damit diese Vorgänge zu entschuldigen oder gar zu verteidigen.
Ich will nur hervorheben, daß die Zustände in Venezuela uns verständlicher und
in richtigem Lichte erscheinen werden, wenn wir die Geschichte und das Staatsrecht
Venezuelas näher betrachten.
Ich glaube, mit dem folgenden vielen etwas Neues oder jedenfalls bisher
nicht Bekanntes zu bringen. Denn die staatsrechtliche Litteratur ist bis auf Wester-
kcimp, der sich zum erstenmal damit beschäftigte, achtlos, ja beinahe geringschätzig
an den Erscheinungen des südamerikanischen Stnatslebens vorübergegangen. Ich
habe nach Möglichkeit das gut zu machen gesucht (in Le Für und Posener, Bundes-
staat und Staatenbund, 1902, Bund I, Seite 229 ff.) und will hier in Kürze auf
die Geschichte und die gegenwärtige, sehr interessante Verfassung Venezuelas ein¬
gehn. Die Selbständigkeit Venezuelas stammt, wie die der andern südamerikanischen
Stnatenverbindungen, aus der Zeit seiner Erhebung gegen das europäische Mutter¬
land. Der Priester Madaringn und der Oberst Bolivar leiteten den Aufstand in
Caracas, und schon um 5. Juli 1811 erklärte sich die Konföderation von Vene¬
zuela für unabhängig. Die Versuche Spaniens, das Land wiederzuerobern, schlug
Simon Bolivar zuletzt 1814 zurück. Am 6. Mai 1821 vereinigte Bolivar Vene¬
zuela mit Neu-Grnnada und Ecuador zu einem neuen Bundesstnatc, Kolumbien.
Bolivar Plante, nachdem er auch Peru und Bolivia befreit hatte, einen großen
Bund der spanischen Kolonien in Südamerika. Auf dem Kongresse zu Caracas
sollte diese in ihrer Ausdehnung einzig dastehende Staatengründung vor sich gehn.
Aber hier kam es vor Streit und Parteiungen nicht zur Einigkeit. Bolivar selbst,
der Freiheitsapostel und unermüdliche Kämpfer, wurde damals von dem peruanischen
Minister des Auswärtigen angeklagt, daß er nach der Kaiserkrone strebe.
Bald wurde auch das engere Band der Kolonien gelöst: Venezuela und Ca¬
racas trennten sich 1829, Ecuad r erklärte sich im Mai 1830 zu Riobnmba für
unabhängig. Venezuela gab si.i) am 22. September 1830 eine Verfassung, die
sowohl Züge der Zentralesation als der Föderation enthielt. Wie gleich an dieser
Stelle bemerkt werden soll, ist gerade der Umstand, daß eine Verfassung zu unio-
nistisch oder nicht unionistisch ist, der stete Anlaß zu Bürgerkriegen in Südamerika
und in Mexiko gewesen. Er wird auch gegenwärtig die Hauptursache der Unruhen
in Venezuela sein. Die Anhänger der Zentralisation Wollen eine starke Bundes¬
regierung und sehr abhängige, namentlich zahlende Einzelstaaten. Die Födera¬
listen wünschen vollkommne Gleichberechtigung und keine Hegemonie eines mächtigen
Vorortes.
Nach den Verfassungsänderungen von 1857 und 1858 kam es zu einem
dreijährigen Bürgerkriege, worin die Föderalisten siegten. Die Regierungspartei, selbst
zentralistisch gesinnt, mußte mit den Siegern einen Vertrag schließen, der ihnen
Vorteile bei der Präsidentenwahl sicherte. Es kam denn auch ein Föderalist, der
General Fnlcon, ans Nuder. Am 28. März 1864 erhielt Venezuela eine reine
Bundesverfassung und nahm die Bezeichnung „Vereinigte Staaten von Venezuela"
an. Von hier stammt die neuere politische Geschichte des Bundes.
