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]]>Zeitschrift
für
Politik, Litteratur und Kunst
6^. Jahrgang
Aweites Vierteljahr
Leipzig
Verlag von Fr. tons. Grunow
,Y02
las hier gebracht wird, soll keine Würdigung des Wirkens und
der Verdienste des heimgegangnen Staatsmanns sein; dazu wird
hoffentlich in nicht ferner Zeit die Veröffentlichung der von ihm
'hinterlassenen Aufzeichnungen die Gelegenheit bieten. Hier soll
nur ein Erinnerungsblatt gegeben werden ans der Geschichte
der Grenzboten selbst, das in einer Reihe von Ausschnitten aus dem Schatz
seiner Briefe an den Verleger zeigen soll, wie er zu den Grenzboten gestanden
hat, was sie an ihm gehabt und an ihm verloren haben. Es ist nur eine
kurze Spanne Zeit, daß Bosse dem Blatt nahe gestanden und an ihm mit¬
gearbeitet hat, kaum länger als anderthalb Jahre; aber es ist eine dem Ver¬
leger unvergeßliche Zeit. Alles, was Bosse gab, seine Beiträge, seine Briefe,
kam vom Herzen und strömte ans einem Herzen, das voll von Güte war,
aus einem Geiste, der abgeklärt durch reiches Wissen und reiche Erfahrung
über den Dingen stand. Er war einer der besten Männer, die je für die
Grenzboten geschrieben haben, und einer der echtesten Freunde, die sie gehabt
haben. Daß er ihnen nach so kurzer Zeit entrissen wurde, ist ein großer Ver¬
lust für sie; er hätte ihnen noch unendlich viel sein und unendlich viel geben
können, und er gab ja so gern, gerade den Grenzboten, weil sie ihm ans
Herz gewachsen waren.
Nach den ersten Berührungen, die ich mit dem Minister Bosse hatte, Hütte
ich freilich nie geglaubt, daß ich jemals in ein näheres und herzliches Ver-"
hältnis zu ihm treten würde. Man kann als Verleger gelegentlich den Wunsch
hegen, daß sich ein hohes Kultusministerium für Dinge interessiere und ihnen
Förderung angedeihen lassen möchte, die man unternimmt und für wertvoll
und nützlich hält. Man sieht ja, wie manche Dinge sich amtlicher Unterstützung
erfreuen und ihr ihren Erfolg verdanken. Ohne Ahnung davon, welche Wege
dazu unter Umständen nötig gewesen sind, wird man sich herzhaft um die
oberste Instanz werden und dort seine Bitte vortragen. Dann wird man die
Erfahrung machen, daß diese oberste Instanz sich nicht veranlaßt sieht, sich
mit der Sache zu befassen, ohne von zuständiger Seite dazu veranlaßt zu sein.
Man wendet sich also an tiefer stehende Instanzen, vielleicht an die zunächst
in Betracht kommenden, sagen wir ein die Gymnasialdirektoren, obgleich man
weiß, daß diese so viel behelligt werden, daß ihr erstes Gefühl der Papier¬
korb ist. Man erhält denn auch nur einige Antworten, die in der Regel
dahin lauten, daß man sich ohne Veranlassung von zuständiger Seite nicht
mit der Sache befassen könne. Aha. denkt man, der Ibis ist in der Mitte
am sichersten! und wendet sich unverdrossen an die Provinzialschulkollcgien.
Von diesen bekommt man dreierlei Antworten. Entweder: Lassen Sie uns
gefälligst iir Ruhe; oder: Ohne Veranlassung von oben, oder: Ohne Veran¬
lassung von unten können wir uns nicht mit der Sache befassen. Nun hat
man die Empfindung, daß man vor einem Rätsel stehe, und man setzt sich
vielleicht hin und schreibt: Exzellenz! Das ist doch die Geschichte von den
drei Ringen usw. Darauf erhält man in angemessener Frist auch eine Ant¬
wort, die aber betrübcnderwcise lautet: Euer . . . erwidere ich, daß ich mich
nicht veranlaßt scheu kaun, von den bewährten, Ihnen wiederholt ausgesprochnen
Verwaltungsgrnndsätzcn abzuweichen.
Man wird sich nun eines Gefühls von Bitterkeit nicht erwehren können,
da mau sich doch bewußt war, um Interesse für eine nützliche Sache gebeten
zu haben, die es vielleicht mehr wert war als manche andre, und man wird
sich mit finstern Plänen in seinem Innern tragen. Aber ganz unerwartet
kommt dann bei irgend einem Anlaß ein Brief, der einen vollständig ent¬
waffnet: Sehr geehrter Herr! Sie wissen, daß ich die Grenzboten nicht nur
lese, sondern aus ihnen zu lernen suche usw.
Man ist natürlich erstaunt, daß man von einer Seite, wo man noch vor
nicht langer Zeit in rein formeller amtsmäßiger Weise abgewiesen worden ist,
plötzlich ein so freundliches, persönliches Wort erhält; aber man ist erfreut und
ist geneigt, sich zu sagen: Ja, ein Minister wird seine Gründe haben, sich
Bitten vou Privatleuten gegenüber auf den rein formellen Bemntenstandpnnkt
zu stellen, wenn es auch in deinem Falle wohl nicht nötig war.
So vollzog sich mein erster Verkehr mit dem Minister Bosse. Nicht
lange darauf gab mir eine Verfügung des Ministers über die Drahtheftung bei
Schulbüchern Veranlassung, mich hinzusetzen und einen Brief zu schreiben,
worin ich darlegte, daß die Verfügung ein Fehler sei und die und die Nach¬
teile zur Folge habe» würde — es war eine ganz private Äußerung, zu der
mich der liebenswürdige Ton des erwähnten Briefs veranlaßte. Ich konnte
mir aber nicht versagen, bei dieser Gelegenheit zu bemerken, daß der Einband
— man könne ja an Stelle der üblichen Schundware die Lieferung guter
Drahtheftung durchsetzen — schließlich eine äußerliche Sache bei Schulbüchern
sei; nun möchte ich aber wissen, auf welchen bewährten Verwaltungsgrund¬
sätzen die Zulassung mancher Schulbücher beruhe, bei denen der Inhalt noch
schlechter sei als der Einband, und kam zu der Bemerkung, daß es — was
mir dem Schwindel auf dem Schnlbüchcrmarkt gegenüber auch heute noch als
das Richtige erscheinen möchte — das beste sein würde, den ganzen Schul¬
bücherverlag zu monopolisieren und zu verstaatlichen.
Natürlich erwartete ich ans diese kleine Bosheit keine Autwort, aber zu
meiner Überraschung erhielt ich nach ein paar Wochen doch eine, und zwar
zu persönlicher Einsicht die Kopie eines Erlasses, der mit meinen Erwägungen
den frühern modifizierte, und dazu die ernsthafte amtliche Bemerkung: „Was
die Frage der Zentralisation der »Schulbüchersache« anlangt, so kann ich Ihre
Ausführungen mir nur zu einem Teil aneignen. Daß sich noch viel Minder¬
wertiges auf diesem Gebiet hält und weiterwuchert, ist unumwunden zuzugeben,
aber die von Ihnen vorgeschlagne Abhilfe stößt doch in mehr als einem Punkte
auf Bedenken" — es war schade; ich hatte als Kommissar für die Begut-
achtung von Schulbüchern meinen Gevatter Wustmann vorgeschlagen; der hätte
aufgeräumt!
Das war im Anfang des Jahres 1893 gewesen; im Lause des Jahres
bekam ich auf ein paar Zusendungen, die ich dem Minister ohne Bitten oder
Wünsche zu äußern machte, kurzen formellen Dank. Im Spätsommer hätte
ich beinahe eine persönliche Begegnung mit ihm gehabt. Ich kam nach Schruns
im Montafun und hörte, daß er auch dort sei; er wurde mir auch in der
Ferne gezeigt, als er mit seiner Familie im Abendschatten spazieren ging, aber
am andern Tage hieß es, er sei plötzlich nach Berlin abgereist. Es war, als
er aus seinein Amte schied, womit also much unser „amtlicher" Verkehr sein
Ende erreicht hatte.
Aber ein andrer trat alsbald an dessen Stelle. Im Oktober kam ein
Brief mit einem Manuskript. „Ich hatte, schrieb der Minister, kurz nach meinem
Ausscheiden aus der Regierung mir die von mir vertretne Auffassung der
Lage — zunächst nur für mich — notiert. Beim Wiederdurchleseu der Notizen
kam mir, dem alten Grenzbotenfrcnude, der Gedanke, daß es wohl nützlich
sein könnte, meine Gedanken zu veröffentlichen, und daß sie, selbst wenn ihrer
Darstellung noch ein Anflug von der etwas steifleinenen Gewohnheit meines
bisherigen amtlichen Ausdrucks anhaften sollte, vielleicht sür den Leserkreis der
Grenzboten passen und einiges Interesse bieten könnten." Es war der Aufsatz
über „Die Staatsregierung und die Konservativen in Preußen," der in Heft 45
der Grenzboten 1899 steht, und den ich natürlich mit Freuden aufnahm.
Zunächst blieb es bei dieser einen Zusendung, aber ich hatte bald darauf Anlaß,
mich mit der Bitte um einen Veitrag an den Minister zu wenden. Ich hatte
eine Gelegenheit wahrgenommen, etwas stark ketzerische Bemerkungen über
Mädchenerziehung und Fmuenfrnge zu machen, die auch in dem engsten Grenz-
botenkrcise böses Blut erregt und mir Übeln Dank eingetragen hatten. Dies
führte mich dazu, mich an den Minister zu wenden und ihn als den kompe¬
tentesten und über den Parteien stehenden Beurteiler der Sache zu bitte», seine
Ansichten in den Grenzboten auszusprechen. Am 23. Februar 1900 schrieb
mir der Minister darauf folgenden Brief:
Haben Sie herzlichen Dank für Ihren liebenswürdigen Brief von gestern.
Ich schreibe für keine Zeitschrift lieber etwas, als für die Grenzboten; diese sind
meine alte Liebe und werden mir mit jeder Nummer lieber. Ich habe freilich das
Bedenken, daß ich der „kompetenteste Mund," für den Sie mich halten, nicht bin.
Allein die Gedanken über die Frauenfrage, die Sie in Ur. 50 vom vorigen Jahr
und in der diesjährigen Ur. 3 angedeutet haben, decken sich ganz mit meinen An-
schaumigen, die ich am 30. April 1898 im preußischen Abgeordnetenhaus- aus Anlaß
der Jnterpellation über das Breslauer Mädchengymnnsium dargelegt habe. Ich
will also einen Versuch machen. Wenn er Ihnen nicht gefallt, so legen Sie ihn
beiseite. Das wird meine Liebe zu den Grenzboten nicht mindern. Eher meinen
Respekt erhöhen. Die Grenzboten sind jetzt wundervoll im Zuge; ihre Art, in an¬
ständiger und doch schlagender Form ohne jede Verbeugung vor philiströsen oder
exzentrischen Modedummheiten die Wahrheit des gesunden Menschenverstandes aus-
zusprechen, ist einzig und herzerquickend. Ich kann am Freitag morgen den Post¬
boten kaum erwarten, der mir das grüne Heft bringt. Ob es mir aber gelingen
wird, den rechten Ton zu treffen und eine noch so flüssige Frage mit der rechte»
überzeugenden Abrundung zu besprechen, steht dahin.
Unbezahlbar ist die Figur Ihres wunderlichen Freundes. Lassen Sie ihn ja
nicht verschwinden, den trefflichen gescheiten Brummbär mit dem goldnen Herzen
und der wohlthuenden Grobheit. Er hat eine Menge Freunde. In Leipzig
sollen ja die Leute schon nach dem Rosenthal gehn, um ihn zu Gesicht zu be¬
kommen.
Daß mir dieser Brief die größte Freude machen mußte, ist klar. Es war
das erste ganz persönliche und herzliche Wort von einem Manne, dessen rein
geschäftliche Art mich, als er noch im Amte war, gereizt hatte, gerade weil ich
bei ihm so gern etwas andres als kühle Ablehnung gefunden Hütte. Diese zurück¬
haltende Art war es wohl gewesen, die dem Minister den Ruf eingetragen
hatte, daß er nichts als ein Aktenmensch sei. Daß er sehr guten Grund haben
könnte, zurückhaltend zu sein, und daß sein strenges Pflichtgefühl und das
Bewußtsein seiner große,: Verantwortlichkeit dabei mitspielten, gewiß auch oft
eine schöne Bescheidenheit, das blieb den Fernstehenden verborgen. Ein Minister
ist ja auch ein Mensch, aber es wird schwer für ihn sein zu sagen: Hier bin
ich es, hier darf ichs sein! Jetzt durfte er es aber sein, und ich konnte mich
ihm freimütig nahen. Ich schrieb ihm nun allerhand über die Grenzboten, die
Art und Weise, wie sie gemacht würden, und welche Schwierigkeiten und
Kämpfe es manchmal zu bestehn gäbe — gerade dem „wunderlichen Freunde,"
der ihm so viel Spaß machte, war es passiert, daß er ans andrer Seite Anstoß
erregt hatte; ein entrüsteter Freund hatte die aufmunternde Bemerkung ge¬
macht, er hätte in seinem Leben noch kein solches Blech und keinen solchen
Blödsinn gelesen. Eine solche Meinungsäußerung konnte ja etwas verblüffen,
und sie war denn mich der Anlaß gewesen, weshalb ich mich um den Minister
gewandt hatte; ich hatte nicht bezweifelt, daß ich ihn auf meiner Seite haben
würde. Also ich führte in meinem zweiten Brief näher aus, was mich dazu
gebracht habe, zur Frauenfrage das Wort zu ergreifen, und der Minister schrieb
mir am 25. Februar darauf folgendes:
Haben Sie Dank für die Orientierung, die Sie mir in Ihrem Briefe von
gestern gewahren. . . . Daß die Leitung der Grenzboten keine leichte Sache sein
kann, habe ich mir immer gesagt. Ihre Eigenart besteht jn darin, daß selbständige,
unabhängige Leute, die in ein Partcisystem und in eine Schablone nicht recht passen,
frei von der Leber weg reden. Da braucht nicht jeder jedes Wort des andern
zu unterschreiben, und es ist ganz natürlich, daß der eine oder andre auch einmal
schimpft---- Aber werfen Sie nur die Flinte nicht ins Korn. Die Grenzboten be¬
deuten etwas, das können Sie glauben. Sie nennen sie ein Altmänncrblatt. Das
sind sie auch, aber ein frisches und eigenartiges, an dem doch auch die jüngere
Generation viel Interesse nimmt. Ich sprach noch kürzlich mit einem preußischen
Landrat, sehr tüchtig, siebenunddreißig Jahre alt. Der war ganz hingenommen
von den Grenzboten und sagte, er könne sie nicht entbehren. . . .
"
Für den Artikel „Zur Frauenfrage habe ich angefangen, mir den Gedankengang
ein wenig zurechtzulegen. So recht will es aber nicht fluschen. Dennoch gebe
ich die Sache nicht auf. Nur die nächsten Tage bin ich anderweit so in Anspruch
genommen, daß ich pausieren muß.
Später möchte ich Ihnen vielleicht einmal ein paar Worte über den Blödsinn
unsrer konventionellen Geselligkeit schicken. Das wäre eigentlich ein Thema für den
Wunderlichen oder auch für Fritz Anders. Es ist geradezu unglaublich, wie herunter¬
gekommen unsre übliche Geselligkeit ist, und welchem Zwange sonst ganz vernünftige
Menschen sich unterwerfen, um dies inhaltlose, unpersönliche und dabei teure Treiben
mitzumachen. Das müßte einmal gründlich gegeißelt werden.
Aber genug für heute. . . . Halten Sie nur den Kopf hoch, das Herz frisch
und den Mut tapfer!
Die Artikel über die Frauenfrage erschienen dann in Heft 14 bis 16 der
Grenzboten. Mit ihnen und allerhand Plänen und Tagesfragen beschäftigen
sich die folgenden Briefsteller, die ohne weitern Kommentar verständlich sind.
20. März 1900
Für den freundlichen Brief von gestern sage ich Ihnen meinen schönsten
Dank. Für mich sind ja Arbeiten dieser Art etwas Ungewohntes, und ich freue
mich, daß der Artikel Ihren Beifall hat. Ich habe gar keinen Anlaß, Ihnen ab¬
solute Geheimhaltung meiner Autorschaft aufzuerlegen. Wenn Sie also einem oder
dem andern der Ihnen nahestehenden Freunde mich als den Verfasser zu nennen
für gut halten, so steht dem nichts entgegen. Mir liegt nur daran, daß ich nicht
öffentlich als Verfasser solcher Artikel bekannt und genannt werde. Die Menschen
sind hier in solchen Dingen klein und aggressiv. Durch Persönliche Polemik habe
ich als aktiver Minister acht Jahre lang Verdruß genug gehabt. Ohne zwingende
Not möchte ich mir daher jetzt eine solche öffentliche Polemik nicht einbrocken. Der
Artikel wird auf Widerspruch stoßen. Die Sozialdemokratie und die Freisinnigen,
Israels Töchter voran, werden schreien, wie sie 1898 über meine gegen das
Breslauer Mädchcnghmnasium gehaltne Rede ganz töhricht geschrieen haben. Wenn
sie erführen, daß ich der Verfasser bin, so würde es ihnen ein gcfnndncs Fressen
sein, mir hinterher noch einige Fußtritte zu versetzen. Das bedeutet ja freilich
nicht viel. Aber in meiner jetzigen Lage könnte es doch unbequem werden. Also
lieber nicht.
Auf den nächsten Wunderlichen freue ich mich doppelt, wenn Herr Otto Kaemmel
mitmacht. Seine Herbstbilder aus Italien sind ja entzückend, und sein „Werdegang
des deutschen Volkes" hat mich seinerzeit so gepackt, daß ich wiederholt versucht
habe, seine Berufung an eine Preußische Universität durchzusetzen, was ich leider
nicht erreicht habe, eine Illustration zur Allmacht des „allmächtigen Ministers."
Lassen Sie sich doch ja von Kaemmel einen Artikel schreiben über die zweihundert-
jahrige Geschichte der preußischen Akademie der Wissenschaften. Harnacks heutige
Jubilänmsrede, ein wahres Kabinettstück großartiger, unbefangner Auffassung und
schöner Beredsamkeit, bietet das Material dazu, das aus der heute ausgegebnen
Festschrift Harnacks noch ergänzt werden könnte. AVer den Artikel muß ein
Historiker für Sie schreiben, und dazu wäre Kaemmel ganz der Mann. Auch um
die Mängel und das noch Fehlende vornehm, aber ernst zu betonen (Deutsche
Sprache und Litteratur).
Was die Gesellschaftsdummheiten betrifft, so könnten wir uns vielleicht so ver-
tragen, daß ich versuche, Ihnen gelegentlich einmal etwas Material darüber für
den wunderlichen Freund aufzuschreiben. Gelingt es, wie ich fürchte, nicht recht,
und es paßt Ihnen nicht, so werfen Sie es in den Papierkorb. Und zu dem,
was etwa zu brauchen wäre, können Sie ja anch einige Arabesken hinzufügen.
Aber dazu gehört Stimmung, und die muß erst noch kommen.
Über die Maclarenschen Erzählungen schicke ich gelegentlich ein paar Zeilen.
sSie stehn in Heft 15>j Darin haben Sie vollkommen Recht: das Dialektische
ist auch in der Osterhasen Übersetzung der schwächste Teil.
6. April 1900
Ich entsinne mich noch sehr wohl der Zeit, wo die Grenzboten auch mir gar
zu sozialistisch waren. Unter den sozialen Verkehrtheiten, unter denen wir leben, ist
ja leider so viel Schlimmes, daß ein ehrlicher Mann wohl auf den Gedanken
kommen kann, da läge die Quelle alles Übels, und nnr da müsse jede Heilung und
Besserung einsetzen. Und das kann ja dann leicht zu Übertreibungen führen. Aber
das ist ja schon so lange her, und Sie sind jetzt so zahm, daß das doch kaum noch
nachwirken kann. Richtig ist ja, daß die Konservativen und Agrarier von der
Parteischablone nicht so ganz zufrieden sein können. Das ist aber in der Ordnung.
Denn wenn ich die Grenzboten recht verstehe, so liegt ihre Eigenart in der Ver¬
tretung der Wahrheit unter Bekämpfung der Schenklappen, und das können die
eigentlichen Parteimänner nicht ertragen. Aber selbst die Parteipresse ist ja in
dieser Beziehung etwas besser geworden. Jedenfalls lassen Sie nnr nicht nach.
Die Grenzboten müssen und werden schließlich durchdringen; und sie haben doch
auch schon jetzt viele Freunde. Nur die Philister aller Parteien rümpfen die Nase
und thun einigermaßen verächtlich. Das schadet aber nichts, im Gegenteil.... Herr
Direktor Kaemmel hat mir gar nichts zu danken. Die Dankesschuld ist auf meiner
Seite. Sie glauben nicht, welchen Gewinn ich von seinem Werdegang gehabt
habe und noch habe. Ein Jammer, daß die zünftigen Akademiker daran so vorbei¬
gehn. Die Entlassungsrede in den heutigen Grenzboten hat mir wieder ausnehmend
gefallen, das ist alles menschlich, wahr, anfassend, zu Herzen gehend, original und
knüpft so natürlich um seine Reiseeindrücke an. Bitte, empfehlen Sie mich ihm an¬
gelegentlich. Ich freue mich auch seines warmen Eintretens für das alte huma¬
nistische Gymnasium. Ich habe die schwersten Besorgnisse auf diesem Gebiete.
Das Gesamtnivcau unsrer Gymnasialabiturienten geht nicht nur zurück, sondern ist
schon so erheblich zurückgegangen, daß der beste Teil unsrer Bildung gefährdet
wird. . . . Man mag die Nealanstalten mit mehr Berechtigungen ausstatten, als sie
jetzt haben, aber den humanistischen Anstalten soll man einen Lehrplan geben, mit
dem sich eine gute klassische Bildung erreichen läßt. Hoffentlich macht unser Kultus¬
ministerium keine weitern Halbheiten. Wir haben gerade Halbheit genng.
8. April 1900
Hierneben schicke ich Ihnen den Versuch einer Plauderei über konventionelle
Geselligkeit. Es ist nichts Erschöpfendes geworden, und ich bin nicht einmal sicher,
ob der Ton Ihres wunderlichen Freundes einigermaßen getroffen ist. Es soll mich
freuen, wenn Sie es gebrauchen können. Sonst legen Sie es ruhig beiseite oder
schicken es mir zurück.
Über eine Frage möchte ich mich gern einmal mit Ihnen aussprechen, und ich
Wäre dankbar, wenn ich darüber Ihre Meinung erführe.
Es gehört, wenn ich richtig sehe, zur Eigenart der Grenzboten, daß sie neben
den vou den Verfassern mit Namen oder mit bekannter Chiffre gezeichneten Arbeiten
(O. Kaemmel, C. I. usw.) auch Pseudonyme oder anonyme Artikel bringen. Das hat
den großen Vorteil, daß man sich über manche Dinge freier und ungenierter aus-
sprechen kau», ohne daß gleich die ganze Meute der feindlichen oder auch freund¬
lichen Parteipressc über einen herfällt. Namentlich in meiner jetzigen Lage giebt
mir das eine größere Freiheit, als ich sie haben würde, wenn ich meinen Namen
unterzeichnete. Ich habe mich fast acht Jahre lang mit den verschiedensten Parteien
in den Parlamenten und der Presse herumzanken müssen; daran ist meine Gesund¬
heit gescheitert, ich bin nervös geworden und habe deu persönlichen Zank gründlich
satt bekommen. Ich bin daher dankbar dafür, daß Sie mich anonym schreiben
lassen. Auf der andern Seite habe ich zuweilen die Empfindung, daß eine Zeit¬
schrift wie die Grenzboten eigentlich Anspruch darauf hat, von ihren Mitarbeitern
wenigstens dann und wann auch einmal einen Artikel mit deren Namen zu bringen,
damit die Leser wissen, wer zu den Mitarbeitern gehört. Es kommt mir vor, als
könnten Sie denken, ich schämte mich vor der Öffentlichkeit, mich als Mitarbeiter
der Grenzboten zu bekennen. Das könnte dann auf die Dauer schwerlich ein volles
Vertrauensverhältuis geben. Wie denken Sie darüber? Es kann ja anch sein,
daß ich mich irre. Sollte es aber so sein, so bin ich gern bereit, auch einmal
einen Artikel mit meinem Namen zu schreiben. Ich habe im Herbst 1898 die
„offizielle Festfahrt" uach Jerusalem zur Einweihung der Erlöserkirche mitgemacht.
Davon ließe sich manches erzählen, was allgemeines Interesse bieten könnte. Es
fragt sich nur, ob Ihnen das nicht als verspätet und veraltet erscheint. Bitte,
schreiben Sie mir doch darüber einmal ganz offen Ihre Meinung.
Ich habe auch angefangen, Erinnerungen aufzuschreiben. Aber ich komme
damit nur langsam vorwärts, teils wegen meines Befindens, teils weil meine
Notizen sehr lückenhaft und unsicher sind. Angeregt hat mich dazu ein Brief des
Herausgebers der Deutschen Revue, des Herrn Richard Fleischer in Wiesbaden.
Obwohl mir völlig unbekannt, schrieb er an mich gleich nach meinem Rücktritt und
ermunterte mich, namentlich aus der Zeit meiner politischen Wirksamkeit alles auf-
zuschreiben, was ich noch wüßte, weil erfahrungsmäßig die Erinnerung an Selbst¬
erlebtes und Miterlebtes mit jedem Jahre mehr verblasse. Ich brauche es ja nicht zu
publizieren, aber manches könne doch später einmal einen gewissen geschichtlichen Wert
haben. Das leuchtete mir ein. So habe ich aus der Zeit von 1881 bis 1890
manches noch Unbekannte über Bismnrck. Indessen veröffentlichen läßt sich davon
nur wenig. Es leben noch zu viel Beteiligte. Höchstens läßt sich hie und da
einmal etwas Anekdotenhaftes herausschneiden. Das sieht dann aber wieder zu
unbedeutend ans, wenn der Zusammenhang fehlt, in dem es passierte.
12. April 1900
Mir werden Ihre Briefe nie zu lang; ich habe ja jetzt Zeit. Dagegen
geniere ich mich begreiflicherweise, Sie mit so langen Briefen in Anspruch zu
nehmen, der Sie als Verleger zugleich Ihr eigner Redakteur und Mitarbeiter siud.
Aber ich tröste mich damit, daß es für Sie doch absolut nötig ist, über Ihre Mit¬
arbeiter orientiert zu sein. Nachher werden wir schon von selbst kürzer werden.
Jedenfalls bin ich Ihnen sehr dankbar dafür, daß Sie mir in Ihrem Briefe vom
10. dieses Monats so ausführlich geantwortet und mir das Jubilttumshcft vom
Jahre 1891 mitgeschickt haben. Es ist ja beschämend, daß ich es nicht gekannt
habe. Aber im Jahre 1891 war ich — sehr gegen meine Neigung — zum
Staatssekretär des Neichsjustizamts und Vorsitzenden der Kommission für das
Bürgerliche Gesetzbuch gepreßt worden. Damals studierte ich die Nächte hindurch
Pandekten und hatte keine Zeit, die Grenzboten zu lesen. Mich interessiert dies
Jubiläumsheft muss höchste. Es enthält nicht bloß Grenzbotengeschichte, sondern
ein Stück politische und Kulturgeschichte von höchstem Reize. Ich sehe nun er¬
heblich klarer als vorher, worauf es Ihnen ankommt, und ich freue mich, an dem
Strange anziehn zu dürfen----
Die Lex Heinze. Ich rate, sobald wie möglich etwas darüber zu bringen.
Es wartet ja alles darnnf. Es ist kaum glaublich, wie sonst verständige Menschen
sich diesen angeblich künstlerischen Entrüstungsrnmmel haben suggerieren lassen. Die
meisten haben die betreffenden Paragraphen nicht gelesen----Höchst wunderlich ist
auch das plötzliche Mißtrauen gegen die sonst durch das Parlament so verwöhnten
Gerichte. Ich bin gar nicht Prüde und auch gegen das Nackte weitherzig, wenn
es schön ist. Unerfindlich ist mir aber, wie die Künstler hier gerade für die Unter¬
schiebung des Gemeinen, Obszönen und Unzüchtigen als angebliche Kunst eintreten
können, selbst Leute wie . . ., der freilich in allen Dingen des praktischen Lebens
ein unmündiges Kind ist. Aber besprochen muß die Sache in den Grenzboten
werden, wie überhaupt jede größere politische Aktion, und zwar zur rechten Zeit.
. . . Anonymität. Desto besser, daß Sie darüber so verständig denken. Sie
haben ganz Recht, es ist bester, die Sache wirken zu lassen, als mit Namen Reklame
zu machen.
. . . Das Aufschreiben von Erinnerungen ist sicher nützlich, aber für einen
ehrlichen Mann sehr schwer. Man sträubt sich, die zartesten Motive, die schließlich
die entscheidenden sind, niederzuschreiben. Ohne ein gewisses Maß von „Kon¬
fessionen" geht es nicht ab, und diese werden, wie Bamberger einmal richtig bemerkt,
nur zu leicht zu Koketterien. Selbst Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen" sind
nicht frei davon, und er war doch ein ganz Großer, an den keiner heranreicht.
Aber ich will es versuchen, wieweit ich komme. Einzelnes schwebt mir vor, was
ganz gut werden könnte, z. B. die eignen Schul-, Gymnasial- und Universitäts¬
erfahrungen. Ja, wenn man — unbeschadet der Wahrheit und Bescheidenheit —
so einen Hauch von Poesie darüber breiten könnte, wie mein alter, verstorbner
Freund Wilhelm von Kügelgen über seine „Jugenderinnerungen eines alten Mannes."
Aber wer kann das?
. . . Das Programm der Grenzboten . . . unterschreibe ich, Wenns sein muß,
und meinem Herzblut. . . .
Nun habe ich Ihnen noch mehr geschrieben als Sie mir. Seien Sie nicht
böse. . . . Ich müßte eigentlich noch ein Wort darüber sagen, ob ich Ihnen für
die Grenzboten nicht vielleicht kirchlich und zum Teil auch politisch etwas zu weit
nach rechts stehe. Allein ich habe deswegen keine ernste Sorge. Beim Schreiben
darüber kommt schließlich doch nichts heraus. Und wenn Ihnen einmal ans Anlaß
einer Arbeit, die ich Ihnen schicke, Bedenken kommen, so werden Sie sie mir offen
mitteilen. Dessen bin ich gewiß. Also luioo hactenus.
22. April 1900
. . . Hoffentlich sind Sie mit der Lex Heinze gut fertig geworden. Der hier
unter der Flagge der Lex Heinze gegründete Goethebund ist doch eine der seltsamsten
Wunderlichkeiten, die wir erlebt haben. Seltsam freilich auch das Gegenstück, daß
sich E. von Wolzogen öffentlich für die Lex Heinze und gegen die Opposition da¬
gegen ausgesprochen haben soll.
. . . Sehr einverstanden bin ich damit, daß die Grenzboten ein profanes Blatt
bleiben müssen.
Damit schließe ich für heute. Mir geht es seit acht Tagen körperlich wieder
nicht gut. Auch in meinem Hause ist Krankheit. Das lähmt die Frische und
Arbeitslust. Hoffentlich geht es nun wieder aufwärts, nachdem es Frühling ge¬
worden ist. Gott befohlen! Mit herzlichem Gruße usw.
9. Mai 1900
Das haben Sie gut gemacht mit dem Wunderlichen und den Gesellschafts¬
thorheiten. Und wie einfach! Aber alles Gute ist einfach. Ich bin ganz ein¬
verstanden. Die Blätter des Bürstenabzugs bekommen Sie hierneben zurück. . . .
Die Lobesworte am Schlüsse mögen Sie streichen, wiewohl Sie mir Unrecht thun,
wenn Sie meinen, es sei eigentlich ein Hymnus auf mein „goldnes Herz." Ach
nein, ich habe ja von jeher für den Wunderlichen, der viel besser ist als ich, eine
Passion gehabt.
Für heute Schluß. Ich darf gar nicht schreiben, sondern bin ins Bett gesteckt,
heute beim Einzuge des Kaisers Franz Joseph. Ich habe gestern und in der Nacht
noch Schmerzen gehabt, von denen das Ende weg ist, wie die Hannoveraner sagen.
Nun muß ich folgsam sein und tuschen. . . ,
Aber ich kann nicht mehr. Leben Sie wohl!
(schind folgt)
dem von der Stadt Boston am 5. März dem Prinzen Heinrich
zu Ehren veranstalteten Bankett hat unter unteren ein Herr
Richard Olney, der unter Cleveland Staatssekretär war, eine
Rede gehalten, die uns, wenn die Zeitungen über ihren Inhalt
recht berichtet haben, eine besondre Beachtung zu verdienen
scheint. Er soll in ihr gesagt haben, die Völker selbst, nicht die Herrscher ge¬
fährdeten heute den Frieden, darum sei das beste Mittel, einen Krieg zu ver¬
meiden, die Völker freundschaftlich einander bekannt zu machen. Der Kaiser
suche den Frieden zu erhalten dadurch, daß er Mißverständnissen zwischen den
Nationen vorbeuge. Das sei besser als Hcilversuche nach dem Bruche der
Freundschaft. Die Entsendung des Prinzen Heinrich sei sehr zeitgemäß, denn
Amerika fordre die Welt heraus zum Kampf um die industrielle Oberherrschaft,
der der gewaltigste in der Weltgeschichte sei. Der Besuch des Prinzen und
der überaus günstige Eindruck, den er gemacht habe, sei geeignet, dem vorzu-
benqen, daß der Kampf in einen Krieg ausarte. Deutschland und Amerika
verpflichteten sich gewissermaßen gegenseitig, den Kampf in den Grenzen christ¬
licher und zivilisierter Völker zu halten. In diesem Sinne werde der Besuch
des Prinzen zu den merkwürdigsten Ereignissen der internationalen Geschichte
gehören.
Ohne die Stellung und deu Einfluß des Herrn Olney in den zur Zeit
maßgebenden Kreisen seiner Landsleute zu kennen, und ohne uns optimistischen
Erwartungen in dem von ihm angedeuteten Sinne hinzugeben, freuen wir uns
aufrichtig über die in seinen Worten liegende, von reifem politischem Ver¬
ständnis zeugende Anerkennung der weisen und humanen Weltpolitik unsers
Kaisers, die immer wieder auf einen friedlichen Ausgleich der scharf zugespitzten
nationalen Interessengegensätze bedacht ist, und der auch die Mission des
Prinzen Heinrich zu dienen bestimmt war. Wenn sich im Deutschen Reich
unverbesserliche Nörgler auch in diesem Falle wieder bemühn, dem deutschen
Volke die Freude über die Politik des Kaisers durch billiges Anzweifeln des
praktischen Erfolgs dieser Mission zu vergällen, so sollten sie sich angesichts
des ruhigen, erlisten Urteils des Amerikaners Olney schämen. Handgreifliche
Erfolge von politischen Aktionen, wie Prinz Heinrichs Amerikafahrt eine war.
können nur politische Narren von heute auf morgen erwarten, und auch wenn
die Zeitungen niemals von solchen Erfolgen berichten würden, Hütten wir
Grund, auf den Verlauf der Prinzenreise dankbar zurückzusehen. Die deutsche
Presse sollte aber als ihre Pflicht erkennen, die friedliche Verständigung über
die Gegensätze in den volkswirtschaftlichen Interessen der deutschen Nation und
des Volks der Vereinigten Staaten nach Kräften zu fördern.
Die Gefahr ist vorhanden, daß sich die nationalistischen, imperialistischen
und merkantilistischen Strömungen, die seit einigelt Jahren fast in der ganzen
Welt hervorgetreten sind, so sehr verschärfen, daß sie endlich zu Kriegen zwischen
den Staaten, zuerst zu Zollkriegen, dann zu Kriegen mit Blut und Eisen
führen könnten. Da solche Strömungen in den Vereinigten Staaten einen
besonders günstigen Boden gefunden und eine besondre Stärke erreicht hatten,
war man berechtigt, von einer besondern amerikanischen Gefahr zu sprechen,
und das Deutsche Reich wird wachsam bleiben und sich gerüstet halten müssen.
Die nltimg. ratio muß auch Amerika gegenüber bereit gehalten werden, aber
sie darf doch immer nur riltimg. rg.die> sein; beides können wir, Gott sei Dank,
von der Weltpolitik unsers Kaisers vertrauensvoll erwarten. Wir stehn mitten
im Kampf um deu Zolltarif, unmittelbar vor handelspolitischen internationalen
Kämpfen und Entscheidungen von der größten Bedeutung. Wir wollen durch
Handelsverträge der merkantilistischen Gefahr, auch der amerikanischen, für eine
längere Reihe vou Jahren vorbeugen. Vielleicht legen sich dann die Wogen
des merkantilistischen Wahns ein wenig. Noch wird, wenn man von dieser
handelspolitischen Friedensaktion spricht, die Schiffahrtspolitik kaum erwähnt.
Wie sie aber in den Zeiten des alten Merkantilismus eine ganz besondre
Rolle spielte — man braucht nur an die englische Nnvigationsnlte barbarischen
Andenkens zu erinnern —, so wird auch der Neumerkantilismus wahrscheinlich
den Versuch macheu, die Seeschiffahrt in nationalistische Fesseln zu schlagen.
Sie ist auch in unsrer Zeit das Instrument des wichtigsten Teils des Welt¬
handels und der Weltwirtschaft geworden, trotz der Niesenfortschritte, die die
Technik des internationalen Landvcrkchrs im vorigen Jahrhundert gemacht hat.
Auch die amerikanischen Neumcrkautilisten schwärmen schon von der Herrschaft
des Banners mit den Streifen und Sternen über den Ozeanverkehr, von der
„Kontrolle" des Welthandels dnrch die amerikanischen Schiffahrtsunter-
nehmungen. Das könnte, in die Wirklichkeit übersetzt, sich leicht zu einer
Weltgefahr aufwachsen. Aber solche Träume sind noch lange keine Wirk¬
lichkeit, weder diesseits noch jenseits des Atlantischen Meeres. Bis zur
Beherrschung des Ozeans durch das Sternenbanner ist es noch ein weiter
Weg. Thatsächlich ist sein Anteil sogar am Schiffsverkehr der Vereinigten
Staaten selbst mit dem Ausland, in den letzten vier Jahrzehnten, trotz des
gewaltigen Aufschwungs, den doch ihr Anteil am Seehandel der Welt ge¬
nommen hat, nicht nnr keinen Schritt vorwärts gekommen, sondern bis in
die allerneuste Zeit sogar zurückgegangen. Das verleiht natürlich dem Schiff-
fahrtsmcrkantilismns drüben einen besondern Vorteil beim Erregen der öffent¬
lichen Meinung, einen außerordentlich förderlichen patriotischen Nimbus, wo
es gilt, mächtigen Kapitalistengrnppen für ihre geschäftlichen Svnderinteressen
die Klinke der Gesetzgebung in die .Hand zu spielen. Aber andrerseits — das
müssen wir durchaus anerkennen — erwächst den leitenden Politikern drüben
ans der auffallend ungünstigen Entwicklung, die der Anteil der Vereinigten
Staaten an der internationalen Seeschiffahrt genommen hat, doch mich die Pflicht,
einer so auffallenden Erscheinung aufmerksame Beachtung zu schenken und auf
eine Besserung Bedacht zu nehmen. Wenn Präsident Roosevelt in seiner ersten
Botschaft gesagt hat, daß es unweise sei, die Verteilung der Produkte des
Landes so wie bisher der Schiffahrt konkurrierender Völker zu überlassen, so
hat er damit Recht gehabt und wahrlich noch lange nicht dem merkautilistischen
Pessimismus in Europa Veranlassung gegeben, deu Kampf um die Seeherr-
schaft im Sinne der imperialistischen Schreier als Roosevclts politisches Pro¬
gramm hinzustellen und dagegen zu eifern.
Es wird im folgende,/ verflicht werden, ans Grund der amtlichen ameri¬
kanischen Schiffahrtsstntistik, etwas eingehender als es bisher in der deutschen
Publizistik geschehn ist, die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand des
Anteils der Flagge der Vereinigten Staaten am internationalen Seeverkehr
darzustellen. Die Sachlage verlangt unsre volle Aufmerksamkeit, aber auch
ruhiges Blut, objektive Prüfung und genaue Kenntnis. Rationalistische Über¬
treibungen können nichts nützen, sie würden mir schaden.
Bon einer nennenswerten Beteiligung amerikanischer Schiffe -- wir
brauchen der Kürze wegen die Bezeichnung amerikanisch für die Schiffe der
Vereinigten Staaten — ant Seehandelsverkehr zwischen nichtamerikamschen
Häfen ist keine Rede. Soweit sie überhaupt vorkommt, beschränkt sie sich fast
ganz auf kurze Fahrten zwischen den zunächst benachbarten Auslandshüfen,
namentlich zwischen den Häfen Mexikos, Zentralamerikas und Westindiens.
Aber über diese Reisen amerikanischer Schiffe zwischen nichtamerikanischen Häfen
giebt es überhaupt keine Statistik, sodaß sie schon deshalb unsrer Betrachtung
entzogen sind. Ebenso haben die Vereinigten Staaten bisher vollständig auf
die Statistik der Küstenfrachtfahrt — d. h. des Seetransports von Gütern und
Personen vou einem Jnlandshafen nach dem andern — verzichtet. Diese
Küstenfrachtfahrt (0o-iMng- traäe,) — im Unterschied von der Fahrt von einem
Jnlandshafen zum andern, um in ihnen aus dein Ausland gebrachte oder
nach dem Ausland gehende Güter oder Reisende nach und nach abzusetzen
oder einzunehmen — ist der amerikanischen Flagge seit alter Zeit vorbehalten
und ist hoch entwickelt, liegt aber außerhalb unsers Themas. Wir haben in
folgendem nur mit dem Seeverkehr zwischen den Vereinigten Staaten und
dem Ausland — dem?orsiM kranke, — zu thun, und zwar werden wir dabei
zunächst auf die Statistik des Seeverkehrs in den amerikanischen Hafenplätzen
^ die nur deu Verkehr mit dem Ausland umfaßt —. sodann auf die Statistik
des Seeaußcnhcindels und drittens auf die Flvttenbestandsstatiftik, soweit sie
den Vorsi^n tracko angeht, unsre Blicke richten.
Der Gesamtverkehr der in den Häfen der Vereinigten Staaten zu Handcls-
zwecken im Anslandsverkehr angekommnen und abgegangnen Schiffe — An¬
kunft und Abgang zusammen- und die in Ballast gehenden Schiffe ein¬
gerechnet — bezifferte sich im Berichtsjahr 1901, d. h. vom 1. Juli 1900
bis 30. Juni 1901, auf 59 597914 Registertonnen Nettoraumgehalt, wovon
12798652 Tonnen auf die amerikanische und 46799262 Tonnen auf fremde
Flaggen kamen. Die Gesamtnettotonnage betrug:
Davon kamen ans die amerikanische Flagge:
und auf die fremden Flaggen:
Der Anteil der amerikanischen Flotte stellte sich also 1861 ans 70 Prozent,
1871 auf 38 Prozent, 1881 auf 19 Prozent, 1891 auf 24 Prozent und 1901
auf 21 Prozent.
In den letzten fünf Jahren bewegte sich der Prozentualantcil wie folgt:
Die Verhältnisse liegen übrigens an den verschiednen Meeren sehr ver¬
schieden. Im Jahre 1900 stellt sich der Nettoraumgehalt der in den Häfen
der Vereinigten Staaten von und nach ausländischen Häfen angekommnen und
abgegangnen Schiffe im ganzen auf 56445146 Tonnen. Davon kamen auf
die Häfen der großen Süßwasserseen im Norden rund 9 Millionen Tonnen,
von denen etwa 47 Prozent unter amerikanischer und 53 Prozent unter
britisch-kanadischer Flagge gingen. In den Ozeanhäfen, auf die es uns allein
ankommt, gingen überhaupt 47 Millionen Tonnen ein und ans, wovon
69 Prozent auf die Häfen um Atlantischen Ozean, 18 Prozent auf die Häfen
am Golf von Mexiko und 13 Prozent auf die Häfen am Stillen Ozean kamen.
Der Anteil der amerikanischen Flagge an der im Auslandsverkehr ein- und
ausgehenden Nettotvunage belief sich 1900 in den atlantischen Häfen ans
11 Prozent, in den Golfhüfen auf 13 Prozent und in den pazifischen Häfen
auf 53 Prozent.
Viel unerfreulicher wird das Bild, wenn man auf die Herkunfts- und
Bestimmungsländer der in den amerikanischen Häfen verkehrenden Schiffe ein¬
geht und die Segelschiffe von den Dampfern unterscheidet. Dabei müssen
freilich besonders beurteilt werden die kurzen Reise:: zwischen den Pouget Sund¬
häfen und den gegenüberliegenden von Britisch-Columbia, dann zwischen Key-
West und Habana und zwischen Eastvort (Maine) und Neu-Braunschweig.
In diesem nüchstnachbarlichen Überfahrtverkchr, wobei die Schiffe zum Teil
täglich hin- und herfahren, herrscht die amerikanische Flagge bei weiten: vor
und hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. In diesem Verkehr
kamen in den genannten amerikanischen aus den genannten ausländischen Häfen
an und gingen dahin ab — die Fälle der Ankunft und des Abgangs immer
zusammengerechnet — im Jahre 1397 Schisse aller Flaggen mit einem Netto¬
raumgehalt von 2200000 Tonnen und 1900 mit 2500000 Tonnen. Davon
sichren uuter amerikanischer Flagge 1897 1900000 Tonnen und 1900
2200000 Tonnen. Für den eigentlichen Ozeanverkehr mit dem Ausland
kommen diese sich durch die häufige Wiederholung der Überfahrten ergebenden
hohen Tonnagezahlen nicht in Betracht. Übrigens wird dieser Verkehr und
den Nsar-L? xorts der Tonnage nach fast ganz von Dampfern besorgt.
Ferner ist besonders zu beurteilen der Verkehr mit den Philippinen und
Hawaii. Die Zustände auf den Philippinen begünstigen die amerikanische
Flagge thatsächlich, im Verkehr mit Hawaii ist sie gesetzlich privilegiert, ^in
Jahre 1897 betrug die gesamte Nettotonnage der in den Häfen der Ver¬
einigten Staaten von und nach den Philippinen und Hawaii ankommenden
und abgehenden Schiffe 430000 Tonnen, wovon auf die amerikanische Flagge
300000 kamen. Dagegen war 1900 die Tonnage aller Flaggen 1000000
und die der amerikanischen 060000 Tonnen. Der Anteil ist also sogar etwas
zurückgegangen. Davon kamen über zwei Drittel auf amerikanische Segelschiffe.
Scheidet man den Verkehr mit den near-Li ?ort8 und den mit den
Philippinen und Hawaii ganz aus. so stellte sich im Verkehr mit Westindien.
Mexiko und Zentralamerika 1900 der Anteil der amerikanischen Flagge an
der Nettotonnage der cingekommnen und abgegangnen Schisse auf 39.9 Prozent
gegen 36.2 Prozent im Jahre 1897. Es hat also eine verhältnismäßig
günstige Entwicklung stattgefunden, aber immerhin ist die fremde Tonnage um
700000 Tonnen, die amerikanische nnr um 650000 Tonnen absolut gewachsen.
Der Gesamtverkehr stieg in den fünf Jahren von 4,8 Millionen auf 6,2 Mil¬
lionen Tonnen. Amerikanische Segelschiffe waren 1900 darunter noch mit
600000 Tonnen vertreten. Im Verkehr mit Britisch-Nordamerika war 1900
der amerikanische Anteil 33,2 Prozent gegen 45,2 im Jahre 1897, sodasz er
also eine starke Einschränkung aufweist. Absolut ist die amerikanische Tonnage
um 35000 Tonnen, die fremde dagegen um eine Million, der Gesamtverkehr
von 2,7 auf 3,7 Millionen Tonnen gestiegen. Von der amerikanischen Tonnage
kommt ein Viertel auf Segelschiffe. Im Verkehr mit Südamerika war 1900
der Anteil der Vereinigten Staaten 23 Prozent, gegen 25,2 Prozent 1897.
Absolut weist die amerikanische Flagge eine Abnahme um 170000 Tonnen
oder 24 Prozent auf, die fremde eine solche von 300000 oder 17 Prozent.
Der Gesamtverkehr ist von 2,7 auf 2,3 Millionen Tonnen zurückgegangen.
Der Anteil der Segelschiffe ist etwa 38 Prozent.
Sehr viel weniger günstig stellt sich der amerikanische Anteil im Verkehr
und den andern Weltteilen dar. Im Verkehr mit Europa machte der Alleen
der amerikanischen Flagge um der Nettotonnage aller in den Häfen der Ver¬
einigten Staaten angekommnen und abgegangnen Schiffe 1900 nur noch
2 Prozent aus gegen 3,8 Prozent im Jahre 1397. Die amerikanische Ton¬
nage aber hat absolut um 360000 Tonnen abgenommen, die fremde um fast
4^/z Millionen Tonnen zugenommen. Der Gesaintverkehr ist von 24 Millionen
uns 28 Millionen gestiegen. Die Segelschiffe treten sehr zurück. Im Verkehr
mit Afrika belief sich 1900 der amerikanische Anteil ans 2,1 Prozent gegen
5,5 Prozent 1897, und die amerikanische Tonnage, die übrigens nnr aus
Segelschiffeii besteht, hat absolut um 34000 Tonnen abgenommen, die fremde
dagegen um 100000 Tonnen zugenommen. Der Gesaintverkehr stieg von
1033000 auf 1074000 Tonnen. Im Verkehr mit Asien war 1900 der
amerikanische Anteil — zumeist Segelschiffe — nur noch 12 Prozent gegen
21,1 Prozent im Jahre 1897. Die amerikanische Touucige hatte um 68000
Tonnen abgenommen, während die fremde um 580000 gestiegen war. Der
Gesamtverkehr stieg von 1,45 Millionen auf 1,97 Millionen Tonnen. Im
Verkehr endlich mit Australien und den Südseeinseln hat sich der Anteil der
amerikanischen Flagge an der in den Häfen der Vereinigten Staateil ange-
kommnen und abgegangue» Schisse aller Flaggen von 1897 bis 1900 vou
25 Prozent aus 27 Prozent gehoben. Der Gesamtverkehr ist von 575000 aus
467000 Tonnen zurückgegangen, also verhältnismäßig unbedeutend. Von den
125000 Tonnen, die 1900 auf die amerikanische Flagge kamen, entfielen
90000 auf Segelschiffe.
Wenn man der Zuversicht gedenkt, mit der der amerikanische Imperialismus
seit dem spanischen Kriege von der Alleinherrschaft des Sternenbanners auf
dem Pacifik schwelgte, wird man die Enttäuschung, die sich jetzt äußert, be¬
greifen. Der Lomiriissionkr ok ^ÄvigÄtion schreibt denn auch in seinem Bericht
für 1901: It koroign, donnaFs Linie illoröÄ3v «,s rg.x>1ÄI? Sö ok kath, ve sKaU
v«z <Mtv miwtrippell in tuo trsclo ok eilf ?aoiüe, vbie-it >of diivs dssir >vont
to rsAiirä g.8 xscznli-irl^ our voor. Der Expansionsfanatismns läßt sich eben
heutzutage nicht mehr so leicht erfolgreich bethätigen wie zur Zeit Attilas!
Leider giebt die Seeschiffahrtsstatistik der Vereinigten Staaten ebenso¬
wenig wie die des Deutschen Reichs und Englands einen Nachweis des be¬
stallter Raums oder der bei der Ankunft gelöschte» und bei dem Abgang
geladner Warenmengen. Aber sie hat sich doch wenigstens seit alter Zeit
bemüht, den Wert der zur See eingeführten und ausgeführten Waren für die
einzelnen Zollbezirke (Häfen) sowie für die Herkunfts- und Bestimmungsländer
und für die Nationalität der Schiffe, die die Einfuhr und die Ausfuhr besorge»,
nachzuweisen.
Der Nachweis des Nettoraumgehalts, d. h. der nach Abzug der Räume
für die Maschinen, für den Kohlenbednrf des Schisses, für die Mannschaften
und dergleichen zur Unterbringung des Frachtguts und der Passagiere übrig
bleibende Schiffsraum, wie ihn die bisher mitgeteilten Zahlen erbringen, kann
schon deshalb kein richtiges Bild von der wirtschaftlichen Bedeutung des An-
teils der amerikanischen Flagge am Seeverkehr in den amerikanischen Häfen
geben, weil wir nicht erfahren, wie weit der benutzbare Raum anch wirklich
ailsgenutzt wird. Auch wenn man die in Ballast ankommenden und abgehenden
Schiffe aussondert, ist nichts gebessert. Vollends für die bewegte Gütermenge,
also von den Passagieren abgesehen, ist die bewegte Nettoregistertonnage der
als mit Ladung ein- und ausgehenden Schiffe kein brauchbares Merkmal. Ein
krasses Beispiel geben die vou der Kieler Handelskammer — unsers Wissens
allein in Deutschland — fortgesetzten Nachweisungen des bestallte» Raums
neben dem Nettornumgehalt. Es betrug dort in Ankunft und Abgang zu¬
sammen der
Beladen war durchschnittlich 1899 jedes Segelschiff zu 55 Prozent des Netto-
raumgehalts und jedes Dampfschiff sogar nur zu 21 Prozent; 1398 stellten
sich diese Verhältniszahlen ans 57 und 20; 1897 ans 55.4 und 20 Prozent.
Auch die dünische und die norwegische Schiffahrtsstatistik, die den vcstauten
Raum oder die Ladung nachweisen, zeigen den Unwert des alleinigen Nach¬
weises des Nettoraumgehnlts, Wenn die deutsche Seeschiffnhrtsstatistik bisher
die Fracht ebenso wie die englische und die französische Statistik ganz unbe¬
rücksichtigt läßt, so findet das zwar in der zu verankerten Ungenamgkeit der
Angaben über den bestanden Raum eine Erklärung, aber wünschenswert ist co
doch, daß man sich anch in Deutschland dazu entschließt, wenigstens die von
den Schiffen der verschiednen Flaggen in deutschen Häfen gelöschten und ge-
ladner Warenmengen unter Nachweis des Herkunfts- und des Vestunmnngs-
landes der Schiffe .nid zum Teil auch der Waren statistisch darzustellen. Wo¬
möglich auch die abgesetzten und anfgenommnen Passagiere. Dafür sind zuver¬
lässige Unterlagen vorhanden, und wenn Rußland. Spanien, Italien und
Bulgarien seit Jahren die gelöschten und geladner Warenmengen, teilweise anch
die Passagiere nachweisen, so müssen wir das doch auch können. Nur so laßt
sich die Bedeutung unsrer Seeschiffahrt für unsern Seehandel erkennen. ^
ist falsch, wenn bis in die neuste Zeit sogar so unterrichtete Manier wie
E. von Hailes und G. Gothein^) den Anteil unsrer Flagge an der Waren¬
einfuhr und Ausfuhr einfach nach der ein- und ausgehenden Nettoregister-
tonnage der deutschen Schiffe berechne«. Je mehr die merkantilistische Strömung
auch auf die Schisfahrtspolitik überzugreifeu droht, um so mehr wird die
Berücksichtigung der Ladung auch in der dentschen Secschiffahrtsstatistik at»
Bedürfnis empfunden werden. Diese kurze Abschweifung schien uns auch zur
Aufklärung über unser eigentliches Thema nötig zu sein.
Die amerikanische Handelsstatistik giebt, wie schon angedeutet worden ist,
nicht über die auf fremden und einheimischen Schiffen ein- und ausgehende
Warenmenge Auskunft, wohl aber über den Warenwert. Im Berichtsjahr 1900
war der W,re der Eiufi.hr und der Ausfuhr zur See - ohne Gold und Silber
und ohne die Wiederansfnhr fremdländischer Ware — zusammen 2089528610
Dollar; davon kamen und gingen unter amerikanischer Flagge nicht mehr als
195084192 Dollar oder 9,33 Prozent. Unterscheidet man die Herkunfts- und
die Bestimmungsländer der Waren (nicht der Schiffe), fo ergiebt sich folgendes
Bild. Es gingen 1900 in den Vereinigten Staaten ein und ans Waren im
Wert von Dollar
An der Einfuhr und der Ausfuhr uach Australien usw. ist Hawaii allein mit
26 Millionen Dollar unter amerikanischer Flagge beteiligt (77 Prozent), gegen
8 Millionen unter fremder Flagge. Im Handelsverkehr mit Britisch-Australien
betrug der Anteil der amerikanischen Flagge nur 8,16 Prozent. Im Verkehr
mit Südamerika steht der mit Venezuela mit einem amerikanischen Anteil von
73 Prozent obenan. Dieser Anteil beträgt im Verkehr mit Argentinien nur
9,76 Prozent und im Verkehr mit Brasilien gar nur 5 Prozent. In Nord¬
amerika steht Porto Nieo mit einem amerikanischen Anteil von 96,73 Prozent an
der Spitze, Cuba folgt mit 51,36 und das übrige Westindien mit 24 Prozent.
Auch im Verkehr mit Canada überwiegt die amerikanische Flagge. Im Ver¬
kehr mit Europa ist ihr Anteil bei Frankreich mit 7,59 Prozent um größten,
bei Großbritannien und Irland macht er 4,50 Prozent ans, bei Italien
3,11 Prozent und bei Deutschland 1,88 Prozent.
Wenn man die Einfuhr von der Ausfuhr unterscheidet und die Gegenwart
mit der Vergangenheit vergleicht, so erhält man folgendes Bild, worin die Einfuhr
und die Ausfuhr auf dein Landwege natürlich außer Betracht gelassen sind:
Das sind doch Zahlen, die, wenn sie für Deutschland gälten, sogar unsre
gemäßigten Protektionisten in Harnisch brächten. Sie beweisen eine wirklich
erstaunliche Vernachlässigung des Anteils der amerikanischen Schiffahrt, be¬
sonders an der Verteilung der so gewaltig angeschwollnen überschüssigen
Produktion der Vereinigten Staaten. Auch wenn drüben der Protektionis¬
mus und der Merkantilismus gar keine Rolle spielten, wenn die Amerikaner
Freihändler wären, müßte die europäische Reederei mit einer über kurz oder
lang zu erwartenden Verschiebung zu Gunsten der amerikanischen Flagge rechnen,
ja sie müßte schou längst damit gerechnet haben.
Von dem Wert der Warenausfuhr entfallen natürlich auf die verschiednen
daran beteiligten fremden, und zwar europäischen Handelsflotten, sehr ver-
schiedne Anteile. Während 1900 amerikanische Dampfer mit 66 Millionen und
amerikanische Segelschiffe mit 22 Millionen Dollar teilnahmen, kamen auf
britische Dampfer 790 Millionen und auf britische Segelschiffe 37 Millionen;
auf deutsche Dampfer 141 Millionen und auf deutsche Segelschiffe 8 Millionen;
auf norwegische Dampfer 30,5 Millionen und auf norwegische Segelschiffe
9 Millionen. Ferner ans holländische Dampfer 34,5; auf französische 23,0;
auf belgische 20; auf italienische 7,6 Millionen und auf italienische Segelschiffe
3,4 Millionen. Man sieht daraus, wie gewaltig die britische Flagge mich hier
allen andern überlegen ist und doch vielleicht, ohne sich sehr wehe zu thun,
von ihrem Riesenanteil einen ganz hübschen Posten an schiffahrtsnchtige ameri¬
kanische Kapitalisten überlassen darf.
Und nun kommen wir schließlich zu der dritten und vielleicht für uns inter¬
essantesten Statistik, dein Bestand der amerikanischen Seeschiffe für den ^oroiZn
traä<z. Nach den Gesetzen der Vereinigten Staaten werden seit alter Zeit die
im Verkehr mit dem Ausland verwandten Schiffe in der Registrierung von
den im LoastwA er-iac unterschieden. Unter KöAiswroä vosLöls sind nur die
im?orsiZn er^as und in der Walfischerci arbeitenden Schiffe verstanden, während
die zur Küstenfrachtfahrt dienenden zu den Lnrollsä ana lioensscl, vsssels ge-
gehören. Die Unterscheidung hat hauptsächlich zolltechnische Grüude und dient
zur Kontrolle des Monopols der einheimischen Flagge für den «no^eins traäs.
Nur die im voastwg' trg.Ä6 mit Hawaii verwundten Schiffe werden vorläufig
noch zu den lie^istörsÄ vsss<zi8 gerechnet.
Der Bestand an Schiffen für den Auslandsverkehr stellte sich dem Brutto-
raumgehalt nach im Juni
Einschließlich der für die Walfischerei registrierten Schiffe ergab fich im
Juni 1901 ein Bestand von 1327 Schiffen mit 889129 Tonnen Bruttoraum-
gehalt. Davon waren aber 972 Schiffe mit 459407 Tonnen, also der größere
Teil, Segelschiffe, und 194 Schiffe mit 63105 Tonnen waren hölzerne Dampfer.
An Eisen- und Swhldnmpfern waren nur 161 mit 366617 Tonnen vorhanden,
und davou kamen für die transozeanische Fahrt wieder nur 113 mit zu¬
sammen 353281 Tonnen in Betracht, und zwar 74 Dampfer unter je 3000
Tonnen; 23 von 3000 bis 5000; 13 von 5000 bis 7000 und 4 über 10000
Tonnen. Und dieser amerikanischen Ozeandampferflotte standen 1901 nicht
weniger als 136 Ozeandampfer mit 672455 Tonnen gegenüber, die unter
fremder Flagge gehn, aber in den Besitz amerikanischen Kapitals übergegangen
sind, wobei auf die britische Leyland-Linie 44 Dampfer mit 277 379 Tonnen
entfallen. Wir werden auf diese Erscheinung, die der Lowiriikisioiisr c>k 5la,öl-
8'kckion in seinem letzten Bericht wohl mit Recht als a rmiciuv tiree in voininer-
vml narium<z llistor^ bezeichnet, noch kurz zurückkommen.
Im Unterschied zu den l^eAlstorsä vssssls hat sich die im (no-istinA traäo
verwandte Flotte, namentlich in den letzten zwanzig Jahren, sehr kräftig entwickelt.
Im Jahre 1861 belief sich ihr Brnttoraumgehcilt auf 2704544 Tonnen. 1871 auf
2764600 Tonnen, 1881 sogar nur auf 2646011 Tonnen, aber 1391 schon auf
3609876 Tonnen. Seit 1897 ist der Bestand der Küstenfahrer von 19802
Schiffen mit 3890826 Tonnen dann weiter auf 21269 Schiffe mit 4582645
Tonnen i. I. 1901 gestiegen. Die für die Walfischerei registrierten Schiffe sind
seit 1897 von 54 mit 12714 Tonnen auf 41 mit 9534 Tonnen zurückgegangen.
Wenn die mitgeteilten Zahlen der dem Auslandsverkehr dienenden Schiffe
seit 1897 größer geworden sind, so wird das von amtlicher amerikanischer
Seite ausdrücklich als kein Fortschritt der Konkurrenzfähigkeit der einheimischen
Handelsflotte im transozeanischen Verkehr bezeichnet. Es waren durchweg nnr
äußere, vornehmlich infolge des spanischen Krieges eingctretne Umstände, die
diese Vermehrung veranlaßt haben. Für das Berichtsjahr 1901/02 waren bei
Abschluß des Berichts des Lomurisswusr ot UavigÄtiun für 1900/01 freilich
sehr ansehnliche Schiffsbauteu für deu Ozeanverkehr unternommen; 10 Dampfer
von zusammen. 110820 Tonnen Bruttoraumgehält für den transatlantischen
Verkehr, 2 Dampfer von 42000 Tonnen für den direkten und 2 Dampfer
von 22000 Tonnen für den pazifischen on Hawaii und endlich 2 Dampfer
von 3300 Tonnen für den Verkehr mit Mexiko, Westindien und Venezuela.
Man kann annehmen, daß diese Bauten unternommen worden sind in der
Aussicht auf die geplante neue Gesetzgebung über sehr reichliche Dampfcr-
snbventionen, die im Winter 1900/01 schon zur Beratung stand, ohne zur
Verabschiedung zu gelangen, wahrscheinlich aber demnächst in irgend einer
Form verwirklicht werden wird. E. Fitger hat darüber in seinein kürzlich er¬
schienenen Buch: Die wirtschaftliche und die technische Entwicklung der See¬
schiffahrt ausführlich berichtet und scharf geurteilt. Vielleicht ist der von der
amerikanischen Opposition dein Gesetzentwurf gemachte Vorwurf, daß er zu
„einer unverschämten Bereicherung eines ganz kleinen Kreises der Gro߬
kapitalisten" dienen solle, zum guten Teil berechtigt, und Nur stimmen Fitger
bei, wenn er sagt: „Natürlich ist es sehr wohl möglich, daß etwas, was vom
amerikanischen Standpunkt aus eine Verschwendung ist, der europäischem
Reederei Schaden zufügt." Aber auch abgesehen von der Möglichkeit, daß
mcrkantilistischc ÜbersclMcnglichkeit die Vereinigten Staaten verleitete, volks-
nürtschaftliche Dummheiten zu machen, wird die europäische Reederei gut thun,
sich auf die zunehmende Konkurrenz der amerikanischen Flagge im Ozeanverkehr
einzurichten. Darüber Zeter schreien können nnr Europäer, die selbst in
merkantilistischeu Irrtümern befangen sind. Über den Ankauf der Leylcmd-
linie durch das Morgnnsyndikat äußert sich Fitger dahin, daß, wenn das
amerikanische Kapital zur Erwerbung der europäischen Handelsflotte solche Zu¬
schlüge zu den in Europa für nötig gehaltnen Summen bewilligen wolle, wie
beim Ankauf der Lehlandlinie, so werde es viele Aktien oder ganze Gesell¬
schaften kaufen können. Wie es dabei aber zu einem wirtschaftlichen Erfolge
kommen könnte, sei nicht abzusehen, trotz der amerikanischen Subventionen.
Der Grund für die einzig in der Schiffnhrtsgeschichte dastehende Erschei¬
nung, daß eine doppelt so große Ozennflotte unter fremder Flagge, aber im
Besitz amerikanischen Kapitals, an der Verteilung der Produktion der Vereinigten
Staaten mitwirkt als die Ozeanflotte unter amerikanischer Flagge, muß natürlich
mit dem Grunde der Rückständigkeit und des Rückgangs der amerikanischen See¬
schiffahrt in naher Beziehung stehn. Als der hauptsächlichste Grund beider Er-
scheinungeu ist in Amerika selbst wiederholt das noch geltende Gesetz von 1792
bezeichnet worden, das bestimmt, daß die amerikanische Registrierung nur solchen
Schiffen erlaubt sein soll, die innerhalb der Vereinigten Staaten gebaut sind.
Präsident Cleveland sprach sich über die Hochprotektionistische Einrichtung in seiner
Botschaft von 1894, wie Fisk in seiner Schrift über die „Handelspolitik der
Vereinigten Staaten 1890 bis 1900" mitteilt, deutlich genng aus: „Die alte
Bestimmung, die den im Ausland gebauten Schiffen der Amerikaner die amerika¬
nische Registrierung versagt, erscheint im Lichte der gegenwärtigen Verhältnisse
nicht nur als ein cntschiedner Mißerfolg, sondern mehr als irgend ein andres
Gesetz der Verewigten Staaten als ein Überbleibsel von Barbarismus. Ich
empfehle darum ernstlich ihre möglichst schnelle Aufhebung." Und der Beruht
des 0c.mmissi.onsr ok NaviMtion für 1395 sagt darüber: olloot ok wis
lap, nnclor oxisting inÄirstrml oonclitions, is not cent^ to enoonraZo tut vir-
WM), to oomvsi ^morioan kapital, >vit!inA to omwrk in transoooanio
Navigation, to organi?« nnSor wo lavvs ok voor nations ana rosort to alion
lwM, ?uns, irr ekkeot, an ^morioan lap koroos ^niorioans to onüanoo wo
maritimo imnortanoo ok koroiZn nations at wo savriüoo ok our von. Ob¬
gleich seitdem die fremde Flotte in amerikanischem Besitz stark zugenommen
hat, ist jetzt die herrschende Ansicht dank der hochschntzzöllnerischcn Strömung
wesentlich anders. Der neuste Bericht desselben vommissionor ok Navigation
kantet in bezeichnender merkantilistischer Sophistik, in der die amerikanischen
Volkswirte die unsrigen uoch übertreffen, in dieser Beziehung: mus. vento
wo rogistrv lap äoos not xromoto äomostie süipbniläinA, its roxoal, on
wo voor Juun, voulä xrovaol.v not rosnlt in ano inoroaso in ^msriean
wixxinZ, iinless oonxloä ^vio wo ropoal ok voor Statutes, wo -Emission ok
koroiM-bunt vossols to wo eoasting traäo, or moor oompousating aävan-
wFes oczuivalont to woso in koroiZn traäo xossossocl v), koroigii vossols. An
die Aufgabe des Monopols in der Küstenfrachtfahrt ist gar nicht zu denken,
der Schwerpunkt liegt in den ungeheuern Subventionen, die für die Schiff¬
bauer und ihre Lieferanten herausgeschlagen werden sollen. Fisk teilt eine
Stelle aus der Zeitschrift ?orna mit, die die Jnteressenfrage treffend be¬
leuchtet: „Der amerikanische Exporteur wünscht den billigsten Transport für
seine Ausfuhr; der amerikanische Reeber wünscht, daß der Transport der Aus¬
fuhr, soweit es praktisch möglich ist, auf Schiffe unter eigner Flagge beschränkt
wird, dagegen null er seine Schiffe kaufen und seine Mannschaft mieten, wo
es ihm beliebt. Der amerikanische Schiffbauer null, daß der Reeber seine
Schiffe nur in amerikanischen Werften kauft. Der amerikanische Seemann
wünscht, daß die Mannschaft mir aus Bürgern bestehn soll. Das ganze
amerikanische Volk wünscht eine amerikanische Handelsflotte, die mit den
Schiffen fremder Nationen auf hohem Meere, das nicht durch die Gesetz¬
gebung eines Landes beherrscht wird, in Wettbewerb treten kann." Daß das,
was das amerikanische Volk sehr vernünftigerweise null, dnrch die Registrierung
der schon vom amerikanischen Kapital erworbnen auswärts gebauten Ozean¬
schiffe schnell gefördert würde, liegt ans der Hand, und von den genannten
Sonderinteressenten sind es doch eigentlich nur die Schiffbauer und ihre Hinter-
Männer, die von der Aufrechterhaltung der ü,6Al8t-r^ IM Prosit haben, natürlich
einen recht hohen mir dann, wenn die staatlichen Subventionen einen solchen
garantieren. Fisk sagt nach bekannten Mustern: „Das Problem besteht in
der Versöhnung dieser verschiednen Interessen." Er scheint eine Lösung von
der oben schon erwähnten noch schwebenden Gesetzesvorlage über die Dampfcr-
snbvcntionen zu erwarten. Im Ausland gebaute Schiffe, die amerikanischen
Bürgern gehören, sollen danach nnter gewissen Beschränkungen zur amerikanischen
Registrierung zugelassen werden und dann die Hälfte der Subsidien erhalten.
Wieweit diese Aussicht beim Erwerb der Leylandlinie eine Rolle gespielt hat,
wissen wir nicht. Fest steht, daß die Absicht dabei ein Hauptwort gesprochen
hat, einige große Eisenbahnlinien mit transatlantischen Dampferlinien unter
einen Hut zu bringen. Jedenfalls will man damit den ganzen Transport
rentabler machen, obgleich man die Leylandlinie derer geknnft hat. Ob das
Ganze auf einen Konkurrenzkampf gegen nicht beteiligte Eisenbahnen hinaus¬
läuft, die man totmachen will, sei es auch durch verlustbringende Seefrachten,
muß abgewartet werden. Geschäft ist Geschäft, und mit Verlusten will auch
der amerikanische Geschäftsmann nicht auf die Dauer arbeiten. Sollten die
Subventionen die amerikanischen Seefrachten auf einen unsre Interessen
schädigenden Stand herabdrücken, so würde dadurch die Reziprozität verletzt
und würden Repressalien notwendig werden.
Daß der Verfall der amerikanischen Handelsschiffahrt seit vierzig Jahren
wesentlich mit veranlaßt worden ist dnrch das Zurückbleiben der Einfuhr hinter
der Ausfuhr, und soweit daran die Hochschntzzöllnerei schuld ist, auch durch diese,
ist mehr als wahrscheinlich. Solange die Einfuhr der Ausfuhr überlegen oder
gleich war — etwa bis zum Anfang der sechziger Jahre —, blieb auch der
Anteil der amerikanischen Flagge an dein Gesamtaußenhandcl zur See dem der
fremden Flaggen überlegen und gleich. Er wurde um so geringer, je mehr
der Abstand zwischen Einfuhr und Ausfuhr zu Gunsten der Ausfuhr wuchs.
Das ist ja auch ganz natürlich. Wer sehr wenig importiert und sehr viel
exportiert, für dessen Schiffe wird die Heimreise keine Frachten, oder doch nur
beschränkte abwerfen, sie wird meist in Ballast nnsgefnhrt werden müssen.
Wahrscheinlich wird das mich in der nächsten Zukunft den Vereinigten Staaten
die schnelle Schaffung einer eignen Handelsflotte stark erschweren. In der
Vergangenheit hat zum Verfall der Bürgerkrieg und der Übergang vom Holz-
schisfban zum Eisenschiffbau, wodurch Amerika des großen Vorteils, den seine
vortrefflichen Waldbestände ihm gaben, immer mehr beraubt wurde, anerkannter¬
maßen viel beigetragen. Aber jetzt ist doch auch die Eisen- nud Stahlproduktion
drüben in Blüte.
Ob man in den Vereinigten Staaten daran denkt, auf die barbarischen
aber wirksamen Mittel der englischen Navigationsakte zurückzugreifen, steht
dahin, daß man in den letzten Jahren wiederholt daran gedacht hat, nament¬
lich an Differenzicilzölle und Differenzialtonnengeldcr, steht fest. Man hat
ja auch schon einige Versuche in dieser Richtung gemacht, und das Tarif¬
gesetz von 1897 wäre in ihr wohl noch weiter gegangen, wenn nicht die
Handels- und Schiffahrtsverträge mit den meisten fremden Staaten, zumeist
sehr alten, dem Messer die Klinge genommen hätten. Der Bericht des Low-
misÄonM 0k N-loix-iUcm für 1896 weist das Verlangen nach viLoriwinatinZ'
vutiss on LIiixpinA entschieden zurück und teilt den Wortlaut der Verträge
mit mehreren Staaten darüber mit, die gekündigt werden müßten, wenn man
diese den achtzigjähriger Traditionen widersprechende Politik durchführen wolle.
Der Bericht für 1898 kommt auf deu Vorschlag eines wereÄSvcl orni on -Ü1
Mo-is imxorwä wo tuo Urite-ä Ltats8 in toröiAN vsssols adovs Alp tarill
ra-eg« irnvossä on ZooÄs iinporwä in ^merieW ochse-is zurück. Er widerspreche
den Verträgen mit Großbritannien, Deutschland, Schweden und Norwegen,
Italien, Rolland, Österreich-Ungarn, Dänemark, Belgien. Rußland, Spanien.
Portugal,°Griechenland, der Türkei. Venezuela, Brasilien. Argentinien. Paraguay.
Peru, Bolivia, Ecuador. Japan. China. Korea. Honduras. Costa-Ren. Guate¬
mala. Haiti. San Domingo und Liberia und setze so ein Asiuzral r^chustewönt
vt' our oornmMÄÄl rellitions ufm^ all eilf vivili^ä porta voraus. Wenn
man die Zahlung von Prämien ans den Export aller oder einzelner Produkte
"uf amerikanischen Schiffen verlange, so würden dem die Verträge und Gro߬
britannien. Deutschland, Holland, Belgien, Italien. Dänemark. Portugal.
Österreich-Ungarn, Brasilien, Argentinien. Japan widersprechen, nach denen
dann dieselben Prämien auch den Export auf fremden Schiffen gewährt werden
müßten. Der Bericht für 1899 teilt die betreffenden Verträge einfach und als
solche, die im Falle der Annahme von Differenzinlzöllen oder Exportprämien
für die auf amerikanische» Schiffen ein- und ausgeführten Waren abgeändert
werden müßten. So ganz leicht nimmt man wohl drüben auch jetzt noch acht
wie so radikale Revolutionierung des Handelsvertragssystems, in das man sich
seit achtzig Jahren eingelebt hat.
Ob der Merkantilismus in den Vereinigten Staaten und in der ganzen
zivilisierten Welt eine Zeit lang die Oberhand über die Anschauungen und Grund¬
sätze gewinnen wird, "die auch im internationale!: wirtschaftlichen Wettbewerb
die Forderungen der Zivilisation und christlichen Humanität gelten lassen wollen,
wringen und den dann wahrscheinlichen allgemeinen und furchtbaren Kmegs-
zustaud herbeiführen wird, weiß heute niemand mit Bestimmtheit zu sagen.
Wahrscheinlich ist es wohl nicht, und sicher ist es, daß die neumerkanti istische
Weltwirtschaft, so schwere Wunden sie anch der Menschheit schlagen konnte,
>"ehe von langem Bestände sein wird. Die in der allernächsten Zukunft be¬
vorstehende ziemlich allgemeine Revision der Handelsverträge wird den Re¬
gierungen und den Völkern Gelegenheit geben, die Konsequenzen eines solchen
Rückfalls in barbarische Sitten etwas eingehender zu studieren und ernster zu
nehmen, als dies weit vom Schuß in der neumodischen Studierstube, in
Jnteresscntenvereinen und in Wahlversammlungen zu geschehen pflegt. Hoffen
wir. daß dadurch der Weltfriede erhalten werde und Deutschlands Volkswirt¬
schaft i
s ist bekanntlich zwischen einer Anzahl Leipziger, überhaupt
deutscher Studenten und einigen den Pariser Kunst- und Ge¬
lehrtenkreisen angehörenden Persönlichkeiten eine Verabredung
getroffen worden, laut deren während der nächsten Zeit in Paris
mehrere Aufführungen der Schillerschen Räuber stattfinden sollen.
Die Hauptrollen werdeu von deutschen Berufsschauspielern gegeben werden,
während das Gros der Räuberbande durch deutsche Studenten zur Darstellung
gebracht werdeu wird.
Wir bezweifeln die Vortrefflichkeit der Absicht und der zu erwartenden
Leistungen nicht; auch davon sind wir überzeugt, daß die Pariser Kreise, die
sich der Sache angenommen haben, ihr Möglichstes thun werden, unsern Lands-
leuten einen guten Empfang zu sichern und das Unternehmen vor jedem An¬
stoße zu bewahren. Desnngeachtet werden wir froh sein zu hören, daß alles
gut abgelaufen ist.
Wenn es sich dabei um eine den deutschen Studenten französischerseits zu-
gegcmgne Aufforderung handelt, so ist das in unsern Augen bei weitem der
günstigere Fall, und wir wollen davon, daß die Sache möglicherweise direkt
oder indirekt von deutscheu Studenten ausgegangen oder angeregt worden sein
könnte, nicht erst reden, da wir überzeugt sind, daß die Studenten auch im
Fall einer nicht von ihnen, sondern von Paris aus ergangnen Anregung
besser gethan hätten, die Sache in einer höflichen Form von der Hand zu
weisen und einer solchen Einladung nicht Folge zu leisten. Wenn die Sache
gut abläuft, wird sich niemand aufrichtiger darüber freuen als wir, aber an
unsrer Überzeugung, daß dergleichen Unternehmungen den Franzosen gegen¬
über für eine nicht absehbare Zeit der Weg ins Holz sind, wird es nichts
andern können.
Wenn sich Studenten zu dergleichen bereit finden lassen, so ist das unserm
Gefühle nach ganz in der Ordnung in allen den Fällen, wo ihnen von der Seite
des Publikums, vor dem sie auftreten wollen, besondre Sympathien entgegen¬
gebracht werden. So können sie es getrost in jeder deutschen Uuiversitäts-
und Residenzstadt probieren, auch im Auslande dürften sich einige Gro߬
städte — nicht gar zu viele freilich — finden, wo die freundliche gemütliche
Absicht des sich zur Schau stellenden Amateurs empfunden, geteilt und zu¬
meist um deswillen doppelt gewürdigt werden würde, weil man den jungen
Herrn auch sonst als liebenswürdigen Gesellschafter und fideler Bruder kennt
und schätzt.
Im allgemeinen sind wir Deutschen im Auslande mehr geachtet als ge¬
liebt, nicht weil wir unbescheiden wären, sondern weil wir ruhmrednerisch sind,
und weil wir von allen zivilisierten Nationen die unfreundlichste und nnnach-
barlichste Presse bilden, zum Teil Leute, von denen man sich fragt, ob sie an
Größen- oder Berfolgnngswahnsinn leiden, ob sie Absinth trinken, ob sie
glauben, daß andre Völker nicht Deutsch versteh», oder endlich ob sie denken,
der Deutsche habe das Vorrecht, alle Welt vor den Kopf zu stoßen, ohne daß
es ihm übelgenommen werden könne. Wenn die deutsche Presse, was sie mehr
ist. die Stimme des deutschen Volks wäre, wäre dieses deutsche Volk die inten¬
sivste Neid- und Giftpilzknltnr aller fünf Erdteile. Es ist uns kein Vergnügen,
das zu sag,„. und noch weniger, es täglich wahrzunehmen, und wir gestehn.
daß wir uns fast täglich bei dem einen oder dein andern Artikel, der uns
in den Zeitungen zu Gesicht kommt, den Kopf mit beiden Händen halten und
uus fragen, ob es bei den andern rappete oder bei uus? Wollte Gott, es
rappelle bei uus: unser dünnes Flötcheu verhallt doch ohnehin so gut wie
ungehört.
Unsre Beziehungen zu einem großen Teile des österreichischen Staats
haben sich nach 1866 in kurzer Zeit überraschend günstig und freundschaftlich
gestaltet; das hat seine guten Gründe: die gemeinsame Herkunft und dieselbe
Sprache, die Angriffe, denen das Deutschtum in Österreich von tschechischer,
polinscher, ungarischer und sonst ultranationalistischer Seite ausgesetzt ist, die
gemeinsamen Bedenken gegen ultramontane Übergriffe und in erster Reihe das
"le genug zu bewundernde und zu preisende Gemüt des Kaisers Franz Joseph,
das schon an und für sich eine wahre Sonne von Wohlwollen und einigender
Liebe vorstellt.
Mit den Franzosen ist es gerade das Gegenteil. Wir stehn ""t ihnen
"och genau auf dem Punkt, auf dein wir in den ersten Zeiten nach Abschluß
des Frankfurter Friedens mit ihnen gestanden haben, und es wäre erstaunlich,
daß die Zeit in dieser Beziehung so ohnmächtig gewesen ist. wenn man sich
nicht vergegenwärtigte, in welchem Maße Paris das Zentrum und das Hanpt-
guartier aller gegen Dentschland gerichteten Bestrebungen ist. und daß sich dort
die Vertreter aller qermauophoben Parteien jeden Tag von neuem gegenseitig
zu leidenschaftlichem Haß gegen unser Land, unsre Regierung und unser Volt
Bregen. In Paris ist in den die internationale Presse ausmachenden und
umgebenden Kreisen alles vertreten, was auf der einen Seite Autorität und
Tradition, ans der andern deutschen Einfluß, deutsches Denken und Fühlen
^kämpft: Tscheche». Polen. andre Slawen. Dänen. Anarchisten. Ulwunon-
taue. Welsen. Wer diesen Hexenkessel nicht kennt, macht sich keinen Begriff
davon: es ist derselbe Zustand krankhafter Überreizung, dessen wir vorhin
bei der Besprechung eines Teils der dentschen Presse gedachten, zedoch mit
einem erstaunlichen' allseitigen Einverständnis in dem einen Punkte daß alle»
darauf ankomme, mit Dentschland fertig zu werdeu und deutsches Oberwasser
zu beseitigen, wo man ihm immer begegne.
Die französische Regierung, deren Mitglieder diese Auffassung entweder
teilen - und das dürfte in der Regel die Mehrzahl thun - oder uus mehr
oder minder wohlwollen, könnte, wenn ihr Sympathien für Deutschland nach¬
gesagt würden, nur sofort einpacken und ihrer Wege gehn. Auf der andern
Seite würden freilich die Beziehungen zwischen den beiden vielfach aufeinander
angewiesenen Nachbarländern leiden, wenn man Deutschland, wie es der
Wunsch vieler Franzosen wäre, fortgesetzt und gründlich brüskierte. Es wird
also ein Mittelweg eingeschlagen, der uns an Senfgurken erinnert, nicht sauer
und uicht süß. Wenn den Gästen die Senfgurken zu süß vorkommen, werden
russische Pickles serviert: das hilft immer.
Die deutsche Regierung hat demgegenüber einen sehr schweren Stand.
Nicht als ob die Deutschen in dieser Beziehung schwer zu behandeln wären;
im Gegenteil, sie sind im Vollgefühl des gehabten Erfolgs erstaunlich ent¬
gegenkommend, aber von den Franzosen muß die deutsche Negierung, wenn
sie nicht zuschlagen will, eine Rücksichtslosigkeit nach der andern, einen Affront
nach dem andern in die Tasche stecken. Wohl gemerkt, wir sagen von den
Franzosen, worunter wir das französische Volk meinen und namentlich die
französische Presse, nicht die französische Regierung. Manche dieser Rücksichts¬
losigkeiten sind sogar chronisch, und wir haben es immer für einen Beweis
besondrer staatsmännischer Klugheit und Befähigung unsrer leitenden Geister
angesehen, daß sie immer bereit gewesen sind, die Sache möglichst von der besten
Seite zu nehmen und trotz aller Mißerfolge neues Entgegenkommen oft in
erstaunlich zartfühlender Form zu bethätigen.
Wir wollen hier nur einiges erwähnen, um den Leser an das, was er
ohnehin schon weiß, zu erinnern, und wir bemerken ausdrücklich, daß wir der
scheinbaren Gleichgiltigkeit, mit der die deutsche Negierung alledem begegnet,
nur beipflichten können, weil ein europäischer Krieg ein unübersehbares Un¬
glück für jeden sein würde, und weil wir ihr volles Zutrauen schenken, daß
sie für den Augenblick, wo ein solcher unvermeidlich wird, diplomatisch und
militärisch bereit sein werde, wie es ja König Wilhelm und dessen Minister
im Juli 1870 Gott sei Dank auch waren.
Straßburg ist eine deutsche Stadt: sie ist es von neuem geworden durch
ein von der französischen Nationalversammlung zu Bordeaux ausdrücklich ge¬
nehmigtes Friedensdvtument, und um die deutsche Stadt wieder französisch zu
machen, müßte die Vorsehung den Franzosen vor allem erst ein zweites, aber
umgekehrtes Sedan bescheren. Aber das ficht die Franzosen nicht an: die
Statue der Stadt bleibt nicht nur nach wie vor auf der Place de in Concorde
stehn, sie wird nicht bloß wie das Denkmal eines geliebten Toten bekränzt
und mit Farbenschmuck behängt, nein es liegt auf ihr auch jahraus jahrein
ein Immortellenkranz, worauf die Parole zu lesen ist: (jul va 1a? — I'rs.Qvö.
Der Botschafter Seiner Majestät des Kaisers von Deutschland führt, wenn er
sich ins Elysee begiebt, ziemlich unmittelbar an diesem chronischen Affront
vorüber, und das am 14. Juli gefeierte Nationalfest beginnt alljährlich damit,
daß zahlreiche patriotische Vereine und die Zöglinge der novi« Vol^wouniquö
die Statue mit Kränzen, Blumen und Trauerflor schmücken. Man verstehe
uns uicht falsch. Wir fühlen den Franzosen ihren Schmerz, ihre Wünsche und
ihre Hoffnungen nach, und wir verdenken ihnen von alledem nichts. Aber es
lehrt uns zugleich, was wir als Deutsche zu denken und zu thun haben, um
jederzeit bereit zu sein. Wer da? Deutschland. Werden die jungen Herren, die
nach Paris gehn, um dn Licbhabertheatervorstellnngen zu geben, in Begleitung
ihrer Gastfreunde einen Kranz vor der Statue von Straßbnrg niederlegen-"
Sonst pflegt man doch bei solchen Gelegenheiten, wo es sich um Gewinnung
von Popularität handelt, die großen Toten nicht zu ignorieren.
Wer nicht in Paris war. als die Mutter unsers Kaisers, die hochbegabte
und von jedem Vorurteil gegen Franzosen und französisches Wesen freie
Kaiserin Friedrich dort war. um in Künstlerkreisen für die Beschickung der
internationalen Berliner Kunstausstellung zu werben, kann sich von der ma߬
losen Rücksichts- und Taktlosigkeit, mit der die hohe Fran uuter den Augen
der französischen Regierung von den Mitgliedern der französischen und inter¬
nationalen Presse behandelt wurde, keinen Begriff machen. Wir haben Nicht
die Gewohnheit, in solchen Fällen starke Ausdrücke zu brauche.,, man kaun
uns deshalb glauben, daß wir nicht über die flache Wirklichkeit hinausgehn,
wenn wir sagen, daß es ein Skandal war, bei dem jedem Deutschen die Rote
des Zorns und der Entrüstung ins Gesicht steigen mußte. König Eduard VII..
dem die deutschen Zeitungen, unter ihnen Witzblätter wie der Kladderadatsch,
heute Schimpf und Schande nachsagen, war damals ritterlich genug, seine
Pariser Popularität in die Schanze zu schlagen und seine erlauchte Schwester,
die der geheiligte Boden der deutschen Votschaft knapp vor Insulten schützte.
"us diesem Pariser Pnndümonium herauszuholen. Wir, die wir Zeuge waren.
werden ihm das nie vergessen.
Wenn in Deutschland irgend jemand über das Wesen der rnsstsch-franzö-
sischen Freundschaft im unklaren sein sollte, so kann ihm mit wenig Worten
geholfen werden. Das von Haß und Rachsucht gezeugte Büudms würde eine
lebensunfähige Mißgeburt sein, wenn das Wort Revanche nicht das sah.bboleth
wäre, das ihm wie durch ein Wunder immer wieder von neuem auf die Beine
hilft. Wir sind zu eiuer Zeit in Paris gewesen, wo Deutsche inmitten sonst
durchaus friedlicher Zustünde gewisse Konzerte, so z. B. die im Tnileriengarten,
nicht besuchen konnten, wenn sie nicht bereit waren, beim Anstimmen der
russischen Nationalhymne ans Befehl der um sie herumsitzenden Franzosen von
ihren Sitzen aufzustehn oder sich mit Insulten ans der Enceinte hinauswerfen
5U lasse.,. Das russische Bündnis ist als ein gegen Deutschland gerichteter
Spieß in Frankreich und speziell in Paris nach wie vor populär: das macht
uns den Gedanken einer dortigen Liebhabervorstellnng. bei der deutsche Studenten
auf der Bühne erscheinen sollen, nicht eben behaglicher.
Die deutsche Regierung muß viel thun, und sie thut viel xour 8^on- les
MZiirone,W, mit andern Worten, damit den übrigen Staaten gegenüber wenig¬
stens der Schein gewahrt bleibe, als seien die Beziehungen der beiden Lander
erträglich; wir glauben mich, daß man vielleicht höhern Orts gemeint hat, die
Schlange der Zwietracht, die im wesentlichen nur von französischen Händen genährt
wird, könne durch Schalmeientöue bezaubert oder in den Schlaf gelullt werde.:
Wenn wir je aus eigner langjähriger Erfahrung von irgend etwas gründlichüberzeugt worden sind, so ist es von der völligen Vergeblichkeit solcher Versuche.
G
An Kränzen für verdiente nud berühmte französische Tote haben es die Kaiser
Wilhelm I. und Wilhelm II. nicht fehlen lassen, Kaiser Friedrich III. hat trotz
seiner schweren Erkrankung Gelegenheit gefunden, den Franzosen Aufmerksam¬
keiten zu erweisen. Es ist bekannt, wie unter dem jetzigen Kaiser die der
französischen Marine zu teil gewordne Einladung, der Eröffnung des Nord-
Ostsecknnals beizuwohnen, zu einer Reihe unhöflicher, exklusiv russenfrcund-
licher Demonstrationen benutzt wurde; die Art, wie Kaiser Wilhelm II. dem
französischen Volke bei Gelegenheit der letzten Weltausstellung eine sa,tiL-
i'a,vtion ä'Äincmr xroxrs dadurch verschaffte, das; er Teile der Einrichtung des
Potsdamer Schlosses, namentlich Möbel im Stile Ludwigs XV., Watteaus,
Lancrets, Paters und andre ausstellen ließ, ist allerdings unsers Wissens in
Frankreich allgemein anerkannt und durch keinerlei Unart verrnpelt worden,
aber der Besuch des hohen Herrn auf dem „Borda" beweist besser als irgend
etwas andres, daß für die Frucht freundschaftlichen Einvernehmens zwischen
Deutschland und Frankreich der Augenblick, wo man sie als einigermaßen ge¬
reift wird pflücken können, noch überaus fern ist. Was der 'IvrnpL über
diesen Besuch sagte und nicht sagte, wäre schon so ziemlich genügend gewesen,
aber das Bezeichnendste und Schlimmste waren doch die familiären Berichte
der jungen französischen Herren, denen die Gastfreundschaft des Kaisers und
der Kadetten des deutschen Schulschiffs offenbar sehr wider ihren Willen zu
teil geworden war. Was uns in dieser Beziehung zum Teil auf Privatwegeu
zu Ohren gekommen ist, klang ja weder unehrerbietig noch verletzend, aber die
Art, wie die jungen Herren versicherten, sie hätten „ihr Möglichstes gethan,
sich nichts merken zu lassen," bewies doch deutlich, daß es etwas gab, was sie
sich uicht merken lassen wollten, und daß das kein besonders entgegenkommendes,
zu kameradschaftlichen Anschluß neigendes Gefühl war.
Wir haben in Paris, weil uns viele Leute, mit denen wir verkehrten,
nicht für einen Deutschen, sondern für einen Amerikaner hielten, manches ge¬
hört, was man einem Deutschen in Paris nicht zu hören giebt; man ver¬
meidet das aus höflicher Rücksicht, und weil der gebildete Franzose von dein
Gastrecht, das jeder in seinem Lande lebende Fremde genießt, eine hohe
Meinung hat und großen Wert darauf legt, daß dagegen nicht gefehlt werde.
Wir wollen hier eine der Gelegenheiten, bei denen wir dergleichen zu hören
bekamen, zum besten geben. Im I)5nsr ?g.i-ihl6n, einem sehr netten Restaurant
auf den großen Boulevards, wo wir viele Monate gefrühstückt haben, waren
wir einem Kellner zugefallen, der an Zuvorkommenheit und Aufmerksamkeit
nichts zu wünschen übrig ließ. Da wir allein frühstückten, reservierte er uns
immer denselben kleinen Tisch, empfahl uns jedesmal, was er für die ge¬
lungenste Leistung des Kochs auf der Tageskarte hielt, und wenn er einen
Augenblick Zeit übrig hatte, unterhielt er uns jedesmal ein wenig, offenbar
aus Zuvorkommenheit, damit uns die Zeit nicht lang würde. Eines Tages
teilte er uns — für einen Deutschen hielt er uns offenbar nicht — in ziemlich
aufgeregter Weise mit: LroiriW-v0U8, Nonsieur, qu'un as och salvs «zovllons
c1'M1sing,na8 pisile ä<z in« rötairs Ah ssi^s sous as 8uxplLmvnt? Lupplvmvnt
heißt bekanntlich in solchen Restaurants », xrix üxv alles, was man sich über
das für drei oder vier Franken gewährte Menü hinaus geben läßt, und wenn
der Kellner an achtzig Centimes gekommen war. so hatte der betreffende Gast
das snxrMlnMt, zu zahlen vergessen oder absichtlich nicht gezahlt. Wir be¬
gnügten uns, den Kellner zu fragen. ob er gewiß wüßte, daß der Betreffende
röellkiNMt, einer unsrer oonrx^roof sei. blieben für alle Entschuldigungen
des unvorsichtigen Jünglings und des zu Hilfe gerufuen N-^ro et'book taub
und kalt und frühstückten aus gekränkte.» Patriotismus eme Zeck lang wo
anders. Später gingen wir jedoch wieder hin. weil uns von andrer Seite
anvertraut worden war. daß es drei Sorten Franzosen gäbe. eine, tue feinste,
von denen die Deutschen als lzriZWös, eine andre, von denen sie als co^Ms,
und eine dritte, von denen sie als s^of voewns bezeichnet würden. Der
Kölner gehörte offenbar zur dritten, schärfsten Sorte, aber er hatte uns. wie
er uns bei den Nänptern seiner sämtlichen Ascendenten zugeschworen hatte,
für einen Amerikaner oder Engländer gehalten: es war also alles in bester
Ordnung.
Aber die driAÄnäs bringen uus wieder auf die Räuber und ans unsre
Ansicht, daß Paris zur Zeit nicht das rechte Terrain für ein deutsches Lieb¬
habertheater ist. um wenigsten wenn es sich dabei, wie wir hören, zugleich um
Massenevolutioncn und Mnsscntableans von hundertundfunfzig deutschen Stu¬
denten handelt. An Rücksichten werden es jn die, von denen unsre Landsleute
nnfgefordert oder ermutigt worden sind, wie wir schon sagten, sicher nicht fehlen
lassen, auch nicht um Vorsicht, damit alles vermieden werde, was von irgend
einer weniger wohlwollenden Seite als Skandal ausgebeutet werden konnte.
Aber als Amatenrkomödianten gehören bei alledem deutsche Studenten fürs
^ste noch nicht nach Paris, das wird wohl auch, denken wir, der Eindruck der
Negierung sein, die ja. wie es scheint, nicht von vornherein um ihre Ansicht
gefragt worden ist. und die offenbar keine Veranlassung hat, einer Sache hindernd
in den Weg zu treten, bei der es sich weder um Verdicken noch um Erlauben
handelt. Es wird ihr wohl gehn wie uns: sie wird von Herzen wünschen,
^ß es gut abläuft, und wird sich, wie sie das erste von dem Plane horte,
wie wir. gewundert haben, daß deutsche Studenten und deren Berater für die
allgemeine Haltung des französischen Volks dein deutschen gegenüber eme
feinere Nase.' und für alles, was in Paris seit dem Frühjahr 1871 geschehn
ist. keine empfindlichere Erinnerung haben. Französische Studenten könnten
mit Rücksicht auf die in Deutschland herrschende Stimmung eine solche Gnst-
wlle eher riskieren, aber wir zweifeln — und hier liegt der ganze Schwer¬
punkt der Sache —, ob sich auch nur ein einziger funde, der dazu aufgelegt
Ware oder Lust hatte.
Wir haben in einzelnen deutschen Zeitungen ziemlich unfreundliche Urteile
über den Besuch gelesen, den tschechische Studenten ganz vor kurzem in Pans
abgestattet haben, und wir geben gern zu, daß es nicht deutsche Sympathien
waren, die sie in die Hauptstadt unsrer westlichen Nachbarn geführt haben.
Auch daß die Franzosen von ihnen nicht die hohen Erwartungen hegten, um
derentwillen ihnen der Zar so wert und kostbar ist. und daß deshalb der
Enthusiasmus des Empfangs entsprechend geringer war, mag jn richtig sein:
aber passendere, gleichartigere und, fürchten wir, willkommnere Gäste als deutsche
Studenten werden sie trotz ihrer angeblichen „Minderwertigkeit" für Paris doch
gewesen sein.
>cum die Biographie, die von jeher und für alle Gebiete mensch¬
licher Thätigkeit eine sehr beliebte, für Kunstgeschichte die aller-
geeignctste Form der Belehrung gewesen ist, heute gerade in der
Musikschriftstellerei besonders eifrig gepflegt wird, so hat das
! seinen Grund darin, daß im neunzehnten Jahrhundert das
musikgeschichtliche Wissen durch biographische Forschungen ganz erstaunlich
gefordert worden ist. Mit den Lebensbeschreibungen, die C. von Winterfeld
über Johann Gabrieli, die O. Jahr über Mozart, Fr. Chrysander über Händel,
PH. Spitta über Seb. Bach, C. F. Pohl über Jos. Haydn, Thayer über
L. van Beethoven veröffentlichten, wachte die Musikgeschichte endlich wieder
aus dem Scheintod auf, in den sie der Fehlschlag der auf umfassende Universal¬
geschichten gerichteten Arbeite» versetzt hatte. Diesen großen gingen in den
Biographien Schuberts, Glucks, Webers bescheidnere, aber immer noch aus¬
schließende Leistungen zur Seite und halfen die natürliche Vorliebe des
Publikums für die Biographie so steigern, daß der Buchhandel sich veranlaßt
sah, geschäftlich mit ihr zu rechnen. Augenblicklich konkurrieren drei Berlags-
cmstalten in der Ausgabe vou populüreu Musikerbiographien: Reclams Universal¬
bibliothek, die Berliner „Harmonie" und Hermann Seemann Nachfolger. Ihr
gemeinsames Ziel ist, die Hauptsachen aus dem Leben und Wirken bedeutender
oder merkwürdiger Meister für einen großen Leserkreis leicht faßlich darzu¬
stellen. In seltnern Fällen legen dabei die Verfasser eigne Forschungen vor,
die Mehrzahl der Arbeiten sind Kompilationen. In diesem Begriff soll durch¬
aus nichts Herabsetzendes liegen. Gut und geschmackvoll zu kompilieren ver¬
langt um und für sich viel Begabung und Bildung, in der Musik ist es augen¬
blicklich sogar notwendiger und verdienstlicher, das gesicherte Wissen zu ver¬
breiten, als es durch Kleinigkeiten und Schnitzel zu vermehren.
Das älteste der drei genannten Unternehmen, das Ncclmnsche, ist mich
das originellste. Seinen Mnsikerbiographien hat zur Zeit kein andres Volk
etwas ähnliches an die Seite zu setzen, soweit es die Billigkeit betrifft. Be¬
lehrungsbücher von hundert und mehr Seiten für zwanzig Pfennige zu liefern,
das ist doch eine ebenso humane als kühne Idee! Erfreulicherweise hat sie
sich auch als durchführbar erwiesen, nur sind die Leistungen nicht alle gleich¬
mäßig gelungen. Stücken, die man warm empfehlen kann, stehn andre gegen¬
über, von denen abgeraten werden muß. Dein Leser den Thatbestand vor¬
zuführen, wird es das einfachste sein, die biographierten Meister in chrono¬
logischer Ordnung anzusehen.
Daß Händel der erste in der biographischen Reihe ist, zeigt auf einen
unleugbaren Defekt in der Bildung der heutigen Musiker und Mnstkfreuude.
Die Musikwissenschaft hat die Arbeit für das sechzehnte und das siebzehnte
Jahrhundert bisher vergeblich gethan. Wohl liegen die Werke von Palestrina
und Schütz seit einem Jahrzehnt in stattlichen Gesamtausgaben, von einer
Menge wichtiger Komponisten ihrer Zeit gut ausgewählte Eiuzel- und Sammel-
drncke noch viel länger vor. Aber der großen Menge sind sie immer noch
nicht nahe gebracht. Da entsteht unsers Erachtens für einen biographische»
Verlag die Frage: Abwarten oder vorarbeiten? Vorarbeiten wäre das richtige,
wahrscheinlich anch das geschäftlich vorteilhaftere Verfahren. Reclam sollte es
ruhig mit kleinen Biographie.: von Lasso, Palestrina. Eccard. von Monteverdi
nud Schütz versuchen; nur müßten die Auftrüge in geeignete Hände kommen.
Vielleicht in die desselben Autors, der Händel behandelt hat. Bruno Schraders.
Seine Händelbiographie ist die beste Arbeit in der ganzen Reelamschen
Mnsikerbibliothek. Sie ruht auf ausreichender Kenntnis der Händchchen Werke
selbst und auf einer sehr reichen und soliden Allgemeinbildung, sie ist bei popu¬
lärer Fassung und schöner Sprache wissenschaftlich durchaus stichhaltig, fuhrt
den Leser kritisch in die gesamte zeitgenössische und neue Litteratur ein. soweit
sie beachtenswert ist, und macht ihn mit der interessanten Geschichte der
Händelschen Werke bis auf die keene Wendung durch Fr. Chrysander vertraut.
Man kaun allen, die vor ähnlichen Aufgaben stehn, die Schraderschc Arbeit
als Muster nennen.
Die Biographie Seb. Bachs hat Richard Batka mit dem löblichen Vorsatz
geschrieben, das kulturhistorische und das nationale Element in den Vordergrund
zu stellen. Doch ist er über den Stoff nicht genügend unterrichtet, verliert
einmal die Zeit so sehr mit dem selbstbewußte Vortrag vou Allgemeinheiten,
daß er seinen Helden erst auf Seite 32 auf die Bühne bringt, und gerät
andrerseits in unhaltbare Übertreibungen. Mit eiuer solchen setzt schon die
Vorrede ein- Bach soll der Erneuerer des deutschen Geistes gewesen sein. Das
kann nur einer behaupten. der mit der Wirkung der Bachschen Kompositionen
"uff achtzehnte Jahrhundert unbekannt ist. Ein andres Beispiel ans der Liste
wesentlicher Grundirrtümer Battas enthält der (ans S. 75) mit Berufung auf
N- Wagner aufgestellte Saw „daß unsre großen Meister (Bach eingeschlossen)
in ihren Schöpfungen bereits eine Sprache geahnt, in ihren Motiven eine Art
von Rede angewandt und in Tönen ausgedrückt haben." Schon Aristoteles
und die Griechen haben die Musik für eine Sprache gehalten. Daß mit den
spätern Musikern auch die des achtzehnten Jahrhunderts desselben Glaubens
waren, wird aus Forlels Einleitung seiner Universalgeschichte allein schon
deutlich genug, obendrein bestätigen es ihre Werke dem. der zu lesen versteht,
in jedem Takte. Die Urteile über die Kompositionen Bachs sind häufig ober¬
flächlich und unselbständig. In der Überschätzung des Mngnificat folgt Batka
Phil. Spitta. in andern Fragen hat er diesen Gewährsmann wieder unge-
'"'gerd studiert. Ein Beispiel hierfür ist das Mißverständnis über die Be¬
stimmung der Paulinerkirche zur Zeit Bachs. In Superlativen und falschen
Pnoritätszengnissen verrät der Verfasser den Mangel wissenschaftlicher Schulung.
in Citaten von Autoritäten wie H. Pudor den an Geschmack. Diese Mängel
sind um so mehr zu bedauern, als wir es im Grunde in Battel tun einen:
begabten, höher gerichteten und über Ideen verfügenden Schriftsteller zu thun
haben. Von dieser Seite zeigt ihn um besten der kurze Abschnitt über die
Bedeutung der deutschen Musik im achtzehnten Jahrhundert im Berhältuis zur
gleichzeitigen Poesie.
Die Gluckbiographie von Heinrich Welti vermittelt in guter Darstellung
feststehende Ansichten über die bekanntesten Werke des Meisters. Im übrigen
zeigt sie einen Dilettanten im Musikalischen und im Geschichtlichen. Der Wert
des „Telemach" ist ihm unklar geblieben, den Einfluß des Liedes auf Glucks
Formen, der schou im „Orpheus" deutlich hervortritt, bemerkt er erst in der
Alllidischen Iphigenie, dem Mailänder Snmmartini schreibt er „die ersten
Sinfonien" zu, bei Perl spricht er von vier Violinen, über die Leistungen der
Neapolitanischen Opernkomponisten urteilt er nach den landläufigen Fabeln;
sogar in der speziellen Gluckgeschichte sind ihm die Wanderopern des acht¬
zehnten Jahrhunderts und die Geschicke des Orpheus, wie sie statistisch vor¬
liegen, entgangen.
Zu deu bessern Stücken der Sammlung gehören dann wieder die Bio¬
graphien I. Haydns, W. Mozarts und L. van Beethovens von Ludwig
Rost. Zwar siud auch sie in der geschichtlichen Behandlung von Kompositivns-
gattnngen nicht frei von Auffassungen, die ans mangelhafter Sachkenntnis
kommen; die Stellung Mozarts als Opernkvmponist ist dadurch ganz falsch
geraten. Aber Rost ist in dem engern Kreise, der die einzelnen Meister um¬
schließt, zu Hause und hat sich als Erforscher der ihnen geltenden zeitgenössischen
Litteratur bleibende Verdienste erworben. Dazu kommt eine hier und da aller¬
dings mit Phrasen arbeitende und schwülstige, aber im ganzen doch von Geist
getragne Darstellungskunst, die ihre Stärke im Zusammenfassen hat, und der
Reiz, deu die unmittelbare Sprache der Quellen immer ausübt.
Rost, von dem wohl die Idee der Rcclamschen Musikerbiographien über¬
haupt stammt, hat noch über C. M. von Weber, über Spvhr, Wagner
und Liszt geschrieben, über sie jedoch weniger glücklich als über die Wiener
Meister. Mit Webers „Freischütz," der ein bedeutendes, aber eben doch uur
ein Singspiel ist, läßt er „die deutsche Oper" entstehn, die Geschichte dieses
Werkes kennt er nicht, das Mißgeschick der „Enryanthe" zu erklären, sagt er:
„Auch für sie war die Zeit noch nicht da," wahrend der Fehlschlag doch durch
den Text unvermeidlich war. Indessen ist der äußere Lebensgang des Kom¬
ponisten für Leser, die für die ausführliche Biographie Max Maria von Webers
keine Zeit haben, gut erzählt. Wenn Rost schlecht disponiert und mangel¬
haft vorbereitet ist, merkt mens gleich an seiner Sprache. Hier daran, daß
er sehr viel in Wagnerscher Zange spricht. So stellt er einmal Webers Braut,
Karoline Brandt, als den Inbegriff von „Weibes Wonne und Weibes Wert"
vor. In seiner Spohrbiographie äußert sich die Unlust in sprachlichen Mi߬
bildungen: er erzählt von „Erlebungen" des Violinenmeisters; ein schreckliches
Wort, fast noch schlimmer als die „Mannigfaltigkeiten" der „Illustrierten
Zeitung"! Mit dem armen Spohr selbst hat Rost gar nichts anzufangen
gewußt, er dient ihm als Vorwand, über Beethoven, Weber und Wagner zu
reden. Wo er sich zur Sache hält, giebt er die Spohrsche Autobiographie
mit verbindenden Worten wieder, an der Kunst Spohrs sieht er durch die
Brille des Wagnerschen Nekrologs nichts als den „Ernst" des Manus. Eine
orientierende Übersicht über Spohrs Leistungen als .Komponist und als Virtuos
sucht der Leser vergeblich. Am meisten enttäuschen die Biographien Franz
Liszts und Richard Wagners. Man nimmt an, daß Rost bei diesen Meistern
mit dem Nerzen beteiligt wäre. Davon ist wenig zu merken. Die Liszt-
bwgraphi/'spielt zunächst mit dem Wesen des künstlerischen Genius und füllt
dann, statt den Gegenstand aus dem Ganzen in Angriff zu nehmen, das Buch
mit einer Reihe von Spezialkapiteln. die willkürlich, zufällig gewählt erscheinen
und der Gründlichkeit entbehren. Das Oratorium wird nach Emil Naumann
und Konsorten als „reines Epos" vorgeführt. Wohl um der Bedeutuug des
Meisters besser gerecht zu werden, hat der Verleger dieser Rostschen Liszt-
biographie einen zweiten Lisztband aus der Feder von August Göllcrich nach¬
folgen lassen, der indes auch nicht vermag, die Sache ins Gleiche zu bringen.
Der neue Verfasser schneidet dabei Fragen um, wie die Verwandtschaft zwischen
Liszt und Beethoven, die in eine populäre Biographie nicht gehören. In be¬
sonders übler Verfassung hat Rost die Wagnerbiographie verfertigt. Schon
das Vorwort, das den Musikern der frühern Zeit die allgemeine Bildung ab¬
spricht, muß als unannehmbar bezeichnet werden. So geht der geschichtliche
Teil aber weiter. Vou Wagners Lehrer. Theodor Weiulig, heißt es Seite 13:
.Seit 1823 Kantor der Leipziger Thomasschule. also im Geist und Können
des großen Sebastian Bach aufgewachsen." Dieses „also" genügt. Seite 77
erfahren wir: „Wagner lebte in stillster Zurückgezogenheit auf einer lieblichen
kleinen Besitzung in Triebfeder bei Luzern, wo ihm Frau vou Bülow nut
ihren Kindern zugleich ein häusliches Behagen bereitete." Seite 34 kommt
die Fortsetzung dieser Angelegenheit mit den Worten: „Er heiratete die ge-
schiedne Fran Cosima von Bülow, die Tochter Liszts---- Jetzt hatte er
dieses »Weib« (das hochgesinnte und verständnisvolle, das ihm von jeher hatte
zur Seite stehn müssen) gefunden und in einer Weise, die nach allen Seite.,
hin zum Segen gereichte, und die auch der so unvergleichlich selbstlos yiu-
gebuugsvolle erste Gatte selbst als die einzige richtige Lösung der Sache be¬
zeichnet hat." Die Stelle kennzeichnet Rost. Es braucht in Kunstler-
biographien nicht moralisiert zu werden, aber es darf auch nicht gelogen
werden. Die Annahme, daß Haus vou Bülow sich später über die Sache
beruhigt und sie gutgeheißen habe, ist mindestens ein Irrtum.
Uuter die uuqenügenden Stücke der Reelamschen Sammlung gehört die
Biographie Cherubinis von Maximilian Emil Wittmann. Dieser Versager
beschreibt auf Grund von Demme-Baron, ohne seine Quelle zu nennen, kennt
die Werke Cherubinis aber nnr ganz mangelhaft, den Teil Musikgeschichte in
den sie gehören, gar nicht. Seite 13 erfahren wir. daß sich in Englaud
"ach Handels Tod die italienische Oper wieder großer Beliebtheit erfreut
habe. Das that sie aber bekauntlich während Handels Lebzeiten erst recht.
Seite 25 setzt er Cherubinis „Wasserträger" in Gegensatz zu den Opern der
Zeit, toan er nicht „ausschließlich in Arien" komponiert sei. Der Herr hat
also von der französischen Oper seit Lnlly keine Ahnung. Die Charakteristik
des Meisters bestreite er mit dein bekannten Nekrolog des Klavierlehrers
Adams, dessen Unzulänglichkeit schon daraus hervorgeht, daß er Meyerbeer
als Vertreter der deutschen Schule anführt. Wo Wittmann ein eignes Wort
versucht, ist es nichtssagend.
An denselben Wittmann ist Heinrich Marschner geraten. Hier über¬
rascht er uns durch Fleiß und bietet eine annehmbare Biographie. Mancherlei
bleibt noch zu beanstanden: die falsche Ableitung der romantischen Oper, das
Auskramen von Dokumenten und Patennamen in einem Volksbuch, die falsche
Behauptung, daß C. M. von Weber 1813 bis 181« in Preßburg Kapellmeister,
daß R. Schumann ein „unerbittlicher Kritiker" gewesen sei u. a. Aber Witt¬
mann kennt doch Marschuers Opern und bringt über seinen Lebensgnng neue
Mitteilungen. Ein andrer Wittmann, mit Vornamen Hermann, hat Lortziug
behandelt. Es ist zwar bedenklich, daß der Verfasser, um auf den Komponisten
von „Zar und Zimmermnnu" zu kommen, beim heiligen Ambrosius ausholt,
und daß er in der überlangen Einleitung, in der er die Geschichte der komischen
Oper zu skizzieren sucht, der Italiener und der Franzosen nicht gedenkt und unter
den Deutschen einen G. Benda wegläßt, einen Schenk aber bringt. 'Jedoch ist
die Arbeit im allgemeinen verständig und mit den: innern Anteil geschrieben, den
das in der That traurige Los Lortzings verdient. Nur die Nutzanwendungen
Hütten schärfer gezogen werden können.
Daß ein Komponist, der zwei Dutzend Bühnenwerke nnfznweisen hat,
fünf davon Hauptstücke des Repertoirs, im Elend verkommt, ist im heutigen
Deutschland glücklicherweise nicht mehr möglich. In der .Konzert- und Haus¬
komposition sind dagegen die Zustände noch sehr unerfreulich. Auf Seite 50
seiner Schubertbivgmphie erzählt A. Niggli, daß Franz Schubert seine ersten
zwölf Liederhefte ein für allemal nu Diabelli um 800 Gulden verkauft, der
Verleger aber an einem einzigen Stück aus einem dieser Hefte, an dein
„Wandrer," in dreißig Jahren 27 000 Gulden verdient hat. Bekannt ist
diese Thatsache schon lange, es ist aber gut, daß durch die Reclamschen Bio¬
graphien große Kreise vou solchen Verhältnissen erfahren. Nur sollten sie
auch zu wissen bekommen, daß das musikalische Verlagsrecht in Deutschland
alle Tage noch die Wiederkehr derartiger Ungeheuerlichkeiten ermöglicht. Im
übrigen ist die Arbeit als gutes und elegantes Lesebuch zu empfehlen; als
Sachverständiger gehört Niggli zur alten Garde. Der erste Satz von Schuberts
H-moll-Siufouie bleibt ihm ein Produkt der Anmut, in der Geschichte des
Liedes kennt er weder das siebzehnte noch das achtzehnte Jahrhundert, weiß
nichts vou Albert, Adam Krieger, nichts von Sperontes und Gefolge, nennt
nicht einmal I. A. P. Schulz. Die „dem Strophengesang gemäße, symmetrisch
gegliederte Form" fängt für ihn erst mit I. Fr. Reichardt und mit Zelter an,
die ihm noch dazu des Bäukelgcsaugs verdächtig siud. Möge der Himmel
unsrer Zeit recht bald ein Dutzend Bänkelsänger von diesem Schlag bescheren!
Über den wissenschaftlichen Charakter Nigglis orientiert eine Stelle aus der
Beschreibung des „Erlkönigs": „Nie — sagt er Seite 23 — hat das Schmerz-
haft Furchtbare, nie das Entsetzen der Kreatur packendern Ausdruck in der Kunst
gefunden als hier." Wir machen uus anheischig, diese beiden „nie" mit einem
Dutzend Stellen zu widerlegen. Eine eigne Überraschung bereitet diese Schubert-
biogrnphie durch Sticheleien auf Wagner. Sie sind nicht Niggli zur Last zu
legen, sondern der Redaktion, wenn eine da ist. Jeder soll seines Glaubens
leben dürfe.., aber eine Encyklopädie darf in derselben Sache nicht entgegen¬
gesetzte Ansichten lehren und vertreten.
Wie Cherubini, sind auch die lveiteru in der Sammluug vertretueu aus-
lündischcn Komponisten von Schriftstellern behandelt worden, die der Aufgabe
nicht gewachsen waren. Der Biograph Vincenzo Bellinis. Paul Voß, scheint
ein geübter Novellist, in niusik.visscnschaftlichen Dingen aber fremd zu sein
.Mau wußte bisher uicht genau — beginnt er auf Seite 3 —, waim Vu.cenzo
geboren war." Dann nennt er das Datum, aber ohne zu bemerken, daß wir
es Francesco Florino verdanken. Auch seine Hauptquelle, A. Pougin. wird
nicht erwähnt. Bon der Mayrschcn Schule, zu der Bellini in Gegensatz ge¬
bracht werden müßte, scheint der Verfasser nie etwas gehört zu haben. Auch
das romantische Element in Bellini kommt weder zu seinem Recht, „och in
den natürlichen iuteruatioucileu Zusammenhang. Eine Biographie G. Bizets
aus derselben Feder zeigt bessere Stoffbeyerrschuug, verschweigt aber häufig
notwendige Daten. Die Sprache klingt lvie Übersetzung. Die Arbeit wird
Lesern, denen die französische Biographie Bizets von Pigot verschlossen ist,
willkommen sein.
Für Ander, Rossini. Meyerbeer ist I)r. Adolph Kohnt „gewonnen"
worden, ein federgewaudter Schriftsteller von einer vor nichts zurückschreckenden
Vielseitigkeit. Wie er schon oft kundgegeben hat, daß er auch als Musik¬
historiker zu kommeu bereit ist, so lauten diesesmal die drei Einleitungen
ziemlich gleich dahin: daß oft schon behandelte Komponisten jetzt zum erstenmal
von ihm 8of ir-Ä se swäio oder „objektiv" vorgeführt werden sollen. Un¬
leugbar steht Kohnt den Verhältnissen so fern, daß er ganz objektiv sem kann.
Ihm ist Ander der erste, der für die Oper „aus dem Jungbrunnen des
Volkslieds" geschöpft hat, R. Schumann macht er in der Rosstulbwaraplne
wiederholt zum Direktor des Frankfurter Cäeilicnvereins. Dabei setzt er sich
vor dem Leser gern in Positur; an einer Stelle so köstlich, daß man es weiter
"zählen muß: „Lauge Zeit hindurch galt »Die diebische Elster« für die beste
Arbeit Rossinis, und sie hatte sich überall außerordentlichen Beifalls zu er¬
freuen. Da ich die Oper selbst leider uicht gehört habe, folge ich der Schil¬
derung meines verstorbnen Freundes C. H. Bitter, welcher sie auf dem Markus-
Platze in Venedig hörte. Er meinte, daß in der Musik der vollendete Meister
ausgeprägt sei usw " Erstens ist hier die zweifelhafte Autorität des Fmanz-
unnisters Bitter, zweitens der Markusplatz in Venedig, wo niemals Opern,
sondern nur (von der Lana-l oommuiMo) Opernouvertürcn aufgeführt werde...
drittens der Aufall von Gewissenhaftigkeit belustigend. Sollen wir glauben,
daß Kohut bloß die Diebische Elster" nicht, sonst aber die andern längst ver-
g-esfenen Opern Rossinis alle gehört hat? Mit feuilletouiftischem Geschick sind
diese Kohutschen Biographien geschrieben. Er versteht sehr gut. vorhandne
Arbeiten zu benutzen, und macht sich um das musikalische Glaubensbekennt¬
nis seiner Gewährsmänner keine Skrupel. Wagner und Hanslick sind ihm
gleich lieb.
Eine sehr erfreuliche Arbeit ist dann wieder die Mcndelssohnbiographie
von Bruno Schrader. Hier haben wir endlich wieder einen Autor, der die
Werke des behandelten Meisters genau keunt und die Zeit und die Kultur,
der sie entsprungen sind, dazu, der wissenschaftlich geschult ist und sich nicht
blähen, sondern den Lesern, namentlich der Jugend nützen will. Diese Biographie
vertrüge die strengste Prüfung im ganzen wie im einzelnen. Nur Marx finden
wir übergangen, was bei der „Svmmernachtstranmouverturc" auffällt. Merk¬
würdig, daß es zu einer großen wissenschaftlichen Biographie Mendelssohns nicht
kommen will! Auch wenn diese Lücke noch ausgefüllt werden sollte, wird
Schröters Arbeit ihren Wert behalten; unter den vorhandnen Biographien
des Meisters ist sie weitaus und unvergleichlich die beste.
Auch die Biographie Rob. Schumanns von Richard Batka gehört zu
den bessern Stücken. Das Vorwort erweckt Befürchtungen, denn hier „gipfelt
die Musik zur Zeit Hündels und Bachs noch vorzugsweise in kunstreichem,
architektonischem Bau; in der Mozartschen Periode kommt dazu die Forde¬
rung des sinnlichen Wohlklangs, Beethoven, der Niese, entdeckt sodnnn die
unermeßliche Fähigkeit der Tonkunst, ganz individuelle Gefühle und Stim¬
mungen auszusprechen, und Wagner endlich verschwistert sie auf das innigste
mit der Poesie." Später aber verschont er uns mit seiner bodenlosen Kunst-
Philosophie und hält sich an die Werke Schumanns. Im allgemeinen wird
er ihnen gerecht, nur ist der Lyriker und der Meister der kleinen Formen zu
stark betont. Es war kein bloßer „Ehrcnwahn," der Schumann zur Sinfonie
und zum Oratorium führte, sondern die Grundzüge seines Naturells sind auch
diesen großen Gattungen zu gute gekommen.
Den Schluß der Sammlung bildet die Biographie von Robert Franz,
geschrieben von Rudolph Freiherr Prochäzka. Aus ihr ein Doppelheft zu
macheu, wäre unnötig gewesen, wenn der Verfasser vermieden hätte, die Frage
der Franzschen Bearbeitungen alter Vokalwerke vor dein Leser auszubreiten.
Dabei kommt nichts mehr heraus, die Sache ist entschieden; zudem kennt sie
Prochäzka nur einseitig. Franz als Liederkomponisten behandelt die Bio¬
graphie zu ermüdend im Detail und ausschließlich als Individualität. Seine
Bedeutung wird mir klar in seinem Zusammenhang mit der Berliner Liedcr-
schule, deren letzter großer modernisierter Ausläufer Franz gewesen ist.
Nicht ans Tndelsucht sind hier die Mängel der Reclnmschen Biographien
hervorgehoben worden, sondern weil das Unternehmen für die musikalische
Volksbildung wichtig ist, und weil es dem Verleger leicht ist, sich bessere
Leistungen zu sichern. Hierzu braucht es nur einer einheitlichen Leitung durch
einen Redakteur von der Art Bruno Schröters. Dessen Amt würde es sein,
Kohnts und Kicselacks fern zu halten und Mitarbeiter zu finden, die mehr
als Deutsch schreiben können. Das ist heute zehnmal leichter als vor dreißig
Jahren, denn Jahr für Jahr gehn aus Berlin, Leipzig, München, Straßburg,
Wien junge Musiker ins Land, die ans eine gute praktische und theoretische
Fachbildung noch ein Universitätsstudium gesetzt und gelernt haben, künstlerische
Fragen wissenschaftlich zu behandeln. Durch diese Kräfte soll und wird über¬
haupt ein höherer Grad von Bildung in die deutsche Musikwelt getragen
werden. Daß sie aber jetzt schon für die Musikerbiographien ausgenützt werden
können, das hat der Leiter der „Harmonie," der zweiten der obengenannten
Verlagsanstalten, wohl erkannt. Unter den vierzehn Biographien — Brahms,
Händel, Haydn, Löwe, von Weber, Se. Säens, Lortzing, Imsen, Joh. Strauß,
Verdi, Tschaikowsky, van Beethoven, Marschner, Schubert —, die die „Har¬
monie" bis jetzt vorgelegt hat, festes zwar auch nicht an mittelmäßigen und
geringen Arbeitern, gegenüber einigen hervorragend guten, aber sie giebt als
Durchschnitt ein hoffnungsvolles Bild vom Stand der Musitschriftstellerci.
Das ausgezeichnetste Stück ist die Marschucrbiographie von Münzer, eine den
Gegenstand nach jeder Richtung beherrschende Quellcnarbcit; ihr nahe stehn
die Lvrtzingbiographie von Kruse, die Weberbiographie Gehrmanns und
Frimmels Beethoven. Auch Heubergers Schubert ist für die Schubcrtlitteratur
dadurch zur Bereicherung geworden, daß zum erstenmal die künstlerische Per¬
sönlichkeit des Komponisten auf Grund der Gesamtausgabe aufgebaut wird.
Unter den übrig bleibenden Biographien verdient ein Teil das Prädikat
korrekt, ein andrer ist unzureichend und schablonenhaft. Die „Harmonie" giebt
den Büchern einen reichen Apparat von Bildern und Notenbeispielcn bei.
Die Bilder sind ein von England gekommnes Anziehungsmittel, das schwache
Leistungen hebt, guten nicht schadet, wenn der Schmuck mit Takt und Maß
eingefügt ist. Sehr oft thut die „Harmonie" des Guten darin zu viel; be¬
sondre Verwundrung erregt es, daß dieselben Bilder in verschiednen Bänden
wiederkehren. Den Gespensterhoffmaun finden wir bei Weber, bei Lortzing,
bei Marschner, auch Zelter und Rnngenhagen fungieren als Wanderbilder.
Zuweilen sind die Beziehungen der Bilder zu den Meistern ganz unbedeutend,
in andern Fällen sind sie der ästhetischen Natur nach schlecht gewählt. Die
schreckliche Illustration der Mondscheinsvnate von dem immer überlangen Sascha
Schneider kann das ganze Veethovenbuch verleiden. Was soll da ferner
Klinger mit seiner Pieta und seiner Kreuzigung? Im Text giebt die „Har¬
monie" nicht mehr als Reclam, die Ausstattung bringt aber den Preis auf
drei Mark.
In der Mitte zwischen den beiden Unternehmen steht mit seinen Einmark¬
heften der Verlag von Hermann Seemann Nachfolger. Was er sich für
Bildnngszielc setzt, ist vor der Hand noch nicht zu ersehen. Debütiert hat er
nicht mit der Biographie eines Komponisten, sondern der des Dirigenten
„Arthur Nikisch, als Mensch und Künstler." Der Titelzusatz hätte auch lenken
können: ein Beitrag zum modernen Götzendienst. Als zweites Stück folgt
eine liebevolle Beschreibung des Lebens und der Werke eines zweiten Leipzigers,
des Komponisten Carl Reinecke. Den vorläufigen Schluß bildet eine Biographie
von Richard Strauß, eine Schwärmerei, gegen deren Unreife Ortlcpps Beet¬
hoven wie ein klassisches Werk der Wissenschaft erscheint.
Das Gesamtergebnis unsrer Revision läßt sich dahin fassen: Wer in den
modernen Sammlungen von Musikerbiographien Belehrung sucht, muß sehr
vorsichtig sein, wer sich aus ihnen über den Stand der heutigen musikalischen
Populürschriftstellerei unterrichten will, gelangt dadurch auf das Bild: alte
und neue Zeit, schöner Schein und Solidität teilen sich noch in die Arbeit.
irzherzog Karl schrieb einst: „Da Winterfeldzuge meistens den
beinahe unausweichlichen Ruin der Armeen zur Folge haben,
so dürfen sie nur dann unternommen werden, wenn dringende
Notwendigkeit der Selbstverteidigung oder ganz besondre Vor¬
teile, die man dadurch erlaugt, diesen Nachteil überwiegen, zum
Beispiel, wenn die Armee des Feindes so geschlagen ist, daß man sich schmeicheln
kann, sie durch Fortsetzung des Feldzugs gänzlich zu vernichten" usw. Wir
denken heute vielfach anders über die Winterfeldzuge, da das Auftreten der
Volks- und Mnssenheere dazu zwingt, im gegebnen Augenblick ohne Rücksicht
auf die Jahreszeit die schnellste Entscheidung durch Waffengewalt herbei¬
zuführen, die nicht durch einen Winterschlaf gehemmt oder unterbrochen werden
darf. Wenn wir nun auch infolge der wachsenden Kultur immer mehr gelernt
haben, die Schrecken des Winters zu besiegen, so werden doch durch den Ein¬
fluß der kalten Jahreszeit die Schwierigkeiten der Kriegsunternehmungen be¬
sonders erhöht. Der Winter ist dann für einen Erfolg mindestens ebenso ent¬
scheidend wie der Zustand des Geländes, denn er ändert den physischen wie
den moralischen Zustand der Truppen und verbraucht ihre Kräfte rascher.
Die Heeresleitung muß deshalb alles aufbieten, was die Anstrengungen er¬
leichtern und zur Erhaltung der Streitkräfte beitragen kann, sonst entstehn
Katastrophen.
Karl XII. wie Napoleon I. gingen daran zu Grunde, daß sie diese un¬
erläßliche Forderung nicht erfüllten. Karl vernichtete den Kern seines Heeres
im Winterfeldzuge 1708/9, und auf dem kurzen, dabei nichts entscheidenden
Zuge zwischen Nvmny und Weyrik kamen auf den Lagerplätzen in den eisigen
Winternächten und bei mangelnder Verpflegung mehr Soldaten um als in den
Gefechten. Dies war um so bedenklicher, als die Verluste nicht rasch genug
aus der Heimat ersetzt werden konnten. So fehlte es für den entscheidenden
Sommerfeldzug ins Innere Rußlands an Kräften, und bei Poltawa wurde das
Schicksal des über ein Jahrhundert lang siegreichen Schwedens besiegelt. Napoleon
verlor 1812 auf den Schneefeldern Rußlands binnen einem Vierteljahr etwa
340000 Mann und kam nur mit einem Fünftel seines Heeres bei Moskau an.
Als dort und auf den: Rückmarsch auch diese 95000 Streiter vernichtet wurden,
bedeutete das nicht nur den Verlust des Feldzugs, sondern auch die Krisis
in der Laufbahn des gewaltigen Eroberers. Die Feldzüge dieser beiden großen
Feldherren sind um so lehrreicher für uns, als sie auf einem auch für uns
Deutsche einst vielleicht sehr bedeutungsvollen Kriegsschauplatze stattfanden, und
als sie uns den Einfluß der Jahreszeit und der natürlichen Beschaffenheit des
Operationsgebiets in einer Weise vor Angen führen, wie dies später nie wieder
in dem Maße geschehn ist. Dabei handelte es sich bei Napoleons verhängnis¬
vollen Zug auch schon um ein Massenhcer, das freilich im Vergleich zu den
heutigen Aufgeboten ganzer Völker klein genannt werden darf. Es entspricht
etwa zwei einzelnen Armeen eines Volkes in Waffen. Durch diese Heeres¬
massen wird heute die Schwierigkeit erhöht, die Kälte und Nacht des Wiuters
zu überwinden; aber andrerseits ist mich in Rußland die Kultur seit 1812 ge¬
wachsen, Wege und Straßen sind zahlreicher und besser geworden, und auch
der Nachschub und die Verpflegung werden leichter möglich sein als 1812, dn
heute namentlich das strategische Bahnuetz dort eine große Rolle spielen würde —
mich im Besitze des Gegners.
Die Einflüsse des Winters ans die Strategie und die Taktik machen sich
unmittelbar und mittelbar geltend. Zunächst unmittelbar dnrch die Einwirkung
der Kälte auf Mensch und Tier. Sie fordert Schutz durch angemessene Be¬
kleidung,^) sie verlangt eine Abkürzung der infolge von Schnee, Glatteis und
schlechtem Wegen anstrengendem Märsche, sie erheischt eine Unterkunft in heiz¬
baren Räumen, warme Kost usw. Der Soldat bedarf längerer Ruhe, weil er
ermüdeter ist, reichlicherer Nahrung, weil die Kälte zehrt und der Kraft- und
Wärmeverlust ausgeglichen werden muß. Da sich besonders in weniger dicht
angesiedelten Gegenden wie Rußland und Galizien die Truppen weit zerstreuen
müssen, um Dach und Fach zu erreichen, so wird dadurch für einzelne Teile eine
Verlängerung der Ruhezeit notwendig. Dadurch, wegen des spätern Sonnen¬
aufgangs und der häufigen Morgennebel erfolgt der Ausbruch später als in
der guten Jahreszeit. Gegen fünf Uhr abends aber ist der Tag meist schon
zu Ende. Es stehn also höchstens zehn Stunden für die Kriegshandlung zur
Verfügung gegen meist das Doppelte im Hochsommer. Jeder weite Anmarsch zum
Gefecht muß vermieden werden, die Truppen müssen deshalb so eng wie mög¬
lich zusammengehalten werden. Dadurch werden Massenbiwaks unvermeidlich,
so sehr man sich auch gegen sie sträuben mag. Auch aus Gründen der Manns¬
zucht kaun es ratsam werden, die Truppen nicht zu weit über das Land zu
zerstreun, weil sie sich leicht, namentlich wenn die Mannszucht durch Strapazen
und Entbehrungen schon gelitten hat, in ungewöhnlicher Weise vermindern
könnten. Zu diesen Hemmnissen kommen dann oft die unvermeidlichen Krank¬
heiten. Geschwächt durch Anstrengungen und durch Mangel, durch unregel¬
mäßige oder bei lungern Stillstand der Operationen auch thatenlose Lebens¬
weise in naßkalten Lagern und Biwaks, besonders vor Festungen,^) ist der
Körper viel empfänglicher für Kraukhcitskeime, die sich bei dem engen Zu¬
sammenleben auch seuchenartig verbreiten können (Typhus, Ruhr, gastrisches
Fieber, Influenza usw.). Ein so leidender Mensch wird auch seelisch gedrückt;
die langen dunkeln Nächte, Mißerfolge und Niederlagen erzeugen Mutlosigkeit,
Gleichgiltigkeit bis zum Stumpfsinn oder bei schlecht disziplinierten, hüusig
besiegten Truppen Auflehnung und Meuterei. Noch mehr als die willens-
kräftigen Menschen leiden unter allen diesen Verhältnissen die Pferde. Die
Ungunst aller dieser Zustände kann so groß werden, daß sie schließlich die Haupt-
sorge für die Heerführung wird, und alle Operationsrücksichten hinter denen
auf die Erhaltung der Streitkräfte zurücktreten müssen.
Am wenigsten pflegt die Artillerie zu leiden, weshalb ihre Bedeutung sich
durch die Änderung des Verhältnisses zu den andern Waffen erhöht, nament¬
lich zu der am raschesten dahinschmclzenden, schlachtentscheidcndcn Infanterie.
Das kann die ganze Taktik, die ganze Gefechtsführung stark beeinflussen. Die
bis dahin offensive Kampfwcise muß sich dann aus Mangel an Kräften in
eine mehr defensive Feucrtattik umwandeln. Bei den schwindenden Frontstürken
der Infanterie, die dnrch kühnen Angriff den Gegner nicht mehr aus einer starken
Stellung in der kurzen Gefechtszcit und bei dem durch Schnee und Glatteis
erschwerten Vorgehn der Schützenlinien zu vertreiben mag, gewinnen die Ar¬
tillerie, und Um auch sie sparsamer mit der Munition werden muß, schließlich
die Kavallerie (mit reitender Artillerie) an Bedeutung, sofern sie uicht etwa
durch Pferdekrankheiten zu stark geschwächt sein sollte. Sie wird Umgebungen
versuchen, den Feind in der Flanke und im Rücken belästigen und verwirren,
während er in der Front hingehalten und bei seinem Vorgehn gegen die eignen
gelockerten Fronten dann dnrch das entscheidende Artilleriefcuer so erschüttert
wird, daß die geschwächte eigne Infanterie schließlich den letzten Sturm wagen
kann. Oft wird die Truppe aber so mitgenommen sein, daß ein passives Vor¬
halten notwendig ist, der Kampf hingeschleppt und vorzeitig beendigt wird, weil
sich der Gegner ihm unter Ausnützung der frühen Dunkelheit und der langen
Winternacht entzieht mit der Absicht, sich sür den nächsten Tag zu verstärken
und günstige Stellungen einzunehmen. So köunen im Winter tagelange
Schlachten umso mehr entstehn, als auch die Einheitlichkeit der Schlachtführung
leiden muß, die rasche Befehlsübermittlung erschwert ist, die Handlung in Einzel-
gefechtc zerfällt, denen der Zusammenhang fehlt.
Die Heeresleitung muß deshalb alles aufbieten, deu moralischen Zustand
der Truppen zu heben und die Kriegseuergie zu steigern, durch gute materielle
Fürsorge, wie durch rege Thätigkeit der Streitkräfte und häufigen Wechsel ihres
Aufenthalts, der sehr vorteilhaft auf Gemüt und Gesundheit wirkt, ^.vlivitö,
vitösss sind Heilkräfte, Dienst und Arbeit, wie im Leben überhaupt, so im
Kriege besonders die besten Trösterinnen und Helferinnen über alle Schwierig¬
keiten. Je größer diese, um so reizvoller ist die Aufgabe für den wahren
Feldherrn, sie zu überwinden und durch Wort und Beispiel wunderthätig die
Truppen zu beleben. Friedrich Karl verstand das vor Metz ausgezeichnet!
Aber der Winter beeinflußt auch mittelbar die Kriegsführung, indem er
einmal die Beschaffenheit des Kriegsschauplatzes ändert, besonders in deu an
sich schon klimatisch ungünstigen und unwirtlichen Gegenden, Gebirgsländern,
Steppen usw., aber auch in Kulturländern, die oft plötzlich ihren Charakter
dnrch eintretenden Frost ändern können. Wenn man auf den beschneiten
Straßen nur mühsam vorwärts kommen kann, so werden Bewegung und Kampf
überall einen andern Charakter annehmen müssen, als wenn sich die Truppen
auf festem Boden auch außerhalb des Wegenetzes frei und leicht und in verkürzten
Marschtiefen bewegen können. Auch die Schnelligkeit und Schlagfertigkeit guter
Truppen kaun sich nicht so geltend machen, die Angriffe werden schleppender,
die Verfolgungen seltner, die für Munitionsersatz nötigen Wagen treffen zu
spät ein usw., und alle Anstrengungen verdoppeln sich in einem Maße, daß
die Kriegsenergie Einbuße erleidet. Das haben wir auch in Frankreich 1870
und 1871 oft erlebt. Um so erstaunlicher sind solche Gewaltmärsche wie der
des IX. Armeekorps auf grundlosen Wegen und bei fast fehlender Verpflegung
am 16. und 17. Dezember, wo — einschließlich Nachtruhe und Gefechtsbereit¬
schaft — innerhalb 33 Stunden unter den ungünstigsten WitterungsverlMtnifsen
bis elf Meilen (La Chapelle Vendvmoise—Orleans) zurückgelegt wurden.
Aber das plötzliche Eintreten sehr strenger Kälte, sowie anhaltende starke
Schneefälle machen auch für solche Truppen größere Bewegungen unmöglich
und verurteilten z. B. Anfang Dezember das XIV. Armeekorps um Dijon
mehrere Tage zu ungewohnter Ruhe, so wünschenswert die Offensive gegen
die von Süden drohenden Gegner gewesen wäre. Auch 1877 war Reus Pascha
wegen starken Schneefalls im Gebirge nicht imstande, mit seiner Schipta-Armee
irgend eine Operation zu unternehmen, was auf die Lage Osinans in Plewna
sehr ungünstig einwirkte. Manchmal freilich wird fast Übermenschliches geleistet.
Ich rechne hierzu den Übergang über die von Treibeis erfüllte Beresina bei
starkem Frostwetter (20 Grad) Ende November 1812 durch die Trümmer der
französischen Armee und teilweise uuter feindlichem Feuer, dank der energischen
Leitung des Generals Edle und des an seine besten Zeiten erinnernden um-
sichtigen Eingreifens Napoleons selbst. Erst nach dieser letzten That griff die
Zuchtlosigkeit und Auflösung des durch die Winterleiden und Niederlagen schwer
geprüfte!? Heeres um sich, alle kriegerischen Tugenden waren erschöpft, und mir
noch ein Hcnifcu frierender, hungernder, zerlumpter, rebellischer Menschen blieb
übrig! Der inzwischen auf 27 Grad gestiegnen Kälte konnte sogar die ab¬
gehärtete, gut bekleidete und genährte russische Armee nicht mehr widerstehn,
sodaß sie jedes Biwak vermied und nur in kleinen Märschen folgen konnte.
In acht Tagen vernichtete der Frost allein bei der Division Loison 11000 Mann
(von 14000!). Heroisch und kühn handelte auch Washington, als er den stark
mit Eis gehenden Delnware in sehr kalter Dezembernachl 1776 nnter Hagel
und Sturm überschritt, um sich in den Rücken des an Kräften weit überlegnen
Generals Howe zu werfen. Auch unsre Südarmee von 1870/71 verdient genannt
zu werden, als sie, überaus ruhebedürftig, im Gebirgslande zwischen Dijon und
Langres hindurchgeführt werden mußte und trotz übelin Zustande der Fu߬
bekleidung und des Hufbeschlags am 14. Januar bei dichtem Nebel und strenger
Kälte den Vormarsch auf spiegelglatten Wegen antreten mußte. Nur stahl¬
harte, charaktervolle Führer, die wie Väter für ihre Leute sorgen und aufs
peinlichste jede unnütze Anstrengung zu vermeiden suchen und Wohl durchdachte
hygienische Maßnahmen zu treffen wissen, sowie tüchtige, von kriegerischem
Geiste erfüllte Truppen — nie aber bezahlte Söldnerheere — können bis¬
weilen das unmöglich scheinende erzwingen! Manchmal freilich kann der Frost
auch zum ersehnten Bundesgenossen werden. Auch wir haben in dem kritischen
Volkskrieg an der Loire den am 1. Dezember 1870 eintretenden scharfen Frost
bewillkommnet.
Mittelbar beeinflussen die Kriegsführung die kurzen Wintertage, weil sie
entscheidende Niederlagen eines hartnäckigen Gegners oft hindern, denn die
Gefechte beginnen zu spät und müssen zu früh enden; die Dunkelheit setzt anch
der Verfolgung bald ein Ziel. So verzögern sich auch alle Kriegshaudlungen,
auch werden sie durch das trübe, neblige Wetter und Schneetreiben erschwert,
weil die Aufklärung leidet, und das Schußfeld eingeschränkt wird. Demnach
wird alles versucht werden müssen, gerade wegen der Kürze der Zeit eine rasche
Entscheidung herbeizuführen, wie das 1870/71 vielfach durch Umfassung der
Flügel des Gegners geschah.
Alle diese Erschwernisse, die der Winter der Energie der Kriegsführung
bereitet, können am wirksamsten dnrch eine gute vorbereitende Friedensstrategie
überwunden werden. Dahin gehören namentlich anch rechtzeitige und aus¬
reichende Vorkehrungen für die verschiedensten Bedürfnisse der Truppe, besonders
an Bekleidung, Verpflegung und Unterkunft, für die Gesundheitspflege, den
Ersatz an Mannschaften, Reit- und Zugtieren und Material, namentlich auch
an Munition und gutem, gegen Eisgang widerstandsfähigen Brückengerät.
Umsichtige Organisation und Leitung aller dieser wichtigen Dienstzweige, inniges
Zusammenwirken von Heerführung und Armeeverwaltung und vollste Hin¬
gebung aller dabei sonst noch beteiligten Kräfte des Staats sind notwendig,
sonst ist die Tragfähigkeit der Armee, namentlich auf Kriegsschauplätzen wie
dem russischen, nicht gewährleistet. Alle Neuerungen des Kriegswesens, der
allgemeinen Technik, der Industrie, des Handels und der Gewerbe müssen
im Frieden aufmerksam verfolgt und ebenso wie die geringen Kriegserfahrungen
in Kolonialexpeditionen für die Truppe nutzbar gemacht werden. Wenn ein
Erfolg der Chinaexpedition 1900/1 unbestritten ist, so dürfte es der sein, daß
wir dort mich gerade für Winterfeldzuge auf schwierigem Schauplatze, nament¬
lich von manchen unsrer darin größere Erfahrungen besitzenden Verbündeten
gelernt haben.
Nur wenig Punkte will ich hier besonders hervorheben, deren Be¬
achtung vorzugsweise wichtig für Winterfeldzuge sind. Es ist zunächst die
Beschaffung einer praktischen Winterbekleidung. Gutes zweckmüßiges Schuh-
werk, von dem die Marschleistungen der Infanterie wesentlich abhängen, und
worin wir noch immer manchen andern Nationen, namentlich auch im ge¬
fälligen Sitz, nachstehn, sowie ein sorgfältig gegen die Gefahren des Glatteises
sichernder Hufbeschlag der Pferde sind nötig. Einzelne Truppenteile werden
auch des Schneeschuhs (Ski) nicht entbehren können. Dazu dichtere, wärmere
Stoffe, Pelzröcke und gut schlitzende Kopfbekleidungen. Nicht minder bedeutsam
ist es, die Truppen mit praktischen Zelten und mit heizbaren Baracken auszu¬
rüsten, zumal bei der großen Bedeutung, die der Stellungs- und Festungskrieg
gewonnen hat. Eine nicht geringere Rolle spielt die sorgfältigste Regelung der
Verpflegung, die heute durch die Konserven, durch Pökel- und Gefrierverfahren
zwar erleichtert wird, aber was das nötige frische Fleisch und Brot anbetrifft,
doch immer noch große Schwierigkeiten bietet. Da ferner der Verlust durch
Krankheiten größer als der durch Gefechte ist, so sind für die Anstrengungen
eines Winterfeldzugs die Maßnahmen für die Gesundheitspflege und das
Sanitätswesen von besondrer Bedeutung. Bvrbeugeude wie hilfebringende
Thätigkeit müssen rechtzeitig und in vollem Umfange eintreten. Hier reichen
die im Frieden organisierten Kräfte erfahrungsmäßig nicht aus, es muß sich
dann freiwillige Liebesthätigkeit, die aber einer sorgfältigen Regelung und Über¬
wachung bedarf, hinzugesellen.
Alle diese Vorkehrungen können aber mir dann Nutzen bringen, wenn sie
schnell zur Stelle sind. Daraus ergiebt sich die ungemeine Wichtigkeit eines
peinlich organisierten, tadellos wirkenden und leistungsfähigen Train- und
Nachschubwesens, woran es 1870/71 vielfach gefehlt hat. Die neuen Er¬
findungen seit der großen Zeit, besonders das Schnullspurbahn- und Auto-
mvbilwesen, werden da helfend eintreten und die Pferde, die ja gerade im
Winter so leiden, wirksam ergänzen können, wenn es sich dann handelt, von
den Hauptetappenorten der Eisenbahnen und Wasserstraßen bis in die vordersten
Trnppenzonen vorzudringen. Den in rascher Vorwärtsbewegung begriffnen,
jeden nachteiligen Stillstand ängstlich vermeidenden Armeen immer zu folgen,
namentlich mit der Verpflegung, bleibt die .Hauptausgabe unsers Trains. Wir
dürfe» nie vergessen, daß Gefechte und glänzende Thaten nur die Ausnahmen,
die Lichtpunkte im Kriege sind, die Mühsale der Märsche, die Entbehrungen
der Lager und Biwaks, die Leiden der Lazarette die traurige Regel. Hier
heißt es echte Humanität üben, namentlich in Winterfeldzügen.
! er Herr Direktor Wenzel saß in seinem Bureau. Er saß auf seinem
dreibeinigen Drehschemel, hatte die Beine hochgezogen und sah aus
I wie ein Apfel, der auf seinem Stiele balanciert. Ihm gegenüber an
! dem zweiseitigen Kvntorpulte stand Wandrer. Wandrer sah die ein-
gelaufnen Postsachen durch, und der Direktor hatte einen Bogen
! Papier vor sich liegen und rechnete. Jetzt machte er einen dicken
Strich unter die Rechnung und legte die Feder mit dem Ausdrucke der Befriedigung
nieder. Hierauf kletterte er von seinem Pultsessel herunter, ging ein paarmal im
Zimmer auf und ab und setzte sich dann in die Ecke des Sofas.
Herr Wandrer, hören Sie mal zu, sagte er.
Ich höre, erwiderte Wandrer.
Wieviel haben Sie sich denn bis jetzt gespart?
Wandrer sah überrascht auf. — Finstres Geheimnis, Herr Direktor, ent¬
gegnen er.
In Geldsachen giebt es seit der Ära Miquel keine finstern Geheimnisse mehr,
sagte der Direktor. Ich wills Ihnen einmal vorrechnen. Sie vertreten jetzt das
Syndikat viereinhalb Jahr und haben ohne die Spesen 3600 Mark Gehalt gehabt.
Kommen die Reiscersparuisse dazu, ferner 3^ Promille Tantieme. Das macht in
Summa nach meinem Überschlage 8000 bis 9000 Mark, die Sie gespart haben.
Ist es noch nicht genau genug, so will ich Ihren Steuerzettel nachsehen und
annehmen, daß Sie ehrlich genug gewesen sind, zwei Drittel Ihres Einkommens
richtig angegeben zu haben.
Ist nicht nötig, sagte Wandrer lachend, die Rechnung stimmt schon auffällig.
Es würde mehr sein, wenn ich nicht —
Wenn Sie nicht Ihre Mutter unterstützt hätten, das habe ich schon in Rech¬
nung gesetzt. Also gut, nehmen wir an 8500 Mark. Das ist nicht gerade viel,
aber ein Anfang. Jetzt würde ich an Ihrer Stelle Heinrichshaller Kuxe kaufen.
Sie stehn heute Gott sei Dank 23. Tiefer durften wir sie anstandshalber nicht
sinken lassen. Nach dem nächsten Quartalsabschluß werden sie 60 stehn und übers
Jahr 120.
Wissen Sie das so genan?
Ganz genau. So gewiß es ist, daß wir bis jetzt nichts verdienen konnten,
so gewiß ist es, daß wir jetzt unsinniges Geld verdienen und beim Abschluß min¬
destens 10 Prozent Dividende geben werden. Das macht, Montnnwerte voraus¬
gesetzt, einen Kursstand von 160. Ich habe aber nur 120 angenommen.
Das heißt also, Sie haben bis jetzt nichts verdienen wollen, und wollen nun
losgehn.
So ungefähr.
Und da wollen Sie mich mitnehmen.
Sie haben es erraten.
Das ist sehr freundlich von Ihnen.
So? Weiter nichts? Ein andrer wäre mit beiden Händen zugefahren, und
Sie sagen kühl: Sehr freundlich von Ihnen.
Herr Direktor, ich muß mich erst an den Gedanken gewöhnen. Ich habe die
fatale Empfindung, daß man bei solchen Geschäften einem andern nimmt, was man
selbst gewinnt.
Das ist aber doch bei jedem Geschäft?
Nein, doch nicht. Es ist ein Unterschied zwischen Verdienen und Gewinnen.
Produziere ich Werte, sei es durch Herstellung, sei es durch Transport, so verdiene
ich an ihnen, und Käufer und Verkäufer sind zufrieden; kaufe und verkaufe ich
aber Papiere, so wird nur der Besitztitel verändert; was ich gewinne, verliert ein
andrer. Ich nehme es ihm weg.
Nein, er giebt es Ihnen.
Weil er muß, oder weil er schlecht unterrichtet ist, sonst thäte er es wahr¬
haftig nicht.
Wandrer, Sie sind ein Kind. Wenn Sie sich diese altmodischen Schrullen
nicht abgewöhnen, so werden Sie im Leben niemals zu etwas kommen. Vorwärts,
vorwärts ist die Parole. Sehen Sie, das ist das Großartige in der Handelswelt,
während andre mühsam rudern, um ein Stück vorwärts zu kommen, warten wir,
die wir es versteh», ruhig den Wind ab. Dann aber setzen wir Segel und fahren
los mit Hurra.
Und überfahren den, der uns in den Weg kommt.
Kann vorkommen. Aber wenn wir nicht aufpassen, gehts uus ebenso. Mit
Ihren 8000 Mark können Sie in einem Jahre auf 50000 kommen. Und wenn
Sie dann noch einen Rebbes machen, sind Sie ein gemachter Mann. Denken Sie,
in einem Jahre 42000 Mark. Mancher Beamte verdient nicht soviel in zehn
Jahren, wofür er sich auch noch zu Schanden arbeiten muß. Und wir streichen
es ohne Mühe ein.
Gut, ich schlage ein. Aber —
Was dann noch für ein Aber? Sie denken doch nicht etwa, daß uns, die
wir Millionen im Geschäfte haben, an Ihren 8000 Mark gelegen ist?
Sicher nicht. Aber warum wollen Sie mich mitnehmen?
Ans gutem Herzen.
Hin! Herr Direktor, ich glaube an Ihr gutes Herz, wenn Sie eine Treppe
höher sind. Aber hier unter, wo man Geschäftsmann ist, und wo in Geldsachen
die Gemütlichkeit aufhört, da wird es mir etwas schwer, an gute Herzen zu
glauben.
Aber Wandrer, was könnte ich für einen andern Grund haben?
Mich an Heinrichshall zu fesseln, indem Sie mein persönliches Interesse damit
verbinden. Das ist gerade so gut wie eine Tantieme, nur mit dem Unterschiede,
daß Ihnen die Sache nichts kostet.
Ihrem Scharfsinn entgeht nichts. Nehmen Sie an, daß es so gemeint ist.
Der Direktor hatte einen spöttischen Zug im Gesicht und beobachtete Wandrer aus
seiner Sofaecke mit listigen Blicke. Wenn Wandrer diesen Blick gesehen hätte, dann
würde er noch weniger, als es schon der Fall war, an des Direktors gutes Herz
geglaubt haben. Der Direktor nahm einen jovialen Ton an und fuhr fort: So,
das wäre abgemacht. Ich habe hier drei Kuxe im Nominalwerte von 30000 Mark,
die werde ich Ihnen zuschreibe». Ihre Frau Mutter hat ja wohl auch einiges
Kapital?
Pardon, Herr Direktor, ich kann zwar mein Geld riskieren, aber nicht das
meiner Mutter.
Wie Sie wünschen. Nun etwas andres. In ein paar Tagen gehe ich auf
Urlaub. Ich muß durchaus uach Marienbad und daran eine Rundreise in Ge-
schäftsangelegenheiteu anknüpfen. Sie haben ja sowieso die Proknra, da können
Sie mich vertreten, mit wir brauchen niemand aus Berlin kommen zu lassen.
Gern, Herr Direktor.
Es ist ein günstiger Augenblick. Der Wagen läuft jetzt ganz allein. Man
braucht nur loszubremsen. Die Bahn nach Siebendorf ist fertig und kann nächste
Woche in Betrieb genommen werden. Sie können jetzt jeden Auftrag effektuieren.
Schließen Sie mit Newyork auf 100000 Zentner und mit Hull auf 80000 Zentner
ruhig ab. Sagen Sie Rummel, es solle auf alleu Sohlen mit der Förderung be¬
gonnen werden. Er konnte soviel Arbeiter annehmen, als sich meldeten. Und
Doktor Olbrich bestellen Sie, die Dummheiten mit der elektrischen Soda hätten nun
ein Ende. Jetzt würde uach alter, norddeutscher Weise fabriziert.
Erlauben Sie mir die Bemerkung, daß es doch wohl gut sein würde, wenn
Sie alles das noch vor Ihrer Abreise selbst anordneten. Ich könnte da Wider
Verdienst in ein zu gutes Licht kommen. Die Leute würden glauben, bei Wenzel
ging die Sache nicht, nun kommt Wandrer, da gehts gleich. Diese Meinung würde
sich verbreiten, und es würde schwer sein, sie zu widerlegen.
Ist auch nicht nötig. Ich bin nicht ehrgeizig. Oder vielmehr, mein Ehrgeiz
sitzt im Arnheim. Also machen Sie mir zu, es ist mir ganz lieb, wenn der Ruhm
auf Sie kommt. Zum Donnerwetter auch, ich will auch nieine Erholung haben. —
Noch eins. Es herrscht ein schlechter Geist in der Knappschaft. Die verfluchten
Sozialen haben gewühlt, man ist unzufrieden. Scheu Sie zu, daß Sie sie be¬
ruhigen. Jetzt können wir keinen Streik brauchen.
Sie möchten gern eine Bergkapelle habe».
schön, schaffen Sie die Instrumente an. Siebitsch soll sich die Leute ein-
lernen. Der Kerl ist freilich ein Rindvieh. Wenn er zu viel Dummheiten macht,
so schicken Sie ihn zum Teufel und lassen einen andern kommen.
Felix Wandrer wunderte sich und kombinierte. Er hatte sich daran gewöhnt,
jede unklare Sache solange zu analysieren, bis ihm die Beweggründe verständlich
geworden waren. An dem Verfahren des Direktors war manches dunkel. Wandrer
kombinierte und fand folgendes heraus: Der Direktor hat — natürlich in Über¬
einstimmung mit den Berliner Herren — so dirigiert, daß das Werk nichts ein¬
bringen konnte, vielmehr von den Inhabern der Kuxe Nachzahlung auf Nachzahlung
forderte. Dadurch drückte er die Kurse, bis den Besitzern der Kuxe der Atem aus¬
ging und sie verkauften. Die Berliner Herren und der Direktor hatten nun zu
billigen Preisen aufgekauft, was zu haben war; nun sollte, wie der alte Lehmbrand
sagte, das Grand mit Vieren losgehn. Es sollte nicht nur der bisherige Verlust
eingebracht, sondern ein riesiger Gewinn gemacht werden. Die Methode des
Direktors war keineswegs neu, aber es war doch fatal, wenn die Sache zu be¬
kannt wurde, und wenn die Geschädigten auf den Direktor mit den Fingern wiesen
und ihn einen Gauner nannten. Um dies zu verhüten, sollte er, Wmidrer, als
Strohmann und tüchtiger Direktor vorgeschoben werden. Wenzel wollte den Vor¬
wurf der Dummheit auf sich nehmen, um den der Schlechtigkeit zu vermeiden. So
ein Fuchs.
Damit hatte Wandrer wirklich ziemlich das Richtige getroffen, doch nicht ganz.
Nach ein paar Tagen reisten der Direktor und Lydia ub. Wandrer nahm
am Wagen Abschied, und sowohl Vater als auch Tochter waren sehr gnädig.
Wandrer schaute dem hochbepackten Wagen nach, bis er hinter der Waldecke ver¬
schwand, und trat in seine neue Würde ein. Er begann damit, daß er einen Rund-
gang durch das Werk unternahm. Sein Weg führte ihn zuerst in die Sodafabrik.
Das waren weite Räume, die mit großen eiserne» Kübeln besetzt waren. Einige
dieser Kübel rauchten, andre nicht, aber sie alle rochen nicht gerade lieblich. Eine
Dampfmaschine arbeitete und trieb Pumpen, ein paar Leute standen herum. Es
war kein Zug in der Sache. An der Thür gegenüber war ein Schild angebracht,
auf dem der Eintritt strengstens verboten our. Hierhin begab sich Wandrer. Das
War das Reich Doktor Olbrichs, wo er seine Erfindungen machte. Wir müßten
Fachleute sein, wenn wir beschreiben sollten, was alles in diesem Raume steckte. Es
genügt zu wissen, daß hier schon dreimal alles umgebaut worden war, daß die
Sache ein unmenschliches Geld gekostet hatte, und daß die Seele der Anlage eine
Dynamomaschine war. Hier war der Geruch entschieden anders. Ob er besser war,
muß unentschieden bleiben.
Doktor Olbrich trat, ans dem Dampfe auftauchend, Wandrer entgegen. Gut,
daß Sie kommen, Herr Wandrer, rief er. Sehen Sie mal hier. Großartig!
Damit zeigte er ihm ein gläsernes Gefäß, worin sich eine Flüssigkeit befand, an
der nichts zu sehen war. Was meinen Sie? 55 Prozent Natrium-Karbonat.
Und ich habe jetzt gegründete Aussicht, im elektrolytischen Verfahren die direkte
Ansehung von Calcium-Karbonat und Chlornatrium in Natrium-sesqui-Karbonat
und Chlorcalcium zu erzielen. Denken Sie mal, ohne Abwässer! Nur —
Nur?
Nur würde ich uicht mit dem Dynamo auskommen. Ich brauche mindestens
noch fünfhundert Watt.
Mehr nicht?
Ja, etwas teuer ist die Geschichte.
Finde ich auch. Der Direktor läßt Ihnen übrigens sagen, die Dummheiten
hätten nun ein Ende. Jetzt müßte auf gut norddeutsch Soda gemacht werden.
Doktor Olbrich ließ deu Kopf hängen. Ich habe es kommen sehen, sagte er.
Na ja, ich kann es ja am Ende dein Direktor nicht verdenken. Ich wundre mich,
daß er nicht schon früher die Geduld verloren hat. Was machen wir denn nun
aber mit dem Dynamo?
Licht, Doktor. Licht können wir noch eine ganze Menge brauchen. Und
richten Sie sich darauf ein, täglich hundertfünfzig Zentner zu Produziere».
Hundert—fünfzig — Zentner?
Wie ich Ihnen sage, hundertfünfzig Zentner.
Das geht aber nicht, Herr Wandrer.
Das muß gehn. Stellen Sie die neuen Luftpumpen auf, und nehmen Sie
alle Gefäße in Gebrauch, die da sind, auch Ihre elektrische» Bottiche. Stellen Sie
mehr Leute ein. Es muß gehn. Wir müssen die günstige Konjunktur wahrnehmen.
Denken Sie nur nach, wie Sie es machen wollen.
Kaum hatte sich Wandrer entfernt, so sing der Doktor an nachzudenken, und
in ein paar Tagen war alles in flottem Betrieb.
Als Wandrer im Begriff war, die Fabrik zu verlassen, trat ihm ein alter
Kerl entgegen mit weißem Stvppelbarte, einer bedenklich roten Nase und einem
Hut auf dem Kopfe, der sicher nicht für seinesgleichen fabriziert war. Er trug
eine Mappe unter dem Arm und schien Botendienste zu thun. Der Mensch zwinkerte
mit deu Augen nud schnitt eine Grimasse, wie wenn er eine vertrauliche Mitteilung
machen wollte. Wandrer besann sich. Das Gesicht kam ihm nicht unbekannt vor.
Da stieg ihm die Ennueruug an eine Redensart auf, die er gehört hatte: Wo ich
doch der Vater vont Janze bin. El der Tausend, rief er, das ist ja Alois Dutt¬
müller aus Köpenick!
Alois Duttmüller legte den Finger auf deu Mund, sah sich geheimnisvoll
nach rechts und nach links um und sagte mit heiserer Schnnpsstimme: Ruhe im
Jliede, wenn Sie so frei sei» wollen. Ick beweje mir neemlich hier in meinem
allerhöchsten Inkognito und heiße ab dato David Müller. Von wejen meinet
Herrn Sohnes willen, was ein jroßartiger Lulatsch ist, wat ick Ihnen schriftlich
jeben kann. Mich mit hundert Dahlcrn übert jroße Wasser spedieren, wo ick doch
der Vater vous Janze bin, und mein schönes Geschäft um seinethalben nfjejeben
habe. So'n Schaute!
Ihr Geschäft? Was hatten Sie denn für ein Geschäft?
Feines Geschäft. Reisender — mit dem Hute in der Hand. Jrade wat
scheenes und bringt ooch wat in. Und nu mit hundert Dahlern übert jroße
Wasser? Oder arbeiten sollen? Ick werde ihm wat dünsten.
Ja, was Wollen Sie denn aber sonst?
Ick habe hier, sagte Alois Duttmüller in vertraulichem Tone, so ein kleener
anständiges Pöstchen anjenommen. Und wenn man mir anständig behandeln thut,
dann kann ick ja die Mappe bis auf weiteres spazieren tragen.
Ich fürchte nur, es wird nicht lange dauern, erwiderte Wandrer.
Dauern? Hier? Ick sehe nich in, warum nich?
Wegen der Flasche, alter Freund.
Flasche? Wenn ick früher jetrunken habe, dann war et nur aus Jraim
Damit holte er seine Flasche aus der Tasche, es war noch ein kleiner brauner Nest
darin, stellte sie mit geübtem Griff auf den Kopf und auf seine Unterlippe und
trank sie leer. Wenn ick wieder eenen eenzgen Drvppen ans dieser Flasche trinke,
dann will ick mein Leben lang Stiefelwichse saufen, rief Duttmüller und warf die
Flasche in tragischer Haltung von sich. Die Flasche siel auf einen Haufen Salz
und blieb unversehrt liegen.
Halten Sie Ihr Wort, sagte Wandrer, Schnapsbrüder können wir hier nicht
brauchen. Am allerwenigsten zu Boteudiensten.
Wandrer grüßte und ging weiter.
Siehste, Ranke, da haste deine Pauke, sagte David Müller, hob seine Flasche
wieder auf, wischte sie ab und steckte sie ein. Thut der aber dicke. Dat is woll
hier ein Lageriste? fragte er einen Arbeiter.
Nein, das ist jetzt der Chef, sagte der Arbeiter.
Ach wat, Chef — Schöps meinen Sie? rief Müller entrüstet. Ick weeß doch,
dat er Heringsbändiger is. Denn er is doch der Kamerad von meinem — jaso!
Nehmen Sie sich nur in acht, daß er Sie nicht eines Tages aus der Herings¬
tonne rausschmeißt. Herr Wandrer ist ganz gut, wenn sich aber so einer wie Sie
mausig macht, dann macht er kurzen Prozeß.
Otte dämliche Schafsnase, brummte Müller, mir kann keiner.
David Müller, der auf seiner langen Wanderschaft verlernt hatte, irgend eine
Autorität anzuerkennen, fühlte sich durch die Warnung in seinen Menschenrechten
verletzt, räsonnierte wie ein Rohrspatz und trank nun gerade erst recht eine
Flasche extra.
Ehe wir Wandrer, der jetzt auf den Hanpthof von Heinrichshall trat,
weiter auf seinem Gange begleiten, müssen wir uns ein wenig orientieren. Wir
haben ja das Werk schou oft von ferne liegen sehen, sind mich schon einmal des
Nachts auf seinem Hofe gewesen, aber wir kennen es noch nicht gut genug, daß
wir uns im weitern Verlauf unsrer Geschichte darin zurecht finden könnten.
Wenn man auf der Chaussee, die von Holzweißig durch den Böhuhardt nach
Braunfels führte, bis in die Nähe des Waldes gekommen war, hatte man Heinrichs¬
hall rechter Hand dicht am Wege liegend. Hier hatten früher Fritze Poplitzens Wiesen
gelegen, jetzt war die ganze Thalbreite bebaut. Trat man nun durch das erste
der beiden Thore, dasselbe, neben dem Nvthkmnms Portierhäuschen stand, ein,
so kam man auf den Hanpthof und hatte links das Kesselhaus mit seinem Niesen-
schlot, und dann das hohe und langgestreckte Förderhaus, auf dessen Dache sich der
Fördertnrm erhob. Hieran schlössen sich Verwaltungsgebäude und Wohngebäude
der Beamten an, eine Reihe von Häusern, die bis an den Waldrand reichte. Seit¬
lich von ihnen auf einer mit Gartenanlagen versehenen Höhe, dicht am Walde lag
die Villa des Direktors. Auf der rechten Seite des Hofes lagen die Sodafabrik
und ein wüster Platz, auf dem einige Holzbaracken errichtet waren und allerlei
Materialien lagerten. Der Hof selbst hat seit dem Unglücksfalle sein Aussehen ver¬
ändert. Er ist mit Eisenbahngeleisen belegt worden und ein Bahnhof geworden.
Als Wandrer aus der Fabrik heraustrat, war man eben beschäftigt, die letzten
Nägel einzuschlagen und Kies zwischen den Schienen auszubreiten. Schon kam der
erste Zug an, ein Dutzend leerer Güterwagen und davor eine winzige Maschine
mit dickköpfigen Schlote und drollig-hastigen Bewegungen. Man hatte sie zur Feier
des bedeutsamen Augenblicks mit grünen Reisern geschmückt. Die Arbeiter warfen
ihre Schaufeln weg und riefen Hurra, und zwei von ihnen brachten eine alte
Leine, die mit Putzlappen umwickelt und zur Guirlande gestaltet war, und traten
der Maschine in den Weg, um ein Trinkgeld zu fordern. Die Maschine hatte
aber keine Lust zu zahlen und blies die Petenten mit Dampf an. Als nun
Wandrer erschien, ließen die Arbeiter von der Maschine ab und wandten sich mit
ihrer Putzlappenguirlande gegen ihn.
Geht mir mit euerm schmierigen Zeug vom Leibe, rief Wandrer lachend.
Herr Direktor, Sie siud der erste, der über die neue Bahn geht. Sie müssen
sich auslösen.
Wenn ihr mit dem Direktor verhandeln wollt, so müßt ihr warten, bis er
wiederkommt.
Sie find jetzt aber sozusagen der Herr Direktor.
Wenn ich auch nun ein Stück Blech gäbe, das sozusagen eine Mark wäre, wärt
ihr dann zufrieden?
Nee, das nicht, Herr Wandrer, aber wie wäre es denn mit einem Viertel¬
chen Bier?
Damit würden wir nicht weit kommen. Es müssen doch alle etwas haben.
Wollen sehen, was sich machen läßt, wenn auch nicht gerade heute oder morgen.
Wandrer ging weiter, und ein Murmeln der Befriedigung folgte ihm. Er
fragte nach dem Obersteiger. Der Obersteiger war erst gegen Morgen aus dem
Schachte gekommen und mußte jetzt ausgeschlafen haben. Er sei in seiner Wohnung
zu treffen. Dahin begab sich also Wandrer. Beim Eintreten spürte er sogleich,
daß Frau Rummel große Wäsche haben müsse. Und das war auch der Fall. Nur
hatte sie gerade eine Pause gemacht, um, rechts und links von den beiden Kleinsten
gefolgt, die an der Mutter blauer Schürze hingen, dem lieben Manne sein Früh¬
stück zu bringen. Sie trug eine Nachthaube, Nachtjacke und rotkarrierteu Unter¬
rock — uicht weil gerade Wäsche war, sondern weil das ihr Hausanzug war. Nie
hatte sie jemand im Hause anders als in der Nachthaube und Nachtjncke gesehen.
Wenn sie freilich ausging, so wußte sie, was sie sich und ihrem Stande schuldig
war, und keine der Becimtcnfrauen hatte ein so schönes Sammetjackett wie sie, oder ein
so schweres Umschlagetuch wie sie. Diesesmal hatte sie nun, weil sie Wäsche hatte,
die Ärmel hochgestreift und zeigte ein paar Arme, ans denen man hätte ganz gut
zwei Paar machen können. Rummel frühstückte. Seine Frau hatte ihn nicht schlecht
bedacht und stand hinter seinem Stuhle, sah mit Wohlgefallen, wie es ihm schmeckte,
und begleitete deu Vorgang mit schönen Reden, die immer darauf hinausliefen, daß
die ganze Welt im argen liege und alle Menschen nicht recht gescheit seien, und der
dümmste Schafkopf unglücklicherweise der, den sie zum Manne bekommen habe. Was
Wohl aus ihren unglücklichen Kindern werden würde, wenn sie nicht für alles sorgte.
Die unglücklichen Kinder, die darauf migclerut waren, in solchen Augenblicken ein
Wehgeheul anzustimmen, versagten diesesmal, denn sie hatten die Mäuler voll Butter¬
brot und Wurst.
Wandrer wurde gewürdigt, das Eude dieser Predigt mit anzuhören.
Na, nun sei aber einmal stille! sagte Rummel mit aller Bescheidenheit.
So? Na ja! Stille sein, immer nur das Maul halte», so möchtet ihr es haben.
Was aber aus der Fran und den unglücklichen Kindern — hier machten die un-
glücklichen Kinder abermals einen mißglückter Versuch, sich hören zu lassen — werden
soll, danach fragt ihr nicht. Diese Nacht hast du wieder nicht die blaue Unter¬
jacke angezogen, wie ich dirs schon so oft gesagt habe.
Du weißt nicht, wie warm es unter im Schachte ist.
Natürlich. Ich weiß nie was, ich habe immer Unrecht. Aber das sage ich
dir, Eduard, wer eine Unterjacke hat, und zieht sie nicht an, und kriegt die Lungen-
entzündung, und muß sterben, der muß es dermaleinst vor Gottes Thron verant¬
worten. Damit ließ sie ihre beschwörend erhobne Hand sinken und zog ab in die
Küche zu ihrem Wcischfnsse.
Herr Wandrer, sagte Rummel etwas kleinlaut, es ist eine gute Frau, aber ein
bischen schwer zu ertragen.
Haben Sie einen Augenblick Zeit? fragte Wandrer-
Soviel Sie wollen.
Ich möchte einfahren und mich von dem Stande der Arbeiten überzeugen.
Rummel sub sich scheu um, nickte und griff nach seiner Mütze. Aber die liebe Frau
hatte die Frage doch gehört nud kam mit den beiden unglücklichen Kindern an der
Schürze angesegelt, während ihr der Seifenschaum bis an die Ellenbogen ging. —
Herr Wandrer, sagte sie in strengem Tone, ich will Ihnen einmal was sagen,
wenn seine Schicht ist, und er hinunter muß, dann muß er hinunter, aber wenn
es uicht nötig ist, dann ist es eine Sünde. Und Sie thäten auch besser, sich um
das zu bekümmern, was Sie angeht, und nicht um das, was Sie nichts angeht.
Rummel erschrak. — Aber Karoline, Herr Wandrer ist ja jetzt Direktor. Frau
Rummel sah ihn von oben bis unter an und sagte: Sie?
Ich kanns nicht leugnen, Frau Rummel, erwiderte Wandrer. Und wenn Sie
Ihren Mann allein nicht einfahren lassen wollen, so wird nichts andres übrig
bleiben, als Sie zu kommandieren und mit hinunter zu nehmen.
Mich kommandieren? Ich will Ihnen einmal was sagen, mich kommandieren
Sie nicht. Mich nicht! Sie nicht! — Damit zog sie sich mit ihren zwei un¬
glücklichen Kindern wieder zurück.
Wandrer lachte, aber Nnnunel schüttelte bekümmert das Haupt und sagte: Eine
gute Frau, Herr Wandrer, aber ein bischen schwer zu ertragen.
Wandrer und Rummel begaben sich ins Knappschaftshans, legten Bergmanns-
kleider an, traten auf die Förderschale und fuhren in die Tiefe. Es ist eine merk¬
würdige Empfindung, so in die Tiefe befördert zu werden. Man verliert die Vor¬
stellung von Raum und Zeit. Man hat keine Vorstellung davon, wie schnell die
Fahrt geht, und wie lange sie danert. Man kommt sich vor wie losgelöst von der
Welt. Bisweilen fliegt von unten nach oben ein Licht an uns vorüber. Jetzt
verlangsamt sich die Fahrt, Lichter tauchen auf, und die Förderschale hält nach einigem
Probieren still. Wir steigen aus. — Glück auf. — Noch haben wir unsre Augen
nicht an das trübe Licht gewohnt, so hören wir von fern ein dumpfes Rollen. —
Zur Seite treten! — Ein Schachtwagen donnert die abschüssige Bahn herab, wird
auf die Bühne der Förderschale geschoben und geht hinauf.
Hier würde nnn die Stelle sein, eine farbige Beschreibung des Salzbergwerks
zu geben, die kristallnen Dome und sonstige Sehenswürdigkeiten zu schildern. Aber
dies alles gab es in Heinrichshall nicht. Die großen Hohlrttnme, womöglich mit
unterirdischen Seen, finden sich in alten Bergwerken. In Heinrichshall war noch
nicht viel gefördert worden, und es gab nur Stollen, die durchs Gestein in die
Salzlager hineinführten.
Als Wandrer unter die Bergleute trat, die am „Bremsberge" beschäftigt
waren, wurde er mit neugierigen Blicken betrachtet. Man stieß sich mit den Ellen¬
bogen an, und einer sagte zum rudern: Das ist der neue Direktor. Worauf einer
von ihnen, Göhring mit Namen, eine noch finstrere Miene mochte, als er an sich
schon hatte, sich herumdrehte und ausspuckte. Göhring war nämlich einer der Ziel¬
bewußten und kannte das ganze Vokabularium vom Schlotbaron bis zum Sklaven¬
halter und Menschenschinder auswendig. Zu erfahren, daß dieser junge Mann
im Dienste des Kapitals stehe, genügte ihm, ihn als Todfeind, ja als Verbrecher
anzusehen. Die andern waren harmloser und hofften von dem neuen Regiment
einen bessern Verdienst. Und August Flauschrock, der unter seinen Kameraden als
ausgezeichneter Witzbold geschätzt wurde, fing schon an, Witze zu reißen.
Ist Siebitsch hier? fragte Wandrer.
Jawohl, Herr Wandrer. Drinn trat ein Mann vor, der hier einen bequemen
Aufseherposten hatte. — Glück auf, Herr Wandrer, rief er, und wenn ich hier meine
Bergkapelle zusammen hätte, dann thäte ich Ihnen einen Tusch blasen.
Das können Sie ein andermal. Aber Ihre Kapelle sollen Sie haben.
Soll ich haben? Donnerwetter! Ist es wahr? Soll ich haben?
Haben Sie denn Leute, die etwas können?
O ja, Herr Wandrer. Leute genug, und auch, was die Klarinettenbläser sind
und die Trompeter, die haben ihre Instrumente selber, aber das grobe Blech fehlt,
und die große Trommel.
Sie dürfen anschaffen, was Sie brauchen.
Darf ich? Donnerwetter! Also zwei Althörner, zwei Tenorhörner, eine
Posaune und ein Bombardon. Herr Wandrer, ein Bombardon muß dabei fein,
von wegen des tiefen Baßtons.
Ja ja, Sie sollen Ihr Bombardon haben, und eine große Trommel auch.
Reisen Sie gleich heute nachmittag nach Leipzig und bringen Sie die Instrumente
mit. Aber machen Sie leinen Schmu.
Aber Herr Wandrer, wie werde ich denn?
Na na. Man nennt das Prozente berechnen. Das will ich nicht. Ich werde
mich erkundigen. Verstehn Sie?
Donnerwetter! sagte Siebitsch, indem er sich in seinen dunkeln Winkel wieder
zurückzog, wo er verklärt in die Luft schaute und vor einer Reihe leerer Tonnen
mit einem Hackenstiele in der Hand im Geiste seine schönsten Märsche dirigierte.
Wandrer und Rummel begaben sich jetzt durch deu Stollen ^, nach der Arbeits¬
stätte vor Ort. Rummel nahm gleich alle Leute, die anderwärts abkommen konnten,
mit. Der Stollen führte zunächst durch hartes, thoniges Gestein, dann durch hell¬
blinkendes Steinsalz und endete vor einer roten Schicht Kali.
Wieviel können Sie täglich fördern, Herr Rummel? fragte Wandrer.
Es kommt darauf an, wie die Mannschaften zufassen, antwortete dieser.
Das heißt mit andern Worten, es kommt darauf an, wieviel sie bei der Arbeit
verdienen. Sie, Hartmann, und ihr andern, überlegt euch einmal, wie ihr arbeiten
wollt, im Tagelohn oder im Akkord. Mir ist es recht, wenn ihr einen guten Ver¬
dienst habt, es muß aber auch was fertig werden.
Während dessen hatte der Obersteiger seine Rechnung gemacht und war zu
dem Ergebnisse gekommen, daß, wenn um allen Orten mit voller Kraft gearbeitet
würde, die Belegschaft nicht ausreiche.
So nehmen Sie soviel Mannschaften an, als Sie kriegen können, sagte
Wandrer.
Man besuchte die übrigen Arbeitsstätten, ging am Spundlvche des Teufels
vorüber, betrachtete mit ernsten Blicken die Stelle, wo aus dem Mauerwerke das
Wasser hervorsickerte, und kehrte zur Aufaugsstelle zurück. Hier herrschte große
Heiterkeit. Einer raunte dem andern ein Witzwort zu, und Wandrer, der un¬
erwartet dazwischen trat, hörte, daß Flauschrock sagte: Der Alte, das ist der eichelne
Wenzel, und der Junge, das ist der grüne Wenzel. Natürlich war Wandrer damit
gemeint. — Flauschrock, sagte Wandrer, Sie Hanswurst, kommen Sie mal her.
Was haben Sie eben ausgeheckt? — Flnuschrock drehte sich nach rechts und nach
links und wollte nicht mit der Sprache heraus. — Wenn Sie ein Kerl wären,
dann würden Sie vertreten, was Sie gesagt haben. Der Witz ist übrigens nicht
schlecht. Nur hüten Sie sich, im Dienste Witze zu machen, sonst könnten Sie er¬
leben, daß der grüne Wenzel Sie — wegsticht. Es ist gut, abtreten.
Flauschrock trat zurück und kratzte sich hinter den Ohren. Mehr noch als die
Worte hatte der bestimmte Ton, der in ihnen lag, ans ihn Eindruck gemacht. Vor
dem nehmt euch in acht, sagte er, als Wandrer weitergegangen war, der sticht, holf
der Teufel, wie eine Biene.
Aber der Spitzname blieb sitzen.
Jetzt kam Leben ins Werk. Es war, wie wenn ein Pferd, das verdrossen
vor seinein Wagen getrottet war, die Peitsche gekostet hätte und nnn den Kopf hob,
die Ohren spitzte und aufgriff. Die Räder ans dem Fördertnrme drehten sich Tag
und Nacht in rasender Eile, die Maschine der Salzmühle puffte unverdrossen. Im
.Kondor flogen die Federn, und auf der Kleinbahn nach Siebendorf dampfte die
kleine Maschine mit leeren und mit vollen Wagen unermüdlich hin und her. Zu¬
gleich begann eine neue Völkerwandrung. Von Braunfels, durch den Bllhnhardt,
von Altum, vou Siebendorf, von allen Dörfern des Umkreises kamen sie angezogen,
um Arbeit auf Heinrichshall zu suchen und zu finden. Alle Wohnungen der Um¬
gegend waren belegt. Es war auch uicht eine Kammer mehr übrig. Die Kauf¬
leute und die Fleischer machten gute Geschäfte, und Herr Kantor Mötefiud seufzte.
Er hatte hundertvieruudzwanzig Schüler in seiner Klasse und mußte seine Schar
teilen und im Sommer früh und nachmittags Unterricht geben, was ihn tief
schmerzte. Die Verhandlungen mit der Negierung wegen des Balles einer neuen
Schule wurden so gründlich geführt, daß es noch Jahre dauern konnte, ehe die
lieue Schule unter Dach kam. Und sein Antrag ans Gehaltszulage beim Schul-
vvrstaud war gerade vou deu kleinen Leuten abgelehnt worden mit der Begründung,
er habe als Kantor sowieso schon zuviel Einkommen und viel mehr als sie selber.
Dies hatte den Herrn Kantor tief gekränkt, er hatte sein altes Notizbuch durch¬
geblättert und die Stelle gefunden, wo er einst das Wort Brednlje eingetragen
hatte. Jetzt sah er das Wort mit wehmütigen Verständnis an, nahm seine» Blei¬
stift und unterstrich es noch einmal nachdrücklich.
Während dessen kasteite sich Direktor Wenzel in Marienbad, um seineu Über¬
schuß um Fett loszuwerden, und lancierte Notizen in die Presse, in denen auf die
erfolgreiche Thätigkeit Wandrers aufmerksam gemacht und für die nächste Abrechnung
eine hohe Dividende in Aussicht gestellt wurde. Sogleich begann der Kurs der
Kuxe zu klettern, zuerst prvzentweise, dann in lustigen Sprüngen. Es sah ganz
so aus, als sollte der Direktor mit seiner Voraussage recht behalten.
Es lag nicht in
unsrer Absicht, an dieser Stelle nochmals auf die Duellfrage zurückzukommen, über
die schon in Broschüren, Zeitschriften und Tagesblättern so unendlich viel geschrieben
worden ist. Wir fühlten uns auch gegenüber dem neusten tragischen Zweikampf
in Springe umso weniger dazu veranlaßt, als unsrer Überzeugung nach eine Einigung
über diese Frage, vorläufig wenigstens, uicht zu erreichen sei» wird. Wenn wir
trotzdem in dieser Sache nochmals zur Feder greisen, so geschieht es, weil dieses
Duell in den jüngsten Reichstagsverhandlungeu wieder eine große Rolle gespielt hat,
und man neben einigen vorzüglichen Reden — zu denen wir vor allem die des
Abgeordneten Dr. von Levetzow rechnen — auch wieder Auslassungen gehört hat,
die wir als unrichtig und unlogisch bezeichnen müssen.
Noch immer wird bei uns das Heer, d. h. das Offizierkorps, als die Pflanz¬
stätte und die Hüterin des Zweikampfs bezeichnet. Wir sahen uns deshalb ver¬
anlaßt, uns einmal über die entsprechenden Verhältnisse in der Armee der franzö¬
sischen Republik zu orientieren. Es erschien uns dies umsomehr angebracht, als
der Abgeordnete Bebel, der sich bekanntlich mit Vorliebe als Sachverständiger in
militärischen Fragen aufspielt, auch diese Gelegenheit der Duelldebatte wieder benutzte,
die Verhältnisse und Anschauungen in der französischen Armee warm zu loben und
die an ihrer Spitze stehenden Persönlichkeiten — namentlich den Minister Audrö —
als Autoritäten auszuspielen. Wenn er dadurch auch nur von neuem bewies
— was für jeden Fachmann selbstverständlich ist —, daß ihm die Fähigkeit und die
Möglichkeit, militärische Fragen sachlich zu beurteilen, abgeht, so scheint es doch bei
der Vorliebe der sozialdemokratischen Partei für die französische Armee — lediglich
weil sie einer Republik angehört, und weil es eben nicht die deutsche ist — ange¬
zeigt, der Frage einmal naher zu trete», wie man in der französischen Armee über
das Duell denkt, das bei uns von vielen Seiten als Auswuchs des Militarismus
und als „Verbrechen" bezeichnet wird, das mit entehrender Strafe belegt werden
sollte.
Da muß denn zunächst konstatiert werden,, daß in Frankreich die Duellsitte und
der Dnellzwang nicht allein für die Offiziere, sondern auch für die Unteroffiziere
besteht, und zwar — auch bei den Offizieren — ohne Einschränkungen durch Ehren¬
gerichte. Das Offizierdnell wird in Frankreich nicht allein als selbstverständlich,
sondern anch als ganz unvermeidlich betrachtet. Eine hervorragende französische
Milittirzeitmig — I^s Vranos nulitairo — brachte kürzlich einen interessanten Artikel
über dieses Thema, dem Nur das Nachstehende entnehmen:
Nach dem traurigen Ausgang, den in der letzten Zeit verschiedne Duelle in
Deutschland und Österreich genommen hatten, hieß es, daß in beiden Ländern zu¬
folge des Einschreitens der beiden Kaiser das Duell in der Armee vollständig beseitigt
worden sei, wie dies in der englischen Armee schon früher geschehn, und auch in
der frnuzösischen Armee in Aussicht genommen sei. In Frankreich habe man an¬
geblich diesen Entschluß deshalb gefaßt, weil der vermehrte Dienst den Offizieren
nicht mehr erlaube, sich genügend in der Handhabung der Waffen auszubilden.
Wenn die Verfügungen der beiden Kaiser nur eine Einschränkung der Duelle, nicht
ihre unbedingte Ausrottung in der Armee zur Folge haben konnten und sollten,
so sei es ebenso unrichtig, von einer Vermindrung der Duelle in dem französische«
Offizierkorps zu sprechen. Wenn in der letzten Zeit über solche Zweikämpfe weniger
in die Öffentlichkeit gedrungen sei, so liege es allein daran, daß keine ernsten Folgen
zu Tage getreten seien. Im allgemeinen müßte aber festgestellt werde», daß seit
etwa zwölf Jahren das Duell in der französischen Armee nicht abgenommen —> viel¬
leicht auch nicht zugenommen — habe. Die Duelle kommen vor, gerade wie
früher — „nur daß man nicht davon spricht"! Hierin, schalten wir ein, liegt der
große Unterschied zwischen französischer Sitte und Gepflogenheit und deutscher. In
Frankreich würde sich anch der entschiedenste Sozialdemokrat scheuen und sich schämen,
Vorkommnisse innerhalb der Armee mit besondern! Behagen in die Öffentlichkeit
zu ziehn, während bei uns die sozialdemokratischen Führer, vor allem Bebel, es
für ihre Aufgabe halte», alles, was die Armee, nicht allein in den Angen des Volkes,
sondern auch in denen unsrer Nachbarn schädigen kann, breitzntreten und von der
Tribüne des Reichstags aus zu besprechen. Wo wird man in: französischen Parla¬
ment je eine Debatte hören über gesetzwidrige Behandlung von Soldaten, über
Offizierduelle u. tgi. in., über die sich bei uns sozialdemokratische Abgeordnete tage¬
lang mit wahrer Wollust ergehn!
Der Berichterstatter der l?rinn:<z militiürs schreibt um, daß er sich, um sich
genau über den Stand der Duellfrage in den verschiednen Armeen zu orientieren,
an einen hoch angesehenen französischen Stabsoffizier, der als Autorität in allen
Ehrensachen gilt, gewandt und ihn gefragt habe, ob wirklich in Deutschland, in
Österreich und in England das Duell zwischen Militärpersonen nicht mehr vor¬
komme, und ob es in Frankreich, Italien und Spanien auf dem Aussterbeetat sei.
Darauf habe der Oberstleutnant Derue achselzuckend geantwortet: Das Duell unter
Offizieren, ebenso wie das uuter Soldaten, ist viel zu notwendig in, Interesse des
Dienstes, als daß der Gedanke, es zu unterdrücken, dem Kaiser Wilhelm oder dem
französischen Kriegsminister beikomme» könnte. Gegen das Duell unter Offizieren
richten sich die Bannstrahlen der Kaiser von Deutschland oder von Österreich durch¬
aus nicht; wenn nun die Verordnungen aufmerksam liest, so ergiebt sich, daß sie
sich nur gegen das Duell zwischen Offizieren und Zivilpersonen richten, dem berech-
tigterweise irgend welcher Nutzen abgesprochen wird, und deren Zahl durch die
obligatorische Jntervention der Ehrengerichte beschränkt werden soll. (Wir brauchen
Wohl nicht besonders zu bemerken, daß der französische Offizier hier mehrfach im
Irrtum ist.) In Frankreich, fuhr er fort, sollte die Regierung diesem Beispiele
folgen.
Auf die Frage, warum Oberst Derue das Duell unter Offizieren für not¬
wendig halte, antwortete er durch die Erzählung eines Vorkommnisses, bei dem er
selbst Zeuge war, und das er als typisch für die meisten Offizierduelle bezeichnet:
„In einer Garnisonstadt hegten zwei demselben Regiment angehörende Kapitäne
eine ganz unbegründete Abneigung gegeneinander. Irgend ein Einverständnis in
der Ausbildung der beiden zu einander gehörenden Eskadrons war infolgedessen aus¬
geschlossen. Alles litt unter diesen unliebsamen Verhältnissen, trotz der unausgesetzten
Bemühungen des Obersten, der schließlich gar nicht mehr wußte, was er thun sollte.
Eines schönen Tages, und infolge einer ganz unbedeutenden dienstlichen Angelegen¬
heit, platzte die Bombe; die beiden Kapitäne schlugen sich in der Reitbahn wie
zwei Rasende. Der Zweikampf endete mit einer leichten Verwundung, die der eine
der beiden davontrug. Von da an war nun zwar die Freundschaft zwischen den
beiden Gegnern nicht besonders warm und herzlich, aber das Duell hatte die Folge,
daß sie sich gegenseitig achteten, und daß sie über alle dienstlichen Fragen ein Ein¬
vernehmen erzielten. Diese Geschichte, schloß der Offizier, genügt als Beweis, daß
in der Armee die Institution eines Ehrengerichts unnötig ist; was hätte es in
diesem Falle thun sollen? Etwa den größern oder geringern Grad der gegen¬
seitigen Abneigung feststellen? Das Ehrengericht hätte jedenfalls im vorliegenden
Falle nicht die Notwendigkeit eines Duells erklärt, und doch war es notwendig im
Interesse des Dienstes. Die eigentümliche Wirkung des Offizierduells ist, daß es
die gegenseitige Achtung aller Offiziere eines Regiments, die in fortwährender Ge¬
meinschaft leben, sichert. Die Moralisten können sich dieses psychologische Wunder
nicht erklären; aber was bedarf es auch einer Erklärung! Die Thatsache besteht,
sie ist begründet auf tägliche Vorkommnisse und veranlaßt mich, schloß der Offizier,
laut zu erklären, daß das Offizierduell ein notwendiges Übel ist."
Man ersieht hieraus, daß das Duell in der französische» Armee viel häufiger
vorkommt als bei uns, daß ihm in vielen Fällen, wohl in den meisten, ganz nichtige,
vielfach dienstliche Vorkommnisse und Meinungsverschiedenheiten zu Gründe liegen,
daß es irgend welche Institutionen, die den Zweck hätten, diese Duelle zu ver¬
hindern oder einzuschränken (wie unsre Ehrengerichte usw.), nicht giebt, daß aber in
Frankreich nicht jeder Zweikampf, bei dem ein Offizier beteiligt ist, zu einer Lini8<j
eölsbio aufgebauscht und in der Nationalversammlung breit getreten wird, nnr um
der Armee und den Offizieren Unannehmlichkeiten zu bereiten. Der französische
Stabsoffizier sagte i Los äusls (in der französischen Armee.) ont lion vommo Mi' Jo
pÄWv; soulsmvnt ein n'vn Mi'is xa8, voila, tont!
Weder die Sozialdemokraten, noch die strenggläubigen Katholiken — die bei
uns die Hauptgcguer des Duells sind — kümmern sich in Frankreich um solche
Interim der Armee; sie betrachten es vor allem als eine der ersten Pflichten des
Patriotismus, etwaige schmutzige Wäsche nicht vor der Öffentlichkeit zu waschen.
Die letzten Verhandlungen im deutschen Reichstag über die Duellfrage, ebenso
wie die angenommne Resolution des Abgeordneten Lenzmann, beweisen, daß vielfach
eine ganz irrige Ansicht über den Zweikampf und seinen Zweck besteht. Es wird
immer so dargestellt, als solle das Duell eine Strafe für den Beleidiger sein, und
als müßte infolgedessen eigentlich dieser immer der Verletzte oder Getötete sein.
Wie oft liest man, daß das Unvernünftige des Duells am besten daraus hervor¬
ginge, daß der Beleidigte nicht nur die widerfahrue Beleidigung zu tragen habe,
sondern nun auch noch schwer verwundet worden sei, während der Beleidiger ge¬
sund und heil den Kampfplatz verlassen habe. In dieser Anschauung liegt, unsrer
Meinung nach, einer der hauptsächlichsten Gründe der Dnellgegnerschaft. Be¬
trachtet man den Zweikampf als Gottesurteil oder als einen Akt der Strafe, die dem
Beleidiger auferlegt werden soll, so kann man wohl über das Verfehlte dieses Zwecks
und demnach auch über das Verfehlte des Mittels klage». Erfüllt aber das Mittel
den gewollten Zweck nicht, so ist es logischerweise besser, dus Mittel gar nicht anzu¬
wenden. Grund und Zweck des Duells sind aber ganz anders! Es geht dies am besten
daraus hervor, daß das Duell ebenso gut seinen Zweck erfüllen kaun, wenn beide Gegner
in die Luft schieße», wie es beispielsweise in Frankreich sehr oft geschieht (noch in den
letzten Tagen bei dem Duell zwischen dem frühern Kriegsminister Cavaignac und
dem Abgeordneten Renonlt). Nun wollen wir diese quasi Spielerei in keiner Weise
loben oder verteidigen, schon deshalb nicht, weil dadurch die Zahl der Duelle ver¬
mehrt wird; aber man ersieht daraus, daß jeder Gedanke an eine Strafe oder
Rache beim Duell ausgeschlossen ist. Der betrogue Ehemann in Frankreich duelliert
sich nicht mit dem Räuber seiner Familienehre, souderu er schießt ihn einfach über
den Haufen. Der Begriff des Duells ist rein ethisch und zugleich, genau wie
Auffassung und Begriff der Ehre selbst, ganz subjektiv. Was der eine als eine
Verletzung seiner Ehre empfindet, geht an einem andern spurlos vorüber; der eine
sieht die Wiederherstellung seiner verletzten Ehre darin, daß er dem Beleidiger ein
paar Ohrfeigen giebt, der andre darin, daß der Beleidiger zu einer unbedeutenden
Geldstrafe verurteilt wird; wieder ein andrer verlangt die Zahlung einer großen
Summe als Entschädigung (so ist es meist in England), während viele andre, zu
denen wir gehören, eine rox-UÄtion ä'bounvur im Zweiknmpf sehen. Wir geben
vollständig zu, daß das in den meisten Fällen eine illusorische Reparation ist, oft
aber veranlaßt mich das Duell erst die Abbitte. Eine vollständige Verkennung der
Verhältnisse und des subjektiven Empfindens zeigt es, wenn fortwährend eine Ver¬
schärfung der Dnellstrnfen verlangt und davon eine Vermindrung der Zweikämpfe
erwartet wird. In frühern Jahrhunderten stand Achtung, Einziehung des Ver¬
mögens, Verlust der rechten Hand, ja sogar die Todesstrafe auf dem Zweikampf,
und trotzdem bestand er fort. Genau so würde es heute sein! Glaubt ein Mann,
seiner Ehre einen Auftrag mit der Waffe schuldig zu sein, so wird es ihm ganz
gleichgiltig sein, ob er dafür ein Jahr Festung oder drei Jahre Gefängnis erhält.
Er hält das Duell für unvermeidlich ans Gründen des Ehrgefühls und hat das
Bewußtsein, daß keine Strafe ihn an seiner Ehre schädigen kann. Von Einsetzung
entehrender Strafen für das Duell — wie etwa Entlassung ans dein Heere mit
schlichtem Abschied usw. — kann deshalb auch nie die Rede sein.
Daß es viele Leute giebt und immer geben wird, die diesen Standpunkt nicht
teilen, wissen wir wohl; es schadet dies aber gar nichts; verschiedne Menschen, ver-
schiedne Länder, verschiedne Berufskreise haben nun einmal verschiedne Auffassungen
und verschiedne Ansichten. Der Handarbeiter, der sich beleidigt fühlt, wird in den
meisten Fällen zuschlagen — ist es ein Italiener, zum Messer greifen —, andre
Leute werden sich mit Schimpfen begnügen, wieder andre werden in einer dem Be¬
leidiger zudiktierten Geldstrafe eine Sühne sehen — wir verlangen vom Beleidiger
das persönliche Eintreten im Duell. Außer jeder Diskussion steht es, daß es viel
besser und richtiger und christlicher wäre, wenn es keine Duelle mehr gäbe, und
daß sowohl vou Staats wegen wie von andrer Seite alles mögliche gethan werden
müßte, das Duell — auch im Offizierkorps — einzuschränken und möglichst ganz
zu beseitigen. Dies geschieht aber auch, und die Zahl der Duelle in der Armee
ist in den letzten dreißig Jahren ganz wesentlich zurückgegangen. Ganz wird und
In diesen Tagen wurde ans Vorschlag
des Ministers der Agrikultur im Einverständnis mit dem des Kultus ein könig¬
liches Dekret unterzeichnet, das „das Fest der Bäume" zu einem italienischen
Nationalfest erhebt.
Mancher wird sich fragen, was denn dieses merkwürdige Edikt eigentlich be¬
deute; zur Erklärung muß etwas zurückgegriffen werden.
Italien leidet an demselben Schaden, an dem so viele südliche Länder leiden,
daß praktische Gesetze, die, oft in einem Augenblicke der Not oder von plötzlichem
Enthusiasmus gegeben, schnell in Vergessenheit geraten oder wenigstens nicht streng
gehandhabt werden, und das hängt wieder damit zusammen, daß entweder die Not¬
wendigkeit eines Gesetzes dem Volke nicht ins Blut übergegangen ist, daß der alte
Schlendrian des Besserwissens in ihm zu stark ist, oder daß der Gesetzgeber weiter
kein Interesse nu seinem Ktude hat.
So geht es auch mit den Forstgesetzen in Italien. Während der Norden des
Landes durch lange fremde Okkupierung mehr daran gewöhnt ist, Achtung vor wohl¬
gemeinten Vorschriften zu hegen, haben Kirchenstaat und Neapel Regierungen gehabt,
die sich wenig um die allgemeine Bvdeupflege gekümmert haben. Der im Sommer
ausgedörrte Boden, der im Winter von kleinen reißenden Strömen durchzogen ist,
weist darauf hiu, wie nötig die Bnnmknltnr wäre. Wer jetzt Italien, zumal den
südlichen Teil durchwandert, dem werden die trotzig aufragenden Bergketten auf¬
fallen, die im wechselnden Sonnenschein die herrlichsten Töne anzunehmen Pflegen
und besonders morgens und abends in einer wahren Gamme von Farben leuchten.
Das ist freilich ein prächtiger Anblick, aber für etwas andres sind sie auch uicht
mehr da; die Vegetation, die einst diese scharfen Umrisse bedeckte, ist vollständig
vernichtet. Ju den Niederungen giebt es noch kleines niedriges Unterholz, das ein
herrlicher Aufenthalt für das Gesindel ist. Wer mit dem Gesetz in Konflikt ge¬
raten ist, der flüchtet sich in die Maechin, so heißen diese Überbleibsel von einstigen
Wäldern. An den Bergnbhängen finden sich allerdings oft noch herrliche Wald¬
partien; aber in alle dem, was Privatbesitz ist, hat der Staat kein Recht, ein
Wort mitzusprechen, und gerade das ist in Süditalien sehr ausgedehnt der Fall.
Vor Jahren habe ich den herrlichen Wald im Volskergebirge zwischen Norma und
segni durchstreift; uralte Bnumrieseu unter fröhlich nachwachsenden jungem Nach¬
wuchs, eine wahre Pracht. Das ist alles anders geworden; man hat überall stark
gelichtet, ohne nachzupflanzen, oft die Bäume geschlagen, ohne die Mittel zu haben,
sie wegzuschaffen. Wer kennt nicht das Albnnergebirge mit seinem Monte Capi,
den noch vor wenig Jahren ein Kranz der herrlichsten Edelkastanien vom Fuß bis
zum Gipfel bedeckte. Jetzt zeigt er weite, öde Flächen darunter. Italiens Boden
entbehrt eben der Steinkohle; da muß der Baum die Holzkohle liefern.
Dazu kommt ein wunderlicher Umstand, daß der Italiener eine Art Wider¬
willen gegen Bäume hat. Sie sind für ihn der Aufenthalt der Malaria. Ich
kenne Familien, die noch heutigentags uicht dazu bewogen werden können, unter
Bäumen zu ruhen, und die es besonders des Abends, sogar im Hochsommer, um
alles in der Welt nicht thun würden, nicht einmal unter ihnen zu gehn wagen.
Ist da etwas wahres daran, oder ist es nur alter Aberglaube? Thatsache ist, daß
sogar unter der italienischen Regierung vor einigen Jahren noch mit wahrer Grau-
samkeit schöne alte Banmanlagen in der Hauptstadt zerstört wurden, ohne daß eine
Klage in der sonst so wachsamen Presse erhoben wurde — doch wohl, weil ihnen
die Sache nicht der Mühe wert erschien. Auch jetzt noch, wo es schon besser
geworden ist, sieht man, wie in öffentlichen Anlagen Bänme mit kräftigen Ästen
und entwickelter Krone ohne weiteres wieder ans den kahlen Stamm reduziert
werden.
Nun hatte schon in den achtziger Jahren Guido Baceelli, der letzte civis
i'omimuK, wie ihn seine Mitbürger scherzend nennen, auf den Schaden hingewiesen,
der durch ein solches unsinniges Niederlegen und Zerstören der Wälder entstehe,
der unberechenbar sei, nicht nur für die Agrikultur und die Industrie, sondern für
den Staat selbst durch die dadurch hervorgerusuen Überschwemmungen und durch
die fortschreitende Zerstörung der Humusschicht; auch auf den Schaden für die Ge¬
sundheit wies er hin. Im Jahre 1899 hat er dann als Unterrichtsminister ver¬
sucht, einen Damm gegen diesen Unfug aufzurichten, indem er das „Fest der Bäume"
einführte. Da er sein Publikum keimt, hat er sich ganz richtig gesagt, wenn etwas
dauerhaftes geleistet werden solle, so könne das mir dadurch geschehn, daß man die
zukünftige Generation dafür begeistere. Eines Tages, am 19. November, zogen
die Schüler aller Gemeinden Italiens nach dem dafür bestimmten Orte, in Rom
nach dem vierten Meilenstein an der Via Latina, mit Spaten bewaffnet, an der
Spitze die Behörden, sogar das Königspaar machte mit, und pflanzten die vorher
an Ort und Stelle geschafften Vänmchen, sangen eine extra dafür komponierte
Hymne, alles mit dem hierzulande üblichen Enthusiasmus. Sogar die Presse wurde
sentimental und machte die Kinder darauf aufmerksam, daß sich an dielen Orten
der Stadt die Spatzen des Abends einen besonders dichten Baum für die Nacht¬
ruhe aufsuchten; da diese nnn eine geraume Zeit brauchen, kreischen und sich zanken,
so wurden diese Bäume als „singende Bäume" bezeichnet.