Bis 1881 bestand Venezuela aus zwanzig sehr selbständigen Staaten. Durch
die Verfassungsänderung von 1881 wurden die Staaten in Sektionen umgewandelt
und unter acht Grandes Estados verteilt, zu denen noch der Bundesdistrikt, sechs
Territorien und zwei Kolonien hinzukamen. Die neuste, jetzt geltende Verfassung
vom 21. Juni 1893 hat nur teilweise den frühern Zustand wieder hergestellt: die
Sektionen, die schon 1864 unabhängige Staaten waren, können wieder Staaten
werden, sobald sie hunderttausend Einwohner haben und sich zwei Drittel der
Distrikte dafür erklären. Schon in dieser Bestimmung des Artikels 4 der vene¬
zolanischen Verfassung liegt ein Anlaß zu Hader und Streit, denn die Zahl der
Parteigänger für und wider eine Unabhängigkeitserklnrung schwankt. Rasch ist auch
die südamerikanische Abstimmung mit den Waffen bewerkstelligt worden. Selbstän¬
dige Einzelstaaten sind folgende neun: Los Andes, Bermudez, Bolivar, Carabobo,
Falcon, Lärm, Miranda, Zamora, Zulia. Hierzu kommen noch der Bundesdistrikt
Caracas und die sechs Territorien: Colon, Goajira, Delta, Durunri, Wo Orinoco
und Amazonas.
Die Verfassung zeigt die Merkmale aller bekannten hündischen Staatenbildungen.
Nur der Bund ist für die auswärtigen Angelegenheiten, also für Kriegserklärung,
Friedensschluß, Gesandtschaftsrecht und Vertrage mit dem Auslande, zuständig. Sehr
interessieren dürfte übrigens die — leider nur theoretische — Bestimmung des Ar¬
tikels 111 der Bundesverfassung, wonach ausdrücklich in alle internationalen Ver¬
träge eine Bestimmung aufgenommen werden muß, kruse deren etwaige Streitig¬
keiten der vertragschließenden Mächte nicht durch Krieg, sondern durch ein Schieds¬
gericht eines oder mehrerer befreundeter Staaten entschieden werden sollen. Für die
Gesetzgebung über Post und Telegraphie, für Heeresorgauisation und Armee-
verwaltuug ist der Bund allein zuständig. Namentlich untersagt die Verfassung den
Einzelstaaten alle militärischen Operationen gegen den Bestand des Bundes oder
andrer Einzelstnaten. Insbesondre wird in Artikel 13 verboten, daß Einzelstaaten
gegeneinander Gewalt brauchen: sie sollen ihre Zwistigkeiten vielmehr dem Bunde
unterbreiten und von diesem schlichten lassen.
Die Gesetzgebung übt ein Kongreß aus, der aus Deputicrtenkammer und Senat
besteht. Grundsätzlich tagen und beschließen beide Kammern getrennt, wie im Deutschen
Reich Reichstag und Bundesrat. Zum Kongreß unter Vorsitz des Senatspräsidenteu
treten sie nur in besondern Fällen, z. B. bei der Wahl eines Vundesprüsidenten
zusammen. Ein Gesetz kommt zu stände, wenn die Mehrheitsbeschlüsse beider Körper¬
schaften übereinstimmen. Einige Vorrechte hat noch die Deputiertenkammer, so die
Prüfung der Jahresrcchnuugen, die Erteilung von Mißtrauensvoten an Minister,
die Ernennung des Gencralstaatsanwalts.
Die Exekutive ruht beim Buudesprcisideuteu und dem Regierungsrate. Dieser
ist eine ganz besondre Behörde, die auch keine Ähnlichkeit mit dem schweizerischen
Bundesrat aufweist. Er ist aus neun Vertretern der nenn Einzelstaaten zusammen¬
gesetzt und vorzugsweise zur Beratung des Bundespräsidenten und der Minister
bestimmt. In gewissen Fällen ist sogar seine Zustimmung einzuholen. Der Bundes¬
präsident wird auf vier Jahre gewählt, bei seiner Behinderung vertritt ihn der
Präsident des Regierungsrath. Die Wahl erfolgt nach dem Artikel 63 durch das
ganze Volk; hat kein Kandidat die absolute Mehrheit, dann nimmt der Kongreß
die Stichwahl vor. Ist der Kongreß nicht beschlußfähig, denn nimmt das Ober¬
bundesgericht seine Stelle ein. Die äußern Vnndesangclegeuheiten steh» unter dem
Buudesprä'sideuten, ebenso das Heer. Im Einverständnis mit dem Regiernugsrate
darf er Streitigkeiten der Einzelstaaten im Notfalle mit Waffengewalt schlichten.