Mit dem Abgang Bcieeellis verlor die Einrichtung der Baumanpflanzung schnell
ihren Reiz; die alte Sünde, die Arbeiten des Vorgängers als ungeschehn zu be¬
trachten, weil man selbst keinen Ruhm davon hat, zeigte sich auch hier; das Modell¬
feld an der Via Lntina verkam ungepflegt. Geschah das in der Hauptstadt, so
wird es im übrigen Lande wohl nicht besser gewesen sein.
Jetzt, wo Baceelli wieder am Ruder ist, hat er die Sache von neuem in die
Hand genommen und sie nnn, dnrch die Erfahrungen gewitzigt, durch Gesetz zu
eiuer Stantsaktion erhoben. Danach soll jetzt einmal im Jahre, im Frühling oder
im Herbst, wie es die klimatischen Verhältnisse der verschiednen Regionen erlauben,
das Fest durch Anpflanzung von Bäumen gefeiert werden. Die Forstadministration
bestimmt die dafür passenden Arten, die dann den einzelnen Gemeinden geliefert
werden. Es wäre aber auch zu wünschen, daß zugleich ein sehr strenges Gesetz
gegen mutwilligen Baumfrevel gegeben würde.. Mit Ernst ist in einem Lande, wo
der Boden so fruchtbar ist, daß, mau möchte fast sagen, sogar ein Besenstiel wieder
ausschlägt, wenn er in die Erde gesteckt wird, noch sehr viel zu machen, und so
schnell wird es nicht vorwärts gehn, daß die Künstler fürchten müßten, die klassischen
Konturen der italienischen Bergketten würden ihnen dadurch ruiniert!
hat eine Answcchl von Predigten
des Frei Girolamo nebst zwei Briefen an seine Mutter, einem um seinen Vater,
einem poetischen Fragment und der im Kerker geschriebnen Betrachtung über den
Vnßpsnlm Miserere übersetzt und geschmückt mit einem Bildnisse Savonarolas nach
Frei Vartolomeo bei B. Behr (E. Bock) in Berlin (1901) herausgegeben. Man
erkennt aus diesen Herzensergüssen, daß der große Bußprediger ein vollkommen
naiver Mensch gewesen ist, der sein Inneres enthüllt, ohne etwas zu verberge«
oder durch Ausschmückung zu verhüllen, und so gewinnt man ein ganz sicheres Urteil
über seine Persönlichkeit und seinen Charakter. Es ist darum auch nicht zu ver¬
wundern, daß die Urteile derer, die ihn kennen, übereinstimmen; er tritt uns aus
diesen Briefen und Predigten so entgegen, wie ihn z. B. Giuv CaPPvni in seiner
Geschichte der florentinischen Republik gezeichnet hat.
Savonarola war kein Fanatiker. Er gehörte nicht zu denen, die, wenn sie
ins Kloster gehn, alle Bande der Natur zerreiße«. Er liebte und verehrte seiue
Eltern herzlich auch als Mönch, blieb bekümmert um das Schicksal seiner Geschwister
und erklärte sich bereit, den Seinigen zu Hilfe zu eilen, wenn sie ihn dringend
brauchten, nnr bat er, sie möchten ihn nicht ohne Not in seinem erhabnen Berufe
stören. Er war auch kein Verächter von Kunst und Wissenschaft; er gründete eine
Studienanstalt, eine Malerschule und machte die Bibliothek der Mediceer dein
Publikum zugänglich. Dem Autodafe" der Varna oder Auatemi, das am Fasching
1496 veranstaltet wurde, sind nur schmutzige Bücher und Bilder, Maskenanzüge
und Gerät für Hazardspiele zum Opfer gefallen, nicht Kunstwerke; unter den ver¬
brannten Sachen wird ein einziges Stück, das Kunstwert gehabt haben soll, er¬
wähnt, ein Spieltisch von reicher Arbeit. Auch überspannt war Savonarola nicht,
nnr tief, entschieden und ehrlich; er glaubte aufrichtig alles, was die Kirche lehrt,
und war überzeugt, daß die Sittenvorschriften des Neuen Testaments für alle ver¬
bindlich seien, ihre Übertreter den zeitlichen und ewigen Strafen nicht entgehn
könnten; ein Mensch von solcher Art erscheint der Welt immer überspannt und
gerät unvermeidlich i» Konflikt mit ihr. Er hielt es nicht mehr aus „unter
Schweinen," floh ins Kloster, um als Mensch zu leben und als Bußprediger die
Schweine zu Mensche» zu machen. Auch seine Visionen und Prophetien beweisen
noch nichts gegen seine seelische Gesundheit; jene kann man als poetische Ein¬
kleidungen auffassen, mit denen er die Wirkung seiner Predigten verstärkte, indem
er z. B. Gespräche einfügte, die Gott und Christus mit ihm geführt hätten, seine
Vorhersagungen von Strafgerichten aber sind teils bei seinen Lebzeiten, teils nach
seinem Tode eingetroffen: in den folgenden Jahrzehnten haben Italien und Florenz,
die er mit heißer Inbrunst liebte, alles verloren, was im Mittelalter ihren Ruhm
ausgemacht hatte. Auch berechtigten ihn die Erfolge seiner diplomatischen Sendungen,
seiner politischen Thätigkeit und seiner Bußpredigt, sich für ein auserwähltes Werk¬
zeug Gottes anzusehen. Er hatte den Zorn des Franzosenkönigs von Florenz ab¬
gewandt,") hatte die demokratische Verfassung der Stadt wieder hergestellt und den
Lebenswandel der Florentiner augenfällig gebessert; er hatte das Volk, die jungen
Leute und die Kinder für sich, die als eifrigste Apostel für ihn wirkten (als es
zur Feuerprobe kam, bat ihn een Knabe fußfällig, für ihn durchs Feuer gehn zu
dürfen), und nur einige Vornehme und die in Lastern ergrauten alten Männer
und Weiber blieben seine unversöhnlichen Feinde, die, wie er einmal sagt, schon
ärgerlich wurden, wenn sie sahen, daß sich ein Mädchen ehrbar kleidete. Er be¬
zweifelte auch keine einzige Glaubenslehre. Seine ganze Ketzerei bestand in dem:
man muß Gott mehr gehorchen als den Mensche», was sich aber freilich keine
weltliche Obrigkeit gefalle» läßt, und die kirchliche ist ehe» auch eine weltliche
Obrigkeit. Weltliche Obrigkeit ist eine Tautologie, denn jede Obrigkeit ist welt¬
licher Natur; die inwendigen Herren, Gott und die autonome Vernunft, ver¬
körpern sich niemals vollständig in einer obrigkeitlichen Person. Wird nun der
Zwiespalt zwischen dem Beruf der Obrigkeit und ihrer Haltung augenfällig, und
setzt sich dagegen das Gewissen des Untergebnen offen zur Wehr, so kommt — bei
der Reformation wie bei der Revolution — auf den Erfolg alles an. Gelingt
beides, so hat man einen gefeierten Helden oder einen Reformator, im Falle des
Mißlingens einen Aufwiegler oder einen Ketzer. Luther hatte seinen Kurfürsten
und konnte unter dessen Schutz und mit seiner Hilfe die alte Kirche Sachsens in
Stücke schlagen und eine neue ausrichte», gegen die dann zwar gar bald ebenso
wie gegen die alte das „man »ins; Gott mehr gehorchen" geltend gemacht wurde,
mit der aber doch eine dauerhafte Neuschöpfung von weltgeschichtlicher Bedeutung
gegründet war. Savonarola hatte nur das wankelmütige Volk von Florenz. Schon
im Oktober des Jahres 1496 mußte er dein Volke vorwerfen, daß es in die Laster
zurückgefallen sei, denen es am Fasching entsagt hatte, und als nun die Signoren,
denen der Papst zusetzte, wankend wurde», und Savonarola ihnen sagte, sie ließen
ihn im Stich, um ihren Lastern froren und wieder eine Tyrannenherrschaft auf¬
richten zu können, da hatte er verspielt. Übrigens versicherte er, daß er niemals
den Papst angegriffen habe; er habe nur die Laster im allgemeine» gegeißelt, habe
niemals Namen genannt, wenn sich der und jener getroffen fühle, so könne er
nichts dafür. Aber freilich, daß der Papst kein Recht habe, ihm die Bußpredigt
zu wehren, daß der Papst, wenn er etwas Unrechtes gebiete, nicht als Papst,
sondern als sündhafter Mensch spreche, und daß man ihm in diesem Falle nicht
gehorchen dürfe, dabei bleibt er mit Hus und allen andern Ketzern bis zum letzten
Atemzug; irre ich, sagt er in seiner letzten Predigt, so hast dn, o Christus, mich
betrogen.
U^IW»
?s-RMl
vtM^-^
^--^O^T>!er Professor der polnischen Geschichte an der Universität Krakau
Dr. Stanislaus Smolka, ein Sohn des bekannten, als polnischer
Nationalheld gefeierten Franz Smolka, ist mit dem Direktor des
Geheimen Staatsarchivs in Berlin und Reichstagsabgeordneten
>Or. Sattler in eine heftige politische Fehde geraten. Anlaß dazu
gab die Rede, die Sattler am 10. Dezember vorigen Jahres über die galizischen
und insbesondre die ruthenischen Schulverhältnisse im Reichstage gehalten hat.
Professor Smolka richtete an Dr. Sattler einen in der polnischen Presse ab¬
gedruckten offnen Brief, worin er die Angaben or. Sattlers als Lügen be¬
zeichnete. Gegenwärtig hat er unter dem Titel „Die Rnthenen und ihre Gönner
in Berlin" (Wien und Leipzig, Verlag Austria, Franz Doll, 1902) eine größere
Broschüre herausgegeben, die den Zweck hat, die Ausführungen Sattlers zu
widerlegen. Der Kernpunkt des Streites ist, daß 1)r. Sattler der herrschenden
polnischen Klasse in Galizien, die so heftig über die Vedrückuug der Polen in
Preußen klage, eine rücksichtslose willkürliche Ausübung der Macht gegen die
Rutheneu, namentlich auf dem Gebiete der Schule vorgeworfen und behauptet
hatte, daß sich die ruthenische und die deutsche Bevölkerung Galiziens freuen
würde», wenn sich die galizischen Polen ein Muster an der preußischen Re¬
gierung nehmen wollten. Professor Smolka, auf das äußerste hierüber erregt,
hat nun zunächst in der erwähnten Schrift ausführliche statistische Daten darüber
beigebracht, in welcher Weise auf dem Gebiete des Volksschulwesens und des
Mittelschulwesens den Bedürfnissen der Rnthenen Rechnung getragen worden
sei. In seiner Polemik gegen Dr. Sattler hat er aber lediglich auf dessen all¬
gemeine Bemerkungen in den Reden vom 10. Dezember und 11. Januar Bezug
genommen, dagegen auch nicht mit einem Worte, wie es die historische Wahrheit
erfordert hätte, die weitern Ausführungen Sattlers in seiner in der Reichs¬
tagssitzung vom 14. Januar dieses Jahres gehaltnen Rede erwähnt, worin er
unter Anführung verschiednen statistischen Materials seine frühern Angaben
wesentlich modifiziert hat.
Wir können übrigens die Austragung dieses Streites deu beiden Herren
allein überlassen und wollen hier nnr auf einige allgemeinere Bemerkungen
eingehn, mit denen Herr Smolka die Regierungsart in den preußisch-polnischen
Landesteilen, namentlich im Vergleich mit der Lage der Ruthenen in Galizien
angegriffen hat. Dabei muß vor allem darauf hingewiesen werden, daß ein
Vergleich der Lage der Ruthenen gegenüber den Polen in Galizien mit der
der Polen in Preußen wegen der verschiednen Verhältnisse eigentlich überhaupt
nicht vorgenommen werden kann. Man hört oft die Bemerkung, die preußischen
Polen würden sich glücklich schützen, wenn sie so behandelt würden wie die
Ruthenen in Galizien, denen alle berechtigten Wünsche erfüllt würden, während
die Polen in Preußen unter schwerer Knechtschaft seufzten. Eins ist so falsch
wie das andre. Was zunächst die Ruthenen angeht, so ist ihnen wie allen
andern Völkerschaften der österreichisch-ungarischen Monarchie durch Artikel 19
des Staatsgruudgesetzes vom 21. Dezember 1867 ausdrückliche „Gleichberech¬
tigung" sowie ein „unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege ihrer Natio¬
nalität und Sprache" zugesichert.
„Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt
und öffentlichem Leben, heißt es in Artikel 19 weiter, wird vom Staate an¬
erkannt. In den Ländern, in denen mehrere Volksstämme wohnen, sollen die
öffentlichen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet sein, daß ohne Anwendung
eines Zwanges zur Erlernung einer zweiten Landessprache jeder dieser Volks¬
stämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung in seiner Sprache erhält."
Nach dieser Verfassungsbestimmung muß den Ruthenen die volle Ent¬
wicklung eines nationalen Schulwesens unbedingt eingeräumt werden, und die
Polen würden einen ganz klaren Verfassnngsbruch begehn, wenn dies nicht
geschähe. Es ist also ganz selbstverständlich, daß den Ruthenen ruthenische
Volksschulen in ausreichendem Maße gewährt werden, daß rnthenische Gym¬
nasien bestehn und eventuell neu errichtet werden können; ja auch der An¬
spruch auf eine eigne Universität kann ihnen nicht bestritten werden. Mit
Rücksicht darauf, daß die nationale Erhebung erst neuern Datums ist und
kaum einige Jahrzehnte hinter sich hat, stehn diese Dinge für sie nicht fertig
da, sondern sind erst in der Entwicklung begriffen. Jedenfalls aber find die
Ruthenen genötigt, die Erfüllung aller dieser verfassungsmüßig wohlbegründeten
Wünsche den polnischen Herrschern des Landes in schwerem Kampfe einzeln
und mühsam abzuringen. In jeder Landtags-, in jeder Neichsratssession beginnt
der Streit aufs neue, wieviel Schulen den Ruthenen zugestanden werden sollen.
Die Polen klagen über unberechtigte Forderungen ihres Nachbarstammes, die
Ruthenen über Bedrückung und mangelnde Berücksichtigung ihrer nationalen
Rechte. Diese Klagen beschrünken sich nicht auf das Schulwesen, sie dehnen
sich auf die Wahlen, auf die Stellenbesetzung, den Gebrauch der Amtssprache
und sonstige Verhältnisse aus. Es ist im einzelnen manchmal schwer, sicher
zu entscheiden, ob und inwieweit diese Klagen berechtigt sind, und ob diese
oder jene Forderung als begründet anzusehen ist oder nicht; und zwar deshalb,
weil die Kulturentwicklung der Ruthenen noch auf keiner hohen Stufe steht
und erst mit Hilfe der noch zu schaffenden nationalen Institute auf eine höhere
Stufe gebracht werden soll. Eins aber steht fest: die Polen sind die Herren
des ganzen, auch des ruthenischen Landes und wollen sich diese Herrschaft
unter keinen Umstünden entreißen lassen. Mögen sie auch gelegentlich ver¬
sichern, sie stünden der nationalen Förderung der Ruthenen wohlwollend gegen¬
über, so geschieht dies doch nur theoretisch und xro tormg. und wird praktisch
nnr soweit es verfassungsmäßig unerläßlich ist, ausgeführt. Dagegen wird
auf indirektein Wege mit voller Kraft diesem Ziele entgegen gearbeitet. Die
Wahlen werden durchaus im polnischen Interesse und unter starker Beeinflussung
der Wähler durch die Behörde geleitet. Die Vergebung der Ämter geschieht
fast durchweg an polnische Kandidaten, auf den ruthenischen Klerus wird im
polnisch-jesuitischen Sinne einzuwirken versucht. Wo bleibt da die in Artikel 19
garantierte Gleichberechtigung? Von ihr ist für die Rnthenen gegenwärtig
gewiß keine Rede. Herr Smolka spricht (Seite 22) selbst in sehr euphemistischer
Weise vou der „merkwürdigen Assimilierungskraft des polnischen Elements,"
die sich den Rnthenen wie den Deutschen gegenüber jederzeit bewiesen habe
und noch beweise: der allerorten, wo sich Polen niederlassen, wnhrgenommne
„Polonisierungsdrang" findet darin seine ausdrückliche Bestätigung.
Das nun, was die österreichische Verfassung den Ruthenen garantiert,
und was die Polen ihnen as taeto nicht gewähren — nationale Gleich¬
berechtigung und Freiheit der nationalen Entwicklung —, dasselbe verlange,?
die Polen für sich in Preußen. Wie aber steht es hier mit der verfassungs¬
mäßigen Grundlage? Vollständig anders als in Österreich. In der preußischen
Verfassung ist von verschiednen Vvlksstümmen und irgend welchen nationalen
Rechten überhaupt gar keine Rede. Vielmehr beruht sie auf der einheitlich
deutsch-nationalen Grundlage, und als im Jahre 1849 bei der Beratung der
Verfassung in den beiden damaligen Kammern des Landtages der Antrag ge¬
stellt wurde, einen Artikel folgenden Wortlauts in die Verfassung aufzunehmen:
„Den nicht deutsch redenden Volksstämmen des preußischen Staates ist
ihre volkstümliche Entwicklung gewährleistet, namentlich die Gleichberechtigung
ihrer Sprachen, so weit deren Gebiete reichen, in dem Kirchenwesen, dem
Unterrichte, der innern Verwaltung und der Rechtspflege" wurde dieser Antrag
mit überwiegender Mehrheit abgelehnt. Damit ist jeglichen Forderungen der
Polen auf diesem Gebiete von vornherein der rechtliche Boden entzogen. Es
giebt vom Standpunkt der Verfassung in Preußen nur ein Volk, das ist das
deutsche, es giebt nur eine Sprache in Schule und Amt, das ist die deutsche.
Von irgeud welchen Ausnahmen oder Berücksichtigungen andrer Nationalitäten
und Sprachen ist keine Rede. Woher also schöpfen die Polen irgend einen
Rechtstitel auf Berücksichtigung der polnischen Nationalität und Sprache?
Gewiß nicht aus der Verfassung, höchstens aus einem verschwommenen Begriffe
staatlicher Moral oder einer Forderung christlicher Kultur.
Auf diese letzten beiden Punkte scheint Herr Smolka abzuzielen, indem er
am Schlüsse seiner Schrift in echt polnischem Wortschwall das preußische
Regiern»gssystem geißelt, das der großpolnischcn Agitation*) gegenüber „not-
wendigerweise die Unwahrheit zu seiner Grundlage machen muß," und „welches
eine große Nation" nötigt, dem Geist der Lüge Altäre aufzustellen (Seite 31),
indem er auf den „heidnischen Nationalismus" Preußens hinweist, „der auf
Ethuophagie abgerichtet, ungehindert seine Orgien feiert," auf den „nationalen
Chauvinismus, der vom Haß erfüllt, alles verneint, was nicht das Seinige
ist" (Seite 32), auf den „vom schrankenlosen Drange nach Genuß genährten
leidenschaftlichen Kampf ums Dasein, d, h. um materielle Güter, mit dem das
Deutsche Reich alle fremden Elemente, die es umfaßt, mit Füßen zu treten
und nach dem Grundsatz »Gewalt vor Recht« zu vernichten sucht," mit dem
es stets zur Unwahrheit greift, „um die nackte Brutalität der verfolgte« Zwecke
zu decken und das irregeführte Volk unter die mmmschränkte Herrschaft des
nationalen Götzen zu bringen, der sorgfältig in bunte Lappen vermeintlich
idealer Ziele gehüllt wird" (Seite 33, 34).
Nach Herrn Smolka widerspricht dieses „System" einfach den zehn Ge¬
boten (Seite 34); es wird als „eine pshchopnthologischc Erscheinung auf dem
Gebiete der Ethnopsychologie unsers Zeitalters" bezeichnet, die ihren Grund
in der „allgemeinen, vorherrschenden, gegen das Wesen des Christentums ge¬
richteten Strömung der Zeit" (Seite 35) hat. Diese „trete gerade in Deutsch¬
land, in der Wiege jener Glaubenslehre, welche, nachdem sie sich über ihre
Urheber längst hinweggesetzt hatte, immer mehr von antichristlichen Tendenzen
zersetzt wird und immer offner den Heiland verleugnet, so mächtig und zugleich
so kriegerisch hervor, und zwar um so rücksichtsloser, als sie durch das unerwartete
wunderwirkende Erwachen des christlichen Geistes in dein andern Teile der
Nation gereizt wird." Polen wird dann als LbriLtianitMs xrc>xuKng,czuwin, be¬
zeichnet, als das „einzige vom nationalen Selbstbewußtsein vollerfüllte Volk, das
an der lautern Lehre des Heilands so unverbrüchlich hält" (Seite 36). „Fester
als vor hundert Jahren um das Banner der nationalen Tradition zusammen¬
geschart, an der Scheidewand der beiden akatholischen Kolosse, deren Macht¬
mittel so unerschöpflich scheinen." Schließlich wird noch die Hoffnung aus¬
gesprochen, daß „die moralische Macht unsers sichtbaren Hauptes (d. h. des
Papstes) sich immer mehr stärke," daß die „Lähmung nun am längsten gedauert
habe, die der Erbfeind unsers unsichtbaren Hauptes herbeigeführt," und daß
es „Ihn,, dem Unsichtbaren" gelinge, „die Herrschaft über die Erdkugel wieder-
zucrobern" (Seite 37), die nicht allein den Grundsatz «ujus rs^lo sjus roliZio,
sondern auch das moderne Wahrzeichen oujus rsZ'lo sjus lin^ug. et ngUo zur
Geltung bringen werde (Seite 39).
Herr Smolka wiederholt mit diesen maßlosen Angriffen gegen das Deutsche
Reich nur, was in den polnischen Blättern täglich über den preußischen und
den deutschen Barbarismus zu lesen ist. Wenn man sich bemüht, ans dem
bombastischer Schwulst seiner Rede einen nüchternen, einigermaßen verständigen
Kern herauszuschälen, so scheint Herr Smolka sagen zu wollen, daß die preu¬
ßische Polenpolitik in zu scharfer Betonung des staatlichen Interesses Preußens
die nationalen Interessen der Polen verletze und damit auch im Widerspruch
mit den Prinzipien christlicher Kultur stehe. Dieser Vorwurf muß jedoch auf
das bestimmteste als gänzlich unhaltbar zurückgewiesen werden.
Im zivilisierten Staate ist das zivilisatorische Staatsinteresse das vor¬
nehmste, da es mit dem allgemeinen Interesse identisch ist: ihm gegenüber
müssen deshalb die nationalen Interessen, die ihm entgegenwirken, unbedingt
zurücktreten. „Im zentralisierten Staat, sagt ein hervorragender politischer
Schriftsteller unsrer Tage, ist nur ein nationales Interesse zulässig, dem das
Herrschaftsverhältnis im Staate zukommt." Hiernach hatten die Polen, soweit
sie seinerzeit dem preußischen Staate eingefügt wurden, dem allgemeinen Staats¬
interesse zu dienen, und ihre nationalen Interessen hatten nur insoweit An¬
spruch auf Berücksichtigung, als sie sich nicht mit dem staatlichen Interesse in
Widerspruch setzten. Nachdem sich wiederholt die revolutionäre Richtung ihres
nationalen Interesses erwiesen hatte, konnte dieses sicherlich nicht mehr als mit
dem staatlichen Interesse zusammenfallend bezeichnet werden. Ein Volk, das
in dreiunddreißig Jahren dreimal eine Revolution gegen die Staatsverbüude,
zu denen es gehört, versucht hatte, konnte in dieser Richtung nicht anders be¬
urteilt werden, und es lag aller Grund vor, ihm auch für die Zukunft jedes
Mißtrauen entgegen zu bringen. Nun behauptet man freilich auf polnischer
Seite, schon die Einfügung der Polen in fremde Staatsverbande sei eine un¬
begründete Verletzung des polnischen Nationalinteresses. Dem ist aber ent¬
gegen zu halten, daß mit Rücksicht auf den damaligen Zustand des polnischen
Staates, dessen Fortbestehn unmöglich geworden war (so Moltke in seiner
Schrift „Über Polen"), das Staatsinteresse der Nachbarmüchte eine solche Ein¬
fügung unbedingt nötig machte. Für die Polen blieb also nur übrig, sich in
den Staatswesen, denen sie angehörten, als ruhige Staatsbürger zu erweisen:
wäre dies geschehen, so hätte sich ihr nationales Interesse mit dem Staats¬
interesse allmählich vereinigt. Aus den Ereignissen der Jahre 1830, 1846
und 1863, ebenso wie aus der Gärung der letzten Jahrzehnte, die unter den
Polen fortdauert, geht nur hervor, daß den Polen in allen drei Landesteilen
der Sinn und das Gefühl für eine gesunde, staatliche Organisation, die bei ihnen,
nach dein Zustande des alten polnischen Reichs zu urteilen, wohl nie besonders
scharf ausgebildet waren, um gänzlich abhanden gekommen sind. Alle Klagen,
mit denen die Polen die Welt erfüllen, fallen demnach auf sie selbst zurück.
Wenn demnach Herrn Smolkas Klageruf: „Gewalt vor Recht" das Abc
jeder staatlichen Organisation: „Gehorsam vor den Gesetzen" entgegenzuhalten
ist, so sinken auch seine hohlen Redensarten über die antichristlichen Tendenzen
des Deutschen Reiches in nichts zusammen. Daß das polnische Volk „das
einzige vom nationalen Selbstbewußtsein voll erfüllte Volk ist, das an der
lautern Lehre des Heilands so unverbrüchlich hält" (Seite 36), ist, wenn man
z. B. mir — von vielen andern traurigen Erscheinungen in Galizien ab¬
gesehen — die wilde, haßerfüllte Sprache der polnisch-galizischen Presse ohne
jede Ausnahme liest, wohl eine ungeheuerliche Behauptung; ja es scheint,
daß die Schrift des Herrn Smolka mit ihrer gistsprühender Redeweise ihn
selber Lügen straft. Im übrigen ist den Polen, die sich immer als die Vor¬
kämpfer des Christentums und als die allerchristlichste Nation betrachten, in
das Gedächtnis zurückzurufen, wie wenig offne und heimliche Revolution und
Auflehnung gegen die Staatsgewalt, wie solche seit mehr als hundert Jahren in
Polen getrieben werden, dem christlichen Geiste und dem klaren Wortlaute der
Schrift entspricht.
„So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist"
(Mark. 12, 17), und „Jedermann sei Unterthan der Obrigkeit, die Gewalt über
ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit, ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist,
die ist von Gott verordnet. Wer sich nun wider die Obrigkeit setzet, der wider¬
strebt Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden über sich ein Urteil
empfangen" (Rom. 13, 1). Die Polen mögen diese Schriftworte beherzigen,
bevor sie dem Deutschen Reiche antichristliche Tendenzen nachsagen, deren Nach¬
weis man wohl ruhig und zuversichtlich erwarten kann. So lange Preußen
der Erfüllung ihrer staatsbürgerlichen Pflichten nicht gewiß ist, wird es den
von Herrn Smolka g.et live erfundnen Grundsatz cujus rsg-lo, ojus linAug, se
rmtic,, der sicherlich nicht allgemein, sondern nur mit Einschrünknngen Billig¬
keit beanspruchen darf, auf sie nicht anwenden können.
Mit dem Begriff der Muttersprache und dem Recht auf ihren Gebrauch
und ihre Pflege wird heutzutage zu agitatorischen Zwecken ein großer Mi߬
brauch getrieben. In vielsprachigen Ländern, wie z. B. in Österreich, fehlt es
zahlreichen Personen, zumal denen, deren Eltern verschiednen Nationalitäten
angehörten, überhaupt an einer einheitlichen Muttersprache, und es sind ihnen
mehrere, zum mindesten zwei Sprachen, die als solche bezeichnet werden könnten,
in gleicher Weise geläufig. Es steht nun jedermann frei, sich zum täglichen
Gebrauch im Privatleben einer bestimmten Sprache zu bedienen, sie innerhalb
der Familie seinen Kindern als Muttersprache zu überliefern und sie darin zu
erziehn. Der Staat wird diese Freiheit gewiß als ein unantastbares Privat¬
recht betrachten: er muß dagegen regelnd eingreifen, sobald die Stellung des
Einzelnen zum Staat in Frage kommt, also namentlich beim Gebrauch der
Sprache vor den Behörden sowie im Schulunterricht. Ist dem Staat das
gegenwärtig wohl unbestritwe Recht eingeräumt, einen Zwang zum Unterricht
der künftigen Staatsbürger auszuüben, so muß ihm auch das Recht zustehn,
diesen Unterricht in einer Weise, die dein Staatsbedürfnis und dem sich damit
deckenden allgemeinen Bedürfnis entspricht, zu organisieren: hierzu gehört aber
insbesondre auch die Bestimmung der Sprache, in der dieser Unterricht geschehn
soll. Die schrankenlose Durchführung des Prinzips: oujris rsgio eM8 lingug.
et ratio würde also einen schweren Eingriff in das Verfügungsrecht des Staats
aus einem besonders wichtigen Kulturgebiet bedeuten, der von ihm im all¬
gemeinen Interesse unter keinen Umstünden geduldet werden kann, um so
weniger, wenn dieser Grundsatz, wie jetzt, zu staatsfeindlichen Zwecken aus¬
gebeutet wird. Das Zukunftsideal des Herrn Smolka kann also immer nur
insoweit verwirklicht werden, als die nationalen Interessen mit dem Staats-
interesse übereinstimmen: mögen die Polen dafür Sorge tragen, daß von ihrer
Seite diese Voraussetzung erfüllt werde!
>le Franzosen beachten schon seit Jahren die Erstarrung der
deutschen Seegeltung und bewundern die Thatkraft unsers Kaisers
neidlos und mit bessern: Verständnis als viele unsrer eignen
Landsleute. Schon im Jahre 1895 betont ein Seestratege in
!der lisvus 6«Z8 vsux Ncmciss, daß Frankreich sich am wenigsten
über die Entwicklung der Angriffskraft der deutschen Flotte zu beunruhigen
brauche. Daß in Frankreich schon gelegentlich an die Bundesgenossenschaft
mit Deutschland gegen England gedacht wird, ist in den Grenzboten von 1899
im vierten Band Seite 1 u. f. von mir gesagt worden; Demigny, der diesen
Gedanken freilich sehr schüchtern ausdrückt, findet es sehr schlimm, daß sich die
Völker nicht verständigen, denn sie haben nach seiner Meinung keinen andern
Feind als England.
Um Deutschlands Seewesen seinen Landsleuten zuverlässig darzustellen,
hat schon im Herbst 1900 der frühere ausgezeichnete Marineminister Edounrd
Lockroy die deutschen Seehäfen besucht, und er hat seine Beobachtungen in
einem flott und doch gründlich gearbeiteten Buche: Du ^Vsssr g, la Vistuls,
I^sttrss sur 1a Narius allöinmicis (erschienen bei Berger-Levrault Cie. in
Nancy, 1901) niedergelegt. Im Vorwort sagt der berühmte alte Republikaner,
daß er keine Deutschen mehr gesehen habe, seit sein Vater 1870 neben ihm in
dem Freiwilligenbataillon von einer Kugel getroffen worden sei, und daß es
ihm eigentlich peinlich sei, über Deutschlands Aufblühen zu berichten, das doch
nur die Folge der französischen Niederlage sei. Aber er sei von bekannten
Seeoffizieren zu seiner Reise angeregt worden; er habe deshalb alle Sentimen¬
talität beiseite gesetzt und Deutschland bereist, wie man etwa ein großes in¬
dustrielles Unternehmen besichtige. Es ist typisch und wirklich bedauerlich,
daß sich fast jeder Franzose, der günstiges über Deutschland berichtet, ver¬
pflichtet fühlt, seinen Landsleuten in irgend einer Form vorher klar zu machen,
daß er trotzdem ein guter Franzose sei und die alte Niederlage nicht vergessen
habe. An dieser Monomanie scheint verhüngnisvollerweise fast ganz Frankreich
zu leiden; Demigny, dessen Buch sonst sehr vernünftig ist, fürchtet ja auch
hente noch die deutschen Ulanen mehr als die englischen Linienschiffe, und
Lockroy hofft, daß die Entfaltung seiner Seemacht Deutschland zum Kampf
mit England treiben müsse. Für Lockroy gilt die Marine als trefflicher Ma߬
stab des Aufschwungs der ganzen Volkskraft. In Deutschland sind nach seiner
Beobachtung große Dinge im Schwange; aus dem schnellen und gesunden
Wachstum des deutschen Seewesens schließt er ans die Festigung der deutschen
Einheit und Thatkraft und auf das Schwinden der alten Sonderbestrebungen,
überhaupt auf den Einfluß idealen geistigen Schaffens, Der Franzose sieht
vieles vielleicht in zu rosigem Lichte, denn er ist geradezu begeistert von der
rastlosen und zähen Arbeitslust, die er im ganzen deutschen Volke beobachtet
haben will; aber sonst ist er ein scharfer Beobachter, der mit gutem Blicke
begabt ist und deshalb manches schneller erkennt, als wir in unsrer deutschen
Schwerfälligkeit. „Wenn man von der deutschen Marine spricht, muß man
vom Kaiser sprechen, sagt Lockroy mit vollem Recht, und der Kaiser hat
unter seiner Erbschaft den Stock Friedrichs des Großen gefunden, und dessen
bedient er sich, um sein Land auf die Beine zu bringen. Mit moralischer
Gewalt setzt er die Flotte durch. Das ganze Land begeistert sich für die Zu¬
kunft der Flotte. Der Feuereifer des Kaisers überträgt sich auf das ganze
Reich." Aber auch die Verdienste der deutschen Admiräle Senden-Bibrcm,
Koester und Tirpitz um die Flotte weiß er zu schätzen; er sagt geradezu:
„Admiral Tirpitz führt die Mitglieder des Reichstags wie die Leute seiner
Schiffsbesatzungeu." Den Betrieb auf den Marinewerften lobt Lockroy mit
solcher Wärme, daß man wirklich stolz ans sein Lob sein darf; vor allem ge¬
fällt ihm die gründliche Art und Weise, wie alles und jedes geschieht, sodaß
man im Augenblick der Gefahr sofort bereit ist. Er fühlt und sieht, daß in
Deutschland gern gearbeitet wird, und daß es über den vielen, die Lust zur
Arbeit haben, auch tüchtige Männer giebt, die die Kunst verstehn, nützliche
Arbeit anzuordnen. Deutschland ist nach seiner Meinung mit praktischem
Geiste reich begabt; man betrachtet den Krieg wie einen Industriezweig und
betreibt die Marine, als wäre sie ein großes Handelshaus. Damit erklärt
Lockroy die schnellen Erfolge; er sieht Methode, Überlegung in allem, was
für die deutsche Flotte geschieht. Aufblühen oder Verfall eines Landes gehn
aber mit dem Aufblühen oder dem Verfall der Marine desselben Landes Hand
in Hand; Lockroy erkennt, wie sehr Deutschland seit seiner Einigung fort¬
geschritten ist, wie sehr der nationale Gedanke Gemeingut geworden ist und
Wunder gewirkt hat. Als echter Franzose wittert er Ehrgeiz als Trieb¬
kraft: Deutschland wolle in allem die größte Nation sein, in militärischen,
maritimen, wissenschaftlichen und Gewerbsdingen. Dieser Grundgedanke soll
alle deutschen Geister beschäftigen, den Sozialisten wie den reaktionären Agrarier,
den letzten Arbeitsmann wie den Reichskanzler. Lockroy meint, daß jeder
Deutsche bei passender Gelegenheit zum kaufmännischen Vertreter seines Volkes
würde, und erzählt dafür als Beweis eine niedliche kleine Geschichte. Eine
italienische Schiffbanwerft sollte ein Kriegsschiff für einen Dvnaustaat bauen;
der Direktor der Werft brachte den Plan selbst zu dem Fürsten und wurde
unmittelbar vor Abschluß des Bauvertrags zum Frühstück geladen. Zu seinem
Unglück saß an der Frühstückstafel auch eine deutsche Prinzessin als Neise-
besuch, die sofort dem fremden Herrscher eindringlich klar machte, daß mau
nur in Deutschland gute Schiffe zu bauen verstünde. Trotzdem daß der
Italiener sich wehrte, gelang es der Prinzessin, den Fürsten zum Nachgeben
zu überreden. „Finden Sie das nicht übermüßig, noch dazu von einer Ver¬
bündeten?" äußerte der Italiener zu Lockroy am Schlüsse seiner Erzählung.
Auch vom deutsche» Offizierkorps hält der nlle Republikaner sehr viel und
lobt den Umstand besonders, daß die Offiziere nicht zu alt in verantwortliche
Stellungen kamen. Man scherze oft über den NnteroffizierSto» in Deutsch¬
land; allerdings nehme die Mannszucht nirgends ranhere Formen an als
hier, aber in keinem Lande beschäftige man sich auch mehr mit dem Wohl¬
befinden des Soldaten, mit seiner physischen und moralischen Gesundheit. In»
Offizierkorps gäbe es zwar Verschiednerlei Uniformen aber nur einerlei Mei¬
nung. Die Denkart sei überall gleich und vorschriftsmäßig; aber die Offiziere
seien trotzdem sehr gebildet, sehr tüchtig und sogar gelehrt in ihrem Fach. Zu¬
gleich seien sie Weltmänner von ausgesuchter Höflichkeit. Über den deutschen
Mittelstand fällt Lockroy ein minder günstiges Urteil; die Arbeitsamkeit lobt
er rückhaltlos, aber Sonntags, meint er, würde der Tag damit verbracht,
Bier zu trinken, Würstchen zu essen und Lieder zu singen. Die Biergarten
seien das Eldorado der Arbeiterklasse; frühzeitig würden sie besucht, erst spät
verlassen. Brautleute tränken dort gemeinsam ihr Bier und säßen Hand in
Hand, aber völlig stumm. Wo man auch spazieren geh:, findet Lockroy, daß
irgend einer Bier und Würstchen verkaufe, und wo diese Verkäufer fehlten,
da sei sicher eine Bierhalle. Der Sinn für die Komik unsers Volkslebens
fehlt dem französischen Lobredner also auch nicht.
Mit beherzigenswerten Worten schließt Lockroy seine Betrachtungen: „Der
Deutsche ist an und für sich kein höheres Wesen als andre Menschen, ist weder
verständiger noch mehr begabt mit außergewöhnlichen Eigenschaften als andre.
Aber er hat ein tief ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl; er steht unter dem
Willenszwang, sein Vaterland stark und vorherrschend zu machen. Nur große
uneigennützige Gedanken begeistern die Menge und erheben sie über sich selbst.
Nicht die Verstandeskräfte, sondern die Gcmütskräfte sind zur Weltherrschaft
berufen!"
Diese Urteile des alten Republikaners über Deutschland sind kürzlich von
einem Aristokraten ans altem Geschlecht in ihren Grundzügen voll bestätigt
worden. Auch dieser Franzose hat eine Reise nach Deutschland gemacht, um
die Entwicklung des deutschen Seewesens in der letzten Zeit kennen zu lernen
und seinen Lnndsleuten vor Augen zu führen; auch er ist von allen deutschen
Marinebehörden und sogar vom Kaiser selbst aufs beste empfangen worden.
Alle Thüren wurden ihm geöffnet, damit er sich gründlich an der Quelle
selbst richtige Eindrücke sammeln könnte. Jules de Cnverville kann mit dem
Erfolge seiner Reise mehr als zufrieden sein, das beweist seine Schilderung
in der von ihm geleiteten Zeitschrift ^.russ se Ug,rins. deren Sonder¬
nummer 158 vom 2. Mürz 1902 nur von seiner Reise handelt; das Sonder¬
heft (32 Seiten groß Folio zum Preise von einem Franken) ist ein Muster¬
stück seiner Erzählerkunst und geschmackvoller Ausstattung mit passenden
Photographien. Der aristokratische Marineschriftsteller beobachtet mit ebenso
offnem Auge wie der republikanische Exmarineminister und weiß so gut wie
dieser seiue Beobachtungen in geistreicher und fesselnder Form zu Papier zu
bringen. Wer fremdes Lob vertragen kann, ist imstande, mancherlei aus deu
Zwischenbemerkungen der Reiscschildernng zu lernen; die eigentliche Beschreibung
alles dessen, was der ritterliche Franzose gesehen hat, ist für uns Deutsche
dagegen weniger wichtig, weil die Dinge den meisten geläufig sind, aber trotz¬
dem liest sich auch die Schilderung des Hoffestes, die Besichtigung der Marine¬
akademie und manches andre in der französischen Sprache so flott und unter¬
haltend, daß die Anschaffung des feinen Heftes hiermit jedem Freunde fran¬
zösischer Litteratur empfohlen sein mag.
Ganz wie Lockroy entschuldigt sich auch Cuverville gleich zu Anfang mit
einigen Auslassungen, daß er Deutschland besucht hat, das Land, zu dessen
wunderbarem Aufschwung seit 1870 die französischen Milliarden mitgeholfen
haben, Ohne ein bischen Viktor Hugo-Stimmung darf offenbar kein Franzose
über Deutsche etwas gutes sagen. Man prüfe nur als kleine Probe die Ge¬
danken des Reisenden, während sein Nordexpreßzug die Grenze überschreitet:
„Die Grenze! . , . Welche traurigen und blutigen Erinnerungen weckt das Wort
bei denen, die Frankreichs Wunden miterlebt und selbst schrecklichen Kummer
erlitten haben, und mich bei dem jungen Geschlechte, das zwar die trüben
Tage nicht gesehen hat, aber doch infolge Vererbung des Volksgefühls (pur
g,lig,öl8mo imtioiml) die Schmerzen der Vergangenheit und die Hoffnung der
Zukunft (!) nicht minder heftig empfindet. Aber wenn auch das Herz vou
solchen Gedanken gepreßt wird, und wenn auch eine schwer erklärbare Be¬
fangenheit uns hindern will, hinter dieser Grenze die Gastfreundschaft des
Volks zu suchen, das wir seit Jahren als Feind behandeln, so geht dieses
Gefühl doch vorüber, wie die Grenze hinter dem Nordexpreß bleibt, und wie
die Zeit und alles andre vor der nackten Wirklichkeit, Man staunt über das
Treiben, die Lebensfähigkeit und den Wohlstand im Lande; man wird be¬
troffen und schließlich hingerissen von der außergewöhnlichen Liebenswürdigkeit
seiner Bewohner. Jeder Franzose kann auf höfliche Gastfreundschaft rechnen;
das ist geradezu Losung geworden. Es beweist, wie auch sie nichts vergessen
haben; in ihrem Bemühen erkennt man das Gemüt des Siegers, der bemüht
ist, den tapfern Gegner, den zu besiegen das Geschick ihm bestimmt hatte,
behutsam zu behandeln. Es wäre darum ungerecht, verwandtschaftliche Züge
in der Sinnesart und Geisteskraft zu verkennen. Finden nicht die Vertreter
unsers Volks im diplomatischen Dienst unter ihren deutschen Amtsgenossen die
angenehmsten geselligen und auch persönlichen Beziehungen? Und hat man
es nicht in China gesehen, wie sich in den düstern und unerquicklichen Stunden
des Lagerlcbens unsre Truppen vom Offizier bis zum einfachen Soldaten mit
den Truppen Wnldersees viel lieber als mit allen andern Teilen des inter¬
nationalen Heeres verbrüderten? Den Eindruck der Höflichkeit empfinden unsre
Landsleute fast immer, wenn sie nach Berlin kommen. Unter ihren Militär¬
mützen und in ihren Waffenröcken sind die Beamten zwar zugeknöpft, aber
tadellos und wohlwollend, wenn man sie fragt; die Gepäckträger sind bescheiden
und plündern ihre Opfer nicht, und auch die Gastwirte thun dies nicht, ob¬
gleich sie sehr geschäftig sind. Wenn man in Frankreich in einem Kasfee-
oder Speisehaus deutsch sprechet! hört, so schielt der Kellner, während er sein
Bier bringt, hinüber, und die Leute an den Nebentischen schneiden Gesichter
und mäßigen ihre Herzensergüsse; das Gespenst der Spionenriecherei taucht
vor ihnen auf. In Berlin ist der geistige Gesichtskreis weiter, man ist im
Gegenteil aufmerksamer und dienstwilliger, wenn man die französische Sprache
hört; in den Kaufhäusern ist man bestrebt, uns zu befriedigen, und auf der
Straße sagt man, wenn man sich gegenseitig ans die Füße tritt, was doch zu¬
weilen vorkommt: ?g.räou! Das bezeichnet genugsam den Gemütszustand."
Man beachte, daß der Schreiber dieses Lobs noch nicht einmal bei uns höf¬
lichen Sachsen, sondern nur in Preußen war. Berlin mit seinem echt gro߬
städtischen Treiben hat es dem verwöhnten Pariser ganz besonders angethan;
solche Geschäftigkeit, solche Arbeitsamkeit und auch solche Reinlichkeit in dem
weitläufigen Stadtbild ist ihm neu. Abgemessen und regelmüßig, wie der
Tritt deutscher Truppen, erscheint dem Franzosen alles, was er bei uns sieht;
Einheit und Ordnung erkennt er als die Grundlage der deutschen Kraft. Er
fühlt, daß eine unsichtbare Macht Land und Volk überall durchdringt; er fühlt
dieses Fluidum in der Luft, in den Menschen und in allen Dingen. Und der
Reisende gerät selbst in den Zauberkreis und erkennt mit offnem Blick die
Macht, die das ganze Reich zu festem Gefttge zusammenfaßt — es ist der
Kaiser!
Und um schildert der französische Seeoffizier seine Eindrucke von einem
großen Hoffest in den lebhaftesten Farbe», voll Wärme und Vewundrung, voll
Geist und Humor; die Versammlung im Diplomatensaal giebt ihm die beste
Gelegenheit, mit diplomatischem Takt einige feine Bemerkungen über die Ge¬
sichter der ältern und der jüngern Diplomaten zu machen. Rückhaltlose Ve¬
wundrung aber hat er für die Persönlichkeit des Kaisers, die hier im strahlenden
Glanz, umgeben vom ganzen Hofstaate, vor ihm erscheint. Der französische
Aristokrat glaubt den Glanz seines Sonnenkönigs zu sehen, fühlt aber doch,
daß das ergreifende Bild der allgemeinen Huldigung vor den Majestäten hier
andern Sinn und tiefern Gehalt hat. Es ist nötig, einige Sätze seiner
Schilderung wörtlich wiederzugeben, daß man erkennt, wie tief und eigen¬
tümlich der ritterliche Fremdling empfindet. Es ist kurz vor dem Eintritt in
den Thronsnal; Cuverville mustert seine Nachbarn: „Die alten Herren sehen
feierlich und diplomatisch aus. Sie haben schon Berührung mit dem Kaiser
gehabt. Sie wissen, daß er jeden Gruß und jeden Gesichtsausdruck bemerkt,
und bemühen sich deshalb, in ihrer Haltung die Politik ihrer Regierungen zu
spiegeln. Die jungen Herren, die zum erstenmal bei Hofe erscheinen, versuchen
diplomatische Ungezwungenheit mit einem feinen etwas skeptischen Lächeln zur
Schau zu tragen. Das Lächeln ist eine Lüge, sie sind gehörig aufgeregt.
Warum, weiß man schon. Nichts überwältigt mehr als die Pracht, die mein
Blick umfing, als ich jetzt selbst in den Saal trat. Alles ist aber auch danach
angethan. Schweigen herrscht im Saale; eine doppelte Reihe von Pagen be¬
grenzt in einer leichten Bogenlinie den Weg. Am Ende mitten im blendenden
Glänze der Lichter und Spiegel stehn unter dem Thronhimmel auf einer Er¬
höhung die Thronsessel. Der Kaiser und die Kaiserin sitzen bewegungslos,
umgeben von ihrem Hofstaat. . . .
„Das Bild ist packend; da strahlt das Deutsche Reich unter den Kron¬
leuchtern. Unter den. Glitzern des Stahls, des Goldes, des Reichtums er-
scheint die Macht über ein ganzes Volk wie erstarrt, über alledem herrscht
ein Blick, der des Herrschers. In der Uniform seiner Garde schaut Wilhelm It.
mit stolz erhobnen Haupte gerade vor sich; er hält den Marschallstab in der
Hand. Was denkt wohl die stolze Stirn, vor der alle sich tief neigen? Welche
Bilder von Größe, Macht und Zukunft ziehn an ihr vorüber bei der Vor¬
stellung der gebildeten Welt, die kommt, um Ehrerbietung zu zollen? Isis
Stolz, feiner Spott oder Wehmut? Der Ausdruck im Antlitz ist fast herbe,
die Lippen bleiben stumm. Das ist die Verkörperung Deutschlands, ein wenig
hochmütig, seiner Kraft bewußt, sorgend für sein Ansehen, voll Zuversicht für
sein Geschick.
„Kurz ehe ich mich selbst verneige, wofür mein Gesandter das Zeichen giebt,
der dicht bei mir ist, sehe ich dem außergewöhnlichen Mnuu gerade ins Gesicht,
dessen Bewegungen und Anregungen ganz Europa ängstlich nachspürt, dessen
kräftige Hand bestrebt ist, die demokratische Entwicklung seines Volks im Zaume
zu halten und zu lenken, der mit seinen Schwächen wie mit seinen Vorzügen
ein ganzer Mann ist, dem das Reich seine blühende Weltmacht dankt; und
während ich vorübergehe, kommt mir wie ein Blitz die Uberzeugung: der Mann
ist eine Kraft und zugleich auch ein Führer! Steht mau einige Meter vor
dem Throne, wie es für den Vorbeizug anbefohlen ist, so sieht Wilhelm II.
genau so aus, wie man ihn auf den Photographien sieht. Die Haltung ist
militärisch, der Blick ist kalt, und das Gesicht wirkt noch ernster durch deu
wohlbekannten (IvgsnclÄrö) Schnurrbart, mit deu drohenden nach oben gerichteten
Spitzen. Keine Empfindung wird sichtbar, keine Bewegung mildert die strenge
Haltung. Man fühlt die Willenskraft; er null so sein, er will kein mcuscli
liebes Wesen wie andre sein. Vor der sich neigenden Menge verkörpert er
das unantastbare Deutsche Reich. Ja, er ist der Kaiser! Ganz anders ist
der Ausdruck der holdseligen Herrscherin, die ich ein paar Schritte weiterhin
begrüße. Der Unterschied ist seltsam. Da drüben die Kraft, die rauh sein
kann, wenn es not thut, hier die Milde, das Sinnbild des Friedens. Unter
den blonde» Hnnreu, aus denen das Diadem erglänzt, lächelt das anmutige
Gesicht. Und trotz des goldigen Schimmers der Hoheit, der von diesem zweiten
Throne ausstrahlt, erkennt man doch das weibliche Wesen mit seiner einfachen
und bezaubernden Anmut — man grüßt die Gattin, die Mustermutter (la inör»
moclölö), die die Kiuder anbeten und die der Kaiser liebt.
„Während ich ans dem Rittersaale hinnusschritt, überdachte ich diese schnell
vorüberziehenden Bilder und fühlte deutlich, daß diese Mischung von Gegen
Sätzen, von Eigenschaften und Hilfsmitteln ein glückliches Unterpfand für die
Zukunft dieses Reiches sein muß."
Einige Tage nach dem Hoffeste wurde Kapitän de Cuverville zur Audienz
befohlen; im Marinesaale nähert sich ihm lächelnd ein Offizier: „Ich stutze, es
ist Wilhelm II.! Und ich bin ganz starr und Summe nur in meinem Innersten
die Operettenmelodie! 0n w'a eenen^« mon öinpsisur! Verschwunden ist der
etwas finstere Blick aus dem Rittersaal« von neulich! Ein jugendkräftiger
Mann steht vor mir, ein Mann mit lebhaften und vornehmen Bewegungen,
mit klaren und fröhlichen Augen; selbst die Schnurrbartspitzen sind milder,
geben dem Angesicht zwar ein männliches Aussehen, aber ohne Härte, Mit
ausgestreckter Hand kommt mir der Kaiser freundlich entgegen. Er spricht
heiter in ausgewählt vorzüglichen! Französisch (olmtis se excellent); seine geist¬
sprühenden Einfälle bringen mich trotz des Formenzwangs der Hofluft zum
Lachen. Er erkundigt sich nach meiner Reise dnrch Deutschland, nach dem Eindruck,
den Kiel auf mich gemacht habe. Ich antworte ihm ganz unumwunden, denn
ich bin nicht gewohnt zu flunkern M^orner), selbst nicht Majestäten gegenüber.
Und der.Kaiser scheint zufrieden mit meinen Schlüssen zu sein. Er scheint sehr
stolz auf seine Marineschule zu sein: »Im Jahre 1888 hatte ich nur 50 Sce-
kadetteu auf der Schule, 1900 aber 146, und jetzt habe ich fast 200. Was
ich hauptsächlich den jungen Leuten im Beginn ihrer Laufbahn eingeprägt zu
sehen wünsche, ist der seemännische Geist, der nur durch Erfahrung zu erwerben
ist. Deshalb viel Praxis, viel Seefahrt, viele Übungen; man muß ihnen
Muskeln machen!« Und während er das sagt, hebt der Kaiser lachend seinen
Arm und spannt deu Biceps, als wolle er eine Stoßbcwegnng gegen einen
gedachten Feind ausführen. Das gäbe einen tüchtigen Faustschlag! Als ich
mit ihm vom Admiral von Arnim, dem Befehlshaber der Schule, sprach, er¬
widerte der Kaiser: »Das ist ein ausgezeichneter Leiter; er verbindet die Milde
mit der Strenge, und das ist nötig. Mau muß mit der Jugend streng sein.
Ihr zukünftiger Beruf ist hart genug, daß man sie beizeiten an eiserne Zucht
gewöhnen muß. Sie wisse» es besser als ich, daß ohne Mannszucht keine
Marine denkbar ist.« An der Art, wie Wilhelm II. spricht, erkennt man, wie
sehr er vom Seeleben durchdrungen ist. Seine Flotte, das ist sein Hauptwerk,
sein Ideal, sein Ziel, seine Zukunft! Und er hat wohl nicht Unrecht. Er ist
ein ebenso begeisterter wie erfahrner Kenner, für ihn haben die fremden Ma
rinen keine Geheimnisse nnr die unsrige mit ihren Unterseebooten. Ich er¬
wartete deswegen eine Frage, doch sie kam nicht, sicherlich aus Zartgefühl
unterblieb sie."
Es führt hier leider zu weit, das ganze Gespräch unsers Kaisers in der
französischen Auffassung wiederzugeben; mancherlei Fragen wurden noch berührt,
besonders Fachnngelcgenheiten, wie z. B. die Ausbildung der Marin ein genienre,
die bei allen Mariner gleich wichtig ist und gleich schwierig zu lösen. Schlie߬
lich findet der französische Besucher kaum genügend Worte, seine Begeisterung
für die hinreißende Persönlichkeit unsers Kaisers geuugscun auszudrücken; er
ist ganz entzückt und bezaubert vou der ungezwungner Natürlichkeit, dem tiefen
und vielseitigen Wissen, dem scharfen, geistigen Blick, der Schlagfertigkeit und
dem jugendlichen Feuer des Herrschers. Wem selbst die seltne Ehre zu teil
geworden ist, in ähnlicher Weise wie dieser französische Seeoffizier länger als
eine halbe Stunde seinem Kaiser nahe zu sein, der weiß die Wahrheit zu
würdigen, die aus der französischen Schilderung spricht; nur siud die Franzosen
darin viel geschickter als wir Deutschen, ihre besten Gefühle in Worte zu fasse».
Was uns begeistert und überwältigt, davon wagen wir kaum zu sprechen, um
unsre heiligsten Empfindungen nicht unwürdigen Nörglern preiszugeben. Der
Franzose aber redet frisch von der Leber weg, wie es uns ihn wirkt; wir
können von ihm lernen. Auch von dem tiefen Gemüt unsers Kaisers weiß
Cuverville zu sprechen; er meint, die Engländer würden ganz unverfroren von
ihm sagen: Jip is a Aoocl tsllmv, und bemerkt selbst sehr fein: l'Lmpkrsur rit
et'un rirs bon e-lMnt. Mit herzlichem Händedruck entläßt der Kaiser seinen
Besuch mit dem Wunsche, daß er nur angenehme Erinnerungen mit heim
nehmen möge.
Aber schon auf der Schloßtreppe kommt die unvermeidliche Viktor Hugo-
Stimmung wieder zum Durchbruch; Cuverville fällt nämlich ein, daß ihn ein
allerdings nicht allzu geschickter Journalist gefragt hatte, wie er über eine Reise
des Kaisers nach Paris dächte: „Löst die Frage wegen Elsaß-Lothringens,
und ich verspreche Ihnen, daß von den Glockentürmen von Notre Dame bis
zum Triumphbogen nie ein Herrscher mit dröhnenden Zurufen gefeiert werden
würde!" hatte der Franzose geantwortet. Um die problematische Natur eines
geistreichen, fein gebildeten und in seinem Fache hervorragend tüchtigen Fran¬
zosen genauer kennen zu lernen, ist es nötig, hier noch die Gedanken wieder¬
zugeben, die^Cuverville im Anschluß an die Audienz niederschrieb: „Wenn ich
völlig frei vom Zwange der höfischen Formen hätte unumwunden sprechen
dürfe,?, so würde ich ihm (dem Kaiser) mit dem vielleicht zu ungestümen und
wenig diplomatischen Freimut des Seemanns folgendes gesagt haben: Ja,
Majestät, wir kennen den Zauber und die großen Eigenschaften Ihrer Sinnes¬
art. Zahlreich sind die Männer in Frankreich, hervorragende Politiker, Ge¬
lehrte, Diplomaten, Offiziere, die aufmerksam und mit eignem Mitgefühl die
Entwicklung Deutschlands verfolgen; alle haben für Sie die gebührende Ver¬
ehrung. Noch zahlreicher siud seit einigen Jahren die, nach deren Schützung
manche Verständigungen über die äußere Politik mit Ihrem Reiche für das
Gedeihen und die Macht beider Völker nützlich sein werden; aber trotzdem
bleiben ihre Gedanken Träume, denn ihr Herz hat keine Zuversicht! Auch
Frankreich ist sehr mächtig, sein Heer ist dem Ihrigen gleichwertig, und seine
Flotte hält seit ihren neuen Erfindungen jedem Gegner stand. Trotz schein¬
barer Spaltungen wird Frankreich beim ersten Weckruf einig sein; seine Lürm-
macher bedeuten im allgemeinen nur ein Überschäumen der Lebenskraft. Gerade
weil das Land sich seines Werth bewußt ist, läßt es sich nicht durch Äußerlich¬
keiten verlocken. Seit einigen Jahren ist die Höflichkeit Deutschlands ganz
unbestreitbar; Sie sind uns voller Liebenswürdigkeit entgegengekommen, aber
diese Verbindlichkeiten beschränkten sich immer auf ein Lächeln, belanglos wie
ein liebenswürdiges Tändeln mit einer hübschen Frau. Gcfühlspolitik dürfte
nicht sein. Wenn Deutschland, dem doch am eignen Wohle gelegen ist, wirk¬
lich dahin zu gelangen strebt, das Damoklesschwert zu beseitigen, das ihm auf
unsrer Seite des Rheins droht und seine Bewegungen lahmt, so zeige es dies
durch greifbare Thatsachen. An Gelegenheiten dazu hat es nicht gefehlt; Sie
waren aber nie darauf bedacht, sie wahrzunehmen. Da waren Faschoda, Ost¬
asien, Transvaal und vor kurzem noch Mithlene, lauter Fragen, die Sie nicht
unmittelbar berührten, aber bei denen Frankreich Ihnen für eine» kleinen
Frenndschaftsbeweis (Ivg'ör veux et'spMlö) dankbar gewesen wäre. Aber nichts
dergleichen, im Gegenteil. Noch jetzt wäre gute Gelegenheit, in Ägypten, in
Marokko; ergreifen Sie sie. Bei uns würden Sie dann noch beliebter werden;
unser Verstand und Wille würden dann eifriger eine Lösung suchen, die bei
aller Schonung für das deutsche Selbstgefühl doch das schwer verwundete Herz
lvcsur nulli») Frankreichs heilte,
„Zum Glück habe ich das alles nicht gesagt; der Kaiser mit seinem großen
Geiste würde nachsichtig gewesen sein; aber die Diplomaten et surtout 1'atlrsnx
proweols (?) würden mich gesteinigt haben!"
Da Herr de Cuverville seine freimütiger Gedanken schließlich doch nicht
für sich behalten hat, wird ein offnes Wort der Erwidrung auch nichts schaden.
Auch in Deutschland weiß man Frankreichs Heer und Flotte wohl zu schützen.
Die Annäherung zwischen den französischen und den deutscheu Truppen in
China beweist mehr als die gegenseitige Achtung, denn ihr lag offenbar auf
beiden Seiten das sehr natürliche Gefühl zu Grunde, endlich das lange ent¬
behrte freundnachbarliche Verhältnis wieder zu gewinnen. Die Russen und
die Japaner sind sicherlich ebenfalls tüchtige Soldaten, aber trotzdem keine
geistesverwandten Freunde für gebildete Europäer, denn beiden haftet allzuviel
Asiatisches an. Dein Gefühle nach steht dem Deutschen der Franzose auch
näher als der Engländer, und wahrscheinlich wird auch der gebildete Franzose
den Umgang mit einem Deutschen dem mit einen Engländer vorziehn. In
den Ländern Schillers und Viktor Hugos ist trotz Manchem heute noch
eine idealere Lebensauffassung zu finden als anderswo; deshalb sind beide
Völker bei dem materiellen Kampfe ums Dasein, den die Entwicklung der
drei großen Weltreiche für die Zukunft in Aussicht stellt, mehr als je auf¬
einander angewiesen. Engländer und Franzosen waren schon seit Jahrhunderten
Erbfeinde, bevor der ruhmlüsterne Sonnenkönig dem schwachen Deutschen
Reiche die schönen alten Reichslande, Elsaß und Lothringen entriß. Wäre
Ludwig XIV. vorausschauend gewesen, oder wäre er dem wohlgemeinten Rate
des deutschen Gelehrten Leibniz gefolgt, es gäbe heute kein „verwundetes Herz
Frankreichs." Die Franzosen sprechen gern von den totes earrsss Msmanäes;
aber wer ist denn in der Elsaß-Lothringer „Frage" der Eigensinnigere? Wenn
man eine große Aufrechnung all der nutzlosen Landkriege machen wollte, die
seit Melac und Moutecuecoli bis auf Mac Mahon und Moltke zwischen
Frankreich und Deutschland geführt worden sind, so würde der Schaden wohl
auf beiden Seiten gleich groß sein. Leicht bei einander wohnen die Gedanken,
doch hart im Raume stoßen sich die Sachen — Gefühlspolitik dürfte nicht
sein, meint Herr de Cuverville ja selbst, su visu, warum können seine Lands¬
leute mit dem seutimentnlen Gefühle nicht endlich einmal Schicht machen, als
sei ihnen Unrecht geschehn, daß Deutschland seine alten Reichslande endlich,
und noch dazu als Preis eines aufgezwungneu Kriegs, wieder zurücknahm?
Frankreich und Deutschland im Bunde könnten und würden der ganzen Welt
Gesetz und Ordnung vorschreiben, daran zweifelt wohl niemand hüben und
drüben vom Wasgenwald. Aber wer das Damoklesschwert aufgehängt hat,
dessen verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist es auch, wenn er vernünftiger
Einsicht zugängig ist, dieses gefährliche Spielzeug zu beseitigen; so bald das
geschehn ist, läßt sich über alles verstündig reden. Ganz gewiß hat Cuverville
Recht, daß Frankreichs geringes Eingehn auf unser herzliches und aufrichtiges
Entgegenkommen Deutschlands Bewegungen vielfach lahmt. Auch wir wären
natürlich besser gestellt, wenn wir auf einen zuverlässigen Nachbar rechnen
dürften, der unser Haus mit bewachen würde, wenn wir draußen in der Welt
zu thun hätten. Aber Frankreich würde wahrscheinlich auch nicht leer aus¬
gehn dabei. Warum sagt denn Demigny, daß Europa keinen andern Feind
habe als England? Ein andrer ungenannter Franzose, Leutnant sagt in
einer vorzüglichen Schrift: I^Ä Auerrö g-oso I'^i)»'1se6rr«z sogar folgendes: „Der
Augenblick ist nahe, wo die Welt antworten wird auf die Anmaßung der
Engländer, über die Welt herrschen zu wollen." Und der ausgezeichnete
Admiral Ncveillere schreibt in seinem herrlichen Werke l^r «oncinZW <Zv l'oevnn
geradezu: „Wenn wir unsre kontinentale Rolle weiter spielen wollen, bemächtigt
sich England der Welt. Napoleon der Große, der Schöpfer der deutschen
Einheit, hat zugleich den Grundstein zur Macht des riesigen englischen Reichs
unsrer Zeit gelegt. Wenn Nur uns irgend wohin übers Meer ausdehnen
wollen, stoßen wir gegen England, das anscheinend alle Rechtsansprüche auf
unserm Planeten gepachtet hat." An Erkenntnis fehlt es also bei unsern Nach¬
barn nicht, auch sie wissen, wo uns alle der Schuh drückt. Aber diese Er¬
kenntnis ist leider offenbar noch nicht kräftig genug, die krankhafte Viktor
Hugo-Stimmung bei selbst sonst sehr gescheiten, klaren Köpfen auszurotten.
Für Rußland ist man zu Opfern bereit, ohne ans die Kosten zu kommen, aber
so weit sehen eben erst nur einzelne in Frankreich, daß es nur einen Stören¬
fried, nur einen Weltfeind giebt, der nur dann gütlich oder gewaltsam in
Schrnnkei? gehalten werden kann, wenn Frankreichs hypnotisches Starren aus
die deutsche Landgrenze endlich aufhört.
Das zwingt dazu, noch einen beträchtlichen Irrtum in Cuvervilles Ge-
dankengang zu berichtigen; er meint, die französische Flotte hielte seit ihren
neuen Erfindungen jedem Gegner stand. Das ist eine ganz gewaltige Über¬
schätzung der eignen Kraft, wenn auch die schöne und starke französische Flotte
an zweiter Stelle unmittelbar hinter der englischen steht; von dem geringen
Werte der neuen Erfindung, den Unterseebooten, soll später noch gesprochen
werden; sie können im günstigsten Falle keine bessere Wirkung haben, als etwa
sehr weitschießende Küstenkanoncn, Verstürken also mir die Verteidigungsfähig¬
keit, nicht die zu jedem Seekriege unentbehrliche Augriffskraft. Wenn man
die Flottenlisten aufmerksam prüft, dazu den sehr schwerwiegenden Vorteil der
einheitlichen Führung, Ausbildung und Mannszucht auf englischer Seite mit¬
rechnet, so muß jeder Unparteiische zu dem Schlüsse kommen, daß sogar die
beiden Flotten des Zweibunds, also die französische und die russische zusammen,
der englischen Seemacht bei weitem »licht gewachsen sind. Demigny, der Lands¬
mann Cuvervilles, ist darüber völlig im klaren: „Daß man sich nur nicht
darüber täusche: England kann jetzt ebenso wie früher nur durch europäisches
Zusammenwirken ernsthaft bedroht werden. Auf seine eignen Hilfsmittel allein
gestützt, darf Frankreich, auch im Bunde mit Rußland, einer solchen gefähr¬
lichen Schwärmerei (utoxis) uicht nachhängen. Aber im Vnnde mit mehreren
andern Staaten, z. B- mit Deutschland und mit Rußland, würde Frankreich
auch Belgien und Holland zwingen, dem Bunde beizutreten. Dann wäre eine
Landung in England freilich keine leere Drohung mehr." So liegt die Sache.
Ein geistreicher französischer Schriftsteller hat schon vor Jahren unsern Kaiser
den Colbert der deutschen Flotte genannt; auch Cuverville erkennt an, daß die
deutsche Seepolitik planvoll und sicher geführt wird. Wo ist aber nun der
Franzose, der soviel Gewalt über die Herzen seiner Landsleute Hütte, daß er
eine von ihm und von vielen ausgezeichneten Franzosen als dem eignen Vater¬
land ersprießlich und nützlich anerkannte Seepolitik zu führen imstande Märe?
Wer vermag die warmblütigen Patrioten Frankreichs zu ihrem eignen Besten
mit fester Hand zu zügeln und den ungestümen Thatendrang des ritterlichen
Franzosentums ans ein fernes, nur durch zähe Arbeit, Geduld und durch das
Aufgeben alter Träumereien erreichbares Ziel zu richten? Männer machen die
Geschichte, sagt Treitschke; aber Ludwig XIV. hörte weder auf Leibniz, noch unter¬
stützte er seinen Colbert genügend — und Napoleon hatte Unglück zur See, seine
besten Admiräle starben ihm zu früh, und die, die er dann zu den wichtigsten
Posten aufsuchte, versagten ihm den Erfolg trotz guter Vorbereitung. Das heutige
Frankreich, alle Ehrfurcht vor seinen geistigen, auch schöpferischen Größen, ist
arm um großen Führern, wie Colbert einer hätte sein können, wie Napoleon
einer war, freilich nicht zum Segen seines Landes, weil er der Engländer nicht
Herr werden konnte. Heutzutage fehlt der seekundige Colbert in Frankreich,
doch Nur haben einen, den man in Frankreich warm verehrt. Nun gut, Herr
de Cnverville, lesen Sie unsern Schiller:
Immer strebe zum Ganzen. Und kannst du selber kein Ganzes
Werden, als dienendes Glied schließ an ein Ganzes dich an!
Man sollte doch meinen, daß Moltke die Zeit richtig geschätzt hätte, daß
Deutschland dreißig Jahre GeMehr bei Fuß stehn müsse, ehe mit dem liebens¬
würdigen und auch liebeuswerten Nachbarn ein gutes Einvernehmen denkbar
wäre. Aber, dn lieber Himmel, er scheint die Rechnung ohne die unglückliche
Viktor Hugo-Natur gemacht zu haben: dio lmörst aan-i!
(Schluß folgt)
n den letzten der im vorigen Heft mitgeteilten Briefsteller sehen
wir schon den finstern Gast vor der Thür stehn, der das letzte
Lebensjahr des nie verzagenden Mannes verbitterte. Er schleicht
sich zu ihm hinein und packt ihn immer schärfer am Leben; aber
sobald der Leidende nur einen freien Augenblick hat und wieder
aufatmen kann, ist er auch wieder voll Hoffnung, Thatkraft und Schaffens-KM
freute, und immer voll Teilnahme für andre, zu raten, zu helfen, mitzusorgen
und sich mitzufreuen bereit.
In den Grenzboten war inzwischen das Stück vorn „wunderlichen Freunde"
erschienen, das sich mit der Lex Heinze beschäftigte. Darauf bezieht sich der
folgende Briefausschnitt:
10. Mai 1900
Es bleibt mir nichts übrig, als Sie um Geduld mit meinem Schreiben zu
bitten. Seit vierzehn Tagen bin ich infolge einer immer deutlicher ausgetretnen
Gallenaffektion hundeelend, und obwohl ich, zahm wie ein gefangner Laubfrosch,
buchstäblich nichts als Wassersuppen genieße, wollen die Schmerzen, obschon etwas
gelinder geworden, noch immer nicht ganz weichen. Vor dem Fenster grünt und
blüht nun der wirkliche, berückende Frühling, und ich muß Geduld lernen und mich
auf kleine Gehversuche beschränken, für die ich ja auch dankbar bin, die aber die
Sehnsucht nach voller Freiheit nur verstärken. Aufwärts scheint es ja zu gehn,
aber sehr langsam.
Verzeihen Sie die viel zu lange Klage. Das ist sonst nicht meine Art und
soll nur meine verzögerte Antwort auf Ihren liebenswürdigen Brief vom 26. April
ein wenig entschuldigen. Haben Sie vielen Dank für den Separatabdrnck des
Wunderlichen, »^unNl Lex Heinze.
Mir hat das Gellertdenkmal in Leipzig immer recht gut gefallen. Ich wußte
nicht, von wem es War, und weder Knaurs noch Sprosses Name waren mir bekannt.
Da ich kein gebornes Kind der guten Stadt Engemcmus bin, so werden Sie mir das
hoffentlich nicht allzu übel nehme». Aber man muß ja doch auch zulernen. Der Über¬
gang von den beiden zur Moderne ist außerordentlich hübsch und geschickt, und
was Sie von dieser und der Masse, von dem Kleinen und Gemeinen, von den
Philistern und dem Plakatstil sagen, ist mir natürlich ganz aus dem Herzen ge¬
schrieben. Und daß Sie damit so unvermerkt und natürlich, ohne Mache und
Tendenz auf die Lex Heinze kommen, ist ausgezeichnet.
Die ersten blau angestrichnen Einwendungen gegen das Gesetz sind ja etwas
stark aufgetragen, aber sie entsprechen ganz der Redeweise der sogenannten künst¬
lerischen Presse. Aber mit der Verteidigung des Entwurfs (oder besser vernünftigen
staatlichen Einschreitens) auf Seite 213 und 214 bin ich ganz einverstanden. Ja,
die Philippika des Wunderlichen als Verteidigers des Entwurfs gegen die Hosen¬
anzieher und religiösen Philister ist ein wahrer Segen. Und ebenso das Front-
machen gegen die gemeinen modernen Romane. Ich kenne zwar weder die von
Tovote, noch die von Hermann Bahr und Frank Wedekind, aber ich habe von
andern, die nicht einmal für so schlimm gelten, mehr als genug. Man muß ja,
wenn man Töchter im Hans hat, jetzt förmlich die Bücher, die ins Haus kommen,
ans ihre Anständigkeit prüfen, selbst wenn man die Grenzen recht weit zieht. Goethe
einschließlich der Wahlverwandtschaften und des Wilhelm Meister ist bei mir viermal
im Hause. Aber man muß sich ja vor nnserm Goethe förmlich schämen, wenn man
ihn mit jenen Schandromanen unsrer Zeit nur gleichzeitig in den Mund nimmt.
Nein, ich finde diese Partie auf Seite 214 ganz vorzüglich. Aber auch der weitere
Verlauf ist ganz auf der Höhe. Natürlich bin ich von den auf Seite 215 er-
hobnen Einwendungen nicht überzeugt. Die Geschichte von Friedrich dein Weisen,
die ich für sehr möglich halte, trifft nicht ganz, wie der Wunderliche mit Recht
bemerkt; aber es wirkt versöhnend, daß die schwarze Gefahr anerkannt wird.
Wenn sie kommt, hilft natürlich keine Lex Heinze. Sehr gut sind die Andeutungen
über die Vernachlässigung des künstlerischen Sehenlernens in den Schulen. Ich
hoffe, daß unsre Lehrer, höhere und niedre, von dem Hamburger Lichtwark in dieser
Beziehung viel lernen werden. In Preußen ist man sehr geneigt, Lichtwarts Winken
in dieser Beziehung mehr praktische Folge zu geben.
Jedenfalls seien Sie schön bedankt für den Aufsatz. Er ist voll lebendigen
Samenkörnern. Und das ist die Hauptsache. Wer aber ist », von dem die blau
angestrichnen Stellen herrühren?
Ich habe keine Ahnung von ihm.
In dem folgenden Briefe teilt der Minister mit, daß er zur Kur nach
Karlsbad gehn werde, und giebt feine dortige Adresse an, „weil es doch möglich
ist, daß Sie mir einmal etwas mitzuteilen haben, etwa ein bestimmtes Thema,
über das Sie etwas von nur zu haben wünschen, oder eine Anfrage oder ähn¬
liches. Selbstverständlich soll das kein Wink mit dem Zaunpfahl sein. Aber
es ist doch nützlich zu wissen, wo man einander zu suchen hat." Und er führt
d 20. Mai 1900 enn fort:
Seit vier Wochen krank — die Galle ist mir buchstäblich ein wenig über¬
gelaufen —, habe ich nichts vernünftiges arbeiten können und deshalb Ihnen auch
nicht geschrieben. Inzwischen ist wenigstens der Anfang einer Wendung zum bessern
insoweit eingetreten, daß ich hoffe, am Sonnabend 26. d. M. nach Karlsbnd gehn zu
können. . . .
Wäre ich gesund gewesen, so hätte ich Ihnen in diesen Tagen etwas über
den Streike der Angestellten und Arbeiter der Berliner Straßenbahnen geschrieben,
eine seltsame und — wenn nicht alles täuscht — bedeutsame Bewegung. Die Kutscher
und Schaffner der hiesigen Straßenbahnen machten — fast ohne Ausnahme —
einen sehr soliden, verständigen, guten Eindruck, und das Publikum steht überwiegend
auf Seite der Streitenden. Die Direktion ist ihnen auch weit entgegengekommen,
aber anscheinend zu spät, vielleicht auch — ich übersehe es noch nicht völlig —
nicht weit genug. Nun hat sich die Sozialdemokratie der Sache bemächtigt, und
wenn wirklich, wie man hier allgemein annimmt, die Direktion schließlich klein bei¬
geben müßte, so wäre das ein höchst folgenschwerer Sieg der Sozialdemokratie,
der sehr üble Konsequenzen haben würde. Morgen wird es sich entscheiden. Ver¬
einzelt fahren heute wieder ein paar Wagen, aber das ganze Berliner Straßen¬
bild hat sich verändert, und eine Rotte von Strolchen hat gestern abend immer¬
hin so viel Radau gemacht, daß ein großer Teil des Publikums eingeschüchtert
ist und sich fürchtet, die Wagen zu besteigen, nachdem gestern auf einzelne Wagen
geschossen und mit Steinen geworfen ist. Heute paßt die Schnhmcmnschaft besser
auf, und heute vormittag fuhren die wenigen Wagen, die im Betriebe waren,
ungestört. Natürlich wird das schroffe und freche Auftreten der Sozialdemokraten
im Reichstage bet der Obstruktion gegen die Lex Heinze mit dem Streike in Ver¬
bindung gebracht, und es ist möglich, daß Herr Singer und Genossen gerade
in diesen Tagen ihre Macht und Furchtlosigkeit demonstrativ zu zeigen beflissen
sind. Jedenfalls unerfreuliche Vorgänge. Dazu das Gesetz über die Warenhaus¬
besteuerung im Abgeordnetenhaus!!, ein Schlag ins Wasser, wie /? in der letzten Grenz-
botennummer ganz richtig ausführt; der sogenannte Mittelstand, dem geholfen werden
soll, wird früh genug enttäuscht werden.
Der nächste Brief enthalt Folgendes:
^ Mai 1900'
Haben Sie schönsten Dank für Ihren frischen, trefflichen Brief. Mir geht es,
wenn nicht alles täuscht, laugsam besser, und ich hoffe am Sonnabend abreisen zu
können. Natürlich über Dresden, da der einzige Tagesschnellzug uicht über Leipzig
fährt. Sonst hätte ich mir natürlich erlaubt, Sie aufzusuchen und mich Ihnen
vorzustellen. Indessen dafür wird sich hoffentlich noch Gelegenheit finden. Wenn
Sie nach Berlin kommen, und ich hier bin, werden Sie mir jederzeit herzlich
willkommen sein. Es ist doch ein andres Ding, wenn man sich auch von Angesicht
zu Angesicht kennt. Ich betrachte es also als selbstverständlich, daß wir je nach
Zeit und Gelegenheit uns aufsuchen, und daß der den Anfang macht, der zuerst
an den Wohnort des andern kommt.
Der Brief spricht dann noch von dem Bericht über die Dienstreise in den
Orient, den der Minister begonnen hat und in Karlsbad fertig machen will.
Dorthin schrieb ich ihm über einen tragikomischen Zwischenfall, zu dem das
Gespräch mit dem „Wunderlichen" in Heft 19 Anlaß gegeben hatte, das, wie aus
den im vorigen Heft abgedruckten Briefsteller hervorgeht, ein Beitrag von Bosse
war. Keiner von uns hatte sich etwas Böses dabei gedacht, daß die Szene
in einen Gesellschnftscibend bei einem Reichsgerichtsrat gelegt war, aber es
wurde uns stark übel genommen und ganz persönlich gedeutet, und es gab
unliebsame Auseinandersetzungen. Darauf beziehn sich die letzten Worte des
folgenden Briefes, den ich als Antwort aus Karlsbad erhielt.
Karlsbad, 19. Juni 1900
... Mir ist es hier die ersten vierzehn Tage vorzüglich ergangen, die dritte
Woche dagegen war weniger gut und sehr wechselnd, bald wieder mit Schmerzen, bald
ohne solche. Jetzt scheint es sich wieder besser zu machen. Der Doktor vertrustet, wie
alle Badearzte, auf die nachträgliche Wirkung. Eine bloße Verlegenheitsphrase ist
ja bei Karlsbad diese nachträgliche Wirkung nicht! aber je besser die Kur schon
hier in Karlsbad wirkt, desto besser wirkt sie muh später nach. Also die alte Ge¬
schichte: abwarten. . . .
Meine „Dienstreise nach dem Orient" ist fertig. Ich möchte sie nur — dem
wunderhübschen Artikel „Lesen, Schreiben und Sprechen" in Ur. 21 der Grenzboten
folgsam — zunächst noch einmal durchlesen. Dann schicke ich sie Ihnen. Sehen
Sie zu, ob Sie sie ganz oder teilweise gebrauchen können. Die Schwäche dieser
Reise war die Hast und Flüchtigkeit, mit der sie gemacht wurde. . . .
Was Sie mir von der — höchst überraschenden — Wirkung des Wunderlichen
schreiben, ist wirklich drollig. Auf den Neichsgerichtsrnt war ich nur gekommen, weil ich
— auch noch von meiner amtlichen Stellung als Staatssekretär des Neichsjustiz-
amts her — von allen Beamten in Leipzig die ehemals in Preußen Richter oder
Staatsanwalt gewesenen Reichsgerichtsräte und ihre Verhältnisse am besten kannte.
Und daß es Reichsgerichtsräte namens Müller giebt, habe ich nicht geahnt; unser
Reichsgerichtsrat konnte ebenso gut Schulze, Meyer oder Peter Meffert heißen. Es
ist also alles reines Pech gewesen. Hoffentlich haben Sie keinerlei Unzuträglich¬
keit weiter davon.
. . . Wetter, Wald und Berge sind hier wunderschön. Es sind mir ja alte
Bekannte, und Alpen sind es nicht. Aber wenn man älter wird, ermäßigen sich
die Ansprüche, die man macht, und die Augen öffnen sich für kleine Intimitäten
und große Schönheiten, an denen man früher vorübergegangen ist.
Vor allen Dingen wünsche ich Ihnen Gesundheit und Frische, sodaß Sie
nicht hierher zu kommen brauchen.
Der nächste Brief ist dann wieder aus Berlin, und mit ihm kam das
Manuskript der Orientreise, die in Heft 32 bis 38 der Grenzboten erschienen ist.
Dem darauffolgenden Brief entnehme ich das Nachstehende:
9. Juli 1901
Ich bin in Karlsbad förmlich erstaunt gewesen, wie wenig selbst sonst gut be¬
lesene Konservative von den Grenzboten wissen. Die meisten halten sie für ein
nationalltberales Parteiblatt, und das mag sich ja aus den ein wenig scharf poin¬
tierter antiagrarischen Artikeln erklären. Aber die Eigenart der Grenzboten besteht
ja doch gerade darin, daß sie kein Pnrteiblatt find und bei aller Loyalität doch
auch kein Regierungsblatt. Gerade die Konservativen könnten recht viel aus den
Grenzboten lernen, und einen Aufsatz wie Haeckels Schwanengesang von Carl Jentsch
müßten sie in allen ihren Feuilletons und Kirchenzeitungen abdrucken. Überhaupt
interessiert mich der in keine Parteischablone irgend einer Art passende C, I. von
jeher aufs höchste, ein Prachtmensch, der sich seine freie Persönlichkeit aus so schweren
Lebensführungen herausgerettet, ja ehrlich herausgearbeitet hat. Allerhand kleine
Ketzereien und Wunderlichkeiten hat er noch aus seiner katholischen Theologie be¬
halten, aber im Grunde ist er ein ehrlicher, überzeugter, frommer Christ, der seine
redlich erkämpfte Religionsphilosophie oder Frömmigkeit, was auf eins hinauskommt,
praktisch ansieht. . . .
Auf den Wunderlichen in Italien freue ich mich natürlich unbändig. Aber
auch auf das, was er über Stil, Sprachakademie und Orthographie zu sage» hat.
Diese letzte ist übrigens auf gutem Wege; es bleibt im wesentlichen bei der
Puttkamerschreibung, die hoffentlich nun wirklich amtlich wird, wie ich es längst
vorbereitet hatte. Merkwürdigerweise ist der alte Hohenlohe gegen jeden Fortschritt
auf diesem Gebiete.
Sehr traurig bin ich über China. Merkwürdig ist, daß alle — auch die be¬
sonnensten — Deutschen, die in China gewesen sind, ausnahmslos mit Herrn
v. Brandt die Antifremdenbewegung unterschätzt, sie für ungefährlich und mit leichter
Mühe zu unterdrücken gehalten haben. Nach den neusten Vorgängen scheint sich
diese optimistische Auffassung nicht zu bestätigen. Heute steigt ja die Hoffnung
wieder ein wenig, daß außer Herrn v. Ketteler die andern Gesandtschaften, auch
das Personal der deutschen noch leben und sich halten. . . . Leider ist den sich als
fremdenfreundlich gerierenden chinesischen Vizekönigen nicht zu trauen. Seitdem ich
im hiesigen Schlosse das hochnäsige Spitzbubengesicht von Li-Hung-Schang mir ans
der nächsten Nähe angesehen habe, traue ich so leicht keinem Chinesen mehr, am
wenigsten einem Vizekvnig. Die Konsequenzen der ganzen Affaire sind unabsehbar....
Während des Aufenthalts in Karlsbad hatte den Minister die Erkrankung
seiner jüngsten Tochter in Sorge gebracht. Er kann jetzt bessere Nachricht
geben und schreibt in seinem nächsten Briefe:
17. Juli 1900
. . . Mir geht es auch verhältnismäßig gut, und ich habe für mich — namentlich
bei der jetzigen Glut — gar kein Bedürfnis nach irgend einem Hotel oder einer
Pension. So gut wie ich es habe, bekomme ich es doch nicht. Aber meine Frau
und Töchter werden hinaus müssen, und mir wird eine kräftigere und dünnere,
reinere Luft auch nicht schaden. Die schwere, dicke Atmosphäre ist in den Hunds-
tagen die ol-ux in Berlin. Sie aber müssen jedenfalls quam oitissiws hinaus:
hoch auf die hohen Berge, in die schönste Hochgebirgsluft, in Berg- und Wald¬
schatten. Glückzu zur Reise!
Daß Herr or. Groth sich so freundlich über mein Manuskript geäußert hat,
ist eine Nachricht, die mir sehr glatt eingegangen ist. Von dieser Art Eitelkeit
scheint kein Autor ganz frei zu sein. Es freut uns, wenn ein andrer das, was
wir für die Öffentlichkeit geschrieben haben, anerkennt oder gar lobt. Das „auf-
fallend gut geschrieben" lasse ich mir mich gern gefallen. Dies Lob verdanke ich
aber den Grenzboten. Denn auf deren Anregung hin prüfe ich jetzt alles für den
Druck geschriebne noch einmal mit möglichster Strenge auf Stil und Darstellung
und Ausdruck. Der Kultusminister hat damit eigentlich nichts zu thun. Denn es
giebt Minister, die geradezu schauderhaft schreibe«. . . .
Daß es in konservativen Kreisen auffallen mag, mich als Mitarbeiter der
Grenzboten zu sehen, mag ja sein. Das geniert mich aber nicht. Denn ich habe
dabei ein gutes Gewissen und fühle mich den Grenzboten verwandt. Ich kann ja
nicht alle /?schen Superlative gegen die Agrarier oder, wie es bei mir heißen
müßte, den Agrarstcwt unterschreiben, denn ich habe eine große Passion für Grund
und Boden, stamme aus der Landwirtschaft und interessiere mich für sie, habe auch
einige Sorge, daß wir etwas zu gewaltsam in den Kolonial-, Handels- und Industrie¬
staat hineinstenern und uns damit in nicht geringe Gefahr begeben, während der
alte Bnuernstaat auch gegen sehr schwere Stürme widerstandsfähig ist. Allein das
ist meine persönliche Sache, und wenn ich in manchen Dingen ein wenig nachsichtiger
über agrarische Bestrebungen denke, als die Grenzboten, so kann ich auch mit der
Kreuzzeitung uicht überall mit und bin z. B. mit tiefem Mißtrauen gegen die Lock¬
pfeife der Doppelwährnngstendenzen erfüllt. Ich bin ein freier Manu, und das
will ich auch sein, jetzt, wo ich nicht mehr Minister bin, erst recht. Habe ich mich
doch auch als Minister der bloßen Schablone nicht gefügt. Dieser Kampf gegen
Schablone, Zopf und Schema macht mir gerade die Grenzboten so lieb und
wert. Im Reiche des Geistes, insbesondre auch des heiligen Geistes gilt schlechter¬
dings keine Schablone, keine, auch wenn sie noch so schön, fromm und korrekt wäre.
Freilich, es ist uicht bei den Konservativen allein so, bei andern Parteien ist es
eher noch schlimmer. Nichts desto weniger ist es unerhört und ganz unmotiviert,
daß die Konservativen sich von dein Lesen der Grenzboten so abgewandt haben.
Zu Vismarcks Zeiten, da kam es ja vor, daß der Gewaltige ein Blatt in den Bann
that, wenn es ihm nicht unbedingt Heeresfolge leistete. Recht und schon war auch
da manches nicht, was Bismarck that und veranlaßte. Indessen er war der un¬
vergleichlich große Maun, der streitbare Kämpfer, mit vielem unberechtigten Mi߬
trauen in der Tasche, aber immer nur auf die Größe des Volkes bedacht und doch
ebeu auch nur ein Mensch. Da kann man manches mit in den Kauf nehmen, was
einem weh thut. Aber uuter deu heutigen Epigonen ist ja doch das alles anders
geworden, und da gilt das: Huocl klenn ^ovi, mein livot bovi in vollem Maße.
Ich bin also damit einverstanden, wenn die Leute jetzt erfahren, daß ich für
die Grenzboten schreibe.
Im August ging Bosse für einige Wochen in den Harz. Nach seiner
Rückkehr schrieb er mir nach Oberstdorf im Allgäu:
4. September 1900
Seit dem Freitage sind wir aus den: Harze zurück. Es war dort herrlich,
und ich habe mich dort ungemein wohl befunden. Aber merkwürdig, sofort nach
der Rückkehr lag ich pardauz wieder auf der Nase. Ich bekam in der Nacht einen
äußerst schmerzhaften Anfall von Gallenkolik, der mich körperlich und seelisch sehr
mitgenommen hat. Physisch ist er vorüber. Ich muß mir aber sagen, daß Karlsbad
doch nicht gründlich geholfen hat, und daß ich nunmehr damit rechnen muß. das
Leiden zu behalten. „Die Seele ward dahingerafft, der Mensch wird schließlich
mangelhaft," wie Wilhelm Busch sich zutreffend ausdrückt. Damit muß man sich
als alter Mann abfinden. Wenn nur die Arbeitsfähigkeit nicht so arg darunter litte!
In der zweiten Hälfte des September war der Münster dann noch vier¬
zehn Tage auf Rügen. Die nächsten Briefe ans Berlin handeln von den
Memoiren, an denen er arbeitete, und von der Buchausgabe der Orientreise. Im
Oktober erfolgte dann der Kanzlerwechsel, der Bosse zu einem Beitrage für
die Grenzboten veranlaßte. Er schrieb:
^^
Hohenlohes Entlassung und Graf Bülows Ernennung ist ein so großer Schritt
vorwärts, daß ich glauben möchte, auch die Grenzboten können daran nicht schweigend
vorübergehn. Ich möchte gern einen Artikel darüber schreiben, eine kurze wohl¬
wollende Charakteristik des alten Herrn, aber mit zuversichtlicheren Ausblick in die
Zukunft, als bisher möglich war. Ehe ich anfange, möchte ich aber wissen, ob Sie
so etwas haben wollen. Bis zum nächsten Heft vergehn acht Tage, in denen die
Tagesblätter alles Mögliche und Unmögliche leitartikeln werden. Wenn die Grenz¬
boten reden, so muß es ohnehin etwas mehr sein als ein Leitartikel, wie ihn die
Tagespresse bringt. Wenn Sie Bedenken haben, so nehme ich es Ihnen gar nicht
übel. Ich bitte nur um eine kurze, schnelle Notiz, damit ich eventuell bis spätestens
Dienstag fertig werde.
Der Artikel erschien in Heft 44. In dem Briefe, der das Manuskript
begleitete, schrieb der Minister:
22. Oktober 1900
Die Tage im Harz und auf Rügen waren herrlich. Ich fühle mich auch
gestärkt, habe aber dort und nachher auch hier wieder einige — wenn auch erträg¬
liche — Gallenkolikanfälle gehabt; Karlsbad hat also diesmal nicht seine volle
Wirkung gethan. Ich werde die Plage nun wohl behalten. Sie ist aber überaus
hinderlich, lästig und schmerzhaft.
Davon abgesehen geht es mir zur Zeit gut. Die Thoresensche Novelle „Dreimal
gefunden" war ja wunderhübsch, und ich freue mich zu Weihnachten auf ihr Buch.
Die Briefe aus den letzten Wochen des Jahres drehn sich hauptsächlich
um die Memoiren, die ich stückweise zum Lesen erhielt. Unter anderen
heißt es:
28. Oktober 1900
Mein Manuskript mit Lebenserinnerungen eines alten Beamten schicke ich
Ihnen in diesen Tagen, natürlich unfertig, ein Ausschnitt mitten heraus. . . . Sie
werden gleich mir sofort den Eindruck bekommen, daß das Manuskript, so wie es
ist, zur Zeit nicht gedruckt werden kann. Dazu kommen zu viel noch lebende
Personen darin vor. Je weiter ich jetzt mich der Entlassung Bismarcks nähere,
desto heikler, aber auch interessanter wird die Darstellung, und ich muß diese Dinge
und auch meine Ministererinnerungen jetzt fixieren, sonst verblassen sie. Wenn ich
damit fertig sein werde, daun denke ich vorn mit der Kindheit, Jugend, Gymnasial-
und Universitätszeit anzufangen, und darauf freue ich mich am meisten. Inzwischen
ist es ja vou großem Werte für mich, von zuverlässiger und sachverständiger Seite
ein ganz rückhaltloses Urteil darüber zu erhalten, ob die Sache so, wie ich sie von
1876 an in dem Manuskript begonnen habe, litterarisch überhaupt möglich ist, und
ob die Fortsetzung der Arbeit überhaupt lohnt. Bejahen Sie das, so könnten diese
Dinge vou meinen Söhnen nach meinem Tode herausgegeben werden, während ich
einen ersten, weniger politischen Band vielleicht noch bei Lebenszeiten, so Gott will,
selbst zum Druck geben könnte. Möglich auch, daß Sie einen Abschnitt finden, den
man herausschneiden und einmal gewissermaßen als eine Probe in den Grenzboten
abdrucken könnte.
Meine Gallengeschichte grummelt leise weiter. Schlimmer scheint es nicht ge¬
worden zu sein. Freilich habe ich sogar das Glas Moselwein zu Tisch aufgegeben
und lebe jetzt wie ein Temperenzler. So gut ich dabei auskommen kann, bin ich
doch zweifelhaft, ob das Ausbleiben der akuten Anfälle xroMr nov oder bloß x»se
Koe zu rechnen ist.
Außerdem gaben die Memoiren Carl Schneiders Anlaß zum Schreiben
und zu einer Besprechung des Buchs, die im Januar in den Grenzboten er¬
schien. Damit war das neue Jahr herangekommen, das den: Freunde zunächst
gute Tage brachte, sodaß er die Festlichkeiten des zweihundertjährigen Jubiläums
des preußischen Königstums umeinander konnte und Frische zur Arbeit hatte.
Eude Januar schreibt er:
27. Januar 1901
Ich arbeite jetzt an einem Aufsatz über den Statuettschmuck der hiesigen Sieges¬
allee und bin ziemlich damit fertig. Man wartet hier förmlich darauf, daß dieses
großartige und schöne Unternehmen des Kaisers einmal einheitlich, namentlich nach
seiner künstlerischen Seite besprochen wird. Ich bin dnrch meine frühern amtlichen
Beziehungen ziemlich genau orientiert und brauche auch bezüglich des weniger Ge¬
lungnen kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Doch soll der Artikel anonym
erscheinen. Ich hoffe, Sie werden ihn möglichst bald in den Grenzboten bringen.
Das Bedenken, ob man eine solche Besprechung auch über Berlin hinaus mit
Interesse lesen werde, halte ich nicht für begründet. Die Idee des Kaisers hat
doch nationale und vvlkserziehliche Bedeutung; und es muß doch auch weitere Kreise
interessieren, über die zahlreichen beteiligten Künstler einmal ein sichtlich uubefcmgues
Urteil zu lesen. Wenn Sie also nicht abblasen, hoffe ich Ihnen in acht bis zehn
oder vierzehn Tagen das Manuskript schicken zu können. Ich denke, daß es auf
drei Nummern mit je etwa neun oder zehn Seiten verteilt werden kann.
Hoffentlich geht es Ihnen gut. Der Kaemmelsche Artikel über den Schnlerlciß
und das humanistische Gymnasium ist, wie alles von Kaemmel, ausgezeichnet. Rektor
Muff aus Pforta hat hier neulich einen schönen Vortrag gehalten, der genau in
dieselbe Kerbe schlug. Vorläufig habe ich kein Bedürfnis, zwei so großen Sach¬
verständigen noch ein Nachwort nachzuschicken.
Der prachtvolle Artikel erschien in Heft 8 und 9. Die Briefe der nächsten
Zeit besprechen lebhaft und hoffnungsvoll allerhand politische und andre
Dinge. „Schnee haben wir wenig, schreibt Bosse am 13. Februar, über viel
Kalte und Eis, heute herrlichsten Rauhreif, für den ich schon als alter Jäger
viel übrig habe. Zu Hause friere ich zuweilen ein wenig, aber es geht mir,
Gott sei Dank, gut. Hoffentlich auch Ihnen." Zwei Tage darauf war ich
in Berlin und habe damals auch den Minister besuchen können. Es war
das erste und das letzte mal, daß ich dem verehrten Manne gegenübergestanden
bin und ihm in die klaren und freundlichen Augen gesehen habe. „Es ist
doch ein ganz andres Miteinanderarbeiten, wenn man sich kennt," schrieb er
mir ein paar Tage darauf. Er schickte zugleich eine Notiz für das „Schwarze
Brett" über „neue stilistische Dummheiten," die in Heft 10 abgedruckt wurde.
In dieser Zeit trug ich mich mit dem Gedanken, der inzwischen aus¬
geführt worden ist, den Preis der Grenzboten herabzusetzen, um ihnen ein
größeres Wirkungsfeld zu schaffen. Der Schritt war nicht ungefährlich, ich
mußte mir sagen, daß ich die Existenz des Blattes damit aufs Spiel setze, aber
die Gelegenheit des bevorstehenden Eintritts in ein neues, das siebente Jahr¬
zehnt seines Bestchns, schien mir zu günstig, einen Vorstoß zu wagen, als
daß ich den Gedanken hätte aufgeben mögen. Ich teilte ihn dem Minister
mit, der ihm beistimmte. In einer eingehenden Korrespondenz wurden die
Chancen des Unternehmens und die möglichen und rötlichen Schritte dazu
erwogen. Auch als schwere Schicksalsschläge den verehrten Freund heimsuchten,
und er infolge der Gemütsbewegungen, die die traurigen Erlebnisse mit sich
brachten, wieder krank wurde, hörte er nicht auf, sich mit warmem Anteil mit
den Grenzboten und ihrer Zukunft zu beschäftigen und selbst für sie zu
schreiben und Pläne zu machen. Noch im Mürz hatte er mir geschrieben:
12. März 1901
Sie fragen, ob ich nicht manchmal für die Grenzboten etwas über solche
politische Sachen schreiben könnte, wie ich sie neulich in meinem Briefe erwähnt
habe. Ja, wenn ich bei Ihnen in Leipzig wohnte und jeden Augenblick Fühlung
mit Ihnen haben könnte, dann thäte ichs mit tausend Freuden. Ich möchte doch
auch nicht gerade gern daneben hauen und auch nicht einen Artikel schreiben, den
Sie nachher nicht gebrauchen können. So weiß ich z. B. gar nicht, ob Sie einen
scharf gegen die Sozialdemokratie gerichteten Artikel jetzt brauchen würden. Offiziös
ist man augenblicklich sehr zahm gegen die Sozialdemokratie und fahrt sänftiglich mit
diesem Knaben Absalom. Nach meiner Empfindung viel zu sanft. Für die Handels¬
verträge stimmt die Bande nachher doch nicht, und je sanfter die Offiziösen sind,
desto unverschämter und gemeiner hetzt der Vorwärts. . . .
Kann man nun dergleichen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen in den
Grenzboten zur Sprache bringen? Oder die Gefahren eures Paktierens mit dem
Zentrum über Jefuiteugesctz, Polenbehandluug und staatliche Schulaufsicht? Ich bin,
wenn Sie ja sagen, sehr gern dazu bereit, obwohl ich mir, seitdem ich nicht mehr
aktiv mitmache und also nicht mehr amtliche Informationen bekomme, fast wie ein
Bierbankpolitiker und halber Flnchliug vorkomme. Auf Ihren Artikel über Huma¬
nismus und Gymnasium freue ich mich. Je toller, desto besser.
Daß A. PH. mit der Siegesallee zufrieden ist, macht mich ganz stolz. Denn
ich verstehe von diesen Dingen nur soviel, wie der gewöhnliche, gesunde Menschen¬
verstand. PH. aber versteht sehr viel von der Kunst, vielleicht mehr, als alle andern
Kunstkritiker bei uns zusammen.
Am 26. März erhielt er die Nachricht von dem Tode einer Schwägerin,
der ihn zu einer Reise nach Quedlinburg veranlaßte. Trotzdem schrieb er mir
am Nachmittag vor seiner Abreise noch einen langen Brief über die Grenz¬
botenangelegenheit und vergaß nicht hinzuzufügen: „Ihre Laiengedanken sind
ausgezeichnet." Ich erWahne dies nicht, weil es ein Lob für mich ausspricht,
sondern der Sache wegen, und weil es mir von sehr großer Wichtigkeit er¬
scheint, daß dieser Mann Anschauungen billigte, die ich hegte. Ich hatte in
den Tagen des Kampfes um die „Gleichberechtigung" den Aufsatz „Laiengedanken
über Humanismus und humanistische Schule" geschrieben und in den Grenz¬
boten veröffentlicht — mit einigem Zagen, obgleich ich mich auf die An¬
schauungen vortrefflicher Freunde stützen konnte. Ich konnte erwarten, daß er
scharfe Gegnerschaft finden, und auch auf solcher Seite, der ich zu dienen
suchte, Mißverständnis und Opposition begegnen würde. Es war mir deshalb
beruhigend und wohlthuend, als ich den folgenden Brief von dein Minister
erhielt, der auch zeigt, wie er mitten im eignen Leid daran Anteil zu nehmen
bereit war, was andre Herzen bewegte.
9. April 1901
Empfangen Sie meinen und meiner Frau herzlichen Dank für den wohl¬
thuenden Ausdruck Ihrer Teilnahme an unsrer Trauer. Wir haben vorgestern auch
noch einen kleinen, sieben Monate alten Enkel ins Grab legen müssen. So ist der
Ernst des Todes mit seinen Rätseln in dieser Zeit sehr nahe an uns herangetreten.
In Wirklichkeit ist er uns freilich immer nahe. Wir achten nur weniger darauf.
Das mag für die Aufgaben des Lebens Wohl sehr nützlich und gut sein.
Inzwischen hat die Gemütsbewegung oder die Reise mir wieder einen Anfall
meines Leidens zugezogen. Jetzt ist das vorüber, aber es hindert und drückt doch.
. . . Auf Ihren Brief hin habe ich mir die Laieugedauken über Humanismus
uoch einmal durchgelesen. Bis auf zwei oder drei Superlative, an deren Stelle
ich deu stärkern Positiv gesetzt hätte, unterschreibe ich jedes Wort. Im preußischen
Herrenhause hat neulich das technische, hochmütige Banausentum . . . einen thörichter¬
weise gegen die Juristen gerichteten Vorstoß versucht, ist aber auf der ganzen Linie
abgefallen. Ich wollte, es würde mit der Gleichberechtigung für alle Fächer endlich
Ernst gemacht. Glauben Sie mir, es hilft alles nichts, das Gymnasium, und zwar
das wieder rechtschaffen humanistisch gewordne Gymnasium, schlägt die andern
Schulen doch. Endlich wird ja doch auch die minderwertige Behandlung der höhern
Lehrer durch Miguel aufhören. Ich habe als Minister für sie ini Staatsministerium
gekämpft, bis es fast zur Explosion kam. Schließlich mußte ich nachgeben, weil
auch die andern Minister mit ihren Ressortinteresseu sich gegen die Lehrer wandten.
Ich mache es mir noch heute zum Vorwurf, daß ich damals die Sache nicht bis
zum Bruch getrieben habe. Miquel verweist die höhern Lehrer auf ihren Idea¬
lismus. Gut. Dann muß man sie aber nicht wie Schuhputzer behandeln. Ich
bin überzeugt, jetzt wird eine Remedur in mäßigen Grenzen — mehr will ja
niemand — kommen. Auch der Unfug, den wir mit dem Professortitel treiben,
ist eine Krähwinkelei.
Natürlich beschäftigte auch alles seinen Geist, was auf der großen Bühne
der politischen Ereignisse vor sich ging. Am 4. Mai kündigte er mir einen
Artikel über die innere Lage in Preußen an. „Hoffentlich kommt er Ihnen
recht. Die plötzliche Wendung kam ganz überraschend, ist aber richtig und gut."
Das Manuskript kam mit einem außerordentlich interessanten Briefe am 7. Mai
und ist in Heft 20 abgedruckt worden: „Irrungen, Wirrungen, Klärungen."
Es war der letzte Beitrag für die Grenzboten, den Bosse geschrieben hat.
Eine Stelle aus einem seiner letzten Briefe sei hier noch wiedergegeben:
13. Mai 1901
Allerdings wäre es gut, wenn auch die „Juristen" wenigstens eine Ahnung
von dem lernten, was man Staatswissenschaften nennt. Ich glaube, daß zwischen
den beteiligten Ressorts des preußischen Staatsministeriums jetzt Verhandlungen
darüber schweben. Diese sind natürlich durch den Ministerwechsel ins Stocken ge¬
kommen. Wenn die Sache wieder in Fluß gerät, so will ich einmal dran denken
und den Grenzboten etwas schreiben, vorausgesetzt, daß ich wieder auf den Damm
komme. Mir ist es in den letzten Tagen wieder schlechter ergangen. Namentlich
gestern, wo ich den ganzen Tag arge Schmerzen hatte und nichts thun konnte.
Heute ist es ganz anders. So wechselt es immer, ohne daß man sich ein klares
Bild machen kann. Auch die Ärzte wissen nichts. Im Juni soll ich nach
Karlsbad.
Über die Orthographiekonferenz im Kultusministerium habe ich nichts er¬
fahren. So wenig Ändrungen an der sogenannten Puttkamerschen Orthographie
wie möglich, das war schou zu meiner Zeit das Programm des Ministeriums, und
das wird es wohl auch geblieben sein. Worauf es ankommt, ist, daß nun endlich
einmal auch amtlich so geschrieben wird, wie die Schulen lehren. Der jetzige Zwie¬
spalt ist unerträglich.
Am 17. Mai folgt dann die Nachricht von dem schwersten Schlage, der
ihn in diesem verhängnisvollen Jahre traf, von dem Tode einer geliebten
Tochter. „Dieses Jahr ist für uns ein Jahr der Heimsuchung. ... Sie haben
immer so viel herzliche Teilnahme für uns gehabt, daß ich Ihnen diese Nach¬
richt nicht vorenthalten möchte. Natürlich wirkt die Gemütsbewegung auch auf
meinen ohnehin angegriffnen Zustand zurück, und meine Freunde werden viel
Geduld mit mir haben müssen. Darum bitte ich auch Sie." Am 24. Mui
erhielt ich seinen letzten Brief.
Wir sind wirklich durch tiefe Wasser geführt worden . . . Wir murren darüber
nicht, aber wir sind sehr traurig. — Acht Tage nach Pfingsten denke ich nach
Karlsbad zu gehn. In diesen schweren Tagen war auch mein körperliches Be¬
finden sehr gestört. Jetzt geht es wieder ein wenig besser, und ich hoffe, die Kur
in Karlsbad durchführen zu können. Hoffentlich hilft sie mir wenigstens ein
wenig auf.
Es sollte nicht sein. Von Karlsbad erhielt ich keine Nachricht mehr.
Ende Juni war ich in Berlin und sprach in der Wohnung Bosses vor, um
zu erfahren, wie es ihm gehe. Ich erhielt die Nachricht, das; er gerade heim
gebracht worden sei, in schwer krankem Zustand. Am 11. Juli diktierte er
»och einen Brief an mich, der immer noch Hoffnung gab. Es war „ihm
dringend daran gelegen," daß ich endlich einmal zuverlässige Auskunft über
sein Befinde!? erhielte, da er mir für mein freundliches Interesse sehr dankbar
sei, und von allen seinen Korrespondenten ich und die Grenzboten ihm am
meisten am Herzen lägen. „Natürlich sind nun alle Arbeiten, die auf den
Abschluß des Memoireuwerks abzielten, auf kaum absehbare Zeit unterbrochen
worden. ... Es lag ihm daran, Sie hierüber wenigstens oberflächlich orientiert
zu wissen. Für den Fall seiner Genesung, auf die wir ja hoffen dürfen,
gedenkt er Ihnen demnächst einmal nähere Auskunft geben zu können. ..."
Statt dessen kam am 31. Juli die Nachricht seines Todes. Der Brief
vom 11. Juli an mich war der letzte gewesen, den er diktiert hatte.
Die Briefe Bosses, wie sie vor mir liegen, sind sämtlich, ebenso wie seine
Manuskripte, vom Anfang bis zum Ende mit derselben wundervollen, großen,
ruhigen und klaren Handschrift geschrieben, ein Zug wie der andre vom ersten
bis zum letzten Blatt. So, wie diese Schriftzüge, ruhig, groß und klar war
der Charakter des Mannes, der aus ihnen hervortritt. Auch das Leiden, das
ihn quälte, mehr wohl als man ahnte, die schweren Schicksalsschläge, die ihn
trafen, als sich sein Leben zum Ende neigte, konnten diese starke Seele nicht
beugen; das machte der klare, große und ruhige Christenglaube, der ihn be¬
seelte. Ich habe solche Stellen seiner Briefe, aus denen sein zartestes Em¬
pfinden hervorgeht, nicht mitzuteilen gewagt, wie vieles Vertrauliche, was er
mir über Personen, Verhältnisse und Geschehnisse schrieb — das verbot sich ja
von selbst. Aber ich glaube, aus dein, was ich hier mitteilen durfte, und was
ja uur sein Verhältnis zu den Grenzboten zeigt, geht hervor, was für ein
wundervoller Mann er war, und mit welchem Schmerz ich seinen Tod be¬
klagen mußte. Es war ein Freund; und wenn sich seine Augen geschlossen
haben, das Bewußtsein, daß mau einen solchen Freund gehabt hat, macht
Mut zum Weitergehn. Es weist auf die Höhen des Lebens, hier und dort.
MOir hadern nicht mit dein Schöpfer. Er hat uns manches ge¬
schenkt, was uns erlaubt, unser Dasein in Freude und Friede
zu verbringen. Nur eins, die Fähigkeit fanatisch zu hassen, hat
er uns versagt. Das ist heutigentags, wo die Leute etwas
„scharf Gepfeffertes wollen, für den, der schreibt, und der es dem
Leser gern recht machen möchte, ein empfindlicher Mangel. Wer äße gern
Wassersuppe, wenn sie auch noch so sorgsam bereitet ist? Nun gar erst, wenn
man sich das Thema wählt Ill sunt und damit die Jesuiten meint. Wird dem
Leser dieser unheimlichen Schar gegenüber ein kühles Urteil nicht geradezu un¬
erträglich sei«? Knieschüssig nennt man Leute, die uicht aufhören, das Für
und Wider abzuwägen, und sich nie zu einem schwungvollen Anathema be¬
geistern können. Wir haben uns das wohl gesagt, aber wir haben auch
andrerseits gedacht, wenn der Leser sehe, wie wir dem Katholiken seine Frende
an dem nachfühlen, was für Millionen der Wert und der Reiz des römisch¬
katholischen Dogmas und des katholischen Gottesdienstes ist, und dennoch zu
der Überzeugung gelangt sind, daß „der Orden" der gefährlichste, mit allen
uns zu Gebote stehenden Waffen zu bekämpfende Feind unsers Landes und
unsers Glaubens ist, so könnte das doch den einen oder den andern auf den
Gedanken bringen, daß wir nicht bloß nachreden, was wir gelesen und gehört
haben, daß wir nicht in das Horn eines fix und fertigen Vorurteils stoßen,
sondern daß uns um die höchsten Güter des deutschen Volkes bange ist, und
daß wir Haumdgl ante xorws rufen, weil wir wirklich an eine drohende
große Gefahr glauben.
Es ist uns zwar bis jetzt nicht gelungen, das Wesen und die Gepflogen¬
heiten der römisch-katholischen Kirche mit dem Inhalte der Evangelien, am
wenigsten der Bergpredigt in erfreulichen Einklang zu bringen, und wenn wir
lesen: Hütet euch vor denen, die in langen Kleidern umhergehn, so ist es uns
bisweilen, als wenn das mit überirdischer Hellsicht begabte, über Jahrhunderte
hinwegschauende Auge schou die rotgekleideten Kirchenfürsten gesehen Hütte, die
ohne Caudatar nicht zurechtkommen: aber, abgesehen von diesem Zwiespalt,
begriffen, verstanden haben wir den Katholizismus und die Katholiken immer.
Katholik sein ist für das Denkvermögen so ausruhend, für die Phantasie und
das Auge so anregend. Da wir uns weder über die Bilocität der mit ihr
begnadigten Heiligen, noch über die unbefleckte Empfängnis der Mutter Gottes,
noch über die Unfehlbarkeit des heiligen Vaters Gedanken zu machen brauchten,
so bewunderten wir harmlos, was es da, wo wir gerade lebten, an hohen
katholischen Kirchenfesten zu sehen und zu hören gab, und wir bekennen offen,
nirgends anders vollendetere Angen- und Ohrenweide genossen zu haben. Was
mau auch immer über heidnische Prachtentfaltung sagen mag, den Gottesdienst mit
so herrlichen und geschmackvollen Äußerlichkeiten umgeben zu können ist doch
schließlich eine Kunst, die eine jahrhundertelange Tradition erfordert. Von
Se. Peter, dem Papst, der hoäo8 A<zstg.tora, der Nobelgarde und den Pfauen-
Wedeln haben wir freilich leider nur gehört: aber was Nur z. B. in Prag
unter weit geringerm Zulauf und deshalb in einem wirksamern Rahmen von
der Pracht des sich in einer sechsspännigen, über und über vergoldeten und
Monierten, altmodisch in Hüngeriemen schwankenden Galakutsche durch die
hallenden Höfe des Hradschin nach dem Dom begehenden Kardinals und dann
von dessen ritueller Umkleidung zum pontifizierenden Fürsterzbischof gesehen
haben, ist bei weitem der künstlerisch vollendetste xg.A6g.ut, wie sich die Eng¬
länder ausdrücken, dem wir je beigewohnt haben. Bor und hinter dem Wagen
Scharen galonierter Diener, Glockengeläute, der Kirchenfürst durch hohe
Spiegelscheiben von allen Seiten sichtbar und nach rechts und links den
apostolischen Segen erteilend, die langgezognen Klänge des Parademnrschs der
ins Gewehr getretner und präsentierenden kaiserlichen Wache, lind dabei das
Ganze so still, so aus dem Grabe herausgeholt, so Rokoko, daß mau sich um
anderthalb Jahrhundert zurückversetzt glaubte. Auch Prozessionen können wir
gut mit ansehen, ohne daß wir das Bedürfnis fühlen, in Entrüstung über
Aberglauben und Götzendienst auszubrechen.
Daß wir in solchen Dingen mehr schaulustig als kritisch siud, liegt offenbar
in unsrer Natur: die Schaulust erklärt sich von selbst, und das Fehlen jedes
Wunsches, zu richten, führen wir auf die Achtung zurück, die wir vor allem
haben, was mit den Gefühlen unsrer Mitmenschen zusammenhängt. Was aber
die Herren mit den breitkrempigen Hüten und den langen schwarzen engan¬
liegenden Röcken anlangt, so wissen wir allerdings nicht, wie wir als Katholik
über sie urteilen würden, aber in unsrer Eigenschaft als Protestant müßten
wir mit Blindheit geschlagen sein, wenn wir in ihnen keine Feinde, Feinde
von der erbittertsten und gefährlichsten Art sähen.
Wir bilden über das, was man als Toleranz oder auf deutsch Duldung
bezeichnet, unsre eigne Ansicht, die ein solches ausnahmsweise gütliches Ge¬
schehnissen von etwas, was eigentlich gegen die Regel ist, in striktester Weise
auf den Staat und zwar dahin beschränkt, daß dieser von Duldung sprechen
kann, wenn er neben der Staatsreligion, die die Regel ist, anch andre
Religionsübungen zuläßt. Der Privatmann dagegen hat die religiösen Ge¬
fühle und Riten Andersgläubiger überhaupt nicht zu dulden, sondern er hat
sie zu achten. Mail duldet etwas, was mau unter Umstünden verbieten könnte:
unsrer Ansicht nach steht aber dem Einzelnen eine Kritik oder gar ein Ver-
bietungsrccht bezüglich des Glaubens, zu dem sich sein Uebermensch bekennt,
schlechterdings nicht zu: er befaßt sich mit ungelegten Eiern, wenn er durch
einen Tadel der Glaubensfreiheit irgend jemandes zu nahe tritt. Daß wir einem
Mormonen zwar die Hand zum Gruß, aber nicht unsre Tochter zur Frau
geben würden, hat weniger mit der Duldung des Mormonentums als mit der
vielleicht irrigen, aber bei uns nun einmal vorhandnen Überzeugung zu thun,
daß Vielweiberei für die Frauen sehr ungemütlich sein muß.
Beim Staate, das geben wir, wie gesagt, zu, ist von einer Duldung der
der Staatsreligion nicht angehörenden religiösen Genossenschaften die Rede.
Der protestantische Staat duldet katholischen, der katholische Staat duldet
protestantischen Gottesdienst.
Es liegt nicht in dein Wesen des christlichen Bekenntnisses, sich in welt¬
liche Dinge einzumischen, sie so oder so gestalten zu Wollen. Der protestan-
tische Staat, obwohl er Duldung übt und Ausnahmen von dem zuläßt,
was er aus irgend welchen mitunter mehr politischen als religiösen Gründen
zur Regel gemacht hat, bekümmert sich um das Bekenntnis der Anders¬
gläubigen nicht, solange sie sich, wie alle übrige» Unterthanen, dein Gesetz
und der Landessitte fügen. Wenn es andrerseits in einem katholischen Lande
üblich ist, vor der über die Straße weggetragnen Hostie den Hut abzunehmen,
so hat das der Protestant ebensogut zu thun wie der Katholik, und die stolze
Redensart, daß man sich nicht an einem Götzendienste beteiligen wolle, ist hier
nicht am Platze. Wenn man ein so empfindliches Gewissen hat, daß man der
Landessitte ein solches Opfer der eignen Überzeugung nicht bringen mag, so
thut man besser, aufzupacken und sich in ein Land zu begeben, wo die eigne
Religion auch die des Staates ist. In derselben Weise hat sich in einem
protestantischen Lande der Katholik dem Landesgesetz und der Landessitte zu
fügen. So gern wir dem Katholiken die üppige Pracht seines Kultus lassen,
so wenig es uns verschlagen würde, wenn katholische Prozessionen durch die
Straßen zögen, so unmöglich es uns wäre, einem Katholiken gegenüber über
den Papst, die Messe, den Marienglauben oder die Heiligenverehrung unehr¬
erbietige, sarkastische Bemerkungen zu machen, so fern es uns liegt, über
Katholiken zu jubeln, die zum protestantischen Glauben übertreten, so fest sind
Nur andrerseits überzeugt, daß der dem Pharisäer erteilte Bescheid: Gebt dem
Kaiser, was des Kaisers ist, keine, auch nicht die geringste Ausnahme erleiden
darf. Das Reich Gottes ist unermeßlich genug, und seine Anforderungen sind,
obwohl sie ein leichtes Joch vorstellen, umfassend genng, daß niemand, dem
es im Ernst darum zu thun ist, Gott zu geben, was Gottes ist, mit seinem
guten Willen in Verlegenheit zu sein und sich für verpflichtet zu halten
braucht, den Staat nach seiner Idee vom Reiche Gottes umzumodeln und zu
reorganisieren.
Die römisch-katholische Kirche ist in dieser Beziehung mit ihren Lehren,
mit ihren Ansprüchen, mit ihrer Handlungsweise eine chronische, durch Herrsch¬
sucht und weltliche Rücksichten hervorgerufne Anomalie. Das muß, unbeschadet
des Umstandes, daß wir ihr in Glaubenssachen nichts vorzuschreiben und viel¬
mehr ihre Überzeugung, wie die jeder andern Religionsgemeinschaft, die es
ehrlich meint, zu achten haben, immer von neuem gesagt und danach muß auch
immer von neuem gehandelt werden. Die maßlose Vermessenheit, mit der die
römisch-katholische Kirche das ihr zu unbeschränkter Verfügung stehende geistige
und geistliche Gebiet verlassen hat, um dem Kaiser zu nehmen, was des Kaisers
ist, würde nicht so um sich gegriffen und eine so bedenkliche Ausdehnung ge¬
wonnen haben, wenn Katholiken und Protestanten die in ihrem Wesen grund-
verschiednen Gebiete der weltlichen Macht des Kaisers und der geistigen Führung
der Kirche besser zu scheiden verstünden.
Das Rechte und Wahre ist einmal, ein einziges mal höchsten Orts gesagt
worden, als Kaiser Wilhelm l. den Papst darauf aufmerksam machte, daß ihm
Protestanten gegenüber keine Jurisdiktion, keine Autorität zustehe, daß ihm
auch, was die Hauptsache ist, Protestanten gegenüber keine Verantwortung ob¬
liege. Der damals eiugeschlagne rechte Weg ist inzwischen wieder verlassen
worden: für alle die, die den Reichskanzler damals im Stiche gelassen haben,
als ein einigermaßen abgeschwächtes Kanossa in Frage kam, bleibt das ein
steter schwerer Vorwurf, und wir find überzeugt, daß sich die damals zu Tage
getretne deutsche Schwäche in der Zukunft noch empfindlicher rächen wird, als
es schon geschehn ist und heutigentags geschieht.
Damit, daß dem Papst und der römisch-katholischen Kirche verboten und
verwehrt würde — verboten und verwehrt sind die einzig rechten Ausdrücke —,
sich in Dinge zu mischen, über die von Rechts wegen niemand anders zu be-
finden hat als die deutsche Regierung, und damit, daß jeder vom Papste ge¬
machte Versuch, sich auch Protestanten gegenüber wie der Kauf als Beherrscher
aller Gläubigen zu besahen, auf das bestimmteste zurückgewiesen würde, könnte
der Natur der Sache nach einer Gemeinschaft, die es nur mit dem Glauben
und der Gottesverehrung zu thun hätte, nicht zu nahe getreten, sie könnte
damit in ihren Rechten nicht benachteiligt oder beschränkt werden. Aber das
sind, wenn es sich um die römisch-katholische Kirche handelt, eitel Worte und
leere Redensarten, dn sie schon seit Jahrhunderten aufgehört hat, eine religiöse
Gemeinschaft zu sein, und statt dessen eine halb geistliche, halb weltliche Macht
geworden ist, die nur da mit andern Regierungen in Frieden lebt, wo sich diese
ihren Ansprüchen und Forderungen willenlos unterwerfen. Das Königreich
beider Sizilien, Spanien und Portugal sind Beispiele einer solchen willenlosen
Unterwerfung gewesen, und es ist schwerlich ein Zufall, daß sie trotz allem,
was ihnen die Gunst des Klimas, die Fruchtbarkeit des Bodens und die natür¬
liche Anstelligkeit der Bewohner an die Hand gegeben haben, von weniger
bevorzugten Staaten weit überholt worden sind. Die römisch-katholische Kirche
steht infolge ihrer geistlichen wie weltlichen Ansprüche jedem modernen Staats-
wesen, sei es in latenter, sei es in offner Feindschaft gegenüber, und die Be¬
kämpfung ihrer Eingriffe ist die erste, wenn mich nicht immer am leichtesten
erfüllbare Pflicht jedes Staatsmanns, dem es um den geistigen Fortschritt und
die Gewissensfreiheit der seiner Fürsorge anvertrauten Gemeinschaft zu thun
ist. Wir sind über die Stellung, die sich die römisch-katholische Kirche anmaßt,
nicht überrascht, denn es liegt in der Natur des Menschen, daß er, wenn er
von keiner Seite im Zaume gehalten wird, seiner Herrsch- und Habsucht, seinem
Drang zu dominieren und zu tyrannisieren die Zügel schießen läßt; Nur em¬
pfinden deshalb auch gegen die römisch-katholische Kirche keinen fanatischen
Haß, aber für eine gefährliche Feindin des Deutschen Reichs und der pro¬
testantischen Denkfreiheit sehen wir sie doch an, und jede Maßregel, die von
der Regierung in der Absicht getroffen wird, den Übergriffen Roms zu be¬
gegnen, hat unsern herzlichsten Beifall. Den würde aber, das beeilen wir uns
hinzuzufügen, keine Maßregel haben, die darauf berechnet wäre oder wider Er¬
warten den Erfolg hätte, die deutschen Katholiken irgendwie in ihrer Gewissens¬
freiheit zu beeinträchtigen. Da z. B. die Ehe nach katholischem Dogma als
Sakrament nnter die Zahl der Institutionen gehört, für die der Kirche die
Feststellung und Handhabung der leitenden Grundsätze zusteht, so wüßten wir
nicht, welche Einwendung von Staats wegen gemacht werden konnte, wenn
die römisch-katholische Kirche ganz allgemein den Grundsatz aufstellte, daß die
Ehen von Katholiken mit Andersgläubigen, mit Ketzern, wie man sich aus¬
zudrücken beliebt, »ngiltig seien. Solange sich die ihrer geistlichen Fürsorge
anvertrauten Seelen dabei beruhigen und keine Mischehen einzugehn begehren,
liegt die Frage ganz auf kirchlichem Gebiet, und der Staat hat davon keinerlei
Notiz zu nehmen. Wenn aber, wie dies ja überaus häufig der Fall ist,
Katholiken den Wunsch der Kirche, keinen ihrer Angehörigen einen Ehebund
mit einem Andersgläubigen eingehn zu scheu, unbeachtet lassen, so kommt der
eine oder der andre nicht römisch-katholische Staat in die Lage zu sagen, welche
gesetzlichen Bestinunnngen für eine Ehe dieser Art maßgebend sein sollen, und
der römisch-katholische Geistliche, der sich beikommen ließe, einer solchen Be¬
stimmung zuwiderzuhandeln, würde offenbar mit Recht der für deu jedesmaligen
Fall vorgesehenen Strafbestimmung verfallen.
Es handelt sich, wenn von der Abwehr unberechtigter römischer Ansprüche
die Rede ist, nicht um einen Gegner, dessen gewaltiges Rüstzeug irgend jemand,
der Augen im Kopfe hat, unterschätzen konnte. In dreierlei Beziehung hat
Rom freilich im Laufe der Jahrhunderte schwere Einbuße erlitten: es verfügt
nicht mehr, wie früher, überall, sondern nur in den wenigsten Staaten über
den weltlichen Arm, wenn es gilt, Unbotmäßigkeit oder Ketzerei zu strafen;
seine Hilfsquellen sind in jeder Weise sehr zurückgegangen, weil die von ihm
angebotne geistliche Ware, wie Ablaß, Totenmessen, Jndulgenzen, Dispense
und dergleichen, wenig Abnahme findet, und die Zahl der an die wohlthätige
Wirkung von Wallfahrten, frommen Stiftungen und Klostergelübden glaubenden
Katholiken hat, namentlich unter den wohlhabenden Klassen mancher Länder,
sehr abgenommen; aber die Unwissenheit und die Gedankenlosigkeit der Massen,
ihre Freude an Zeichen und Wundern, die in der protestantischen Kirche leer
ausgeht, sind das mächtige Bollwerk, hinter dein der Papst und die römisch¬
katholische Kirche verschanzt liegen, und hinter dem sie im Laufe der Zeit nur
von einer Macht erreicht werden können, der sie sicher auch erliegen werden,
von der strafenden Hand der sich langsam Bahn brechenden Wahrheit. Einen
Sieg auf diesem Gebiete haben wir, wie die Massen nnn einmal beschaffen sind,
noch auf ein Jahrhundert hinaus kaum zu erwarten. Alles, was wir zu erreichen
vermögen, ist, daß wir kleine taktische Vorteile über deu gewaltigen, in der
Wahl seiner Mittel mit Rücksicht auf die Heiligkeit des Zwecks unbeschränkten
Gegner erringen, und gerade hierbei steht uns seine schwarze Kerntruppe „der
Orden" gegenüber, wohlgeübtes, vorzüglich diszipliniertes, mit jeder Jndianer-
list vertrautes „allernützlichstes" Volk.
Wenn man sieht, wie schlau sie es anzufangen wissen, wie sie, der talent¬
vollsten Katze an UnHörbarkeit, Flinkheit und Sprungsicherheit gleich, alle
Mauselöcher zugleich bewachen und keins vernachlässigen, müßte man sie
eigentlich aufrichtig bewundern, nnr daß es freilich nicht das Reich des Lichtes
und der Wahrheit ist, in dessen Dienst sie stehn, und für dessen Förderung
sie bemüht sind.
Daß sie eigens zum Zwecke der Ausrottung alles dessen ins Leben ge¬
rufen sind, was der Ausbreitung der geistlichen und weltlichen Macht des
Papstes und der römisch-katholischen Kirche im Wege steht, daß ihnen grund¬
sätzlich zur Erreichung dieses Zweckes alle Mittel gut siud, daraus machen sie
selbst kein Hehl. Wer auch nnr einzelne Schriften ihrer ersten Kapazitäten
gelesen hat, kann darüber nicht im Zweifel sein. Weniger bekannt sind die
persönlichen Leistungen des Einzelnen: „vor mir Nacht und nach mir Tag,
daß mich niemand sehen mag." In den wenigen Fällen, wo uns die merk¬
würdigsten Verkettungen von Umständen Einblick in das gewährt haben, was
von Jesuiten zur Erreichung eines bestimmten Zwecks auf Umwegen geleistet
worden war, konnten wir nicht anders als staunen über die dabei entwickelte,
auch die unscheinbarsten Mittel und Werkzeuge nicht verachtende, geradezu un¬
heimliche Schlauheit: es lief alles auf erstaunliche Menschenkenntnis und auf
Berechnungen hinaus, deren Ergebnisse sie nach Jahren wie die reifen Früchte
vom Baum abernteten. Man kann getrost sagen — und vieles in dieses
Kapitel gehörende ist dem größern Publikum uoch unbekannt —, daß sie vom
Beginn des siebzehnten Jahrhunderts nu als Beichtväter der Fürsten oder als
Vertraute dieser Beichtväter die Politik der meisten maßgebenden europäischen
Kabinette geleitet und damit für Rom immer nur dann Fiasko gemacht haben,
wenn ihnen Männer gegenübertraten, die wie Gustav Adolf, Karl XII., Peter
der Große, Friedrich der Große und schließlich der erste Napoleon nicht unter
ihrem Einflüsse standen und ihnen an Energie, Schlagfertigkeit und politischem
Blick gewachsen waren.
Man möchte staunen, wie so ausgesprochnen und gefährlichen Partei¬
gängern gegenüber Leute, die es mit Deutschland gut meinen, von Recht und
Billigkeit sprechen können, als ob es im Felde auf fein abgewogne staatsrecht¬
liche Diskriminationen und nicht vielmehr einzig und allein darauf ankäme,
sich einen gefährlichen Gegner mit allen einem zu Gebote stehenden Mitteln
vom Leibe zu halten und ihn womöglich niederzuwerfen. Es kann doch, um
hier von andern Staaten nicht zu reden, für niemand ein Zweifel darüber
bestehn, daß in dem zwischen dem Deutschen Reiche und dein Vatikan ge¬
führten Kampfe entweder die geistige Freiheit und die Einigkeit Deutschlands
oder die päpstlichen Ansprüche auf die geistliche Oberherrschaft über den ge¬
samten ungeteilten Erdkreis unterliegen müssen. Die anmutigen Formen, nnter
denen man den Umstand, daß ein solcher Kampf thatsächlich geführt wird, bald
hier bald da zu verschleiern sucht, werden doch niemand irreführen. Gegen
den Papst als weltlichen Herrscher innerhalb der seiner Souveränität durch
das Königreich Italien gezognen Grenzen hat ja keiner der konservativ regierten
europäischen Staaten etwas einzuwenden, und ebensowenig dürfte irgend jemand,
der den Verhältnissen Rechnung zu tragen weiß, an der Persönlichkeit des wür¬
digen, nur an den auf ihn gekommnen Traditionen festhaltenden, sich ohne
Fanatismus oder Beschränktheit den Verhältnissen und seiner Umgebung an-
beqnemeudeu alten Herrn etwas auszusetzen haben. Deshalb sind ja auch die
gewinnenden und entgegenkommenden Formen, deren man sich ihm gegenüber
allseitig befleißigt, ganz am Platze; nnr unsre Wachsamkeit dürfen sie nicht
einschläfern, und über die thatsächliche Fortdauer des Kriegs dürfen sie uns
nicht täuschen. Täuschungen dieser Art müßten, sollten wir meinen, auch um-
somehr ausgeschlossen sein, als wir ja das Zentrum, die Polen und die Elsaß-
Lothriuger Geistlichkeit haben, die genügen würden, uns an deu bestehenden
Krieg zu erinnern, wenn uns dieses Memento nicht ohnehin durch Bullen,
Breves, bischöfliche Erlasse, Katholikentage und die ultramontane Presse in
Buch- und periodischer Schriftform täglich auf das deutlichste erteilt würde.
Bedräugt ist der Gegner allerdings durch die peinliche Situation in Rom
und durch die oben erwähnte stetige Abnahme der Hilfsquellen, die sich uach
der Meinung derer, die etwas davon verstehn, von Jahr zu Jahr fühlbarer
machen dürfte; aber geduckt oder gedemütigt ist er deswegen noch lange nicht.
Seine mit der Oberhoheit katholischer wie nichtkatholischer Staaten unverein¬
barer Ansprüche macht er lauter geltend als je, und je mehr persönliche Hoch¬
achtung der Vertreter des Systems wegen seines ehrwürdigen Alters und
wegen seiner Geistes- und Charaktereigenschaften mit Recht genießt, um so
unbedenklicher strecken sich der Arm und die Hand der alleinseligmachenden
Kirche ans, um alles, wessen sie habhaft werden können, einzustreichen und
in den Sack zu stecken.
Und den gegenwärtigen für Deutschland so mißlichen Augenblick, wo es
von Tschechen, Polen und Slawen, von Franzosen und Russen bedroht wird,
wo sich die römisch-katholische Kirche jedem dieser auf eine Gelegenheit lauernden
Gegner Deutschlands freudig als Bundesgenossin anbietet, und wo uns traurige
Verhältnisse und neben der Verblendung der Presse die Gefühle weiter Volks¬
kreise unsern natürlichsten Beistand, England, entfremden, sollte man unkluger¬
weise dazu benutzen, die listigen Kundschafter und erprobten Kerntruppcn des
Feindes, denen wir vorsichtigerweise den Weg über die Grenze gewiesen hatten,
wieder ins Land hereinzulassen? Das ist doch, wenn es uns nicht geradezu
darum zu thun ist, der Welt ein neues Beispiel des: Mkin xsrclors vult asu-z
xi'ius äsinontat zu geben, kaum möglich. Auch der einfältigste Bauer bewill¬
kommnet doch einen anerkannten und ausgesprochnen persönlichen Feind nicht
in seinen vier Pfühlen, sondern schließt, wenn er ihn kommen sieht, die Thür
zu und atmet nicht eher wieder frei auf, als nachdem er ihn um die Ecke hat
biegen sehen. Soll denn mit einemmale das, was im Leben des Einzelnen
für klug und für geboten gilt, keine Anwendung auf die Verhältnisse des
Staats und der Gemeinde leiden? Der General, als er sagte: Link, sunt,
mit, non sint, wußte recht wohl, wie die Sachen lagen. Wer sich einen Teckel
hält, will, daß er den Dachs jage. Schoßteckel sind die Jesuiten nicht und
können sie uicht werden, wenn sie nicht aus der Art schlagen sollen. Immer
mag Herr Grimbart seinen bedrohten Ban, sein bedrohtes Leben und seine
bedrohte Familie nicht mit Erfolg schützen können, aber so dumm, deu Teckel
selbst höflich hereinznkomplimeutieren, weil in einem konstitutionellen Baue
jedermann gleichen Zutritt haben müsse, ist er doch nicht, und mit scharfem
Gebiß und scharfen Klanen gelingt es ihm doch ab und zu, sich des Angreifers
zu erwehren und sich den Hausfrieden für ein paar weitere Tage zu sichern.
Wer an Jesuiten glaubt, die dem Protestanten und dem Protestantismus
nicht zu Leibe gehn, glaubt an Füchse, die sich mit appetitlichen jungen Hühnern
spazierenderweise ergehn und sie nach der Promenade wohlbehalten und mit
frommen Lehren versehen der Mutter Henne wieder zuführen. Der dem Pro¬
testanten nicht auflauernde Jesuit ist eine cont,r-M<ze,lo in. u,Hoc,to: die Jesuiten
wieder aufnehmen hieße deshalb eine schlimmere Thorheit begehn als die, deren
man sich in Troja schuldig machte, als man die Mauer niederlegte, um das
waffenklirrende Geschenk der Denner vertrauensselig in die Stadt zieh» zu
können.
inter, Jabot und Zopf werden von unsrer nicht schöner, aber, wie
sie überzeugt ist, weit klüger gewordnen Generation nicht bloß als
etwas veraltetes belächelt, was ja »ur in der Ordnung wäre, sondern
es haftet ihnen auch insofern etwas verdächtiges an, als man, wenn
von dergleichen die Rede ist, gleich einen leichten Wildbretgeschmack
!von Hosintriguen und Kalbschen Perfidien zu verspüre» vermeint.
Zu einer Ansicht darüber, ob das achtzehnte Jahrhundert wirklich um so viel
schlechter war als das neunzehnte, sind wir noch nicht recht gekommen. Liebens¬
würdiger, höflicher und geistreicher würde, wenn man nach den ans uus gekommnen
Briefwechseln und Denkwürdigkeiten gehn dürfte, die gebildete Menschheit im acht¬
zehnten Jahrhundert wohl gewesen sein. Aber der Schluß vom einzelnen Spezimen
auf die Gesamtheit hat immer etwas gewagtes, und dann sind ja Liebenswürdig¬
keit, geistreiches und höfliches Wesen schließlich doch nur eine Seite des Menschen.
Wir möchten deshalb die beiden Generationen nicht so ohne weiteres gegeneinander
abwägen; wir möchten vielmehr den Leser von einem Überbleibsel, einem remn-me
jeuer alten Zeiten unterhalten, von einem Überbleibsel, das noch in mehr als einer
weiblichen Existenz eine gewisse Rolle spielt, von einem Überbleibsel, das, wie die
Regionen, denen es entstammt, prächtig, würdevoll und nur fürs Auge, nicht für
den praktischen Nutzen ist, von der Schleppe.
Wir meinen damit nicht die Verlängerung der Damenrobe, die sich nnter Um¬
ständen im Salon sehr malerisch aufnimmt, außer dem Hause aber ihre Trägerin
wider ihren Willen zur Straßenkehrcrin macht, sondern wir meinen den mAntsau,
die Hosschleppe, über die wir rasch noch ein paar Worte sagen möchten, ehe sie dem
Puder, den Schönheitspflästerchen und den Reifröcken ins Grab folgt.
Halbtot ist sie ohnehin schon. Nur an fürstlichen Höfen fristet sie noch ein
bisweilen recht kümmerliches Dasein. Da es über dergleichen keine statistischen
Tabellen giebt, so ist uns nicht bekannt, ob sie an allen Höfen ein Teil der den
Damen vorgeschriebnen Galakleidung ist, an der Mehrzahl der Residenzen ist sie
es noch. Wie lange sie es bleiben wird, dürfte schwer zu sagen sein: solche Dinge
halten sich bisweilen länger, als man glauben sollte, und in Vuckinghampnlaee
hatte z. B. das Kavaliershofkleid den längst nicht mehr nötigen Hnarbentel noch
vor ganz kurzem nicht abgestreift.
Die Kleidung höfisch lebender Damen hatte jahrhundertelang aus einem Rock
und einem vorn offnen Überkleid bestanden, meist in der Weise, daß das aus
schwerem, prächtigem Stoff gefertigte, oft gestickte oder mit Steinen besetzte, mit
Pelz verbrämte oder gefütterte Überkleid laug auf der Erde hinschleppte, während
der Rock, freilich ebenfalls oft gestickt und, wie mau sich ausdruckte, mit einem
üoviint oder tabüor versehen, gewissermaßen einen sehr präscntabeln und reichen
Unterrock vorstellte. Mit den sogenannten Paniers und den gerafften Röcken war
unter Ludwig XV. alles das in Unordnung gekommen, denn da die gerafften Rocke
schon das Übcrkleid vorstellten, so war eine Schleppe in der frühern Form un¬
möglich, und es kamen an ihrer Statt die sogenannten Watteanfnlten auf, die, vom
obern Ausschnitt des Kleides über den Rücken hinabreicheud, jede beliebige Schlcppcn-
lnnge erlnnbten. Die Schleppe erhielt sich dann für Galn bei Hof über die Zeit
Ludwigs XVI., des Directoire und des ersten Kaiserreichs weg als die vorgeschriebue
zeremonielle Damentracht, und sie ist trotz aller Modewandlungen auch bis auf
uns gekommen, freilich zum Teil in einer Gestalt, die mehr lächelndes Mitleid als
staunende Bewundrung erregt.
Kaiserinnen, Königinnen, Herzoginnen und andre souveräne Damen haben die
ursprüngliche Idee des Überkleids, des unmwan, beibehalten können, weil es ihre
Verhältnisse erlaubten. Wir glauben nicht zu irren, wenn wir berichten, daß die
Krönungsschleppe der Kaiserin von Rußland während der weniger feierlichen
Momente der Zeremonie von sechs Pagen getragen wird, während für den Glanz¬
punkt der Funktion Fürstinnen zur Ausübung dieses Ehrenamts kaum gut genng
sind. Man kann sich also denken, daß die Schleppe, die in solchen Fällen der
Regel nach mit dem Kleiderleib von gleichem Stoffe hergestellt wird, entsprechend
kostbar, mit Gold gestickt und mit Hermelin gefüttert ist. Sonst reichen für das
Amt des Schleppetragens bei souveränen Damen zwei Pagen aus, Prinzessinnen
begnügen sich sogar mit einem Pagen, und demnnerachtet hat das Künstlerauge
doch seine Freude an den beiden in schöner Harmonie hintereinander herschreitenden
Figuren. Das heißt, wenn sie in Harmonie hintereinander herschreiten, was leider
nicht immer der Fall ist. Denn es giebt fürstliche Damen, die sich leider nicht
der für den Schleppenträger wünschenswerten stetig wallenden Gangart befleißigen,
sondern wie Bekassinen in unerwarteter Weise plötzlich einfallen, dann wieder fort¬
schwirren, nach rechts und nach links Haken schlagen und dadurch den unglücklichen
Schleppenträger, der ihnen bald zu nahe auf den Leib rückt, bald thuen eine un¬
beabsichtigte scharfe Parade giebt, in große Not bringen. Die Pagen, denen früher
— das ist uns aus zuverlässigster Quelle bekannt — die Weißen Kniehosen feucht
angezogen wurden, damit sie besser saßen, und denen man Chokolade zu trinken
gab, „damit sie sich bei dem Trocknnngsprozeß nicht erkälteten," wissen aus Er¬
fahrung oder vom Hörensagen, wer von den hohen Damen schwer und wer leicht
zu handhaben ist, und wie auch sonst in der Welt werden die schwierigsten Ge¬
spanne den geschicktesten Kutschern anvertraut. Es ist uns aus längst vergangner
Zeit namentlich eine sehr vornehme ältere Dame erinnerlich, die in dieser Beziehung
völlig unberechenbar war, und zu der für den Schleppendienst nur die gewiegtesten
Schwalbenfäuger kommandiert werden konnten.
Sowie der Page wegfällt, treten wir in das Bereich der nicht souveränen
Schleppe, die zwar auch reich, schwer und kostbar sein kann, für deren Transport
aber die Trägerin, auch wenn sie einer Standesherrlichen Familie angehören sollte,
selbst zu sorgen hat. Das beraubt natürlich die Schleppe eines Teils ihres Nimbus,
und wenn sie eine sogenannte „reiche," das heißt echt in Gold und Silber gestickt
ist, so hat das Ding, dessen unteres Ende in schön geordnetem Faltenwurf auf dem
linken Arm getragen wird, ein ganz leidliches Gewicht.
Wenn die Ursagen des Oberhofmarschallamts die Weisung enthalten, daß die
Herren in Uniform und die Damen su aunecs-u zu erscheinen haben, so giebt es
für die bei Hof vorgestellten Damen nur zwei Möglichkeiten: entweder wirklich,
wie ihnen befohlen ist, ein nnmwim zu erscheinen, oder in Ermanglung eines solchen
wegzubleiben und sogenanntes „Schleppenfieber" zu bekommen, ein Unwohlsein,
das nur ein paar Stunden dauert und auch von den davon benachrichtigten
Majestäten und Hoheiten nicht als eine zu Besorgnissen und teilnehmender Nach¬
frage veranlassende Gesundheitsstörung angesehen wird. Wo vier unverheiratete
Töchter im Haus sind, hat immer ein Paar von ihnen Fieber, sobald in der
Garderobe nur zwei Schleppen vorhanden sind.
Um sich eine Vorstellung davon zu machen, welche Schwierigkeit hierbei in
Frage kommt, muß man allerdings manches wissen, wovon der wohlhabende Patrizier
keine Ahnung hat. Auch in den Kreisen, wo Schleppen getragen werden, können
viele Leute nicht so hoch springen, als von ihnen erwartet wird, und als sie Wohl
möchten, und die Lebensgeschichte mehr als eiuer Schleppe würde sich, wenn sie
aufgezeichnet und veröffentlicht würde, kläglich gemig aufnehmen. Bei der gewöhn¬
lichen Wald- und Wiesenhofschleppe ist der Gedanke des reichen prächtigen Überkleids
im Laufe der Jahre verloren gegangen, und es giebt viel hundert, ja vielleicht
viel tausend Schleppen, die ihrem stattlichen Prototyp kaum mehr entsprechen als
der Mensch seinem göttlichen Urbilds.
Es giebt eine Zwischensorte von Galakleidung, die von vorsichtigen und in
die Zukunft schauenden Hausfrauen gern gewählt wird, und gegen die auch die
strengste Kritik nichts andres einwenden kann, als daß sie etwas eintönig ist und
der ursprünglichen Idee des reichen Überkleids nicht entspricht. Das sind die so¬
genannten All «vors. Man läßt sich, wenn man sich für den »II over entscheidet,
Kleiderleib, Rock und Schleppe aus demselben Stoffe machen, was für spätere
Variationen sehr praktisch ist, einem namentlich aber beim Schlußakt sehr zu statten
kommt, wenn Rock und Schleppe, nach langer Dienstzeit dunkelgrün oder dunkelrot
gefärbt, ihre reichen Metergehalte zu ein paar stattlichen — Bettdecken vereinen.
Wir habe» bisher nur von der Blüte, dem Hub der Schleppen gesprochen;
es giebt unter ihnen aber auch problematische Existenzen, deren Hauptzüge man
kennen muß, wenn man sich von der Institution als Ganzem ein rechtes Bild
machen will. Auch in diesem Bilde fehlt es neben dein Lichte nicht an vielfältigem
Schatten.
In erster Reihe rangiert hier „meine Schleppe" dann, wenn es allen Freunden
und Verwandten bekannt ist, daß in dem betreffenden Falle diese notwendige deko¬
rative Ergänzung einer jeden bei Hof vorgestellten Dame nichts ist als eine —
Fiktion. „Meine Schleppe" hat in solchen Fällen sogar gewöhnlich eine Farbe,
nämlich die der toten Schleppe, wir waren im Begriff zu sagen der verblichnen,
während bei der Schleppe ein neues Avatar eintritt, das Aufgefärbte, Zerlegte
und Umgearbeitet sein. Pietät giebt es einer gewesenen Schleppe gegenüber nicht:
wenn man sie schwarz gefärbt als Kleid auf dem Leibe trägt, spricht man doch
»och geläufig von seiner rosa Schleppe, die man neu ausputzen lassen will. Es
ist für Freunde und Verwandte nicht Sitte, hier der Wahrheit mit rauher Hand
'ins den Grund zu gehn. Wenn wir sagen, nur haben eine rosa Schleppe, so ge¬
hört es zum guten Ton, daß uns das geglaubt wird, und daß niemand, wie der
ungläubige Thomas, sehen und fühlen will. Jedermann begreift anch leicht, daß
in den Regionen, wo dergleichen öfter vorkommt, Schleppen ans glattem und nicht
aus gemusterten Stoff hergestellt werden; das Muster könnte, wenn etwas auf¬
fällig, wie z. B. wenn es eine Löwenjagd oder eine Sauhatz vorstellte, leicht zum
Verräter werden. Die Eigentümerin einer fiktiven Schleppe schmückt den Hofkreis
nur in Fällen, wo die Damen nicht ein wimtöÄU erscheinen; in allen andern Fällen
hat sie chronisches Schleppenfieber.
Der fiktiven Schleppe kommt das sogenannte Handtuch am nächsten. Es gehört
zu der weitverbreiteten Kategorie der Schleppen, die dem Herkommen und jeder
künstlerischen Auffassung zuwider in Farbe und Stoff uicht zum Kleiderleibe passen
und nach Art von Schürzen, nnr vxxosit« „umgebunden" werden. Das „Hand¬
tuch" entspricht dem Buchstaben des Gesetzes, nicht dessen Geist; es kann — solche
Fälle sollen dagewesen sein — aus einer einzigen schmalen „Bahn" bestehn, und
es erinnert dann an die Damen der Höfe von Hampton Court, Aranjuez und
Ferrara, wie sie uus auf kleinen Provinzialbühnen vorgeführt werden. Das
„Handtuch" ist von beliebiger Farbe und hat, wie historische Karpfen, kein nachweis¬
liches Alter: es wird als Passierzeichen behandelt, und einige Exemplare davon
stehn in dem Rufe, schönere Tage als Vorhänge in bemittelten Häusern gesehen
zu haben.
Wer bei Hofe alles mitmachen will, Lust und Schmerz, muß ein buntes und
ein schwarzes „Handtuch" haben; aber die schwarze Gattung ist selten; der Hof
schwindet bei Gelegenheiten, wo das schwarze Handtuch die Signatur ist, zu einem
kleinen festen verhuzelten Kern zusammen, res act rriarios recule. Was mögen diese
bewährten schwarzen Handtücher in aufeinander folgenden Generationen alles erlebt
haben!
Es giebt auch die historische, selbstverständlich bunte Schleppe, Diese können
sich nur geistreiche und vermögende, über jedem Vorurteil stehende Frauen „leisten,"
Damen, denen es gleichgiltig ist, was der Schwarm von ihnen und von ihrer
Schleppe sagt. Es wird in solchen Fällen von der guten Sperberfels ihrer histo¬
rischen Schleppe wie von deren Haus oder deren Gut als von etwas der Ver-
cindrung nicht nnterworfnem gesprochen: jedermann weiß, wie sie aussieht, was
sie gekostet und was für Wandlungen sie durchgemacht hat; wenn das kostbare
Schaustück eines schönen Tags bei einer der Töchter in Form eines Mantels zum
Vorschein kommt, so heißt es: Wissen Sie schon, die gute Sperberfels geht nicht
mehr an Hof: sie hat Konstanzer aus ihrer Schleppe einen Mantel machen lassen.
Die allgemeine Überzeugung, daß keine Macht der Erde die gute Sperberfels ver¬
mögen könnte, sich eine neue Schleppe zu kaufen, steht ebenso fest, wie daß der
Mond zu- und abnimmt.
Unzureichend, aber nicht in der Richtung der Breite, sondern in der der Länge
ist auch die sogenannte Strippenschleppe. Man sieht leicht ein, daß eine Schleppe
eine gewisse Länge haben muß. Sie muß vom Gürtel bis auf die Erde reichen
und dann noch lang genug sein, daß sie in anmutigen Falten wieder aufgenommen
und mit ihrem untern Ende über den linken Arm „geworfen" werden kann: „ge¬
worfen" ist der in den höchsten Kreisen für diese letzte schwierige Manipulation all¬
gemein angenommne, obwohl nicht ganz bezeichnende Kunstausdruck. Auch wenn
das untere Ende über den linken Arm „geworfen" worden ist, muß man noch immer
den Eindruck hinlänglich vorhandnen, nicht gesparten Stoffes haben. Diesen Eindruck
gewährt um freilich die Strippenschleppe nicht. Sie ist so kurz, daß nur ein Aus¬
kunftsmittel, das Hackländcrs Artilleristen als miMWuvi'g as toroo bezeichnet haben
würden, Hilfe schaffen kann. Es werden ans der Fntterseite zwei Strippen an¬
genäht, durch die die Trägerin den Arm steckt. Auf die Weise wird etwas auf
ihrem Arm festgelegt, was an den Spiegel eines balzenden Auerhahns erinnert, und
was jeden Augenblick von neuem mit dem Fächer wieder flach und platt gedrückt
werden muß. Es giebt Eigentümerinnen von Strippenschleppen, denen die Geste
des mit dem Fächer Plattdrückens so zur andern Gewohnheit wird, daß sie sich,
auch wenn sie nicht su MÄntsan find, gewohnheitsmäßig mit dem Fächer ans den
linken Arm klopfen.
Es giebt, wie man uns versichert hat, „gewendete," „gestürzte" und „wieder-
vorgeschuhte" Schleppen: das Detail dieser Manipulationen geht leider über unser
Wissen und Verstehn. Früher wurde zu Schleppen Sammet oder schwerer ge¬
musterter Brokatstoff — Nammeldainast, wie man sich ausdrückte — gebraucht;
später schraubten sich die Ansprüche namentlich infolge der napoleonischen Segnungen
— wir meinen hier den ersten, sogenannten großen Napoleon — soweit herunter,
daß mau jeden Stoff, auch den leichtesten erlaubte, wenn es nur wenigstens Seide
war. Nur einigen „reizenden" jungen Amerikanerinnen und Engländerinnen sagte
man an einem der deutschen Höfe nach, daß sie Schleppen von „Bvomwulle" ge¬
tragen hätten, ohne daß jedoch deshalb die Wände der Empfangssäle zusammengestürzt
wären und sie samt den Echtseidnen begraben hätten.
Diese baumwollner Schleppen scheinen uns ein von der Hand der Moderne
um die zeitergranten Wände des Fürstenschlosses geschriebnes Nsno I'oKel gewesen zu
sein, und um nicht mit diesem Mißtöne zu schließen, bemerken wir noch, daß es auch
geradezu ans Feenreich erinnernde Schleppen giebt. Man sieht sie an jungen Dame»,
die von der liebenden Mutter zum erstenmal vor die Stufen des Thrones geführt
werden, und Titania selbst würde sich ihrer nicht schämen. Ein unglaublich zartes
und duftiges Durcheinander von Blumen und tnlls illusion, und wenn so ein Kunst-
werk zum Schmuck eines eben aufspringenden Nosenknöspchens verwandt ist, so
bekommt sogar das Lächeln der ältern Hof- und Zutrittsdamen etwas anmutig
Jugendliches — sie denken vergangner Zeiten —, und Serenissimus beglückwünscht
schmunzelnd die mit einem Jchsetzemichdochnichthin-Komplimente zwischen Spitzen,
lo
ö>T^>>le Nachricht, daß in Heinrichshall Arbeiter angenommen würden,
brachte eine neue Unruhe in die ländliche Arbeiterschaft. Das schöne
Geld, das dort verdient wurde, lockte, und ebenso die Selbständig¬
keit der Stellung. Wenn die Schicht vorüber war, hatte einem kein
Mensch etwas zu sagen. Und wenn man sein Geld ausgebe» wollte,
!so war es nicht nötig, erst beim Herrn vom Lohne etwas „aufzu¬
nehmen" und Rede nud Antwort stehn oder gar gute Lehren einstecken zu müssen.
Der erste, der seit der neuen Ära des Werkes davon etwas zu spüren bekam, war
der Schulze Lüttje. Seit wir ihn zum letztenmal gesehen haben, hat er nicht wenig
von seinem Fette zugesetzt. Auch ist er nervös geworden. Das war kein Wunder.
Denn die schönen stillen Zeiten von früher waren vorüber. Die Scherereien mit
dem Werke und den Schachteru wollte kein Ende nehmen. Und auch die Gemeinde¬
vertretung, die sonst so willig gewesen war, war aufsässig geworden und ärgerte
den Schulzen, wo sie nur konnte. Die kleinen Leute führten das große Wort, und
die Großen, die die Steuerlast zu tragen hatten, waren eingeschüchtert, machten wohl
eine Faust in der Tasche, aber thaten das Maul immer erst hinterher auf und
ließen ihn, den Schulzen, inzwischen in der Patsche sitzen. Wie sehr hatte damals
Gevatter Mewes Recht gehabt, als er sagte: Laßt euch mit den Schachtern nicht
el», sonst kommt ihr in die Bredulje.
Des Schulze« Knecht Johann Weitling, genannt Knnvnenweidling, zum Unter¬
schiede von seinem Bruder, der bei den Husaren gedient hatte und Husarenweidling
hieß, kam immer mehr zu der Überzeugung, daß die Bauern allesamt Schinderhansen
seien, bei denen Menschen und Vieh zu Grunde gehe, daß sie alle den Geizteufel
im Leibe hätten und keinem Menschen etwas gönnten. Na ja, neunzig Thaler Lohn
und das Genannte und ein Morgen Knrtoffellcmd. Mit dem Lande sei much nicht
viel zu verdienen, wenn man für den Dünger selber aufkommen müsse, und die
Saatkartoffeln nicht auch noch dazu kriegte. Viel besser wäre es, man kriegte das
Geld bar auf den Tisch, ohne noch etwas dafür leisten zu müssen. In dieser Stim¬
mung wurde er von seiner Frau redlich gestärkt, und so kam er eines Tages zum
Schulzen in das Zimmer und sagte: Herre, was ich sagen wollte, ich wollte zum
nächste» Ersten Martinich machen.
Der Schulze verwunderte sich gewaltig. Was willst du machen? Weg¬
laufen willst du? Und jetzt, wo die Arbeit drängt? Was ist dir denn in die
Krone gestiegen?
Es paßt mir nicht.
So? es paßt dir nicht.
Und das Essen paßt mir auch nicht.
So? Das Essen paßt dir auch nicht?
Der Schulze war empört, besonders darüber, daß das Essen bei. ihm schlecht
sein sollte. Er hielt über an sich, nahm seine Bücher aus dein Sekretär und
rechnete sehr bedächtig und sehr ausführlich. Der Knecht blieb an der Thür stehn
und trat von einem Fuß auf den andern. Es wurde ihm etwas unheimlich zu
Mute. Der Schulze zählte bedächtig 15 Mark 25 Pfennige auf deu Tisch und
sagte: Da nimm dein Geld und schere dich. — Der Knecht zögerte. Länger hielt
es der Schulze nicht aus, er brach los und brüllte den Knecht an: Nimm dein
Geld. Mache, daß du vom Hofe kommst. Gleich auf der Stelle, Lump miserabler,
der du bist.
Der Kanvnenweidling erschrak, drehte sich einmal öfter um sich selbst, als es
nötig gewesen wäre, nahm sein Geld und zog ab. So hatte er sichs nicht gedacht.
Er hatte nicht gemeint, auf dem Flecke abgelohnt zu werden, sondern sich die Sache
einzurichten, wie sie ihm paßte. Und nun stand er auf der Straße mit 15 Mark
25 Pfennigen in der Hand. Ein Lumpengeld, ein Hundelvhn. Daß er das übrige
gegen des Schulzen Rat schon abgehoben und verbraucht hatte, das kam weiter
nicht in Betracht. Auch war es keine schöne Aussicht, sich mit seiner Frau, die
natürlich heulen und ihm alle Schuld zuschieben würde, auseinanderzusetzen. Er
beschloß also, das innere Gleichgewicht durch einige Schnäpse wieder herzustellen.
Das Geld dazu hatte er ja in der Hand. Hierzu begab er sich die Dorfstraße
hinab zum Kaufmann, der seine Ladenstube zu einer kleinen Schenkstube eingerichtet
hatte. Unterwegs begegnete er seinem Bruder, der, eine Pflngkarre hinter sich her¬
ziehend, vom Schmied her die Dorfstraße heraufkam. Schon von ferne ließ
Kanvnenweidling seinen Unwillen durch Handbewegungen und gemurmelte Worte
erkennen und erweckte dadurch in der Brust seines Bruders, des Husaren, jenes
pflichtmäßige Mitgefühl, das ein Glied derselben Sippe nach altdeutschem Brauche
für das andre bereit haben muß, ganz abgesehen davon, wie sich Recht und Un¬
recht verteilen. Der Hnsarenweidling ließ also, ohne nach dem Wie oder Warum
zu fragen, seine Pflngkarre auf der Straße stehn und kehrte mit seinem Bruder
um, um sich zu Schwersenzen in die Ladcnstube zu begeben. Hier setzte sich
Kanonenweidling hinter seinen Schnaps und stierte finster ins Leben hinein.
Hnsarenweidling setzte sich auch hinter seinen Schnaps und stierte gleichfalls. Darauf
hieb Kanonenweidling mit der Faust auf die Tischplatte, daß das Schnapsglas er¬
schrocken aus seinem Ringe emporsprang. Worauf auch der Hnsarenweidling auf¬
paukte, doch nicht so energisch, denn er wußte ja noch nicht, warum.
Die ganze Bauernbande soll meinetwegen der Teufel holen, rief Kanonen¬
weidling, und ich gehe in den Schacht. Heute noch! Und ich gehe heute noch in
den Schacht! Und bet jedem Satze paukte er zum Entsetzen des unschuldigen
Glases auf den Tisch, und seine brüderliche Liebe paukte mit. Jetzt endlich folgte
ein pragmatisch zurechtgeschuittner Bericht, und Hnsarenweidling zögerte nicht, in
den Zorn seines Bruders einzustimmen, den Schulzen einen ruppiger Hund und
15 Mark 25 Pfennige einen Bettellohn zu nennen, und zu sagen, daß man so einen
Bettel den Leuten vor die Füße werfen und weggehn müsse.
Als Husarenweidling, der übrigens auch eine Frau zu Hause hatte, nach einer
Stunde und genossenen zahlreichen schnapsen mit seiner Pflngkarre abzog, hatte
sich bei ihm die Überzeugung durchgerungen, daß die schlechteste aller denkbaren
Welten die sei, in der ein Mensch weniger verdiene, als er unter Umständen ver¬
dienen könne, und daß es der größte Unsinn sei, sein Jahr auszuhalten, wenn man
anderwärts gut unterkommen könne.
Im Kruge angekommen, wurde er nicht gerade mit Palmen des Friedens em¬
pfangen. Dörcher stand unter dem Überdache der Haustreppe und schalt, wo er
denn so lange geblieben sei, man habe schon eine halbe Stunde mit dem Mittag¬
essen gewartet.
Das kann andern Leuten ganz egal sein, wann ich mein Mittagessen esse, sagte
Weidling.
So? Und ich stelle mich hernach hin und wasche für Herrn Weidling extra
auf? erwiderte Dörcher,
Dabei fällt dir auch keine Perle aus der Krone. Andre Leute müssen auch
arbeiten.
So? Das ist wohl gearbeitet, wenn man am hellen Mittage bei Schwersenzen
einkehrt und Schnaps trinkt?
Das geht niemand was an, wo ich mein Geld ausgebe. Aber ihr gönnt
keinem Menschen etwas und konnt den Hals nicht Vollkriegen.
Von dem hellen Kampfestone der Stimme Doradaus angelockt kam Dvrchens
Mutter mit nassen Händen aus der Küche, und wer sonst auf dem Hofe war,
schaute aus Thüren und Fenstern heraus.
Nun seht mir so einen Menschen an, rief Dörcher in den hellsten Tönen.
Ist einem schon so etwas vorgekommen?
Menschen? Ich bin kein Mensch und lasse mich nicht Mensch schimpfen.
Weißt du das?
Und dn sollst mich nicht du nennen.
Jetzt legte sich Happich ins Mittel und beschwichtigte nach rechts und nach
links. Es lag ihm gar nichts an dem Streite, da das Ende leicht eine Katastrophe
sein konnte, und woher einen andern Knecht nehmen, wenn Husarenweidling davon¬
lief? Und so brannte denn der Streit weiter wie ein schwelendes Feuer, das aber
immer wieder aufflammte, weil es ja Streit geben sollte. Und als am Nachmittage
Weitlings Frau hinzugekommen war und ihre Zunge brauchte, kam die Katastrophe.
Das Ende war, daß Weidling seine Sachen unter den Arm nahm und davonging.
Aber auch hier war der Ausgang anders, als es sich Weidling vorgestellt hatte.
Hnppich behielt seinen Lohn zurück. Er werde sich jetzt auf des Knechtes Kosten
einen Vertreter kommen lassen. Das sei sein Recht, und Weidling könne ihn ruhig
verklagen. Weidling schimpfte, was er nur konnte, und belegte seine Dienstherr¬
schaft, bei der er es wahrlich nicht schlecht gehabt hatte, mit Schmucknnmen, unter
denen Räuberbande noch einer der mildesten war.
Als am andern Morgen die Gebrüder Weidling nach dem Schachte hinans-
wandcrten, geschah es mit der Miene der gekränkten Unschuld und der innern
Überzeugung, daß es eine Hundcwirtschaft in der Welt sei, und daß es anders
werden müsse. Sie schwuren demnach dem gesamten Kapitalismus in Bausch und
Bogen und dem Schulzen und dem Wirt im besondern Rache.
Happich kam durch den Abzug seines Knechts in große Verlegenheit. Er be¬
mühte sich, eiuen andern zu bekommen, aber seine Bemühungen waren gänzlich
vergeblich. Was irgendwie locker saß und also zu haben gewesen wäre, ging zum
Schacht, Dienste nehmen wollte niemand. Hierzu kam nun noch, dnß Fran Happich
zufolge ihrer ewig nassen Hände den Rheumatismus gekriegt hatte und in der
Oberstube im Bett lag und jammerte. So mußte also Happich die Feldarbeit
selber verrichten, und die gesamte Haus- und Gastwirtschaft fiel ans Dorchens
Schultern, was für diese offenbar zu viel war.
Hiervon hatte den Vorteil Herr Wilhelm Neigebarth in Altum. Es ist schon
angedeutet worden, daß dieser junge Mann ein Ange auf den Braunen Bären ge¬
worfen hatte, und daß auch Doraden nicht abgeneigt war, später einmal der Frage
der Verehelichung mit ihm näher zu treten. Inzwischen liebte sie ihre Frei¬
heit und hoffte, noch etwas besseres als ihn zu erwischen. So wurden also alle
Erinnerungen und zarten Andeutungen, die von Vettern und Basen oder gewerbs¬
mäßigen „Zcissern" angebracht wurden, kühl abgelehnt — wenn auch nicht endgiltig,
so doch vor der Hand. Als nun Not am Mann war, ließ Dörcher die Eberten
kommen, die eine entfernte Verwandte von Neigebarth war, und schickte sie mit der
Botschaft nach Altum, ob Wilhelm nicht ein paar Tage nach Holzweißig zur Aus¬
hilfe kommen könnte. Diese Botschaft war Honig für Wilhelm Neigebarth. So¬
gleich setzte er sich auf die Eisenbahn und fuhr nach Brnunfels, um beim Gold-
Schmied ein paar Ohrbommeln zu erhandeln, und am andern Nachmittage, denn er
durfte sich doch auch nicht zu eilig zeigen, zog er seine Radfahrerkleidnng an, setzte
seine Radfahrermütze mit dem großen Deckel auf und fuhr los. — Wilhelm Neige-
barth war mit sich zufrieden. Es war auch ein ganz proprer Mensch, freilich
etwas zu blond von Farbe und etwas zu jugendlich von Aussehen. Aber seine
Manieren, und wie er die Hände rieb und die Kunden bediente, war großartig,
er war ja auch eigentlich gelernter Kaufmann.
Wilhelm Neigebarth kam gerade zur rechten Zeit an. Kaum war er ein¬
getreten, kaum hatte er sein Rad an sicherm Ort untergebracht, kaum hatte er
seine Ohrbommeln überreicht und dafür eine Patschhand von Dörcher erhalten,
kaum hatte er sich in seinem Bierschcmk orientiert, die Gläser und die Flaschen
gerückt und ein Dutzend mal die Hände gerieben, so kam der Braunfelser Break an
mit dem Herrn Braumeister auf dem Bocke und den Herren Larisch, Bolze und
Bernhard Scholz im Kasten. Die Herren verbanden auch diesesmal dus Angenehme
mit dem Nützlichen, das Geschäft mit der Spazierfahrt.
Das Geschäft ergab sich daraus, daß Felix Wandrer sein Versprechen hielt
und seinen Arbeitern und Bergleuten ein paar Tonnen Bier zum besten gab.
Dieses Bier war vom Braumeister geliefert worden, und die geschäftliche Kulanz
forderte es, daß jemand aus der Brauerei zugegen sein mußte, wenn das Bier aus¬
getrunken wurde. Als Ort für die Festlichkeit hatte man, da im Werke selbst kein
Platz war, den Berghang gewählt, der neben Herrn von Nienhagens Kalkbrüchen
lag und mit diesen Brüchen zugleich vom Werke gepachtet worden war. Hier hatte
man aus Brettern und Pfählen eine große Zahl von Bänken und Tischen her¬
gestellt. Auch eine Ehrenpforte war errichtet, mit Bergmannsabzeichen, Lampe,
Schlägel und Hut ausgestattet und mit Grün geschmückt worden, das der Wald
hatte hergeben müssen. Die Bergleute, die gewöhnt waren, mit allen möglichen
Mitteln zu arbeiten, erwiesen sich hierbei als sehr geschickt. An der höchsten Stelle
des Platzes waren drei Wagen aufgefahren, zwei, die das Bier gebracht hatten,
und ein andrer, der mit Kisten voll von Gläsern beladen war. Am Rande des
Festplatzes hatte sich eine Bude etabliert, in der gebratne Heringe, Neunaugen und
andre schöne Dinge zu haben waren. Auch fehlte der Saucischenverkäufer aus
Braunfels mit seinem Blechkasten und seiner nicht sehr weißen Schürze nicht, ein
alter Kerl, der den Volksnamen Napoleum trug, und der sein Leiblied: „Napoleum,
du Schustergeselle" bei gegebner Gelegenheit zum besten geben mußte. Auch eine alte
Frau mit Zuckerkram und kleinen Zinnpfeifen hatte sich eingefunden, nicht wegen
der biertrinkenden Väter, sondern wegen der lieben Jngend, die doch auch zu ihrem
Rechte kommen mußte. Und sie hatte richtig spekuliert, denn lange ehe das Fest
begann, war ihr Stand von Kindern umlagert, und es erhob sich ein nerven¬
zerrüttendes Piepsen und Pfeifen in der ganzen Umgegend.
Auch Siebitsch hatte sich zum Feste wohl vorbereitet. Die Instrumente
waren angekommen, und die Musikanten unter den Bergleuten waren zusammen¬
getrommelt worden. Aber mit den Noten sah es böse aus. Was wäre auch in
der kurzen Zeit einzuüben gewesen? So beschränkte sich das musikalische Repertoire
vor der Hand auf drei Märsche, auf den Armeeinarsch Nummer 4, den alle noch
von ihren Soldatenzeiten konnten, auf den Torgauer Marsch mit dem schönen Trio:
Herr Weber hat den Käwer, und den Marsch aus Fatinitza: Du bist verrückt, mein
Kind. Diese waren fleißig eingeübt worden, und Siebitsch hatte dazu unermüdlich
teils mit der Hand, teils spielend mit der Klarinette im Munde den Takt ge¬
schlagen und genickt.
Von vier Uhr an fingen die Festgäste an, sich auf dem Platze zu sammeln.
Mau stand in Gruppen, rauchte Zigarren und schaute mit Erwartung und Be¬
friedigung auf die Tonnen Bier, die aufgelegt waren, und erfreute sich an dem
Gepfeife der Jugend. Um fünf Uhr kam die Musik durch Hvlzweißig. Die Mu¬
sikanten hatten Paradeuniform angelegt, ihre Topfhüte mit Federbüschen aufgesetzt
und trugen ihre neuen Instrumente mit großer Wichtigkeit. Halb sechs Uhr wurde
uuter den feierlichen Klängen: Herr Weber hat den Käwer angesteckt, und als jeder
sein Glas Bier vor sich hatte, fiel der erste Regentropfen. Bergleute lassen sich
nun nicht leicht von einem guten Glas Bier vertreiben, verlieren auch nicht leicht
wegen ein paar Tropfen Regen die Laune, aber diesesmal kam es doch zu arg.
Der Regen wurde immer schlimmer, der ganze Himmel bezog sich mit gleichmäßig
grauen Wolken, auf dem Böhnhardt lag ein dichter Nebel, und so entstand ein
gelinder aber gründlicher Landregen.
Die Brauufelser Herren waren kurz vor dem Regen angelangt und hatten
bei Happich ausgespannt. Der Braumeister durfte doch nicht gleich auf den Festplatz
gehn, sondern mußte erst bei Happich seine Schuldigkeit thun und etwas verzehren.
So forderte es der Geschäftsbrauch. Bolze hatte überhaupt keine Absicht, sich
um die Bergleute zu kümmern, sondern wollte eine Sitzung abhalten „zwecks Sa¬
nierung der Gesellschaft zur merkantilen Ausbeutung der toten Asse," hatte seine
Akten unter dem Arm und konnte es kaum erwarten, daß er seine einleitende Rede
los wurde. Bernhard Scholz war mit allem zufrieden, was den andern genehm
war, und was eigentlich Larisch beabsichtigte, war nicht recht klar. Larisch trug sein
breitestes Grinsen auf seinem breiten Gesichte und machte Witze und Bemerkungen,
die man ohne dieses Grinsen für Grobheiten hätten halten müssen.
Happich erschien in der Hausthür, dienerte und reichte jedem der ankommenden
freundlich lächelnd die Hand, wobei er tiefsinnige Bemerkungen über das Wetter
machte. Larisch wies die angebotne Hand schnöde zurück und sagte grinsend: Sie
Judasseele Sie, Sie infnmichter Jesuwiter. Na warten Sie, man wird Sie bei
den Schlappohren kriegen. Und dabei thut er so unschuldig und lächelt wie ein
Täubchen und dienert und reicht die Vorderflosse wie ein Seehund in der Me¬
nagerie.
Happich rückte seine Kappe und lächelte freundlich, wenn auch nicht gerade
wie ein Täubchen, dessen Lächeln übrigens naturwissenschaftlich noch nicht festgestellt
ist, und sagte: Ich freue mich, Herr Larisch, daß Sie gut bei Laune sind.
So, Sie freuen sich? Ich mich anch, denn heute wird noch Recht und
Wahrheit triumphieren, und Sie werden an Ihrem höchsten Birnbäume aufgehängt
werden. Wissen Sie das? Sie — Sie Schnapphahn.
Man trat ein. — Wer ist denn das Menschenkind dort, fragte Larisch, der
mit der verrückten Mütze und dem Schafsgesichte?
Das ist mein — das ist Herr Wilhelm Neigebarth, meiner Mutter Schwester
Enkelkind, ein Neffe von Friedrich Blumauer in Braunfels. Dem Pvrzcllanhändler in
der Grünen Gasse, Herr Larisch. Ein ordentlicher Mensch, besitzt anch zwölf Morgen
Land in Altum. Er hilft mir eben ein bischen aus, weil der Knecht durchge¬
gangen ist.
Aha, so klingen die Flöten! sagte Larisch und griff in die Brusttasche, ließ
aber stecken, was er darin hatte.
Man begab sich in den kleinen Saal und nahm an dem Tische Platz, an dem
man schon mehrmals gesessen hatte, um Sitzung zu halten und Karpfen zu essen.
Happich brachte Kaffee. Halt, rief Larisch, setzt erst dem Köter da eine Tasse von
der Sauce vor. Damit wir sicher sind, daß uns dieser Gastrat nicht wieder ver¬
giften will wie damals mit dem Weine, den er mit 55 Pfennigen eingekauft und
uns mit 3 Mark aufgehängt hat. Was sage ich Wein? Zuckerwasser mit Essig und
Spiritus war es. O Sie Hnuptgnuner!
Happich that sehr belustigt, aber sein Lachen hatte doch etwas Gezwungnes.
Draußen fing es an, ganz hübsch zu regnen. Da fuhr ein herrschaftlicher Wagen
vor. Die Kenner in der Wirtsstnbe erkannten schon von fern des Direktors Pferde
und taxierten ihren Wert. Felix Wandrer und Doktor Olbrich stiegen aus. Sie
hatte» beabsichtigt, zum Bergmannsfeste zu fahren, waren aber durch den Regen
aufgehalten worden. Sie traten also ein, um den Regen abzuwarten. Das gleiche
galt Von dem Herrn Kantor Mötefind, auf den es immer eine gewisse Anziehungs¬
kraft ausübte, wenn irgendwo Freibier verschenkt wurde, der aber, durch den Regen
abgeleitet, zum Braunen Bären statt zum Festplatze gelangt war. Auch er trat ein und
hielt sich beobachtend im Hintergrunde, bis er aufgefordert wurde, am Tische Platz
zu nehmen, was er mit etwas Muspern und Wichtigkeit that. Wandrer und Olbrich
nahmen gleichfalls Platz zur besondern Genugthuung von Leberecht Bolze. Denn
Wandrer gehörte ja zur Sozietät als Vertreter des Direktors, und Doktor Olbrich
konnte als Sachverständiger fungieren.
Draußen regnet es still weiter. Man hört Männertritte; ein paar Bergleute
schauen ins Zimmer und verschwinden wieder, da sie den Vizedirektor erblicken.
Andre kommen, und der Vorgang wiederholt sich. Nebenan im großen Saale wird
es lebendig. Immer mehr Bergleute langen an, zuletzt ergießt sich ein Strom von
Hunderten von Menschen in das Haus. Im großen Saale hatte Dörcher Wäsche
aufgehängt. Diese Wäsche wurde abgenommen und kurzerhand in den Winkel ge¬
worfen. Der große Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt, auf der Galerie, in
den Nebenräumen, auf der Flur, der Haustreppe standen und saßen sie. Jetzt wurden
Fässer in den Saal gerollt, nun erschien auch die Musik mit ihren Instrumenten.
Das war denn doch Happich äußeren Spaße. So ohne weiteres von seinem
Eigentum Besitz zu ergreifen, so etwas war doch noch nicht dagewesen. Er suchte
sich dem Strom entgegen zu stellen, traf aber gleich zu Anfang auf seinen frühern
Knecht, den Husarenweidling, und Göring, denn diese beiden edeln Seelen hatten sich
schon gefunden. Husarenweidling lachte seinen, frühern Herrn frech ins Gesicht, und
Göring, der ein „Zielbewußter" war, ließ einige Phrasen von dem souveränen,
Willen des Volkes und den Jammergestalten der Burschoasie los. Die andern
hörten gar nicht auf ihn, sondern richteten sich häuslich ein, wie sie konnten, zapften
die Fässer an, teilten die Gläser aus und setzten ihr Trinkfest fort. Als aber
Wilhelm Neigebarth versuchte, dreinzureden, sagte man zu ihm: Maul halten, du
Grünschnabel, sonst giebt es Zuschlag.
Happich rang die Hände und war außer sich. Man trank fremde Biere in
seinem Hause. Sogleich eilte er zu Wandrer und drang in ihn, daß er seinen
Leuten befehlen möchte, das Haus zu verlassen. — Ach lassen Sie nur, Happich,
erwiderte Wandrer, das machen wir morgen alles glatt. Schaden sollen Sie nicht
haben.
Aber damit war Happich nicht geholfen. Man trank fremde Biere! Sein
ganzes Inneres wollte sich dabei umwenden. An jedem Glase, das da getrunken
wurde, konnten, wenn geschickt eingeschenkt wurde, fünf Pfennige verdient werden.
Dort draußen wurden die Gläser gleich dutzendweise gefüllt und ausgetrunken, und
er hatte nichts davon. Nun wandte er sich an Göckel. Der erwiderte, er habe
an der ganzen Sache keinen Anteil; er habe das Bier an das Werk verkauft und
nun gar nichts mehr zu sagen. Er wandte sich an den Obersteiger. Auch dieser
erklärte seine Ohnmacht. Hier habe er als Hauswirt allein das Hausrecht. Mein
Gott, was hilft das beste Recht gegen die rohe Gewalt der Massen. Happich rang
die Hände, und seine Kappe saß bedenklich schief auf dem Kopfe.
Ha! ha! rief Larisch, sehen Sie da, meine Herren, den Gastrat in tausend
Ängsten. Warten Sie nur, Sie Goldsohn, es kommt noch besser.
Lasset Sie sichs net leid sein, sagte der gutmütige Göckel. So wie i die
Brüder da drin kenn, machet Sie heut no e Bombegschäft. Sorge Sie lieber
dafür, daß Sie was im Haus habet, wenn die Fässer drin leer sind.
Es wurde immer lebendiger im Saale. Siebitsch setzte mit seinem Armeemarsch
Nummer 4 ein, worauf ein großes Bravo folgte. Schon fing man an, in der
einen Ecke des Saales Anstich zu singen und in der andern den Bergmannsgruß.
Der kleine Saal hatte auch sein Teil Bergleute aufnehmen müssen, nicht bloß die
Steiger und die Beamten, aus der Thür quollen sie herein wie Hefe aus einer/
Bierflasche. Ein allgemeines Gebrause erfüllte alle Räume.
Da hörte man auf der Flur die Stimme von Larisch: Ho! ho! Doktor Salix!
Hiergeblieben! Man drückt sich nicht um die Ecke, wenn alte Freunde da sind.
Und bald darauf brachte er Doktor Duttmüller herein, der nur ungern folgte.
Doktor Duttmüller war vornehm geworden. Er liebte keine Volksversammlungen
und Volksbelustigungen; auch war er in Trinkangelegenheiten von jeher ein Stümper
gewesen. Als er Wandrer erblickte, ließ er sich einen Stuhl bringen und feste
sich ueben ihn.
Die alten Freunde hatten sich seit der Hochzeit nicht wieder gesehen und
schüttelten sich die Hände, und Duttmüller brachte etwas verlegen seinen Dank an,
daß ihm Wandrer am Hochzeitstage in der peinlichen Angelegenheit geholfen hatte.
Hat nichts zu sagen, erwiderte Wandrer, ich habe den Alten mit seinen eignen
Waffen geschlagen. Ich ließ ihn soviel trinken, als er wollte, da war er schnell
unschädlich. Nun aber, Louis, sieh zu, daß du ihn über die Grenze bringst. Der
macht dir sicher noch Not, und sein Pseudonym wird auch nicht lange vorhalten.
Doktor Duttmüller rieb sich die Nase und sah sehr unglücklich aus. In der
That, sagte er, eine fatale, fatale Lage. Man kann doch, fügte er hinzu, indem
er versuchte, einen Witz zu machen, nicht vorsichtig genug in der Wahl seiner
Eltern sein.
Über deine Mutter sage nichts, Louis, erwiderte Wandrer, der hast du viel
zu verdanken, aber dein Herr Vater freilich, mit dem kamist du keinen Staat machen
Immerhin ists dein Vater. Aber schaffe ihn fort.
Er will ja nicht! Er droht mit Skandal und weiß ganz genau, daß ich
Skandal fürchten muß. Mit Mühe und Not habe ich ihm bei euch eine kleine
Stelle verschafft, daß er nicht auf der Straße liegt. Aber ich fürchte selbst, es
wird nicht lange dauern.
Hierzu spielte die Musik im großen Saale: Du bist verrückt mein Kind, dn
mußt nach Berlin. Als sie geendet hatte, konnte sich der kleine Bolze nicht länger
halten. Trotz der Menschenmenge und dem bergmännischen Getöse erhob er sich
und klopfte mit dem Ende seines Bleistifts auf den Tisch. — Meine Herren, begann
er, meine sehr werten Freunde und Sozietätsgenossen. Ich sehe mich im Kreise
hervorragender Mitglieder der Gesellschaft zur merkantilen Ausbeutung der toten
Asse — und wer möchte einen solchen günstigen Augenblick vorübergehn lassen, ohne
an das Wohl dieser Gesellschaft zu denken —, ich sehe mich an demselben Tische,
an dem schon wiederholt wichtige Beschlüsse gefaßt worden sind, nnter demselben
Dache, das uns bei unsern geselligen Freuden beschützt hat. Meine Herren, es gilt
auch heute eiuen Beschluß von eminenter Bedeutung zu fassen. — Der Herr Kantor
zog sein Notizbuch aus der Tasche und rückte heran, gespannte Aufmerksamkeit in
den Mienen. — Meine Herren, fuhr Bolze fort, im ersten Buche Samuelis ist die
Rede von drei Pfeilen, die Jonathan verschoß.
O du nllbarmherziger Strohsack, rief Larisch, Bolze, Mensch, Leimsieder! wollen
Sie nicht lieber noch etwas aus der assyrischen Mythologie mitteilen?
Schweigen Sie, Larisch, erwiderte Bolze mit Haltung; Sie sind nicht im¬
stande, einen folgerecht ausgesponnenen Gedanken zu würdigen. Eine ähnliche
Bewandtnis, meine Herren, hat es mit dem Pfeil, den in der Äsopischen Fabel
der Herr Kantor malte in sein Notizbuch einen Pfeil — ein Schütz verschießt.
Um nun diesen Verlornen Pfeil wiederzufinden, riskiert er einen zweiten Pfeil, den
er in der Richtung des ersten schießt, ein Gedanke, der neuerdings seine Verwendung
in dem Schauspiele: Der Probepfeil von — von —
Von Sudermann, sagte der Herr Kantor.
Ach was — Sudermann — von — von — ich komme eben nicht darauf.
Mir wcirs aber besouders lieb, wenn Sie nun endlich auf ihren Hammel kommen
wollten, unterbrach ihn Larisch. Bolze ignorierte die Unterbrechung und fuhr fort:
In dieser Lage, meine Herren, befinden wir uns eben jetzt. Unser erster Pfeil ist
verschossen und — wer möchte das nicht mit Betrübnis konstatieren — vergeblich
Verschossen worden, er ist verloren. Um ihn wieder zu erlangen, mit andern Worten,
um unsern gehabten Verlust wieder einzubringen, müssen wir ein neues Opfer
bringen. Mit andern Worten: Es handelt sich um die Sanierung unsrer Tote
Asse-merkantil-Ausbentungsgesellschaft. Und die gegenwärtige Frage ist die: Wird
die Gesellschaft sich dazu verstehn, einen zweiten Pfeil auszusenden?
Sind Sie nun fertig mit Ihrem Geseire? fragte Larisch.
Noch nicht ganz.
Dann bringen Sie, was Sie zu sagen haben, hernach vor, setzen Sie sich
auf Ihren natürlichen Schwerpunkt und hören Sie zu. Damit zog Larisch mit
großer Wichtigkeit einen Brief aus seiner Tasche und fuhr fort: Erfahren Sie also
folgendes. — Aber rufen wir erst den Gastrat her.
Hier ist er schon.
Na also. In diesem Briefe steht geschrieben — ich erhielt ihn gestern —:
„Lieber Herr Larisch. Es drangt mir, Sie mitzuteilen, daß der Gastwirt Happich
ein ganz schlechter Mensch ist. Er ganz allein hat Sie um die Karpfen beluchst,
die er alle mit der Grundangel herausgeholt hat, was ich beschworen kann. Und
den Kanal von Thonröhren habe ich selber gelegt auf das eigenhändige Kommando
von demselbtgen Happich, was ich auch beschworen kann. Und Happich ist so ein
schlechter Mensch und Räuberhauptmann, daß er seine Dienstboten um ihr sauer ver¬
dientes Lohn betrügt. H. W." Was sagen Sie nun? Sie schlechter Mensch? Sie
Gastrat mit dem ewigen Lächeln in der Visiognomage, Sie Schlange, die wir am
Busen genährt haben?
Happich lächelte.
Der Herr Kantor nahm als Sachverständiger den Brief in die Hand und
prüfte die Schrift. Er kam zu dem Resultate, daß das H. W. nach den t s und
r s zu schließen, Heinrich Winkelmann bedeuten könne, es könne aber auch heißen
Hans Wuppe, der ein ganz schlechter Bengel gewesen und vor drei Jahren nach
Amerika ausgewandert sei.
Happich lächelte. — Das sehen Sie doch, meine Herren, sagte er, daß das
ein ganz gemeiner Racheakt des Husarenweidling ist, der bei mir Knecht war. Dieser
Mensch ist vorige Woche aus der Arbeit weggelaufen, worauf ich ihm den Lohn
inne behielt, und der sich jetzt zu rächen sucht.
Sie haben also nicht den Kanal legen lassen?
Keine Ahnung. Der Mensch hat einfach gelogen.
Was? gelogen? ertönte eine entrüstete Stimme ans dem Haufen der Berg¬
leute, die durch die offne Thür hereingedrungen waren. — Wie kann dieser Mensch
behaupten, daß ich gelogen habe? Wie kann er das behaupten? Gehn Sie hinauf,
meine Herren, hinter dem Schranke neben der Bodentreppe stehn seine Angeln und
ein Kuchenblech, wo er alles draufgeschrieben hat.
Es war Husarenweidling, der das Wort genommen hatte, Husarenweidling mit
der Bergmannsmntze auf dem Kopfe und einem großen Groll im Herzen, der sehr
erregt that und mit Staatsanwalt und Zuchthaus drohte. Man forderte den Herrn
Kantor auf, die corpora, äslieti zu holen, aber der Herr Kantor war äußerst schwer¬
hörig. Da sich auch sonst niemand finden wollte, so mußte der kleine Bolze hinaus¬
gehn. Kurze Zeit darauf kam er wieder und legte zwei Angeln und ein mit Kreide
beschriebnes Kuchenblech auf dem Tische des Hauses nieder. Darauf ergriff er das
Wort und sagte: Meine Herren, ehe ich dazu schreite, den Inhalt dieses Bleches
zu verlesen, muß ich bemerke» —
Bemerken Sie gar nichts, wenn ich bitten darf, fuhr ihn Larisch an, Sie
Professor aller einleitenden Wissenschaften. Scholz, geben Sie mal das Blech
herüber, dieser Bolze ist imstande, uns erst noch eine Vorlesung über Knchenbn'ckerei
zu halten. Also hören Sie zu —
Herr Larisch, sagte Wandrer, wäre es nicht besser, diesen Scherz ein andermal
weiter zu spinnen? Wir sind doch nicht unter uns.
Nein, Herr Wandrer, erwiderte Larisch; denn erstens ist dies gar kein Scherz,
und zweitens soll das gerade die Strafe des Gastwirts sein, daß wir öffentlich ver¬
handeln. So eine Judasseele!
Und darauf las er von dem Bleche ab ein Verzeichnis aller Karpfen, die
Happich in der Asse gefangen hatte, nach Gewicht und Datum sorgfältig verzeichnet.
Es kam eine hübsche Summe heraus. Alles hatte sich mit lachendem Erstaune» der
Vorlesung zugewandt. Als man sich jetzt nach Happich umsah, war er ver¬
schwunden. — Donnerwetter, wo ist denn unsre Wucherblume von Gastrat? rief
Larisch.
Da hinten im großen Saale ist er, Herr Larisch, wurde ihm geantwortet,
eben schlägt er ein Faß an.
Gehn Sie mal hin, Bölzlein, sagte Larisch, holen Sie einmal den Delinquenten
hierher.
Bolze drängte sich mit Mühe durch die Bergleute und gelaugte zu Happich.
Sie werden ersucht, sagte er, als er endlich angelangt war, sich sogleich zu
uns zu begeben.
Thut mir leid, Herr Bolze, erwiderte Happich, ich kann aber hier nicht ab¬
kommen. Nicht wahr, meine Herren? Ich muß doch hier das Faß anschlagen.
Aber Sie müssen durchaus kommen.
Ach was, sagten die Bergleute, hier wird nicht gemußt! — Thut doch den
Riesen Goliath mal hinaus.
Ein Dutzend derbe Fäuste packten zu, hoben Bolze in die Höhe und reichten
ihn über die Köpfe der Versammelten zum Saale hinaus. Draußen wurde er fein
säuberlich auf seine Füße gestellt, und er kam außer Atem und mit verschobner
Halsbinde und Perücke wieder an.
Es war also nichts zu machen. Man konnte dieses Sünders, der sich hinter
der gewaltthätigen Menschenmenge versteckt hatte, nicht habhaft werden. Soviel
war jedoch schon klar, daß von der Absendung eines zweiten Pfeiles nicht die Rede
sein konnte. Für den Schaden hatte vielmehr Happich, der treulose Gastwirt, aus¬
zukommen. Wie aber ihn zwingen? Es wurden zahlreiche und erwägenswerte
Vorschläge gemacht, ihm eine Strafkompagnie ins Haus zu legen, ihm seinen zu¬
künftigen Schwiegersohn zu pfände», auf Dörcher eine Hypothek eintragen zu lassen,
Siegel auf alle seine Bierfässer zu legen; aber man vermochte sich nicht zu einigen,
und die Verhandlung löste sich in Einzeluuterhaltnngen auf.
Während dessen beobachtete Wandrer seineu Freund Duttmüller. Dieser sah
einigermaßen sorgenvoll aus. Wandrer glaubte, es sei die Sorge um den „Luri-
bcuns," seinen Herrn Vater, die ihm im Kopfe stille, und war schon bereit, einige
beruhigende Worte zu sprechen und in tröstliche Aussicht zu stelle«, besagter David
Müller würde binnen kurzem unzweifelhaft irgend eine Dummheit machen und denn
verschwinden müssen; aber Duttmüller seufzte ein wenig und sagte: Es ist doch
recht derer.
Was ist teuer, fragte Wandrer, das Leben?
Ja, das Leben, antwortete Duttmüller.
Das kann dich doch nicht wundern, Duttmüller, das ist doch eine alte Sache.
Wie spricht Posa? Das Leben ist schön, o Königin, aber teuer.
Ja, wahrhaftig. Was mau auf so einer Hochzeitsreise zahlen muß, das glaubst
du nicht. Was sie einem auf die Rechnung setzen in den Hotels, ist großartig. Ich
heilte nie geglaubt, daß es so teuern Kaffee gäbe. Ganz gewöhnlicher Kaffee mit
Weißbrot und etwas Honig zwei Mark.
Nämlich für zwei Personen. Das ist der internationale Preis, habe ich auch
gezahlt und auch noch mehr.
Und hast dich nicht darüber entrüstet?
Gott bewahre, daran gewöhnt man sich.
Hin, ja! Ich glaube, ich würde mich schwer gewöhnen.
Aber, Kerl, du hast doch eine Einnahme wie ein Oberpräsident, du kannst ja
gar nicht alles ausgeben, was du einnimmst.
Allerdings. Aber das ist kein fester Gehalt, man kann auch einmal weniger
haben, man kann krank werden und einen Vertreter bezahlen müssen. Und wenn
mau erst anfängt, sich ein Vermögen zu ersparen, so muß man die Groschen zu¬
sammennehmen und giebt nicht unnötig Geld aus. Wenn man so ein paar Zins¬
häuser in einer großen Stadt hätte! Meinst du, Wandrer, daß die Nienhagens
Vermögen haben?
Aber Menschenkind, das kommt ja bald so heraus, als bedauertest du, nicht
eine Geldheirat gemacht zu haben. Und das sagst du, nachdem dn eine Frau ge¬
kriegt hast, die gar nicht mit Geld zu bezahlen ist!
Duttmüller warf einen schiefen Blick auf Wandrer. Es regte sich bei ihm
ein wenig Eifersucht, aber er sah schnell ein, daß das thöricht war, und antwortete:
Das will ich nicht gerade sagen, aber würdest du, wenn du die Wahl hättest, nicht
gern einiges Vermögen hinzuheiraten?
Offen gestanden, ich habe darüber noch nicht nachgedacht. Und dann ist das
bei uns Kaufleuten etwas andres. Leider! Für dich ist deine Wissenschaft das
Werkzeug, für uns das Geld. Du kannst praktizieren, ohne einen Groschen Geld
in der Tasche zu haben, wir nicht. Aber das beste ist, wenn man unabhängig ist
und kaun seiner Neigung folgen. Und darum möchte ich dich beneiden, daß du
das gekonnt hast. So eine Frau wie die deine bedeutet mehr als ein ganzes
Vermögen.
Der Doktor hörte das nicht ungern, sagte: Hin, ja! war aber doch nicht
ganz davon überzeugt, daß es gleichgiltig sei, ob mau drei Häuser in Magdeburg
besitze oder nicht.
Im großen Saale nahm der Lärm immer mehr zu. Jetzt hatte man den
Napoleum auf einen Tisch gesetzt und trug ihn mit dem Tische und seinem Blech¬
kasten im Saale herum, und er mußte singen: „Napoleum, dn Schustergeselle,"
bis der Tisch umkippte, nud Napoleum mit seinen Würsten und der brennenden
Spirituslampe auf die Erde fiel, worauf es ein großes Hallo gab. Bald darauf
wurde gemeldet, daß das Bier, das das Werk gestiftet hatte, ausgetrunken sei. Die
Leute Möchten nach Hause gehn, ließ Wandrer sagen. Aber sie gingen nicht.
Der Klügere giebt nach, sagte Wandrer. Guten Abend, meine Herren. Beim
Weggehn ließ er sich noch Dörcher kommen und eröffnete ihr, was von jetzt ab
geschehe, dafür komme das Werk nicht auf.
Man trennte sich also, und Kantor Mötefind, dem es noch zu zeitig war,
nach Hause zu gehn, begab sich ins Schenkzimmer, wo die Spitzen des Dorfs ver¬
sammelt waren, und berichtete über das Ende der Gesellschaft zur merkantilen Aus¬
beutung der toten Asse. Dies erregte unter diesen Spitzen eine große Freude und
war der Grund von einigen Dauerwitzen, an denen man sich auf Kosten von Lcirisch
und Genossen belustigte. Man war doch sehr klug gewesen, daß man damals nicht
auf den Lein: gekrochen war. So was kann einem Holzweißiger überhaupt nicht
passieren, meinte man, die sind viel zu helle dazu. — Wenns nnr wahr ist, sagte
ein gerade anwesender Siebendorfer. Ich will euch was sagen, wenn mehr an der
Sache zu verdienen gewesen wäre, so wärt ihr alle ans den Leim gekrochen!
Das wurde ihm sehr übel genommen, aber der Siebeudorfer Menschenkenner
blieb bei seiner Meinung.
Als sich Holzweißig am nächsten Morgen aus seinem Schlafe ermunterte, ge¬
riet es in den Zustand starren Entsetzens. Man raunte sich furchtbare Dinge zu,
und was man erfuhr, war, wie wenn ein nächtliches Gefecht in dem friedlichen
Dorfe stattgefunden hätte. Die Schulkinder standen vor Schwerscnzens Hause und
betrachteten einen großen Blutfleck, und vor dem stated am Garten von Kraut¬
wilhelm standen andre und betrachteten die Trümmer, die von dem stated übrig
geblieben waren. Sogar ein paar junge Kirschbüume hatten sie abgebrochen. Als
Hcippich, nachdem er ausgeschlafen hatte, in seinen Stall trat, fand er, daß den
beiden Pferden die schönen langen Schwänze abgeschnitten waren. Beim Schulzen
war das Wappen vom Thor abgerissen und auf den Mist geworfen, und statt
dessen war ein Strohwisch hingenagelt worden. In der Schule holte man die
Fenster eingeworfen. In Happichs Saal sah es aus, als wenn dort eine
Schlacht geliefert worden wäre. Und Doktor Duttmüller eilte im Amtsschritte von
einem Hause zum andern, um blutige Köpfe zu verbinden. Denn es hatte eine
großartige Kellerei zwischeu den Bergleuten und den Tagearbeitern gegeben. Und
auch der Nachtwächter, der die Autorität des Ortes hatte zur Geltung bringen
wollen, war verhauen worden, daß er marmoriert aussah, wie das Nienhagensche
Erbbegräbnis. Sogar Messerstiche hatte es gegeben, und es war mehr als ein
Kollapsns zu konstatieren gewesen. Am schlimmsten aber war die neu gegründete
Bergmannskapelle weggekommen. Die Mitglieder dieser Kapelle hatten sich schwer
betrunken und sich untereinander geprügelt, und der Dirigent hatte mit seiner Klari¬
nette dazu den Takt geschlagen, daß auch nicht eine Klappe mehr daran geblieben
war. Das Bombardon war breitgetreten worden, und das Tenorhorn hatte un¬
heilbare Beulen erhalten.
Es möge gleich hier eingeschaltet werden, daß Wandrer über diese Vorgänge
sehr böse war, und daß einige Dutzend Arbeiter den Laufpaß erhielten, darunter
auch Siebitsch, der Dirigent, von demi auch noch in Erfahrung gebracht worden
war, daß er bei den Instrumenten doch Schmu gemacht hatte.
Sogleich wurde der Herr Gendarm aus Altum herbeigerufen. Er kam denn
auch gegen Mittag an. besah sich alles, was die andern schon besehen hatten, und
erklärte,' daß Landfriedensbruch vorliege, der mit Gefängnis bis zu zehn Jahren
bestraft werde. Dann besuchte er einige der Verwundeten und erfuhr vou allen
übereinstimmend, daß sie unschuldig überfalle» und vou jemand geschlagen worden
seien, den sie nicht hätten erkennen können. Darauf trank der Herr Gendarm auf
Gemeindekosten einige Glas Bier und ritt weiter.
Diese Thätigkeit genügte nicht, den Einwohnern von Holzweißig das Gefühl
der Sicherheit wieder zu geben. Man behielt vielmehr den Eindruck, als wenn
unter den friedlichen Tierchen des Dorfs ein großes Raubtier, ein Bär oder ein
Elefant untergebracht worden wäre, das nur zu wollen brauchte, um alle Fesseln
zu sprengen und alles niederzuwerfen. Besonders erregt war der Herr Schulze.
Daß man das Schulzenschild abreißen und einen Strohwisch an die Stelle nageln könne,
davon hatte er noch nie etwas gehört oder gelesen, das war mindestens Majestäts-
beleidigung, das war nicht allein Amtsbeleidignng, das war auch persönliche Be¬
leidigung. Was waren das für Menschen, die sich so etwas Herausnahmen! Im
Dorfe gab es manchmal auch eine Prügelei unter den jungen Leuten, aber immer
nur mit Anstand, nicht mit Staketlatten und Messern. Und wenn er als Schulze
hinterher die Untersuchung anstellte, da waren sie hübsch artig und ließen sich an¬
schnauzen. Aber diese Schachterbaude! Wieviel fehlte denn da noch an Mord und
Brand? Und wer würde das erste Opfer sein? Er selbst, der Schulze Lüttje,
und seine neue Scheune.
Diese Lage der Dinge suchte er seinen scheuuenbesitzenden Standesgenossen bei
nächster Gelegenheit klar zu machen, fand aber wenig Verständnis für die Meinung,
man müsse sich wehren und zusammenhalten, sondern vielmehr die Neigung, zu Ver¬
fahren wie Meister Lampe, der sich drückt, wenn er Gefahr wittert. Und noch
brannten ja auch die Scheunen nicht, und die Schächter hatten sich doch nur unter¬
einander verhauen.
Nächsten Tages ging der Schulze in Begleitung des Herrn Kantor zu Ge¬
vatter Mewes uach Siebendorf. kehrte aber wenig getröstet zurück. Dort ging es
genau so zu wie in Holzweißig, ja noch schlimmer. Denn dort hatten sich die
Bergarbeiter und die Tagenrbeiter zusammengethan und wurden von Agitatoren
gegen das Werk und die Gemeinde aufgehetzt. Und dort handelte es sich acht um
eine Schlägerei, sondern um Streik und Aufruhr. — Wenn ihr doch damals
gehört hättet! sagte Gevatter Mewes, denn jetzt sitzt ihr in der Bredulje, und kein
Mensch kann euch helfen.
Als der Schulze, nachdem er von Siebcndorf zurückgekehrt war, am Fronhof
vorüberging, erinnerte er sich, daß er sich damals, als das Werk gegründet werden
sollte, an den Herrn Oberstleutnant gewandt, und daß dieser ihn mit Rat und
That unterstützt habe. Er dachte, es könne nicht schaden, das Verfahren zu wieder¬
hole», trat also ein, ließ sich von Klapphorn melden und fand den Herrn Oberst¬
leutnant mit eingewickelten Beinen in seinein Lehnstuhl sitzen.
Sie müssen mich schon entschuldigen, lieber Schulze, wenn ich nicht aufstehe,
Sie zu begrüßen, sagte der Oberstleutnant. Weiß der Deibel, was mir in die
Knochen gefahren ist; die alten Pedale streiken, als wenn sie Sozialdemokratin! wären.
Was bringen Sie denn gutes?
Gutes — leider wenig, erwiderte der Schulzen Sie wissen doch, Herr Oberst¬
leutnant, wie es jetzt in der Gemeinde zugeht, und daß die Schächter vor keiner
Obrigkeit und keinem Gesetze Achtung haben, und daß sie Mir das Schild ab¬
gerissen und einen Strohwisch hingenagelt haben, was eine Gemeinheit war. Und
wenn das so weiter geht und die Obrigkeit kein Einsehen hat, dann geht alles
verloren, und dann stecken sie nus die Scheunen um. Die Mauserei ans dem Felde
ist sowieso schon nicht mehr auszuhalten.
Ja, lieber Schulze, haben Sie sich denn nicht an den Herrn Lnndrat ge¬
wandt?
Da bin ich schon gewesen. Aber der Herr Landrat sagten, wir müßten uns
selber helfen. Denn der Staat griffe erst dann ein, wenn die Rebellion fertig sei,
und wenn alles ruiniert wäre. Eher litten es die Gesetze nicht.