Die sieben Minister Venezuelas werden von dem Präsidenten ernannt und
entlassen; gewöhnlich — uicht etwa wie in parlamentarisch regierten Staaten:
immer — werde» sie der Kammermehrheit entnommen. Die Negierungsakte des
Bnndespräsidente» bedürfen der Gegenzeichnung eines Ministers, damit sie giltig
und verbindend werden. Der Bnudespräsideut ist nicht unverletzlich: er kann,
ebenso wie die höchsten Bundesbeamten, vor dem Oberbundesgericht abgeurteilt
werden. Dieses Gericht ist auch für Kompetenzkonflikte und Streitigkeiten öffentlich-
rechtlicher Art zwischen Bund und Einzelstnaten zuständig. Neben dem Oberbuudes-
gericht besteht mit besondrer .Kompetenz ein Kassationshof. Am wichtigsten — na¬
mentlich in Anbetracht der so häufig wiederkehrenden Umsturzbestrebuuge» —
erscheinen die Bestimmungen der Artikel 152 ff. über die Verfassungsänderung.
Grundsätzlich kann die gegenwärtige Verfassung nur unter folgenden Modalitäten
geändert werden: Die Initiative geht von den Einzelstaaten aus; der Kongreß muß
in ordentlicher Sitzung die Abänderung beschließen; eine Dreiviertelmehrheit der
gesetzgebenden Körperschaften sämtlicher Einzelstaaten muß sich in ordentlicher Tagung
dafür erklärt haben. Damit ist der Antrag auf Verfassungsänderung zwar an¬
genommen: in Kraft tritt er jedoch erst dann, wenn für sämtliche Organe, die bei
dem Antrag und seiner Erledigung thätig waren, Neuwahlen ausgeschrieben und
durchgeführt worden siud.
Dieser kurze Überblick über eine der ausführlichsten Bundesverfassungen dürfte
gezeigt haben, daß es dem Lande nicht an guten Gesetzen fehlt, die ihm Frieden
und Ordnung vorschreiben. Aber es fehlt an einem ruhigen Bürgerstande, der
Achtung vor den Ansichten und der Existenz seines Nächste» hat, es fehlt an ver¬
ständnisvoller Unterordnung der Einzelstaaten unter das Ganze, es fehlt schließlich
an einer besonnenen und friedfertigen Zentralgewalt, die bei den anerkannt schwie¬
rigen Verhältnissen ohne Blutvergießen und ohne Völkerrechtsbruch den Weg einer
ehrlichen, ruhigen Vermittlung zu finden weiß. Nur eine lauge, uuuntcrbrochne
Kultivierung der breiten Massen des Volks wird Venezuela den Frieden, den aus¬
ländischen Interessen Sicherheit und Schutz gebe» können.
In Steffensen (Grenzboten 1890 IV, 535 und 1895 1!, 199)
und Rochvll haben wir zwei Geschichtsphilosophcn gnostisch-manichäischer Richtung
kennen gelernt. Auch der Rostocker Theologieprofessor Michael Baumgarten, den
erlittene Verfolgung weit über den Kreis der Fachgenussen hinnus bekannt gemacht
hat, glaubte an den persönlichen Teufel und gründete seine Theologie ans diesen
Glauben. In den „Nachtgesichtern Sncharjas" schreibt er: „Das unbefangne
Menschheitsbewußtseiu weiß ebenso bestimmt von einer böse» Wie von einer guten
Macht, der das menschliche Leben und Sein unterstellt ist, und wir finden nnter
allen Völkern diesen Dualismus nicht etwa eigens behauptet und gelehrt, sondern
als unantastbare Voraussetzung aller Weltanschauung und Lebenserfahrung. Dieses
schlichte und einfache Volksbewußtsein will die Aufklärung zu berichtigen suchen."