Der Herr Oberstleutnant dachte nach und sagte: Der Laudrat hat Recht,
wir müssen uns selber helfen, und es war verständig von Ihnen, daß Sie zu mir
gekommen sind.
Wir wollen nicht über die lange Beratung, die sich nun entspann, berichten,
sondern gleich zu dem Resultate kommen. Es bestand darin, daß die wohlgesinnten
und einflußreichen Einwohner von Holzweißig zu einer Konferenz ans den Fronhof
eingeladen wurden. Weil es ein heißer Tag war, hatte Klapphorn ein paar Tische
und Stühle unter die große Kastanie getragen. Die Eingeladnen waren erschienen,
der Herr Schutze, Fritze Pvplitz, August Hoppe, Wilhelm Langbein, der alte Esch und
der Herr Kantor. Der Herr Pastor hatte sich als krank entschuldigen lassen. Da¬
gegen war Felix Wandrer gekommen und hatte neben dem Herrn Oberstleutnant
Platz genommen, wie es seiner Bedeutung als eines derzeitigen Chefs von Heinrichs¬
hall zukam. Der Herr Oberstleutnant, dessen Beine gänzlich den Dienst versagten,
präsidierte in einem Fahrstühle sitzend, Ellen hatte sich in einiger Entfernung
hinter ihn gesetzt, um zur Hand zu sein, wenn Pa etwas brauchte, und Klapphoru
präsentierte Selterswasser, Wein und Cigarren. Doktor Duttmüller und Frau Ge¬
mahlin wurden noch erwartet.
Der Herr Oberstleutnant, der es an Fleiß nie fehlen ließ, wenn er sich einem
neuen Gegenstande zuwandte, hatte sich mit der sozialen Frage beschäftigt, und um
gründlich zu sein, mit der Geschichte des Sozialismus begonnen. Er war bis zu
den römischen Sklavenkriegen und etwas darüber hinaus gekommen. Es war ihm
mit großer Deutlichkeit klar geworden: hier die Optimalen, anständige Kerls, und
da die Plebejer, eine ordinäre Gesellschaft. Das war heute genau so wie damals,
und darum war es ihm auch nicht zweifelhaft, daß es heute die Aufgabe sein müsse,
die Optimalen gegen die ganze ruppige Bande aufzurufen und zusammenzufassen.
Und so eröffnete er die Konferenz mit folgender Rede:
Meine Herren. Erlauben Sie mir, unsre Konferenz mit einigen orientierender
Bemerkungen einzuleiten. Sie erinnern sich der Gemeindeversammlung, in der der
Herr Schulze und ich uns den Mund trocken geredet haben, die Gemeinde solle
sich mit dieser — Büttelei nicht einlassen. Jetzt haben wir den Salat. Die
Industrie ist gut für die Aktienbesitzer, aber für die andern Menschenkinder, be¬
sonders für die Landwirtschaft, taugt sie den Henker nichts. Die Industrie frißt
das Land ratzekahl auf. Jawohl, billiges Vrvt, aber wo der Bauer bleibt, und
wo die bleiben, die von den Pachter leben, danach fragt keine Seele. Die In¬
dustrie nimmt uns die Arbeiter weg, die Industrie verdirbt Feld und Wald. Da
sehen Sie mal das Nottethal an, die grünen Wiesen, wo jetzt Heinrichshall steht,
was war das früher für ein Anstand auf Rehböcke. Und jetzt, nicht einmal ein
Karnickel kommt mehr heraus.
Die ländlichen Zuhörer nickten Beifall, und August Hoppe erinnerte sich in
Parenthese des kapitalen Achterbocks, den Fritze Poplitzens Vater vor langen Jahren
dort geschossen hatte. Es war der letzte Achter im ganzen Böhuhardt gewesen.
Der Herr Oberstleutnant fuhr fort: Meine Herren, wir haben die Freude, Herrn
Wandrer unter uns zu sehen, den gegenwärtigen Direktor des Werkes, den ich
überaus hoch schätze. Es sei ferne von uns, ihm oder dem Werke, das sich gerade bei
uns ansässig gemacht hat, Vorwürfe zu machen. Meine Herren, das sind so—zi—ale
Probleme, die so alt sind wie das gan—ze hei—lige rö—mische Reich. Ja, meine
Herren, ich weiß das, ich habe das eben jetzt studiert — da liegen noch die Bücher —
und kann Ihnen sagen, schon vor der Geburt Christi hat es Sozialdemokraten ge¬
geben, Plebejer, Sklaven, Volkstribunen und katilinarische Existenzen. Und das
müssen Sie doch selber sagen, Herr Wandrer, Ihre Bergleute find eine ganz ver¬
fluchte Rasselbande, lind die Frage ist die, wie machen wir es, daß wir uns diese
Rasselbande nicht über den Kopf wachsen lassen. Und das müssen Sie doch sagen,
daran hat das Werk ebenso großes Interesse wie wir. Denn wenn sie erst den
Bauern ihre Scheunen anstecken, dann lassen sie auch vou des Direktors Villa
keinen Stein ans dem andern.
Nein, das thun sie nicht, sagte August Hoppe; keinen Stein lassen sie auf
dem andern. — Und den Fördcrtnrm sprengen sie mit Dimnid in die Luft, fügte
Herr Wilhelm Langbein hinzu. — Ja, das thun sie, das thun sie, meinte der
alte Esch, der nicht genau verstanden hatte, von welchen Schandthaten die Rede sei.
Zu diesem Zeitpunkte erschien Doktor Dnttmüller, seine junge Iran feierlich
am Arme führend, er mit Cylinder, Handschuhen und tadelloser Bügelfalte in den
Beinkleidern, sie in Hellem Sommerkleide. Alice sah froh aus. Ihre Mienen, die
sonst etwas verschleiertes, undurchsichtiges gehabt hatten, waren aufgehellt, ihre
Augen sahen groß und freudig in die Welt, und ihr Mund hatte den Zug der
Resignation verloren. Es war, als wenn sie größer geworden wäre; voller war
sie jedenfalls geworden, und ihre Haltung hatte an würdevoller Anmut gewonnen. —
Wie eine Prinzessin, sagte Ellen, die für ihre Alice schwärmte.
Alice löste sich vom Arme ihres Gemahls und eilte, dem Vater im Vorüber¬
gehn einen Gruß zuwinkend, ihrer Mutter entgegen, die eben ans dem Hause trat.
Auch Ellen erhob sich, begrüßte Alice und ging mit ihr und der Mutter durch
den Park. Aber es dauerte nicht lange, so machte sie einen tiefen Knicks, empfahl
sich und kehrte zu ihrem Platze zurück. Um dem Doktor Platz zu machen, rückte
Wandrer seinen Stuhl zurück und kam so neben Ellen zu sitzen.
Sie kommen ja recht bald zurück, gnädiges Fräulein, sagte Wandrer; geschieht
das aus Pflichtgefühl?
Nein, denken Sie nnr, kaum ist Alice eingetreten, so simpelt sie mit Mama
schon Fach. Was soll ich dabei? Tante Lilli sagte mirs gleich ans der Hochzeit:
Gieb nnr Alice auf! Wenn Frauen erst verheiratet sind, dann sind sie für die
übrige Welt verloren. Ich hätte es nicht gedacht, aber Tante Lilli hatte Recht.
Meinen Sie nicht, erwiderte Wandrer, daß man die Pflicht hat, dem Glücke
derer, die man liebt, ein Opfer zu bringen?
Das thue ich ja auch, rief Ellen, nur sehe ich nicht ein, warum ich dabei
stehn soll, wenn Mainn und Alice ein Duett über die heilige Wirtschaft singen.
Sehen Sie nur, wie strahlend glücklich Alice aussieht. Sie hat heute ihren guten
Tag. Sie hat heute früh schon einem halben Dutzend von Papas Rasselbande die
Köpfe verbunden, und der Doktor hat die Arbeit gelobt.
Meinen Sie nicht, gnädiges Fräulein, fuhr Wandrer fort, daß man den ver¬
heirateten Frnueu auch darum Nachsicht zollen muß, weil man es später genau
ebenso machen wird wie sie? Und Sie werden auch später einmal eine Braten¬
frage für etwas sehr wichtiges halten.
Ich? Ellen lachte hell ans. Ich komme überhaupt nicht in Frage. Ich bin
eine geborne Tante. Wissen Sie, so ein Beipferd bei der Post, das als drittes
nebenher läuft. Aber Ihnen traue ich zu, daß Sie einmal ein rechter Topfgucker
werden.
Keine Idee, gnädiges Fräulein. Geborner Onkel! Wissen Sie, so einer von
denen, die sich in ihrer Jugend durchfressen müssen n»d günstigenfalls eine Tasche
voll Geld verdienen und inzwischen den Anschluß verfehlen.
Heiraten Sie doch Lydia, die nimmt Sie gleich.
Überraschender Gedanke. Wir wollen es ernstlich überlegen.
Inzwischen waren die Verhandlungen unerwartet schnell zum Abschluß ge¬
kommen, da keiner da war, der widersprochen hatte, nud da auch nur ein einziger
gangbarer Weg vorhanden war. Denn allen Nöten, Bedürfnissen, Aufgaben und
Problemen gegenüber ist das rettende Wort immer nnr: Der Verein. Und so lag
es auch hier in der Natur der Sache, daß mau daran ging, einen Verein zu
gründen. Der Herr Oberstleutnant dachte an den Namen: Die Optimalen von
Holzweißig. Worauf der Herr Kantor bescheiden erwiderte, ob es nicht besser sei,
einen deutschen Namen zu wählen, denn bei Optimalen könnte manch einer an so
was wie Optiker oder Brillenschleifer denken. Die Triftigkeit dieses Einwandes
wurde anerkannt, und so wählte man die deutschere Bezeichnung: Patriotischer Verein.
Worauf der Herr Oberstleutnant in festlich gehobner Stimme das Schlußwort
sprach:
Meine Herren, ich bedaure sehr, mich in diesem erhebenden Augenblicke nicht
selbst erheben zu können. Meine Herren, so hätten wir denn die Hand ans Werk
gelegt. Wir haben einen Verein gegründet, der berufen ist, alle guten Elemente
der Gemeinde in sich aufzunehmen und zu sammeln. Wir werden Versammlungen
halten, wir werden das Volk belehren und über seine Pflichten aufklären, wir
werden in gutem Sinne agitieren, denn, meine Herren, ohne Agitation geht es nicht,
wir werde» Schulter an Schulter mit dem Kriegervereine (Verbeugung nach der
Richtung, wo Herr Fritz Poplitz saß, der zum Vorstande des Kriegervereius gehörte),
wir werden Schulter an Schulter mit dem Gesangverein (Verbeugung nach der
Seite, wo der Herr Kantor saß) stehn und kämpfen. Wir werden einen Damm
errichten gegen die Hochflut dieser verdammten Demokraten. Es sollte doch mit
Krrrücken und Krrräutern zugehn, wenn wir, ein paar hundert wohlgesinnte und
entschlossene Leute, uns das hergelaufne Volk nicht vom Halse halten könnten. In
diesem Sinne bitte ich die Gläser zu erheben und den patriotischen Verein leben
zu lasse«.
Es geschah. Wandrer stieß belustigt mit an.
Als man sich wieder niedergesetzt hatte, sagte Ellen: Herr Wandrer, lachen
Sie nicht.
I, wo werde ich denn!
Nein, bitte, lachen Sie nicht über Pa. Es giebt auch große Leute, die gen
mit Zinnsoldaten spielen. Dazu gehört auch Pa. Pa kauft sich alle Vierteljahre
eine neue Schachtel. Sehen Sie, es macht ihm doch Vergnügen. Und er meint
es doch gut.
Gewiß, mein gnädiges Fräulein; man soll niemand seine Illusionen nehmen.
Unsre Illusionen sind unser schönster Besitz. Vielleicht nicht unser bester, aber
unser schönster.
Illusionen? Wie meinen Sie das?
Ich meine, die harten Erfahrungen, die man macht, reiben soviel Farbe von
unserm Leben herunter, daß man seine Farbe schonen mich, und daß es nichts
schadet, wenn auch ein wenig unechte Farbe dabei ist. Illusion ist Farbe, viel¬
leicht unechte Farbe, aber immerhin Farbe. Man darf sein Leben nicht grau
werden lassen. Man muß immer etwas gutes zu hoffen und zu erstreben haben.
Man wird es vielleicht uicht erreichen, aber das schon, daß mens gewollt hat, ist
etwas gutes.
Ich verstehe Sie, sagte Ellen. Ich hätte das gar nicht in Ihnen gesucht.
Ich dachte, Sie als Kaufmann müßten der reine Zahlenmensch sein. Sagen Sie
mal, Herr Wandrer, ob wohl Duttmüller Ideale hat?
Der Fall Cuny ist in der Presse reichlich be¬
sprochen worden. Mehrere Seiten der Sache sind dabei aber, wie mir scheint, zu
kurz gekommen.
Zunächst das Recht der Beamten, ihre Meinung ebenso frei zu äußern wie
andre Staatsbürger. Was hat Staatsanwaltschaftsrat Cnny denn gefährliches gesagt,
daß im Parlament gefordert werden konnte, ihn seines Amtes zu entsetzen? Der
genaue Inhalt seiner Rede ist mir nicht zugänglich. Aber wenn er seine Worte
ans den Ton gestimmt hat: „Verordnet in der Duellfrage, was ihr wollt; es bleibt
doch beim alten," was hat er denn damit so schlimmes gesagt? Man hat geant¬
wortet: Er hat sich zu einem Staatsgesetz in Widerspruch gesetzt; er bietet keine
Gewähr dafür, daß er dieses Gesetz, das er als gleichgiltig behandelt, ordnungs¬
mäßig anwenden werde. Man hat sogar Vergleiche gezogen mit den Sozialdemo¬
kraten, denen keine Staatsämter anvertraut würden, weil ihre Ansichten mit den
Staatsgesetzen in Widerspruch stünden.
Diese Übertreibung ist so lächerlich, daß sie keine ausführlichere Widerlegung
verdient. Es ist doch wohl ein Unterschied, ob jemand die Grundlagen, auf denen
sich unser Staat aufbaut, bestreitet, oder ob er einzelne Bestimmungen der Gesetze
für verfehlt hält. Aber von dieser Übertreibung abgesehen, sind beide Vorwürfe
gegen Cuny hinfällig. Man sieht allerdings mit Recht in jeder Bestimmung des
Strafgesetzbuchs, wenn sie sich anch äußerlich nur an die Beamten der Strafver¬
folgung (Polizei, Stnatsnnwalt, Gericht) wendet, ein Verbot, das an das Publikum
gerichtet ist. In den Worten (i< 211 ff. des Strafgesetzbuchs): „Wer vorsätzlich einen
Menschen dolce, wird . . . bestraft," liegt ein allgemeines Verbot des Totschlags, des
Mordes. Mit diesem Verbot des Totschlags stehn aber auch andre Einrichtungen
unsers Staatswesens nicht in Widerspruch. Wollte man aber in den Bestimmungen über
den Zweikanipf (K 201—210 des Strafgesetzbuchs) ein allgemeines Verbot, jemand
zum Zweikampf mit tödlichen Waffen herauszufordern oder die Herausforderung an¬
zunehmen, sehen, so wurde nur bald finden, daß unsre Staatseinrichtungen nicht einmal
diesem so allgemein gefaßten Gebot entsprechen. Ob mit Recht oder Unrecht,
soll hier nicht untersucht werden. Curs kann aber für sich in Anspruch nehmen,
daß das Strafgesetzbuch nicht abgesondert für sich betrachtet werden dürfe, und daß
er mit seiner Rede mehr in Einklang als in Widerspruch zu der Stellung ge¬
standen habe, die dem Zweikampf »och jetzt in unserm Staatswesen eingeräumt ist.
Aber auch, wenn das anders wäre, weshalb soll er nicht an unserm Strafgesetz-
duch Kritik üben, weshalb soll er nicht das eine oder das andre Verbot für ver¬
fehlt erklären dürfen? Das Strafgesetzbuch ist doch much uur eine menschliche
Einrichtung.
Es wäre etwas andres, wenn seine Kritik und die Anschauung, der sie entspringt,
die Befürchtung erweckte, daß er als Staatsanwalt, als berufner Hüter gerade des
Strafgesetzbuchs, seine Pflicht nicht thun würde. Ist das hier zu befürchten? Nein,
bei keinem Vergehn so wenig wie gerade beim Zweiknmpf. Sobald der Staats¬
anwalt Anklage wegen Zweikampfs erhoben hat, liegt die Entscheidung nicht mehr
in seiner Hand, sondern in der des Gerichts, und in der Hauptverhandlung würde
er sich lächerlich machen, wenn er gegen den klaren Wortlaut des Gesetzes Frei¬
sprechung beantragte, oder wenn er bei seinem Strafantrag die strafmildernden und
die strafschärfenden Umstände nicht ebenso geltend machte wie bei jedem andern
Vergehn. Nur vor der Klage steht es allein in seinem pflichtmäßigen Ermessen, ob
er die Anklage für begründet hält oder das Verfahren einstellen will. Aber bei
keinem Vergehn ist es ihm weniger möglich, das Verfahren einzustellen, als beim
Zweikampf. Die Thäter geben sich hier keine Mühe, ihre That zu verschleiern
oder rechtlich anders darzustellen. Die That wird rasch in weiten Kreisen bekannt.
Meistens stellen sich die Thäter freiwillig.
Somit hat Staatsanwaltschaftsrat Cuny uur seine persönliche Ansicht ausge-
sprochen, eine Ansicht, die auf die Ausübung seines Amtes keinen Einfluß hat.
Weshalb also die scharfen Angriffe ans ihn? Weil unsre Parlamentarier eifer¬
süchtig geworden sind auf ihr Recht der Kritik und nicht zulassen wollen, daß
Beamte außerhalb des Parlaments sie auch üben. Es wird den Beamten unsrer
Zeit vorgeworfen, daß sie zu vorsichtig, zu sehr Streber seien. Geht aber einer
einmal aus sich heraus, daun greift ihn die politische Partei an, die in der Kritik
des Beamten ihre Ansichten nicht vertreten findet, dreht ihm ans einigen seiner
Worte einen Strick und liefert ihn dann dem Minister aus zur umgehenden Dis-
ziplinierung. Und an diesen Angriffen auf das Recht der Beamten, ihre Meinung
frei zu äußern, beteiligt sich die linke wie die rechte Seite des Parlaments. Jetzt
waren es die Freisinnigen, vor einigen Jahren waren es die Konservativen, die
den .Kurator der Bonner Universität gemnßregelt sehen wollten, weil er bei einen:
Feste der landwirtschaftlichen Akademie in Poppelsdorf den Agrariern unbequeme
Worte gesagt hatte.
Wie die Sachen jetzt stehn, finden die Beamten, die in den politischen Streit
oder überhaupt an die Öffentlichkeit treten, eine viel nachsichtigere Beurteilung bei
ihren Vorgesetzte» als bei den politischen Parteien.
Es wird Zeit, daß die Beamten — einerlei, welcher politischen Richtung sie
angehören — dahin wirken, daß ihnen der Mund nicht zugebunden wird, daß sie
vielmehr, ebenso wie andre Staatsbürger, öffentliche Schäden, auch Fehler unsers
Staatswesens freimütig rügen dürfen. Es möge das jeder von den Abgeordneten
seiner Partei verlangen, gleichviel ob im einzelnen Falle die Kritik, die ein Beamter
ausgesprochen hat, der eignen Partei zusagt oder nicht.
Der Fall Cuny giebt aber noch zu einer andern allgemeinern Betrachtung
Anlaß. Wir haben in unsrer Gesetzgebung in gewisser Beziehung noch nicht die
über ihr Ziel hinausschießenden Anschauungen des Revolutionsjahres 1848 über¬
wunden. Auch in der Presse wird nicht genügend hervorgehoben, daß unsre Be¬
völkerung nicht eine unterschiedslose Masse ist, sondern daß es höhere Stände neben
den niedern Ständen giebt, und daß auch uicht die geringste Aussicht vorhanden
ist, daß sich das ändre. Die Gesetzgebung kümmert sich um diesen Unterschied kaum.
Mau kann sagen, daß sie ihn in den Bestimmungen über den Zweikampf aner¬
kennt. Denn der Zweikampf kommt fast nur bei den höhern Ständen vor. Aber
die Gesetzgebung ist auf dem halben Wege stehn geblieben, indem sie den Unter¬
schied nnr zugiebt, wo persönliche Gegensätze schon zur Selbsthilfe im Zweikampf
geführt haben, von einem solchen Unterschied aber da nichts wissen will, wo der
Staat die Selbsthilfe ergehen und unnötig machen könnte, nämlich bei der Bestrafung
der Beleidigung.
Oberlandesgerichtsrat Dr. Simon in Frankfurt a. M. hat vor kurzem in der
Deutschen Juristenzeitung (7. Jahrg. S. 96) Vorschläge gemacht, deren Kern darin
besteht, daß in Beleidigungssachen jede Partei Ausschluß der Öffentlichkeit ver¬
langen könne, daß Laien, die dem Stande der Parteien angehören, als Ehrenrichtcr
hinzugezogen würden, und daß der Höchstbetrag der zulässigen Geldstrafe be¬
deutend erhöht würde. Die genaue Ausführung im einzelnen und die Einfügung
dieser Bestimmungen in das jetzt geltende Recht kann nur in fachjuristischen Zeit¬
schriften besprochen werden. Werden sie nicht erlasse», dann bleibt es beim alten.
Die höhern Stände haben bis dahin kein staatliches Gericht, vor dem sie ihre Ehren¬
handel zum Austrag bringen können, und werden als letztes Mittel den Zweikampf
Wahlen. Wie wenig das bisher erkannt wird, sieht man daran, daß politische Par¬
teien, die auch Angehörige der höhern Stände vertreten, mit der Forderung kommen,
die Bestimmungen über den Zweikampf sollten ganz aufgehoben werden. Die
Folge davon wäre, daß der Zweikampf als Körperverletzung mit gefährlichen Werk¬
zeugen, Körperverletzung mit tödlichem Ausgang oder gar als Totschlag und Mord
angesehen und bestraft werden müßte.
Diese ganz unmögliche Forderung läßt sich nicht allein aus dein Wunsch er¬
kläre», den Zweikampf abzuschaffen. Es kommt hinzu die Angst, irgend einen
Vorschlag zu machen, der den höhern Ständen ein besondres Rechtsinstitut schüfe
oder wenigstens ein Rechtsinstitut, das thatsächlich nur von den höhern Ständen
benutzt werden würde und deshalb auf ihr Interesse zugeschnitten sein müßte. Hier
muß der Hebel angesetzt werden und mit klaren, nichts verschleiernden Worten in
der Presse immer wieder betont werden: mag dadurch verschiednes Recht für die
Stände geschaffen werden, mag das Rechtsprinzip der Öffentlichkeit des Verfahrens
weiter durchbrochen werden, den höhern Ständen muß durch ein solches Rechts-
institut eine notwendige Lebensbedingung geschaffen werden. Ob der Baum der
bisherigen Vorurteile mit einem Streich fällt, ist zweifelhaft. Fallen wird er einmal;
und um so eher wird das geschehen, um so eher werden die höhern Stände zu
dem ihnen zukommenden Rechte kommen, je mehr sie im Leben die Pflichten er¬
füllen, die ihnen ihre höhere Stellung auferlegt.
Auf das weite Gebiet der sozialen Pflichten der Gebildeten soll hier nicht
eingegangen werden. Jeder Gebildete hat genug Gelegenheit, sie kennen zu lernen,
wenn er will, und wenn er sich nicht darauf beschränkt, alle soziale Fürsorge dem
Staate und den Fabrikherren auszulasten, bald mit dem Arbeiter über die hab¬
süchtigen Fabrikherren, bald mit diesen über den rohen, begehrlichen Arbeiter zu
schimpfen. Bei unserm demokratischen Reichstagswahlrecht — und diese erziehende
Wirkung ist recht gut — ist für die höhern Stände nichts zu erreichen, wenn sie
nicht auch dem Volke geben, was ihm gebührt: größere Achtung und regelmäßige
Fühlung mit den Gebildeten.
Intimes aus dem Leben bedeutender Menschen erfährt man
immer gern. So haben wir denn auch mit Interesse gelesen, was Paul Deußen,
der Erforscher der Vedantalehre, von seinem Jugendfreunde Nietzsche mitteilt (Er¬
innerungen an Friedrich Nietzsche. Mit einem Porträt und drei Briefen in
Faksimile. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1901). Den Hauptbestandteil der Schrift
machen die Briefe Nietzsches an Deußen aus. Im ersten unsrer größern Nietzsche¬
artikel (Jahrgang 1898 der Grenzboten, S. 188 des zweiten Bandes) haben wir
die Ansicht ausgesprochen, daß es die Loslösung von allen irdischen Sorgen und
menschlichen Beziehungen gewesen sei, was Nietzsche ins Leere fallen lassen mußte.
Ähnlich schreibt Deußen Seite 98: „Niemand kann sagen, inwieweit in diesem hoch¬
begabten Geiste die Keime der Zerrüttung schon als Anlage vorhanden waren.
Aber hätte sich Nietzsche nicht geflissentlich von der menschlichen Gesellschaft ab¬
gesondert, in der er eine so ehrenvolle Stellung einnahm, hätte er sein Amt be¬
halten, eine Familie gegründet und die Früchte seines Geistes langsam reifen lassen,
anstatt in der Einsamkeit mit asketischer Überspannung seiner Kräfte tagsüber in
ermüdenden Wandrungen seinen Gedanken nachzuhangen und nachts deu fliehenden
Schlaf durch immer stärkere Narkotika zu erzwingen — wer weiß, ob er nicht
jetzt noch in voller Gesundheit unter uns lebte und statt des hinterlassenen Torso
unL das vollendete Götterbild einer exzentrische», aber in hohem Grade der Be¬
achtung werten Weltanschauung entgegenbringen könnte." Die Weltanschauung des
ein wenig zu tief in Schopenhauer und die indische Philosophie versunkner Deichen
ist nur zum Teil die unsre, aber die Kritik, die er von seinem Standpunkt aus
an Nietzsches Übermenschentum übt, müssen wir für vollkomne« zutreffend er¬
klären. — Aus dem Nachlasse Nietzsches ist als fünfzehnter Band der Gesamt¬
ausgabe Der Wille zur Macht, Versuch eiuer Umwertung aller Werte
(C. G. Naumann in Leipzig, 1901) erschienen. Wie jeder Band Nietzsche eine
Borratskammer von wahren, falschen und schiefen, immer aber geistreichen Gedanke»,
die mit ihren Giften ein gefährlicher Aufenthaltsort für die Umreisen ist, den Reifen
und Gefestigten Unterhaltendes und Anregendes in Fülle darbietet. Wer Freude
am Gedankenspiel und Zeit dazu hat, mag z. B. die Umkehrung, die Marx an
Hegel vorgenommen hat, mit der Umkehrung Darwins durch Nietzsche (S. 339
bis 347) und die besondre Art der Christentumsfeindschnft aller vier Richtungen
miteinander vergleichen.
Zur rechten Zeit erscheinen neue Auflagen von K. Bädekers Reise¬
handbüchern für den Süden: Ober-Italien in Sechzehnter, die Riviera und das
südöstliche Frankreich in dritter Auflage. Das erste umfaßt wie schon früher auch
das nördliche Toskana mit Florenz und seiner Umgebung, greift also über die
natürlichen Grenzen Ober-Italiens weit hinaus, das zweite behandelt natürlich zum
Teil dieselben Landschaften wie jenes, verbindet aber damit in sehr praktischer Weise
die mit der Riviera in engster geographischer und historischer Beziehung stehenden
Teile Südfrankreichs, der Schweiz und Südtirols, und zwar nicht nur kurz als
Zugcmgsrouten, sondern ausführlich, bis Genf, Dijon, Basan,'on nordwärts, bis Per-
pignan westwärts, svdnß das Buch auch für den, der das Rhoneland, die fran¬
zösische Schweiz nud Welschtirol besuchen will, ein vortrefflicher Reiseführer ist.
Daran schließt sich ein Abschnitt über Korsika, das ja jetzt auch entweder von Marseille
oder von Nizza oder Livorno ans oft besucht wird. Der Text hält wie immer bei
Bädeker die rechte Mitte zwischen dürftigem Abriß und ausführlicher Schilderung
und giebt dem gebildeten Reisenden anßer den praktischen Anweisungen mich alles,
was er zum geographische» und geschichtlichen, namentlich auch kunsthistorischen Ver¬
ständnis braucht. Die Zahl der vorzüglich ausgeführten, sehr klaren Karten, Pläne
und Grundrisse ist wieder beträchtlich vermehrt; namentlich hat jede irgendwie be¬
deutende Stadt ihren Plau erhalten, eine Wohlthat für jeden Reisenden, der das
Bestreben hat, sich möglichst unabhängig und zugleich sicher zu bewegen, ohne fort¬
wäh
>on der.Kaiserin Friedrich, die nach dreizehnjährigen entsagungs¬
vollen Witwenstande am 5, August vorigen Jahres ihrem tief¬
betrauerten Gemahl im Tode folgte, haben wir noch kein wirk¬
liches Lebensbild, und wir werden ein solches auch so bald nicht
! erhalten. Denn sie traf das Verhängnis, zwischen zwei Nationen
mitten inne zu stehn, der einen durch Geburt und Erziehung von Jngend auf
anzugehören, der andern erst durch ihre Vermählung und ihre politische
Stellung angehören zu miissen, ohne sich jemals mit ihr ganz eins fühlen zu
können. Es war ein Schicksal, das auch sonst Fürstentochter nicht selten treffen
mag, das aber sie mit ganz besondrer Schwere getroffen hat, Sie ist deshalb
bei uns niemals populär gewesen, eher das Gegenteil, und sie hat das ge¬
legentlich bitter empfunden. Man hat ihr in Deutschland immer und immer
wieder zum Vorwurf gemacht, daß sie zeitlebens mit Leib und Seele Eng¬
länderin geblieben sei, und in gewissem Sinne ist das wohl richtig. Aber
der wirkliche Grund ist damit nicht ganz getroffen. Sie war Engländerin,
nicht nur weil ihre Jugenderinnerungen dort wurzelten, sondern weil sie über¬
zeugt war, daß ihr Heimatland die höhere, die bessere Kultur habe, vor allem
Politisch und sozial auf einer höhern Entwicklungsstufe stehe als Deutschland.
Sie teilte die liberal-konstitutionellen Überzeugungen ihres Vaters, des Prinzen
Albert, dessen Liebling sie war, und sie Hütte zweifellos in Preußen und in
Deutschland am liebsten ein parlamentarisches Regiment liberaler Färbung ge¬
sehen, nicht weil es englisch war, sondern weil sie es für das beste hielt. In
dieser klaren, immer festgehaltnen Überzeugung traf sie damals mit dem ge¬
samten deutschen Liberalismus zusammen, der ja, als sie 1858 herüberkam,
in England sein politisches Ideal sah und mit dem Ministerium der „neuen
Ära" mich in Preußen ans Ruder gelangte. Nicht die Gelegenheit hat ihm
also gefehlt, seine politischen Ideen zu verwirklichen, sondern an seiner eignen
Unfähigkeit, große politische Fragen zu lösen, ist er damals gescheitert und
hat für sich die Zukunft verspielt. Damit kamen die konservativen Tendenzen
wieder zur Herrschaft, und indem ein genialer Staatsmann sie vertrat, gelangte
er zu nationalen Erfolgen, die auf dem liberalen Wege schwerlich hätten er¬
reicht werden können. Da nun aber die Kronprinzessin an ihren Überzeugungen
festhielt, und ihr Gemahl sie von Herzen teilte — „er war tapfer, edel, menschen¬
freundlich und aus Menschenfreundlichkeit liberal," urteilte einmal FürstBismarck
spater über ihn —, so geriet das Kronprinzcnpaar in einen immer schärfern
Gegensatz zu der Richtung, die nun in Preußen herrschte und in Deutschland
schließlich siegte. Es ist bekannt, wie scharf dieser Gegensatz namentlich in
der Zeit des „Konflikts" heraustrat; aber auch der spätern glänzenden Erfolge
hat sich das Thronfolgerpaar nicht so ganz rein zu erfreuen vermocht, obwohl
der Kronprinz persönlich als Feldherr und Soldat an ihnen reichen Anteil
gewann. Weder die Lösung der Schleswig-holsteinischen Frage, noch die
Annexionen von 1866 waren in seinem Sinne, und die Kaiserfrage wurde 1871
anders entschieden, als der Kronprinz gewünscht hätte. Auch von dem spezi¬
fischen Preußentum, wie es damals erschien, mit seinem junkerlich-orthodoxen
Grundzuge, seiner einseitig militärischen Richtung und heikler Feindseligkeit
gegen die nationale Idee wollten beide nichts wissen. Ihr Hof sollte nicht
ausschließlich aristokratisch-militärisch sein, sondern ein Sammelpunkt aller,
auch der geistigen Kräfte der Zeit, und sie standen beide auf einem kirchlich
liberalen Boden, der von allem Konfessionalismns weit entfernt war. Dazu
fühlte sich der Kronprinz schlechthin als Deutscher, und doch schienen, lvie
alle Welt lange Zeit urteilte, alle Siege der Bisinarckischen Politik bis 1866
nur im Interesse Preußens erfochten. Thatsächlich standen sich eben zwei
Weltanschauungen gegenüber, die sich erst 1870/71 näher kamen und aus¬
glichen.
Waren somit beide Gatten mit Bismarck innerlich niemals recht einver¬
standen, so that sich eine neue Kluft auf, als der Kanzler seit 1878 die eine
Zeit lang eingeschlngnen liberalen Bahnen wieder verließ, weil die Liberalen
ihn im Stiche ließen, und sich ans eine Verbindung der Konservativen und
des Zentrums zu stützen begann; dem Liberalismus des Kronprinzen und der
klaren Verstandesmäßigkeit seiner Gemahlin war eben jedes Paktieren mit dem
Klerikalismus von ganzem Herzen zuwider, und der Kronprinz bemerkte in
dieser Zeit einmal: „Die Italiener lächeln darüber, daß wir durch Nachgiebig¬
keit etwas von der Geistlichkeit zu erlangen trachten." Wer wird heute sagen,
daß er Unrecht gehabt Hütte?
Das Gefühl schmerzlicher Resignation kam für beide allmählich hinzu.
Der Kronprinz „wurde das Opfer der wunderbaren Größe seines Baders."
Von jedem Anteil an der Regierung ausgeschlossen und in steigendem Wider¬
spruch mit der Richtung, die sie im Innern nahm, sah er sich auf der Höhe
des Lebens ohne jede wirklich den ganzen Mann fordernde regelmäßige Arbeit,
ohne Möglichkeit, seine Ideen praktisch zur Geltung zu bringen. Kein Zweifel,
daß seine Gemahlin diese Stimmung im vollsten Maße geteilt hat. Hoch¬
begabt, von umfassender Bildung, willenskrüftig, stolz, warmherzig, fest in Liebe
und Haß, eine königliche Natur, wie sie war, konnte sie niemals ihre Fähig¬
keiten und ihren Thätigkeitsdrang wirklich entfalten, und sie litt mit unter dem
innern Leiden des heißgeliebten Mannes. Welches furchtbare Schicksal nun,
als dieser sterbend den Thron bestieg und in dein Augenblicke, wo sich die
Kaiserkrone ans das Haupt beider senkte, wo sie beide nnn endlich Herr ihres
Willens waren, beide sich sagen mußten, daß alles in kurzer Zeit zu Eude
sein werde! Der ganze Schmerz, die ganze Tragik eines verfehlten Lebens
bricht in dem kurzen erschütternden Telegramm hervor, das die Kaiserin vom
Sterbebette Friedrichs III. nu die Mutter nach England richtete: „Fritz ist tot,
und ich verzweifle."
Mit achtundvierzig Jahren, im reifsten und kräftigsten Lebensalter zur
Witwe geworden hat die Kaiserin Friedrich seitdem meist still für sich gelebt und
ist wenig mehr an die Öffentlichkeit getreten, obwohl sie an dem Gange der
Dinge aufmerksam Anteil nahm. Kein Zweifel, daß sie den Rücktritt des
Fürsten Bismarck mit einer gewissen Befriedigung aufnahm. „Warum war
das nicht früher möglich?" fragte sie damals einen Vertrauten. Aber sie blieb
mit dem gestürzten Staatsmann, dessen Größe sie durchaus zu würdigen wußte,
immer in persönlicher Verbindung.
Die wachsende Verstimmung weiter deutscher Kreise gegen England in-
folge des unseligen Burenkriegs ist ihr wohl nicht entgangen, und auf welcher
Seite ihre Sympathien standen, ließ sie niemals im Zweifel, aber davon erfuhr
nur ihre nächste Umgebung. Dieser gegenüber blieb sie, wie sie immer gewesen
war, teilnehmend, gütig, schlicht, und die steigenden Schmerzen des Leidens,
das ihr schließlich den Tod brachte, trug sie mit heldenmütiger Fassung. Noch
im vorletzten Winter 1899/1900, den sie im Süden, in Lerici bei Spezzia an
der Riviera verbrachte, sah sie die Offiziere der ihr zur Verfügung gestellten
Jacht „Lorcleh" häufig bei sich; sie unterhielt sich dann zwanglos mit ihnen,
bedachte sie zu Weihnachten mit reichen, sinnig ausgewählten Geschenken und
ließ sich sogar mehrmals mit ihnen photographieren. Eine große Frende war
es ihr damals, daß das stolze Admiralschiff des englischen Mittelmeergeschwaders,
Cesar, zu ihrer Begrüßung erschien.
Aber ist es um wirklich gerecht, zu sagen, daß sie in Deutschland immer
eine Fremde geblieben sei und für ihr Adoptivvaterland nichts geleistet habe?
Ist es etwa nichts gewesen, daß sie dreißig Jahre lang „unserm Fritz," dem
Liebling der Nation, das volle Glück eines reinen, innigen Familienlebens
gewährt, und daß sie unsern Kaiser, der von der Mutter mehr Züge trägt
als vom Vater, mit erzogen hat, daß sie ihn mit all den reichen Bildungs-
idealcn erfüllt hat, die er zu verwirklichen strebt? Aber sie ist nicht nur eine
musterhafte Gattin und Mutter gewesen, ihr warmes Herz und ihre Thatkraft
haben sich, ganz im Sinne ihres menschenfreundlichen Gemahls und in
lebendiger Erfassung der Bedürfnisse ihrer Zeit, auch in zahlreichen Werken
zur Volkswohlfahrt geäußert, an denen sie einen größern und innerlichem An¬
teil genommen hat als die meisten fürstlichen Frauen, denen solche Aufgaben
als natürlicher Beruf zufallen; in ihnen fand sie eine Befriedigung, die ihr
auf größer» und weitern Gebieten versagt blieb. Sie begann mit einer nm-
fnssenden Thätigkeit für die Opfer unsrer Einheitskriege. Noch 1866 rief sie
die Viktoria-Natioualinvalidenstiftnng für die Verwundeten ins Leben, und in
dem Siegesjahre 1870/71, das ihr so viele Anfeindungen brachte, leitete sie
von Homburg vor der Höhe aus die Pflege der Verwundeten und Kranken.
Später nahm sie sich des 1873 gegründeten Vereins für häusliche Gesundheits¬
pflege in Berlin kräftig an; sie wandte ihm mit ihrem Gemahl aus dem beiden
zu ihrer silbernen Hochzeit am 25. Januar 1883 übcrgebnen Friedrich Wilhelm-
und Viktoriafonds von 800000 Mark einen großen Teil, nämlich 170000 Mark,
zu und erlebte es, daß er zehn Stationen in der Stadt ins Leben rief und
z. B. im Jahre 1895, abgesehen von den Anweisungen auf Bäder, Heizungs¬
material und Lebensmittel, 13 218 Kranke im Hause verpflegte. Alls diesem
Verein ging 1883 das Viktoriahaus hervor, eine großartige Anstalt für die
Ausbildung von dreihundert Krankenpflegerinnen in einem zweijährigen Kursus,
die ohne Unterschied der Konfession aufgenommen werden und Unterricht in
der Medizin, Chirurgie, Gesundheitspflege und Arzneimittellehre erhalten;
dieser Stiftung wurde damals die Hochzeitsspeude der Stadt Berlin im Be¬
trage voll 120000 Mark zugewiesen. Schon im November 1881 gründete die
Kronprinzessin den Verein für Ferienkolonien schulpflichtiger Kinder nach dem
Beispiel der Schweiz (1875), und dieser Verein hat sich seitdem über ganz
Deutschland verbreitet und hat im Jahre 1890 im ganzen 32124 Kinder für
932833 Mark in solchen Kolonien verpflegt, während 1898 Berlin allein,
das in dem ersten Jahre nur 4700 Kinder ausgeschickt hatte, 30414 Kiuder
in „Sommerpflege" unterbrachte. Daran schlössen sich das Kaiser- und
Kaiserin Friedrich-Kinderkraukenhaus und zuletzt noch Heimstätten für (erwachsene)
Genesende nach englischem Vorbilde. Mit besondrer Vorliebe pflegte sie von
jeher das Kaiser Friedrich-Kinderheim in Bornstedt bei Potsdam, too sie sich
ganz als Gutsherrin fühlte; sie hat dort noch gegen das Ende ihres Lebens
eine Krankenpflegerin eingestellt und wohnte lange Jahre den Weihnachts-
bescheruugen regelmüßig bei.
Nicht minder thätig war sie ans dem Gebiete der Frauenbildung. Nicht
daß sie etwa die modernen Bestrebungen nach möglichster Gleichstellung der
Fran mit dem Manne geteilt Hütte; das lag ihr gänzlich fern. Aber für ihre
natürlichen Aufgaben, für den Haushalt, für die Krankenpflege, für den Unter¬
richt und für alle dem Weibe naturgemäß zugängliche Erwerbsthätigkeit wollte
sie die Frauen der untern und der mittlern Stände besser ausgerüstet wissen.
Für diese Zwecke wurde schon 1866 der Letteverein in Berlin gegründet, der
allmählich eine ganze Reihe von weiblichen Schulen für Kunsthandwerk, Photo¬
graphie, Buchdruck und Lithographie, Stickerei, Buchhaltung, Stenographie,
Wäschenäherei, Haushaltung, Kochen n. a. in. entwickelt hat, ein Internat für
zweihundert junge Mädchen, ein Stellenvermittlllngsbnreau, ein Restaurant,
eine Lesehalle und eine Bibliothek besitzt. Ähnliche Zwecke verfolgt das
Pestalozzi-Fröbelhaus, das der Verein für Volkserziehung 1873 errichtete. Es
soll vor allem Kindergärtnerinnen lind Lehrerinnen für den Haushalt aus¬
bilden und wurde zu diesem Behufe mit Schulen mannigfacher Art, einem
Kindergarten, eiuer Kuabenarbeitsschnle, einem Mädchenheim und einem un¬
entgeltlichen Mittngstisch für arme Kinder verbunden. Diese Anstalten be¬
suchte die Kronprinzessin häufig, sie leitete zuweilen Konferenzen und ließ ihre
älteste Tochter Prinzessin Viktoria in die 1884 errichtete Kochschule eintreten.
Für Töchter höherer Stände bestimmte sie das „Heimathaus," ein Internat,
wo sie Unterricht in Handelsfächern, Kunsthandwerk und Führung des Haus¬
halts empfangen. Endlich begründete sie 1875 in Steglitz bei Berlin das
„Feierabendhnus" für dienstunfähig gewordne Lehrerinnen. Eine höhere Bil¬
dung sollte dem weiblichen Geschlecht das „Viktorialyecum," eine Gruppe von
Fortbildungsschulen, vermitteln, das sie in Erinnerung an ähnliche Bildungs-
anstalten in England 1869 zusammen mit der Engländerin Miß Archer ins
Leben rief. Sie besaß für alle diese Dinge ein natürliches Organisationstalent
und ging bei Beratungen und Besichtigungen mit scharfem Blick immer auf
jede Einzelheit ein.
Es wäre der Mühe wert, nach den Akten und den Erinnerungen der
vielen, mit denen die Kronprinzessin und Kaiserin in solchen Fragen verkehrt
hat, bevor sie verblassen, diese ihre umfassende Thätigkeit genauer darzustellen.
Bis jetzt ist davon nur in vereinzelten Mitteilungen, namentlich der Bücher
über Kaiser Friedrich (M. Philippsou, Friedrich III. als Kronprinz und Kaiser,
1893; H. Müller-Bohn. Kaiser Friedrich der Gütige, 1900; V. Böhmert,
Kaiser Friedrich als Freund des Volkes) die Rede gewesen. Einen interessanten
zusammenfassenden Abriß davon hat jetzt eine französische Dame deutschen
Namens, Frau Laurence Fiedler, in der Pariser Halbmonatsschrift I>s Oor-
rksxoncliurt (Heft vom 10. September 1901: I^hö ozuvres svoialss as 1'imvö-
reckiies I'rsäsric;) gegeben, mit feinem Verständnis ihrer Persönlichkeit und voll
warmer Anerkennung für ihr Streben. Auf dieses Thema ist die Verfasserin
dadurch geführt wordeu, daß sie die deutschen Einrichtungen für Armen- und
Gesundheitspflege auf allen Gebieten zum Gegenstande eifriger und eindringender
Studien gemacht hat, um sie den Franzosen als Muster vorzuhalten, denn sie
sieht in Deutschland in diesen Beziehungen ihr Ideal und spricht das offen
aus. Sie findet die Gründe für diese Erfolge, denen Frankreich noch wenig
an die Seite setzen kann, vor allem in dem alten Geist der Selbstverwaltung
und der Genügsamkeit, der sich zunächst mit Wenigem begnügt, wenn murs
nicht besser haben kann, aber unverdrossen nach Bessern strebt, sowie in dem
musterhaften Zusammenwirken von öffentlicher und privater Thätigkeit. So
schildert sie in einem andern Aufsatz derselben Zeitschrift (vom 10. August
1901) die Armenpflege in Berlin (I/Asfi8wnoiz a ösrliu), die ja in allen
größern Städten ganz ebenso eingerichtet ist, bis in die kleinste Einzelheit
init Bewundrung; in einem andern (im Heft vom 25. September desselben
Jahres) stellt sie vor allem die deutschen Ferienkolonien dar (Obosss et'^IIs-
nm^no: I^ii ävksnss <zontr<z la tubsrtzulo86; <ÜoIoniö8 as vaeanesZ). Auch mit
der deutscheu Kranken- und Jnvaliditätsversicherung hat sie sich eingehend be¬
schäftigt.
So treten uns aus dem Spiegel fremder Auffassung Vorzüge unsrer Zu¬
stände entgegen, die wir selbst weder hochmütig überschätzen noch grämlich verkennen
sollen, wie es oft genug geschieht, weil wir uns nicht die Mühe nehmen, sie
mit fremden Verhältnissen zu vergleichen. Zu deu Erscheinungen unsrer jüngsten
Vergangenheit, die noch nicht gerecht beurteilt werden, gehört auch die Kaiserin
Friedrich. Erst eine Zeit, die von den Nachwirkungen der großen Gegensätze,
in die sie hineingestellt war, nichts mehr empfindet, wird sie unbefangen und
wirklich historisch auffassen können.
uf dem Schlachtfelde von Bosworth sank mehr als das Hans
Jork in den Staub. Mit dem Falle Richards III. schwand die
Gesellschaft, in der auf gepanzerten Rosse der gepanzerte Reiter
den Ausschlag gab. Schon die beiden yorkischen Brüder Edward IV.
und Richard III. gehörten ihr nicht mehr an, doch sie wurzelten
noch in ihr, und Richards Tod bezeichnete für Englaud das Ende des Mittel-
nlters und den Beginn der Neuzeit. Die stolzen Barone, die auf Nunnhmede
von Johann die Magna Charta erzWangen, die Hugh Despenser, den Günstling
Edwards II., an einen fünfzig Fuß hohen Galgen hängten, sie waren nicht
mehr. Ihr schwerer, selbstbewußter Tritt erklang nicht mehr in des Königs
Halle, ihre Faust fiel nicht mehr auf den Tisch des Ratsgemachs. Bloß die
de la Poles, die Stanlehs und die Howards hatten sich in die neue Zeit
hiuübergerettet; und was sonst noch vom alten hohen Adel übrig war, kam
nicht in Betracht gegen die Macht, die sich das kräftige Geschlecht der Tudors
mit festem Griffe aneignete. Wer hinfort im Staate etwas gelten wollte,
mußte nicht die Muskeln, sondern das Hirn anstrengen und die Frucht seiner
Mühen als eine Gnade aus der Hand des Königs empfangen.
Die alte englische Verfassung wurde darum nicht geändert. Der erbliche
große Reichsrat des Adels, das Oberhaus, blieb unangetastet, ebenso das
Unterhaus, die Vertretung der Grafschaften und der Städte. Die Rechte des
Parlaments wurden nicht geschmälert, und Gesetzgebung und Vesteurung gingen
nach wie vor aus einer Vereinbarung zwischen König und Parlament hervor.
Der Unterschied zwischen der Zeit der Lancasters und der Tudorzeit liegt vor
allem in der Mnchtverschiebung, die dem König in jeder Beziehung das Über¬
gewicht verlieh. Das Unterhaus hatte sich niemals mit Ansprüchen hervor¬
gedrängt und nach einer Teilnahme an der Regierung gestrebt; nur das Ober¬
haus hatte seine Macht eingebüßt und konnte sie nie wieder gewinnen. Die
Freiheit, deren sich infolgedessen das Königtum erfreute, bekundete sich sogleich
in der Zusammensetzung des stündigen Staatsrates, auf die früher die Barone
einen dein königlichen Willen oft unangenehmen Einfluß ausgeübt hatten.
Der Staatsrat wurde zum Geheimen Rate; in diesem Namen zeigte er schon,
daß ihm der Wille des Königs als Richtschnur galt.
Der König im Rate regierte das Reich. Man muß es den Tudors
lassen, daß sie es verstanden haben, ihre Nöte auszuwählen und den richtigen
Mann an die richtige Stelle zu setzen. Der Geschichtsschreiber I. R. Green
sieht in dein Zeitalter der Tudors einen Rückschritt in der Entwicklung der
englischen Verfassung. Von seinem Standpunkte, dem des Geschichtsschreibers
des Volkes, hat Green Recht. Aber kein Rückschritt hat England als Ganzes
so gefördert wie gerade dieser, und unter den Verhältnissen war er eine Not¬
wendigkeit. Der Niedergang der Feudalwelt mußte eine Stärkung der Königs¬
gewalt nach sich ziehn, und England ist dabei besser gefahren als Deutschland,
wo die Übermacht der Fürsten dem Ganzen nicht gerade zum Heile gereicht
hat. Für Deutschland war die Schaffung des Beamtenstaates, die sich ans
dem Übergang von der feudalen Naturalwirtschaft in die Geldwirtschaft der
Neuzeit als notwendig ergab, eine Aufgabe, die wohl von den Fürsten gelöst
worden ist, an der das Reich aber scheiterte. In England gelang die Lösung
ohne große Schwierigkeit, weil kein Widerstand zu überwinden war. Wenn
deshalb auf zwei Jahrhunderte der Einfluß des Parlaments auf die Ver¬
waltung in den Hintergrund trat, so wurde der Schade, vorausgesetzt, daß es
überhaupt einer war, mehr als aufgewogen durch die innere Festigkeit und Ge¬
schlossenheit des Staatsgebäudes, die England ermöglichte, seine Kräfte zu¬
sammenzufassen, das deutsche Volk, das ihm im sechzehnten Jahrhundert noch
an Kapitalkraft weit überlegen war, zu überflügeln und ein Weltreich zu
gründen.
Bei der Schaffung des neuen Beamteustcmtes lehnten sich die Tudors
an das Hergebrachte an, ganz gemäß dem konservativen Charakter ihres Volkes,
das auch tief einschneidende Verändrungen äußerlich zu verdecken und zu
übertünchen liebt; und wo Änderungen nicht unumgänglich nötig waren, ließen
sie das Alte ruhig weiter bestehn. Im Geheimen Rate treffen wir dieselben
großen Würdenträger wieder an wie vordem, nnr daß sie ihre Bedeutung nicht
mehr in sich selbst und ihrer Hausmacht haben, sondern vom König erhalten,
der, wie er sie berufen hat, sie auch wieder beiseite schieben und, Wenns ihm
beliebt, mit allen gebührenden richterlichen Formen aufs Blutgerüst schicken
kann. Als Vermittler des persönlichen Willens des Königs tritt ferner zu
ihnen dessen Sekretär, der sich aus der untergeordneten Stellung, die er ur¬
sprünglich einnahm, schnell zum wichtigsten Mitgliede des ganzen Geheimen
Rates auswächst. Viele der alten Ämter, z. B. das des Lordkämmerers,
waren für die Staatsverwaltung nur noch von geringer Bedeutung; andre
wurden zu bloßen Hofstantpvsten, wie das des Haushofmeisters oder Scneschalls
(Steward). Wirkliche Wichtigkeit behielten nur noch zwei, die des Lordkanzlcrs
und des Lordschatzmeistcrs. An Ansehen und Rang stand am höchsten der
Lordkanzler, Großsiegelbewahrer, oberster Richter und Vorsitzender des Ober¬
hauses. An praktischer Bedeutung jedoch überragte ihn der Lordschatzmeister,
der, schon unter den normannischen Königen der wichtigste Beamte, unter den
Tudors zum Haupte und zur Seele der gesamten Verwaltung wurde. Die
Sorge für das Ganze machte natürlich eine Entlastung von den eigentlichen
Arbeiten des Schatzamtes nötig, und die Leitung des Finanzwesens ging an
den Schatzkauzler (vluwvsllor ok tluz Dxvüöcinsr) über. An diese drei schloß
sich noch der Geheimsiegelbewahrer, der in früherer Zeit als der besondre
Vertraute des Königs galt, jetzt aber in dieser Eigenschaft vor dem Sekretär
in den Schatten trat.
Von Fachministern war keine Rede mit Ausnahme des Schatzkanzlers.
Soweit der König die Angelegenheiten der Regierung nicht persönlich entschied,
wurden sie in den Sitzungen des Geheimen Rats erledigt. Für die Einheit¬
lichkeit der Politik bürgte die Macht des Königs, der die Minister ihre Be¬
rufung verdankten, wie der verhältnismäßig kleine Umfang des Rats. Mit Kraft
und Umsicht geleitet, erwies sich so die Regierung durch deu König im Rate
von großem Segen, besonders unter Elisabeth. Sie stärkte die Kräfte des
Landes politisch und wirtschaftlich, und vermöge der oberstrichterlichen Gewalt
des Königs schaffte sie in dem dnrch die innern Wirren des vorangegangnen
Jahrhunderts zerrütteten Reiche Ordnung. Die Reformation und die darauf
folgende Entwicklung der Ortsverfasfnng mit geregelter Armenpflege sind ihr
Werk. Gneist sagt sehr richtig, daß an vielen der Gesetze, deren intellektuelle
Urheberschaft in den Staatsmännern Elisabeths lag, zweihundert Jahre späterer
Gesetzgebung wenig zu bessern gewußt haben.
Man sollte denken, daß eine Regierungsbehörde, die sich so bewährt hatte
wie der Geheime Rat Elisabeths, vor leichtsinnigen Änderungen sicher gewesen
wäre. Doch leider hörte er bald nach ihrem Tode ans, das zu sein, was er
unter ihr gewesen war. Die Gründe seines Verfalls waren erstens die Ver¬
mehrung seiner Mitglieder anf eine Zahl, die ihn für wirkliche Regierungs¬
thätigkeit untauglich machte; zweitens der Mißbrauch seiner richterlichen Be¬
fugnisse durch deu in der berüchtigten Sternkammer lagerten Ausschuß; und
drittens die Günstlingwirtschaft, die schon unter Jakob 1. einriß und mit dem
Ansehen der Staatsbeamten auch das Ausehen der Behörde, in deren Namen
sie wirkten, erniedrigte. Beim Ausbruche des Bürgerkriegs galt der Geheime
Rat nichts mehr, und die Republik schaffte mit dem Königtum auch ihn ab.
Die Wiederherstellung der Stuarts brachte ihn wieder, zwar ohne Sternkammer,
doch im übrigen zur Arbeit so untauglich wie vordem. Die Verhältnisse, die
mit Karl II. zurückkehrten, ließen eine Wiedereinsetzung in seine ursprüngliche
Wirksamkeit nicht zu. Karl II. bedürfte seiner nur als Mantel für die Re¬
gierung, nicht zur Regierung selbst. Seinen Plänen paßte ein kleines Kabinett
wie das Cabalministerium besser.
Ein einziger ernster Versuch ist gemacht worden, den Geheimen Rat wieder
zum wirklichen Trüger der Regierung zu erheben. Das war der Versuch des
Sir William Temple, eines der wenigen Staatsmänner in Karls II. Zeit, die
Achtung verdienen. Allmühlich, aber sicher, hatten sich im Laufe des siebzehnten
Jahrhunderts die Machtverhältnisse zu Gunsten des Unterhauses und zu Un-
gunsten des Königs verändert, ein Vorgang, dem die Leitung der Angelegen¬
heiten durch eine kleine Gruppe vou Günstlingen allen erdenklichen Vorschub
leistete. Nach dem Urteil Maeaulahs beabsichtigte Temple einer weitern Ver-
mindruug der Macht der Krone und Ausdehnung des parlamentarischen Ein¬
flusses dadurch vorzubeugen, daß die Negierung wieder wie unter Elisabeth
in die Hände eines Geheimen Rates gelegt wurde, der durch seine Zusammen¬
setzung für eine Wahrung der verfassungsmäßigen Rechte des Volks bürgte
und darum erwarten konnte, von der lästige» Beaufsichtign>ig durch das Unter¬
haus verschont zu bleiben.
Der alte, durch seine Zahl unförmliche Geheime Rat mit seinen nichts
bedeutenden Ausschüssen wurde aufgelöst und durch einen neue» von dreißig
Mitgliedern ersetzt. Von diesen sollten fünfzehn die obersten Posten der Re¬
gierung bekleiden, die andern aber aus Männern von solcher Stellung und solchem
Vermögen gewählt werden, daß sie über Bestechung durch die Krone erhaben
waren. Der neue Geheime Rat war also halb eine ausführende Regierungs¬
behörde, halb ein Parlament von Vertrauensmännern. Alle Staatsangelegenheiten
sollten in diesem Rate und nur hier verhandelt werden, und Karl II. versprach,
sich in allem vou ihm beraten zu lassen. Wenn das Gelingen des Planes
von dem Beifall abgehangen hätte, mit dem er begrüßt wurde, so hätte er
gelingen müssen. Doch .Karl war keine Elisabeth, und der Plan wurde nie
auf eine ehrliche Probe gestellt. Dazu zeigte sich schon zu Anfang, daß auch
die neue Körperschaft noch zu groß und ungefüge war für die Zwecke praktischer
Geschäftsleitung. Temple mußte sich bequeme», einen Ausschuß von nenn Mit¬
glieder:, zu bilden, worin sich wieder ein kleiner Viererrat zur Herrschaft zu¬
sammenthat. Damit ging Temple selbst wieder auf das alte Kabinett zurück,
das er hatte umgehn wollen. Hatte der Mangel an harmonischer Einheit zur
Bildung des Ausschusses geführt, so verschärfte die Bildung des Ausschusses wieder
die vorhandne Mißstimmung, und Streitigkeiten folgten. Endlich dachte anch der
König nicht daran, sein Wort zu halten. Er vertagte das Parlament, ohne
den Rat anch nur zu benachrichtigen, löste es auf und vertagte das neugewählte
gegen die Stimmen der überwältigenden Mehrheit des Rats. Kurz, der
Geheime Rat Temples hatte nicht mehr zu bedeuten als sein Vorgänger, und
der König folgte nur seinen persönlichen Vertrauten.
Seitdem war die alte verfassungsmäßige Negieruugsbchörde des Geheimen
Rats für praktische Zwecke abgethan. Verschiedne Behörden, die wir später
erwähnen werden, gelten gesetzlich als seine Ausschüsse. Doch als Körperschaft
ist er daran unschuldig. Die Mitglieder, über 230 an Zahl, werden über¬
haupt nicht mehr zur Teilnahme an den Sitzungen eingeladen, und in den
Ausschüsse» kehren immer dieselben Namen, nämlich die der Minister im Amte
wieder. Der Geheime Rat besteht in Wirklichkeit nur noch dazu, Männern
von Verdienst eine gewisse Rangstellung mit dem Prädikate „Recht ehrenwert"
zu verleihen und der aus dein Parlament hcrvorgegangnen Kalnnettsregicrnng
als gesetzliches Aushängeschild zu dienen. Sonst ist sein Dasein für das britische
Reich von keiner Bedeutung mehr.
Eine Folge des Scheiterus des Templischen Reformversuchs war eine
Stärkung und weitere Ausbildung des Parteiwesens im Parlament wie nußer-
halb. Niemand konnte sehen oder beurteilen, was im Kabinette vorging, und
niemand hatte das Vertrauen, daß das, was dort verhandelt wurde, zum Wohle
des Landes war. Je geheimnisvoller die Negierung geführt wurde, um so
weniger Vertrauen wurde ihr entgegengebracht, um so mehr Anlaß hatte das
Unterhaus, sich nicht auf seine durch die alte Verfassung bestimmten Aufgaben
der Gesetzgebung und der Steuerbewilligung zu beschränken, sondern eine scharfe
Überwachung und Beaufsichtigung der ausführenden Gewalt zu üben. Dies
in der Weise zu thun, wie es ein Menschenalter später geschah, daran dachte
noch niemand. Was heute unter parlamentarischer Regierung verstanden wird,
kam den konservativen Köpfen der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts
nicht in den Sinn. Nur durch ein verzwicktes Ränkespiel, darauf berechnet, das
Ohr des Königs zu gewinnen und ihn umzustimmen, oder gegebnenfalls durch
Versagung der Geldmittel für bestimmte nicht genehme Zwecke schien es ihnen
möglich, Einfluß auf die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten zu gewinnen.
Das Bestreben Wilhelms III., seine Minister aus dem Parlament zu
nehmen oder ins Unterhaus eintreten zu lassen, wurde vom Parlament
durchaus nicht mit Freuden begrüßt. Man witterte darin Pläne wider die
Unabhängigkeit der Körperschaft und wünschte nichts sehnlicher, als die gesetz¬
gebende Gewalt von der ausführenden getrennt zu halten. Das Parlament
hatte nicht so ganz Unrecht. Wilhelm bezweckte ja auch uicht, dem Parlament
Einfluß auf die Negierung zu verschaffen, sondern vielmehr das Parlament
durch die Regierung zu beeinflussen. Das Parlament suchte sich zu schützen,
indem es im Jahre 1700 beschloß, daß von der Thronbesteigung der Welsen
an niemand, der ein Amt vom König annähme, im Unterhause sitzen dürfe.
Jedoch in den vierzehn Jahren, die noch bis zur Thronbesteigung des welsischen
Hauses vergingen, und in denen die Minister fortfuhren, dem Parlament an¬
zugehören, lernte dieses einsehen, welche vortreffliche Handhabe die Anwesen¬
heit der Minister in der Volksvertretung bot, die Regierung gefügig zu macheu.
Die Bestimmung des Jahres 1700 wurde deshalb durch eine andre ersetzt, die
an die Annahme eines Amts von der Krone wohl den Verlust des Sitzes
knüpfte, aber die Wiederwahl zuließ. Die um die Macht ringenden Großen
nutzten die so geschaffue Lage aufs beste aus. Das Kampffeld war nun nicht
mehr ans den königlichen Hof beschränkt, sondern ans ein Gebiet ausgedehnt,
das ihnen neben freieren Spielraum auch größere Sicherheit gegen höfisches
Ränkespiel gewährte. Der Schwerpunkt der Politik verschob sich nach dein
Unterhause hin, und als endlich Georg I. einzog, ging er ganz dort hinüber.
Die Parteien des Parlaments entschieden über die Geschicke des Landes, aus
ihren Führern allein konnten die Minister gewühlt werden.
Parteien hat es gegeben, solange es eine menschliche Gesellschaft giebt.
Manchmal kann man ihre Merkmale in der Verschiedenheit der religiösen oder
der politischen Anschauung finden, manchmal nur in der Person ihrer Häuptlinge;
oftmals ist beides vereint, wie bei den deutschen Lagern der Welsen und der
Waiblinger, aber sehr oft auch mischt sich persönliche Eigensucht hinein, und
dann ist der Hauptunterschied, daß die eine Partei im Genusse der Macht und
der damit verbundnen guten Dinge ist, während die andre danach strebt, sich
selbst an die Krippe zu setzen. Gemeinsam pflegt allen Parteien nur die
Bitterkeit zu sein, mit der sie einander befehden. Am dauerndsten und Ver-
ändrungen am wenigsten unterworfen sind die religiösen Parteien. Alle andern
verschwinden nach einem verhältnismäßig kurzen Dasein wieder vom Schau¬
platze und fallen der Vergessenheit anheim. Wer kümmert sich heute noch um
die Blauen und die Grünen im byzantinischen Zirkus? Für Birkebeiuer und
Bagler erwärmt sich höchstens ein Jbsenverehrer, den Hüten und Mützen in
Schweden, den Armagnacs und Bourgignons in Frankreich, den Kabeljauen
und Haken in Holland gewinnt nur der Historiker noch Teilnahme ab. Auch
die großen englischen Parteien der Whigs und Tories sind dahin, sie sind so
tot wie die Königin Anna, und das Wunder ist nur, daß sie sich so lange ge¬
halten haben. Whig und Torb waren zuerst nichts als Spitznamen, die
Protestantischen Eiferern in Schottland und katholischen Flüchtlingen in Irland
beigelegt wurden, aber, nach England verpflanzt, eine Bedeutung erhielten, die
ihren Ursprung nicht mehr ahnen ließ. Die ursprünglichen Whigs und Tories
waren arme Teufel, die oft nicht wußten, wo sie ihr Haupt zur Ruhe nieder¬
legen konnten, die Whigs und Tories des englischen Parlaments aber waren
wohlbegüterte Herren, die auf Daumen schliefen und nicht um ihr täglich Brot
zu sorgen brauchen.
Wer Gullivers Reisen gelesen hat — damit sind nicht die für die reifere
und die unreife Jugend verballhornten Bearbeitungen gemeint —, wer Gullivers
Reisen gelesen hat, wird sich des bittern Spotts erinnern, den Swift dort
über die politischen Verhältnisse Englands ausschüttet. Swift war ein galliger
Herr, er war schon gallig, als er noch Temples Geheimschreiber war, aber er
hatte scharfe Angen nud wußte zu beobachte,:. In den beiden Parteien des
liliputmnschen Reichs, den Trameckscms und Slamecksans kann man leicht die
Tories und Whigs erkennen, und nnter den Dickendem und Dünnendern muß
man Katholiken und Protestanten verstehn. Whigs und Tories waren wie
Siamesische Zwillinge. Sie gehörten zusammen, und als die Whigs ihr Ge¬
schäft an die Liberalen abtraten, mußten auch die Tories das alte Firmen¬
schild einem neuen mit dem Worte konservativ weichen sehen. Zusammen sind
Whigs und Tories in die Welt getreten, zusammen sind sie geschieden, wie es
Zwillingsbrüdern geziemt. Zwillingsbrüder waren sie in der That, einander
so ähnlich, daß, um wieder auf Swifts Satire zurückzufallen, sie sich nur durch
die Höhe der Absätze ihrer Schuhe unterschieden. Trügen die Whigs niedrige
Absätze, so stolzierten die Tories auf hohen einher. Sonst tranken die einen
Portwein ebenso gern wie die andern, und die Gicht fuhr unparteiisch beiden
in die Beine. Mit den Parteien, die einander im Bürgerkriege befehdeten,
hatten sie nichts gemein. Independenten, Puritaner, Presbyterianer waren
unter ihnen nicht zu finden. Sie verabscheuten alles, was nicht den Stempel
der Staatskirche trug, und monarchisch waren sie bis in die Fußspitzen.
Ein eigentlicher tiefer Unterschied war mir in ihrer Jugend vorhanden,
bevor sie die Süßigkeit der Macht gekostet hatten. Das war noch unter
Karl II. Da standen die Tories für die legitime Thronfolge ohne Vorbehalt
ein, während die Whigs sie ans Protestanten beschränkt wissen wollten. Zu¬
nächst überwog die toryistische Anschauung, und Jakob II. trat unbehelligt die
Regierung an. Aber die Tyrannei des bigotten Königs that mehr, als alle
Anstrengungen der Whigs vermocht hätten, die Tories zu schädigen. Alles,
was nicht durch und durch absolutistisch gesinnt war, wandte sich von ihm ab,
und die Tories zerfielen in zwei Gruppen, von denen nur die kleinere ganz
jakobitisch war. Die andre stärkere Gruppe war bloß bedingt jakobitisch und
rückte allmählich den Whigs näher. Diese letzte wurde die Torypartei, die
hinfort mit den Whigs um den Vorrang im Staate stritt. Solange die
Königin Anna lebte, bemühten sich die Tories nach Kräften, die Thronfolge
der Welsen zu hintertreiben und die Stuarts zurückzuführen. Beide Parteien
rüsteten sich für die nahe Entscheidung, beide bereit, einen Bürgerkrieg herauf-
zubeschwören über die Frage, ob Georg I. oder Jakob III. König sein sollte.
Doch der plötzliche Tod der Königin überraschte die Tories, die Whigs
triumphierten, und ihr Anwärter, der Kurfürst von Hannover, wurde im West-
minster gekrönt.
Die Whigs hatten Grund zur Freude. Es handelte sich nicht mehr um
einen protestantischen oder einen katholischen König; denn auch die Tories hatten
von Jakob Stuart den Übertritt zur englischen Kirche als Bedingung ihrer
Hilfe gefordert. Das Ziel, das beiden Parteien vorschwebte, war, dnrch ihren
König in den Alleinbesitz der Macht zu gelangen. Eine bessere Gelegenheit
als der Thronwechsel ließ sich gar nicht denken, die Macht des Parlaments
sicher zu begründen. Von den Thronbewerbern war der eine ein Fremdling,
der andre der Sohn eines Vertriebnen Königs. Wer anch auf den Thron
kam, er gelangte dazu nicht aus eigner Kraft, und die Partei, die deu neuen
König einsetzte, war auf längere Zeit der Macht sicher. König Jakob hätte
sich auf die Tories stützen müssen, wie Georg auf die Whigs. Von beiden
war jedenfalls der Fremdling Georg, der keine alten Ansprüche durchzusetzen
hatte, der Gefügigere. Die Erwartungen der Whigs mögen groß gewesen sein,
aber der Erfolg muß sie noch übertroffen haben. Ein volles halbes Jahr¬
hundert war es den Whigs vergönnt, die Herrschaft des Parlaments auszu¬
bauen und sich im Glänze der Macht zu sonnen.
Den Tories blieb nichts übrig, als sich ins unvermeidliche zu schicken
und mit der vollendeten Thatsache abzufinden. Sie mußten es, wenn sie je
regierungsfähig werden wollten. Bis auf einige wenige Starrköpfe sagten sie
sich von den unverbesserlichen Stuarts los. Höchstens im engsten Freundes¬
kreise trank man noch auf die Gesundheit des Königs überm Wasser. Darüber
hinaus ging man nicht, und die beiden jakobitischen Aufstände von 1715 und
1745 fanden in England selbst so gut wie keine Unterstützung. Der sittliche
Verfall Karl Edwards beseitigte dann auch den letzten Rest dieses Unterschieds
zwischen den beiden Parteien. In allen übrigen grundsätzlichen Anschauungen
stimmten sie überein. Warum sollten sie auch nicht? Beide gehörten deu
obersten Schichten der Bevölkerung um, die allein etwas galten, während die
Masse überhaupt nichts zählte. Ihr Leben ruhte auf derselben wirtschaftlichen
und geistigen Grundlage, und was sie trennte, war wirklich nichts, als daß
sie eben zwei Parteien waren, von denen die eine an der Krippe saß, die andre
nicht. Doch das war hinreichend Grund für die angeborne Abneigung, die,
wie Addison sich im spectator ausdrückte, die beiden so natürlich zu gegen¬
seitiger Bekämpfung trieb wie den Elefanten und das Rhinozeros.
Von einem Eintreten für ein starkes Königtum, das die Tories noch
unter Karl II. auf ihre Fahne geschrieben hatten, war unter den Welsen nichts
mehr zu spüren. Damals hatten sie nur durch den König ans Ruder gelangen
können, jetzt aber bot sich diese Möglichkeit viel besser, ohne dein König ver¬
pflichtet zu sein. So wurden sie aus anfänglichen Gegnern eifrige Verfechter
der neuen Ordnung, unter der die Macht im Parlament lag.
In mancher Beziehung ähnelte die Regierung Englands nach der Thron¬
besteigung der Welsen der zur Zeit der Barone. Die Episode tudorischer und
stuartischer Selbstherrlichkeit war überwunden, der große Staatsrat der Barone
regierte wieder, wenn auch unter neuen Formen. Im Parlament lag freilich
das Gewicht nicht mehr im Oberhause, sondern bei den Gemeinen. Aber that--
sächlich waren doch die großen Adelsgeschlechter die eigentlichen Herrscher, weil
sie durch ihren Einfluß die Mitglieder des Unterhauses ihren Zwecken dienstbar
zu machen wußten. Es bestand kein so weiter Abstand zwischen Oberhaus und
Unterhaus wie zwischen den alten, mehrfach mit dein königlichen Hanse ver¬
schwägerten Baronen und den bescheidnen Gemeinen des Mittelalters. Beide
Teile standen einander näher. Die neuen Peers waren im eigentlichsten Sinne
nur die Häupter des Landadels, aus dem sie durch königliche Gnade heraus-
gehoben waren, und die Mitglieder des Unterhauses gehörten entweder als
Grafschaftsvertreter selbst dem Landadel an oder entstammten als Städte¬
vertreter den dem Landadel an Besitz gleichstehenden Patriziern. Die Teilung
des Parlaments in Oberhaus und Unterhaus war also bloß scheinbar, die
wagerechte Scheidelinie war nur schwach sichtbar, die wirkliche Scheidelinie
ging senkrecht dnrch beide Hänser — hie Tories, dort Whigs.
Eine Volksvertretung im neuern Sinne war das Parlament nicht, sondern
nur eine Vertretung der obern besitzenden Schicht durch die oberste. Doch
gerade der Beschränkung auf diese durch Gemeinsamkeit der Interessen zusammen-
gehaltne obere Schicht verdankte die parlamentarische Regierungsart ihren
Erfolg. Die Ausdehnung des Wahlrechts auf die untern Klassen hätte andre
Parteien erzeugt und einer einheitlichen Kabinettbildung den Boden entzogen.
Ohne das Vorhandensein in sich geschlossener Parteien Hütte sich der Übergang
der ausübenden Gewalt an das Parlament, wenn er nbcrhnnpt möglich ge¬
wesen wäre, nicht ohne scharfe Reibungen und Kämpfe vollzogen. So aber
ging die Entwicklung einen ruhigen, stetigen Gang, ohne Störung in der Ver¬
waltung. Für den oberflächlichen Beobachter war die Verändrung kaum be¬
merkbar. Denn wohlverstanden, an dem Herkommen, das im Könige den
Träger der Macht sah, wurde standhaft festgehalten. Nach altem Verfassungs-
rechte lag die gesetzgebende Gewalt beim König und beim Parlament, die
allsführende beim König und dem Geheimen Rat. Darum mußte der für die
Regierung schon längst untaugliche Geheime Rat sein Leben weiter fristen und
die Thatsache bemänteln, daß die gesetzgebende Körperschaft sich anch die aus¬
führende Gewalt angeeignet hatte. Bloß als Mitglieder des Geheimen Rats
hatten die Minister Karls II. schalten und walten können. Unter dein Schilde
des Geheimen Rats führten auch die Parteikabinette der Welsen die Geschäfte
des Königreichs. Verdankten aber die Minister ihre Stellung dem Willen des
Königs, so verdankten sie diese Kabinette der Macht ihrer Partei. Auf die
Form der Ausübung der Gewalt blieb die Verändrung ihrer Quelle ohne Ein¬
fluß. Die Einfassung des Brunnens trug nach wie vor die königlichen Zeichen,
und sein Wasser floß in der gewohnten Rinne weiter; nur entstammte sein
Wasser nicht mehr der königlichen Quelle, sondern der parlamentarischen.
Die Regierungsnmter blieben also der Form nach, wie sie waren, und sind
bloß nach und nach dem Bedürfnis gemäß weiter ausgebaut und neugestaltet
worden. Unter den jetzt bestehenden lassen sich drei ziemlich scharf getrennte
Gruppen erkennen, erstens die alten aus der Tudorzeit herübergenommnen
Ämter, zweitens solche, die ihr Dasein ans Ausschüsse des Geheimen Rats
zurückführen, und drittens solche, die für sich allein und abseits von der Ver¬
waltung des eigentlichen englischen Königreichs stehn.
Einer Änderung im Wesen unterlag schon zu Anfang des neuen Zeitraums
das Amt des Lordschatzmeistcrs, der, unbeschadet des höhern Ranges des Lord¬
kanzlers, der wichtigste und mächtigste Beamte und der Leiter des Ganzen war.
Um nun nicht so viel Gewalt in der Hand eines Mannes zu lassen, wurden
bald nach der Thronbesteigung Georgs I. die Befugnisse des Lordschatzmeisters
einer Kommission von fünf Mitgliedern übertragen, dem ersten Lord, dem
Schatzkanzler und den drei jüngern Lords des Schatzamts. Nach dem Patente
sollten sie einander gleichstehn und gemeinsam das Schatzamt verwalten. Doch
das Schatzamt hat längst aufgehört, eine kollegialische Behörde zu sein. Was
die Verwaltung des Staatsschatzes angeht, ist der Schatzkanzler der wirkliche
und alleinige Finanzminister, verantwortlich für Einnahmen und Ausgaben und
die Aufstellung des Budgets. Um die Stetigkeit der Geschäftsführung zu be¬
wahren, steht unter ihm ein ständiger Sekretär, der nicht dem Parlament ent¬
nommen ist und darum von einem Negicruiugswechsel nicht berührt wird. Da
das Unterhaus alle Fragen der Finanz für sich allein beansprucht, so ent¬
stammen der Schntzkanzler und die jüngern Lords des Schatzamts immer den
Gemeinen. Eine selbständige Thätigkeit fällt den jüngern Lords nicht zu. Ihre
Arbeit beschränkt sich auf die Unterzeichnung gewisser Schriftstücke. Zu sagen
haben sie wenig, und gegen den Schatzkanzler gilt ihre Stimme nichts.
Der erste Lord des Schatzamts steht den Finanzen genau so fern wie
der Lordschatzmeister. Er hat mit dem Schntznmte nicht mehr als den Namen
gemein. Als die kollegialische Behandlung der Geschäfte mit dem Überwiegen
des Schatzkanzlers in Finanzsachen schwand, siel dem ersten Lord billigerweise
alles übrige anheim. Er wurde, der Absicht zuwider, die bei der Einsetzung
der Kommission obwaltete, der Nachfolger des Lordschatzmeisters als Leiter der
Regierung. Er entwickelte sich zum Premierminister.
Eigentlich kann es in England einen Premierminister so wenig wie ein
Kabinett geben. Der Theorie nach stehn alle Minister als Diener des Königs
und als Mitglieder des Geheimen Rats einander gleich. Es hat auch lange
gedauert, bevor einem Minister ein Borrang vor seinen Amtsgenossen einge¬
räumt wurde. Walpole war erster Minister rein durch das Gewicht seiner
Persönlichkeit und erfuhr deswegen bittre Anfeindung. Nach ihm ragte unter
den Ministern keiner vor den andern hervor, bis der ältere Pitt ans Nuder
kam, von dem an ein Premierminister allgemein als höher stehend anerkannt
wurde. Da nun aber ein Premierminister keinen Platz in der englischen Ver¬
fassung hat, so wurde es Gebrauch, die Würde des ersten Lords des Schatz-
antes mit dem Posten des Premierministers zu verbinden. Ohne besondern
Verwaltuugszweig kann der erste Lord des Schatzamts seine ganze Aufmerk¬
samkeit der allgemeinen Politik und der Oberaufsicht widmen. Als abhängig
vom Schatzamte ist die 1851 errichtete Behörde für öffentliche Arbeiten zu
erwähnen, deren Haupt jedoch mehrfach Sitz und Stimme im Kabinett erhalten
hat. Welchem Zweige des Parlaments der Premierminister angehört, hängt
davon ab, wer als Führer der jeweilig herrschenden Partei gilt, und darum
ist das Amt des ersten Lords des Schatzes nicht wie das des Schatzkanzlers
einem Hause vorbehalte,., sondern steht Mitgliedern beider Häuser offen.
Während des größten Teils des neunzehnten Jahrhunderts ist der
Premierminister auch erster Lord des Schatzamts gewesen, nämlich bis 1835
Salisburh mit dem Herkommen brach und für sich das arbeitvollere, aber
ihm zusagende Fach der auswärtigen Angelegenheiten nahm. Dieselbe Wahl
traf Salisburh 1886 und 1895. Erst 1900 gab er das Auswärtige an Lord
Lansdowne ab und begnügte sich mit dem an Rang weit höhern, aber wenig
Mühe erfordernden Amte des Gcheimsiegelbewahrers. Der Posten des ersten
Lords des Schatzamts sank infolgedessen uuter deu drei Ministerien Salis¬
burys an Bedeutung. Im Jahre 1885 fiel er an Sir Stafford Northcote,
der aber zugleich unter dem Titel eines Enrl of Jddesleigh ins Oberhaus
befördert und kalt gestellt wurde. In Salisburys spätern Ministerien fiel
er an die uach dem Premierminister wichtigste Persönlichkeit der konservativen
Partei, den Führer des Unterhauses, erst an W. H. Smith und dann an
Arthur Balfour, der ihn noch jetzt inne hat und bei Salisburys hohem Alter
Wohl als die eigentliche Triebfeder der Regierung angesehen werden kann.
Gewissermaßen ist dadurch die alte Regel auch im konservativen Lager wieder
Zu Ehren gekommen.
(Fortsetzung folgt)
eulich hat Rudolf Eucken in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung
(Ur. 43 vom 21. Februar) einen Aufsatz veröffentlicht, der ge¬
eignet ist, weitere Leserkreise auf eine Bewegung aufmerksam zu
macheu, die jeden Gebildeten interessieren muß. Der bekannte
Philosoph legt eine Rede des Erzbischofs Mignot von Albi im
Auszuge vor und giebt der Inhaltsangabe den Titel: „Ein wissenschaftliches
Programm des modernen Katholizismus." Der leitende Gedanke in der An¬
sprache des kirchlichen Würdenträgers ist in folgenden Worten ausgesprochen:
"Das Christentum muß als der Herd des Lichts und des Lebens leuchten:
die Kirche ist die erste Lehrmacht (pmW-nuzs clootriimls) der Welt und muß
es bleiben. Dieser Rolle verdankte sie ihre Kraft im Mittelalter, wir werden
den Einfluß auf die Gesellschaft nur wiedererlangen durch unsre intellektuelle
und moralische Überlegenheit."
Dieses Leitmotiv variiert der Redner in der verschiedensten Form unter
besondrer Berücksichtigung des wissenschaftlichen Betriebs der theologischen
Studien, wie denn auch seine Rede den Titel führt: I,a metdode Ä6 1s.
lossis. Man muß anerkennen, daß hier ein Manu redet, der ganz genau weiß,
was er will, der die einschlägigen Fragen voll beherrscht und mit Meisterschaft
die Linien ziehn kann, die für die künftige Ausgestaltung der theologischen
Wissenschaft als Richtschnur dienen sollen.
Rudolf Eucken fügt am Schlusse seiner Abhandlung folgende Bemerkungen
an: „Über die nähern und die weitern Aussichten dieser Bewegung — denn
ohne Zweifel handelt es sich um eine Bewegung, die nicht aus dem Tage ge¬
boren ist und nicht mit dem Tage vergehn wird — haben wir hier kein Urteil
abzugeben, ebensowenig, wie sich hier in eine Erörterung der Prinzipienfrage
eintreten läßt. Wer die Sache vom engkvnfessionell-protestantischen Partei¬
standpunkt ansieht, mag sich eines Mißbehagens nicht erwehren können. Denn
indem jene Bewegung im Katholizismus die Geister mehr zur Thätigkeit auf¬
ruft, ihm geistige Hilfsmittel zuführt, sein religiöses Leben vertieft, der ihn
bedrohenden Mechanisierung entgegenwirkt, muß sie seine Macht auch nach
außen stärken, ihn leistungsfähiger in dein Wettbewerb um die Geister machen.
Wer dagegen die Erlebnisse der Menschheit von einem umfassenden Standpunkt
aus betrachtet, der wird sich jener Bewegung nur freuen können und ihr eine
warme Sympathie entgegenbringen. Denn sie ist ein willkommnes Zeugnis
eines mächtigen Verlangens nach mehr Ursprünglichkeit des religiösen und des
gesamten geistigen Lebens, nach mehr Innerlichkeit und mehr Wahrhaftigkeit
des menschlichen Daseins. Und mit solchem Verlangen hat sie die Notwendig¬
keit der weltgeschichtlichen Lage zu ihrem Bundesgenossen."
Die ruhige Erwägung der Sachlage, wie sie Eucken vornimmt, entspricht
im wesentlichen den zur Zeit bestehenden Verhältnissen, ohne daß man deswegen
jede seiner Bemerkungen, soweit sie Werturteile enthalten, als durchaus zu¬
treffend anzuerkennen braucht. Unzweifelhaft hat aber Eucken recht, wenn er
feststellt, daß wir es mit einer Bewegung zu thun haben, die berufen ist, das
Interesse der Katholiken wie der Evangelischen noch auf lange Zeit in An¬
spruch zu nehmen. Eine Untersuchung über den Ursprung und den Ausbau
dieser geistigen Strömungen wird zu zeigen versuchen, daß diese in den ver-
schiednen Ländern im allgemeinen dieselben Ziele verfolgen, sowie daß die da¬
durch hervorgerufueu Gegensätze im Katholizismus in ihrer Aussprache und in
ihrem Gcdankeninhcilte fast ganz identisch sind.
Sieht man von ganz wenigen Ausnahmen ab, so wird der gesamte Klerus
Frankreichs in den Divzesanseminarien erzogen. Es ist noch nicht gar lange
her, daß es an vielen bischöflichen Kurier streng durchgeführter Grundsatz war,
dem Klerus eine mittelmäßige Bildung zu geben, die ihn befähigte, die Pflichten
der Seelsorge auszuüben, dagegen keinerlei aktive wissenschaftliche Bethätigung
erlaubte, weil dazu alle Grundlagen fehlten. Als dann zu Beginn der sieb¬
ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die große Bewegung der rationalistischen
Kritik der Glnubenswahrheiten neuen Aufschwung erhielt und die Erforschung
der altchristlichen Zeit in einer bis dahin ungeahnten Weise namentlich vom
englischen und vom deutschen Protestantismus gefördert wurde, die Kritik im
Hochgefühle absoluter Sicherheit die „Entstehung des Katholizismus, seiner
Lehre und Organisation" ins fünfte Jahrhundert hinunterdrückte und zahlreiche
Untersuchungen quellenkritischcr, kanonistischer und rein theologischer Art diese
Anschauungen zu stützen schienen, da sahen sich weite Kreise des französischen
Klerus dieser Invasion neuer Meinungen machtlos gegenübergestellt. Die einen
wandten alleu diese» Problemen den Rücken und zogen sich ganz auf die Be¬
schäftigung mit der Seelsorge zurück, während eine kleinere Zahl aktiver Geister
sich mit den neuen Ergebnissen auseinanderzusetzen versuchte.
Während dieselbe Bewegung beim deutschen Klerus keineswegs die Über¬
raschung hervorrief, wie in Frankreich, wurden nicht wenige der französischen
Theologen ganz in den Gedankenkreis dieser ersten Ergebnisse hineingezogen,
und sie ließen sich ziemlich willenlos mit fortziehn, weil die Gewöhnung kri¬
tischer Verarbeitung der Forschungsergebnisse bei ihnen nicht in demselben Maße
gepflegt worden war wie anderswo. Ehe noch die moderne kritische Richtung
festgestellt hatte, daß sie im Übereifer und in der Freude über angeblich wichtige
und ausschlaggebende Entdeckungen zu weit gegangen war, hatten sich mehrere
der französischen Theologen in diesen ersten Ansichten schon häuslich eingerichtet
und begannen, die katholische Lehre langsam in dem genannten Sinne zu inter¬
pretieren. Nachdem nun die regierende protestantische Kritik nach und nach
eine Position nach der andern wieder hatte aufgeben müssen — das sprechendste
Beispiel dafür ist Harttack, der w den neuen Auflagen seiner Litteratur- und
Dogmengcschichten neuerdings viel Wasser in seinen alten Wein thun mußte —.
hielten diese modernen französischen Theologen mit der retrograden kritischen
Bewegung nicht gleichen Schritt, sondern beharrten auf ihren Auslegungen.
Dadurch ist es gekommen, daß wir in Frankreich einzelne theologische Lehr¬
bücher finden, die Ansichten enthalten, die nur von sehr wenigen nichtfran¬
zösischen Gelehrten geteilt werden können.
Da diese Herren alle in leitender Stellung sind und in ihren Vorlesungen
diese Sätze vortragen, so hat sich unter dem jungen Klerus mancher Diözesen
ein Geist ausgebildet, der wissenschaftlich nicht verdaute Dinge schlankweg für
Kirchenlehrer erklärt, bedeutsame Gemeingüter der gesamten katholischen Theo¬
logie bezweifelt und glaubt, je radikaler eine Ansicht sei, um so größeres wissen¬
schaftliches Gewicht müsse man ihr zubilligen.
Eine weitere Folge der frühern wissenschaftlichen Abschließungstheorie muß
darin gefunden werden, daß Hunderte von Priestern gegenüber der scharfen
kritischen Lust um ihrem Glauben irre werden, weil sie uicht das wissenschaft¬
liche Rüstzeug haben, den siegreichen Ausgang aus dem innern Kampfe herbei¬
zuführen. Es ist unzweifelhaft, daß die Abfallsbeweguug der Priester noch
lange nicht ihren Höhepunkt erreicht hat, so sehr einzelne Rufer im Streite
auch bemüht sind, diese Vorgänge als unbedeutend, die ganze Bewegung als
Ma Teil künstlich aufgebauscht hinzustellen. Es wäre viel vernünftiger, der
Gefahr ernst ius Auge zu schauen und die Gründe für die traurigen Vorgänge
dort zu suchen, wo sie wirklich liegen, nämlich in der zu mangelhaften Aus-
Stallung mit moderner theologischer und sonstiger Bildung — im besten Sinne
genommen — in den theologischen Bildungsanstalten.
Gegenüber diesen Vorgängen ergreift nun der Erzbischof Mignot von Albi
das Wort, um eine gründliche Reform der theologischen Studien anzubahnen,
die auf der einen Seite den heutigen Verhältnissen nach jeder Richtung hin
entsprechen und auf der andern Seite alle berechtigten Forderungen der katho¬
lischen Kirche wahren soll. Ohne daß er seine Mahnungen und Vorschläge
an bestimmte Adressen richtet, merkt doch jeder, wie die wohlerwognen, weisheits¬
vollen Worte eines gelehrten Prälaten zu versteh« sind. Und es ist dumm
selten eine Rede so zeitgemäß gewesen, wie die im Novemberhefte 1901 des
lZullstin as 1ne«Meurs govlösiksticjus, pnbliv par 1'Imsen.ut og-tliolicutg as loulouss
(Paris, Leeoffre) veröffentlichte des genannten Erzbischofs. Welchen Erfolg
dieser Aufruf haben wird, bleibt zunächst abzuwarten. Daß die Rede ein¬
geschlagen hat, kaun man aus der sich daran anschließenden Litteraturbewegnng
mit Sicherheit entnehmen.
Neben dieser wichtigsten Äußerung der Bewegung in Frankreich geht her,
daß eine Anzahl Laien, jeder auf seine Weise, an einer Vertiefung der Zeit¬
probleme energisch mitarbeitet. Die einen thun es auf dem sozialen, die andern
auf dem politischen oder kirchenpolitischen Gebiet. Es ist aus der Ferne schwer
zu entscheide», ob die angewandten Mittel immer zweckdienlich und die Vor¬
kenntnisse immer ausreichend waren, das angestrebte Ziel zu erreiche». Es
läßt sich jedoch nicht leugnen, daß sie mit der größten Zähigkeit ihr Ziel ver¬
folgen, wobei denn nicht selten der Mund etwas vollgenvmmen wird, ein Um¬
stand, der ihnen zahlreiche Feinde macht. Diese Laien haben darin Recht,
daß sie behaupten, die Männerwelt Frankreichs, soweit sie religiös gesinnt sei
und nicht dem Parlament angehöre, habe sich in den letzten Jahrzehnten fast
ausschließlich auf die Gründung und den Ausbau rein religiöser Vereine verlegt
und die soziale und die wissenschaftliche Thätigkeit im Interesse der Kirche zu
sehr vernachlässigt. Eine Änderung nach dieser Richtung herbeizuführen, ist
schwer und erfordert geraume Zeit.
Mit der zum Teil bedenklichen Entwicklung, die die französische Theologie
in den letzten Jahrzehnten genommen hat, sowie mit dem „Hineinrcgiercn der
Laien in die Kirche Gottes" ist der Bischof Turinaz von Nancy im höchsten
Grade unzufrieden. In einer umfangreichern Schrift*) erörtert er eine Anzahl
Probleme in erregter, zum Teil leidenschaftlicher Weise. Man merkt es dem
Buche an, daß sich der Verfasser damit einen „Stein vom Herzen geschrieben"
hat. Soweit seine Beurteilung einzelner theologischer Ansichten in Frage
kommt, kann man ihm nur Recht geben. Sie atmen eine destruktive Tendenz
und müssen als falsch bezeichnet werden. In manchen andern Dingen dagegen
dürften die Ausführungen scharfer Kritik offenstehn.
Im Anschluß an dieses Buch hat sich zwischen dem Bischof und der
katholischen Presse eine höchst unerquickliche Fehde entsponnen, wobei die Ruhe
des Ausdrucks allerdings auf feiten der Presse ist. Die Angriffe des Bischofs
von Nancy werden wohl zu weitem litterarischen Erörterungen führen, die
unzweifelhaft den theologischen Unterricht, die Abfallsbewegung im Priester-
und Laienstande, die Beteiligung der Laien an den sozialen und kirchlichen
Angelegenheiten, die Teilnahme des Klerus an der sozialen Bewegung unsrer
Tage und manche andre Dinge einer eingehenden Prüfung unterziehn werden.
Der Bischof von Ncincy hat sich und seiner Sache einen schlechten Dienst er¬
wiesen, daß er die Erzbischöfe von Bourges und Albi in seinen verschiednen
Schriften und Briefen direkt angegriffen hat. Aus dem übrigen Episkopate
Frankreichs hat sich noch niemand in diesem Streite zum Worte gemeldet.
Der deutsche Klerus wurde vou der modernen theologischen und kanv-
nistischen Forscherarbeit nicht überrascht. Seit langer Zeit gewohnt, solchen
Ansichten zu begegnen, hat er in der Weise darauf geantwortet, daß er an
eine Nachprüfung der vorgelegten Ergebnisse herantrat und bemerkenswerte
Erfolge dabei erzielte. Die Führer dieser wissenschaftlichen Berteidiguugs-
bewegnug siud in der Hauptsache unsre Theologen an den Universitäten, einzelne
Seminarprvfessoren und Privatgelehrte gewesen. Die Folgen dieser kritischen
Sichtung machten sich im allgemeinen in der günstigsten Weise bemerkbar, wie
von den Gegnern selbst anerkannt werden mußte.
Ju Osterreich war seit langer Zeit keinerlei frisches Leben im dortigen
Katholizismus bemerkbar. Der theologische Unterricht im allgemeinen, sowohl
der systematische wie der historische, lag sehr im argen. Das Vascottische
Handbuch beherrschte das Termin in vielen Seminarien. Der erste Anstoß
zu eiuer Anbahnung lebhaftern Strebens war gegeben, als am 9. Juni 1901
die Leogesellschaft zur Pflege von Kunst und Wissenschaft in Österreich die
Genehmigung der Staatsbehörde erhielt. An sie schlössen sich alle die Elemente
an, deuen ein Aufschwung des katholischen wissenschaftlichen Lebens am Herzen
lag. In den abgelaufnen zehn Jahren ihres Bestehens hat diese Gesellschaft
großes geleistet, und sie hat sich durch ihre Veröffentlichungen einen hoch¬
geachteten Namen erworben.
In den theologischen Fakultäten Österreichs hatte man es schon lange
als ein sehr großes Hindernis für den bessern Betrieb der Studien empfunden,
daß man erstens keine wissenschaftlichen Seminarien für Kirchengeschichte,
Exegese, kanonisches Recht usw. in den Fakultäten hatte, und zweitens sich
mit einer veralteten, wertlosen Nigorosenordnung herumschleppeu mußte. Nach
beideu Richtungen hin haben die im besten Sinne fortschrittlichen Fakultäten,
wenn auch erst nach Überwindung der größten Hindernisse, den vollen Sieg
davongetragen, sodaß in Zukunft auf beiden Gebieten mit modernen Mitteln
gearbeitet werden kann. Der deutlichste Ausdruck des energischen Willens der
Wiener Fakultät, mit dem überlieferten Schlendrian aufzuräumen, war die Be¬
rufung des Professors Ehrhard aus Würzburg. Kaum war er in Wien, so
erfolgte eine gewissermaßen programmatische Kundgebung von ihm, als er in
einer laugen Rezension und Kritik im Litteraturblatt der Leogesellschaft das
kirchengeschichtliche Lehrbuch von Vascotti als ganz erbärmliches Machwerk
an den Pranger stellte; damit traf er vor allein dessen Herausgeber, Professor
Hiptmair in Linz, und alle die Diözesanseminarien Österreichs, an denen es
gebraucht wurde.
Wenn Ehrhard schon durch dieses scharfe Vorgehn, dessen Berechtigung
auch seine Gegner nicht abstreiten konnten, in der Leute Mund gekommen war,
so kam er es noch mehr, als er im November 1901 mit einem umfangreichen
Buche an die Öffentlichkeit trat, dessen Titel lautet: „Der Katholizismus und
das zwanzigste Jahrhundert im Lichte der kirchlichen Entwicklung der Neuzeit."
(Stuttgart und Wien, Roth. 416 Seiten. 4 Mark 80 Pfennige.) Bis an¬
fangs April lagen acht Auflagen vor, und das Buch hatte die weiteste Be¬
achtung in katholischen wie evangelischen Kreisen gefunden. Es ist anzunehmen,
daß die Leser dieser Zeitschrift schon aus der Tagespresse mit dem allgemeinen
Inhalte der Schrift vertraut sind, weshalb ich nur daran erinnere, daß Ehr¬
hard einer durchaus im Bereiche der Möglichkeit liegenden Aussöhnung des
Katholizismus mit der modernen Kultur das Wort redet.
Als ob ein Funken in ein Pulverfaß geflogen wäre, so schlug dieses Buch
ein. Nachdem sich zahlreiche Männer die einen von ihrem Schrecken, die
andern von ihrer Begeisterung erholt hatten, setzten die Rezensionen und
Kritiken ein. Die führenden katholischen Blätter Deutschlands, sowohl die
Tages- wie die periodische Presse drückten unumwunden ihre Freude über
Ehrhards Vorgehn aus. „Die Kultur," Revue der Leogesellschaft, und die
Wiener Neichspost thaten dasselbe. Das „Vaterland," das Organ des Fendnl-
adels und der hohen Geistlichkeit, griff das Buch auf das schärfste an und
zog Persönliches in den sachlichen Kampf. Das Linzer Volksblatt, dem die
dortige bischöfliche Kurie und die Seminnrprvfessoren, einschließlich des Vascvtti-
heransgebers, nahestehn, war geradezu aus Rand und Band. Schimpfereien,
wie sie kräftiger kaum im österreichischen Parlament vorkommen, wurden Tag
für Tag gegen Ehrhard ausgemünzt, bis in Linz-Urfahr im Verlage des
Linzer Preßvercius die Anklageschrift von Braun, „Bedenken über Dr. Ehrhards
Vorschläge zur Versöhnung der modernen Kultur und des Protestantismus
mit der katholischen Kirche," erschien.
Am 4. März 1902 wurde die Generalversammlung der Sankt Michael-
Erzbruderschaft in Wien, einer Gesellschaft, gegründet zur Verteidigung der Rechte
des Papsttums, abgehalten, und in Anwesenheit des Kardinalerzbischofs Gruscha
vou Wien wurde dort durch Schweykert L. .7. und Baron von Morsch
mehrere Stunden lang aus Ehrhard losgeschlagen. Einer der Redner ging
so weit, Ehrhard Feigheit im Bekenntnis seines Glaubens vorzuwerfen. Soweit
hatte sich nicht einmal ?. Rösler, ein Redemptorist, der Verfasser der An¬
griffe im Vaterland, vorgewagt. Die Reichspost vom 5. März sah von einem
Bericht über diese Versammlung aus dem Grunde ab, daß „die öffentliche
Diskussion über dieses wissenschaftliche Werk am wenigsten dazu dient, die
durch dasselbe angeblich bedrohte katholische Einigkeit zu befestigen, und daß
es verfrüht und ungerecht ist, gegen ein Werk in so feierlicher Versammlung
abzuurteilen, ohne auch uur die in Aussicht gestellte Entgegnung des ob seiner
Gelehrsamkeit und seiner glühenden Liebe zur Kirche bekannten Verfassers ab¬
zuwarten." Das Erstaunen über diese öffentliche Pauschalverurteilung eines
wissenschaftlichen Buchs in breiter Volksversammlung war in den weitesten
Kreisen überaus groß und berührte mehr als peinlich. Die Macher hatten
den Oberhirten von Wien schlecht beraten, als sie ihn zur Teilnahme an der
Versammlung veranlaßten.
Ehrhard hatte sich zunächst in scharfer Weise gegen die Röslerschen Auf¬
sätze im Vaterland ausgesprochen und dargethan, daß der Kritiker nicht mehr
und nicht weniger als den ganzen Sinn des Buchs mißverstanden habe. Nach
dieser vernichtenden Feststellung erschienen noch zwei weitere Aufsätze, in denen
der bis dahin ungenannte Verfasser seine Anonymität zu lüften und viele
seiner frühern Vorwürfe zurückzunehmen gezwungen war. Hierzu ist zu ver¬
gleichen: Vaterland Ur. 357 (1901), 8, 13^ 14, 18, 20, 30, 60 und 62 (1902);
Neue Freie Presse vom 23. Januar, 9. Februar und 7. März; Reichspost vom
17., 21., 25., 29. Januar, 1. Februar, 5. März und 25. März; Allgemeine
Zeitung Ur. 67, Beilage zur Allgemeinen Zeitung Ur. 26 vom 1. Februar
und zahlreiche Aufsätze in der Germania, der Kölnischen Volkszeitung, Köl¬
nischen Zeitung, Post, Kreuzzeitung usw.
Von den katholischen Gegnern Ehrhards sind weder Braun, noch Rösler,
»och der Gelehrte des Linzer'Volksblattes Kirchenhistoriker. Der erste Fach¬
genosse, der Stellung zu dem Buche nahm, war Professor Schrörs in Bonn.