Der klügelnde Verstand mühe sich jedoch vergebens ab, in die durch diesen Dua¬
lismus gespaltene Welt Einheit zu bringen. Diese Stelle zitiert Johannes Pesta-
lozzi, der von Baumgarten stark beeinflußt zu sein scheint, in seiner Schrift: Ver¬
tiefte Gottes-, Welt- und Selbsterkenntnis, das große Vedürfuis der
Christenheit und der Kirche unsrer Tage (Stuttgart, Max Kielmann, 1902). Pestnlozzt
hat sich auf Grund biblischer Andentungen eine Weltansicht gebildet, die man gnostisch
nennen darf, Joell sie ein Wissen vom Ünwißbaren zu sein beansprucht. Ihre Haupt-
dvgmata sind die folgenden. Ein Engel hat versucht, seine Abhängigkeit von Gott
zu durchbrechen, und dadurch den Frieden des Gottesreichs gestört. Der Kampf
zwischen Gott und seinem Widersacher dauert bis zum Ende der Zeiten. Gott
wollte den Teufel nicht vernichten, sondern nur ein Strafurteil an ihm vollzieh»,
aber erst, nachdem die Frevelthat durch Gutthat ausgeglichen sein würde. Zu diesem
Zweck schuf er die Körperwelt mit dem Menschen. Denn daß die Schöpfung den
Zweck hätte, Gottes Liebe zu bethätigen, kann man bei der Unmasse von Elend
nicht glauben. Die Gntinachung — Korrektur sagt Pestalozzi — des Frevels muß
im Gehorsam bestehn. Der Mensch muß in den satanischen Frevel verstrickt werden
und die Verstrickung überwinden. Damit diese Überwindung vollständig sei, muß
dem Sudan Raum und Zeit gegeben werden, seine Macht vollständig zu entfalten.
Es ist ihm ein Zeitraum von 6000 Jahren und die ganze Menschheit zum Kampf¬
platz gegönnt worden. Die Menschenseele ist also Schauplatz des großen Weltdramas
und zugleich Werkzeug zur Überwindung Satans. Der Mensch hat keinen freien
Willen, sondern alles höhere Geistesleben ist Inspiration des Satans oder Gottes.
(Ein sehr berühmter Mann — die Gelehrten wissen, wer er ist — hat den Willen
ein Pferd genannt, das abwechselnd Gott und der Teufel reitet.) Der Übergang
aus dem teuflischen in den göttlichen Einflußbereich wird von der Schrift Wieder¬
geburt genannt. Die Taufe ist, wie schon die tägliche Erfahrung lehrt, keineswegs
das Bad der Wiedergeburt; lebt doch die Masse der Getauften nicht anders als
die Heiden. Da aber dem Satan niemand als Gott selbst gewachsen ist, so mußte
er selbst Mensch werden und durch Leiden und Tod seinen Gehorsam beweisen.
Nicht den Charakter eines Sühnopfers trägt der durch einen Justizmord herbei¬
geführte Tod Jesu, denn Gott hat durch die Propheten ausdrücklich verkündigt,
daß er blutige Opfer nicht mag, sondern nur der Gehorsam bis in den Tod ver¬
leiht ihm Wert. Deshalb ist die Idee des katholischen Meßopfers wie auch die
des protestantischen Abendmahls falsch, und auch schon Paulus hat in diesem Stück
geirrt? Gott verzeiht die Sünden ans Erbarmen; wenn er sich die Sündenschuld
bezahlen ließe, so bliebe für das Erbarmen kein Raum.
Ein großartiges Welttablean, das Menschen von einer bestimmten Eigen¬
tümlichkeit als Theorie und als Oricntiernugsplan für ihr Handeln genügen mag.
Den Lehrern des Volkes und der Jugend mochten wir seine Anerkennung nicht
empfehlen. Wir glauben, daß der „klügelnde Verstand" durch die Bekämpfung
des Dualismus der Menschheit eine große Wohlthat erwiesen hat. Werfen wir
einen Blick in die Schule, deren kleine Welt so ausschließlich auf dem Gehorsam
beruht, wie uach Pestalozzi die große! Die Büblein haben zuerst ihre Muttersprache
lesen und schreiben, dann fremde Sprachen, niedres und höheres Rechnen zu lernen.