Wer die Auffassung des Bonner Kirchenhistorikers vom Mittelalter kennt, wer
"ut seiner schwärmerischen Verehrung für Fra Angelico, Katharina von Siena
und die Mystiker näher bekannt ist, wer weiß, daß für ihn die künstlerische
Renaissance zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts gewissermaßen einen
Rückschritt bedeutet, und wer sonst des nähern mit seinen Ansichten vertraut ist,
mußte wissen, daß er sehr viele Fragezeichen auf den Rand des Ehrhardschen
Buchs machen würde. Thatsächlich hat er das auch in der Theologischen
Revue (Ur. 2 vom 23. Januar 1902) gethan und so den ersten positiven Bei¬
trag zur Kritik des Buchs geliefert. Das Buch von Braun in Würzburg
turn als ein solcher natürlich nnter keinen Umständen betrachtet werden; es
ist ihm das auch in der Kölnischen Volkszeitung (Ur. 143 vom 14. Februar),
um Allgemeinen Litteraturblatt (Ur. 5) und an manchen sonstigen Stellen glatt
bescheinigt worden.
Als zweiter Fachmann, der die kritische Sonde anlegt, muß der Jesuiten-
Pater Duhr genannt werden, der in Ur. 222 der Kölnischen Volkszeitung vom
19. März in einem ruhig gehaltnen Aufsatze: „Professor Ehrhnrd und die
Jesuiten" des Verfassers Äußerungen über diese richtig zu stellen sucht. Auch
die Kritik im Märzhcft der Stimmen aus Maria Laach gehört unter die der
sachverständigen Männer.
Überschaut man die fast zahllosen Preßäußerungen,") die dieses eine Buch
hervorgerufen hat, so muß man staunen über das Interesse, das man in allen
Kreisen und allerorten an ihm nahm. Bei dieser Lage der Dinge kann es
nicht wunder nehmen, daß sich auch der Trierer Dogmntiker an dieses histo¬
rische Buch machte. In einer Schrift „Katholische Reformer" von Dr. P. Einig
(Trier, Paulinus-Druckerei, 1902) wurden eine Anzahl Aufsätze aus dem
?g.Stör Lcmus zusammengefaßt und der breiten Öffentlichkeit übergeben. So¬
weit ich es übersehe, ist die Schrift als Ganzes fast allgemein abgelehnt worden,
und Eiuigs Äußerungen sind mit besonderm Nachdruck und glänzendem Ge¬
schick zurückgewiesen worden in der Kölnischen Volkszeitung Ur. 234 von:
13. Mürz: Katholische Tagespresse und kirchliche Fragen und Ur. 252 vom
18. März, und im Bayrischen Kurier Ur. 78, 79 und 81 vom 19., 20. und
22. März unter dem Titel „Katholische Reformer." Man muß anerkennen,
daß Einig, im Gegensatze zu vielen andern, maßvoll im Tone ist, dagegen
nicht gar zu viel Fachkenntnisse hat, sodaß er in dieser Sache nicht wirklich
mit Autorität reden kann. Daß er seine Abhandlung so lang ausgesponnen
hat, gereicht ihr auch nicht zum Vorteil; weniger wäre hier mehr gewesen.
Obschon noch mancherlei sonstige Beiträge zur Ehrhard-Frage zu geben
wären, sei sie hiermit erledigt, und ich wende mich zum nächsten Ereignisse.
Der Wiener Professor Hofrat Dr. I. M. Pernter, Direktor der k. k. Zentral¬
anstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus, veröffentlichte vor kurzem eine
Schrift, die deu Titel führt: Voraussetzungslose Forschung, freie Wissenschaft
und Katholizismus (Wien, Braumüller, 1902). Der Verfasser weist nach, daß
kein gläubiger Katholik in der wissenschaftlichen Forscherarbeit irgendwie be¬
hindert ist, und daß sichere, wirklich bewiesene und jederzeit wieder beweisbare
Thatsachen in notwendigen Einklange mit dem katholischen Glauben stehn
müßten. Hypothesen und Ansichten braucht kein Glaube eher in Rechnung zu
stellen, bis sie durch den Beweis ihrer Richtigkeit in die Kategorie der That¬
sachen vorgerückt werden. Des weitern stellt Pernter fest, daß auf der andern
Seite theologische Schulmeiuungen noch keine Glaubenssätze sind, mithin auch
keinen Forscher zu etwas verpflichten.
Diese klar und scharf gefaßte Schrift ist ein Nachklang der Spahn-
Mommsen-Brentanobewegnng (vergl. dazu Historisch-Politische Blätter LXXIX,
2 und 3, sowie die dort angeführte Litteratur) und stützt die prinzipielle Stellung
Ehrhards nicht wenig. Eine Besprechung Baumgartens in der Kultur (Heft 4,
S. 241) befaßte sich einleitend mit einigen prinzipiellen Erörterungen über die
ganze Bewegung, und dafür wurde er in der bekannten Weise von Linz aus
behandelt (vergl. Kölnische Volkszeitung Ur. 243 vom 15. Mürz). Pernters
Schrift hat Aufsehen erregt, und in zahlreichen Besprechungen geht man der
von ihm angeschnittnen Kernfrage — aus dem Wege. Auch das ist sehr be¬
zeichnend.
Auf Pernter folgte Wahrmnnd, Professor des Kirchenrechts in Innsbruck,
der auch moderne Ansichten hatte, sie aber gleich so modern gestaltet hatte,
daß er sich durch seine Erklärungen außerhalb der Kirche stellte. Wer es unter¬
nahm, den Innsbrucker Professor Wahrmund Herrn Professor Ehrhard an die
Rockschöße zu hängen, d. I). ihn nur als gelehrigen Schuler Ehrhards hin¬
zustellen, konnte es bald erleben, daß dieser jede Jdeengemeinschaft mit dem
vom Katholizismus abgefallncn Wnhrmnnd weit von sich wies. Wenn sich
die auf der ganzen Linie geschlagneu Herren aus Linz auch noch so große
Mühe geben und die katholische Gelehrtenwelt in ^lobo zu verleumden suchen,
so wird es ihnen doch nicht gelingen, ihren thörichten, engherzigen Ansichten
Geltung zu verschaffen. Man beachte folgende Auslassung des Linzer Volks¬
blattes: „Rascher als mancher glauben wollte, vollzieht sich gegenwärtig eine
Scheidung der Geister. Das ist dem konzentrischen Auftreten der modernen
historischen Schule, zu der in Deutschland Kraus, spähn, Hardy u. a., in
Österreich Professor Ehrhard gehören, zu verdanken. Dieses Auftreten scheint
auf dein im vorigen Sommer in München nbgehaltueu (katholischen) Gelehrten-
Kongreß vereinbart worden zu sein, wo Parole lind Richtung angegeben worden
^t. Wie bekannt, wurde gleich nach dem Kongreß der Nuntius Scunbucetti
von seinem Posten abberufen. Das wachsame Ange im Vatikan sah etwas,
was nicht gefallen konnte. Mehr als die Publikationen der Deutschen (Welt¬
geschichte in Charakterbildern) hat das Buch des Wiener Professors Ehrhard
die Bewegung beschleunigt." Fast so viel bewußte oder unbewußte Unwahr¬
heiten wie Worte. Außer den Linzern hat bisher niemand im ganzen Reiche
von derartigen Dingen etwas gewußt. Und die Abberufung des Münchner
Nuntius mit solchen Vorgängen in Verbindung zu bringen, zeigt, daß Linz
wirklich eine kleine Stadt ist.
Dr. Joseph Müller mit seiner Zeitschrift Nenaissnnee unter der Über¬
schrift dieses Aufsatzes unterzubringen, kann man kaum verantworten. Die von
ihm vertretne „Bewegung" beschränkt sich zwar nicht nur auf ihn, doch giebt
es sehr wenig Katholiken, die zu seiner Fahne schwören. Müller mit samt
seiner Zeitschrift wird bald aus der Diskussion verschwinden, weil denn doch
ein zu geringer Gedankenkreis verarbeitet und dazu in höchst eigentümlicher
Form verarbeitet wird. Die Augsburger Zeitschrift des geschätzten Anthro¬
pologen Dr. Bnmiller, der übrigens Priester ist, hat mit dem jüngst erfolgten
Eintritts Dr. Klcisens in Redaktion und Verlag ihren Namen umgeändert in
»Das zwanzigste Jahrhundert." Es sind bei dieser Gelegenheit von ver-
schiednen Seiten beachtenswerte Wünsche für die künftige Haltung der Zeit¬
schrift ausgedrückt worden, die, wenn sie ausgeführt werdeu sollten, dem Blatte
einen gewissen Einfluß in den geistigen Strömungen innerhalb des Katholi¬
zismus sichern werde».
Auf dem Gebiete der schönen Litteratur hat sich seit ungefähr drei Jahren
i>n katholischen Lager ein Umschwung vollzogen, der sich an den Namen der
Litterarischen Warte knüpft. Anschluß an die modernen Errungenschaften,
soweit sie gut und lebensfähig sind, ist das Leidwort; die Verwirklichung scheint
erfreuliche Fortschritte zu machen, doch muß abgewartet werden, ob das Pro¬
gramm in vollem Umfange in die That umgesetzt werden wird.
Überschauen wir die im deutschen Sprachgebiet entstnndne Bewegung,
so stellt sich uns diese dar erstens als eine machtvolle Anstrengung der
katholischen Intelligenz, sich ihren gebührenden Platz im öffentlichen Leben
als Beamte und Hochschullehrer zu erringen; zweitens als eine mit allen
Mitteln anzustrebende Aussöhnung des katholischen Glaubens mit der modernen
Kultur, ohne irgend einen wesentlichen Bestandteil des Katholizismus, sei
es auf dem Gebiete der Lehre, der Moral, der Organisation oder der Dis¬
ziplin, preiszugeben. Der Weg. auf dem dieses letzte Ziel erreicht werden
kann, wird von verschiednen verschieden angegeben, von andern als ungangbar
bezeichnet und von einigen unkatholisch genannt. Der Gegensätze giebt es
darum genug, und daraus entspringt der heftig entbrannte Kampf, dessen
Ende noch gar nicht abzusehen ist. Wer Wnhrmund folgt und aus der Kirche
austritt. scheidet damit auch aus dieser Bewegung aus; wer Ehrhard und Pcrnter
folgt, wird immer sicher sein, auf katholischem Boden zu wandeln, wenngleich
in freiern Regionen, als einzelne theologische Schulen es bisher erlauben
wollten; wer endlich Rösler, Braun, dem Linzer Volksblatt, dem Wiener
Vaterland und den genannten Wiener Volksversammlungsgrößen folgt, kann
die beruhigende Gewißheit haben, in einer Gesellschaft zu weilen, die katholischer
sein will als der Papst.
Man darf die Bewegung nicht unterschätzen. Es sind alle Anzeichen
dafür da, daß sie sich von Tag zu Tag vertiefen wird. Sie mit den Strömungen
aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts vergleichen zu wollen,
hieße in völliger Unkenntnis der Dinge urteilen. Grundverschieden dem Inhalte
nach, grundverschieden dem Zwecke nach, haben beide nichts miteinander
gemein. Nicht das Geschrei der gefiederten Kapitvlsbewohner in Linz, nicht
die emphatischen Ausführungen des im Auftrag arbeitenden Trierer Professors
Einig geben den richtigen Maßstab ab, nicht die denunziatorischen Anklagen
der Wiener und Linzer Kritiker sind ausschlaggebend, sondern vielmehr der
innere Wert der Vorschläge und ihrer treu katholischen Begründung.
(Schluß folgt)
on Frankreichs Stellung zu Dentschland hängt die Zukunft
Europas und vielleicht das Glück der ganzen Menschheit auf
unserm kleinen Planeten ab; wenn das Damoklesschwert füllt,
wenn Frankreich und Dentschland einander wieder, wie schon so
oft, zerfleischen würden, hätte England gewonnenes Spiel für
Jahrhunderte hinaus. Wenn die besten Kulturmächte, und das sind Dentsch¬
land und Frankreich noch heute, trotz moderner Auswüchse und Geschwüre
brach gelegt werden, schießt alles Unkraut üppig empor. Dann herrschen die
Mineuspetulauteu, die Petrvlenmkönige, die tosnkischen Kunden, aber auch die
Anarchisten, Kommunisten und Nihilisten allüberall. Es ist verhängnisvoll,
daß für solche Aussichten auf die Zukunft auch den besten Franzosen noch der
klare Blick fehlt. Solange die Stimmung in Frankreich nicht vollständig ge¬
klärt und freuuduachbarlich geworden ist, solange ist der erwartete löZer ovux
<l'6viMg ein gefährliches Ding für uns, Zuverlässigkeit spielt eben in der
Politik dieselbe wichtige Rolle wie im täglichen Leben; die französische Volks¬
seele sollte von den gebildeten Franzosen mit Ernst und Aufrichtigkeit und mit
unermüdlicher Beharrlichkeit dazu erzogen werden, im Deutschen nicht länger
den alten Feind, sondern den besten Nachbarn zu sehen. Solcher Umschwung
um Volksgefühle muß vorangehn, ehe die gegenseitige Realpolitik eine dauer¬
hafte, zuverlässige Grundlage gewinnen kann; denn nirgendwo sonst als in
Frankreich sind die Regierenden so abhängig von der Gefühlspolitik des ganzen
Volks, oder mindestens des Pnrisertums. Wollte Deutschland versuchen, durch
besondres Entgegenkommen Frankreich zu gewinnen, so würde ihm das leicht
als Schwäche gedeutet werden, zwar wohl nicht von den Gesinnungsgenossen
Cuvervilles, aber gerade von Lärmmachern, die in Frankreich jederzeit eine
Rolle gespielt haben. So kann also die leichte Aufmunterung, der freund¬
schaftliche Schulterklaps erst dann erfolgen, wenn das französische Volk ihn
hertragen kann oder ihn herbeisehnt, nachdem es seine Gefühle gegen uns von
Grund auf umgestimmt hat. Man sage nicht, daß das unmöglich sei. Der
Franzose ist kein verstockter Pedant, er neigt zur Geselligkeit und Verträglich¬
keit und ist vor allein geistig beweglich, hängt nicht schwerfällig an Dumm¬
heiten fest; man zeige ihm nur das Ziel, dann wird er als guter Hauswirt
schon bald erkennen, daß er bei dem Gcnosscnschastsunternehmen auch sehr gut
auf seine Rechnung käme. Ägypten und die Nordküste Marokkos würden
Frankreich wieder zur natürliche,! Vormacht im Mittelmeer machen; wie wert¬
voll der Besitz dieser Länder für Frankreich und dessen Seeherrschaft im
Mittelmeere wäre, geht aus der Äußerung Cuvervilles hervor; wenn dann
»och Spanien Gibraltar und Italien Malta bekäme, wäre die unnatürliche
Herrschaft Englands über das Mittelmeer beseitigt — leicht gedacht, doch
schwer gethan, solange Festeurvpn (dies ist eine Wortprägung des verstorbnen
Dr. Lieber, der mit diesem Worte einen feinen staatsmännischen Blick in die
Zukunft gezeigt hat) keine einheitliche Seepolitik treibt. Wie die Dinge vor¬
läufig liegen, kaun es Deutschland nur angenehm sein, wenn sich England
und Frankreich im Mittelmeer anknurren und keiner dem andern eiuen Knochen
oder eine Insel, wie Mytilene, gönnt.
Zum Schlüsse seines Hefts giebt Kapitän de Cuverville einige Äußerungen
bon angesehenen Franzosen über die Möglichkeit einer Anniiherung zwischen
Frankreich und Deutschland. Ein früherer Statthalter von Jndo-China und
Madagaskar, Le Myre de Vilers, meint, daß Deutschland großen Nutzen von
solcher Annäherung haben würde, daß aber auch Frankreich, als Seemacht und
Kolonialmacht ersten Ranges, dabei viel gewinnen müßte, und zwar: „um die
Weltherrschaftspläne Englands in den überseeischen Gebieten zu bekämpfen."
Übrigens sei dieses Einvernehmen schon früher, besonders 1893, vorhanden
gewesen, wo bei dem Streit um Sielen der persönliche Einfluß Kaiser Wilhelms
England daran gehindert habe, den Krieg an Frankreich zu erklären. „Un¬
glücklicherweise sind solche Betrachtungen, trotz ihres sehr realen Werth, nur
nebensächlich. Damit sich Frankreich und Deutschland gegenseitig nähern
können, müßte man die Ereignisse von 1870 vergessen und endgiltig auf die
Verlornen Provinzen verzichten. Dem können wir nicht zustimmen. Die
beiden Völker werden nicht früher Hand in Hand wandern, als bis diese
europäische Frage endgiltig gelöst sein wird. Wir halten sie nicht für un¬
lösbar. Die gegenseitigei? Dienste, die beide Länder sich in Kolonialfragen
leisten können, tragen dazu bei, eine für das Wohl beider Völker, ja der
ganzen Welt wünschenswerte Lösung zu beschleunigen."
Also auch hier Viktor Hugo rellivivus! Der Präsident der Kolonial¬
gruppe der französischen Kammer, Etienne, hält ohne Einschränkung die An¬
näherung zwischen beiden Ländern in Kolonialsachen für unbestreitbar nützlich
und darum auch für erstrebenswert; ebenso verständig äußern sich verschiedne
Afriknforscher, unter ihnen Gentil, jetzt Statthalter im Charigebiet. Am ver¬
ständigsten aber drückt sich ein hoher Staatsbeamter aus, dessen Name nicht
genannt ist: „Sache einer Demokratie ist es, den Krieg nicht nur für sich
selbst, sondern anch bei andern zu verhüten. Ihre Macht darf nur zur Siche¬
rung des Friedens dienen. Die auswärtige Politik einer echten Republik
darf nur kaltblütig und aufgeklärt sein. Frankreich will mit den andern
Mächten in gutem Einvernehmen leben, und nichts hindert es daran, zu
seinem Besten die Berührungspunkte, die sich darbieten, auszunützen. Warum
sollte Deutschland davon ausgeschlossen werden? Das hindert nicht daran,
unsre volle Unabhängigkeit dn zu bewahren, wo es nötig ist!" Cuverville
selbst scheint anzunehmen, daß das Gespenst eines Kriegs mit Deutschland
dazu nützlich sei, dem französischen Heere die Kraft und Schlagfertigkeit zu er¬
halten; dann wäre es aber doch traurig um die Volkskraft bestellt, wenn
solche krasse Reizmittel zur Weckung der Kriegstüchtigkeit erforderlich wären!
Man sollte denken, daß der kriegerische Sinn des Franzosen eher der Zügel
als der Sporen bedürfte, daß er nicht über die Stränge schlüge. Mit der
Mahnung an seine Landsleute, stark und einig zu sein, schließt Cuverville
seine Reiseeindrücke: „Dann können wir furchtlos allen Ereignissen an den
Grenzen ins Auge sehen, denn die Kraft kann ebenso gut milde sein und
friedlich lächeln, wie dem Kampfe trotzen und den Gegner vernichten."
Und nun soll die Politik möglichst beiseite gesetzt werden, sodaß noch
einige seemännische Eindrücke und Äußerungen des geistreichen Franzosen ge¬
würdigt werden können. Da bietet zunächst ein Gespräch mit dem Chef des
Kaiserlichen Marinekabinetts, dem Vizeadmiral Freiherrn von Senden-Bibrcm,
eine Fülle von Anregung nicht allein für französische Leser; geradezu photo¬
graphisch genau schildert Cuverville die Persönlichkeit des „Ersten Offiziers"
(der „Erste" Offizier ist auf Schiffen die rechte Hand des Kommandanten für
die Überwachung des ganzen Dienstbetriebs) unsers Kaisers: „Der Admiral ist
mittlerer Größe, hat feine und vornehme Züge und lachende und sympathische
Augen. Er hat das freie und lebhafte Benehmen des Seemanns, aber doch
mit etwas Zurückhaltung, die an den Diplomaten erinnert, zu dem er übrigens
auch alle Fähigkeiten hat. Er spricht vorzüglich französisch und weiß wie sein
Herr viel Reiz in seine Unterhaltung zu legen, sodaß er selbst rein technischen
Dingen jede Nüchternheit zu nehmen versteht. Ich werde mich jederzeit mit
Vergnügen der Unterhaltungen erinnern, die ich mit ihm führte. Unter See¬
leuten ist man weit vom Feinde, weit vom Protokoll, da kann man leichter
sein Herz ausschütten. Der Admiral schien sehr froh zu sein, daß ich über
die Fortschritte im Marinewescn in Deutschland erstaunt war. In der That
ist es zum Teil sein eigen Werk. Der Admiral bewunderte die französische
Flotte, und während wir von Fachsachen sprechen, wird das Gespräch all¬
mählich allgemeiner:
»Ja, sagt mir der Admiral, es ist bedauerlich, daß unsre beiden Flotten
uicht zuweilen zusammen arbeiten. In Deutschland wie in Frankreich wünschen
das viele. In der jetzigen Stärke der Flotten gäbe es eine ansehnliche Macht,
die für uns, wie auch für Ihr Land, trotz Ihrer Überlegenheit zur See, nützlich
wäre.«
»Ein Diplomat hat geschrieben, warf ich hier ein, daß Frankreich und
Deutschland im Bunde der Welt Gesetze geben könnten; das ist vielleicht ein
Traum, aber was halten Sie von dieser Behauptung?«
»Das ist ganz meine Ansicht, erwiderte der Admiral lebhaft, und gerade
deshalb, glauben Sie mir, bemüht sich Europa immer, solches Einvernehmen
zu hintertreiben. Die Zeit ist noch nicht gekommen, die Geister sind noch
nicht reif. Freilich Hütte schon einiges geschehn können; bei der ersten An¬
näherung, als die »Iphigenie« (das französische Seekadettenschulschisf) nach
Bergen kam, da hat man nichts erreicht, weil man nicht wollte.«
„Das »man«, das sind wir. Was der Admiral aber nicht sagte, ist, daß
Herr Delcasse sich dem schlank widersetzte. Unser Minister war von seinen
britannischen Gedanken beeinflußt. Auch wenn wir an unsern legitimen und
patriotischen Hoffnungen festhalten, ist es doch nicht nötig, aus der Grenz-
frnge ein Ultimatum zu machen (!), um über China, den Orient und die armen
Buren zu sprechen!"
Als dann von technischen Einzelheiten gesprochen wird, kommt die Rede
bald auf die Unterseeboote. „Ah, er scheint sie uicht hoch zu schätzen. Das
erinnert mich an Lafontaines Fabel: Die Trauben sind noch zu grün! Er
erkennt ihren Nutzen nur für die Verteidigung an, will von ihrem Wert für
den Angriff und namentlich von ihrer Steuerfähigkeit nichts wissen und beruft
sich auf die geringe Brauchbarkeit ihrer Einrichtungen zum Beobachten. Er
führt als Beweis die Ergebnisse mit dem amerikanischen Hollandboot an. Auf
die Gefahr hin, seine seemännische Eigenliebe zu verletzen, erwidre ich ihm, daß
unsre Boote vortrefflich sind, daß sie sich gut bewähren und sehr gut zu steuern
sind und der französischen Marine einen Vorsprung von mindestens zehn Jahren
über alle Seemächte der Erde geben. Und innerlich glaube ich, ist der Admiral
meiner Ansicht." Cnverville giebt sich da wieder einer Selbsttäuschung hin,
allerdings einer in Frankreich weit verbreiteten. Diese viel besprochnen Unter¬
seeboote haben genau alle die Eigenschaften, die nach der französischen Auf-
fasfung Admiral von Senden um ihnen tadelt. Auch wenn alle technischen
Schwierigkeiten an diesen Fahrzeugen schon überwunden sein sollten, so bleiben
sie doch im Vergleich zu ihren Gegnern blinde Maulwürfe, die hinter flinken
Füchsen herzulaufen suchen; um einigermaßen sichere Ausschau mit ihren, ge¬
knickten Fernrohr, Periskop genannt, halten zu können, müssen sie bis an die
Oberfläche emportauchen und ganz still liegen. Wenn der Gegner nicht zu
blöde ist, wird er ihr Auf- und Untertauchen beobachten und sich danach richten.
Im ganzen genommen, werden gut geführte Unterseeboote bei Tage wie bei
Nacht keine bessern Aussichten auf Erfolg gegen große Schiffe haben als gut
geführte Hochseetorpedoboote.
Das Gespräch wandte sich dann dem Schiffbau zu; Cuverville fragte,
welche Seemacht die besten Leistungen aufzuweisen habe. „Der Admiral lacht,
aber antwortet nicht. Ich schloß daraus, daß wir die Ur. 2 oder 3 verdienen.
Dann, als ich daraus bestehe, hat er eine macchinvellistische und ganz politische
Anwandlung: »Nun, sobald England, das doch eine sehr große Seemacht ist,
ein Schiffsform annimmt, so muß sie doch gut sein!« »Und die Vereinigten
Staaten?« Der Admiral wird lebhaft: »Ah, Amerika hat die Zukunft, von
da kommt der wahre Fortschritt!« Diesesmal hat also dieses Land die Ur. 1.
Der hervorragende Flaggoffizier ist vollständig ans dem Laufenden über unsre
Marinefragen. Auf seine Frage gestehe ich ihm, daß ich zu der sogenannten
jungen Schule gehöre. Er setzt mir dann seine Gedanken über die Hauptfrage
der verschiednen Schiffsgnttungen auseinander. Er ist ein überzeugter Für¬
sprecher für Linienschiffe und giebt nicht viel auf Kreuzer. »Der Unterschied
zwischen Kreuzer und Linienschiff ist nicht so groß, auch im Preise nicht, und
auf Kosten von etwas Geschwindigkeit hat man eine viel größere Gefechtskraft.«
Diese Erwägung ist ganz richtig. Der Admiral scheint von? Kreuzcrkrieg nicht
viel zu halten. Er stellt sich auf den deutschen Standpunkt, der in dieser
Frage anders als der unsrige sein muß (?)- Auch für überseeische Verwicklungen
hält er (von Senden) es für besser, gute Panzerschiffe zu verwenden, als
Kreuzer, weil die größere Gefechtskraft immer wertvoller sei als Schnelligkeit."
Es ist ganz merkwürdig, daß sogar die Jünger des kühnen Admirals Aube
fast denselben Grundsätzen huldigen, denen der berühmte Tvurville schou seine
Mißerfolge zu danken hatte. Kreuzer sind nur Beischiffe, Hilfsschiffe, die nie
und nirgends einen Seekrieg entschieden haben. Die Schlachtflotten sind nicht
zum Kreuzen und Meiden der Schlacht da, sondern dazu, daß sie bei passender
Gelegenheit dem Gegner zu Leibe gehn. Was lehrt denn die Geschichte der
vielen Einzelerfolge französischer Freibeuter und Kaperkreuzer? Daß England
mit seinen Linienschiffen immer die Oberhand behielt. Tvurville war nächst
de Ruyter ohne Zweifel der tüchtigste Admiral des siebzehnten Jahrhunderts,
aber er konnte nicht zu vollem Erfolge gelangen, weil die seestrategischen
Ziele Frankreichs schon damals zersplittert und unklar waren. Man wollte
den Schwerpunkt auf den Kreuzerkrieg legen und benutzte die Schlachtflotte
nur dazu, diesen Nebenzweck des Seekriegs zu fördern. Und jetzt ists fast
noch schlimmer, man weiß nicht recht, was man eigentlich will; man baut in
Frankreich sehr viele Panzerkreuzer und auch Schnellkreuzcr als Handels-
Zerstörer (oroiseurs eorsairs) und spart dafür am Linienschiffball. Wie man
sich dann den Kreuzerkrieg gegen England eigentlich vorstellt, wenn von der
überlegnen englischen Flotte die französischen Häfen blockiert sind, das wissen
die Götter; ob die Franzosen sich das überlegt haben, ist recht zweifelhaft.
Jedenfalls hat Cuverville aber Verständnis dafür, daß man bei uns weiß,
was man will: „Im Laufe meiner Unterhaltungen mit verschiednen deutschen
Persönlichkeiten hat mich ein Umstand immer wieder betroffen gemacht: ihre
Einheit in der Anschauungsweise. Die Ursache dafür ist ja leicht zu erkennen,
aber die Wirkung dieser Übereinstimmung festigt die Entschlüsse, die zur Ent¬
wicklung nötig sind. Wenn ein Offizier eine neue Methode ersinnt oder eine
Erfindung macht, so erzählte mir einer von ihnen, meldet man es dem Kaiser,
der die Sache prüfen läßt. Dem Berichte fügt er dann feine persönlichen
Bemerkungen hinzu, und dann spricht man sich dcirüber ans. Von da ab ist
die Sache entschieden. Ganz Deutschland ist von solcher folgerichtigen Denk¬
weise erfüllt; und das ist ein Unterpfand für seinen Wohlstand."
Von den Reiseeindrücken sei nnter anderm »koch erwähnt, wie Cuverville sich
wundert, vor dem Thore der Marinewerft nur einen Schutzmann und einen
Hauswart zu finden, während vor den französischen Werftthoren eine ganze
Macht von Gendarmen, Wächtern und Beamten anzutreffen sei; er meint, daß
ihm trotzdem die deutsche Werft nicht schlechter behütet zu sein schien. Die
kleine Bemerkung „läßt tief blicken"; auf den französischen Werften herrscht
allerdings ein fast berüchtigtes Benmtenunwesen, worüber schon viele Fran¬
zosen sehr freimütig geurteilt haben, allerdings wohl ohne etwas wesentliches
zu bessern. Trotz vieler Fortschritte sind wir in Deutschland ja auch damit
noch nicht ganz über den Berg; hoffentlich trägt die Berührung mit Amerika
dazu bei, allerlei rückständige Zopsigkciten bei uns endlich abzuschaffen. Der
normale Bureaukrat ist eben in ganz Festeuropa heimisch und tritt je nach
dem Volkscharakter und der Regierungsform seines Staats nur in verschiednen
Spielarten auf. In Frankreich schiebt man die Schuld des langsamen Gangs
der Schiffsneubanten hauptsächlich auf die überflüssigen Schreibereien, die das
Heer der Werftbeamten erfunden hat, um damit seine Daseinsberechtigung zu
erweisen.
Besonders ausführlich beschreibt der französische Besucher die Erziehung
unsers Seeoffiziernachwnchses und die Ausbildung der Seeoffiziere uns der
Marineakademie. Die Admiräle von Arnim und von Maltzahn setzen ihm
die Grundgedanken der deutschen Seeoffiziersausbildung auseinander. Mit
einem Besuch des Kaiser Wilhelmkanals schließt der maritime Teil des präch¬
tigen Hefts, dem noch eine Beschreibung der Hauptkadettcnaustalt in Lichter¬
felde beigegeben ist. Was der Franzose sieht, faßt er schnell und richtig auf
und schildert es in lebhaften Farben; sein Gesnmturteil über Deutschland ist
ebenso günstig wie das Lockroysche.
Alles in allem genommen bedeuten beide hier besprochnen Werke, daß
einzelne gebildete Franzosen den Wunsch und den Willen haben, die Kenntnis
von Deutschlands Seegeltnng ihren Landsleuten zu übermitteln. Ob aber die
Franzosen schon aus diesen aufklärenden Arbeiten die Einsicht gewinnen, daß
es für sie selber gut wäre, sich uns zu nähern, das soll erst die Zukunft
zeigen. Aber inzwischen gebietet es uns eigentlich die Höflichkeit, solche Be¬
suche zum Studium des nachbarlichen Seewesens zu erwidern; man würde an
der eignen Aufnahme auf französischem Boden dann schon ein besseres Bild
von der allgemeinen Stimmung für Deutschland gewinnen. Klarheit ist in
Lebensfragen wertvoll, jede Mißschützung sowohl nach der guten wie nach der
schlimmern Seite birgt Gefahr in sich.
er neuste Streich des Abgeordneten schönerer ist, wie es scheint,
ziemlich allgemein, in Österreich und außerhalb, als etwas Rab-
biates angesehen worden, das ihm und seiner Partei mehr
Schaden Hütte thun können, wenn man überhaupt geneigt wäre,
das, was er thut, ernst zu nehmen und es nicht vielmehr als bis¬
weilen überaus geschmacklose und nicht immer sehr glücklich ersonnene Studenten-
streiche anzusehen.
Deutschland hat keinen Grund, besonders zu versichern, daß es bei dem
neusten Schönererschen Geniestreiche unbeteiligt sei: das versteht sich für jeden
denkenden Menschen von selbst. Aber es ist, hiervon abgesehen, doch vielleicht
gut, allzueifrige Altdeutsche darau zu erinnern, daß das seinerzeit von Deutsch¬
land mit Österreich geschlossene Bündnis wirklich von dem Vertreter der öster¬
reichischen Gesamtmonarchie und nicht bloß, wie sie zu glauben scheinen, vou
den österreichischen Deutschen eingegangen worden ist.
Der deutsche Staat nimmt den allergrößten Anteil daran, daß Österreich
österreichisch, das heißt einig und ungeteilt bleibe. Daran schließt sich der
weitere ebenso sehnliche Wunsch, daß es fortfahre, deutschfreundlich zu sein.
Wie sich sonst das Deutschtum in Österreich entwickelt und kräftigt, oder wie
es durch widrige Einflüsse gehemmt und beeinträchtigt werden mag, ist eine
Frage, die dem einzelnen Deutschen nud vielen deutschen Vereinen ohne Zweifel
sehr am Herzen liegen und ihnen wichtig erscheinen muß; die deutsche Negierung
dagegen wird nicht offiziell von ihr berührt und darf nicht offiziell von ihr
berührt werden, denn sie ist eine innere, interne, über die sich Österreich ohne
jede fremde Einmischung durchaus selbständig und auf eigne Hand schlüssig z»
machen hat.
Man kann die Erwägungen, von denen die rcichsdentschen Förderer der
alldeutschen Bewegung in Österreich geleitet werden, in teilnehmendster Weise
würdigen, ohne sich deshalb der Anschauung zu verschließen, daß eine vor¬
sichtige Trenmmg der deutschen auswärtigen Politik, insoweit dabei unser Ver¬
hältnis zu Österreich in Frage kommt, vou den Bestrebungen der in Österreich
agitierenden Altdeutschen durchaus geboten ist. Der großen Mehrzahl unsrer
Landsleute ist, wie man uns zugeben wird, das Vorhandensein dieses überaus
wichtigen und für die gegenseitigen Beziehungen der beiden Staaten entscheidenden
Unterschiedes unbekannt, und sie sind bisweilen verwundert, wenn sie, wie billig,
von der einen oder der andern der beiden Regierungen daran erinnert werden.
Ein einziger Blick auf die Karte genügt, einem die große Wichtigkeit der
österreichischen Bundesgenossenschaft im Falle eines französisch-russischen Angriffs
^ar zu machen. Aber so sehr sich hierfür die geographische Lage des Landes
eignet, so vielfältig sind andrerseits die Einschränkungen, die wir machen müssen,
wenn wir uns über die Ausgiebigkeit und Nachhaltigkeit der Beihilfe klar zu
machen suchen, die uns vom österreichischen Staate für gewisse Fälle in Aussicht
gestellt ist.
An dem redlichen, freundschaftlichen, herzlichen guten Willen des obersten
Kriegsherrn zweifeln wir nicht, mich nicht an der Loyalität seiner Regierung
und seiner Armeeleitnng. Aber der österreichische Staat ist ein so künstlich zu-
sammengehnltner Körper, ein aus so disparaten und einander entgegenwirkenden
Teilen zusammengesetztes Ganze, daß man sich fragen darf und fragen muß,
welches seine Haltung sein wird, wenn in kürzerer oder fernerer Zeit die Ver¬
pflichtung an ihn herantreten sollte, zu Deutschlands Unterstützung das Schwert
zu ziehn. Wir bemerken hier, damit man uns kein unnötiges in den Vorder¬
grund stellen von Schwierigkeiten und Gefahren schuld gebe, daß es uns darum
M thun ist, nachzuweisen, wie sehr die deutsche Negierung und mit ihr das
deutsche Volk Veranlassung haben, ihre Schritte und Äußerungen so einzurichten,
daß ihnen wirklich ganz Österreich und nicht bloß die Bewohnerschaft der
deutscheu Städte und Provinzen als aufrichtiger Bundesgenosse zur Seite bleibe.
Wie sich die Sachen in den letzten Jahren gestaltet haben, dürfte — so
kommt es uns vor — größere Wahrscheinlichkeit dafür vorhanden sein, daß
Osterreich für Deutschland in die Schranken zu treten haben werde, als um¬
gekehrt. Wir haben keineswegs die Absicht, diesen Umstand, den man wohl
Ul gewissem Sinne als einen schwachen Punkt in der allgemeinen politischen
Stellung Deutschlands bezeichnen kaun, der Regierung in die Schuhe zu schieben.
Wir danken die Gefahr, der wir ausgesetzt siud, den wohlwollenden Gesinnungen
Unsrer unversöhnte» und unversöhnlichen westlichen Nachbarn und allen denen
Unter uns, die das Recht zu haben glauben, auf eigne Hand Gcfühlspolitik
zu treiben, und die aus diese Weise das einzige Volk gegen uns in den Harnisch
gebracht haben, das, abgesehen von unsern österreichischen und italienischen
Verbündeten, bereit, weil politisch klug genug gewesen wäre, uns gegen Nu߬
land beizustehn, wenn ihm die Erbitterung weniger über Deutschlands Partei-
Uahme als über die kleinliche, nörglige, verletzende Art dieser Parteinahme
uicht auf Jahre hinaus jedes Mitgefühl für uus und jedes Zusammengehn
Mit uns verleidet Hütte. Sei dem übrigens, wie ihm wolle, Bündnisse, bei
denen man leicht weniger der empfangende als der leistende Teil sein könnte,
sind in keinem Lande besonders populär. Wie es uns scheint, mit Recht, und
etwas davon könnte sich in Österreich mich schon bemerklich gemacht haben.
Dazu kommt, daß Österreich bekanntermaßen, und wie wir eben andeuteten,
ein Staatenkonglomernt ist, von dem sich auch die Erfahrensten heute nicht zu
sagen getrauen, was es morgen thun wird.
Der geistreiche Graf Beust, dem es beschieden war, mit der Flöte am
Munde zwei Staaten, einen kleinern erst und dann den größern, nicht in das
gelobte Land des Erfolgs zu führen, und dem Ungarn das auch hoher hinauf
im Norden eiuer kräftigen Negierungsinitiative nicht besonders förderliche In¬
stitut der Personalunion verdankt, würde sich, wenn er noch nnter uns weilte,
heutzutage selbst davon überzeugen, daß er bei dein unter so lieblichen Reden
ausgeführten Kaiserschnitt die Mutter dem Kinde geopfert habe. Das geht
uns freilich nur insofern an, als das zu unsrer und unsrer Freunde Siche¬
rung geschlossene deutsch-österreichisch-italienische Bündnis in Wahrheit kein
Dreibund ist, als das man es gewöhnlich bezeichnet, sondern ein Vierbnnd,
indem das Königreich Ungarn neben einer eignen öffentlichen Meinung auch
ein so gut wie selbständiges Parlament hat; und es berührt uns weiter auch
noch insofern, als Kaiser Franz Joseph außer dem König von Schweden und
Norwegen der einzige Souverän ist, dem zwei Herzen, auch zwei rechte und
zwei linke Hunde zugesprochen sind.
Ist nun schon die altdeutsche Bewegung, nicht bloß wie sie von schönerer
und Genossen betrieben wird, sondern überhaupt nicht das rechte Mittel, uns
das Herz des Königs von Ungarn, seiner Regierung, seines Landes, am aller¬
wenigsten aber das seiner in der Wolle magyarisch gefärbten Magnaten zu er¬
werben, so ist das mit den lieben Tschechen, die ihm gern noch ein drittes
Herz und ein drittes Paar Hände beilegen und ansetzen möchten, fast in noch
stärkeren Maße der Fall.
Und wir bekennen offen, daß unsrer Meinung nach die Tschechen, soweit
es sich um altdeutsches Hereinlangen über die schwarzen und gelben Grenz¬
pfähle handelt, wirklich nur in ihrem Rechte sind. Wenn der Kaiser von
Österreich nicht der Bundesgenosse des unsern wäre, und wenn es sich, statt
um in Österreich lebende Deutsche, um in Frankreich lebende handelte, so
könnte unsertwegen den dort lebenden Stammesgenossen ein Tausend blonder
Flachsperücken „beschafft" und ihnen die Wacht am Rhein in Hunderttausenden
von Exemplaren „zugüngig" gemacht werden, denn mit Frankreich ist nichts
mehr zu verderben: den Franzosen gegenüber ist jede Schonung und jede
Rücksicht umsonst. Für sie liegt die Frage, ob sie mit uns Krieg anfangen
sollen oder nicht, wie der nette, runde, kleine Kern einer Haselnuß in der
nicht zu geräumigen Schale. Es kommt alles darauf an: ist Nußland bereit,
mit loszuschlagen oder nicht? Bis der Zar fertig ist, wird gewartet: dann
gehts los. So denken doch die »reisten Franzosen immer noch, und sie brauchte
man also durch Entgegenkommen nicht weiter zu verwöhnen: ihnen gegenüber
kommt es vielmehr lediglich darauf an, Rußland, wie man sich ausdrückt, „ander¬
weit zu beschäftigen," und ihm unbemerkt möglichst ernste Angelegenheiten zu
bereiten, damit es sich nicht, oder doch je weniger je besser mit Allotrias be¬
schäftigen kann. Die Russen nehmen dergleichen nicht übel, denn es ist — immer
natürlich mit dem freundlichsten Gesichte von der Welt — ihre eigne Weise,
zu verfahren, und sie würden, wenn wir es geschickt ansingen, und ihnen ein
Paar recht fatale Gruben grübe», am Ende noch dahin kommen, uns geradezu
als Schlauberger zu achten, wie ja auch die Achtung des echten Levantiners
für einen Geschäftsmann erst mit dem Augenblick beginnt, wo er von ihm das
erstemal gründlich übers Ohr gehauen worden ist.
Wenn wir Tschechen wären, würden wir diese altdeutsche Bewegung sicher
nicht mögen, und wir würden an ihrer Stelle nicht mit Unrecht sagen, daß
die Rienzi, wenn sie gegen die Russen auf unsre Arme und Beine, ans unsre
Herzen und Köpfe rechnen, wohl daran thun würden, uns in Friedenszeiten
nicht innerhalb der schwarz und gelben Grenzpfähle, oder wie der moderne
Unterthan der böhmischen „Königskrone sich ausdrückt, innerhalb der rot
und weißen Grenzpfähle zu helleren. Soll etwas für Deutschland in Öster¬
reich geschehn, so können das solche Herren wie Herr schönerer und dessen
Gesinnungsgenossen am besten thun, wenn sie ihren Witz und ihre Liebens¬
würdigkeit dazu verwenden, durch anmutige gefällige Formen für das dem
österreichischen Kaiserstaate Verbündete Dentschland Propaganda zu machen,
statt sich als ungeleckte und bisweilen gar zu täppische deutsche Bären auf
jeder verfügbaren Plattform auszustellen. Gar so lange ist es ja doch nicht
her, etwas über dreißig Jahre, daß preußische Dragonerpferde den Böhmen
die Ernte niedergetreten und preußische Zündnadelgewehre den Österreichern
den Bruder oder den Sohn weggeputzt haben. Sie haben das weder den
Preußen uoch den mit ihnen seitdem zusammengewachsenen übrigen Deutschen
nachgetragen und sind — Blut und Streiten sei vergessen — unsre Brüder
geworden, und zwar nicht die deutsch sprechenden Österreicher allein, sondern
der österreichische Kaiserstaat mitsamt dem Königreich Ungarn und dem ganzen
bunten Gewimmel, das dem ErzHause Gehorsam und Heeresfolge leistet.
In einem solchen Falle ist, sollten wir meinen, eine Freundschaft die
andre wert, und wenn sich, wie es ja leider scheint, unter den Fittichen des
doppelköpfigen Adlers die andern Stämme ab und zu uicht mit dem deutschen
vertragen können, so ist doch offenbar äußerste Vorsicht anzuraten, damit man
nicht berechtigte Empfindlichkeit verletze und sich nicht um Dinge kümmere, die
einen nichts eingehn. Wenn in einer Familie gelegentlich nicht ganz die Eintracht
herrscht, die man deren Oberhaupt und deren Mitgliedern zu einem beschaulichen
Leben wünschen möchte, so übt man unter solchen Umständen doch gewiß die
größte Zurückhaltung und überläßt es einem guten Freunde, den man etwa in
dem unruhigen Kreise hat, mit der übrigen Sippe auf seine eigne Hand so gut
oder so schlecht fertig zu werdeu, als er es zuwege bringt. Warum soll
diese das Betragen im Privatleben bestimmende Regel ans einmal in das
Gegenteil umschlagen, wenn es sich um die Bewohner eines befreundeten
Staats handelt, noch dazu, wenn mau, wie der Deutsche dem Österreicher
gegenüber, die gewichtigsten Gründe hat, es ohne Not mit keiner der Natio¬
nalitäten zu verderben, aus denen der Gesamtstaat künstlich genug zusammen¬
gesetzt ist?
Und das bringt uus schließlich dazu, einen Gegenstand zu erwähnen, den
wir sonst nur ungern und nur mit äußerster Vorsicht besprechen: die Los-von-
Rom-Bewegung. Sie hat eine doppelte Tragweite: eine religiöse und eine
politische. Das ist ni unsern Augen ihre Gefahr, ihr Nachteil, ihr Fehler.
Wenn Leute den: katholischen Glauben entsagen und sich beispielsweise dein
protestantischen zuwenden, so ist das ihre Sache, und da man davon ausgehn
muß, daß sie ihre guten Gründe dazu haben, wie ja umgekehrt Protestanten,
die Katholiken werden, ohne Zweifel genau wissen, was sie thun, so wäre ja
an sich nichts natürlicher, als daß ihnen bei einem solchen Wechsel die neuen
Glaubensgenossen freudig und hilfreich beisprangen mit Geld, Kirchenbau, geist¬
licher Beredsamkeit, Glocken, Parmnenten und allem, was Liebe und guter
Wille liefern und beschaffen können.
In Wahrheit liegt jedoch die Sache so einfach nicht. Die österreichischen
Katholiken, die zum Protestantismus übergehn, waren Mitglieder der Staatskirche
in einem Staate, der neben dem Kaiser und den Feldzeichen nur noch ein Binde¬
mittel hat, das wirksamste von allen, die römisch-katholische Kirche und deren
Gebräuche. Wer gereist ist, wird uus zugeben, daß auch in Spanien und Por¬
tugal der Staat und die Regierung nicht enger und inniger mit dein Aposto¬
lischen Stuhle und allem, was damit zusammenhängt, verknüpft sind als in
Österreich. Wer in den Prager Straßen am Ostersonnabend die militärische
Feier der Auferstehung oder auf dem Hradschin das Jubiläum eines Heiligen
(bekanntlich nicht des heiligen Nepomuk) miterlebt hat, wer in Wien den Kaiser
und die kaiserliche Familie, die Minister, die hohe Beamtenwelt, die Generalität
der Fronleichnamsprozession hat folgen sehn, wird mit uns dahin überein¬
stimmen, daß in Österreich die römisch-katholische Kirche als eine der wesentlichsten
Stützen des Thrones angesehen wird. Des Kaisers Majestät ist eine kaiserlich
königlich apostolische, wie die Herrscher von Frankreich ihren Stolz darein
setzten, die „allerchristlichsteu" Könige zu sein, und wie der junge Herr ni
Madrid, dessen Regierungsantritt vor der Thür ist, der „allerkatholischste"
König sein wird.
Die Los-von-Rom-Bewegung richtet sich gegen eine in Österreich hoch¬
angesehene Staatsinstitution; sie ist in dem Sinne politischer Natur, so un¬
bequemer und unerfreulicher politischer Natur, wie man sichs nur irgend denken
kann, und sie erheischt deshalb die allergrößte Vorsicht, wie das ja anch für
die, die es sonst nicht einsehen möchten, schon daraus hervorgeht, daß sie vou
der deutschen Negierung auf das gewissenhafteste ignoriert wird.
Möglich ist es ja den Protestanten auch in Österreich, ihren neuen
Glaubensbrüdern zu helfe». Sie brauchen dabei aber nicht zu schreien und
die Leute uicht von weither herbeizuholen. Aber wenn es sich um protestantische
deutsche Geistliche und Glaubenshelden handelt, da geht ja alles gleich aus
einer besondern Tonart: es ist, als hätte die Henne ein El gelegt und riefe
den Hühnerhof zusammen, es zu bewundern. Die Herren sind mit Begeistrung,
Beredsamkeit und orthodoxer Glaubensfreudigkeit gefüllt wie ein zum Aufsteigen
fertiger Ballon mit Wasserstoffgas. Oder, um ein andres Gleichnis zu wählen,
wie kann, wenn sie am Steuer sind, die dem leibhaftigen Teufel in den Rache»
springen würden, um ihm den Garaus zu machen, unter einer solchen Leitung
je laviert oder mit halber Kraft gefahren werden? Wir bewundern die Blutzeugen
da, wo sie hingehören, in den ersten Jahrhunderten des vergangnen Jahr-
tausends, aber schon bald nach Luther fangen die streng Rechtgläubigen an,
uns mit ihrem Fanatismus und ihrer Glaubenssicherheit unheimlich zu werden.
Und nun gar hier in Österreich, in einem Lande, wo jeder gegen die römisch-
katholische Religion gerichtete, halbwegs plumpe und ungeschlachte Angriff
empfunden wird wie ein Fußtritt! Wer die Herren nicht bei einer solchen Ge¬
legenheit gesehen und beobachtet hat, macht sich von der überwältigenden Macht
und Fülle einer solchen, keinen „Götzendienst" schonenden Suada keinen Be¬
griff. Und wenn fie das Evangelium der Liebe und der Versöhnung uns ihre
Weise verkündet haben, reisen sie ab und überlassen es dem zurückbleibenden
gläubigen Häuflein, fo gut es kann das aufzuessen, was sie ihm bei den um¬
wohnenden Andersgläubigen, die doch fühlen, daß sie der Staatskirche ange¬
hören, mit ihrem Feuereifer eingebrockt haben.
Lurtoul, Nsssisrirs, ^xg-s et« Avis, hatte der alte Tallevrand gesagt, der
doch wissen mußte, woran er war, wenn es sich nicht um Kanzelberedsamkeit,
sondern um Politik handelte. Wenn der heilige Geist einen Katholiken bei
der Hand nimmt und ihn ins protestantische Lager führt: wohl: „er soll will¬
kommen, soll aufgenommen in unserm trauten Bunde sein." Aber im Namen
von allein, was Vorsicht, Mäßigung und Weisheit heißt, möchten wir Reichs¬
deutschen doch, solange Nur noch nicht die nötige Zahl Schiffe und die um
die Ecke schießenden Kanonen haben, still und bescheiden sein, und uns nicht
unter dem Vorwand, daß wirs gut meinen, unbesehens zu jeder Zeit los lassen
wie Brummkreisel, die alles umwerfen, überall andoldern und schließlich doch
— das läßt sich einmal beim besten Willen nicht leugnen — mehr Lärm und
Unbehagen verursachen, als sie wirklich Arbeit leisten!
Und so wären wir ans einem kleinen Umwege schließlich bei unserm .Herrn
s
le Dorfstraße herab kamen zwei fremde Männer, ein langer dürrer
in schwarzem Anzüge mit schwarzer Binde, weißem Haar und ent¬
schieden unreiner Gesichtsfarbe, und ein kleiner dicker Manu in den
besten Jahren, der sich sehr stramm und gerade hielt, mit Augen wie
Kohlen und gesträubtem Schnauzbärte. Diese beiden kehrten bei
Happich ein und tranken dort jeder einen Schnaps. Der Lange redete
würdevoll über die Naturgesetze in der Witterung, und der kleine Dicke sagte gar
nichts. Nachdem sie nach des Direktors Wohnung gefragt hatten, gingen sie weiter
und ließen Hnppich und seine Gäste vor der schwierigen Aufgabe zurück, zu er-
gründen, was die beiden Fremdlinge bei dem Direktor wollten. Es sei bemerkt,
daß unter den vielen erwognen Möglichkeiten keine war, die der Wirklichkeit ent¬
sprach.
Die beiden Fremdlinge wanderten zum Werke hinaus, ließen sich beim Direktor
melden, traten ein und standen — Wandrer gegenüber.
Der Große that den Mund auf, um zu reden, brachte aber kein Wort hervor.
Dann wandte er sich an den Kleinen und schüttelte mit dem Kopfe. Darauf sah
er wieder Wandrer an und dann seinen Begleiter und sagte leise: August, dies ist
ein höchst merkwürdiger Monument, und ich werde irre an der göttlichen Welt¬
ordnung.
Woran werden Sie irre, alter Klimbim? sagte Wandrer lachend.
Ja, Herr Wandrer, entgegnete Meister Ölmcmn, ich werde irre. -
Weil mich Ihr Alter einst verworfen hat, und ich mir erlaubt habe, an dem
ut emals doch nicht zu Grunde zu gehn? Was macht denn der Alte?
Ich danke, Herr Wandrer. Es geht ja so lala, aber es geht rückwärts. Wir
sind nicht mehr, was wir einst waren. Dieser Siegfried bringt uns alltäglich unter
die Erde. Jetzt haben wir ihn mit Gottes Hilfe bis ans Freiwilligenexamen, nun
aber sitzen wir auf dem Pfroppen, mit Verlaub zu sagen. Denn wie dieser Mensch
das königliche Freiwilligenexamen bestehn soll, dieses ist ein unergründliches Frage¬
zeichen.
Aber Meister Ölmann, sagte Wandrer, ein Mann wie Sie wird doch seines
Direktors Sohn durchs Examen bringen können?
Man thut, was man kann, erwiderte Olinann, indem er ernst zustimmend nickte,
man läßt die Mappe mit den Aufgaben im Vorzimmer liegen, man sieht nach,
was für ein Kapitel Cicero aufgeschlagen beim Professor liegt, aber Herr Wandrer,
wo kein Koppschenie und kein Ellbogen ist, da heißt es wie der Lateiner sagt:
Visum «ze, oxor g, xorclu. Herr Wandrer, ich werde irre an den Naturgesetzen und
den sich daraus ergebenden Motiven.
Daß so ein gelehrter Vater so einen dummen Jungen hat?
Nein, dieses weniger, denn dieses entspricht der Weltordnung von wegen der
erblichen Belastung von wegen seiner Mutter. Aber hier ist mein Schwiegersohn,
August Drillhose, vordem Sergeant und Oboist beim huudertuudvierten Regiment.
Der Mann von Jdchen? Reichen Sie mir die Hand, Herr Drillhose. Wie
geht es Ihrer Fran?
Ich danke, antwortete Ölmann statt seiner, soweit geht es ja.
Freut mich, sagte Wandrer. Was führt Sie nun hierher?
Wir möchten den Herrn Direktor sprechen.
Sie müssen mit mir fürlieb nehmen. Gegenwärtig dirigiere ich.
Ölmann schüttelte vor dieser neuen Unbegreiflichkeit wieder mit dem Kopfe,
und seine Mienen ließen vermuten, daß er innerlich zu sich sagte: Unbegreiflich!
unbegreiflich, da muß es verborgne Ellbogen gegeben haben.
Herr Wandrer, sagte Ölmann, oder soll ich sagen Herr Direktor?
Nein, bleiben Sie nur beim Wandrer.
streitet es nicht gegen das Naturgesetz, wenn einer Koppschenie und Ell¬
bogen hat und kommt doch zu nichts?
Ja, liebster Ölmann, Sie haben eine wichtige Sache außer Rechnung gelassen.
Den Dusel.
Den Dusel?
Jawohl. Glück muß der junge Mann haben, wenn er zu was kommen soll.
Dusel! Dusel, weiß Gott ja, Herr Wandrer, Sie haben Recht: Koppschenie,
Ellbogen, Dusel. Dusel ist die dritte Potenz des Naturgesetzes. Wer keinen Dusel
hat, der sitzt allemal auf dem Pfroppen. Wie dieser mein geehrter Schwiegersohn,
der gewiß in jeder Lebenslage seine Schuldigkeit thut.
Ja, das thue ich, darauf können Sie sich verlassen! sagte Drillhose, aber er
sagte es mit einer weinerlichen Kinderstimme, die bei jedem dritten Worte über¬
schnappte.
Wandrer lachte. Es war auch komisch, dieser kleine, dicke Bramarbas mit ge¬
sträubtem Barte, der mit einer Kinderstimme redete und in einem Tone, als wollte
er in bittre Thränen ausbrechen. Wir wollen einschalten, daß sich das Drillhose
einmal durch eine Erkältung geholt hatte, als man Parademarsch übte, und das
Musikkorps zwei Stunden lang in einer Wasserlache hatte stehn müssen. Diese
verunglückte Stimme war auch der Grund gewesen, warum er nicht Stabstrompeter
geworden war.
Siehst du, Vater, sagte Drillhose mit Klagetönen, jetzt fängt der Herr auch
an zu lachen. Und wenn sie erst zu lachen anfangen, dann ist es allemal vorbei,
das weiß ich schon.
Nein, Herr Drillhose, entgegnete Wandrer, ich will Sie nicht auslachen, aber
Man muß sich erst an Ihren Ton gewöhnen. Sie sind gewiß ein braver Mann
und können für Ihre Stimme nichts. Womit kann ich Ihnen denn dienen?
Ach, Herr Direktor, wenn ich die Dirigentenstelle in Ihrer Bcrgkavelle be¬
kommen könnte, dann sollten Sie einmal sehen, was geleistet werden kann.
Mit Ihrer Stimme?
Herr Direktor. Wenn es nicht in den Augen und hier in den Händen sitzt,
das Reden macht es nicht.
Da mögen Sie Recht haben. Aber Sie kommen zu spät. Die Kapelle ist
schon wieder aus dem Leime gegangen. Die Herren Mnsiei haben sich mit den
Instrumenten geprügelt.
Was haben sie gemacht? rief Drillhose mit den höchsten Tönen des höchsten
Entsetzens.
Gebauer haben sich die Kerls. Und dabei sind die Instrumente in die Brüche
gegangen.
Herr Direktor, glauben Sie mir, das lag nnr am Dirigenten. Wenn das ein
ordentlicher Mensch war, dann hätten sie es nicht gewagt.
Da mögen Sie wieder Recht haben.
Und wenn man von den Musikern eine Kaution für die Instrumente inne
behalt — das lassen sie sich gern gefallen, weil sie bei der Musik Geld verdienen —,
dann gehn sie mit ihnen um wie mit rohen Eiern. Kann ich die Instrumente
nicht einmal sehen?
Das können Sie, sagte Wandrer und führte Drillhose und seinen Schwieger-
bater in das Kartenzimmer. Hier lagen die Hörner und Trompeten und das
Bombardon am Boden, verbogen und verdenke, es war ein Jammer. Drillhose
stand davor wie Jeremias vor den Erschlagnen seines Volkes, sichtlich ergriffen.
Darauf hob er einen der Gefallnen vorsichtig, als wenn es ein schwer Verwundeter
wäre, auf und untersuchte ihn mit sachverständiger Gründlichkeit, ebenso das Bom¬
bardon, das am meisten gelitten hatte, und sagte: Herr Direktor, wenn Sie mir
die Instrumente anvertrauen wollen, ich bringe sie wieder Anrecht. Neu werden
sie ja nicht wieder, aber völlig brauchbar.
Können Sie das? fragte Wandrer.
Mein Schwiegersohn, entgegnete Ölmann, kann alles. Er ist ein Universum.
Koppschenie, Ellbogen, aber kein Dusel.
Nun, vielleicht findet sich die dritte Potenz auch noch. Ich will es mit Ihnen
Ersuchen, Herr Drillhose. Melden Sie sich bei Rummel und lassen Sie sich einstellen.
<v5es werde dafür sorgen, daß Sie einen Posten erhalten, wo Sie freie Zeit haben.
Dann bringen Sie die Instrumente in Gang und sehen Sie zu, ob Sie der
Musiknuten Herr werden. Grüßen Sie Ihre Frau, und sagen Sie ihr, ich hätte
^ nicht vergessen, daß sie mir immer eine extra große Düte Kirschen gegeben habe.
Damit war die dritte Potenz der göttlichen Weltordnung, wie ölmann von jetzt
an sagte, die Dnselfrage erledigt. Drillhose ließ es an den beiden andern Potenzen
nicht fehlen. Er ließ Vater Ölmcinn allein nach Hause gehn und den Umzug ausrichten
und trat sogleich in den Dienst. Er erhielt den Posten eines Materialieucmfsehers,
das heißt, er hatte darauf zu sehen, daß die Balken und Eisenteile, die auf dem
Hofe lagen, und was sonst in Schuppen und Magazinen untergebracht war, nicht
Beine kriegte und davonlief. Sogleich richtete er sich in der Schmiede eine Werk¬
statt ein, ließ sich vom Schmied das nötige Eisengerät machen und sing an zu
hämmern, zu feilen und zu töten, und in vierzehn Tagen waren die Instrumente
wieder in Ordnung. Wandrer war darüber sehr erfreut und bewilligte der Kapelle
auch noch ein Stahlinstrument. Und die Herren Musikanten waren wie die Lämmer.
Sie merkten bald, daß Drillhvse ihnen nicht allein an musikalischer Fähigkeit,
sondern auch an Willen und Fäusten überlegen war. Anfänglich machten sie über
die Stimme ihres Dirigenten hinter seinem Rücken Witze, bald aber gab sich das,
und die Kapelle, die täglich ein Paar Stunden übte, konnte nicht allein mit den
erforderlichen Märschen und Tänzen aufwarten, sondern spielte anch Ouvertüren
wie die Felsenmühle und den Kalifen von Bagdad und andre schöne Konzertsachen.
Und als Direktor Wenzel von seiner Reise zurückkam, brachte man ihm nach allen
Regeln der Kunst ein Morgenständchen.
Drillhose war ein gemachter Mann, der nicht allein seineu guten Lohn hatte,
sondern auch mit Tanzmusik in den umliegenden Dörfern einen schönen Groschen
Geld verdiente. Das verdankte er nicht der Ölmannschen dritten Potenz, auch
nicht dem Andenken an die Kirschdüten seiner Fran, sondern dem praktischen Blicke
Wandrers, der wohl erkannt hatte, daß sich ihm in Drillhose eine tüchtige Kraft bot.
Der Herr Oberstleutnant hatte den von ihm ins Leben gerufnen Patrivten-
bund schon wieder aus den Augen verloren, da er sich gerade mit andern Fragen,
nämlich mit der Wetterprognose und mit der Einrichtung eines Systems von Be-
obachtungsstatioueu und der eminenten Wichtigkeit der Benachrichtigung der Land¬
wirtschaft über die vorkommenden Mnxima und Minima beschäftigte.. Da brachte
ihm ein Ereignis die drohende Gefahr wieder in Erinnerung. Niemand hatte
etwas Böses geahnt, die Wähler zur Gemeindevertretnng waren säumig und ver¬
schlafen wie immer gewesen, da waren plötzlich die Schächter in Masse angekommen
und hatten bei der Wahl die ganze dritte Abteilung mit ihren Leuten besetzt. Und
unter diesen waren nicht allein die berüchtigtsten Krakeeler und zielbewußtesten Sozial¬
demokraten, sondern auch der Husarenweidling. Und das schickte sich jetzt an, die Zügel
des Regiments an sich zu reißen. Der Herr Oberstleutnant sah eine Reihe von Ver¬
sammlungen vor Augen, die noch unerfreulicher waren als die bisherigen, und
erwog, ob er nicht aus der Gemeindevertretung ausscheiden sollte. Daun aber
schämte er sich dieses Gedankens und beschloß, wie es sich für einen alten Militär
schickte, auf seinem Posten zu bleiben und den Kampf aufzunehmen. Da aber der
Angriff die beste Verteidigung ist, so nahm er den Gedanken des Patriotenbundes
wieder auf und versammelte ein Komitee, das die Thätigkeit dieses Bundes be¬
sprechen und protokollarisch festlegen sollte. In diesem Komitee wurde die Not¬
wendigkeit der Gegenwirkung gegen die destruktiven Tendenzen einer sozialistisch
durchseuchten Arbeiterschaft „klargelegt." Es wurde als die erste Aufgabe bezeichnet,
einen Sammelpunkt zu schaffen, ans dem die wohlgesinnte Einwohnerschaft zusammen¬
gefaßt werden sollte, um von hier aus die staatserhaltenden Kräfte nach allen
Seiten wirken zu lassen. Und zwar seien dazu dieselben Mittel anzuwenden, mit
denen die Sozialdemokratie so großes erreicht habe. Also in erster Linie die
Agitation. Es müsse agitiert werden für Gott, König und Vaterland. Wenn es
den verdammten Demokraten gelinge, mit ihrer Agitation die Leute verrückt zu
machen, so müßte es doch mit Krrrücken und Krrräutern zugehn, wenn man sie
nicht durch Agitation zu Pflicht und Ordnung wollte bringen können. Es müßten
Vorträge gehalten, Schriften verteilt, Vertrauensmänner ernannt, Kommissions¬
sitzungen gehalten werden, alles so, wie es in der vortrefflichen Broschüre von
Pastor Papenhagen über die soziale Frage zu lesen war. Fritze Poplitz fügte noch
proxriis hinzu, man müsse den Kerls den Brotkvrb höher hängen, dann ver¬
gäßen sie von ganz allein die Dummheiten. Das war allerdings ein beachtenswerter
Gedanke, es war nur schwierig anzugeben, wie man es anfangen wolle, ihnen den
Brotkorb höher zu häugen.
Die Kommission ging alsbald ans Werk, aber sie fand bei der Bewohner¬
schaft wenig Gegenliebe. Den wohlgesinnten Leuten lag gar nichts daran, aus
ihrer Ruhe heraus agitiert zu werden. Gott, König und Vaterland waren Dinge,
die auf sie weniger Eindruck machten als die Kornpreise, und von Begeistrung
für die gute Sache war blutwenig zu spüren. Die schönsten und überzeugendsten
Schriften lasen sie gar nicht, und auf die schneidigste Anrede sahen sie gerade so
zufrieden und träge aus wie zuvor. Und als der Herr Oberstleutnant einen Wander¬
redner kommen ließ, der eiuen Vortrag über die soziale Gefahr halten mußte, kamen
nur wenige — dem Herrn Oberstleutnant zu Gefallen, und der Patriotenbund
kam nicht einmal auf seine Kosten. Der Herr Oberstleutnant wurde unwillig-
Und der Herr Kantor erwog schon, wie er sich aus der Unternehmung ziehen
konnte, da die Leute offenbar nichts von ihr wissen wollten, und fing an geringschätzig
vom Patriotenbnnde zu sprechen. Desgleichen zeigte Fritze Poplitz große Lauheit, und
der Schulze wußte auch nicht, „ob oder ob nicht." Nur Happich blieb treu, denn
er hatte erkannt, daß der Patrioteubund eine Sache sei, bei der Bier getrunken
wurde, bei der also der Wirt verdiente.
Inzwischen war Herr Direktor Wenzel zurückgekehrt, guter Laune und um ein
ansehnliches Stück Letbesgewicht erleichtert. Bald darauf ließ er sich auch auf der
Kegelbahn sehen, um zu erfahren, wie es in Holzweiszig aussehe, und um gelegent¬
lich die Bemerkung fallen zu lassen, daß die Heinrichshaller Kuxe ganz unglaublich
stiegen, und daß man den Betrieb werde vergrößern müssen. Hierzu werde eine
neue Emission von Kuxeu notwendig werden.
Diese Bemerkung wurde seitens der Herren Bauern mit großer Aufmerksamkeit
vernommen. Sie sagten zwar nichts dazu, machten auch gleichgiltige Mienen, aber
Mehrere unter ihnen beschlossen im stillen, erstens Anteile zu nehmen, und zweitens,
keinem Menschen etwas davon zu sagen.
Auch auf den Patriotenbuud kam die Rede. — Aber Kinder, sagte der
Direktor, das fangt ihr doch ganz verkehrt an, wenn ihr denkt, mit schönen Worten
etwas auszurichten. Mit Speck fäugt mau Mäuse. Wenn man jemand haben will,
>muß man ihm etwas bieten.
Diese Worte machten auf den Herrn Kantor tiefen Eindruck. Er wandte sich
der höhern Erleuchtung des Direktors zu, zog sein Notizbuch und sagte: Ganz
recht, Herr Direktor, man muß etwas bieten. Etwas bieten muß man unter
allen Umständen. Es wird jedoch nötig erscheinen, festzustellen, was man zu bieten
gedenkt.
Na, das ist doch einfach, erwiderte der Direktor; ein Vergnügen, Konzert,
Ball, Theater. Ihr sollt mal sehen, wie dann die Patrioten angewachsen kommen.
Diese Bemerkung wurde sogleich dem Herrn Oberstleutnant hinterbracht, der
mit beiden Händen zugriff und den Herrn Direktor ins Komitee kooptieren ließ.
Nun kam Leben in die Sache. Es war aber auch ein ganz andres Ding, wenn
man so wie der Herr Direktor über Personen und Geldmittel verfügen konnte,
^ut so kam man nach kurzer Verhandlung überein, die wohlgesinnten Elemente
"uf Happichs Kirschberge „zusammenzufassen." Da dies eine gute Sache war, so
konnte mau auch vom Himmel ein Einsehen erwarten und annehmen, daß es diesesmal
nicht regnen werde. Man beabsichtigte patriotische Musik zu bieten, sowie vaterländisches
Bier, staatserhaltende Kegelbahn und Familiensinn stärkenden Kaffee. Es sollte bei der
Einladung bis zum Kossäten mit Pferdegespann gegriffen werden. Denn wenn
Man die Kuhbauern mit eingeladen hätte, dann waren die Ackerleute und Spitz-
Wänner ausgeblieben. Alle Arrangements, die Stellung der Bergkapelle und die
Besorgung einiger Flaschen trinkbaren Weins übernahm der Direktor, was dem
Herrn Oberstleutnant sehr lieb war, denn seine Beine waren unsichere Kantonisten
und wollten gar nicht wieder ihre Schuldigkeit thun. Nur die eine Frage blieb
noch zu erledigen, wer sollte die patriotische Anrede halten? Der Herr Oberst¬
leutnant war seiner Beine wegen anßer stände, und der Herr Direktor lehnte die
Zumutung, eine Patriotische Rede zu halten, mit aller Bestimmtheit ab. — Ob
nicht Herr Wandrer für die Rede gewonnen werden könnte? — Der Direktor
wollte einmal anfragen. Der Direktor fragte also an. — Halten Sie denn die
Geschichte für ernsthaft, Herr Direktor? fragte Wandrer zurück.
Der Direktor lächelte zweideutig und gab keine Antwort.
Sehen Sie, sagte Wandrer, ich möchte mich auch nicht ohne Not exponieren.
Blieb also nur der Herr Kantor übrig, denn der Herr Pastor war zu alt
und war zu solchen Unternehmungen nicht zu haben. Der Herr Kantor sträubte
sich mit Händen und Füßen und fühlte sich gleichwohl hochgeehrt, wehrte mit der
einen Hand ab und nahm mit der andern Hand an. Von diesem Zeitpunkt an
war er wieder sehr für den Patriotenbund. Mau sah ihn von nun an nie ohne
Bücher. Eine ganze Bibliothek schleppte er zusammen und behauptete, niemals zu
irgend etwas Zeit zu haben, wegen der patriotischen Rede, die er halten sollte.
Ellen hatte als Adjutant ihres Vaters den Verhandlungen beigewohnt.
Pa, fragte sie eines Abends ihren Vater, warum interessiert sich eigentlich der
Direktor für den Patriotenbund.
Nun, doch wohl als Patriot, erwiderte Pa.
Ich glaube nicht, daß der Direktor ein großer Patriot ist.
Ja, warum sonst?
Ich habe darüber nachgedacht, aber ich kann es nicht herausfinden. Wenn
ihm daran läge, die Sozialdemokraten in Holzweißig nicht aufkommen zu lassen,
so hätte er es doch viel leichter, wenn er bei seinen Arbeitern keine Wühlerei
duldete. Mir kommt der Direktor vor wie einer, der die Wagenbremse zieht, statt
die Pferde anzuhalten.
Schnucki, sagte Pa, ich weiß es auch nicht. Vielleicht nachts ihm Spaß.
Zum Spaße thut der Direktor nichts, der hat immer seine Absicht.
Der festgesetzte Tag kam. Drillhose mit seiner Kapelle hatte Tag und Nacht
geübt. Haufen neuer Noten waren angeschafft worden. Die Besitzer bis zum Kossäten
mit Pferdegespann hinab waren eingeladen worden und hatten gnädigst angenommen.
Die betreffenden Frauen nahmen ihre besten seidnen Kleider aus dem Schranke.
Auch von auswärts war auf Besuch zu rechnen. Das Wetter ließ sich vortrefflich
an, Happich, Dörcher und Neigebarth hatten sich im Kegelhause installiert, die Ge¬
tränke waren zur Stelle, und für den Oberstleutnant war ein Fahrstuhl, den
Klapphorn schieben sollte, beschafft worden. Der Herr Kantor schloß seine Schule
eine Stunde früher als sonst und ging memorierend zwischen seinen Stachelbeer-
büschen auf und ab.
Da traf unerwartet Aork ein. Er kam in Zivil, war etwas einsilbig und
verlegen, sonst aber hochmütig wie immer. Jork hatte eine lange Unterredung mit
Mama. Worauf diese aufgeregt, mit Thränen in den Augen, aber ohne Lorgnette
in Egous Zimmer eilte. Worauf wiederum eine lange Konferenz folgte. Jork
ging währenddessen unruhig im Zimmer auf und ab, Ellen saß hinter einer
Näherei.
Hör mal, York, sagte Ellen.
Hin?
Wieviel Schulden hast du denu diesesmal wieder gemacht?
Ich bitte dich, Ellen, kümmere dich doch nicht um Sachen, die dich nichts
angehn.
Nichts angehn? Wer hat denn für Pa zu sorgen, wenn nicht ich? Hast du
dir schon überlegt, was aus Pa werden soll, wenn du alles durchgebracht hast?
Aork machte eine ungeduldige Bewegung.
Jawohl, was aus Pa werden soll. Von mir ist nicht die Rede. Ich nehme
eine Stellung an oder gehe nach Mariahort ins adliche Fräuleinspittel, wo es
freilich zum Sterben langweilig ist, Mama geht zu Alice, du gehst nach Amerika,
aber was wird aus Pa?
Hier erschien die Mama in der Thür und rief York zu Papa. Als er sich
zum Gehn wandte, rief ihm Ellen nach: Aber beichte ehrlich, Jork, verschweige nicht
die Hälfte.
Nach geraumer Zeit kehrte York zurück, bleich und stumm. Er trat zornig
auf, nahm seinen Hut und ging davon. Die gnädige Frau war außer sich, rang
die Hände und verschwand in ihrem Boudoir. Ellen erhob sich und ging in das
Zimmer zu Pa. Sie fand ihn in seinem Lehnstuhl sitzen mit tief gebeugtem Kopfe,
die Augen mit der Hand deckend, setzte sich hinter ihm auf einen Stuhl und strich
ihm leise über das graue Haar.
Armer Pa, sagte sie, steht es denn so schlecht mit uns?
Papa antwortete mit einem tiefen Seufzer.
Die dummen Juden wollen wohl nicht mehr borgen? fuhr Ellen fort.
Sorge dich nicht, Schnucki, sagte Pa. Mit uns möchte es ja noch gehn, aber
Nork! York ist verloren.
Pa, ich habe noch ein kleines Kapital von Pate Titzewitz, konnte man das
nicht für York flüssig machen?
Nein, Mädchen. York ist nicht zu helfen. York spielt und wird alles ver¬
spielen, was man ihm giebt. Wer weiß, in welche Wuchererhände er schon ge¬
fallen ist. York muß seine» Abschied nehmen. Ich kann ihm nicht helfen. Was
aber dann werden soll, das weiß Gott.
Pa, hör mal zu. Wenn es Gott weiß, ich meine, dann ist die Sache in guten
Händen. Pa, es ist ja alles dummes Zeug, was wir ausdifteln. Mau thut seine
Schuldigkeit, und dann laß kommen, was kommt.
Schnucki, kann ich meine Schuldigkeit thun? Ich alter Krüppel?
Pa, du hast deine Schuldigkeit gethan und bist jetzt alt und ausrangiert und
hast Anspruch auf dein Altenteil. Aber wir Jungen! Was meinst du, wenn wir
eine Pension für Engländerinnen einrichteten, das wäre was für Mama; oder wir
verkaufen alles und wandern in die Kolonie. Oder wir schassen uns einen gelben
Wagen und eine Menagerie an und ziehn auf den Märkten umher. Du sitzt an
der Kasse, ich bändige Löwen und Tiger, und Mama kocht hinter der Bude das
Mittagessen. Weißt du, Pa, daß ich die Leute beneide, die frisch zugreifen und
ihr Brot verdienen? Warum dürfen wir das nicht? Sind wir zu gut dazu?
^der zu ungeschickt? Ich nicht. Wenn ich nur darf, so will ich schon meine
Schuldigkeit thun. Ich fresse mich durch wie Schwefelsaure, wie Klapphorn sagt,
und ich muß doch für dich sorgen, du alter lieber Pa.
Während dessen ging York zu Duttmüller, er traf seiue Schwester, die Frau
Doktor, in ihrem Zimmer am Fenster sitzend und kleine Wäsche nähend. Sie sah
nachdenklich aber glücklich aus. Das Zimmer war nicht gerade von herrschaftlicher
Art, es war zu niedrig und hatte zu kleine Fenster und Thüren, aber es war be¬
haglich und mit feinem Geschmack eingerichtet, und unterschied sich sehr von dem
Wohnzimmer des Doktor Blume in Nodesheim. Nebenan war des Doktors Sprech¬
zimmer. Man konnte es durch die Thür hören, wenn der Doktor Patienten be¬
handelte. Jetzt eine klagende Stimme und dann der murmelnde Baß Duttmüllers,
dann eine Pause, dann ein paar Schritte durchs Zimmer. Dann wieder Klagetöne
und so fort. Wenn die Sprechstunde zu Ende war, pflegte Duttmüller zu seiner
Frau ins Zimmer zu kommen und einen kurzen Bericht des Verhandelten zu geben,
dabei seiue Absichten und Mittel, die Krankheit zu bekämpfen, darzulegen und seine
Medizinischen Fähigkeiten ins rechte Licht zu setzen. Seiner Frau gegenüber muß
es erlaubt sein, das Herz aufzuknöpfen und auch ein wenig zu reuommieren. Hierbei
hatte nun Alice die Erfahrung gemacht, daß der Arzt, der wissenschaftliche Mann.
der Herr über Krankheit und Gesundheit, viel weniger weiß und viel unsicherer
ist, als er es sich merken läßt, und daß viele Rezepte nur eine psychologische
Wirkung haben oder geschrieben werden, die Verlegenheit des Arztes zu verschleiern.
Früher fühlte sich Alice von frohem Stolz erfüllt, wenn die Leute, die aus der
Sprechstunde kamen, ihr Rezept davon trugen, als hätten sie die Heilwurzel Scham
in Händen, jetzt sah sie die Sache schon mit kühleren Herzen und kritischem Blicken
an. Es war doch auch bei der ärztlichen Kunst ein gutes Stück Handwerk. Aber
wenn auch! Ein Meister war ihr Doktor doch, und ein Wohlthäter der Menschheit
war er doch.
Als Dorr eintrat, errötete Alice und wollte sich erhebe». Jork winkte ab und
sagte hastig: Ist dein Mann da? Ich habe dringend nötig, mit ihm zu reden.
Alice wunderte sich und entgegnete, es sei eben Sprechstunde, aber sie werde gleich
zu Ende sein. Bald darauf erschien Duttmüller und nahm Aork mit sich in sein
Studierzimmer. Aork warf sich in einen Stuhl und sagte mit vornehmer Legerität:
Hör mal, Schwager (bis dahin hatte er Duttmüller noch nie Schwager angeredet),
ich bin da in Verlegenheit. Brauche tausend Mark, kannst du mir nicht mit der
.Kleinigkeit aushelfen.
Duttmüller war entsetzt. Tausend Mark! rief er, und das nennst du eine
Kleinigkeit?
Na ja, tausend Mark sind doch für deine Einnahmen eine Kleinigkeit.
Tausend Mark sind ein Kapital, rief Duttmüller. Als ich studierte, hatte ich
im ganzen Jahre keine tausend Mark.
Aber jetzt hast du sie doch.
Nein, ich habe sie nicht. Ich habe ein Haus zu bezahlen und eine Einrichtung,
und was so eine Wirtschaft kostet, das glaubt man nicht. Und wenn ich es hätte,
fiele mir es gar nicht ein, mein Geld wegzuwerfen.
Du drückst dich aber ganz merkwürdig aus. Von wegwerfen ist nicht die
Rede. Dn sollst alles bei Heller und Pfennig wieder bekommen.
Duttmüller machte eine abwehrende Handbewegung.
Schwager, es ist eine Ehrenschuld. Wenn ich nicht zur rechten Zeit bezahle,
muß ich quittieren.
Warum wendest dn dich nicht an deinen Vater?
Papa ist selbst in Verlegenheit. Gieb mir wenigstens die Hälfte. Dnttmüller
ging aufgeregt im Zimmer auf und ab. Denke doch an deine Fran. Was wird
Alice sagen, wenn sie erfährt, du hättest ihren Bruder retten können und hast es
nicht gethan. Gieb mir dreihundert Mark. Duttmüller rang die Hände. Er
empfand bei der Forderung, sein Geld weggeben zu sollen, fast einen körperlichen
Schmerz. Er schimpfte innerlich, so sehr er konnte, und ging endlich an den Geld¬
schrank und gab Uork dreihundert Mark gegen einen Schuldschein. Dort kehrte
nicht in das Zimmer zu Alice zurück, souderu empfahl sich mit der Versicherung,
daß er die Kleinigkeit demnächst zurückerstatten werde.
Louis war sehr verstimmt, und so kehrte er zu seiner Frau zurück.
Was wollte denn York? fragte Alice.
Anpumpen wollte er mich, grollte Dnttmüller. Tausend Mark, als wenn das
ein Bettel wäre. Ich hatte gedacht . . . und nun hängt sich der einem auch noch
an den Nacken.
Dn hattest gedacht. . .? Louis, was hattest du gedacht?
Ach nichts!
Sage mir, Louis, was hattest du gedacht?
Nichts! Du hörst es ja.
Damit warf Louis die Thür hinter sich zu und fuhr auf die Praxis.
Da stieg an dem Lebenshimmel Alices eine graue, mißfarbige Wolkenbank empor.
Alice saß den ganzen Nachmittag allein in ihrer Stube und nähte Wäsche und
weinte.
Diese Vorkommnisse waren nicht geeignet, bei den Beteiligten die Frende an
dem patriotischen Konzert zu steigern, das läßt sich leicht einsehen. Daß die gnädige
Frau nicht hingehn werde, stand sowieso fest, einesteils wegen ihres allgemeinen
Leidens, midernteils, weil ihr doch nicht zugemutet werden konnte, sich auf eine
Holzbank zu setzen. Aber auch der Herr Oberstleutnant wäre gern zu Haus ge¬
blieben. Doch das ging nicht. Die patriotische Pflicht rief, und er war nicht der
Mann, sich um eine Pflicht herumzudrücken. Und Ellen konnte ihren Pa nicht allein
lassen und mußte ebenfalls erscheinen. Jork aber, der sehr einsilbig gewesen war,
erklärte, als er erfahren hatte, daß Lydia das Konzert besuchen werde, zur Über¬
raschung aller, er werde jedenfalls auch hingehn.
Zur festgesetzten Zeit erschien die Vergkapelle, diesesmal nicht mit Federbüschen,
sondern in Zivil, denn der Direktor hatte es so haben wollen. Patriotismus,
meinte er, sei kein Königs-Geburtstag, sondern Privatsache. Bald darauf sah man
Olmann, Jdchen und Fran Duttmüller, nämlich die alte Duttmüllern, die sich jetzt
schon fast dauernd in Holzweißig aufhielt, den Kirschberg emporsteigen. Sie thaten
es mit großer Wichtigkeit, denn sie betrachteten sich nicht als gewöhnliches Publikum,
sondern als Hauptpersonen, die zwar nicht gerade die Musik selber machten, aber
doch mit der Kapelle verschwägert und befreundet waren. Und man mußte doch
zeitig kommen, um einen guten Platz zu erhalten. — Dann erschien der Herr Oberst¬
leutnant, das heißt, er saß in feinem Rollstuhle und wurde von Klapphorn im
Schweiße seines Angesichts auf den Kirschberg befördert. Hinterher gingen Ellen
und Lydia. Nach geraumer Zeit setzten sich die bäuerlichen Notabilitäten in Gang.
Voraus die Frau Schulzen und ihre Freundschaft, und in gemessenem Abstände die
zugehörigen Männer mit der frisch angesteckten Zigarre im Munde. Man hatte
zwar unter sich mit großem Eifer über das Konzert gesprochen, die besten Kleider
herausgesucht und sich auf den Tag gefreut — deun was hatte man denn sonst in
Holzweißig für Zeitvertreib? —, aber man durfte das beileibe nicht merken lassen.
Darum ging man hübsch langsam und mit gleichgiltiger Miene, als wäre man noch
unentschlossen, ob man überhaupt das Konzert seiner Gegenwart würdigen wollte.
Dann erschien der Herr Kantor in seinem Obstgarten hinterm Stakete, kontrollierte
den Standpunkt des Wetters und sah nach, ob sich der Festplatz — er konnte von
seinem Garten aus gerade Hinsehen — genügend gefüllt habe. Danach hielt er es
für angemessen, sein Manuskript in der Brusttasche, sich in Bewegung zu setzen,
und es seiner Fran zu überlassen, nachzukommen, wann und wie sie konnte. Dann
erschienen die Beamten von Heinrichshall, der Direktor, Wandrer, Doktor Olbrich,
der Obersteiger, der alte Lchmbrand und wer sonst noch dienstfrei war, teils zu
Wagen, teils zu Fuß. Dann ging die Sache los mit Armeemarsch Ur. 4, der ja
Zum eisernen Bestände gehörte. Drillhose machte seine Sache gar nicht schlecht. Er
dirigierte nach den besten militärischen Mustern mit Schneidigkeit und Intelligenz,
»blitzte auf zum Himmel, blitzte zur Erde hinab" und hatte sowohl das schwere
Bombardon als auch die leichtfertige« Klarinetten in Zaum und Zügel, und alles
war darin einig, so feine Musik sei in Holzweißig noch nie gemacht worden. Sogar
gewisse böse Stellen in der Ouvertüre gingen gnädig vorüber, und das große
patriotische Potpourri mit Signalen, Trommelwirbeln und Paukenschlägeu war wahr¬
haft großartig und geeignet, die Vaterlandsliebe aller Anniesenden in hellerm Feuer
erglühen zu macheu.
Der Platz hatte sich mit der Zeit leidlich gefüllt. Es waren auch Einwohner
erschienen, die, ihrer sozialen Stellung und der Zahl ihrer Morgen Acker entsprechend,
uicht eigentlich zu deu staatserhaltenden Elementen gerechnet werden konnten, die
aber doch ein Interesse für Musik und Getränke hatten. Auch das alte Weib mit
ihrem Hvkerkram und ihren Zinnpfeifen für die liebe Jugend war wieder da und
bewirkte, daß es im weiten Umkreise um den Kirschberg in den schrillsten Tönen
Zirpte, wenn die Musikanten ihre Instrumente absetzten. Im Hintergründe, gleichsam
"uf dem ersten Range, hatte sich die weibliche „Hootwvlleh" niedergelassen. Ernst
und feierlich taucht» man seinen Zwieback in die Kaffeetasse und sagte nichts gutes
und nichts schlimmes. Im Parkett saßen die dazugehörigen Männer, man hatte
auch sagen können Herren, denn sie hatten ihr chausseestaubfarbigen Ökonomenanzüge
angezogen, und die hellen Hüte saßen keck über den roten Gesichtern. So hatten
wenigstens die jüngern unter ihnen gethan, aber die ältern bemühten sich, nicht
zurückzubleiben und schlugen gleich von Anfang an ein lebhaftes Tempo im Bier-
trinken ein. Unter ihnen hatte sich der Direktor angesiedelt. Am Vorstandstische
saß der Oberstleutnant und noch einige besonders würdige und angesehene Personen,
wie Wandrer, der alte Esch und der Schulze; im Hintergründe Ellen und Lydia
und im vordersten Vordergrunde Ölmcmn und die Seinen.'
Seit wir Gevatter Ölmcmn zum letztenmal gesehen haben, ist eine merkliche
Verändrung mit ihm vorgegangen. Erstens hat er sich gründlich gewaschen,
zweitens einen schwarzen Rock und eine Weiße Binde angelegt, wie sie der „Alte"
in Braunfels zu tragen pflegte; drittens trägt er einen Schlapphut mit breiter
Krempe der Art, wie ihn der Direktor zu tragen Pflegte, viertens war sein Ver¬
halten würdevoller als je, und dies alles, weil er seit acht Tagen seine Pension
genommen und zu seinem Schwiegersohne Drillhose übergesiedelt war. Das Joch
der Knechtschaft war von seinen Schultern genommen. Wie stand er jetzt da?
Als ein freier Mann, als ein Mann, der vor keinem Direktor mehr stramm zu
stehn brauchte, als ein Maun, der zwar die Stätten hoher Bildung verläßt, aber
die in sich erworbnen Schätze mitnimmt, als einer, der zwar aufs Land gezogen,
aber keineswegs gewillt ist, die Überlegenheit der städtischen Bildung zu verleugnen.
Eine ähnliche Meinung hatte auch seine Tochter Jda, die Gemahlin Drill-
hoses, die es für ein schweres Opfer ansah, aufs Land und unter die Bergleute
gegangen zu sein, und die es ihrer Menschen-, Künstler- und Veamtenwürde schuldig
zu sein glaubte, möglichst nobel aufzutreten. Und dies umsomehr, als ein endlich
eingetretner Todesfall in der Familie ihr wiederum eine kleine Erbschaft eingebracht
hatte. Demzufolge trug sie ihr schwarzes Kleid, ihren schwarzen Federhut und
schwarzen Sonnenschirm mit viel Selbstbewußtsein. Auch Frau Duttmüller wußte,
wer sie war, und ihr schweres seidnes Kleid und ihre Spitzenhaube und ihre ge¬
sättigte Miene gaben davon Zeugnis.
An diesen, Tische erschien in den Pausen Drillhose, um mit gleichgiltiger
Wichtigkeit sein Glas Vier zu trinken und seine Zigarre zu rauchen. Hier nahm
auch der Herr Kantor Platz, Denn der Herr Kantor hielt es für angemessen,
von dem Vvrstcmdstische fern zu bleiben, um sich suchen zu lassen, wenn er seine
Rede halten sollte. Und so ließ er sich an dem Tische von Herrn Ölmcmn nieder,
weniger um mit diesem ein gebildetes Gespräch zu führen, als wegen feiner musika¬
lischen Beziehungen zu Drillhose. Umsomehr war Ölmcmn geneigt, ein wissen¬
schaftliches Gespräch mit dem Herrn Kantor zu führen und ihn merken zu lassen,
was Sache ist. Es fehlte nur noch um einer Anknüpfung. Diese besorgte der
Herr Kantor.
Ich höre, begann er, daß Sie gewillt sind, in unsern, lieblichen Holzweißig
dauernden Aufenthalt zu nehmen.
Ja in der That, erwiderte Ölmnnn mit Würde, ich habe mich dahin re¬
sümiert.
Der Herr Kantor horchte auf, aber er glaubte sich verhört zu haben. Meister
Ölmann legte sich in seinem Stuhle zurück mit der Haltung eines, der sich seiner
innern Überlegenheit völlig sicher ist.
Haben Sie Ihre Stellung aus Gesundheitsrücksichten aufgegeben? fuhr der
Herr Kantor fort.
Nein, dieses weniger, veus nobis bkcee oleum oren ti^nati clsäit, sagt der
Lateiner. Wissen Sie, Herr Kantor, wenn man einundzwanzig Jahre auf dem
Gymnasium gewesen ist, so werden einem die Wissenschaften zum alten I^xo, und
es verursacht einige Entbehrung, aufs Land zu gehn.
Dann wäre ich aber doch bei den Wissenschaften in der Stadt geblieben, er¬
widerte der Herr Kantor, der, selbst auf Grund des Konversationslexikons in der
Wissenschaft wohl erfahren, es übel empfand, von Meister Ölmann als Landbewohner
gering angesehen zu werden.
Umstände! Herr Kantor, Umstände! sagte Meister Ölmann. Ich war es
meiner Selbstachtung schuldig, in die Pension zu gehn. Nämlich wegen dieses
Siegfried, dem Alten seinen dummen Jungen, den wir vergeblich durch das Frei¬
willigenexamen bringen wollten. Denn wo kein Koppschenie und kein Ellbogen ist,
da kommen Götter selbst mit den Beinen nicht auf die Erde. Wie nun die Sache
schief ging, und es herauskam, daß dieser Siegfried die Exemplarien schon vorher
gewußt hat, da sollte ich das Karnickel sein. Na ja, man hat ja gethan, was man
konnte, aber das haben die Herren alle gewußt. Und nun wollte keiner etwas
gewesen sein, und alle fielen sie über mich her. Da wurde ich falsch und sagte:
Lg,ut LaoWr, Kant, nihil, und ging in die gesetzliche Pension. Und nun können
sie sehen, wie sie ohne mich auskommen. Denn mein Nachfolger, der früher Unter¬
offizier gewesen ist, hat keine Spur von klassischer Bildung. Glauben Sie, daß
der Mensch nicht imstande ist, ein einziges lumpiges Verbum zu kujonnieren.
Sie haben ja aber anch hier mancherlei, sagte der Herr Kantor, künstlerische
Genüsse, Konzert der Bergkapelle, Gesangverein, Theater.
Dieses ist richtig und freut mich zu hören, antwortete Ölmann. Darauf lehnte
er sich in seinein Stuhle noch weiter zurück und sah in die Weite, als wenn er
ohne Fernrohr Fixsterne achter Ordnung entdecken wollte, und fuhr nachdenklich
fort: Musik, und überhaupt die Kunst, und wenn ich an Schiller denke oder Thor¬
walzern und wie alle diese Konifernen knuten —
Jetzt fuhr der Herr Kantor in die Höhe, das war denn doch zu arg, von
klassischer Bildung zu reden und solche Fehler zu machen. — Sie meinen Koryphäen,
Herr Ölmann, sagte er.
Ölmann beachtete den EinWurf nicht und fuhr fort: Glauben Sie mir, wenn
Man einundzwanzig Jahre auf dem Gymnasium gewesen ist, dann weiß man
Bescheid ins klassische Altertum mit seinen Statute» aus kanarischen Marmor und
Philosophen und Dichtern und dem zugehörigen locus tortins.
Der Herr Kantor fing an, sich ernstlich zu ärgern.
Aber das praktische Leben hat anch sein Recht, fuhr Ölmann fort, was mau
Dusel nennt und die dritte Potenz der göttlichen Weltordnung ist. Denn, wie ich
in den Büchern gelesen habe, ist es im klassischen Altertum auch nicht immer nach
Verdienst zugegangen, und die alten Dichter haben, wenn sie nicht bei Mäeeuasseu
oder im Apollo, was ein seines Restaurant war, gegessen haben, mehrenteils von
Kartoffeln gelebt.
Aber die Kartoffeln waren ja damals noch gar nicht entdeckt, warf der
Kantor ein.
Ölmann runzelte die Stirn über die ungehörige Unterbrechung, würdigte aber
die ländliche Weisheit des Kantors keiner Entgegnung und fuhr fort: Und was
Mvzarten anbetrifft, so ist dieser an Hungertyphus gestorben. Dies geschah alles
"us Mangel der dritten Potenz. Auch was mein Schwiegersohn ist, Angust Drill¬
hose, der Mensch ist ein Universum, hat aber keine dritte Potenz. Ich sage Ihnen,
Mein Schwiegersohn kann alles, er ist Musikant und Mechanikus und Tischler, und
Wenn Sie zu ihm sagen: Machen Sie mir einen Rock, dann macht er ihn Ihnen.
Wollen Sie es glauben, daß er deu Musikanten ihre Instrumente wieder zurecht-
geklopft hat? Wie neu. Und auf jede Trompete hat er eine Vomitivtafel getötet.
Wo drauf graviert steht: Renommiert im Jahre soundso.
Sie meinen „renoviert," sagte der Herr Kantor.
Na, das sagte ich jn doch, erwiderte Ölmann.
Und dann heißt es uicht „Vomitivtafel," sondern „Votivtafel."
Ölmann setzte sich steil hin und rückte seinen Stuhl herum. Er war ärgerlich
geworden und sagte zu sich: Dieser Kantor ist aber doch ein infamichter Schul¬
meister. Und dabei ist er uicht einmal auf dem Gymnasium gewesen. Mau soll
sich mit solchen ungebildeten Menschen gar uicht einlassen. Damit ließ er den
Herrn Kantor sitzen und wandte sich der weiblichen Seite des Tisches zu.
Hier spannen Frau Duttmüller und Jdchen ihr Garn. Leider stand es in
den Sternen geschrieben, das; auch hier das Ende Unfriede sein sollte. Jdchen hatte
einen langen Strickstrumpf in Arbeit, auf den sie mit liebevoller Freundlichkeit sah,
während sie ihn bearbeitete, und ihr Drillhose seine Bergleute anführte. Da nun
ein Musikstück zu Ende, desgleichen eine Nadel vollgestrickt war, so legte sie die
freiwerdende Nadel ans Kinn und fragte: Erinnern Sie sich noch, Frau Duttmüller,
wie Sie damals bei uns waren, als der junge Wandrer abgehn mußte, und ihr
Louis versetzt wurde? Und nun sehen Sie mal, was aus Ihrem Louis geworden
ist. Vater sagte es damals gleich. Und was hat er für eine Frau bekommen, ein
Fräulein von — und aus den besten Kreisen, und so eine schone und angesehene
Dame. Was hat sie denn mitgekriegt?
Dies war eine unangenehme Frage. Von Mitgift war eigentlich noch nie
die Rede gewesen. Und wenn sie, die Dnttmüllern, einmal zu Sortieren versuchte,
so war ihr Louis immer gleich unangenehm geworden. Aber viel konnte es nicht
sein, was Alice mitgekriegt hatte. Drei Häuser in Magdeburg ganz gewiß nicht.
Und das war eigentlich schade. Es war schade, daß man nicht alles bei einander
haben konnte, Ehre und Geld und vornehme Verwandte und Zinshäuser. Das ist
nnn einmal so im Leben, die Decke ist zu kurz, zieht man hier, dann fehlt es dort.
Aber Frau Duttmüller war weit davon entfernt, von ihren heimlichen Gedanken
Jdchen etwas merken zu lassen, das litt ihr großer Stolz nicht. Sie überhörte
also die letzte Frage und erwiderte: Da haben Sie ganz recht, Jdchen. Die Frau
Doktor, was meine Schwiegertochter ist, ist ein rares Frauenzimmer. Immer
freundlich und gefällig und gar nicht pressiert. Und wie sie vor die armen Leute
ist, und Was sie alles hinträgt! Mein Louis sagte schon einmal, daß sie manchmal
mehr hinträgt, als er verdient.
Das ist sehr anständig, erwiderte Frau Drillhose, aber davon, daß man Seins
weggiebt, hat man nichts. Mau muß doch anch selber leben.
Darum machen Sie sich nur keine Sorgen, Jdchen, erwiderte die Duttmüllern,
wir leben schon, und besser als mauche andern Leute.
Andre Leute leben auch, erwiderte Jdchen, die Augen mit innrer Befriedigung
niederschlagend, Drtllhose und ich und Vater, großartig. Es fehlt aber auch an nichts
nicht. Wenn wir erst unsre neue Wohnung bei Schwersenzen im Oberstock haben,
dann sollen Sie mal sehen, wie wir uns einrichten. nobel! Denn was andre
Leute können, das können wir auch. Ein Vertikoh und ein Pianinoh und Wiener
Stühle und einen Ausziehtisch für fünfundfünfzig Mark. Und alles bar bezahlt,
nicht etwa wie bei vornehmen Leuten auf Borg.
Die Duttmüllern fühlte den Stich und rückte die Arme in die Seiten und
sagte: Wie meinen Sie das, Drillhosen?
Jdchen antwortete darauf nicht, sondern schob das Kinn vor und legte den
Mund in Falten.
Ich will Ihnen einmal was sagen, fuhr die Duttmülleru los, ich gönne jedem
Seins, aber man muß nicht gleich ansverschämt sein. Was ist denn Ihr Mann
eigentlich? Und was hat deun Ihr Mann?
Mein Mann ist Künstlär. Und mein Mann hat sein schönes Einkommen,
und mein Mann hat eine Frau, die anch was hat, und mein Mann hat keine
Schwügers, die den Baron spielen und ihr Geld verspielen und sich andern Leuten
an den Hals hängen.
An den Hals hängen? Wer hängt sich denn an den Hals? Frau Duttmüller
war ernstlich ungehalten geworden.
Jdchen biß wieder die Lippen aufeinander und schob das Kinn vor, wahrend
sie anzügliche Blicke nuf York warf, der eben in vornehmer Lässigkeit den Kirsch¬
berg heraufkam. Dann fuhr sie fort: Ich will Ihnen was sagen, Dnttmüllern,
wenn Schwagers bei der Garde stehn und kommen in Zivil an, dann ist ganz
gewiß die Kasse nicht in Ordnung. Und wenn sie früh vor Tage in Zivil zu
ihren Schwagers gehn und bald darauf wieder abziehn, dann wollen sie ihre
Schwagers ganz gewiß anborgen. Nicht wahr, Vater?
Ölmann erwiderte: Jawohl, Jdchen. Dieses war schon im Altertum das
nämliche. Wenn bei den alten Griechen und Römern Gardeleutnants in Zivil
ausgingen, dann gingen sie auf Raub aus.
Frau Duttmüller machte Augen so groß wie die Kaffeetassen und sah von
dem einen auf den andern, und eine große Unruhe stieg in ihrer Seele auf. Sie
erinnerte sich, daß Uork wirklich heute früh bei ihrem Dnttmüller gewesen war,
und daß Duttmüller hinterher auffallend schlechte Laune gehabt hatte. Das wäre
ja wunderschön für ihren Louis, eine Frau, die nichts hat und nichts mitkriegt, und
ein Schwager, der sich anhängt wie ein Blutegel. I, da sollte doch gleich —!
So etwas wäre nicht passiert, wenn ihr Louis gehört und Karoline Hefter mit ihren
drei Häusern in Magdeburg geheiratet hätte.
Da kam Klapphorn angezogen, um dem Herrn Kantor zu fügen, daß sogleich
eine Pause eintreten werde, und daß sich der Herr Kantor bereit halten möchte,
seine Rede zu halten. Der Herr Kantor rührte sich nicht vom Flecke. Er ließ die
Pause eintreten, ließ sich noch zweimal erinnern und ging dann langsam — denn
so wollten es Anstand und Selbstbewußtsein — zu der mit Grün umkleideten
Rednerkauzel. Darauf flüsterte er von der Kanzel herab noch ein Wort Poplitzen
nach rechts und dem alten Esch nach links zu, ließ das Trompetensignal „das
Ganze sammeln" blasen, gab sich innerlich noch einen Stoß, um sich auf deu Ton
der Begeistrung zu stimmen, worin solche Reden gehalten werden müssen, lockerte
nochmals sein Manuskript in der Rocktasche und legte los.
Die Rede war sehr schön. Sie war kunstreich aus einer Sedanrede, einer
Kvnigsgeburtstagsrcde und einer Neujahrspredigt zusammengebaut und mit kühnen
Übergängen und vielen schönen Zitaten versehen worden, und es muß beklagt werden,
daß wir sie aus Raummangel nicht vollständig wiedergeben können, sondern daß
tnir uns auf die Wiedergabe einiger weniger Wendungen beschränken müssen. Der
Herr Kantor setzte, wie schon gesagt worden ist, in begeistertem Ton ein und rief:
Freunde, Mitbürger, Festgenosscn! Heute ist der Tag, an dem auf diesem Berge
das Feuer der Begeistrung lodert. Auch andre Flammen lodern. Die Flammen
der Liebe und des Dankes. Dem Vaterlands gilts, dem teuern, des Sohne einst
ihr Blut verspritzt haben durch ihr todesmutiges Eintreten für Deutschlands Ruhm
und Größe. Cicero sagt: Wer sind die guten Bürger, in Krieg und Frieden?
Die, welche der Wohlthaten gedenk bleiben, die sie vom Vaterlande empfangen
haben. Pestalozzi sagt . . . Amos Comenius sagt . . . Und so lasset uns unsre
Blicke erheben zu dem erhabnen Hohenzolleruthrou, dessen Genealogie uns einen
Kaiser Wilhelm zeigt, einen Friedrich den Großen, einen Großen Kurfürsten, und
>vie sie alle heißen mögen, die, mit allen Herrschertugenden ausgerüstet, unser Vater¬
land gleich einem Phönix aus den Trümmern erstehn ließen. Darum sagt Paulus:
Fürchtet Gott, ehret den König! Und Schiller sagt: Ans Vaterland, ans teure,
schließ dich an. Jean Paul sagt. . . Rückert sagt. . . Zu diesem Zwecke haben
'vir uns heute zu einem patriotischen Konzert versammelt. Phthagorcis sagt: Das
ist das Wesen der Musik, daß sie die Seele des Menschen zur Harmonie des
Weltalls stimmt. Dem entspricht die Harmonie der Wohlgesinnten. Sie ist das
Fundament des Staats. Denn, wie Hermmmy sagt: Ordnung ist die Seele des
Staats. Darum lasset uns mit allen Fibern in unsrer Brust für die Ordnung des
Staats eintreten. Ein jeder gebe ein begeistertes Beispiel, denn Plato sagt: Unendlich
dick kommt auf gute Gewöhnung um. Darum von heute an sei es unser Gelöbnis:
Aus Vaterland, ans teure, schließ dich an, das halte fest mit deinem ganzen Herzen.
Da nun der Herr Kantor nicht recht wußte, ob er mit Amen oder einem
Vivathoch schließen sollte, so unterließ er beides und trat von seiner Kanzel nicht
gerade mit großer Wirkung ab. Auch im übrigen, wir müssen es leider konstatieren,
hatte die Rede keinen tiefen Eindruck gemacht. Die Holzweißiger Damen hatten während
derselben fleißig gestrickt und machten hinterher dasselbe gleichgiltige Gesicht wie
vorher. Das würde übrigens auch der Fall gewesen sein, wenn es ein Reisebericht
oder ein Leichensermon gewesen wäre. Die Herren am Vorstandstische hatten auf¬
merksam zugehört, und der Herr Oberstleutnant klopfte unhörbar mit den Händen
zusammen und sagte: Brav! brav! Aber die Stützen der Gesellschaft, die begüterten
Einwohner von Holzweißig hatten sich nicht gut betragen, sondern während der
Rede Wein getrunken und mit den Gläsern angestoßen. Als aber der Direktor
mit einer Batterie Sektflaschen auffuhr, war alle Andacht vorbei, und man konnte
es nicht erwarten, daß der erste Pfropfen knallte. Und einer von ihnen, zu seiner
Schonung soll sein Name verschwiegen bleiben, soll das vermessene Wort gesagt
haben, indem er auf seiue Tasche klopfte: Ach was! der wahre Patriotismus
sitzt hier!
An dem Ölmcmnschen Tische hatte man aufmerksam zugehört. Drillhosc
mit Hochachtung, und Ölmann mit kritischem Geiste. Denn Ölmann hatte die Ver¬
besserungen des Herrn Kantor übelgenommen und hatte sich vorgenommen, es ihm
heimzuzahlen. Als sich nun der Herr Kantor mit reichlichem Händeschütteln am
Vorstandstische verabschiedet hatte und mit wenig verhehltem Hochgefühl seinen Platz
am Ölmannschen Tische wieder eirunden, sagte Herr Ölmann mit dem Tone eines
wohlwollenden Vorgesetzten: Ihre Rede, Herr Kantor, hat meine Zufriedenheit.
Sie war wissenschaftlich gebildet und standesgemäß. Aber worüber ich mich ge¬
wundert habe, Sie sagen „Genealogie." Das muß doch heißen „Generalogie."
Wieso?
Unsre Könige sind doch Generale. Also sagt man Generalogie. Ich nehme
das niemand übel, wenn er es nicht weiß, aber wenn man einundzwanzig Jahre
auf dem Gymnasium jewesen ist. . .
Hier erhob sich der Herr Kantor in Heller Entrüstung und sagte: Dieses, Herr
Ölmann, ist unerhört, es ist, es ist wahrhaft himmelschreiend, und ich kaun nichts
darauf antworten als — guten Abend!
Damit ging er ab. Und Ölmann sagte verwundert: Ich hätte nicht gedacht,
daß sie hier in Holzweißig auf einer so tiefen Kultursprvsse stehn.
Der Herr Kantor segelte an dem Tisch, an dem man Sekt trank, vor¬
über. Man trank ihm schon von weitem zu und rief: Kommen Sie her, Herr'
Kantor, wollen Sie nicht auch uuter die Gründer gehn? — Hier wird mit Kuxen
gehandelt, sagte ein andrer, und ein dritter fügte hinzu: — und der Verdienst
schon im voraus vertrunken. — Wollen Sie auch ein paar Kuxe haben, sie sind
billig. Wenden Sie sich nnr an den Herrn Direktor. — Der Direktor soll leben,
der große Patriot und Wohlthäter der Menschheit soll leben. — Der Herr Kantor
nahm hochachtungsvoll Platz, und der Herr Direktor erwiderte: Meine Herren, ich
nehme Sie alle zu Zeugen, daß ich keinem vou Ihnen zugeredet habe. Kuxe sind
eine gefährliche Sache. Sie stehn heute 98, können in einem Vierteljahre 150
stehn, können aber auch in den Brunnen gefallen sein. Johann, bringe noch ein
paar von den Goldköpfen her. Der Kurs soll leben: Hoch, höher und noch höher
soll er leben! Was kann das schlechte Leben helfen? Wer wird sich von früh bis
abends schinden, um ans seinem Acker vier Prozent herauszuschlagen, wenn er in
einem Vierteljahr sein Kapital um die Hälfte erhöhen kann?
Jetzt kamen auch die Auswärtigen heran, und mancher, der es frühmorgens
nicht geahnt hatte, kehrte abends als ein Besitzer mehrerer Kuxe und eines Heisler
Kopfes wieder heim, sah in eine rosenfarbige Zukunft, kam sich sehr gehoben vor
und gelobte sich, keine Jauchenpumpe je wieder anzurühren.
Als die Sonne unterging, sollte das patriotische Fest sein Ende haben, schon
darum, weil Happich es unterlassen hatte, für Beleuchtung zu sorgen. Aber die
Patrioten am Tische des Direktors waren nicht in Bewegung zu bringen. Ebenso¬
wenig das junge Volk, das gern tanzen wollte. So zog denn der Oberstleutnant
mit Klapphorn und Ellen allein ab. Der Oberstleutnant sah mit gemischten Ge¬
fühlen auf die patriotische Veranstaltung zurück. Er mißbilligte es, daß der
Direktor doch gar zu sehr seinen und des Werkes Vorteil in den Vordergrund
geschoben hatte, sodaß aus dem Patriotenbunde fast eine Versammlung von Aktio¬
nären geworden war. Als er an Happichs Gasthof vorüberfuhr, fielen ihm rechts
und links vom Thore zwei riesengroße, rote Plakate auf, auf denen einige Schlag¬
worte mit der fetteste» Schrift gedruckt waren. Man las: Große Volksversammlung
in Happichs Lokale ... Das Recht der Enterbten . . . Tyrannei des Kapitals . .'.
Großer Kladderadatsch ... Der hallende Schritt der Arbeiterbataillone . . . Nieder
mit den Schlotjunkern . . . Neue Ära . . . Das organisierte Poletariat. . .
Der Herr Oberstleutnant las diese Worte mit großem Unwillen. Zum Donner¬
wetter, sagte er, was fällt dem Gastwirt ein, dieser verdammten Demokratenbande
sein Hans zu öffnen? Und hernach sollen wir wohl an denselben Tischen sitzen,
ein dem diese dreckigen Kerls ihre Marseillaise gesungen haben? Das muß dem
Happich morgen klar gemacht werden, Entweder, oder . . . entweder wir oder sie.
Noch unangenehmer berührt war der Herr Oberstleutnant, als er am andern
Tage hörte, daß die Patrioten des Kirschbergs mit der Musik voran herunter
gezogen waren und in denselben Räumen, an denen schon die roten Zettel klebten,
weiter gekneipt hatten und unter der Inschrift: Hoch lebe Bebel! bis zum frühen
Morgen getanzt hatten.
Von Herrn Neichsgerichtsrat Dr. Spahn erhalten wir
folgende Zuschrift: Zur Jesuitenfrage bitte ich mir auf den Artikel in Ur. 7 der
Grenzboten in der Absicht der Verständigung mit Herrn Professor or, Kaemmel
und den Männern, die so versöhnlich und maßvoll denken wie er, eine kurze Er¬
widerung zu gestatten.
Herr Dr. Kaemmel spricht von dem tiefen Mißtrauen der Protestanten gegen
den Jesuitenorden, das er als Historiker aus drei Gründen erklärlich findet. Ich
gebe zu, daß das Mißtrauen besteht; daß es durch die Geschichte gerechtfertigt wird,
bestreite ich und behaupte überdies, daß bei unsern heutigen Rechts- und Ber-
fassuugszuständen das Mißtrauen keine Rücksichtnahme beanspruchen kann, selbst wenn
es vom historischen Standpunkt aus erklärlich sein sollte.
Als erster Grund des Mißtrauens ist angeführt, daß „der Jesuitenorden als
Kampforden gegen die Protestanten," „daß er für die Propaganda unter den
Ketzern gestiftet" worden sei. Die Geschichte bestätigt diesen Grund nicht. Nicht
gegen die Protestanten, sondern nach Indien hat Ignatius von Lohola seine beste
Kraft, Franz Xaver, nach dem Kongo (1545), nach Brasilien (1549). nach Abessinien
(1555) seine Missionare gesandt. In dem Jahre vor seinem Tode (1556) zählte
der Orden 8 Provinzen, 2 in Italien, 3 in Spanien. 1 in Portugal. 1 in Japan
Und Indien, aber keine für die Propaganda unter den Ketzern. Von den damals
eingerichteten 65 Niederlassungen entfielen nur ganze 2 auf Deutschland, Köln und
Wien (Duhr, Jesuitenfabeln, 3. Aufl. 1899, S. 1—28). Die Teilnahme der
Jesuiten an der Gegenreformation hat sich aus Deutschland heraus entwickelt; da.
aus ihr Herr Dr. Knemmel keinen prinzipiellen Vorwurf herleitet, so kann sie un-
erörtert bleiben, ich meine mit ihm, tsmpi xa>öff.t,i sollten wir ruhen lassen.
Wenn als zweiter Grund des Mißtrauens der Gegensatz gegen den germa¬
nischen Geist angeführt wird, den dem Jesuitenorden der Spanier Jgnattus durch
seinen Geist des Fanatismus, sowie durch den Ersatz der Gewissensüberzeugung
durch die Weisungen des Beichtvaters und den der Sittlichkeit durch die Zweckmäßigkeit
eingepflanzt habe, so geben die Schriften des Ordensstifters, sein Buch der geist¬
lichen Übungen und seine Ordenssatzungen, für diesen Grund keinen Anhalt. Beweis¬
kräftig spricht gegen ihn, daß die katholische Kirche bei keinem Orden eine andre
Moral als die Moral Jesu Christi duldet. Gegen die Grundbegriffe dieser katho¬
lischen Moral verstößt aber, daß jemand gegen sein Gewissen handelt, oder
daß er an die Stelle von Christi Sittenvorschriften Zweckmäßigkeitsansichten setzt.
Die Anschauung, daß der spanische Geist des Ordens, nicht das Papsttum, die
römische Kirche reformiert und aus ihr etwas ganz andres gemacht habe, als die
mittelalterliche Kirche gewesen war, sollte von einem modern geschulten Historiker nicht
mehr ausgesprochen werden; denn das umgekehrte ist richtig, der Jesuitenorden war
ein Kind religiöser Anschauungen seiner Zeit. Wäre mir Johannes Huber ein voll¬
wichtiger Historiker, so würde ich mich dafür auf ihn berufen (Jesuitenorden S. IX).
Vom Fanatismus der Jesuiten endlich hat wohl dasselbe zu gelten, was v. Toqne-
ville über die Fehler sagt, „die allen Korporationen, politischen wie kirchlichen, an¬
kleben, sobald sie fest verbunden und kräftig konstituiert sind, der Hang sich aus¬
zubreiten, ein etwas weniger duldsames Temperament und die Anhänglichkeit an
die Sonderrechte der Korporation." Die Überwindung dieser Schwächen gelingt
leider selbst dem Höchstmaße sittlicher Selbstzucht nicht in allen Fällen.
Der Jesuitenorden soll drittens der schärfste und konsequenteste Träger der
hierarchischen Machtansprüche sein. Aber gerade die Jesuiten haben, von einzelnen
Ausnahmen abgesehen, welche die Regel bestätigen, den in Spanien zur Ausbildung
gekommnen hierarchischen Ideen gegenüber die Souveränität des Staates auf
staatlichem Gebiete vertreten und die Zulässigkeit des Eingreifens der hierar¬
chischen Gewalten in das staatliche Gebiet, insbesondre die von vielen Theologen
vertretene direkte Gewalt des Papstes über die zeitlichen Dinge bekämpft. Wie Bellarmin
und die folgenden Jesuiten die zu ihrer Zeit herrschende Doktrin über die Gewalt
der Kirche zu beschränken suchten, bitte ich bei Hergenröther, Katholische Kirche
und christlicher Staat (2. Aufl. 1876, S. 883) nachzulesen. Dessen auf genauer
Kenntnis gerade dieser theologischen Richtungen beruhendes Urteil kann ich für die
Lehren der deutschen Jesuiten der Gegenwart auf Grund eigner Beschäftigung mit
dieser Frage bestätigen.
Herr Dr. Kaemmel giebt als möglich zu, daß die jetzigen Jesuiten das Mi߬
trauen nicht mehr verdienen; aber er meint, Riccis: sint ut sunt g,ut non sink spräche
nicht dafür, daß der Geist seines Begründers dem Orden entschwunden sei. Allein
dieses Wort rührt nicht von Ricci, sondern, wie bereits vor fünfzig Jahren Ravignan
und jüngst Duhr bewiesen haben, von Papst Clemens XIII. her. Seiner un¬
geachtet hat der Vorfahr unsers Kaisers, der Hohenzollernkönig Friedrich H., in
seinem Lande die Jesuiten als solche in seinen Schutz genommen.
Sind die historischen Gründe des Mißtrauens nicht stichhaltig, was bleibt
dann noch an Gründen bestehn, um ein bei seiner Unbilligkeit zweckloses Ausnahme¬
gesetz aufrecht zu erhalten? Wäre selbst der spanische Geist des Ordensstifters die
Lebensluft des Ordens, was ginge der Wunsch des Einzelnen, in dieser Geistesluft
zu leben, die Reichsgesetzgebung an, da bei ihm nur das Selbstbestimmungsrecht in
Frage steht. Denn ein Einfluß des Ordens auf andre Neichsangehörige ist bei
den veränderten Verhältnissen außerhalb des Ordens und in uns selbst nur noch
insoweit möglich, als die einzelnen Neichsangehörigen dessen rein geistige Macht auf
sich einwirken lassen wollen. Eine weltliche Macht steht nirgends hinter dem Orden,
jede Einwirkung desselben oder einzelner seiner Mitglieder auf das Reich oder
einen Bundesstaat sowie jede Belästigung irgendwelcher Reichsangehörigen durch
den Orden ist durch Verfassung und Recht ausgeschlossen. Und darüber dürften
wir doch einig sein, daß eine geistige Macht durch geistige Kräfte und nicht durch
Reichsgesetze zu bekämpfen ist. Aber die deutschen Jesuiten, und nur um sie
handelt es sich, denken und fühlen gar nicht spanisch, sondern germanisch, und sie be¬
wegen sich dabei geistig selbständig und frei. Von Fragen des Glaubens abgesehen
verträgt der Jesuitenorden ohne Engherzigkeit die verschiedensten Ansichten, wenn
sie uur gut begründet sind.
Von dem Jesuitengesetze will die große Mehrheit des Reichstags nichts mehr
wissen, weil es als Ausnahmegesetz ihrer Rechtsüberzeugung widerspricht. Und
sind denn etwa die Wirkungen dieses Gesetzes von so geringer Tragweite? Hunderten
von deutscheu Landeskindern werden ohne jedes eigne Verschulden die aus ihrem
Jndigenat und aus den Verfassungen sich ergebenden Rechte entzogen. Wollen sie
ihrer religiösen Anschauung gemäß leben, so kann dies innerhalb der Grenzen des
Reichs nicht geschehen. Und im Reich kann ohne Richterspruch, durch eine Verwaltuugs-
maßregel dem Einzelnen der Aufenthalt an einem bestimmten Orte augewiesen oder
an einem bestimmten Orte untersagt, der Fremde im Widerspruch mit demi Fremden¬
recht über die Grenzen verwiesen werden. Gewiß müssen sich „unsre Kirchen
vertragen, müssen Opfer gebracht werden um des Friedens willen"; aber nicht
Frieden, sondern Verbitterung erzeugt der in dem Jesuitengesetz liegende Bruch
des gemeinen Rechts. Dieses Mittel wird niemals durch den Friedenszweck ge¬
heiligt, dem wir alle gern dienen. Ob durch dieses Ausnahmegesetz die katholische
Kirche in Deutschland Schaden erlitten hat oder nicht, ist seiner Unbilligkeit gegen¬
über eine nebensächliche Frage; ich kann sie nicht beantworten. Daß aber der
preußische Staat unter den Wirkungen dieses Gesetzes leidet, das vermag ich zu
b
Wir behalten unserm Freunde Kaemmel weiteres sachliches Eingehn auf die Frage
vor und bemerken zunächst nur Folgendes. Wir meinen, daß wir einen so hervor¬
ragenden Juristen und umsichtigen Debatter, wie Dr. spähn es ist, nicht daran zu
erinnern brauchen, daß die Unterlassung gewisser einer Person beigemessenen, zu Be¬
denken Anlaß gebenden Handlungen nicht ohne weiteres dadurch bewiesen wird, daß
Man von ihr andre besonders verdienstliche Handlungen berichtet — daß hohe weltliche
und geistliche Behörden unter Umständen Gepflogenheiten, die sie in der Theorie
verwerfen, in x>ri>.xi geschehn lassen können — daß die Nachsicht, die mau vom rein
menschlichen Standpunkte mit den unberechtigten Ansprüchen und den Übergriffen
einer temperamentvollen Korporation haben kann, im öffentlichen Leben in der Regel
nicht zur Duldung dieser Übergriffe und zur Anerkennung dieser unberechtigten
Ansprüche zu führen pflegt — daß Freunde unsrer Gegner kaum in der Lage sind,
uns über deren Ungefährlichkeit zu beruhigen, und daß es endlich für jemand, dem
es um objektive Darstellung zu thun ist, seine Bedenken hat, wenn er, ohne Zweifel
in der besten Absicht, ein zu Recht bestehendes Gesetz als Rechtsbruch bezeichnet.
or. spähn weiß das so gut wie unsre Leser und besser als wir. Wenn die
deutscheu Jesuiten in der That die wohlmeinenden, nützlichen und von dem Ober¬
haupt der römisch-katholischen Kirche stramm im Zaum gehaltnen Männer sind, als
die er sie uns darstellt, würden wir allerdings der Zukunft Deutschlands eine Art
Opfer damit bringen, daß wir uns ihrer Beihilfe berauben, indem wir die Wieder-
znlassnng ihres Ordens in Deutschland bekämpfen, aber auch in diesem Falle wie
M so vielen andern gilt es von zwei Übeln das kleinere zu wählen. Auch Reineke
Fuchs, als er Lampen, dem ehrlichen Mann, das Credo zu lehren versprach, erschien
w vertrauenerweckendster, heiligster Haltung, und — man weiß, wie die Sache
endete.
Das dem Deutschen bisweilen
erteilte Lob, er sei oft fremder lebender Sprachen mächtig, möchten wir dahin
einschränken, daß dieses Lob zunächst nur den Mitgliedern und Beamten unsrer
großen Handelshäuser gelten kann, daß viele Deutsche in ihren Stellungen als
Kuriere, Kammerdiener, Friseure und Kellner alle möglichen Sprachen geläufig
spreche», daß die Gebildeten und Gelehrten fast ausnahmlos verstehn, was sie
lesen, wenn es sich um französische, englische und italienische Bücher handelt,
daß endlich die deutschen Diplomaten und der Teil der Geld- und Geburtsaristo¬
kratie, der kosmopolitisch ist, mit Französisch und Englisch in der Regel gut Be¬
scheid weiß, daß man aber sonst im allgemeinen nicht von den Deutschen sagen
kann, sie lernten fremde lebende Sprachen so gründlich kennen, daß sie darin zu
Hanse seien.
Die Art, wie in der Presse mit Fremdwörtern Verfahren wird, ist der deut¬
lichste Beweis, daß die Schreiber in den fremden Sprachen wenig bewandert sind,
und daß der französische und der englische Sprachunterricht, der in den Schulen
erteilt wird, nicht weit reicht. Wenn man z. B. einem Schreiber von Zeitungs¬
artikeln zu Gemüte zu führen sucht, daß der Gebrauch des Wortes Chansonette
für den Begriff Chnnsonsängerin Unsinn sei, und daß man doch die der Sprache
eines Nachbarvolkes entnommnen Brocken wenigstens in dein Sinne einbürgern müßte,
den sie dort hätten, so predigt man tauben Ohren. Eine Chansonette bleibt für
den Zeitungsmann eine Chansonsängerin; und wenn die Franzosen aus den Wolken
fallen wollen, weil sie sich so etwas nie vermutet hätten, so ist das ihre Sache.
Der Zeitungsmann macht sich seine Worte zurecht, wie er sie braucht, oder, was
den Sachverhalt noch richtiger bezeichnet, so gut oder so schlecht ers versteht. Und
manche von ihnen verstehn das schlecht genug. Davon geben auch die Übersehungen
der aus der Fremde eingegangnen Nachrichten, mit denen uns aufgewartet wird,
vielfältigen Beweis. Zwei Beispiele aus der allerjüngsten Zeit werden genügen.
Wir wählen absichtlich zwei Fälle, die nicht kraß sind, aber hinreichend zeigen, mit
wem man es zu thun hat. Prinz Heinrich scheint, da der Sturm seiue Fahrt un¬
erwartet verlängert hatte, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten durch Mnrko-
nische Stationen etwas telegraphiert zu haben, wie: I am 80,1^, I äisaxuoinwü
z^on, was einem vollkommen einleuchten müßte, da es etwa so viel heißen würde,
wie: Es thut mir leid, daß ich nicht Pünktlich eintreffen konnte. viWppoint vno
in dem von dem Prinzen gemeinten Sinne heißt: seine Verabredung mit jemand
nicht halten, in der Regel, weil man daran durch irgend etwas verhindert worden
ist. Was tischt uns nun statt dessen der Überseher auf? Es thut mir leid, daß
ich Sie enttäuscht habe. Gerade weil die Schattierimg etwas zart ist, ist die un¬
glückliche Wahl des Wortes so bezeichnend. Dis^xxaint vno heißt ja allerdings
auch jemand enttäuschen, aber das; es dem Prinzen nicht um den Gebrauch des
Wortes in diesem Sinne zu thun war, muß jeder sehen. Den Präsidenten hoffend
und harrend und dann in seiner Hoffnung oder auch nur in seiner Erwartung
getäuscht darzustellen, wäre niemand, am wenigsten einem die Schattierungen so fein
wählenden Herrn wie dem Prinzen beigekvmmen. Eine oder zwei Nummern später
wird uns gesagt: Es fiel auf, daß der Prinz, als er die Front der Ehrcnkompagnie
abschritt, die Fahne grüßte. Was auf deutsch auffallen heißt, muß der Übersehcr
doch gewußt haben. Es heißt doch nichts anders, als es kam einem unerwartet,
oder man wunderte sich darüber. Wahrscheinlich war telegraphiert worden: it was
notieoä, that lenz Z^rinvo salutocl tlo «üolours oder so etwas. Man würde vielleicht
im Deutschen gesagt haben, es blieb nicht unbemerkt, oder noch besser schlechtweg,
er grüßte natürlich die Fahne. Denn daß er das thun würde, war etwas so Selbst¬
verständliches, daß alle die, denen es wirklich, wie uns gesagt wird, aufgefallen
wäre, vom Präsidenten sofort mit Revolvern hätten bewaffnet und beauftragt
werden müssen, im Interesse des Staats alle die totzuschießen, die dümmer wären
als sie.
Das nur beiläufig, da uns daran lag, nachzuweisen, daß die behauptete Sprach¬
fertigkeit der Deutschen im allgemeinen, und namentlich was einen Teil der Presse
anlangt, eine schöne Legende ist. Wir kennen zwar Zeitungen, bei denen der¬
gleichen nicht vorkommt, aber das von uns zitierte Blatt ist kein kleines, sondern
ein stattliches reichsdeutsches Tageblatt. Wir könnten ohne Mühe eine Menge
ähnlicher Beispiele anführen und wollen uns darauf beschränken, an einem Worte,
dem Worte absorbieren und an einem Schriftsteller, der namentlich die englische
Sprache vollkommen beherrschte, zu zeigen, wie sehr man mit dem Gebrauche
Von Fremdwörtern auf der Hut sein muß. Moritz Busch sagt am Anfange des
zweiten Bandes seiner Tagebuchblätter, unter deren Bewundrer wir uns ein¬
schreiben, bezüglich des Eindrucks, den die Beschießung von Paris auf die Nerven
derer machte, die diese unnnterbrochne Reihe gewaltiger Detonationen in größerer
oder geringerer Nähe mit anhörten, man habe sich an das Schießen gewöhnt, und
es habe „niemals die Beobachtung auch nur vou Kleinigkeiten absorbiert." Seine
Absicht war offenbar, zu sagen, das Schießen habe nie die Aufmerksamkeit so
absorbiert, daß sie von der Beobachtung auch minder wichtiger Dinge abgelenkt
worden wäre. Absorbieren heißt ja bekanntlich aufsaugen, und die Franzosen
ebensowenig wie die Engländer bedienen sich dessen je in einer andern Bedeutung.
In einer mit Wasser gefüllten Untertasse, in die man einen guten Schwamm legt,
bleibt, wenn man nach einiger Zeit den Schwamm vorsichtig aufnimmt, kein Tropfen
Wasser zurück, er hat alles aufgesogen. In dem von Busch erwähnten Fall
blieb dagegen genug Aufmerksamkeit zurück, die mau der Beobachtung auch kleiner
Dinge zuwenden konnte, die Aufmerksamkeit war von dem Schießen nicht ganz oder
überhaupt nicht absorbiert worden. Die Aufmerksamkeit ist eine Fähigkeit, von der
Wir uns vorstellen können, daß sie absorbiert werde, die Beobachtung kleinerer Dinge
dagegen ist eine konkrete Leistung, die behindert, beeinträchtigt, gehemmt, aus¬
geschlossen, unmöglich gemacht, aber nicht absorbiert werden kann. Dem Ausdruck
absorbiere» entspricht ziemlich gemein das deutsche „ganz in Anspruch nehmen."
Jedermann wird aber sofort erkennen, daß es sonderbar wäre, wenn man sagen
wollte, das Geräusch des Bombardements habe niemals die Beobachtung auch nur
von Kleinigkeiten ganz in Anspruch genommen, und mit einem deutschen Ausdruck
würde auch Busch, der so streng logisch zu Werke zu gehn verstand, ein solches
leichtes Danebengreifen nie passiert sein.
Wenn es nun wirklich, wie wir glauben, bei manchen Zeitnngsberichterstattern
mit der Kenntnis fremder Sprachen nicht weit her ist, so dürfen wir uns auch
nicht wundern, wenn wir sehen, daß sie mit dem Geschlecht ausländischer Worte
unispringen wie die Katze mit der Bratwurst: sie empfinden die Vergewaltigung,
die sie mit ihren verkehrten deutschen Artikeln der fremden Sprachen und denen,
die mit ihr vertraut siud, anthun, nicht und ziehn muntern Schritts weiter wie
der Mann mit der Chansonette. Sie und andre leichtlebige Deutsche haben einen
Grundsatz aufgestellt, der mit der Schindnng des Marsyas durch Apoll unge¬
fähr auf gleicher Stufe steht: Apolle sind sie deswegen noch nicht, aber fremde
Geschöpfe zu schinden, daraus machen sie sich ebensowenig wie der neidische Gott,
der auch deshalb bei Bismarck in geringen« Ansehen stand. Um die Sache kurz
zu sagen, sie geben den Worten, die sie mit der Betonung und der Aussprache
samt Grammatik und romanischem Druck entlehnen, ohne weiteres das Geschlecht, das
der ihnen gerade einfallende entsprechende deutsche Ausdruck hat, und übersehen
vornehm das Geschlecht, das dem Worte in der Heimat beigelegt worden ist. Wir
werden zeigen, wohin das führt. Fürs erste müssen wir aber noch zu ihrer Ent¬
schuldigung sagen, daß sie damit in die Fußstapfen ihrer Väter und Ahnen treten, die
in vergangnen Jahrhunderten namentlich die französische Sprache wie echte Stegreif¬
ritter und Wegelagerer ausgeplündert haben, und deren Versuche, das Entlehnte für
den eignen Gebrauch zurecht zu machen, an die Experimente erinnern, die die Südsee-
insulaner mit den ihnen überlassenen Pariser Hüten und Sonnenschirmen anstellen.
Keine Scheu, kein Prinzip, alles wird durcheinander gewurstelt. Was im
Französischen männlich war, wird weiblich gemacht, und umgekehrt, ohne Sinn »ut
Verstand. Man muß das offen und ehrlich sagen, weil es zeigt, daß man gut
thun wird, für die Zukunft auf der Hut zu sein, wenn man auch die Form, in
der die Aufnahme von Hunderten von Wörtern nun einmal geschehen ist, nicht mehr
rückgängig machen kann, sondern die Sachen hinnehmen muß, wie sie sind.
Daß wir nicht übertreiben, werden einzelne Beispiele beweisen. Warum ist
aus Is o-iro8Lo die Karosse geworden? Hatte mau sich nicht mit der Kutsche be¬
gnügen können oder, wenn man earossiers hatte, wenigstens in dem Karosse fahren
können? Was hatte den Deutschen lo iniursg-ö gethan, daß er zur Manege gemacht
und in Weiberkleider gesteckt wurde. Etwa weil die Reitbahn weiblich ist? Gut,
wenn man so an seiner deutschen Gewohnheit hing, was ja nur löblich und erfreulich
ist, warum bedürfte es da noch et'un mausg'g? Wir hatten sehr liebe Freunde,
deren Mutter, eine Französin, sich das deutsch Sprechen sehr angelegen sein ließ
und unter andern auch die Phrase fertig gebracht hatte: Kinder, nous voulcms aller
<Iiws 1^ Reitbahn. Was würde man gesagt haben, wenn die edle Dame von 1s
Reitbahn gesprochen hatte, weil ihr Manege mit einem 1o dekliniert wird? Oouoeur,
die Süßigkeit, ist auch im Deutschen weiblich. Wir möchten ein Pastellbild von dem
Manne haben, der auf den genialen Gedanken gekommen ist, daraus ein Neutrum
zu machen, um damit eine veredelte und deshalb doppelt eklige Sorte Trinkgeld
zu bezeichnen.
Und nun die unzähligen Wörter, für die noch heutigentags die französische
Aussprache beibehalten worden ist, die aber zu Neutra herabgewürdigt worden sind,
weil sie Sachen bezeichnen. Wir geben auf gut Glück, und wie sie uns in die
Feder kommen, einige davon: das Bonmot, das Pompon, das Peloton, das Soutien,
das Souterrain, das Entresol, das Menu, das Souper, das Diner. Die Krone
davon ist natürlich das Parterre, für das wir ein sehr hübsches deutsches Wort
haben, Erdgeschoß, und das wir dennoch zu brauchen nicht müde werden, obwohl
wir alle wissen, daß der Sinn, den wir ihm beilegen, wie bei der Chansonette
ganz willkürlich und irrig ist.
Etwas anders liegt der Fall mit den englischen Wörtern, da unter ihrer
Zahl so wenig Feminiua sind, daß sie kaum in Betracht kommen. Dafür hat man
sich entschädigt, indem man je nach Laune oder Wunsch einzelne Wörter zu sächlichen
Hauptwörtern gemacht hat, andre nicht, ^is heißt das alö, obwohl man doch nicht
das Bock sagt; dem Lang.i'v möchte man dieselbe Ehre zuteil werden lassen, auch
da-reite^x erscheint mitunter mit einem das. Das nmnsivn, und nun gar erst alle
mit dein Sport und dem Pferdetrödel zusammenhängenden Ausdrücke, bei denen
mau in den Berichten sein blaues Wunder sieht. Dem unglücklichen Wort cle^ä
böÄt sind wir in nicht mehr und nicht weniger als drei verschiednen Kostümen
begegnet, der eine sprach von einer abermaligen avant dhat, der andre meldete einen
abermaligen, ein dritter ein abermaliges clsaü Ksat. Wer hat nun Recht, doch eigent-
lich wohl der, der mit den bekannten wenigen Ausnahmen jedes englische Wort als
Maskuliuum ansieht. Wenn wir lesen, die Times brachte (im Singular) einen langen
Artikel: sie sagt usw., da kommt es uns doch sonderbar vor, daß sich noch Engländer
finden, die uns die Palme der Sprachkunde reichen. Die Russen und die Tschechen,
überhaupt die Slawen thun das nicht. Sie wissen, was sie vom deutschen Sprachgenie
zu halten haben, und gute Bekannte, die sonst ganz durchdrungne Großslnwen
waren, haben uns in unbewachten Stunden anvertraut, daß sie zwar ungern Deutsch
reden hörten, aber wenn sie die Wahl hätten zwischen einem Deutschen, der deutsch
spricht, und einem, der russisch oder tschechisch spricht, sie doch das kleinere Übel
vorziehn würden. Und wir wußten, was mit dem größern Übel gemeint war.
Nun wir ehrerbietig und bescheiden bekannt haben, daß wir an demi bestehenden
nicht rütteln und das Hergebrachte als heilig und unantastbar verehren wollen, es
mag uns gefallen oder nicht, so kommen wir zu unsrer Forderung, daß bei Wörtern,
die noch nicht aufgenommen und mit deutschem Stempel versehen sind, das heimische
Geschlecht geachtet werde, und daß den Leuten, die es unters halten, der Marsch
geblasen werde.
Es geht in solchen Dingen nichts über Beispiele. Würde man es glauben,
beiß wir ganz kürzlich in einer Besprechung über die französischen Militärlieder das
Wort elumsou immer als Neutrum verwandt gefunden haben, das obansoo? Nun
ist, soviel uns bekannt, zwischen Lied und Chanson nur der eine Unterschied, daß
Lied deutsch und eiurnscm französisch ist. Wenn dem Schreiber des Artikels ein
Lied als eine Sache erscheint, was ja ganz vernünftig ist, warum in aller Welt
bleibt er da nicht bei dem deutschen Worte, statt das französische herbeizuziehu
und zu verballhornen. 1^ ewnscm ist ein Femininum und wird bis zum Ende
aller Tage ein Femininum bleiben, und Leute, die das nicht einsehen, müssen darauf
aufmerksam gemacht werden: das ist jedermanns Pflicht. Das olumsou gusrrisie
ist solchen Leuten eine ebensolche Kleinigkeit wie der xl-lec Loyale. Sie können
ja, ohne dafür zu zahlen und darum zu darum, ihr geliebtes Masknlinum haben.
Königsplatz versteh« wir auch, und «ach eiuer kleinen Weile, die wir brauchen, um
uns zu besinnen, wissen nur auch, wo der Königsplatz in Paris liegt. Auch die
neue Brücke ist uns weniger zuwider als die ?olle>-U«ins. Wir wissen ja, da uus
leider Gottes jede Kenntnis der nordischen Sprachen abgeht, nicht, was z. B. in
Kopenhagen alle die hübschen einsilbigen Worte wie Bro, sive, Plath, Hus. Gaard,
Vej. Sö, Havn usw. für ein Geschlecht haben, aber wir würden uns sehr hüten,
ihnen eins beizulegen, ohne uns vorher bei Freunden, die es wissen, eingehend
danach erkundigt zu haben. Man kann sich ja ein bischen einrichten und nach der
Decke strecken. Wenn man weiß, daß Street ein Masknlinnm ist, und doch niemand
verletzen möchte, indem man von dem mit luxuriösen Läden besetzten Rsg'fut Ltrost
spricht, so giebt es ja Mittel und Wege, diese herausfordernde Fassung zu ver¬
meiden. Wenn man die Sache so dreht, daß man sagt, in Regent Ltreot, wo es
s» viele schöne Läden giebt, so wird der strittige Punkt Vchcrhaupt nicht berührt, aber
solche Vorsicht brauchen die Leute nicht, für die der ?lacs Ro^lo und die ?vnd-Mut
das einzig Richtige sind. Nur immer drauf losgeschmiert, die meisten Leute, die es lesen,
sind ja auch nicht gescheiter als sie, und da wird von eiuer entzückenden Zusammen¬
kunft im elnrmdro süpaiüo erzählt, und es werden nette kleine frivole Liederverschen
(Couplets) mit dem Refrain im ebs-mbre. sSpg,r6<z gedichtet, in Musik gesetzt und
gesungen, und keiner von den Herren ahnt, was wahrhaft gebildete Leute aller
Nationen von ihnen denken. Ist es wirklich nicht der Mühe wert, die Bildung
ein ganz klein wenig ernster zu nehmen, damit die Schreiber der kleiner» und
schlechter beratuen deutschen Blätter aufhören zu sein, was sie jetzt sind, die
Scharwerksmaurer unter den Architekten?
Bei der Durcharbei¬
tung des zweiten Teiles von dem ausgezeichneten Werke Berthold Delbrücks „Verglei¬
chende Syntax der indogermanischen Sprachen" (Straßbnrg, Karl I. Trübner, 1897)
sind mir ein paar sprachgeschichtliche Thatsachen aufgefallen, die sich von selbst noch
unter einen andern Gesichtspunkt als den syntaktischen stellen — man könnte ihn
den national-psychischen nennen —, die darum von allgemeineren historischem In¬
teresse sind und deshalb hier mitgeteilt sein mögen.
Es herrscht im allgemeinen die Vorstellung, daß die Dialekte der germanischen
Stämme etwa zu Beginn der sogenannten Bölkerwandrnng den klassischen Sprachen
Latein und Griechisch an Reichtum, logischer Präzision und Feinheit der Nuancierung
nicht entfernt vergleichbar gewesen seien. Schon der Gesamteindruck der Wulf-lasche»
Übersetzung der biblischen Schriften ist geeignet, diese Vorstellung zu erschüttern.
Im einzelnen ist bemerkenswert, daß die Germanen der erste Zweig der u-voger-
Mauischeu Völkerfamilie gewesen sind, für den sich das Bedürfnis herausstelle,
beim Infinitiv den Zweckbegriff dnrch Hinzufügung einer besondern Praposttwu per-
vorzusehen: im Gotischen An, im Westgermanischen to, hochdeutsch „zu." Menes. 13, 3
übersetzte schon Wulfila: urrs-um an Sö-lau, er ging aus zu säen. Mehr von ethischem
als von intellektuellem Interesse ist Eyb, 4, 8. Luther hat da übersetzt: „Wer ge¬
stohlen hat, der stehle nicht mehr" und damit gegenüber dem griechischen Text ge¬
mildert, wo steht: <? x/i.^?are-^, der fechtende, der Dieb. Noch zarter drückte sich
Wulfila aus mit dem bedingten Relativsatz: Wol ilicet, d. i. wer etwa gestohlen hat.
Einige Bedeutungswandlnngen aus dem Indogermanischen in das Germanische
geben ähnliches zu denken, z. B. die von „werden" und „bieten," die Delbrück in ein
interessantes Licht gerückt hat. In unserm „bieten" steckt dieselbe Wurzel wie in
dem aus Homer wohlbekannten /re^e?-ö«t, d. i. dnrch Hören wahrnehmen. Die
ursprüngliche, allgemein-indogermanische Bedeutung der Wurzel muß, wie auch aus
dem slawischen hervorgeht, gewesen sein: wach, aufmerksam sein, seiue Aufmerksamkeit
auf etwas, auf jemand richten oder gerichtet halten. Dieser rein intellektuelle
Begriff ist in den germanischen Sprachen, ähnlich wie unser „aufmerksam sein gegen¬
über jemand," auf das sittliche Gebiet übergetreten und hat sich hier von einer
Wendung wie „Gruß bieten" bis zu körperlichem Anbieten konkretisiert. „Werden"
ist die deutsche Fortsetzung einer Wurzel, die eigentlich drehen, sich drehen, rollen
heißt (vgl. lat. ohl'tsi's). Die Germanen allein unter den indogermanischen Völkern
haben dieses Rollen auf das Schicksalsmäßige Geschehen bezogen und die Wurzel dann
wesentlich nur in diesem Sinne verwandt: in dem altsächsischen Epos vom Heiland
fügt Christus beim Abendmahl den Worten um Judas „Was du thust, thue bald"
hinzu: ?.'Inn v?nrtn s,t Iuz,nüuu, tüvA. lüll sind nu ZinalM, d. i. das Schicksal ist
Man mag noch so gut englisch können — will man wissen, wie
ein englischer Eigenname ausgesprochen wird, so muß man im Wörterbuch nach¬
sehen. Den guten Lord, dem Delarey jetzt einen Platz in der Weltgeschichte gesichert
hat, muß man doch manchmal im Gespräch nennen, und man möchte seinen Namen
nicht gern verhunzen. Von Murets Encyklopädischem Wörterbuch schreibt die Frank¬
furter Zeitung: „Kein Benutzer des allumfassenden Werkes dürfte darin vergebens
suchen." Also schlagen wir den Muret auf! (Er hat kein besondres Eigennamen¬
verzeichnis.) inötüriäatum, wotnulö, UgtünsavI. Methuen fehlt, ebenso wie bei
Thieme, obwohl der Name schon in der Weltgeschichte steht, denn ein Herr Methuen
hat 1703 den berühmten oder berüchtigten Handelsvertrag mit Portugal ab¬
geschlossen. Im Konversationslexikon findet man ihn denn endlich, aber von jetzt
ab wird er hoffentlich auch seinen Platz im englischen Wörterbuch kriegen.
Bekanntermaßen hat der Übermensch schon eine recht lange
Geschichte, und die Überkomposition frißt in unsern Tagen immer weiter um sich.
Da wird es von Interesse sein, daß schon vor mehr als zweihundert Jahren jemand
mit köstlicher Naivität einen Übergott eingeführt hat, nämlich Angelus Silesius in,
seinen Geistreichen Sinn- und Schlußreimen:
is der Kirchenhistoriker Professor Ehrhard vor drei Jahren an
die Wiener Universität berufen wurde, ging ihm der Ruf eines
bedeutenden Gelehrten voraus, und auch die strengkatholischen
Kreise waren darüber einig, daß die Wahl nach jeder Richtung
hin ausgezeichnet sei. Heute bedauert die katholische Orthodoxie
ehr vorschnelles Urteil. Seit Professor Ehrhard vor einigen Wochen sein Buch
über den „Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert" herausgegeben hat,
^ er für den erlesenen Kreis derer, die sich allein nicht nur für berufen,
sondern auch für auserwählt erachten, zum Ketzer und gefährlichen Neuerer
geworden, und das Organ des Linzer Bischofs war schon so freundlich, ihm
glückliche Reise — ins Ausland zu wünschen. Und wodurch hat sich Professor
Ehrhard den heilige» Zorn des in Österreich wohl nicht mehr nach unten aber
Nach uoch sehr mächtigen starren katholischen Konservatismus zugezogen?
Hatte er in seinein Buche etwa den Boden positiven Glaubens verlassen, wollte
^ eine neue Kirche gründen? Nein, im Gegenteil, der Gedanke, der sein Werk
Durchzieht, ist einfach der: Die katholische Kirche muß den straffen Zentralismus,
"^n in Rom in neuerer Zeit gehuldigt wird, mildern und sich mit den Waffen
Modernen Geistes rüsten, um den unter den Katholiken immer weiter um sich
greifenden Indifferentismus zu besiegen. — Etwas schärfer faßte vor kurzem
°er Professor des kanonischen Rechts an der Innsbrucker Universität or. Wahr-
'rund diese Forderung, indem er erklärte, die katholische Kirche müsse, um eine
^ulturmacht zu bleiben und die Herrschaft über die Geister wieder zu erlangen,
mit der modernen Kultur versöhnen; denn thue sie das nicht, und behalte
^ gewisse überlebte, die Intelligenz abstoßende Formen bei, dann würde sie
^'r Pggtnienreligion herabsinken, die nur noch in den entlegnen Hütten der
Weinbauern und Alpler ihr Dasein fristen werde.
Wenn man bedenkt, wie wenig der katholische Konservatismus in Oster¬
reich hin wechselnden Regierungen nach josephinischen Rezept als wich-
"ges Pvlizeiinstitnt begünstigt und beschützt — bis vor kurzem die Nötigung
einPfand, sich mit der modernen Kultur auseinanderzusetzen, und wie sehr er
sich infolgedessen daran gewöhnte, in der völligen Erstarrung des kirchlichen
Lebens die sicherste Garantie für den Bestand der Kirche selbst zu sehen, daun
wird mau es begreiflich finden, daß sich die klerikale Presse mit einer Wut
ohne gleichen auf das Ehrhardsche Buch stürzte, und zwar um so mehr, als
ihm ein ganz außerordentlicher buchhnndlerischer Erfolg beschieden war. In
wenig Wochen waren nicht weniger als sieben Auflagen vergriffen, eine gewiß
seltne Erscheinung bei einem 400 Seiten starken wissenschaftlichen Werke, das
trotz der glänzenden Darstellung immerhin schwere Kost ist. Der katholische
Konservatismus konnte daraus leicht entnehmen, wie sehr sich die Zahl seiner
überzeugten Anhänger gelichtet hat. — Stewart Houston Chamberlain hat
Recht, wenn er behauptet, daß in keiner Kirche die Zahl derer, die an die
Summe ihrer Lehren nicht glnubeu, so groß sei wie in der katholischen; allein
er hätte auch noch beifügen müssen, daß trotzdem in den Herzen dieser Tausende
und aber Tausende von Zweiflern und Indifferenten uoch eine tiefe und starke
Anhänglichkeit an die katholische Kirche lebendig ist, und daß sie selbst das
geringste Zugeständnis dankbar entgegennehmen, das ihnen die Hoffnung er¬
öffnet, wieder glauben zu können, ohne mit den Ergebnissen der wissenschaft¬
lichen Forschung in Zwiespalt zu kommen. Daraus erklärt sich auch der phäno¬
menale Erfolg des Ehrhardsche» Buches, sowie die für den Fernstehenden zu¬
meist ganz unverständliche Entwicklung der deutschen Parteien Österreichs in
den letzten zwanzig Jahren in ihren Beziehungen zu der katholischen Kirche.
Ehrhards Buch „Der Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert"
konnte nur — er selbst giebt das zu — auf österreichischem Boden entsteh»,
denn Ehrhard mußte hier die Erfahrung machen, daß weite gut katholische
Volkskreise den Bruch mit dem katholischen Konservatismus schon längst voll¬
zogen hatten. Um diese Erscheinung in ihrer Entwicklung zu verstehn, ist es
nötig, auf die sechziger Jahre zurückzugreifen, wo sich nicht gerade zum Besten
des Deutschtums in Österreich seine Spaltung in eine liberale und eine klerikal¬
konservative Richtung vollzog. In der deutschen Versassungspartci stritten zwei
Prinzipien um die Herrschaft, das nationale und das liberale. Das Kompromiß,
das zuerst geschlossen worden war, wich bald einer immer schärfer werdenden
Betonung der politisch liberalen Anschauung, und in demselben Maße, als kultur¬
kämpferische Tendenzen auftraten, wurde die deutsche aber konservative klerikale
Gruppe von der Verfassnngspartei abgedrängt und ließ sich schließlich zu
einem Bündnis mit den Slawen verleiten. Der Fehler lag auf beiden Seiten;
daß man ihn nicht einsah, bereitete dem österreichischen Deutschtum die schwersten
Stunden. Seine nationalpolitische Einheit wurde zertrümmert und konnte bis
heute noch nicht wieder hergestellt werden; den beiden beteiligten Parteien selbst
aber wurde durch deu Streit der Keim des Verfalls eingepflanzt. Je wilder
der Kampf entbrannte, desto bereitwilliger nahmen sich die Klerikalkvuservativen
der Slawen an, und desto inniger verband sich die liberale Verfassnngspartei
mit der Börse. Beide legten dadurch deu Grund zu dem Abscheu, den später
das Volk vor ihnen empfand. Die liberale Partei blieb vorläufig allerdings
die Siegerin, aber ihre Leistungsfähigkeit erschöpfte sich in der kulturtampfc-
rischen Gesetzgebung, ohne daß übrigens das gesteckte Ziel vollständig erreicht
worden wäre. Von dieser Zeit datiert auch ihr Niedergang, wenngleich sie
entsprechend dem Gesetze der historischen Nachwirkung noch jahrelang als
mächtige, fast das gesamte Leben des deutschen Volks in Österreich beherrschende
Organisation erschien. Seiner ganzen Anlage nach ohnehin weniger auf eine
zeitgemäße Reform der Kirche als vielmehr auf ihre Vernichtung abzielend,
wurde der deutschösterreichische Liberalismus unter dem Einfluß und der Führung
der Börseupresse zu einer negativen Erscheinung im Volksleben, zu eiuer das
chnstlichrcligiöse Denken und Empfinden zersetzenden Richtung. Irreligiosität
galt bald für Denkfreiheit, Verspottung religiöser Gebräuche — natürlich nur
der christlichen, uicht auch der jüdischen, das wäre ja Intoleranz gewesen! —
für Aufgeklärtheit, und das Wichtigthun mit meist gar nicht verstandnen Phrasen
des ödesten Materialismus als sicherstes Zeichen von Bildung und Intelligenz.
Das war das Milieu, worin sich die dentschöstcrreichische Durchschnittsintelligenz
unter dem Druck eiuer tendenziösen oder flachen Journalistik das selbständige
Denken überhaupt abgewöhnte, worin ihre geistige Fähigkeit immer tiefer sank,
svdnß sich nur uoch der wirtschaftliche Aufschwung dazuzugesellen brauchte, um
das Volk der Denker in sein Gegenteil zu verkehren. Am Gelde hing, nach
Geld drängte sich alles, und in dem Hasten nach Erwerb und Gewinn, das
immer unbändiger wurde, je größere Wunder die Macht des sich immer mehr
konzentrierenden Kapitals und die Vervollkommnung der Technik hervorzauberte,
fühlte die Öffentlichkeit bald nicht mehr, daß sie zur Sklavin einer ebenso ge¬
wissenlosen wie frechen Tagespresse geworden war, die ausnahmslos im Dienste
der Börse stand und das Volk moralisch und geistig verdarb, die deutschöster¬
reichische Litteratur erniedrigte und so die Massen zur Sozialdemokratie erzog,
während die sogenannte Intelligenz verdummte. Der große Wiener Krach war
vorüber, dem wirtschaftlichen Bankrott des Dcntschliberalismus folgte 1878
der politische; daß die Reaktion darauf eintreten müsse, war mit jedem Tage
^nrer, aber die Frage war, an welchem Punkte sie einsetzen würde.
Der Gedanke lag nahe, daß die klerikalkonservative Partei, die sich in der
Vauerubevölkerung der Alpenländer behauptet hatte, das Erbe des deutschen
Liberalismus antreten würde. Die Orgien der Börsenpresse hatten das reli¬
giöse Gefühl des Volks tief beleidigt, und schon zeigte sich ein stärkeres Pul¬
sieren kirchlichen Lebens; aber der Kompaß wies doch nach einer andern
Dichtung. Im Parlament gelangten zwar die Klerikalkonservntivcn mit deu
Slawen in die Majorität, aus der Bevölkerung selbst erhielten sie jedoch keinen
Zuwachs. Die liberale Partei wurde wegen ihrer Verguickung mit der Börse
und ihren exotischen Interessenten immer mehr verachtet, zu den Klerikal-
konservativen wagte man aber nichtsdestoweniger kein Vertrauen zu fassen,
Ostens weil das Brauchbare und Lebensfähige der liberalen Idee im Herzen
des Volks schon zu tiefe Wurzeln geschlagen hatte, und zweitens weil die
Klerikalkvnservativen durch ihre Verbindung mit den Slawen alle national
fühlenden Kreise von sich abstießen. Die beiden Parteien, die bisher das
politische Leben der Deutschen in Österreich beherrscht hatten, genügten nicht
'"ehr dem Bedürfnisse des Volks, und damit war der Anlaß zu der Gestaltung
neuer parteipolitischer Gebilde gegeben; daraus erklärt es sich aber auch, daß
die Reaktion auf deu Börsenliberalismus nicht in klerikalkonservativem, sondern
in nationalem und antijüdischem Sinne einsetzte. Durch eine nationale Politik
sollten die Positionen für die Deutschen wiedererobert werden, die der Libera¬
lismus preisgegeben hatte; durch die Beseitigung des jüdischen Einflusses auf
allen Gebieten des öffentlichen Lebens hoffte man die Wunden zu heilen, die
das hauptsächlich von der Bvrsenpresse in Schutz genommne Manchestertum
dem Volk in wirtschaftlicher Beziehung geschlagen hatte, desgleichen aber auch
den öffentlichen Geist in gesundere Bahnen zu lenken, als sie ihm die jüdische
Presse in plutokratischcm Interesse vorgezeichnet hatte. Es war eine Auf¬
lehnung einerseits gegen die nationale Gleichgültigkeit beider deutschen Parteien,
andrerseits gegen die im Gewände der Toleranz einherschreitende Intoleranz
und Herrschsucht der jüdischen Nasse, die, selbst in mancher Hinsicht bis zur
Erstarrung konservativ, die Pflege christlich religiösen Geistes als Rückftüudig-
keit verhöhnte und, die Phrase von der politischen und wirtschaftlichen Freiheit
im Munde, alles der Herrschaft ihrer Kapitälmacht zu unterwerfen suchte.
Die Reaktion war also doppelter Natur, und darum teilte sich auch die von
ihr ausgehende Bewegung bald in zwei Richtungen, in eine vorwiegend deutsch-
nationale und in eine christlichsoziäle.
Ein Weile mochten sich die Klerikalkonservativen über den Charakter dieser
Neubildungen noch täuschen, und sie mochten hoffen, in den Christlichsozialen
einen kräftigen Vorspann zu erhalten. Bald aber mußten sie erkennen, daß
sie es mit einer völlig selbständigen Richtung zu thun hatten, die in dein
Augenblicke, wo sie zur pnrteibildenden Kraft gedieh, das Fortbestehn der klerikal¬
konservativen Partei zu bedrohen begann, indem sie bei der sorgsamsten Pflege
des religiösen Lebens grundsätzlich davon absah, das konfessionelle katholische
Bekenntnis zur parteipolitischer Grundlage zu machen. Es ist klar, daß die
christlichsoziale Partei dadurch sowohl der liberalen als auch der klerikalen
Partei in gleichem Maße gefährlich wurde, und es war für den ganzen
Charakter der Bewegung bezeichnend, daß sich, als sie in Wien ihre ersten
durchschlagenden Erfolge errang, die jüdische Hochfinanz mit dem katholischen
Konservatismus zu ihrer Vernichtung vereinigte. .Kein geringerer als Kardinal
Schönborn ging damals nach Rom, um den päpstlichen Bannstrahl uns die
Chriftlichsozialen herabzubcschwören, und wenn diese denkwürdige Mission ohne
den gewünschten Erfolg blieb, so war das hauptsächlich dem Eingreifen eines
kirchlichen Würdenträgers zu danken, der heute dem Ehrhardschen Kreise an¬
gehört. Allerdings gelten die Christlichsozialen im Auslande immer noch als
eine Abart der Klcrikalkonservativen. Die Schuld darau trägt die bekannte
absichtlich falsche Kategorisierung politischer Parteien dnrch ihre Gegner.
Klerikal war ja, wie gezeigt worden ist, trotz des Niedergangs der liberalen
Partei ein diskreditierendes Schlagwort geblieben, und die Gegner der Christlich-
sozialen zögerten deshalb nicht, sie damit zu belegen. Dazu kam noch, daß
die Los-von-Nom-Bewegung, in die die vorwiegend nationale Richtung der
Reaktion auf die Herrschaft der liberalen Partei auslief, viel mit dazu beitrug,
die grundsätzlichen Differenzen, die zwischen den Christlichsozialen und den
Klerikalkonservativen bestehe für den oberflächlichen Beobachter zu verwischei,.
Die Christlichsozialen opponierten der Los-von-Nom-Bewegung ans religiösen,
Politischen und nationalen Gründen, Der von den Christlichsozialen anerkannte
Grundsatz, daß der Unterschied zwischen dein katholischen und dem protestan¬
tischen Glaubensbekenntnisse politisch nicht von Belang sei, bezeichnete einen
großen Fortschritt im Sinne der Wiederherstellung der nationalpolitischen
Einheit der Deutschen in Österreich. Die Los-von-Nom-Bewegung war in
dieser Beziehung eine rückläufige Bewegung, da sie nichts andres ist als das
Negativbild des politischen Katholizismus. Sie drohte das Gewicht des Kon-
fessionalismus als einer politischem Sache wieder zu verstärken, indem sie ihn
zum politischen Scheidungsgrund machte und dadurch die konfessionelle Spaltung
des Deutschtums in Österreich verschärfte. Überdies ging aber die Los-von-
Rom-Bewegung weniger von religiösen als von politischen nationalen Anlässen
ans. Nur einem sehr kleinen Teil ihrer Anhänger war der Übertritt zum
Protestantismus oder zum Altkatholizismus positives, religiöses Bedürfnis,
die große Masse sah darin lediglich eine politisch-nationale Demonstration, wie
ja die beiden führenden Abgeordneten schönerer und Wolf durchaus nicht auf
religiösem christlichem Boden stehn, sondern dieser Atheist ist und jener nicht
nur den Katholizismus, sondern auch den Protestantismus zu Gunsten einer
Art Wotauskultus unter dem viel und doch nichtssagenden Namen Deutsch¬
religion verwirft und dabei offenbar gar nicht merkt, daß er damit auf die
von der Zivilisation längst überholte theokratische Idee zurückgreift, über die
das Judentum bekanntlich nicht hinausgekommen ist, weshalb es nach der ganz
richtigen Auffassung Comtes und Gobinecius dem Kreise der modernen Kultur¬
völker nicht ungehört. Dieses Widerstreben gegen die Los-von-Nom-Bewegung,
die vielfachen Exzesse ihrer Anhänger gegen die katholische Kirche bewirkten, daß
Kvnservativklerikale und Christlichsoziale, die ja zum allergrößten Teile Katho¬
liken sind, in den letzten Jahren wiederholt in einer Linie kämpften, und das
trug wesentlich zur Verbreitung der Meinung bei, als ob man es nur mit
zwei Spielarten derselben Gattung zu thun habe. Diese Ansicht ist falsch und
muß berichtigt werden, wenn man ein richtiges Bild der geistigen Bewegung
in der katholischen Welt Österreichs erhalten will.
Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß die christlichsoziale Be¬
wegung in Österreich die unmittelbare Reaktion auf die wirtschaftlichen Sünden
des Börsenliberalismus und auf den durch ihn verbreiteten Geist sozialer und
religiöser Zerrüttung war; aber sie wurde dadurch, wie schon der erste Name
der Partei „vereinigte Christen" verrät, nicht zu einer konfessionellen Partei,
indem sie gerade den Grundsatz bestritt, der der Eckstein des Klerikalismus
ist: die politische Autorität der Bischöfe. Im Verlaufe des Kulturkampfes
hatte der Klerikalismus ebenso wie der Liberalismus seine werbende Kraft
verloren. Zwar behauptete er in der streng konservativen Bevölkerung der
Alpenländer noch seine Stellung, aber auch die Kreise, die sich auch aus religiösen
Gründen gegen den Vnlgärliberalismus auflehnten, waren fest entschlossen,
das Prinzip der Scheidung der politischen und der religiösen Autoritäten nicht
»lehr aufzugeben. Damit hatte sich in den Beziehungen der politischen Partei-
entwicklung der Deutschen in Österreich zur katholischen Kirche eine Wandlung
vollzogen, die um so tiefer ging, als auch der größte Teil des niedern, vor¬
nehmlich des deutschen Klerus in Österreich an ihr teilnahm. Seine materielle
Lage ist schlechter als in irgend einen: andern Lande, und daraus erwuchs
ein einschneidender sozialer Gegensatz zwischen dem kleinen Klerus und dem
Episkopate, der noch dadurch bedeutend verschürft wurde, daß dieser Klerus
nur zu guten Grund hatte, in den Bischöfen Exekutivorgane der wechselnden
Staatsregierungen zu sehen. Wenn die christlichsoziale Bewegung in ver¬
hältnismäßig kurzer Zeit die Hauptstadt des Reiches eroberte, das Land
Niederösterreich in Besitz nahm und schließlich auch in das festeste Bollwerk des
Klerikalismus, Tirol, Bresche auf Bresche schlug, so gelang ihr das nicht, trotzdem
daß sie die politische Autorität der Bischöfe bekämpfte, sondern weil sie es that
und dadurch auch den größten Teil des niedern Klerus für sich gewann.
Hält man sich an diese Entwicklung der Dinge, dann erführe das Bild
der katholischen Welt in Österreich, wie man es im Auslande gemeinhin in
den Augen hat, eine wesentliche Korrektur; es zeigt sich, daß gerade die Be¬
völkerungsschichten, die sich nach dem religiösen Niedergang der siebziger
Jahre der Pflege der christlichen Weltanschauung wieder zuwandten, das grund¬
legende Prinzip des Klerikalismus, die politische Unterordnung unter die
geistliche Autoritüt, verwerfen, und daß sich anch in den Bevölkerungskreiscu,
die früher tren zur klerikalkouscrvativeu Partei standen, unaufhaltsam eine
Umwandlung der Anschauungen in diesem Sinne vollzieht. In einer solchen
Umgebung konnte ein Theologe, der wie Ehrhard die geistige Übereinstimmung
zwischen Gemeinde und Kirche wiederherstellen will, nur so schreiben, wie er
gethan hat, denn sein Werk ist wenn auch nur teilweise und zögernd ein Zu¬
geständnis an die oonrnrnniiZ opinio der katholischen Welt Österreichs. Daß
diese viel weiter geht als Ehrhard, beweist der eingangs zitierte Vortrag
Professor Wahrmunds; und daß der niedere österreichische Klerus die theo¬
logische Fakultät ebenfalls schon hinter sich gelassen hat, geht daraus hervor,
daß auf dem ersten österreichischen Klerustage im vorigen Jahre der christlich¬
soziale Abgeordnete Professor Dr. Schelcher unter dem Beifalle seiner Amts¬
genossen von der rstoriNÄtio in og,pits et inLinvris sprach.
Die Weltgeschichte wiederholt sich nicht. Parteien, die wie die liberale
und die klerikale in Österreich in ihren Doktrinen erstarren, müssen zu Grunde
gehn. Auf die liberale Ära, die der klerikalkonservativen gefolgt war, folgte
nicht wiederum diese, sondern der öffentliche Geist zog, von beiden angewidert,
eine Mittellinie. Allerdings ist dieser Prozeß in Österreich noch bei weitem
nicht vollendet. Oben auf den Höhen, wo man langsamer lebt als in der
breiten Ebene des öffentlichen Lebens; wo man die Änderungen, die sich dn
vollziehn, in der Regel erst viel später merkt, da löst sich in Österreich auch
heute noch das gesamte politische Leben in dein Kampfe zwischen zwei Hof¬
parteien, dem konservativen Geburtsadel und dem liberalen Finanzadel auf;
aber auch da machen sich schon Zeichen einer Erschlaffung dieser beiden Parteien,
die nach unten hin schon längst den ehedem bestimmenden Einfluß verloren
haben, bemerkbar, wenigstens läßt der schon zweijährige Bestand des gegen-
wärtigen Beamtenininisterinms darauf schließen. Aber mich dort wird schließlich
die Erkenntnis zum Durchbruch kommen, daß sich die Entwicklung der Mensch¬
heit nicht in dem Kampfe zwischen Klerikalismus und Liberalismus erschöpft,
sondern daß endlich das Fazit dieses Prozesses gezogen werden muß und
zwar durch vollständige Ausscheidung von Religion und Kirche ans der
Politik; der Staat muß endlich mit dem Josephinismns brechen, der die Kirche
zu eiuer staatlichen Polizei- und Korrektionsanstalt herabdrückt, die katholische
Kirche dagegen wird auf die Ausübung jeder politischen Gewalt ans ihre
Angehörigen verzichten müssen. Selbstverständlich kaun sie dann ihre Autorität
nur dadurch behaupte», daß sie ihre heute schon zum Teil erstarrten Formen,
in die sie einst den göttlichen Kern der Lehre Christi gefaßt hatte, zerbricht
und ihn auch der gebildeten katholischen Welt wieder zugänglich macht. Nach
dieser Richtung weisen all die auffallenden Erscheinungen hin, die hier skizziert
worden siud. Ob sie eine Reform der katholischen Kirche einleiten, das wird
davon abhängen, wie sich zunächst der reichsdentsche Katholizismus zu der
Frage stellen wird. Das Buch Ehrhards hat ja die Approbation eines
deutschen Kirchenfürsten erhalten und erführe in der reichsdentschen Zentrnms-
Presse rückhaltlose Anerkennung; aber man darf nicht vergessen, daß von
Ehrhard zu den Anschauungen über katholische Reformen, die die breiten
katholischen Kreise in Österreich zum großen Teile schon erobert haben, noch
ein weiter Schritt ist, der nicht gethan werden kann, ohne daß so mancher
Stein in dem dogmatischen Aufbau der katholischen Kirche, der ehedem vielleicht
notwendig war, heute aber als beengende und hindernde Zuthat empfunden
wird, aus dem Wege geräumt werden muß.
Das Abgeordnetenhaus des österreichischen Reichsrath, dessen ausschlag¬
gebende Bestandteile. Tschechen und Dentschböhmen, ans den von uns in
Heft 45 des vorigen Jahrgangs geschilderten Wahlen hervorgegangen sind,
hat manche an seine Haltung geknüpften Befürchtungen, aber auch einige
schüchterne Hoffnungen bis jetzt zu einem gewissen Teile gerechtfertigt. Trotz
der beim Zusammentritt des Reichsrath vom Ministerpräsidenten Dr. Körber
an die Parteien gerichteten eindringlichen Mahnung, den unabweislichen und
unaufschiebbaren Staatsuotwendigkeiteu Rechnung zu tragen, trat alsbald
eine zum Teil in das Gewand von Dringlichkeitsnnträgcn gehüllte versteckte
Obstruktion zu Tage und rückte die Erledigung des vom Ministerpräsidenten
aufgestellten Programms in unabsehbare Ferne. Da waren es die Obmänner
der deutschen Parteien, die durch nachdrückliche Erklärung ihrer Arbeits¬
willigkeit den endlichen Beginn der Budgetdebatte ermöglichten. In sehr be¬
merkenswerten Reden trat der Rumäne Lupul für eine starke Zentmlregiernng,
sur ein starkes Zentrnlpcirlamcnt, für die deutsche Staatssprache ein, be¬
kämpfte der Sozialdemokrat Pcrnerstorfer den nationalen Chauvinismus und
insbesondre den auf die Germanisierung der Tschechen abzielenden Punkt
des alldeutschen Programms, verfocht der Klerikale Kathrein die Rechte des
Parlaments und dessen Arbeitsfähigkeit, versprach der Sprecher der deutschen
Volkspartei, Derschatta, dem Kabinett Körber trotz seiner übergroßen Rücksicht
auf die Wünsche der Tschechen den nötigen Rückhalt für die Führung der Ver¬
handlungen über den wirtschaftlichen Ausgleich mit Ungarn, und predigte sogar
der Verfasser des Autonomistenprogramms, Graf Dzieduszycki, den einstigen
Mitgenossen im Taaffischen eisernen Ring die Notwendigkeit großer Zurück¬
haltung in der Behandlung nationaler Fragen zur vollständigen Genesung
des Staats. Aber der Jungtscheche Kramarsch erklärte, seine Landsleute
würden alles thun, die Pläne der Regierung zu durchkreuzen, die das den
Tschechen durch die Aufhebung der Sprachcnvcrordnnngen zugefügte Unrecht
zum Versumpfen bringe und sich nicht dazu aufraffe, „der Gerechtigkeit wieder
freien Lauf zu lassen." Darunter verstehn aber die Tschechen nichts andres,
als Erfüllung ihrer zum Teil maßlosen, für die deutschen Bewohner Böhmens
und Mährens ganz unannehmbaren Forderungen. Der Abgeordnete Schueler
wies auch sofort auf die mit einer Födercilisierung der Monarchie untrennbar
verknüpftei: unheilvollen Folgen einer Rückbildung der durch die mühsame
Kulturarbeit der Deutschen geschaffnen österreichischen Großmacht und auf die
Unmöglichkeit einer einseitigen Bevorzugung des tschechischen Volkes zum Nachteil
des deutschen hin, und Bareuther hielt den Tschechen die Beschwichtigungs¬
trinkgelder vor, die ihnen schon zu teil geworden und auch im Budget für
das Aufgeben der Obstruktion enthalten sind. Aber die Zusammenfassung des
alldeutschen Glaubensbekenntnisses in die Worte: „Wir wollen kein von der
römischen Kurie abhängiges, kein slawisches, sondern ein von deutschem Geiste
erfülltes, deutsch regiertes Österreich — oder keins," rückte den scharfen Gegensatz
zu den slawischen Bestandteilen in das hellste Licht und erklärte die drohende
Möglichkeit einer tschechischen Obstruktion. Die staatsrechtlichen Bestrebungen
des Tschcchentums stehn eben in unausgleichbarcm Gegensatz zur Verfassung.
Diese unmöglich zu machen, ist es seit vier Jahrzehnten bemüht, und darum
läßt die Tscheche» auch der Vorwurf kalt, daß sie mit brennender Lunte beim
Pulverfaß der Obstruktion stünden, und daß sie die Parlamentskrise machten,
von der sie immerfort reden.
Durch taktische Vorstöße verschleppten und hemmten sie fortwährend die
Beratung des Jahresvoranschlags, deren Erledigung vor Neujahr der Minister¬
präsident als äußerst dringlich bezeichnet hatte. Es wurde klar, daß bis zu
Weihnachten nicht einmal die Beratung im Finanzausschusse würde beendet
werden können, und da waren es wieder die Obmänner der deutschen Parteien,
die im Interesse des Staats den Versuch machten, dnrch Einladung der Tschechen¬
führer zu einer Konferenz über die Beseitigung der sich den Budgctverhand-
lungen entgegenstellenden oder ihnen entgegengestellte!? Hindernisse wenigstens
eine spätere ungestörte Beratung des Staatshaushalts im Plenum des Hauses
zu sichern und dem Parlament die volle und beschleunigte Ausübung seines
Bndgetrechts zu ermöglichen. Das war nur durch ein Opfer heischendes Ein¬
gehn auf das endlose Register der tschechischen Forderungen möglich. Die
Deutschen erklärten sich bereit, nach Erledigung des Budgets in eine nationale
Auseinandersetzung einzutreten, nachdem das Kabinett Körber den festen Ent-
Schluß kundgegeben hatte, keinerlei nationale Begünstigung des einen Volkes
zum Schaden des andern gewähren zu wollen, sondern die Regelung dieser
Beziehungen dem Einvernehmen der verschiednen nationalen Parteien zu über¬
lassen. Daß die tschechische Hartnäckigkeit und Verbissenheit der deutschen Ein¬
ladung nicht direkte Ablehnung entgegensetzte, ist wohl dem Eingreifen der
Krone zu verdanken. Dem rumänischen Abgeordneten Georg Wassilko gegen¬
über hatte der Kaiser die parlamentarische Lage als sehr ernst, ja verzweifelt
bezeichnet und den Vorwurf erhoben, daß vielen Abgeordneten der gute Wille
und die Courage fehle. Das kounte sich auf die übergroße Rücksicht der
Tschechen auf die künstlich erregte Volksleidenschaft beziehn, ebensogut aber
auch auf das Unvermögen der arbeitswilligen Reichsratspartcien, sich zu dem
unerschütterlichen Entschlüsse zu einigen, sich dem Joche der Tschechen nicht
länger zu beugen, und ohne darauf zu achten, was diese thun und treiben,
ohne sich ermüden und einschüchtern zu lassen, nicht vom Platze zu weichen,
bis der Neichsrat seine Arbeit vollendet habe.
Die Erwägung dieser Möglichkeit eiuer denn doch bedenklichen voll¬
ständigen parlamentarischen Vereinzelung mochte es hauptsächlich sein, was die
Tschechen einigermaßen dem im Beschlusse der deutscheu Obmänner enthaltnen
Hinweise zugüuglich machte, daß keine Aussicht auf ein parlamentarisches Zu¬
standekommen der hochwichtigen Regelung des wirtschaftlichen Verhältnisses
zwischen den beiden Reichshälften vorhanden sein würde, wenn nicht erreicht
werden könne, daß sich die Regierung auf deu einmütiger Willen der öster¬
reichischen Volksvertretung stützen könne, sondern wenn im Gegenteil die ver¬
schiednen nationalen Forderungen mit der Ausglcichssache verquickt würden.
Freilich nahm zuerst die tschechische Presse den Mund recht voll und bezeichnete
die plötzliche, durchaus nicht schlackenlvse Friedensliebe der Deutschen als
ein kleines Kanossa Dr. Körbers, der sich zur Verdrängung des nationalen
Problems durch wirtschaftliche Dinge sogar um die Altdeutschen angeschmiegt
habe, nun aber wieder an die tschechischen Abgeordneten herantreten müsse,
die er in die Vereinsamung habe zwängen wollen. Das tschechische Volk
werde aber seine Forderungen nie aufgeben. Noch nicht einmal mit der an¬
gestrebten Freilegung des Voranschlags sei für die Bewältigung der Staats-
und Parlamentskrise viel gewonnen. Diese sei nur möglich durch eine wahr¬
hafte nationale Verständigung, wenn der Staat seine Pflicht der tschechischen
Nation gegenüber erfülle und mit dem Brauche breche, daß die berechtigten
slawischen Forderungen erst durch das deutsche Sieb gehn müßten. An der
Berechtigung dieser Forderungen hielt auch der Juugtschechenklub fest, und er
beschränkte sich auf die allgemeine Erklärung, keiner Besprechung über die
Heilung der schwierigen Verhältnisse ausweichen zu wollen. In der gemein¬
samen Obmännerkonserenz verwies Miuisterpräsideut Körber darauf, daß die
Regierung, die eine Regierung der Unbefangenheit sei, eine Verständigung
der Volksstämme als Voraussetzung ihres friedlichen Zusammenlebens, als Be¬
dingung der Zukunft Österreichs für unerläßlich halte und ein vollwichtiges,
kräftiges Parlament wolle. Er deutete auf die unabwendbaren Folgen einer
selbstmörderischen Taktik der Parlamentspartcien hin, indem er sagte, daß es
keiner besonnenen Partei entsprechen könne, das Reich wieder in einen Zu¬
stand zurückzuwerfen, der allen Völkern gleich müßig Schweigen auferlege, und
daß auch keine Partei, die ruhig denke, die Anwendung andrer gewaltsamer
Maßregeln werde herbeiführen oder auch nur einen wiederholten Appell an
die Wählerschaften werde befürworten wollen. Er ermahnte die Mitglieder
des Parlaments, dieses Bollwerk der Völker nicht in Schutt zu legen. Die
Regierung, die es behüten wolle, müsse aber, ihrer Verantwortlichkeit gemäß,
zuerst an den Staat denken.
Damit war auf die Möglichkeit einer Auflösung des Abgeordnetenhauses
und eines absolutistischen Regiments verständlich hingewiesen. Während sich
nun die Vertreter der deutschen Parteien, der Polen, Rumänen, Ruthenen,
Slowenen, Chriftlichsozialcn und Sozialdemokraten zur Beschleunigung der
Budgetberatung bereit zeigten, bezeichnete der Vertreter der Feudalen, der je¬
weilig offnen oder geheimen Verbündeten der Tschechen, Prinz Schwarzenberg,
eine befristete Budgetberatung als nicht wünschenswert, der Tscheche Pacak
verlangte nicht Friedensworte, sondern Fricdensthaten. Nur die Erfüllung
der Forderungen des tschechischen Volkes biete die Möglichkeit zu gemeinsamer
Arbeit beim Ausgleich mit Ungarn. Wegen der Vorbringuug ihrer Beschwerden
in der Budgetdebatte ließen sich die Tschechen die Hände nicht binden, kündigten
aber keine Obstruktion an, noch machten sie eine solche. Der Heißsporn der
mährischen Tschechen, Dr. Stransky, gab wohl den parlamentarischen Notstand
zu, erklärte aber kaltblütig, die Drohung mit der Auflösung und mit dem
Absolutismus verfange bei den Tschechen nicht, weil die Deutschen das Par¬
lament als Pressionsmittel bei der Regierung zur Verweigerung der berech¬
tigten politischen und nationalen Forderungen des Tschechentums benützten.
Solange die böhmische Frage nicht gelöst sei, gebe es in Osterreich keinen
Frieden, kein Parlament.
Es zeugt von der Bescheidenheit der Forderungen, daß Ministerpräsident
Körber am Schlüsse der Konferenz die Hoffnung aussprechen konnte, daß ihre
Ergebnisse die von viele« der Redner erwartete Besserung im Fortgange der
parlamentarischen Arbeiten bringen würden, und daß sich auch das Hauptorgan
der Deutschfortschrittlichen davon befriedigt zeigte, daß die positiven Er¬
klärungen der Tschechenführer nicht uns Demolierungsabsichtcn hindeuteten.
Thatsächlich verfloß noch eine volle Woche nach der gemeinsamen Ob-
männerkonfcrenz, bis sich — am 29. November — der Wald von Dringlich-
keitsanträgen lichtete, und sich das Abgeordnetenhaus der Beratung des ersten
Gegenstandes nähern konnte, der auf die Tagesordnung der Sitzung vom
17. Oktober gesetzt worden war. Offenbar hatte die Besorgnis vor der
drohenden Auflösung des Hanfes starken Anteil an diesem gewiß nichts
weniger als stürmischen Fortschritt. Die Verhandlung des Budgetprvvisoriums
gab dann dein Tschechen Kramarsch nochmals Gelegenheit, von der vollkommnen
Unfähigkeit des Parlaments zu ersprießlicher Arbeit zu reden, gegen die von
Regierungsblättern in Umlauf gesetzten Drohungen mit der Auflösung des
Abgeordnetenhauses zu protestieren, ein planmäßiges Eingreifen der Regierung
zur Herbeiführung einer nationalen Verständigung zu fordern, und wenn sich
eine solche mit Rücksicht auf die Stimmung der Wähler undurchführbar er¬
weisen sollte, den Augenblick als gekommen zu erklären, wo auf eine andre
Weise Ordnung geschafft werden müsse. Diesen letzten Gedanken aller
tschechischen Politiker spann dann Dr. Herold weiter. Um dem hippokratischen
Zustand der jetzigen politischen Verhältnisse ein Ende zu bereiten, forderte er
eine Erklärung der Regierung, daß sie den Willen und die Kraft habe, den
8 19 der Staatsgrundgesetze in Bezug auf die Sprachenfrage und die lokalen
Bedürfnisse der Nationen durchzuführen. Dann forderte er den Erlaß eines
Rahmengesetzes, das die die Sprachen angehenden Grundrechte der einzelnen
Nationen und den notwendigen Schutz der nationalen Minoritäten feststelle
und die Losung der Sprnchenfrage in den einzelnen Ländern den Landtagen
überließe. Daß die Deutschen einem solchen Vorgehn, das sie rücksichtslosen
Majoritäten ausliefern würde, den äußersten Widerstand entgegensetzen müßten,
wird von tschechischer Seite konsequent ignoriert. Ferner verlangte Herold die
Revision der Verfassung mit einer Entlastung des Zentralparlaments, die
Verbesserung der Geschäftsordnung und die Revision der Wahlordnung, lauter
Mittel zur Schwächung der parlamentarischen Widerstandskraft der Deutschen.
Da er aber anerkennen mußte, daß das Kabinett Körber dieses Programm
zur Losung der innern Wirren nicht annehmen und nicht durchführen würde,
forderte er einfach dessen Rücktritt. Noch radikaler äußerte sich Herolds Klub¬
kollege Forscht, indem er die Herstellung des nationalen und des Sprach¬
friedens ohne den allerdings nicht zu erwartenden Verzicht der deutschen Par¬
teien auf die Besitzstandstheorie für ebenso ausgeschlossen erklärte, wie die
Wahl des Abgeordneten schönerer zum Papst für den Fall eines Konklave.
Das tschechische Volk weise jeden Frieden zurück, der ihm auch uur teil¬
weise eine Erfüllung der deutschen Bestrebungen in Bezug auf die Staats¬
sprache aufbürden würde. Für die Freimachung der Bahn zur Erledigung der
Ausglcichsvorlage durch die vom Ministerpräsidenten angebahnten Versvhnungs-
konferenzen ließ er nnr das Wort gelten: I^homes o^ni sporan^! Für Forscht
giebt es nur zwei Auswege: entweder einen Verzicht auf die Verfassungs¬
mäßigkeit, oder eine Rekonstruktion des baufälligen Nersassnngsgebäudes, d. h.
„die Rückkehr zu den Naturformen eines wahren Konstitutionalismus, welcher
sich dem Wesen des österreichischen Völkerstaats anpassen und ein natürliches
Gleichgewicht zwischen dessen einzelnen Bestandteilen unter Wahrung des
gleichen Rechts und der gleichmäßigen Pflege der Interessen sämtlicher Volks-
stämme herstellen würde." Als Hauptschwierigkeit der politischen Lage be¬
zeichnete Forscht das lldörnru oft-o der drohenden deutschen Obstruktion, und
als Devise der Vertreter des tschechischen Volks das Schmerlingsche Wort:
Wir können warten.
Dein tschechischen Radikalismus war es vorbehalten, dnrch den Mund
Ratajs zuerst gelassen nuszusprechen, daß eine Erhaltung Österreichs und seiner
Dynastie ohne Staatsstreich nicht möglich sein werde, und die Forderung zu
Theben, daß den Ländern der böhmischen Krone — unter Gleichberechtigung
beider Volksstämme — die staatliche Selbständigkeit ebenso zurückgegeben werden
'Nüsse wie Ungarn.
Daß damit der Zerfall Österreichs, eine Erschütterung der Großmacht-
stellung der Habsburgischen Monarchie verbunden wäre, ist dein sanatisierten
Tschechentum ganz gleichgiltig.
Ministerpräsident 5!order betonte, daß die Regierung in leidenschaftsloser
Beharrlichkeit ihr Ziel verfolge, ein geregeltes, dauerndes parlamentarisches
Regiment herzustellen, daß sie aber, wenn die Erreichung dieses Zieles so sehr
verzögert würde, daß darunter die Lebensinteressen des Reichs geschädigt würden,
rasch ihren Entschluß zu fassen wüßte. Unverblümt wurde von alldeutscher
Seite die tschechische Erpresserpolitik, der der Staatsgedanke, die Verfassung
und das Parlament gleichgiltig seien, und die nur eine Vermehrung des natio¬
nalen Besitzes auf Kosten der Deutschen anstrebe, als politische Falschmünzerei
und Falschspielerei gebrandmarkt.
Die Scharfe dieser Auseinandersetzungen hielt den beispiellos geduldige»
und zähen Ministerpräsidenten nicht ab, bei Tschechen wie bei Deutschen die ein¬
leitenden Schritte zur Anbahnung einer „Aussprache" über die nationale Ver¬
ständigung zu thun, so gering auch die Hoffnungen auf Erfolg nach seinem
vor anderthalb Jahren mißglückter Versuch sein mochten. Eine große Schwierig¬
keit ist das neuste Programm der Altdeutschen, das jede Verständigung mit den
Tschechen vor der gesetzlichen Festlegung der deutschen Staatssprache ausschließt,
eine weitere das Verlangen der Tschechen, die Verhandlungen auf zwei Forde¬
rungen, auf die innere tschechische Amtssprache und die Errichtung einer
tschechischen Universität in Mähren zu beschränken. Die verhandlungsbereiten
deutschen Parteien müssen hinwieder auf einer Einigung über die Gesamt¬
heit der strittigen Fragen bestehn, deren Lösung im Pfingstprogramm versucht
ist. Und im Falle einer unerwarteten Verständigung bleibt immer noch die
Befürchtung bestehn, daß die Altdeutschen eine allseitige Annahme der Be¬
dingungen bei der deutscheu Bevölkerung Böhmens hintertreiben, also wieder¬
holen, was im Jahre 1890 die Jungtschcchen mit dem schon abgeschlossen
deutsch-tschechischen Ausgleich machten. Sowohl den deutscheu wie den
tschechischen Parteiführern wurde in gesonderten Besprechungen von Dr. Körber
nahe gelegt, Vvrberatnugeu über die gegenseitige Aussprache zu pflegen und
das Ausgleichsfeld sorgsam vorzubereiten, auf dem der nationale Friede er¬
wachsen soll.
Zu allgemeiner Überraschung nahm aber der Ministerpräsident fast zugleich
>sehr entschieden Stellung für den Fall, daß trotz aller Bemühungen der nationale
Zwist auch nicht vorübergehend gebannt, und die für die Regelung der wirt¬
schaftlichen Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn sowie für den Abschluß
internationaler Handelsverträge unabweisbar notwendige Arbeitsfähigkeit des
Neichsrnts nicht hergestellt werden könnte.
In der Debatte über das Budgetprovisvrinm sprach er sich scharf über
eine Parteitaktik aus, die die Stätte bedroht, von der allein die Lösung aller
Wirren ausgehn kann. Er wies die tschechische Anklage zurück, daß zwischen
der Regierung und den deutschen Parteien ein andres Verhältnis bestehe,
als zu den andern großen (lies tschechischen) Parteien des Abgeordnetenhauses,
erklärte aber, daß die Regierung bei aller Dankbarkeit gegen die Parteien, die
die Arbeiten des Parlaments förderten und erleichterten, ihre Unabhängigkeit, die
zugleich ihre Unbefangenheit sei, nicht aufgeben könne. Den Vorwurf, er sei
ein Gegner des tschechischen Volkes, wies er entschieden zurück, erkannte viel¬
mehr vollkommen dessen Bedeutung an. Auf der Suche uach dem Friedens¬
preis für beide Nationalitäten rage aber aus der Verwirrung der innern An¬
gelegenheiten nur ein klares, unverdunkeltes Ziel hervor, die Zukunft des
Staates. Das Abgeordnetenhaus folge aber den Bemühungen der Negierung
zu langsam. Die konstitutionelle Mechanik würde seine Auflösung empfehlen,
bis ein andres mit einer andern Gesinnung und größerer Arbeitslust gewühlt
werde. Aber es fragt sich, ob die Bevölkerung nicht ungeduldig werden und
eine Radikalkur verlangen werde. Wie nun, wenn sich eine Regierung, und
zwar die ernsteste und gewissenhafteste, auf solche Wünsche und die Un¬
geduld der Bevölkerung berufen und im dringendsten Interesse der Stants-
notwendigkeit an die Verfassung griffe, greifen müsse? Die Regierung wäre
für alle Zeiten entlastet, vor der Verurteilung durch die Geschichte gesichert
und könne unter Umständen mit vollem Recht als die Retterin des Staates
anerkannt werden. Tiefe Wirkung erzielte dann das mahnende Wort des
Ministerpräsidenten: „Wir haben in diesem Reiche schon eine Verfassung zu-
sammenstürzen sehen, wir sollten eine Wiederholung vermeiden." Und niemand
konnte an dem Ernst der Schlußwendung zweifeln: „Die Regierung will alles
thun, um eine solche Katastrophe zu vermeiden. Wir wollen arbeiten, um
den Frieden zwischen den Völkerschaften zustande zu bringen, das geistige und
das materielle Wohl der Bevölkerung zu fördern, das Ansehen und die Macht¬
stellung des Staates zu heben. Wir wollen in einer weniger erregten Zeit
einer Fortbildung der Verfassung, die ja nichts Vollendetes sein kann, weil
sie ein Menschenwerk ist, ans verfassungsmäßige Weise nicht aus dem Wege
gehn. Wir bitten Sie aber, den Blick ans das alle umfassende Vaterland
Und auf die unabweisbaren Bedürfnisse des Staates zu richten. Meine
Herren, lassen Sie das Parlament nicht schuldig werden!"
In wohlwollenderer Weise kann nicht wohl auf die nicht von der Re¬
gierung, sondern von dem Parlament selbst verschuldete Möglichkeit und Not-
Wendigkeit eines Staatsstreichs hingewiesen werden.
Freilich mußte dieser Hinweis weit mehr die unschuldigen Deutschen als
die schuldigen Tschechen treffen, von denen jene das Zentralparlament er¬
halten, diese es aus der Welt schaffen möchten. Die Obmänner der deutschen
Parteien forderten darum auch sofort eine Erläuterung des wahren Sinnes
der Aufsehen erregenden Rede des Ministerpräsidenten, der seine Worte nur
als Ausdruck der Sorge um die Zukunft des Staates bezeichnete, sodnß
die Meinung, es sei ein gewaltsamer Eingriff in die Verfassung beabsichtigt,
jeden Grund verlor. Und somit wurde auch die hohe Befriedigung der
Klerikalen und der Christlichsozialcn, die schon ihren Weizen unter dem
Absolutismus blühn zu sehen hofften, gegenstandslos. Die bedenklichste
Wirkung hatte dem äußern Anschein nach die Körbersche Rede auf die Tschechen,
die sich stellten, als ob die Drohungen des Ministerpräsidenten in ihnen nnr
den Wunsch nach baldiger Erfüllung erweckten, da sich dadurch die Regierung
nur zur Vollstreckern! des tschechische» Programms, des Umsturzes der Ver¬
fassung machen würde. Im stillen können sie sich freilich nicht der Erwägung
verschließen, daß der vou ihnen nur als Übergang zum Föderalismus gedachte
Absolutismus ihnen doch wahrscheinlich ein durchaus andres Gesicht zeigen
würde, als sie es sich wünschen.
Am betroffensten waren von der Entschlossenheit Dr. Körbers, das poli¬
tische Jntriguenspiel der Parteien sich und dem Staatswohl nicht über den
Hals wachsen zu lassen, die Feudalen. Denn sie mochten die sicherste Kunde
haben, daß das entschiedne Austreten des Ministerpräsidenten von der Krone
veranlaßt worden war, der nicht verborgen sein konnte, daß sich die verdeckte
Obstruktion des Tschechentums zur Unterbindung der parlamentarischen Thätig¬
keit der geheimen wohlwollenden Unterstützung der ebenfalls für das böhmische
Staatsrecht schwärmenden Feudalen erfreue. Die Aufhebung der Verfassung
würde aber nicht dem immer mächtigen Einfluß dieser kleinen Partei, sondern
der Bureaukratie und dem Militarismus zu gute kommen.
Seit der Rede vom 9. Dezember kommt nun der zuerst vom. Tschechen
Nntaj ausgesprochne Staatsstreichgedanke nicht zur Ruhe. Denn wenn die
nach Neujahr vorbereiteten und nach der Erledigung des Jahresvoranschlags
formell zu eröffnenden Verhandlungen zwischen Deutschen und Tschechen, deren
Aussichten durch die kurze Tagung des böhmischen Landtags um die Jahres-
weude keineswegs verbessert worden sind, zu keinem Ergebnis führen, so
werden die mit unheimlicher Schnelligkeit näher kommenden Termine der
wirtschaftlichen Auseinandersetzung zwischen den beiden Neichshälften das öster¬
reichische Kabinett im Laufe dieses Jahres zu unvermeidlichen Entschließungen
drängen, für die der Notparagraph 14 nicht ausreicht. Daran wird auch
die Meinung der deutschen Fortschrittspartei, daß man sich mit den beschwich¬
tigenden Erläuterungen der Körberschen Rede nicht begnügen dürfe, sondern
gegen jede Idee eines Staatsstreichs auf das feierlichste protestieren müsse,
nichts zu ändern vermögen. Gewiß wird der jetzige oder ein künftiger
Ministerpräsident zum Absolutismus nicht zum Vergnügen, sondern nur unter
dem zwingendsten Drange der Umstände greifen.
Die Tschechen verdächtigen allerdings Dr. Körber dahin, daß er das
Parlament überhaupt satt habe und es auf jeden Fall werde los werden
wollen, auch wenn keine Spur eines Obstrnktionsfunkens vorhanden wäre,
weil er den Steuerträgern ein sehr fühlbares Opfer werde zumuten müssen,
das er von gar keiner Partei erhalten zu können glaubt. Die Rettung des
Reichs dürfe aber nicht in dein stumpfen militärisch-bureaukratischen, germa¬
nisierenden und volkstötenden Absolutismus, sondern einzig und allein dnrch
die Verbesserung der Verfassung im Geiste der Gerechtigkeit gegen alle Völker
gesucht werden, sodaß sie die Angelegenheiten ihrer Länder ohne die Vormund¬
schaft der Deutschen besorgen konnten. Das ist eben das alte Lied von der
Auslieferung der Deutschen in den Ländern der böhmischen Krone an die
rücksichtslose tschechische Majorität, die nichts nach der Vernichtung der gegen¬
wärtigen Verfassung fragt, weil sie sie jn immer nur als ein Provisorium be¬
trachtet hat. Ein klerikales Organ erläutert den Staatsstreich als eine Ver-
fassungsänderung mit Erweiterung und Verallgemeinerung des Wahlrechts,
das mehr die sozialen als die nationalen Gesinnungen der Völker ausdrücken,
die Kompetenz des Reichsrath einschränken, die der Landtage erweitern, die
Zahl der Reichsratsabgcordneten vermindern würde und mit der Erlassung
einer provisorischen Geschäftsordnung für das Abgeordnetenhaus verbunden wäre.
Vielleicht war es diese vorzeitige Freude der Klerikalen, die die Alt¬
deutschen veranlaßte, in einer Jnterpellation die Frage an den Minister-
Präsidenten zu richten, ob das Gerücht, daß alles schon zum Verfassungsbruch
vorbereitet sei, auf Wahrheit beruhe. Sie erhielten aber nur die ausweichende
Antwort, daß so bedeutsame Angelegenheiten eine zuverlässigere Grundlage
haben müßten, wenn sie im Abgeordnetenhause zur Sprache gebracht werden
sollten, und daß die Krone nicht in die Diskussion gezogen werden dürfe.
Die deutsche verfnssuugStrcue Presse konnte sich ebenfalls lange nicht
über die wenn auch nur akademisch gehaltne Staatsstrcichrede beruhigen, und
das mag mit ein Grund gewesen sein, daß Dr. Körber die Debatte des Herren¬
hauses über das Budgetprovisvrinm dazu benützte, seine Worte mit einem Blick
in deu Abgrund zu vergleichen, dem die Wirren der letzten Jahre den öster¬
reichischen Staat nahe gebracht hätten. Den Standpunkt des Kabinetts in seiner
Überzeugung von der Notwendigkeit verfaffungsmäßiger Zustände kennzeichnete
er durch den Hinweis darauf, daß er in schweren Stunden alle Vorschläge zur
Beseitigung der bestehenden Kalamitäten abgelehnt habe, die auf eiuen andern
als den verfassungsmäßigen Weg verwiesen.
Allerdings hatte der Ministerpräsident die Befriedigung, daß sich alle
Parteien des Herrenhauses gegen die Katnstrophenpolitik aussprachen, die von
der tschechischen Großmannssucht und Unersättlichkeit immer wieder in Angriff
genommen wird. Mit mehr oder weniger Wärme traten alle für die Er¬
haltung verfassungsmäßiger Zustände ein, wenn auch Graf Friedrich Schön¬
born, der Wortführer der Rechten, den Glauben des Redners der Verfassungs-
Partci, des Fürsten Auersperg, nicht teilte, daß es kein Mittel und keine
Möglichkeit gebe, an die Stelle der bestehenden Verfassung eine andre zu
setzen, weil sie sich, wenn auch nicht absolut gut, als die einzig möglich dar¬
stelle, wenn Österreich überhaupt verfassungsmäßig regiert sein wolle.
So blieb es vorläufig zweifelhaft, ob die Notwendigkeit eines Staats¬
streichs eintreten, ob und wo sich die Geneigtheit zu einem solchen finden
Würde. Aber die Möglichkeit dieser ultima ratio blieb trotz der inzwischen
eingetretnen Besserung der parlamentarischen Lage nach wie vor bestehn. Diese
Besserung der Lage hat sich allerdings nicht in dem erst zu Beginn des Monats
Februar wieder zusammengetretnen Plenum des Reichsrath, sondern im Budget¬
ansschusse vollzogen, der über die meist umstrittucn Fragen des nationalen
Zwistes zwar nicht ohne Schwierigkeiten, aber schließlich doch leidlich glatt
huiweggekommcn ist. Die stachligste Frage, die von den Tschechen als eine
der unabweislichen Bedingungen eines nationalen Ausgleichs geforderte Er¬
richtung einer tschechische» Universität in Brünn, wurde uach tagelangem Ver¬
handlungen durch eine Erklärung des Unterrichtsministers umgangen, die weder
Tschechen noch Deutsche befriedigte, aber keinem der beiden Standpunkte direkt
zuwiderlief. Die Frage des slowenischen Gymnasiums in Cilli, des tschechischen
in Troppau, des polnischen in Teschen und des deutschen in Friedeck müszte
durch Abstimmung entschieden werden, und es war vorauszusehen, daß sie das
Plenum noch lebhaft beschäftigen werde. Die Bewilligung des Dispositions¬
fonds, somit die Vertrauensfrage für das Kabinett Körber wurde mit der Be-
gründung zu seinen Gunsten entschieden, daß der Regierung ein moralischer
Rückhalt für die Ausgleichsverhaudluugen mit Ungarn geboten werden müsse,
die freilich immer eine gefährliche Klippe für den Bestand des Ministeriums
bleiben werden.
Der Ministerpräsident hatte noch Ende Februar uicht nur sehr rosige
Aussichten auf das Zustandekommen des wirtschaftlichen Ausgleichs mit Ungarn
eröffnet, sondern auch alle Deutungen feines frühern Hinweises auf eine etwa
unabweislich gewordne Staatsrettung durch eine Radikalkur als die Eröffnung
der Aussicht aus einen Staatsstreich von sich weit weggewiesen. Die An¬
wendung der außerordentlichen Mittel, die zu vermeiden ja jederzeit in der
Hand der Parteien des Abgeordnetenhauses liege, nannte Körber die Abwehr
des Streichs, mit dem bewußt oder unbewußt der Staat bedroht werde. Diese
Erklärung wurde allgemein als geschickt vollzogner Wechsel seines frühern
Standpunkts aufgefaßt und hat ermutigend auf die Freunde, entmutigend auf
die Gegner der Verfassung gewirkt. Aber die Erläuterung seiner Worte dahin,
daß der Staat, wenn das Parlament den Schlitz seiner Völker nicht versehen
wolle, das Recht zu existieren auch gegenüber dein Parlament zu Hilfe rufen
müsse, und nicht minder der kalte Wasserstrahl, den der Abgeordnete Strcmsky
als Sprecher der Jnngtschechen der allzu üppig in die Halme schießenden
Hoffnungsfreudigkeit der übrigen Parteien zu versetzen für gut fand, sowie der
Haß gegen den österreichischen Staat, den sein agrarischer Kollege Klofac offen
bekannte, zeigten, daß nach wie vor der Staatsstreich gleich einem Damokles¬
schwert über den Völkern Österreichs hänge.
Besonders nahe ist jetzt aber diese Gefahr durch den Sieg gerückt, den
die vereinigten Polen, Rnthenen, Tschechen und Südslawen, unterstützt durch
die verstimmten Italiener, Rumänen, Sozialdemokraten und leider anch durch
die verräterische Haltung eines Teils der Deutschkleritalcn, bei der Abstimmung
über die Resolution des Grafen Stürgkh errungen haben, in der die Ver¬
legung der slowenischen Parallelklassen des Cillier Gymnasiums nach Marburg
und die Ausgestaltung des dortigen slowenischen Untergymnasiums zu einem
Obergymnasinm von der Negierung verlangt wurde. Die Ablehnung dieser
auf das bescheidenste Maß eingeschränkten Forderung der Deutschen zur Er¬
haltung ihres Volkstums in der südsteirischen Sprachinsel durch das ver¬
einigte Slawentum war der Tropfen, der den Becher der deutschen Geduld
zum Überfließen brachte. Die einstimmige Entrüstung aller deutschen Wähler¬
schaften und ihre Besorgnis vor einer Wiederkehr des Taasfischcn eisernen
Ringes, die nunmehr die rücksichtsloseste Opposition und wenn nötig Obstruktion
verlangt, hat für das Kabinett Körber eine ganz neue Lage geschaffen. Ge¬
lingt es nicht, einen Ausweg zu schaffen, der die ans das äußerste bedrohte
Bewilligung des Jahresvoranschlages ermöglicht, und können die beiden
Ministerpräsidenten sich nach so vielen vergeblichen Versuchen nicht über den
gemeinsamen Zolltarif einigen , so wird der Krone abermals kein andres
Mittel übrig bleiben, als den Weg des Absolutismus zu betreten^ und wenn
auch vielleicht nicht der Form nach, so doch im Wesen einen Staatsstreich zu
begehn.
> nde der achtziger Jahre lebten in Rom zwei Barnabiten, Savi
und ?. Semeria. Beide waren nicht nur sehr gescheite Köpfe,
sondern sie hatten auch eine seltne Belesenheit und Kenntnis
der ausländischen theologischen Werke von Wichtigkeit. Gegen-
lüber der traditionellen Doktrin der Theologie nach alten Re¬
zepten, die durch den Um-Thomismus etwas aufgemuntert waren, vertraten
sie mit großem Erfolg eine neue Richtung in Wort und Schrift, ohne mehr
zu erreichen, als daß sie sich unbeliebt machten. Kardinal Graniello, der wie
sie dem Barnabitenorden angehörte, sah die Thätigkeit dieser beiden Männer
schon lange mit unruhigem Blick an, und er wirkte beim General des Ordens
dahin, daß sie aus Rom versetzt werden sollten. Da sie mit dem großen
Archäologen de Rossi befreundet waren, der sie beide hochschätzte, so klagten
sie ihm ihr Leid, sie würden anderswo wie Fische aus dem Wasser sein, weil
ihnen die Litteratur fehle. De Rossi ging zum Kardinalvikar Parocchi und
erwirkte durch ihn, daß der Versetzungsbcfehl rückgängig gemacht wurde. Sie
blieben also in Rom. Kurz darauf starb ?. Savi, der schon lange leidend
war, Kardinal Graniello folgte ihm am 8. Januar 1896 nach, und da wurde
?. Semeria kurzer Hand nach Genua versetzt, nachdem anch de Rossi am
20. September 1894 gestorben war. Semcria ist Gymnasialprofessor in Genua
und hat kaum Zeit, sich mit seinen frühern Studien zu beschäftigen. Er gilt
in weiten Kreisen als „liberal," obschon er nichts weiter thut, als in ver¬
nünftiger Weise das Gute, Dauernde und Scholle der modernen Wissenschaft
und Kultur für die katholische Sache zu verwerten. Neben einigen hochge¬
lehrten Männern Mailands und wenig andern, die über die Halbinsel zerstrent
leben, giebt es außer ihm niemand, der nach dieser Richtung hin ans den:
Gebiete der eigentlichen Theologie thätig wäre.