Das ist kein Vergnüge» (Naturgeschichte, Geographie, Geschichte, Naturkunde, die
bereiten, wenn sie nicht gar zu ungeschickt angefaßt werdeu, an sich selbst Vergnügen),
sondern eine mühselige, auch mit körperlichen Beschwerden verbundne Arbeit. Dennoch
gelingt es ausgezeichneten Lehrern, daß alle ihre Schüler diese Arbeit willig ver¬
richten, und daß keiner sich der Sünde des Ungehorsams, der Auflehnung gegen
einen unbequemen Zwang schuldig macht. Sehr ungeschickte Lehrer dagegen haben
beständig über Rebellion zu klagen. Sie kämpfen mit Schlägen gegen den Wider¬
stand an und verstärken ihn dadurch. Und aus dem Haß, den der Krieg zwischen
Lehrern und Schülern auf beiden Seiten erzeugt, kriecht das giftige Gewürm von
einem Dutzend andern Sünden ans: Bosheit, Nachsucht, Grausamkeit, Schadenfreude,
Lüge, Verstellung, Betrug, Hinterlist. Wie in der Schule, so gehts in der Familie,
auf dem Gutshöfe, in der Werkstatt, im Kriegsheere, in der Gemeinde, in dem
Staat zu. Da haben wir also die ganz natürliche Entstehungsweise des Bösen und
brauchen keinen Teufel dazu! Daß kein vernünftiger und erfolgreicher Unterricht
möglich war, solange man die Ursache der Halsstarrigkeit und Faulheit der Schüler
im Teufel und in dem dnrch die Sünde verdorbnen Willen suchte, statt in der
schlechten Lehrmethode, in der falschen Disziplin und in ungünstigen Verhältnissen,
das bestreitet heute wohl niemand mehr. Schon vor 800 Jahren sagte Anselm
von Canterbury einem Klosterabt, der sich über die Roheit und den Stumpfsinn seiner
Zöglinge beklagte, die er vergebens mit Schlägen zum Guten zu zwingen suche:
Eine traurige Erziehung das, mit der ihr ans Menschen Vieh und wilde Tiere
macht! Liegt es nun nicht nahe, alles sittlich Böse ans gleiche Weise zu erklären?
Die tiefste Wurzel freilich: der Ratschluß Gottes, eine Welt zu schaffen, in der sich
Natur, menschliches Unvermögen und menschlicher Unverstand vereinigen, immer
wieder aufs neue Böses zu erzeugen, der bleibt uns verborgen; aber um vernünftig
und heilsam zu wirken, bedürfen wir der Kenntnis dieses Ratschlusses nicht. Mochte
in diesem der Teufel auch wirklich eine Rolle spielen, für die Praxis, das sagt
uns eine zweitausendjährige Erfahrung, ist es weit nützlicher, wenn wir ihn aus
demi Spiele lassen und nur die Beweggründe und Bedürfnisse der Menschen, ihren
Verstand und ihren Unverstand in Rechnung stellen.
Der Kritik des heutigen Kirchenwesens in der vorliegenden Schrift können
wir beipflichten. Der Verfasser findet ihre Verfehlungen u. a. darin, daß die ka¬
tholische Kirche die Welt zu beherrschen suche, die protestantischen Kirchen ihr allzu¬
sehr dienen. Er schreibt: Es giebt keinen christlichen Staat und kann keinen geben,
und weist auch die Einbildung zurück, das echte und wahre Christentum sei ein
Privilegium der Deutschen. (Es giebt heutzutage mancherlei Urteutonen; die um
schönerer jammern darüber, daß Judentum und Christentum die Deutschen ver¬
dorben und ihnen ihre eigentümliche Religion geraubt hätten.) Diese.Kritik hängt
durchaus nicht so eng mit Pestalozzis Theologie zusammen, daß sie durch deren Ab¬
lehnung hinfällig würde. Mit seiner Theologie will er den Zeitgenossen zur wahren
Gottes-, Welt- und Selbsterkenntnis verhelfen. Nun bekennt er aber selbst, daß
die Belehrung nicht ausreicht, wo die persönliche Erfahrung fehlt, die allein eine
Gotteserkenntnis und eine Glaubenskraft erzeugen könne, wie sie Paulus hatte. Das
ist vollkommen richtig. Wir aber folgern daraus zweierlei. Erstens lassen sich weder
innere noch äußere Erfahrungen erzwingen. Was Musik ist, kann keiner wissen, der
nie Musik gehört hat. Die ungeheure Mehrzahl der Menschen aber gleicht in Be¬
ziehung auf die Wahrnehmung des Göttlichen einem stocktauben. Folglich kann Gott
gar nicht wollen, daß alle Menschen im höchsten Sinne des Wortes Christen seien;
hätte er es gewollt, so hätte er ihnen die äußern Fügungen und das innere Organ
zu ihrer Wahrnehmung nicht versagt. Zweitens machen andre ganz andre Erfahrungen
als Pestalozzi, und sie glauben aus diesen Erfahrungen entnehmen zu sollen, daß
die Welt keineswegs, wie Pestalozzi glaubt, überwunden, der Weltsinn vernichtet
werden soll; sie finden, daß ohne die Welt und den Weltgeist das echte Christentum
und sein Gottesgeist gnr nicht da sein, sich nicht bethätigen könnten, und sie ver¬
muten, daß die Welt nicht vom Teufel, sondern sozusagen das Weben der linken
Hand Gottes ist, die mit der rechten zusammen der Gottheit lebendiges Kleid wirkt.
Buh so verschiednen Erfahrungen folgern wir, daß der einen nicht Alleinberechtigung
zuerkannt werden darf.
„Die Botschaft hör ich wohl, allein
mir fehlt der Glaube." Dieses oft zitierte Wort bezeichnet am beste» die Auf¬
nahme, die der Versuch, auf eine konfessionelle Friedensvereinignng hinzuarbeiten,
bei den meisten in Nord- und Süddeutschland gefunden hat. Und doch haben wir
keine Veranlassung, den Gedanken an einen Friedensbund aufzugeben und alle dahin
zielenden Pläne in das Reich utopistischer Träumerei zu verweisen; denn große, kühne
Unternehmungen Pflegen nicht über Nacht fertig dazustehn, sondern bedürfen meist einer
langsamen, stetigen Entwicklung. Warum sollte es in diesem Fall anders sein?
Ja, auch dann, wenn der Versuch zu Wasser werden sollte, würde das Be¬
wußtsein, etwas Gutes für die Wohlfahrt der Nation gewollt zu haben, reichlich
trösten und die leidige Empfindung der Enttäuschung völlig aufheben. Noch sind
wir nicht so weit. Auch ans die Gefahr hin, zu den unverbesserlichen Idealisten
gezählt zu werden, werden wir dafür sorgen, daß die Idee eines konfessionellen
Friedensstandes nicht so rasch zu Grabe getragen werden wird. Der Stein ist
ins Rollen gebracht, und dn es auch im Reich des Geistes gesetzmäßig zugeht, so
wüßten wir nicht, weshalb diese Bewegung plötzlich ins Stocken geraten sollte. So
manches Problem, das anfangs unlösbar erschien, hat danach doch noch seinen
Entdecker gefunden. So wird es auch mit diesem Problem gehn. Es bedarf nur
der Ausdauer und eines Glaubens an den gesunden Kern der deutschen Nation,
dann wird der Fortschritt nicht fehlen.
In weiten Kreisen der deutschen Bevölkerung hat man das gegenseitige kon¬
fessionelle Kämpfen und Streiten gründlich satt. Das deutsche Volk, das ohnedies
unter der Misere des industriellen Niedergangs, der ja hoffentlich bald seinen
tiefsten Stand erreicht haben wird, unsagbar leidet, sehnt sich seit langem schon
in seinem religiös-kirchlichen Leben nach Ruhe und Frieden. Der Kampf war vor¬
mals notwendig, aber unnötig und verderblich ist es, ihn ohne Not jetzt weiter
fortzusetzen. Als nach der Beendigung des Kulturkampfes, bei demi der preußische
Staat weltliche und geistliche Waffen verwechselte, der gesamte deutsche Prote¬
stantismus gefährdet erschien, da mußte zu dem Schwerte scharfer, rückhaltloser
Auseinandersetzung gegriffen werden. Das war in den achtziger Jahren. Die
Zeiten siud anders geworden, die Lage hat sich verschoben, das Bild hat sich ver¬
ändert. Heute bricht sich die Erkenntnis Bahn: Wenn das deutsche Volk nicht stark
geschädigt werden soll, so muß der Kampf ein Ende haben; denn schon werden
Verstimmung und Verbitterung wegen konfessioneller Zwistigkeiten in die bürger¬
lichen Kreise, in das geschäftliche Leben hineingetragen. Die Wahl eines Arztes
nach konfessionellen Rücksichten ist heute schon keine Seltenheit mehr, und wenn die
Fehde länger dauert, denn werden die kaufmännischen Geschäfte in den Städten
dieselben Erfahrungen machen, wie draußen auf dem Lande, vor allem in der
Diaspora. Man kauft dann nur noch bei seineu Glaubensgenossen ein. Das sind
teilte übertriebnen Schilderungen, keine Malereien schwarz in schwarz, sondern
wahrheitsgetreue Darstellungen, die wahrhaftig zu denken geben. Wohin sind wir
gekommen!
Aber kann man denn überhaupt ein halbwegs durchführbares Programm für
eine solche neu zu schaffende Friedenslign aufstellen? Wir zweifeln nicht daran.
Nur muß ein solches Programm alles ausscheidet,, was störend und hinderlich wäre.
Vor allem müssen alle kühnen Hoffnungen auf eine förmliche Wiedervereinigung der
beiden Kirchen als gänzlich aussichtslos aufgegeben werden. Romanismus und
Protestantismus siud und bleiben seit dem Reichstag von Speier 1529, wo man
zum ersten mal den Namen „Protestanten" hörte, Gegensätze, die eine förmliche
Aussöhnung und Verquickung niemals zulassen. Der Protestant denkt anders,
empfindet anders und will etwas andres als der Katholik. Die beiden gehn in
ihren Lehr-, Heils- und Weltanschauungen völlig auseinander, wenn man die prin¬
zipiellen Gegensätze nach der Theorie betrachtet. Aber es gilt zum Glück auch hier
das Wort von der „grauen Theorie." Die geistige Luft, die beide atmen, der un¬
ausgesetzte gesellschaftliche Verkehr, die tausend gemischten Ehen — das alles kann
unmöglich spurlos an den Zeitgenossen vorübergehn, und so geschieht es, daß sich that¬
sächlich zwischen dein Protestantismus und dem Katholizismus hundert Brücken finden,
die auch für eine Friedensvereinignng recht wohl das Fundament bilden konnten.
Das voit uns aufgestellte Programm lautet: „Unter Ausschluß aller rein poll-
en> F^gen und unter Wahrung des Bekenntnisstandpnnktes reichen sich alle
Mttglieder zu dem Zweck die Hand, den konfessionellen Frieden zu schaffen, wo er
zerrüttet ist, den Frieden zu pflegen und zu fördern, wo er bedroht ist." Man
wende auch nicht ein. daß die Durchführung dieses Programms auf große Hinder¬
nde stoße; denn noch immer pflegt sich ein Weg zu finden, wenn ein ernster und
euergtscher Wille vorliegt. So wird man mich hier Versammlungen, Vortrage über
gemeinsame Berührungspunkte u. ni. ganz leicht bewerkstelligen können. Man braucht
ja nicht gleich an weltimtgestaltende Einrichtungen zu denken. Es wird sich alles
ganz natürlich machen, und der Gewinn wäre der, daß sich die Vertreter der Kon¬
fessionen wieder näher kommen und sich achten lernen würden. Das alles ist ja
durch den jahrelangen Kampf verloren gegangen.
Freilich hat man von protestantischer Seite vorgehalten: „Erst muß Rom seine
Prinzipien gegenüber dem Protestantismus einer Revision unterziehn, dann erst
kann es seinen Klerus zur Duldung erziehn, und daun erst kann Friede werden."
Das ist nu und für sich ganz richtig. Aber wenn wir Protestanten darauf warten
wollen, dann können wir lauge warten. Im übrigen ist ja die Praxis der katho¬
lischen Kirche nicht so fürchterlich. Wenn, wie vor einigen Togen, bei der Ein¬
weihung einer evangelischen Kirche gleich mehrere katholische Priester zugegen sind,
so ist doch da wenigstens von einer Zurücksetzung oder Nichtachtung des Protestan¬
tismus wahrhaftig keine Rede.
Die Frage, wer an die Spitze der neuen Liga treten und wer zu Mitgliedern
geworben werden soll, kann man auch leicht beantworten. Keinesfalls die Geist¬
lichkeit. Die protestantischen wenigstens scheinen, vereinzelte Ausnahmen abgerechnet,
herzlich wenig Lust zur Sache zu verspüre«; nud die katholischen würden vermutlich
von ihren Ordinariaten kaum die Erlaubnis zur Mitthätigkeit erhalte». Dann
aber ist es Sache der protestantischen und der katholischen Bürger und Beamten, den
Plan weiter zu verfolge», und daß es da nicht an nationalgesinntcn Männern fehlt,
das ist uns zweifellos.
Die ganze Bewegung, die erst in diesen Monate» begönne« hat, geht von
Mittel- und Norddeutschlnnd aus. Es ist vor allem der Herausgeber der Zeitschrift
„Die christliche Welt," I)r. Rade, der diese Schwenkung, wie wir glauben, zu Nutz
und Frommen des deutschen Volks gemacht hat.
Muß es denn immer das Schicksal des Südens sein, daß wir erst nachhinken?
Können wir nicht gleich mithalten? Allerdings hat unser Nürnberg, das ziemlich
fern vom konfessionellen Kriegsschauplatz steht, heute und morgen keine Veranlassung,
die Friedensglvcke zu läuten. Anders aber sind die Verhältnisse im südlichen
Bayern. Dort ist die Stimmung sehr günstig. Wie wir hören regt es sich schon
in Städten wie München und Augsburg, und wir können nur wünschen, daß
dort die Bewegung uicht verfärbe, sondern rasch um sich greife. Noch ist es Zeit,
daß vieles gut gemacht wird.
Es war kein Geringerer als der Vorkämpfer des „Evangelischen Bundes,"
der verstorbne Professor Or. Beyschlag, der in einer Versammlung 1887 erklärte:
„Eine Kirche, die ihre Mnelons und Pascals, ihre seiner, ja auch ihre Sedluitzky,
Amalie v. Lasciulx und Döllinger hervorbringen, wenn auch uicht immer bis ans
Ende festhalten kann, ist des göttlichen Geistes noch »icht bar und ledig." Auf
diese Tonart müsse» wir alle wieder »»fre Instrumente stimmen lernen, dann
wird eine Vereinigung nicht zu lauge ans sich warten lassen, und der Bund wird
gute Früchte tragen, ihm selbst zur Ehre, der Kirche zum Heil, dem Vaterlande
zum Nutzen.
Zur Beachtung
Alle dein nächsten Kehle beginnt diese Zeitschrift das I. Wertrljahr ihres Jahr-
ganges. Kie ist durch alle Buchhandlungen und Postanstaltrn des In- und Auslandes zu
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erneuern.
Unsre Keser machen mir noch besonders darauf aufmerksam, daß die Grenzboten
regelmäßig jeden Donnerstag erscheinen. Wenn Unregelmäßigkeiten in der Kieferung,
besonders beim (Pult'talmrchsel, vorkommen, so bitten mir dringend, uns dies sofort
mitzuteilen, damit mir für Abhilfe forgen Können. Kcipzig, im Dezember 1!>02 VrrlagshaudlUNg