Ans dem Felde der kritischen Patristik bildet sich eine kleine Schule, die
zusammen uut ewigen kritisch angelegten und fleißig arbeitenden Hagiographeu
an die Mnratorischen und Antinvrischen Traditionen anknüpfen. Die christliche
Archäologie, die ein de Rossi geschaffen hat, wird von den italienischen Epi¬
gonen mehr oder minder dilettnntenhaft betrieben. Gewaltige Unternehmungen,
wie die Fortsetzung der Noma Sottercmea, sind seit 1895 angekündigt worden,
ohne daß Aussicht besteht, daß innerhalb der nächsten Jahre etwas davon er¬
scheinen wird. Schußneid, Uneinigkeit und ähnliches lähmt jegliche Thätigkeit,
sodaß die wirkliche Arbeit, die eigentliche systematische, gelehrte Forschung
fast ausschließlich in deu Händen eines Deutschen, des Dr. Joseph Wilpert,
und des berühmten Epigraphiters Galli ruht. Ihre Bücher folgen sich der
Reihe nach, und demnächst wird ein gewaltiger Foliant Wilperts mit nahezu
200 Tafeln ausgegeben werden.
Die sozialen Studien wurden in Italien mit Feuereifer aufgegriffen von
dem Pisaner Professor Toniolo, und er verstand es, organisatorisch und
lehrend thätig zu sein, daß nicht nur die geschätzte Mvistg, cleM Stückl sovig.le
ins Leben trat, sondern auch am Leben blieb. Die Jungen trennten sich auch
hier bald von den Alten. Es gab Streit, der mit großer Heftigkeit geführt
wurde. Die hochkouservativcu Alten, mit dem Grafen Paganuzzi aus Venedig
an der Spitze, wollten das Heft uicht aus den Händen geben. Jede Partei
hatte ihre Zeitungen zur Verfügung, und die Befehdung nahm einen ärger¬
lichen Charakter an, als dann plötzlich der Papst eingriff und Ruhe gebot.
Äußerlich ist die Ruhe wieder hergestellt, aber man gebe sich nicht der Hoffnung
hin, daß sie von langer Dauer sein werde.") Da den Katholiken die Teil¬
nahme am politischen Leben Italiens nicht erlaubt ist, fehlt ihnen ein wesent¬
licher Teil des Lebensinhalts des modernen Mannes, und darum werfen sie
sich mit doppeltem Eifer auf die ihnen zugänglich gebliebner Dinge des öffent¬
lichen Lebens. Ich habe den auch in Italien gebräuchlichen Ausdruck „christliche
Demokratie" nie leiden können; es ist die unglücklichste Wortprägung, die man
finden konnte. Der Ausdruck sagt zudem auch gnr nicht das, was er um¬
schließt, auch wenn man ihn hundertmal sanktioniert.
Nach dem Vorbilde der deutschen Görres- und der österreichischen Leo-
gesellschaft hat man auch in Italien vor drei Jahren eine wissenschaftliche
Gesellschaft gegründet. Der Anfang war vielversprechend, doch scheint es mit
der Konsolidierung noch sehr zu hapern. Die Organisationsfrage dürfte wohl
in die unrechten Hunde gelegt worden sein. Will man das Kind vor der
Auszehrung retten — und es thäte so not in Italien —, so muß man rasch
eingreifen, sonst wird es zu spät sein.
Während so im allgemeinen von einer großen geistigen Strömung in
Italien nicht viel zu verspüren ist, sind die Schüler Rvsmimis mit unver¬
minderter Thätigkeit am Werke, ihren: Meister Anerkennung für die seiner
Leistungen auf philosophischem und theologischen Gebiete zu verschaffen, die
nicht zeusuriert worden sind. Die Gemeinde der Nvsmimicmer wird uicht kleiner,
wenngleich sie auch uicht viel wachst. An dieser sollten sich die Katholiken
Italiens ein Beispiel nehmen und durch eine gleichmäßige, stetige Arbeit ihren
geringen Einfluß im Kulturleben Italiens zu heben und zu mehren suchen.
Das Sprunghafte, Enthusiastische ist das Kennzeichnende bei allen Uuter-
nehmungcu; dauerhafte Wirksamkeit fehlt leider, und der Eifer erlahmt
gar bald.
Den geraden Gegensatz zu Italien bietet Holland. Mit seltner Aus¬
dauer find die dortigen Katholiken seit fünfzig Jahren an der Arbeit, sich
Geltung im öffentlichen Leben zu verschaffen. Auf dem wissenschaftlichen
Gebiete sind sie noch Heloten, wie in Deutschland, insofern als man sie beinahe
vollständig von den Universitätskanzeln ausschließt. Im politischen Leben
nehmen sie eine hochgeachtete Stellung ein, die unterstützt wird durch eine
ausgezeichnet geleitete Presse. Die Leistungen ans den verschiedenen Gebieten
der Wissenschaft sind sehr tüchtig, da sie mit Eifer bestrebt siud, an allen
Kulturfortfchritten dauernd Anteil zu nehmen. Vor allem die theologischen
Leistungen verdienen hier eine besondre Hervorhebung, und zwar weil bei der
relativ geringen Seelenzahl auch die Zahl der Theologen nicht sehr groß ist.
Auch kommt in Betracht, daß das Absatzgebiet der holländisch geschriebnen
Bücher nur beschränkt sein kann, wodurch die Produktion sehr eingeengt ist.
Sowohl die geistigen Bewegungen des französischen wie des deutschen Sprach¬
gebiets reflektieren auf das Leben der holländischen Katholiken, ohne daß sie
sich in den letzten zwei Jahrzehnten in deutlich erkennbarer Weise nach der
einen oder der andern Richtung hin entschieden hätten. Die bedauerliche
Spaltung innerhalb der katholischen Partei, wobei sich die Mehrzahl der Ab¬
geordneten von ihrem gebornen Führer getrennt hatte, hat durch deren Rück¬
kehr zum Führer ihre Erledigung gefunden.
Belgien hat scharfe Krisen im katholischen Leben zu bestehn gehabt, die
zum Teil noch andauern. Die sozialen Fragen, man denke um den Abbe
Daens und andre, haben aufwühlende Stürme heraufbeschworen. Als das
päpstliche Rundschreiben 6rav<Z8 as oourinrmi über die christliche Demokratie
erschienen war, sagte Woeste, wenn das ihr Inhalt sei, daun sei er immer
christlicher Demokrat gewesen. Politische Erörterungen haben Spaltungen
herbeigeführt, die noch heute fortbestehn. Die wissenschaftlichen Leistungen
dagegen haben eine ruhige, glänzende Entwicklung auszuweisen, die sich um
die Universität Löwen, die Bollandisteu, den Professor Kurth von Lüttich und
andre gruppiert.
Es ist sehr bezeichnend, daß man im Auslande verhältnismäßig wenig
Notiz von dieser geistigen Regsamkeit der belgischen Katholiken nimmt. Es
wiederholt sich hier das Schauspiel, daß eine Art stillschweigendes Jndexverbvt
befolgt wird, «zum eatuolioi. Man schließe die Augen nicht vor dieser That¬
sache, denn sie besteht für Belgien ebenso wie für andre Staaten. Und ob
es gerade im Interesse der Evangelischen liegt, einen solchen Ostrazismus zu
üben, mag der Nuhigdeukeude, dem es uicht auf die Konfession, sondern auf
die Leistungen ankommen muß, entscheiden. Es ist ein schwerwiegendes Gravamen,
das wir Katholiken immer erneut vorbringen müssen, um uns unser Recht
auf wissenschaftliche Beachtung zu erkämpfen. Auf die Dauer werden wir es
erreichen much ohne fremde Hilfe; aber schneller lviirde es gehn, wenn mehr
objektive Würdigung vorhanden wäre, statt des ängstlichen Nachfragens nach
unsrer Welt- und Lebensauffassung.
Gehn Wir über den Kanal nach England, so finden wir als eins der
bezeichnendsten Merkmale des dortigen katholischen Lebens, daß es größten¬
teils von Irland abhängig ist. Ohne die Hilfe der irischen Geistlichkeit, von
der sich zahlreiche junge Priester für eine Reihe Jahre lor tds NnAi8ki nüsLicm
verpflichteten, wäre eine geregelte Seelsorge in England gar nicht möglich.
Trotz der verschiednen Priesterseminarien in den Diözesen und trotz der eng¬
lischen Kollegien in Rom, Lissabon und Valladolid reicht die Zahl der Kleriker
bei weitem nicht ans, die Bedürfnisse der sich täglich mehrenden Missionsposten
Englands zu befriedigen. Widerwillig fügen sich die Stockengländer in diese
Abhängigkeit, und häufig genug bekommen die Iren diese Abneigung zu fühlen.
Vielfach fällt auch die politische Anschauung sehr ins Gewicht, indem unter
den Katholiken englisch und konservativ sowie liberal und irisch zusammenfällt.
Des weitern haben namentlich die bessern und vornehmern Kreise Englands
eine scharfe Abneigung gegen die irische Aussprache des Englischen, tbs Irisll
brvguo, und diese Abneigung wird dann auch nicht selten auf den so sprechenden
Kanzelredner übertragen. Gewöhnt sich nun ein irischer Geistlicher bei seinem
Aufenthalte c>u du<z lZnglisll Niissiou die gute Aussprache des Englischen an,
und kehrt er später nach Irland zurück, so kauu er das Vertrauen seiner
irischen Pfnrrkinder nicht gewinnen, so lange er in tuo Zranä srM, d. h.
korrektes Englisch ohne die irischen Vokalbeugungeu usw. spricht. Erst die
Rückkehr zum dro^us sichert ihm eine gedeihliche Wirksamkeit.
Warum ich wohl diese Kleinigkeiten erzähle? Aus dem einfachen Grunde,
weil darin der Schlüssel zu manchen tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten
innerhalb des englischen Katholizismus gesucht werden muß. Als vor un¬
gefähr siebzig Jahren die starke Bewegung einsetzte, die Ordnung und die
Gewohnheiten des englischen Katholizismus, die sich in den Zeiten der Ver¬
folgung in durchaus nicht immer einwandfreier Weise selbständig entwickelt
hatten, der Disziplin der Gesamtkirche wieder anzupassen, da gab es Gärungen
heftiger Natur. Weite Kreise — soweit man bei dem damaligen Umfange des
englischen Katholizismus von weiten Kreisen sprechen kann — nahmen ge¬
sonderte Privilegien für England in Anspruch, und eine Bewegung nach Art
der gallikanischeu in Frankreich schien einsetzen zu wollen. Wer den berech¬
tigten Wünschen Roms zur Wiederherstellung der Einheit auch in den äußern
Formen folgte, wurde angefeindet und als Neuerer verschrieen, und es hätte
leicht zu einer bedauerlichen Spaltung führen können, wenn nicht damals Hilfe
von Irland gekommen wäre, wodurch sich der englische Teil des Klerus bald
in die Minderheit verseht sah. Heute ist alles in ausgezeichneter Weise ein¬
heitlich geordnet, sodaß sich die Funktionen im Oratory, in Haverstock Hill
oder Farm Street in London in nichts von denen in San Filippo Neri, der
LIiiöZg. Uuovii. oder dem Gehn in Rom unterscheiden.
So unglaublich gedrückt die Lage der englischen Katholiken bis zum
Jahre 1829 war, ebenso frei ist sie jetzt. Keinerlei Eingriff des Staates ge¬
schieht, weder bei der Negierung der Kirche, noch bei der Ausbildung der
Kleriker und der Niederlassungsfreiheit sämtlicher Orden und Kongregationen-
Wegen der Schnlstenern und der staatlichen Erziehung verwahrloster Kinder
bestehn allerdings Beschwerden bedeutsamer Art, die zu heben unausgesetzt vom
Episkopate gearbeitet wird. Eine Folge dieser freien Bewegung ist nun zwar
die ungehinderte Ausbreitung des Katholizismus, die Fortschritte macht; da¬
gegen ist es als notwendige Folge der Erfolge anzusehen, wenn die litterarische
Anfeindung von der Hochkirche und den Dissenters sehr stark geworden ist.
Rechnet mau die lUg-K, oliurolr-Bewegung, oder auch Nitualisinus genannt, der
Hochkirche hinzu, so kann man den Haß der dro^ä vnureli und der 1c»v odurcll
einigermaßen verstehn. Unter diesen Verhältnissen hat sich nun eine geistige
Strömung ausgebildet, die einerseits in einer besondern Art von Apologetik
und andrerseits in einem fieberhaften Verlangen der einzelnen, der Kirche
möglichst viel neue Mitglieder durch Konversion zuzuführen, gipfelt. Die Apo¬
logetik ist den örtlichen Umstünden in einer Weise angepaßt, wie es sonst,
wenn man von Ostindien absieht, nirgendwo in der katholischen Welt der Fall
ist. Die Leistungen der Apologeten sind fast durchgängig ausgezeichnet, zu¬
weilen musterhaft. Bezüglich des Konversionseifers muß dagegen betont
werden, daß er häufiger, als man glauben sollte, blind ist, und daß dem¬
gemäß mehr Menschen nach ihrer Konversion zum Katholizismus zur Hoch¬
kirche wieder zurückkehren, als man es niutAti8 innwuciis anderweitig beobachten
kann. Etwas recht ungesundes liegt in dieser Disposition verborgen, die der
katholischen Kirche Englands schweren Schaden zufügt.
Ich will noch darauf aufmerksam machen, daß die öffentliche Diskussion
kirchlicher Angelegenheiten, die Teilnahme aller Katholiken, den Episkopat mit
dem Kardinal Vaughan an der Spitze eingeschlossen, an den Fragen des
öffentlichen Lebens durch das in England beliebte Verfahren der IsUors to ins
ealdor der verschiednen Zeitungen sehr groß ist. Dadurch sind sie in der Lage,
jede falsche Darstellung sofort und authentisch zu berichtigen. Im übrigen ist
auch, im Gegensatz zu deutscher Gewohnheit und Unsitte, eine solche Weit¬
herzigkeit der Leiter der Zeitungen vorhanden, daß sie nicht nnr einen, sondern
halbe Dutzende von Briefen zu derselben Sache abdrucken. Allen wird Raum
gegönnt, gleichgiltig, ob die vorgetragnen Ansichten mit dem Standpunkte des
Blattes übereinstimmen oder nicht.
Die englische Kirchenzeitung ^iis r-Mök, ist heute eine Macht von aus¬
schlaggebender Bedeutung im ganzen englisch sprechenden Katholizismus auf
dem Erdenrund. Die vorzügliche Leitung des umfangreichen Wochenblattes
und das Solidaritütsgefühl der Engländer haben zu dieser Machtstellung
wesentlich beigetragen. Es ist jetzt bei der Diskussion über den höchst merk¬
würdigen Eid des Königs beim Regierungsantritt nicht das erstemal gewesen,
daß die Äußerungen des laolsl von ausschlaggebender Bedeutung für Regierung
und Volksvertretung geworden sind.
Die Erörterung innerkirchlicher Fragen, kirchengeschichtlicher Punkte, um-
strittner Ansichten über Moral und Disziplin usw. wird im I^tige, mit einer
Offenheit vorgenommen oder in langem Für und Wider zugelassen, die uns
kontinentale Katholiken häufig in Erstaunen setzt. Eine derartige Disposition
des englischen Katholizismus muß als durchaus gesund bezeichnet werden, weil
sie als ein Zeichen vorurteilsloser Würdigung der Geschehnisse auch in den
breiten Massen des katholischen Volkes angesehen werden darf. Die Teil¬
nahme der Laienwelt an den imierkirchlichen Ereignissen, die anderswo hünfig
genug auf den Klerus beschränkt bleibt, geht demnach sehr weit zum Nutzen
der Kirche und der kirchlichen Einrichtungen in England.
Durch verschiedene Vorkommnisse bewogen haben sich die Bischöfe Eng¬
lands neulich zu einem gemeinschaftlichen Hirtenschreiben veranlaßt gesehen,
das sich gegen den liberalen Geist in der Form des Amerikanismus richtet.
Wenn mich nicht geleugnet werden kann, daß sich derartige Gedanken schon in
England einzubürgern begonnen hatten, daß die Evolutionstheorie mehrere
Opfer gefordert hatte, so muß doch die wesentliche Bedeutung des Rund¬
schreibens in der Prophhlaxe gesucht werden. Die Bischöfe machten ihren
Klerus und die Gläubigen rechtzeitig ans die Gefahren aufmerksam, damit nicht
später großer Schaden zu beklagen wäre. Dieses Hirtenschreiben hat, wie wir
sehen werden, in den Vereinigten Staaten starke Verwendung gefunden, zumal
da es vom Papst in einem eignen Brief als höchst zeitgemäß belobt worden
war. Es geht darum viel zu weit, wenn man aus einem Falle, wie der des
Professors Mivart Se. George war, und wenig andre es sind, die Berechtigung
ableitet, von einer mehr oder minder großen Bewegung zu Gunsten der
mechanistischen Theorie im englischen Katholizismus zu sprechen.
Schottland können wir wegen seiner relativen Unbedeutendheit für den
Katholizismus hier übergehn. Über Irland dagegen muß ein Wort gesagt
werden. In den letzten achtzig Jahren hat sich die Einwohnerzahl der grünen
Insel von 9 Millionen auf Millionen verringert. Die Vereinigten Staaten
von Nordamerika und Australien haben den Löwenanteil der irischen Aus-
wandrung erhalte». Die ökonomische Lage der Iren hat sich in einigen
Punkten wesentlich gebessert, obgleich die wichtigste Frage, die Eigcntums-
erwerbung von Land für den Bauernstand, der sich fast ausschließlich aus
Pächtern zusammensetzt, noch zu beantworten bleibt. In fast regelmäßigen
Zwischenräumen stellen sich Hungersnöte ein, und ebenso regelmäßig tauchen
die sozialen Bewegungen von ungeheurer Intensität ans, die fast ebenso regel¬
mäßig in irgend einer Form Gewaltthätigkeiten oder gar Blutvergießen im
Gefolge haben.
Man kann begreisen, daß eine dreihnndertsnhrige Verfolgung der unglück¬
lichen Iren einen tiefen Haß gegen ihre Unterdrücker bei ihnen erzeugen mußte.
Da eine großzügige Politik Irland gegenüber nur einmal eingeschlagen, aber
bald wieder verlassen worden ist, so ist von seiten Englands nichts geschehn,
die Gesamtheit der Iren ans versöhnlichere Gedanken zu bringen. Demgemäß
ist das Sinnen und Trachten jedes Jrlünders unausgesetzt darauf gerichtet,
den Engländern zu schaden, sie zu behindern, sie womöglich zu vernichten.
Diese Dominante in dein Gedankenkreise hat zur Folge, daß sich die Iren alle
Gelegenheiten zu machtvoller Bethätigung ihrer reichen Anlagen entgehn ließen
und sie in dumpfem, rachsüchtigem Hinbrüten sich selbst zu äußerster ökono¬
mischer und intellektueller Unthätigkeit verurteilten. Wurde weiterhin das
Elend zu groß, so wanderten sie zu Hunderten aus und thaten im fremden
Lande das, was sie zu Hause hätten thun sollen, sie arbeiteten. Gegenüber
diesen Verhältnissen hatte der irische Klerus seine Pflicht durchaus nicht voll
erfüllt. Anstatt auf das nutzlose Brüten über erlittnes Unrecht hinzuweisen
und zu energischer Thätigkeit zu ernähren, teilten sie — als Kinder ihres
Volks — diese Meinungen, und sie beschränkten sich darauf, ihre seelsorge-
rischen Pflichten zu erfüllen, deu ungeheuer wichtigen sozialen Pflichten jedoch
fast keine Aufmerksamkeit zu schenken. Somit kann man also nicht von einer
geistigen Strömung reden, sondern viel eher von dem freiwilligen Verzicht auf
die Einleitung einer solchen.
Die Thätigkeit des Klerus hat es allerdings zuwege gebracht, daß trotz
der erschreckenden VolkSvermindrung, die eine direkte Folge der langen ökonv-
»röchelt Notlage ist,, die Gelder für kirchliche Zwecke in früher ungeahnter
Fülle flüssig geworden sind. Es muß Verwundrung hervorrufen, daß über
den zahllosen Kirchenrestanrationen und Neubauten, von denen viele gar nicht
nötig und dringend waren, die wesentlich wichtigern des moralischen Aufbaus
der Nation zu gesundem, fröhlichem Schaffen und wirtschaftlicher Erstarkung
völlig vernachlässigt worden sind.
Es mutet darum eigentümlich an, daß zahllose Anforderungen an die
Regierung gestellt werden, Dinge einzurichten und zu fördern, die eine Regie¬
rung gar nicht ausführen kann, wenn das Volk nicht willig ist lind mithilft.
Wenn dann nichts geschieht wegen der Indolenz der gebildeten Kreise, dann
ist die Regierung wiederum der Sündenbock. Die allgemeine Betrachtung der
irischen Verhältnisse sührt darum nur zu einer objektiv erwcisbaren Unterbilanz
im katholischen Leben der grünen Insel, sie führt zur Feststellung der That¬
sache, daß der Klerus seiner hohen Aufgabe nur zum Teil gewachsen war und
^i, und der Episkopat seinen großen Einfluß nicht immer in der richtigen
Weise geltend gemacht hat.
Mit diesen Bemerkungen soll selbstverständlich die Regierung nicht von
entlastet werden, was ihr mit Recht zum Vorwurf gemacht wird, daß sie
nämlich nie auch nur versucht hat, Irland in seinen gerechten Aspirationen
zufrieden zu stellen. Das Verständnis für die irische Volksseele fehlt völlig,
und darnns erklären sich die sich abwechselnden Maßnahmen größter Strenge
und relativer Milde, die Konfusionen in der Verwaltung, die Provokationen
und Ungerechtigkeiten, die eine lange Kette von unfähigen hohen Beamten auf
dem Gewissen hat. Warum die Regierung deu Wunsch nach einer eignen
Universität nicht schon lange erfüllt hat, muß einfach als unbegreiflich be¬
zeichnet werden. Irland steht wieder am Vorabend einer gewaltigen Gärung.
auch jetzt wieder Blut fließen muß, bevor man zu einem Einvernehmen
kommt, muß abgewartet werden.
Die Vereinigten Staaten von Nordamerika müßten heute statt elf oder
swölf Millionen Katholiken deren mindestens fünfundzwanzig haben. Der
Grund für die außerordentlichen Verluste ist erstens darin zu suchen, daß sich
große Massen von katholischen Einwandrern in der ersten Hälfte des neun¬
zehnten Jahrhunderts in Gegenden niedergelassen haben, wo weit und breit
weder Gotteshaus noch Priester waren, und sie selbst, sowie ihre gesamte
Nachkommenschaft der Kirche verloren gingen. Zweitens haben die blutigen
Verfolgungen in vielen Staaten der Union der Ausbreitung des Katholizismus
den gewaltigsten Schaden gethan. Drittens hat der katholische Nativismus,
d. h. der Haß der irischen Katholiken gegen alle anderssprachigen Gläubigen, den
Verlust von Millionen von Seelen verschuldet. Viertens hat der von katholischer
Seite begonnene und heute noch fortgeführte Kampf gegen die katholischen
Schulen Zustände gezeitigt, bei denen zwar der zahlenmäßige Verlust der
Kirche nicht genau festgestellt werden kann, die jedoch in der greifbarsten Weise
zum Abfall von der Kirche führen. Die Gesamtheit der Gründe wird durch
einen Liberalismus gestützt und gekräftigt, der in den fünfziger Jahren des
neunzehnten Jahrhunderts einsetzt und sich zu einer Bewegung ausgewachsen
hat, die mau mit dem Namen Amerikanismus bezeichnet, und die der Papst
durch das Breve Tastern. o<Zit<zool6rdig.6 verurteilt hat.
Auf dem Gebiete der Lehre wurden Ansichten verbreitet, die einerseits
zur Zeusnrierung des sogenannten katholischen Sozialismus und andrerseits
zur Zurückweisung der Evolutionstheorie führten. Die Verteilung der Rechte
bei der Kindererziehung wurde in einer der kirchlichen Auffassung nicht ent¬
sprechenden Weise vorgenommen und in die Praxis zu übertrage,? versucht.
Zugleich mit der Mißbilligung Roms trat auch der Bankrott dieser „Mnster-
schulen" ein, sodaß die Anschauungen nur noch ein theoretisches Dnsein führen.
Wichtige Fragen des Kirchenregiments wurden in der leichtfertigsten Weise
verwässert und nicht nach den Bedürfnissen der ganzen katholischen Kirche,
sondern lediglich nach halbverrückten Aankeeauffassnngen zugestutzt. Für die
Disziplin zeigen sich andauernd schwere Krise,,, weil die schmachvolle Gewohn¬
heit eingerissen ist, zahlreiche Streitigkeiten zwischen Bischöfen und Priestern
in der „gelben" Presse aufzutragen. So werden denn von unzufricdneu
Priestern und hie und da auch von einzelnen Bischöfen innerkirchliche An¬
gelegenheiten in die breiteste Öffentlichkeit gezogen, wobei es gelegentlich nicht
an Injurien und Unterstellungen fehlt, die für den gebildeten Mann öffentlich
auszusprechen eine Schande ist, und die für den Priester und Bischof doppelt
schwer wiege,,. Daß sich der Klerus zuweilen, mehr als gut ist, in Speku¬
lationen einläßt, die nicht einmal immer zum Vorteil der Kirchenkasse unter¬
nommen werden, daß auch einzelne Bischöfe für ihre fru-u-tre-Sö darin be¬
rüchtigt sind, gehört zwar nicht in das Gebiet der geistigen Strömungen,
kennzeichnet jedoch die geistige Verfassung dieses kleinern Bruchteils des Klerus
in der deutlichsten Weise.
Unzweifelhaft am bedeutsamsten tritt der Charakter des Katholizismus in
diesem gewaltigen Lande in die Erscheinung, wenn man die Opferwilligkeit
der Gläubigen und die machtvolle Thätigkeit des Klerus im ganzen ansieht.
Von diesen, Opfergeist machen wir uns in Europa auch nicht annähernd eine
Vorstellung; von der Thatkraft der Geistlichen können wir nicht hoch genug
denken. Wer ans der katholischen Presse Amerikas diese gewaltigen An¬
strengungen auf beiden Seiten hat verfolgen lernen, wird zugleich auch darauf
hingeführt, die verschiednen oben gekennzeichnete,, Auswüchse wenigstens etwas
milder zu beurteilen, ohne sie damit entschuldigen zu wollen.
Während früher die Katholiken Amerikas in ihren litterarischen Bedürf-
rissen ganz und gar von Europa abhängig waren, hat sich darin in den letzten
Jahrzehnten ein völliger Umschwung vollzogen. Die asketische und apologe¬
tische Litteratur hat sich selbständig ausgebildet, Darstellungen der systematischen
Theologie beginnen aufzutauchen, die Tageslitteratur hat sich machtvoll ent¬
wickelt, und die Belletristik einen erfreulichen Aufschwung genommen. Die
kritische Arbeit, soweit Archäologie, Patristik und Kirchengeschichte in Frage
kommen, die eigentliche Forschung auf dem Gebiete der Kunstgeschichte im
Dienste der Kirche ist dagegen über spärliche Anfänge noch nicht hinaus¬
gekommen; Europa muß hierfür noch alles liefern.
Während der Kampf gegen den offnen und den latenten Amerikanismus
ständig weitergeführt wird, sind zwei neue große Ideen in den Aktionsradius
der nordamerikanischen Katholiken eingetreten: ans der einen Seite das Ver¬
langen, die gesamte katholische Vereinsthätigkeit, soweit sie nicht ausschließlich
religiöser Natur ist, zu einem großen Bunde und so zu einer großen Macht
zusammenzuschließen, und auf der andern Seite das Bestreben, eine große
soziale Vereinigung zu schassen zur Abwehr sozialistischer Ideen und zur Ver¬
breitung gesunder Anschauungen auf dem Gebiete der praktischen Hilfsbereit¬
schaft für alle möglichen Lagen und Abstufungen. Wenn auch der erste Versuch,
die Vereine zusammenzuschließen, nicht gleich geglückt ist, und zwar hauptsächlich
Wege» der Abneigung der irischen gegenüber den fremdsprachigen Katholiken,
so wird man den Gedanken deswegen nicht fallen lassen. Wie es mit der
Verwirklichung des zweiten Gedankens gehn wird, läßt sich augenblicklich noch
nicht absehen.
Sieht man die Zustände im Katholizismus der Vereinigten Staaten in
ihrer Gesamtheit an, so muß man zu dem Schlüsse kommen, daß trotz der
großen Hierarchie noch sehr vieles im Fluß ist, daß noch reichlich Gärungs¬
stoffe vorhanden sind, und die heilsamen Beschlüsse der drei Plenarkonzilien
sür weite Striche nur auf dem Papiere vorhanden sind. Der solideste Ausbau
^'r kirchlichen Einrichtungen ist im allgemeinen in den deutschen Gemeinden
^'folgt, und bei den deutsch-amerikanischen Katholiken ist anch die größte
Summe gesund konservativen Geistes aufgehäuft. Diese Thatsache wird auch
den Kreisen anerkannt, die sonst den Deutschen durchaus nicht gewogen
sind. Eine unmittelbare Gefahr, daß eine tiefer gehende Krisis im katholischen
^"ger ausbrechen könnte, besteht zur Zeit uicht, obschon, wie angedeutet worden
^>t, lokale Gärungen ans dem Gebiete der Disziplin und allgemeine Dissonanzen
der Handhabung der Bibelkritik in Zukunft nicht ausbleiben werden, wie
si^ auch in der Vergangenheit vorhanden gewesen sind.
Obgleich es von Interesse sein könnte, von Kanada. Mittel- und Süd¬
amerika sowie Ostindien noch einige Einzelheiten zu berichten, so sei doch
hiermit die Übersicht abgeschlossen. Das Ergebnis unsrer Betrachtungen tann
^rz dahin zusammengefaßt werden, daß eine aufsehenerregende Regsauckell um
Katholizismus des zwanzigsten Jahrhunderts vorhanden ist. und daß aller¬
orten an einer Vertiefung der geistigen Probleme mit Macht gearbeitet mürb.
Eine solche Thätigkeit zeitigt ganz natürlich Vorschläge zur Verbesserung be¬
stehender Einrichtungen und regt den Wunsch nach neuen Institutionen an.
Die Vorschläge und Wünsche kommen in zweifacher Weise zum Ausdruck: die
einen, soweit sie eben ans irgend einem Grunde unbefriedigt oder verärgert
sind, sprechen sich in scharfer, abfälliger und zuweilen polternder Weise aus
und verlegen sich damit sehr häusig den Weg zum Erfolge; die andern legen
ihre Ansichten und Vorschlüge in ruhiger, sachlicher Weise vor, begründen sie
wissenschaftlich und stellen der kirchlichen Obrigkeit anheim, diese Wünsche zu
erfüllen. Bei der unzweifelhaft gesteigerten unmotivierten Empfindlichkeit gegen¬
über Verbesscruugsvorschlügen ziehn sich deren Exponenten eine Summe von
Unannehmlichkeiten zu, die fast jede weitere Diskussion der Probleme un-
möglich machen würde, wenn sich diese Bewegung heute überhaupt kurzerhand
ersticken ließe. Die „Zeloten von rechts," wie man sie neuerdings sehr treffend
nennt, verfallen, wie eingangs verschiedentlich angedeutet worden ist, bei der
Äußerung jeder freiern Anschauung oder bei Anlegung der kritischen Sonde
an bestehende Dinge in eine Art Jnquisitionsmanie und sind gleich bereit,
Menschen zu Ketzern, Liberalen, Schismatikern zu stempeln, wo ein gesunder
Verstand in den meisten Fällen nichts weiter zu sehen vermag, als treu¬
katholische Männer, die auf Grund gediegner Studien Wünsche äußern, die
vielleicht neu sind, aber deswegen nicht gleich falsch zu sein brauchen. Daß
diese Vorschläge nicht alle praktisch verwendbar sind, wird niemand wunder
nehmen; aber wenn dem auch so ist, so dürfte damit höchstens erwiesen sein,
daß der alte Erfahrungssatz über den Inhalt geistiger Bewegungen auch
hier gilt.
Bei der Ausdehnung der Strömung, die wir kurz betrachtet haben, ist
nicht zu erwarten, daß sie sich so bald verlaufen wird. Allerorten nimmt
man Notiz davon, und sogar an solchen Orten lesen wir darüber, wo wir es
eigentlich nicht vermutet hätten. Wenn nun in den zahlreichen Besprechungen
der offenbaren Thatsachen ein großes Gewicht auf das Hervortreten des
Nationalismus innerhalb der katholischen Kreise gelegt wird, so will mir scheinen,
daß man den spärlichen hierüber vorliegenden Thatsachen zu viel Ehre anthut,
wenn man ihnen einen bestimmenden Einfluß auf die Stellung größerer Kreise
beimißt. Diese Strömung ist, wenn sie überhaupt nicht schon in rückläufiger
Bewegung ist — selbstverständlich spreche ich hier uur vom katholischen, nicht
vom politischen Standpunkt aus —, von geringer Bedeutung, und es müßte
ganz anders kommen, wenn sich diese Beurteilung ändern sollte.")
Endlich mag noch hervorgehoben werden, daß die, die von dein endgiltigen
Austrage der vorliegenden Streitfragen eine starke Verminderung der Kntho-
likeuzahl in manchen Ländern erwarten, sich täuschen werden. Es darf heute
schon als sicher bezeichnet werden, daß sich ein Ausgleich der verschiednen
Meinungen und Ansichten schneller vollziehn wird, als Fernerstehende denken-
Denn die „Krisis" geht nicht, und das ist das Wesentliche, auf den eigent-
lichen Inhalt des katholischen Glaubens, sondern auf die abseits davon liegenden
Fragen zweiten und drittel? Ranges. So lange also der Kampf um solche
Dinge geführt wird, liegt kein Grund vor, an eine größere Abkehr vom Katholi¬
zismus zu glauben.
as Amt des Lordkanzlers, des an Rang höchsten weltlichen
Beamten, ist durch die Jahrhunderte unverändert geblieben und
bietet in seiner sonderbaren Mischung von Regierungsgewalt und
richterlicher Thätigkeit ein widerspruchsvolles Bild. Es ist eine
ehrwürdige Reliquie aus den Tagen der Sternkammer. Der
Lordkanzler ist Vorsitzer des Oberhauses durch seine Partei und muß mit seiner
Partei abtreten. Als Parteimann darf er sich auch an der Erörterung beteiligen;
dennoch soll er des Vorsitzes unparteiisch walten. Ferner ist er Parteimnnu
als Mitglied des Kabinetts. Aber als oberster Richter des ganzen britischen
Reichs darf er nicht parteiisch sein. Wie ist es nun, wenn eine Sache vor
seinen Richterstuhl kommt, in der die Politik des Kabinetts, dem er angehört,
angefochten wird? Ein solcher Fall ist uicht nnr möglich, sondern erst vor
kurzem vorgekommen in der Berufung des Knpkolonisten Marais gegen die
Rechtlichkeit des Belagerungszustands in? Kaplande. Mag auch die Person
des Lordkanzlcrs über jeden Verdacht der Parteilichkeit erhaben sein, für das
Ansehen seines Spruchs ist die Verquickung des Richteramts mit einem Sitz
einem Parteikabinett nur schädlich. Als Justizminister im festländischen
Sinne kann man den Lordkanzler nicht ansehen.
Nach dem Schatzamt ist am wichtigsten das Staatssekretariat, das jetzt fünf
Staatssekretäre umfaßt. Es ist schon erwähnt worden, wie der Sekretär des Königs
"us untergeordneter Stellung zu einem hervorragenden Mitgliede der Regierung
wurde und den Geheimsiegelbewahrer überflügelte. Das gesteigerte Ansehen des
Sekretärs des Königs fand seinen passenden Ausdruck in der Bezeichnung Staats¬
sekretär, später sogar Hauptstaatssekretär (?i-in<zixal LöLret^r/ c>t' 8t-z,to). Um sich
^nen Begriff von dein Einflusse des Staatssekretärs zu macheu, braucht man nur
"et William Cecil, Lord Burleigh zu denken, der unter Elisabeth den Posten
sollte. Mit der Ausdehnung der Staatsgeschüfte nahm natürlich die Arbeits¬
last des Staatssekretärs zu, besonders als das Kabinett an die Stelle des
Geheimen Rats trat. Alle Sachen, die nicht ins Bereich des Schatzamts
oder des Lordkanzlcrs gehörten, sielen ihm anheim, und die fortschreitende
Entwicklung des Landes nach innen und nach außen berührte am meisten sein
nicht streng umgrenztes Gebiet. Ende des siebzehnten Jahrhunderts waren zwei
Staatssekretäre nötig, die gemeinschaftlich arbeiteten. Nach der Vereinigung
Schottlands mit England zum Königreiche von Großbritannien wurde ihnen
ein dritter beigesellt zur Wahrnehmung der schottischen Angelegenheiten. Diese
dritte Stelle wurde 1746 wieder eingezogen, und die übrigen beiden teilten die
Arbeit unter sich, ohne Scheidung der Gebiete mit Ausnahme der auswärtigen
Angelegenheiten. Für diese schuf man zwei Abteilungen, die nördliche und
die südliche. Die nördliche umfaßte den Verkehr mit den deutschen Staaten,
Holland, Polen, Nußland und Skandinavien, die südliche den mit Frankreich,
Spanien, Portugal, der Schweiz, Italien, der Türkei und den Barbareskcn-
staaten. Jeder der beiden Sekretäre stand einer Abteilung vor. Erst 1782
entstand die neuere Einteilung in die Sekretariate für heimische und für
auswärtige Angelegenheiten.
Das dritte Staatssekretariat ist das der Kolonien. Unter Karl II. gab
es zuerst einen Rat für die fremden Pflanzungen, der bald mit dein Rate
für Handel zu einem für Handel und Pflanzungen (er-uls alni Mutation s) ver¬
schmolzen wurde. Im Jahre 1675 abgeschafft und 1695 wieder eingeführt,
bestand diese Behörde bis 1768, wo die Zunahme der kolonialen Geschäfte
zur Anstellung eines Staatssekretärs für die amerikanische Abteilung führte.
Aber 1782, als Englaud den Kampf gegen die amerikanischen Freistaaten auf¬
gegeben hatte, war kein Bedürfnis mehr für einen besondern Staatssekretär,
und die Kolonien wurden vou der Abteilung des Innern übernommen. Im
Jahre 1801 kam ein neuer Wechsel, indem die Kolonien einem Staatssekretär
für den Krieg zugewiesen wurden, der nun der Abteilung für Krieg und
Kolonien vorstand. Die Bezeichnung Staatssekretär für den Krieg bedarf der
Erläuterung. Mit den heimischen Truppen hatte er nichts zu thun, sondern
nur mit denen außerhalb Großbritanniens. In Friedenszeiten überwogen bei
ihm koloniale Angelegenheiten, und die Abteilung hieß darum auch kurzweg
das Kolonialamt. Eine ganz selbständige Stellung erhielt das Kolonialamt
endlich im Jahre 1854- unter einem Staatssekretär für die Kolonien.
Den eben genannten Staatssekretär für den Krieg, der 1795 zuerst auf¬
trat, muß nun: von dem gegenwärtigen streng unterscheiden. Die Fürsorge
für die Truppen lag ihm ob erst von dein Zeitpunkte, wo sie Großbritannien
verließen. Die eigentliche Heeresverwaltung stand nicht unter ihm, sondern
unter einem dem Parlament nicht verantwortlichen Kriegssekretär im Verein
mit dem Oberkommandiercnden und besondern militärischen Behörden. Dieses
eigentümliche Doppelverhältnis währte bis zum .Krimkriege. Für die dazu
nötige Anstrengung war die Teilung der Heeresverwaltung zwischen dein
Kricgssekretür und dein Kolvnialamt nicht länger am Platze. Es wurde zu¬
nächst ein neues Staatssekretariat für den Krieg von dem für die .Kolonien
abgetrennt, und so wenigstens eine einheitliche Spitze gewonnen. Die bittern
Erfahrungen des Krimkriegs führten dann dazu, daß 1856 der Posten des
dem Parlament nicht verantwortlichen Kriegssekrctärs ganz eingezogen, und das
gesamte Heerwesen, einschließlich der Miliz, der Ieomanry und der Freiwilligen,
aber mit gewissen Vorbehalten der Krone, der ungeteilten Gewalt des parla¬
mentarischen Staatssekretärs übergeben wurde.
Das fünfte und letzte Staatssekrctariat ist das für Indien. Beginnend
mit einer kleinen Faktorei in surrte im Anfange des siebzehnten Jahrhunderts
haben die Engländer ein großes ostindisches Reich zu begründen verstanden.
Die ostindische Kompagnie, der England dieses Reich verdankt, war nicht wie
ähnliche Unternehmungen unsrer Zeit, wie etwa die südafrikanische Gesellschaft,
zum Zweck des Landcrwerbs, der Koloniengründung ins Leben gerufen worden.
Von der schöne» Aufgabe Englands, den Völkern, die im Dunkeln wohnen,
Licht zu bringen, wußte das siebzehnte Jahrhundert noch nichts. Das Ziel,
das sich die englische ostindische Kompagnie gesetzt hatte, war lediglich, durch
deu Handel einen möglichst hohen Geldgewinn für ihre Teilhaber zu erlangen.
Der Landerwerb war Nebensache, ein Mittel, den Handel zu sichern. In der
Verfolgung ihres Ziels trat die Gesellschaft rücksichtslos gegen alle Mitbewerber
auf, ob Ausländer oder Engländer. Mit diesen hatte sie leichtes Spiel. Ihr
Monopol berechtigte sie, Engländer gefangen nehmen zu lassen und nach Hanse
zu schicken. Bei Nichtcngländern und den über den englischen Einfluß besorgt
werdenden indischen Fürsten entschied die Waffe. Diplomatische Ausnützung
der innern Verhältnisse der indischen Reiche und militärische Tüchtigkeit sicherten
den Engländern den Sieg ans der ganzen Linie. Franzosen, Holländer und
Portugiesen wurden verdrängt, ein indischer Staat nach dem andern wurde
entweder in unmittelbare Verwaltung genommen oder unter britische Bot¬
mäßigkeit gebracht, und heute herrscht der Kaisar i Hind über 294 Millionen
Menschen, von denen bloß 63 Millionen noch nnter einheimischen Fürsten stehn.
Die erste ostindische Kompagnie wurde 1(>t)0 gegründet. Nach ihr ent¬
standen noch mehrere andre; aber die gegenseitige Eifersucht führte solche Ver¬
wirrung und Nachteile herbei, daß in jedem Falle Verschmelzung die einzige
Lösung war. Die letzte dieser Verschmelzungen ergab die „Vereinigte Gesell¬
schaft der nach Ostindien handelnden Kaufleute," später als die ehrenwerte
ostindische Gesellschaft und im Volksmunde als ^olim 0ompai^ bekannt. Von
Zeit zu Zeit durch neue Freibriefe in ihren Rechten bestätigt, hat die Gesell¬
schaft bis 1858 bestanden. Solange sie bloß eine Handelsgesellschaft war,
kümmerte sich die heimische Regierung wenig um sie. Auch später, als sie
schon weite Länder ihr eigen nannte, wurde die Aufsicht, zu der die Regierung
durch die Freibriefe berechtigt war, uur lässig gehandhabt. Erst 1784 wurde
eine besondre Behörde, Los-rit ok vontrol, mit der Überwachung der Verwaltung
in den Gebieten der Gesellschaft betraut. Diese Behörde, von der Krone er¬
nannt, hatte so weitgehende Vollmachten, daß die Gesellschaft nur noch dem
Namen nach die Negierung führte. Als 1833 der Freibrief wieder erneuert
wurde, mußte die Gesellschaft auf eigne Handclsthntigkeit verzichten und die
Ansiedlung von Europäern zulassen. Man hätte sie ebensogut gleich aufheben
können, denn mit dein Aufgeben der Handelsthätigkeit verlor sie ihre Daseins¬
berechtigung, und die Doppelregierung durch die Gesellschaft und die Aufsichts¬
behörde taugte uicht viel. Wie der Krimkrieg der Doppelherrschaft im Heer¬
wesen ein Ende gemacht hatte, so überzeugte der große indische Aufstand von
1857 England von der Notwendigkeit einheitlicher Gewalt im indischen Reiche.
Dasselbe Verfahren wurde beobachtet, und das Parlament ließ sich die Ge¬
legenheit nicht entgehn, anch Indien unter seinen unmittelbaren Einfluß zu
bringen. Mit der Kompagnie trat auch die von der Krone ernannte Aufsichts¬
behörde vom Schauplatz ab, und beider Befugnisse wurden 1858 einem Staats¬
sekretär und einem unter diesem stehenden indischen Rate (Lonneil c»k Irnlich
übertragen.
Fürs erste scheint das Staatssckretaricit mit der Ausdehnung auf die
indischen Angelegenheiten seinen Abschluß erreicht zu haben, doch nur fürs
erste. Die Entwicklung der Ämter neuern Ursprungs dürfte in nicht allzu¬
langer Zeit dazu führen, ihren Spitzen den Rang und die Bedeutung eines
Staatssekretärs zu geben. Für das Handelsamt ist eine solche Forderung
schon offen ausgesprochen worden. Selbstverständlich gehören die Staats¬
sekretäre ebenso wie die Unterstaatssekretäre dem Parlament an, doch ist es
nicht gleichgiltig, welchem Hause. Nach dem Gesetze von 1858, das ihre Zahl
auf fünf erhöhte, dürfen höchstens vier Staatssekretäre im Unterhause sitzen.
Nach altem Herkommen wird der Staatssekretär für das Innere immer dem
Unterhause entnommen; dagegen pflegt, aus naheliegender Rücksicht auf den
Verkehr mit den Vertretern monarchischer Staaten, im Auswärtigen Amt ein
Mitglied des Oberhauses zu walten. Bei den andern Staarssekretären über¬
wiegt das Unterhaus.
Von einer Seemacht wie Großbritannien würde man erwarten, daß es
der Flotte einen hervorragenden Platz in seiner Regierung einräumte. Dem
ist jedoch nicht so. Der Marineminister nimmt eine verhältnismüßig unter¬
geordnete Stellung ein. Mit dem Wachstum der Flotte ist die Rangstellnng
ihres Hauptes eingeschrumpft. Im fernen Mittelalter, als der König von
England nur wenig eigne Schiffe besaß, und die Schlachtflvtte hauptsächlich
aus den Fahrzeugen der Seestädte bestand, dn gab es einen Großadmiral.
Die Würde erhielt sich, solange England auf dem Meere hinter den Hansen
und Holländern stand. Geleistet haben die alten Großadmirale wenig, außer
in der Fürsorge für ihre guten Freunde, die mit der Führung von Schiffen
betraut wurden, ohne vom Seewesen etwas zu verstehn. Schon im siebzehnten
Jahrhundert war die Wahrnehmung des Amts des Großadmirals mehreremnl
einer kollegialischer Behörde übertragen worden, die aus „Personen von be¬
kannter Erfahrung in Seeangelegenheiten" bestand. Wiederholt kam man auf
den Großadmiral zurück, aber nach dem Tode des Prinzen Georg von Düne¬
mark, des Gemahls der Königin Anna, wurde die Admiralitätsbehörde dauernd,
und uur auf kurze Zeit ist 1827 zu Gunsten des Herzogs von Clarence noch
einmal eine Ausnahme gemacht worden.
Die Behörde hat an der Spitze den ersten Lord der Admiralität, der
einen Sitz im Parlament hat, bloß Politiker ist und vom Seewesen nichts zu
verstehn braucht. Der gegenwärtige Inhaber des Postens, Lord Selbvurne,
Salisburys Schwiegersohn, ist eine Landratte wie sein Vorgänger Goschen.
Unter dem ersten Lord stehn die fünf Lords der Admiralität, von denen vier
Seeoffiziere sind. Das Amt des Großadmirals hat also seinerzeit eine ähnliche
Behandlung erfahren wie das des Lordschatzmcisters. Aber der erste Lord
des Schatzamts hat sich den Vorrang über die ihm beigeordneten Beamten
errungen, der Schatzkanzler ist zum Haupte der Finanzverwaltung geworden
und hat die jüngern Lords zu zierenden Schnörkeln heruntergedrückt. In der
Admiralität dagegen ist mit gutem Rechte der kollegialische Charakter dem
Nichtfachmann gegenüber bewährt geblieben, sodaß der erste Lord in allem,
was er anordnet, der Zustimmung der andern Lords bedarf, die das See¬
wesen verstehn. Auch abgesehen von der Unselbständigkeit ihres Hauptes er¬
scheint die Admiralität trotz ihrer Wichtigkeit für ein Inselreich als etwas
nebensächliches. Sie ist nur dazu da, die Flotte in gutem Zustande zu er¬
halten. Über die Art und Weise der Verwendung der Flotte steht ihr keine
Stimme zu. Die Flotte bedeutet für Englands Sicherheit unendlich viel mehr
als das Heer, und für das englische Weltreich, für Englands ganze aus¬
wärtige Politik hat das Heer seinen Wert nur durch die Flotte. Man denke
sich die Flotte weg, und England würde im Rate Europas nicht mehr
gelten als Portugal. Aber das Heer hat einen Oberbefehlshaber, und seine
Verwaltung hat um der Spitze einen Staatssekretär. Die Flotte hat keins
von beiden. Es ist die Pflicht der Admiralität, die Flotte zur Verfügung
des Auswärtigen Amts und des Kolonialamts bereit zu halten, und jeder der
Staatssekretäre darf, natürlich im Namen des Königs, d. h. des Kabinetts,
der Admiralität Befehle erteilen, denen sie unweigerlich nachkommen muß.
Die Abhängigkeit wird etwas gemildert dadurch, daß der erste Lord eiuen Sitz
im Kabinett hat, aber in mehr als einem Fall ist der Admiralität selbst die
Fühlung mit einem nusgescmdten Geschwader entzogen und der betreffende
Admiral angewiesen worden, mit Umgehung seiner natürlichen Vorgesetzten nur
den Befehlen des Staatssekretärs zu folgen. Neben dem ersten Lord ist das
Parlament in der Admiralität durch den zivilistischen jüngern Lord und den
Finanzsekretür vertreten. Die Fachleute gehören nicht zur Schar der Gesetz¬
geber in Westminster.
Von den alten hohen Negierungsämtern haben sich außer den schon er¬
wähnten noch die des Geheimsiegelbewahrers und des Lordpräsidenten des
Geheimen Rats im Kabinett erhalten. Bei ihnen ist ferner der Geueralpost-
meister zu erwähnen, der in seinen Anfängen auf die Zeit der Königin Anna
zurückgeht, doch erst im neunzehnten Jahrhundert zu Bedeutung gelangt ist.
Der Geheimsiegelbewahrcr wird von amtlichen Pflichten nicht sehr in Anspruch
genommen. Seine Aufgabe beschränkt sich darauf, durch sein Siegel dem Lord¬
kanzler die gesetzliche Vollmacht für die Vollziehung von Staatsurkuuden zu
geben. Nicht schwerer ist die Aufgabe des Lordpräsidenten des Geheimen Rats,
der die Reihe der alten Kronbcainten schließt, aber auch zu einer Gruppe neuer
Unter hinüberleitet.
Oben sind die Ursachen geschildert worden, die den Übergang der Regierung
vom Geheimen Rat auf das Kabinett herbeiführten, ohne jedoch seine ver¬
fassungsmäßige Stellung als der allein gesetzlichen Regierungsbehörde zu be¬
rühren. Ebenso ist auch schou die Zunahme der Geschäfte erwähnt worden,
die sich aus dem Wachsen der Bevölkerung und der Ausdehnung des Reichs
ergab. Soweit die Geschäfte das Staatssekretariat betrafen oder von sehr
großem Umfang waren, lag es nahe, zu ihrer Bewältigung neue Staatssekretär-
Posten zu schaffen. Das Leben der Neuzeit erzeugte jedoch Bedürfnisse, von
denen die alte Regierung noch keine Ahnung gehabt hatte, die wichtig genug
waren, um eine besondre Behandlung zu erfahren, aber nicht wichtig genug,
die Errichtung eines neuen Staatssekretariats zu rechtfertigen. In dieser Ver¬
legenheit hielt man es für das beste, auf den guten Geheimen Rat zurückzu¬
greifen und aus ihm kleine Ausschüsse zur Befriedigung der neuen Bedürfnisse
zu schaffen.
Nach vorübergehenden Versuchen, die bis auf Jakob I. zurückreichen, ent¬
stand unter Karl II. zugleich mit dem Rat für die Pflanzungen ein Rat für
Handelssachen, der nach verschiednen Änderungen 1786 feste Gestalt erhielt.
Eine Reihe von Jahren wurden die Geschäfte in den Sitzungen des Rats
erledigt. Aber wie im Schatzamt ist die kollegialische Behandlung schou lange
nichts als ein Schein. Die Mitglieder des Ausschusses würden auch gnr nicht
die Zeit haben, sich neben ihren eignen Amtsgeschäften den äußerst mannig¬
faltigen des Handelsamts zu widmen, die jetzt nicht bloß Handelsaugelegeu-
heiten und Statistik, sondern auch Eisenbahnen, Schiffahrt, Fischerei, Häfen,
Küstenbelenchtnng, Patentwesen, Lebensversicherungsgesellschaften usw. umfassen.
Spricht man also heute vom Handelsamte, so meint man nicht den Ausschuß
des Geheimen Rats, den es angeblich vorstellt, sondern nur den Präsidenten
dieses Ausschusses und die unter ihm stehenden Beamten.
Weit jüngern Ursprungs ist der Ausschuß für Erziehung. Im Jahre 1832
hatte das Parlament 20000 Pfund zur Unterstützung von Schulen bewilligt
und ihre Verteilung dem Schatzamt übertragen. Als 1839 die Summe ans
30000 erhöht wurde, hielt die Negierung es für angebracht, der bis dahin
güuzlich vernachlässigten Volkserziehung etwas Aufmerksamkeit zuzuwenden, und
beauftragte damit einen Ausschuß des Geheimen Rats. Zu dem Ausschüsse
gehörten, außer dem Lvrdprüsidenten, wie bei allen solchen Ausschüssen, die
Staatssekretäre und die wichtigsten Mitglieder des Kabinetts, sowie ein Vize¬
präsident, dein die wirkliche Arbeit zufiel. Überstürzender Reformeifer ließ sich
diesen Herren nicht nachweisen. Sie ließen sich Zeit bis 1870, bevor sie die
allgemeine Schulpflicht einführten. Am 1. April 1900 hat der Ausschuß einer
besondern Behörde (IZoarä ot' IZcluLÄkicm) mit erweiterten Vollmachten für den
in starker Verwirrung liegenden höhern Unterricht Platz gemacht. In ihrer
Znsammensetzung ist die neue Abteilung für den Unterricht dem frühern Aus¬
schüsse ziemlich ähnlich. An der Spitze steht der Lordpräsident des Geheimen
Rats, der Herzog von Devonshire, der sie im Kabinett vertritt., Der wirkliche
Untcrrichtsmimstcr, Sir John Gorst, hat in das gegenwärtige zwanzigköpfige
Kabinett keine Aufnahme gefunden.
Aus nicht minder bescheidnen Ansängen wie die Behörde für den Unter¬
richt hat sich die für die Landwirtschaft entwickelt. Sie hat ihren Ursprung
in einem kleinen Ausschusse des Rats, dessen Aufgabe es war, die Ausführung
des Viehseuchengesetzes von 1867 und des Gesetzes von 1877 über schädliche
Insekten zu überwachen. Daneben bestand eine Landkommission für die Be-
Handlung der Zehutenabgabe, der Ablösung der Erbpachten und andrer sich
auf das Land beziehender Fragen. Beide Behörden wurden 1889 vereinigt
zum Landwirtschaftlichen Amte (Lou-rd ok ^grivulturs) unter einem Präsidenten,
dem die konservative Regierung einen Sitz im Kabinett eingeräumt hat.
Etwas abseits steht die Ortsverwaltungsbehörde (^oval (^vgruwentLoarch,
deren bloßes Dasein beweist, daß der Grundsatz des Gehenlassens, des reinen
Manchestertums, auch in England überwunden ist. Die unbeaufsichtigte Selbst¬
verwaltung der örtlichen Nerbände hatte zu schreienden Mißbräuchen ge¬
führt im Armenwesen wie in der öffentlichen Gesundheitspflege. Gesetze gab
es wohl, aber keine einheitliche Gewalt, ihre Ausführung zu erzwingen. Was
an Aufsicht bestand, war zersplittert zwischen der Armenbehörde (?c>c>r ki^v
Lo-u-ep, dem Geheimen Rate, dem Schutzpockenimpfnng und Verhütung von
Seuchen vblngeu, und dem Staatssekretär des Innern, unter dem örtliche
Gesnndheitsfragen und die Aufsicht über örtliche Besteuerung standen. Der
Verwirrung, die bei diesem Durcheinander kaum zu vermeiden war, wurde 1871
durch die Einsetzung des Ortsverwaltungsamts abgeholfen. Weitgehende und
stetig wachsende Vollmachten befähigen dieses, die Ortsobrigkeiten zur Erfüllung
ihrer Pflicht auzuyalteu, wie ihre Finanzen zu überwachen. Dem Namen nach
ist auch das Ortsverwaltungsamt eine ans mehreren Ministern zusammengesetzte,
kollegialische Behörde, doch thatsächlich wird es nur von seinein Präsidenten
geleitet, der entsprechend der Wichtigkeit seines Amts dem Kabinett angehört.
Eine dritte Gruppe von Ämtern hängt weder mit den alten englischen
Andern noch mit dem Geheimen Rat zusammen, insofern sie die beiden Länder
betreffen, die mit England das Vereinigte Königreich bilden. Mit dem An¬
schlusse Schottlands 1707 ging die Gesetzgebung an das nunmehr britische
Parlament in Westminster über, und ebenso wurde auch der Sitz der Regierung
nach London verlegt, wo bis 1746 ein besondrer Staatssekretär die Angelegen¬
heiten des nördlichen Königreichs versah. Nach der Aufhebung dieses Postens
wurden die schottischen Sachen erst gemeinsam von den beiden andern Staats¬
sekretären erledigt, dann bei der Neuordnung der Verwaltung der Abteilung
des Innern überwiesen. Im Jahre 1885 aber wurde ein besondrer Sekretär,
nicht Staatssekretär, für Schottland eingesetzt.
Der Anschluß Irlands 1801 brachte nur eine Vereinigung der Gesetz¬
gebung, ließ aber die Verwaltung selbständig, wenigstens äußerlich. Als Ver¬
treter des Königs wohnt im Schlosse von Dublin ein Lordlentnant, dem nach
englischem Muster ein Geheimer Rat zur Seite steht als gesetzlicher Träger der
Negierung. Wie England hat auch Irland einen Lordkanzler. Früher gehörte
Irland zum Bereich des Staatssekretärs für das Innere, ein Verhältnis, das
niemals förmlich gelöst worden ist und rechtlich noch besteht. Wer aber im
Parlament den Staatssekretär um Auskunft über irische Dinge angehn wollte,
Würde abschlägig beschieden werden. Als eigentlicher verantwortlicher Minister
ist der Hauptsekretär für Irland anzusehen, dessen Stellung bei der Feindselig¬
keit, die der englischen Regierung von der irischen Partei entgegengebracht
>vird, zu den schwersten und unangenehmsten des ganzen Reichs gehört.
Leicht und angenehm hat es dagegen der Kanzler des Herzogtums Lan-
caster, der oft mit einem Sitz im Kabinett bedacht wird. Als Heinrich IV.
König von England wurde, hielt er es in kluger Erwägung der Wandelbarkeit
menschlicher Dinge für weise, sein Herzogtum Lancaster nicht mit der Krone
zu verschmelzen, sondern abgesondert auf seine Nachkommen zu vererben. Noch
heute genießt der König vou England die Einkünfte des Herzogtums als eines
Hausguts unabhängig von der parlamentarischen Bewilligung, und der gut
besoldete, mit wenig Arbeit verknüpfte Posten des Kanzlers dient als Belohnung
eines verdienten Politikers, den die Regierung warm halten, aber nicht mit
einem verantwortungsvollen Amte betranen will.
Die Liste der in den drei Gruppen angeführten Ämter ist recht stattlich,
und wenn man die vielen politischen Posten hinzurechnet, die ebenfalls aus
einem der beiden Häuser des Parlaments zu besetzen sind, so hat der Premier¬
minister reichlich Gelegenheit, seine Anhänger für ihre Ausdauer im Partei¬
kämpfe zu belohnen. Es ist gar nicht übel, ein britischer Minister zu sein.
Der geringste Gehalt ist 2000 Pfund, die Staatssekretäre wie der erste Lord
des Schatzamtes und der Schntzkanzler erhalten jeder 5000 Pfund. Der
irische Lordknnzler ist mit 8000 und der englische mit 10000 Pfund bedacht.
Unterstaatssekretäre beziehn 1500 Pfund. Von den andern Stellen ist die des
^et-vrus^ 66ii6i'g.I, des ersten juristischen Beraters des Kabinetts, am einträg¬
lichsten mit 7000 Pfund festem Gehalt und reichen Sporteln, die im Jahre
1900 sein Einkommen auf 19000 Pfund steigerten.
Wer von all den Würdenträgern in den magischen Kreis des Kabinetts
gelassen wird, das hängt nicht von gesetzlichen Bestimmungen ab, sondern ist
zum Teil dein persönlichen Ermessen des Premierministers anheimgegeben.
Allen den Eintritt zu gewähren, geht nicht an; das Kabinett würde sonst so
unförmlich werden wie der Geheime Rat. Immer im Kabinette sitzen der
Lordkanzler von England, der Lordpräsident des Geheimen Rates, der Geheiin-
siegclbewahrer, der erste Lord des Schatzes, der Schatzkauzler, die fünf Staats¬
sekretäre und der erste Lord der Admiralität. Sie vertreten die alten Ämter
und können füglich als Minister erster Klasse bezeichnet werden. Ihnen wird
jetzt auch der Präsident des Handelsamtes zugerechnet. Kein Kabinett der
neuern Zeit hat sich jedoch mit der Zwölfzahl begnügt. Das kleinste Kabinett
der letzten zwanzig Jahre, das 1886 von Gladstone gebildete, enthielt vierzehn
Minister, in andern finden wir fünfzehn, sechzehn, neunzehn. Das größte
bisher dagewesene Kabinett ist das gegenwärtige unter Salisbury mit zwanzig
Mitgliedern. In ihm sitzen außer deu genanten zwölf der Sekretär für
Schottland, der Lordleutnant von Irland, der Lordkanzler von Irland, der
Kanzler des Herzogtums Lancaster, der Präsident des Ortsverwaltungsmnts,
der Präsident des Landwirtschaftsamts, der Minister der öffentlichen Arbeiten
und der Generalpostmeister. Mit Ausnahme des Hauptsekretürs für Irland
und des Vizepräsidenten des Geheimen Rats umfaßt es alle Ämter, die jemals
mit einem Sitze im Kabinette verbunden worden sind.
Das Anwachsen der Zahl erklärt sich durch die Schaffung neuer Be¬
hörden, deren die ältere Zeit noch entbehren konnte. Doch eine Zahl wie
zwanzig erscheint etwas hoch. Einige der althergebrachten Ämter könnten
ohne Schaden vereinigt werden, sind mich schon vereinigt worden. So war
Gladstone 1886 erster Lord des Schatzes und Geheimsicgelbewahrcr, so war
Nvsebery 1894 bis 1895 erster Lord des Schatzes und Lordpräsident des
Rates, und Twcedmouth unter Nosebcry Gehcimsiegelbewahrer und Kanzler
des Herzogtums Lancaster, Doch gewöhnlich behilft sich der Premierminister
damit, einige der neuen Ämter trotz ihrer Wichtigkeit unberücksichtigt zu lassen,
und über die Zulassung zum Kabinett entscheidet teils die persönliche Be¬
deutung des Inhabers in der Partei, teils Parteinnsicht. Zum Beispiel halten
die Konservativen den Ackerbau einer Vertretung im Kabinette wert und lassen
den Unterrichtsminister draußen, während die Liberalen umgekehrt Verfahren.
Was die Person angeht, so war Arthur Balfour als irischer Hauptsekretär
Kabincttsmitglied, sein Bruder Gerald Balfour in gleicher Stellung nicht.
Für Irland herrscht die Gewohnheit, daß es entweder durch den Lordleutuant
oder deu Hauptsekretär vertreten ist, oft, wie in den drei Ministerien Salis-
bnrhs, aber auch noch durch den irischen Lordkanzler. Schottland ist dem¬
gegenüber weniger gut daran. Nur der Sekretär für Schottland hat Anspruch
auf einen Sitz unter den Erwählten, doch von sechs Sekretären, die es seit
Errichtung der Stelle gegeben hat, sind nur vier so ausgezeichnet worden.
Äußerlich zeigt sich das Kabinett von heute sehr verschieden von dem,
dessen Seele Walpole war. Das Walpoles war weit kleiner und kannte noch
keinen Premierminister. Im Wesen aber sind beide gleich, das eine ist der
Abkömmling des andern, sie ruhen beide auf der Macht der Partei. Partei¬
regierung hat die Geschicke Großbritanniens im achtzehnten und neunzehnten
^ahrhuudert geleitet, Partciregieruug leitet sie auch heute. Verschiedenheit
zeigt sich bloß darin, daß die Grundlagen der Parteien heute anders sind als
Mr Zeit Walpoles und der beiden Pitts. Die Reform des Unterhauses 1832 hat
die Grundlagen verändert und ein neues England geschaffen, das sich von dein
Georgs IV. schärfer abhebt, als das England Georgs I. von dem der Stuarts.
So bedauerlich die Unthätigkeit der Krone unter den ersten Welsen war,
sie war besser als eine Fortsetzung der durch Selbstsucht verblendeten Regie-
rungsweise Karls II. und Jakobs II. Heinrich IV. von Frankreich hielt Paris
einer Messe wert. Die Stuarts waren bereit, ihr Land und Volk einer Messe
M opfern. Man würde den guten Whigs und den nicht minder guten Tories
des achtzehnten Jahrhunderts schweres Unrecht thun, wenn man sie des
Strebens nach Volksbeglückung beschuldigte. Dergleichen kam ihnen nicht in
den Sinn. Sie hatten ans niemand Rücksicht zu nehmen als ans die besitzende
Klasse, die sich, gleichviel welchem Lager der Einzelne angehörte, der Masse
des Volks gegenüber eins fühlte. Der den Grund und Boden besitzende Adel,
verbunden mit den großen Fabrikherren und Kaufleuten, sie alle waren nur
um kleiner Bruchteil des britischen Volks. Aber in ihnen war der ganze Besitz,
die ganze Bildung enthalten, und eine von ihnen abhängige Regierung durfte
nicht wie die Stuarts persönliche, sondern nur nationale Politik treiben. Weil
sie dies wußten, darum unterwarfen sich die andern Stände willig der Füh¬
rung der großen Adelsgeschlechter, darum ertrugen sie die Fortdauer der Kor¬
ruption in allen Zweigen des öffentlichen Lebens. Und die Führer trieben
nationale Politik, ohne Sentimentalität, ohne Rücksicht. Sie unterstützten
Friedrich den Großen, weil es für England nützlich war, festländische Neben¬
buhler wie die Franzosen auf dein Festlande beschäftigt zu sehen, und als sie
ihr Schäfchen ins Trockne gebracht hatten, als die Franzosen aus Indien und
Kanada vertrieben waren, ließen sie ihn schnöde im Stich. Wäre England
ein Festlandstaat, sie hätten Rücksichten nehmen müssen, doch durch das Meer
vor Angriffen geschützt, konnten sie thun, wie ihnen beliebte, und über den
Vorwurf des perfiden Albions lachen. Ob Tones, ob Whigs, sie alle trieben
dieselbe Politik. Riglrt c»r ^ronA in)? «zountr^! war aller Wahrspruch. Andre
Völker mochten sehen, wie sie sich damit abfärben. In nationaler Politik,
die sich mit dein Vorteil der herrschenden Klasse deckte, lag das Geheimnis
des Erfolgs der parlamentarischen Adclsregierung in England während des
achtzehnten und im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts.
(Schluß folgt)
>le den alten Wikingerkönigen beim Gange nach Walhallas
Wonnesitz der Holzstoß flammte, so lodert in unsern Tagen
dem Menschen, der aus der Menge weit sichtbar hervorgeragt
hat, die leuchtende und manchmal wärmende Flamme der Ne-
! krologe. Ist sie erloschen, so behauptet sich ein Gluthaufen noch
lange Zeit, ein weniger weithin sichtbarer, aber meistens dauerhafter in seiner
Wirkung. Dem alten Nachkommen der seefahrenden friesischen Bauern, der
am 9. März ans seinein väterlichen Marschenhof die Augen schloß, sind im
letzten Viertel seines Lebens riesige Nuhmcsopfer geweiht worden. Viele hat
er verdient, vieles wurde übertrieben von Leuten, die ihn erst in den aller¬
letzten Jahren kennen gelernt hatten, ohne recht die eigentliche Natur seines
Wesens zu erfassen, die aber, einer gewissen Zeitströmung folgend, den Heimat¬
dichter feierten. Die Fülle seines Geistes und Gemüts neben den Schwächen
zu ermessen und beides gerecht zu würdigen, ist nur denen beschieden, die viele
Jahre ihm näher gestanden haben. Hermann Allmers war vor alleil Dingen
ein Mann der lebendigen Persönlichkeit. Was ihn litterarisch überlebt, kommt
erst denen zur rechten Geltung, die diese eigentümliche Persönlichkeit genau
gekannt haben. Unter diesen vielleicht den jungen Leuten am meisten, weil sie
von ihr überwältigt wurden. Fernstehende werden in seinen Schriften nicht leicht
den Grund für das ftannenswerte Maß von Popularität entdecke», das der Ver¬
ewigte in den letzten Zeiten genoß, am meisten in seiner nordwestdentschen Heimat.
Mehr noch als der Dichter selbst hing sein Ruhm von der Scholle ab,
die ihn erzeugt, und an der er heimatstreu gehangen hat. Er selbst hat sich
vielen ganz andern Idealen zugewandt, die mit seiner Heimat und ihrem
Kultus uicht das Geringste zu schaffen hatten: dem klassischen Altertum, der
Kunst des romanischen Baustils, der italienischen Malerei, der italienischen
Natur und andern Dingen. Aber er liebte seiue nähern Lnndsleute und seine
Gegend, er wurde wieder geliebt, er war ihre Berühmtheit, sie trugen ihn auf
den Händen. Als seine Leier längst verstummt war, als er nichts mehr schrieb,
kamen Wallfahrten von Vereinen und Schulen auf seinen Nechtenflcther
Bauernhof — auch eine Erscheinung unsrer verkehrserleichterndeu Zeit —
immer mehr in Gang. Wie einen Patriarchen umstanden ihn die Scharen,
und mit der Würde eines Patriarchen wußte er sie zu behandeln.
Sie sind eine eigentümliche Gegend, diese Marschen, denen er entstammt,
und in denen sein Geschlecht seit Jahrhunderten nachweisbar ist. Wer sie mit
Vorstellungen des Thüringer Waldes oder des Rheins zum erstenmal sieht,
hält sie leicht für den Inbegriff der Langweiligkeit und Ausdruckslosigkeit.
Viele Meilen lang begleiten sie die Weser zu beiden Seiten, am linken Ufer
von Bremen bis zur Nordsee, ja weiter an der Küste entlang bis Ostfriesland
und Holland, ohne eine einzige Unterbrechung; am rechten Ufer von Bremen
bis Kuxhaveu, nur kurz unterbrochen bei Vegesack, das wie Kuxhaven einen
Vorsprung diluvialen Sandes bildet; dann beginnen die Elbmarschen. Die
Marschen, die die wenig fruchtbare Sandclme, die Fortsetzung der Lüne-
burger Heide umsäumen, sind Anschwemmungen ans See- und Flußschlick und
stehn dem berühmten Nilschlamm an Fülle der Pflanzennährstoffe nicht nach.
In alteir Zeiten konnten sie nur in trockner Sommerzeit benutzt werden,
und nur zur Viehtrift, denn die Springfluten gingen über sie hinweg. Wo
uicht etwa eine einsame Düne ans dem Schwemmland aufragte (z. B. Berne
und Vlexen), konnten keine Hünser stehn, und auch das Vieh durfte nicht so
weit getrieben werden, daß man es nicht bei plötzlichem Hochwasser rasch hätte
auf sicheres Land bringen können. Erst vom Jahre 1000 an beginnt die
Eindeichung, um die sich namentlich Erzbischof Friedrich von Bremen große
Verdienste erworben hat. Schwer kämpfte der Mensch mit Sturm und Wogen-
nndrang. Erst allmählich gewannen die Deiche größere Festigkeit, sodaß sich
Häuser, Dörfer auf und hinter ihnen ansiedeln konnten. Und doch wurde die
Springflut oft Herr über das Menschenwerk. Sie zerbrach die Deiche lind
setzte viele Quadratmeilen unter Wasser. Den Jahdebusen und den Dollart
entriß sie dein Menschen wieder; bei beiden Katastrophen verschlang sie viele
Dörfer samt den Bewohnern und ihrem Vieh. Bis um die Mitte des letzten
Jahrhunderts sind solche Deichbrüche vorgekommen. Auch der vierjährige
Allmers hat eine solche Not in seinem Heimatdorfe Rechtenfleth gesehen.
An der ganzen Küste entlang, von der Zuidersee bis nach der jütischen
Grenze wohnten und wohnen die Friesen, ein deutscher Stamm von meist
riesigem Körperbau, flachsblonden Haaren und eigner, nur noch in wenigen
Sprachinseln (Saterland und nordfriesischen Inseln) am Leben gebliebner
Sprache. Bis ans diese Stellen hat das niedersächsische Plattdeutsch die
friesische Sprache ganz verdrängt. Der friesische Stamm fügte sich am
wenigsten von alleil in die Staatsordnung des alten Reichs ein. Er saß in
seinen schwer zugänglichen Niederungen und bekümmerte sich weder um Kaiser
noch um Herzoge und Grafen. Er bildete freie Bauerngemeindcn, die mir
lockere landschaftliche Verbünde hatten. Erst nach der Reformation wurden
die „Häuptlinge" zu Grafen von Ostfriesland, und die Grafen von Oldenburg
Herren über das Unserm gerland. Es war ein trotziges Geschlecht, der friesische
Bauernstand. Auch auf der See war es zu Hause; immerfort mußten die
Hamburger und Bremer ihren Handel gegen friesische Seeräuber verteidigen;
manchmal suchten sie sie in ihren mit Wall und Wassergraben umzogner
Burgen auf, und wenn sie sie bezwungen, so legten sie ihnen die Häupter vor
die Füße; so Bremen mit Dedo und Pedo Lübben, Hamburg mit dem trint-
berühmten Stortebeker. Auch in der deutschen Dichtung taucht ein Manu auf,
der die knorrige Art, die Mächtigkeit in seinem Wesen verkörpert, die seinen
Staunn auszeichnet: Friedrich Hebbel. Im ganzen aber tritt das an Volks¬
zahl ja auch mir kleine Friesentnm weder in Deutschlands Kunst und Wissen¬
schaft uoch in seinen staatlichen Kämpfen stark hervor.
Der Allmersschc Stamm ist seit Jahrhunderten in „Osterstade" (d. h.
Ostergcstade), am Ostufer der Weser, südlich von Bremerhaven, ansässig ge¬
wesen. Er gehört zu dem friesischen Bauerntum, das auf seine Neichsfreiheit
und Wehrhaftigkeit stolz war, und zu deu verhältnismäßig wenigen dieser
Bauernsamilien, die seit altersher ein Wappen führten, und zwar sämtlich
einen halben Reichsadler in einem Felde, und verschiedne Zeichen im andern.
Sie behaupten, den halben Reichsadler gemeinsam von Barbarossa erhalten
zu haben, der ihnen damit eine Art Halbadel zugesprochen habe. Die Legende
bezeichnet wenigstens das Selbstgefühl des Bauernstandes.
Das Allmersschc Heimathdorf Rechtcnfleth ist ein echtes Marschdvrf. Es
besteht uur aus etwa einem Dutzend Höfen, sämtlich strohgedeckt, und etliche»
Hänflings- oder Heuerlings- (d. h. Tagelöhner-) Häuschen. Alle ducken sich
hinter den Deich, der ihnen und deu Bäumen der nicht allzu großen Gärten
auch gegen den Sturm etwas Schutz gewährt. Alle haben hinter dem Haupt-
eingang eine breite, lange Lehmdielc, beiderseits mit Viehständen. Im Sommer
stehn sie meist leer, denn Kühe und Pferde gehn ans die Weide. Die Stallung
ist gar nicht groß genug für die vielen Häupter, die im Sommer aufgezogen
und gemästet werden. Im Herbst kommen Viehhändler und holen weg, was
der Bauer nicht überwintern kann. Die Aufzucht vou Pferden und Rindern,
die Mästung von Ochsen und Kühen sind das wirtschaftliche Rückgrat für
die Landwirtschaft der Marschen. Duzn bieten sich ihr die unabsehbaren Weide-
flächcn dar, strotzend von grünem Gras und gelben Butterblumen. Weithin
dehnt sich der Horizont, hier und da ein fernes Dorf am Deich liegend, ans
der andern Seite der „Geest"rücken, d. h. der Rand des unfruchtbaren dilu¬
vialen Sandes. Der Himmel spaunt einen weiten Bogen, und Wolken von
einer das Auge des Landschaftsmalers in Entzücken setzenden Martigkcit
kommen majestätisch herangezogen und entschwinden allgemach dem Auge. In
all dem Sonnenglanz und Lerchenjubel — dieser und ein fernes Knhgebrüll
ist der einzige Toi?, der die vollkommne Stille unterbricht —, in dem feinen
Spiel des Lichts und der Farbe ist das eine Szenerie, deren Schönheit dem
neuen Ankömmling nicht gleich aufgeht, die man aber bei nähern Eindringen
Wohl zu würdigen weiß. Man begreift auch, wie der Marschbewvhuer, der
niederdeutsche überhaupt, an dieser Landschaft hängt — und an dein Dichter,
der ihn so oft zur Liebe für die Heimat ermahnt hat.
Hermann Allmers wurde am 11. Februar 1821 geboren: das einzige
Kind seiner Eltern. Er kam so zart auf die Welt, daß niemand glaubte, er
werde am Leben bleiben. Dazu war sein Gesicht durch eine Hasenscharte sehr
entstellt; man glaubte, es liege ein Unglückskind in den Windeln, und doch
stand eine gütige Fee an seiner Wiege, die ihm verlieh, daß ihm sein Unglück
zum Glück werden solle. Statt eines Marschcnbauers wurde ein Dichter aus
ihm; statt eines Menschenfeindes eine Natur voll warmer Freundschaft und
Hingebung, voll Güte und Opferfühigkeit; statt eines menschengemiednen Gries¬
grams ein von Volksliede umfluteter Optimist. Für die Dorfschule schien er
wegen seiner Zartheit und des Mundschadens ungeeignet. Man gab ihm
einen Hauslehrer, und später kam er zu einem Bremer Naturwisseuschafter,
dem Konservator der Museumssammlungen, ins Haus. Seine naturwissen¬
schaftlichen Kenntnisse sind ein wichtiger Zug in seinem Wesen. Er hat sie
später auf den Universitäten von Jena, Berlin und München vervollständigt,
sie waren wesentlich für sein „Marschenbuch."
Schon in seiner Jünglingszeit entstanden manche hübsche Lieder. Doch
sollten Reisen nach Mittel- und Süddeutschland bis nach Oberitalien seinen
geistigen Horizont sehr erweitern und auch das Samenkorn des Genusses und
der Freude an der bildenden Kunst in sein Gemüt legen, das hernach so reiche
Frucht trug. Im Jahre 1845 heimgekehrt beteiligte sich Allmers schon am
litterarischen Leben in Bremen. Aufsätze und Gedichte erschienen, auch der
Prächtige Stndentengesang „Dort Saaleck, hier die Rudelsbnrg" entstammt
schon dieser Zeit. Die politische Bewegung von 18-18 fand den stark für
Freiheit und Recht und in Teilnahme für die Unbegüterten und Bedrücktet:
erglühenden Mann im Lager der äußersten Linken. Noch jahrzehntelang
nachher grollte er, die Professoren hätten die Schuld, daß der Frühling nicht
zum Sommer geworden sei. Er selbst widmete sich mit vollem Eifer den An¬
gelegenheiten seiner Gemeinde und wurde Deichhauptmann.
Mehr und mehr reifte in ihm der Entschluß, seine Marschenheimat der
Welt in einem eignen Buche zu schildern. Er machte eingehendere Studien,
geschichtliche, „volkskundliche" (das Wort gab es damals noch nicht, aber diese
Wissenschaft verdankt Allmers wirklich viel), auch was das wirtschaftliche Leben
der Marschenbewohner angeht. Er durchreiste das ganze Gebiet, und da er
die allgemeinen Kenntnisse hierfür gleichsam mit der Muttermilch eingesogen
hatte, so faud er überall das Spezielle und Charakteristische schnell heraus.
Er hatte einen merkwürdig offnen Blick dafür. Daraus erwuchs dann sein
»Marschenbuch,"*) das ihn zuerst in weiten Kreisen bekannt gemacht hat. Es
ist eine der frühsten Leistungen heimatlicher Volkskunde, anch eine der besten,
wenn man die eigentliche Geschichte ausscheidet, denn für Quellenkritik hatte
er doch nicht genügende Vorkenntnisse. Ohne lehrhaft und systematisch zu sein,
vielmehr in freier, man kann wohl sagen künstlerischer Form schildert Allmers
Land und Leute der Marschen, ihr alltägliches Ringen mit den Hochwasser¬
gefahren, die furchtbaren Deichbruchkatastrophen, das Erwerbsleben des reichen
Marschbauern, des Stromfischers, des Tagelöhners usw,, das Gemütsleben,
die Häuslichkeit, die Sitten, die Pflanzen- und Tierwelt. Was heutzutage
einen so breiten (zu breiten) Raum in gewissen Zweigen der Litteratur ein¬
nimmt, der Kultus der engsten Heimat, das tritt uus in den hingebungsvollen
Schilderungen des Marschenbnchs in liebenswürdigster Weise entgegen. Es
war ein „Erfolg." Allmers war ein berühmter Mann. Und der Erfolg be¬
hauptete sich, wie wiederholte Auflage» des Buchs beweisen.
Doch in seinem Autor lebte noch ganz etwas andres als Heimatkunde.
Zunächst ein Dichter. Allerdings hat Allmers am kastalischen Quell nnr
genippt. Sehr produktiv ist er niemals gewesen, und daß auch nur einzelne
seiner Schöpfungen unsterblich seien, ist wenig wahrscheinlich. Aber wem auch
nnr einige Tropfen des olympischen Wassers über die Lippen gelaufen sind,
in dem leuchtet doch gelegentlich die poetische Empfindung so stark auf, das;
daneben alle matte, angelernte Kunst der Versifexe verblaßt. Die Liebe hat
sein Gemüt wenig gestört, und er hatte deshalb keinen Grund, sich mit Liebes¬
liedern an ihr zu rächen. Aber er hat wundervolle Balladen gemacht; die
des Thorbarden Bernolcf, der zum Christentum übergetreten war und im
Gewitter auf dein Hüneustein in weiter Heide seinen alten Heidengvtt wieder
zu erkennen glaubt, ihn mit einer schwungvollen Ode ansinge und vom Blitz¬
strahl getroffen zu Boden stürzt, ist doch eine wahre Perle echter Balladen¬
kunst. Stark ausgebildet war des Dichters Sinn für das Sentenziöse, sei es
in eignen Sprüchen, sei es in größerm Zusammenhange. Den alten friesischen
Spruch: „Lieber tot als Sklav," der ihn, wenn er darauf zu reden kam, bis
zur höchsten Begeistrung hinreißen konnte, hat er wiederholt behandelt.
Es war in den fünfziger Jahren, in der vollsten Reaktion nach Olmütz,
als Allmers so sang. Mächtig ergriff ihn auch der tragische Heldenknmpf der
Stedinger, seiner friesischen Stammesgenossen ant andern Weserufer in der
Mitte des dreizehnten Jahrhunderts. Die Dominikaner waren ins Land ge¬
kommen, um überall der Ketzerei nachzuspüren und die unbedingte Herrschaft
der Kirche herzustellen. Wegen einer lächerlichen Lappalie wurde der Kirchen¬
bann über das Stediugerland verhängt, und als die trotzigen Bauern noch
nicht nachgaben, vom Erzbischof von Bremen der Kreuzzug gegen sie gepredigt.
Nun witterten die Geier Aas. Das elendste Gesindel an Rittern und Mannen,
schon im voraus von der Kirche sündenfrei gesprochen, stellte sich dem Bischof
und den dominikanischen Eiferern zur Verfügung. Die benachbarten Grafen
waren auch dabei, um unter dein Segensspruch der Kirche freies Bciueruland
zu rauben. Dritthalb Jahre erwehrten sich die „Ketzer" in ihrem nassen, von
Gräben durchschnittnen Lande der fanatisierten Scharen. Am 27. Mai 1234
erlagen sie diesen, als sie auf eiuer Schiffbrücke den Fluß überschritten hatten.
Ein gräßliches Morden und Rauben begann; Frauen und Kinder wurden nicht
geschont; ein großer Teil der Bevölkerung wurde ausgerottet. Noch heute
kann man an diese That nicht denken, ohne das; sich einem vor Abscheu und
Empörung das Herz im Leibe umwendet. Das Ereignis ist mehrfach von
Dichtern behandelt worden, keinem ist es recht geglückt, ein Epos daraus zu
machen; auch Allmers uicht. Er kam auf deu sonderbaren Gedanken, die
Reden in plattdeutscher Sprache wiederzugeben, den verbindenden Text aber
hochdeutsch. Das floß und schmolz aber nicht recht zusammen. Wir geben
eine Probe.
Allmers hat sich selbst nicht getäuscht, daß die zweierlei Mundart doch ans
die Dauer uicht zu ertragen sei. Er hat das Epos nie vollendet, auch nie
den Versuch gemacht, es einheitlich umzugießen. Vielleicht ist ihm auch zum
Bewußtsein gekommen, daß ihm die Kraft, ein Epos im großen zu gestalten,
uicht ausreichend gegeben war.
Auch wenn er die Heimat ansinge, bleibt er mit seineu Gedanke» noch
in dein Bannkreise, den wir schon kennen. Prächtige Worte stehn ihm dafür
zu Gebote:
In dem Dichter Allmers steckte nicht bloß der Heimatdichter, sondern
namentlich auch ein Freidenker, ein Stück von einem Philosophen. Der
radikale Flügel des Hegelianismus hat auf ihn gewirkt, namentlich Arnold
Ruge; wenn ich nicht irre, hat er diesen 1849 vor seinen Verfolgern ver¬
argen gehalten, doch bin ich meiner Sache nicht sicher. Ebenso bedeutsam
'"ar die Freundschaft, die er im Winter 1858/59 in Rom mit dem Natur¬
forscher Ernst Hneckel schloß. Er kam sehr bald dazu, die Kirche völlig zu
legieren. Er geriet durch seine gänzlich sreigeistigen Gedichte, Schriften und
Handlungen schon in den fünfziger Jahren mit der intolerant orthodoxen
K'rede in Konflikt. Sie weigerte ihm das Abendmahl, was ihm natürlich
wenig ausmachte; bei seiner Neigung zu theatralischen Wesen „gab er sich
selbst das Abendmahl," was unter gewissen Bedingungen kirchenrechtlich zu¬
lässig sein soll. Er bekannte sich nicht etwa zu dem damals aufstrebende»
liberalen Protestantenverein, sondern machte, obwohl seiue Mutter eine
Pastorentochter war, reinen Schnitt. Darin hat er sich nie beirren lassen, so
viele Anstrengungen auch gemacht wurden, ihn wieder in den Schoß der
Kirche zurückzuführen. In der „Weihe eiues junge» Erdenbürgers" machte er
den Versuch, ungläubigen Familienkreisen einen Ersatz für die Taufe zu geben,
ein Versuch, der natürlich fehlschlagen mußte.
In den fünfziger und sechziger Jahren erregte diese Haltung Aufsehen.
Die politische und die geistige Entwicklung drängten die Gemüter in eine
andre Richtung. Das hat Allmers verkannt, als er noch 1889 mit derselbe»
Emanzipation von der Vormundschaft der Kirche Effekt zu machen glaubte.
Er gab ein Bündchen Gedichte „Fromm und frei" heraus, die aber ziemlich
spurlos vorübergingen. Zur Kennzeichnung seiner Ansichten geben wir daraus
ein Verslein wieder:
Ehe ich eine andre Seite der poetischen Natur unsers Freundes berühre,
muß ich etwas weiter aushole». Er war »iemals ein einseitiger Romantiker,
Germanist und Lobsüuger der Heimat. Schon in seinem ersten Münchner
Aufenthalt war er zu der bildenden Kunst in ein vertrautes Verhältnis ge¬
treten. Er umspannte alle ihre Perioden, uur hörte sein Interesse auf, wen»
man an die allerhöchsten Gipfel kam. Aber das Emporstreben zog ihn mächtig
an. An den kindlichen Ausdrucksmitteln, z. B. den Klobigkeiteu kleiner Kirche»
romanischen Stils, oder byzantinischer Freskomalereien, an den langen schmal-
schultrigen Gestalten der Gotik, an der Herbigkeit altflorcntinischer Malerei
konnte er ein unbezähmbares Gaudium haben. Und dann ahmte er mit
seinem großartige» mimische» Talent — ausgebildet wahrscheinlich durch seineu
Mnndschaden und die Notwendigkeit, seinen Worten durch Gesten Nachdruck
zu geben — und seiner grotesken Figur den Ausdruck byzantinischer und
gotischer Heiligen in einer Weise nach, daß die anspruchsvollste Gesellschaft
bis zum Bersten lachen mußte. Genug, schon die Antike begeisterte sein der
Begeisterung so sehr fähiges Gemüt. Zeitweilig lebte und webte er in ihr.
Dann schwelgte er wieder in andern Stilen. Für die ganze Kunstgeschichte
entbrannte sein Herz. Als er 1858 zum viertenmal in München weilte, ent¬
schloß er sich, über die Alpen zu gehn und einen Winter ii? Italien zu ver¬
weilen. Wenn mau ihn noch in spätern Jahren von Italien, von seinen
Lieblingsstüdten Verona, Bologna, Rom schwärmen hörte, so konnte man
über die tiefen, glühenden Eindrücke staunen. Und wie er damals auf der
Höhe seiner geselligen Talente stand, so fand er auch in Rom die beste und
dankbarste Gesellschaft. Er war in stetiger Verbindung mit seinem Freunde
Ernst Haeckel, dein Maler Willers und dem Bildhauer Kropp, dem Philo¬
logen Detlefsen und viele« andern. Er war auch selbst Mitbegründer der
berühmten Colonnagcsellschaft.
Nach seiner Heimkehr verfaßte er nach Erinnerungen und Aufzeichnungen
das Buch, das ihn am meisten bekannt gemacht hat: Römische Schlender¬
tage, das 1890 schon die neunte Auflage erlebt hat, was bei der Breite der
deutschen Litteratur über Italien viel sagen will. Es ist so recht ein Buch
für den behaglich genießenden Romfahrer, der gern allerlei lesen will, was
auf gründlicher Kenntnis beruht, ihn selber aber uicht mit Lebhaftigkeit und
Systematik heimsucht. Allmers schlendert in Rom umher, und bei seiner
staunenswerten Empfänglichkeit sieht er viel mehr als andre Menschen. Und
er sieht das, was jeden interessiert, keine trocknen fachmännischer Dinge. Ohne
gesuchte Witzcreißerei weiß er mit äußerster Behaglichkeit über das alte Rom,
das Rom des Mittelalters und der Renaissance, sowie das zeitgenössische zu
plaudern. Er geht mit uns durch Natur und Kunst, durch die Ruinen der
Cäsarcnpaläste, die Katakomben, das Ghetto, die Paläste und Villen, die
großen und die kleinen Kirchen, die Volksbelustigungen und Friedhöfe. Und
manches Thema gestaltet sich ihm dabei zu einem prächtigen, stimmungsvollen
Gedicht. Der Marschendichter sang nicht bloß von Deichen und Strohdächern,
von der Stcdinger Kampf und der Freiheit des Denkens, auch die klassische
Kunst, die Romantik der Landschaft, das italienische Volksleben hatten es ihm
angethan.
Ja er wagte einen noch viel kühnem Sprung. Goethe hat in seiner
Italienischen Reise die Skizze zu einem Drama „Elektra" hinterlassen. Orestes
und Iphigenia kommen aus Tauris heim und erliegen beinahe dem fürchter¬
lichen Mordbeil des Atridenhanses, das die leidenschaftliche Elektra, die die
Geschwister uicht erkennt, gegen sie schwingt. Im Augenblick der höchsten
Katastrophe löst sich der Knoten. Es ist Allmers vollkommen gelungen, sich
in den Geist der Goethischen Auffassung von der Antike hineinzufinden. Aber
weiter kommt er nicht, und damit ist ihm das Urteil gesprochen. Man setze
dieses nachempfnndnc Werk der Ursprünglichkeit der Iphigenia an die Seite,
und die Unermeßlichkeit des Abstands ist dargethan. Es ist einigemale dem
Dichter zu Ehren aufgeführt worden, ein weiteres Leben führt es nicht.
Damit ist der nicht große Kreis der wichtigen Allmersschen Schriften um¬
schrieben. Denn was draußen liegt („Harro Harresen, eine Alpen- und
Mnrscheugeschichte," ferner „Hauptmann Böse, ein Buch für das deutsche Volk"
und einige Kleinigkeiten) bedarf keiner eingehenden Würdigung. Man wird
vielleicht staunen, daß damit ein Mann dieses Maß von Popularität errungen
hat, das ihm zuletzt eigen war.
Es war der Mensch Hermann Allmers, der aus seinen Werken heraus
lebte und leuchtete. Darin liegt das ganze Geheimnis. Einen Punkt haben
Wir schon im Eingang berührt: er war der Priester des Heimatkultus, eine
Art Patriarch der ganzen Gegend. Aber das wurde er erst sehr spät, eigene-
^es erst auf Grund seines Ruhmes. Die Anfänge seiner Popularität wurzeln
ganz und gar nicht in dem Verständnis der niederdeutschen Bauern und Klein¬
bürger für ihn. Das kam erst ganz spät. Wenn man ein Jahr setzen soll
— natürlich sing die Sache nicht eines Tags plötzlich an —, so kann man
vielleicht 1880 nennen. Aber schon 1860 war Allmers der erklärte Liebling
geistig hochstehender Kreise, die keinerlei Heimatkult betrieben, schon weil sie
aus allen Weltgegenden zusammengewürfelt waren. Außer der Colonna-
gesellschaft in Rom nennen wir das „Krokodil" in München. Das waren
Leute, die sämtlich mit der Zunge fertig werden konnten, und die zu Allmers
tiefe Zuneigung faßten, nicht weil er aus einem strohgedeckten Bauernhause
stammte, souderu weil er an Humor in der Gesellschaft, an sprühendem Geist
bei herüber und hinüber blitzendem Gespräch alle übertraf. Er hatte ein gro߬
artiges schauspielerisches Talent. Wäre er bei seiner Begabung körperlich
normal gewesen, er wäre ein Meteor am Theaterhimmel geworden. Das
Groteske in seiner Figur, der hünenhafte Mensch mit dem großen Kopf, dem
spärlichen hellgelben Haupthaar, dein abenteuerlich gebildeten Munde, die schwer
verständliche Sprache, das alles trug viel dazu bei, die Empfänglichkeit des
Publikums zu wecken. Einst trat er mit einer Dame in den schon überfüllten
Hofbrüukeller in München. In seiner lebhaften, lauten Weise sing er an zu
sprechen und zu gestikulieren. Daraus wurde für einige Minuten der Hofbräu-
kcller still — wer die Verhältnisse kennt, weiß danach, welches Staunen der
fremde Gast erweckt haben muß. Seine hellen Augen waren nur klein, aber
wer darin zu lesen verstand, fühlte die Geistesfunken, die daraus hervorblitzten.
Und nun wenn er sang! Bei ernsten inbrünstigen Liedern war er tief er¬
griffen. Am größten war er bei Ulkliedern, z. B. dein berühmten „Wer war
jemals wohl so frech, wie der Bürgermeister Thebens," oder „Es Wareneinmal
zwei Knaben, die hatten ein Mädchen so lieb." Es giebt Leute, die können
mit Hand und Mund und Fuß und Ellenbogen ganze Orchesterstücke mit ihren
Klangfarben aufführen. Allmers konnte derartiges in der Mimik leisten. Im
Bürgermeister Thebens z> B. sah man alle Beteiligten aufmarschieren, erst den
„niemand, der Böses dacht," dann „kam ein Mann im grauen Mantel," dann
den erst „noch etwas dämlich nnssehenden," ferner den tief erschrocknen, hernach
aufatmenden König, den gepackten Wüterich, die leitenden Gendarmen, den nicht
in Berlin befindlichen Duncker usw. Es hat wohl niemand gegeben, der sich
der überwältigenden Komik hätte entziehn können, niemand, der den Vortrag
nicht gern noch einmal gehört Hütte, und wenn er ihn noch so oft gehört
hatte. Jahrzehnte sind vergangen, seit er, zum letztenmal den Bitten seiner
Freunde nachgebend, das Lied gesungen hat.
Hermann Allmers war eine Persönlichkeit. Im Leben wirkte er viel
mehr als seinen Schriften je beschicken sein wird, wo er nicht mehr als die
Persönlichkeit von Fleisch und Blut hinter ihnen steht. Auch in seiner Ge¬
sinnung war er ganz und gar er selbst. Seine Gutmütigkeit artete in Charakter¬
schwäche aus. Sein väterliches Erbe war ein sogar für grosMnerliche Ver-
Hältnisse ansehnliches Vermögen. Eine Weide nach der andern verkaufte er,
um in Not geratnm Freunden zu helfen. Von seinen ihm geistig gleich¬
stehenden Künstler- und Schriftstellerfrennden hat niemals einer seine Mild¬
thätigkeit in Anspruch genommen, geschweige denn mißbraucht. Aber bis zu
seinem hohen Alter hin war er das Opfer von Schmarotzern, die seine Schwäche
ausbeuteten. Er selbst hatte nicht die Kraft, solche Leute abzuschütteln; noch
in den letzten Jahren bedürfte es großer Anstrengung von Verwandten, solches
Gelichter unschädlich zu machen. Dem Bittenden versagte er nie die Gabe.
So schmolz sein Vermögen stark zusammen.
Unverdrossen gab er sich hin, wenn er einem Freunde nützen konnte oder
nützen zu können glaubte. Dann lief er zu Münstern und Millionären, zu
Behörden und zu Privatleuten, um durch seinen Einfluß irgend einem „wackern
Kerl" (das war fein stehender Ausdruck) vorwärts und zu der allemal „wohl¬
verdienten" Anerkennung zu verhelfen. Und es war feine höchste Wonne,
ein wahrhaft reines Herzensvergnügen, wenn er einem Manne von wirklichem
Nutzen gewesen war. Damit war eine Charakterschwäche nahe verbunden. Er
sonnte sich so sehr in dem Glänze, der Helfer verkannter Talente oder sonst
„wackrer junger Kerle" zu sein, daß er uicht gerecht und ehrlich dem Hilfe¬
suchenden sagte, wie er über seine Aussichten, seine Talente dachte, sondern
ihm ohne weiteres ein glänzendes Zukunftsbild ausmalte und von vornherein
in Begeistrung geriet über die durchschlagende Erfolge, die sein neuer Freund
einst erringen werde. Und wenn das Talentchen noch so klein war, Allmers
konnte schwelgen in dein Traum von dem Siegeszuge, deu es machen werde,
und von dem Glänze, der auf ihn, als den Förderer, fallen werde. Die Wirkung
auf schüchterne junge Leute kann man sich denken. Nicht wenige sind mit
ganz andern Ansichten über sich selbst aus seinem Hause weggegangen, als sie
gekommen waren. Er blieb ihr Abgott. Seine Popularität wuchs damit
unermeßlich. Ob die kleinen Talente wirklich Ursache hatten, ihm dankbar zu
sein, wenn er sie veranlaßte, auf einen philisterhaften bürgerlichen Beruf zu ver¬
zichten und der Kunst oder der Litteratur nachzugehn, ist eine andre Sache.
Wir können von dem Manne nicht scheiden, ohne seines Hauses, seines
,,Marschcnhofs" zu gedenken. Das väterliche Haus war wie alle der Gegend:
vorn die lange Diele, zu beiden Seiten Viehstände; quer davor die Wohn¬
diele mit den Schlaf- und Wohnzimmern, alles zu ebner Erde; der Herd mit
offnem Rauchfang mitten in der Wohndiele. Das war ihm zu eng. Er
baute ein zweites Stockwerk, legte den Herd in eine eigne Küche und schuf
dadurch die Wvhndiele zur „Halle" um. Hier an den eichengetäfelten Wänden
hatte er sein „Schartekcum," alte Geräte, Waffen, Wappen, ein Harmonium,
auf dein er gelegentlich, namentlich am Weihnachtsabend vor seinem Gesinde,
musizierte. Auch in den gewonnenen neuen Zimmern hatte er Sammlungen,
die sich auf feine Reisen bezogen, Gipsabgüsse nach Antiken, Mineralien,
Zeichnungen, Photographien, Stiche usw. In seinem gastfreien Hause ging es
von guten Freunden aus und ein, manche wohnten längere Zeit bei ihm. Die
Maler verewigten sich dort auf ihre Weise. Fr. von Nürnberg nud Otto
Knille zeichneten auf Wandkartons die Geschichte der Marschen von der Römer-
landung bis zur Ochsenausfuhr. Arthur Fitger malte im „Saal" einen anti¬
kisierenden Plafond und über dem Kamin eine Frau Saga. Der Marschenhof
mit seinen Sammlungen soll nnn zum Besten der Bevölkerung der Gegeud
erhalten werden. Auf dem Deich vor seinem Hause hat er eine Nische mit
einem Mosaikbildnis Karls des Großen aufgestellt. Es war sein Lieblings¬
gedanke, daß der Frankenkönig bei seinem Heimatsdorfe die Weser überschritten
habe. Nach den Chronisten soll das bei Alisne geschehn sein; Nechtenfleth
gegenüber liegt ein altes Dorf Alsen; darin erblickte er Alisne. Er selbst
mußte freilich später die Berechtigung von Zweifeln zugestehn, denn in dem
damals noch uneingedeichten Lande konnte kaum ein „Dorf Alisne" liegen.
Seinen mildthätigen Sinn bekundete Allmers noch in seinem Testament, denn
von seinem sehr zusammengeschmolzuen Vermögen sind noch Legate für die
Bedürftigen Rechtenflcths ausgesetzt.
Diese werden den Mann mit dem überquellend warmen Herzen nie ver¬
gessen; der friesische Stamm wird in ihm immer seinen Herold sehen; der
Same seiner Schriften wird wohl nie üppig ins Kraut schießen, aber auch nie
untergehn. Untergehn muß das, was von dem lebendigen Menschen untrennbar
war, und was seine Freunde am allermeisten an ihm schützten: der geist¬
sprühende Mann, der bezaubernde Gesellschafter, der aus Ulk und Grandezza
> er von dem Gefühle der eignen Wichtigkeit, Klugheit oder Schön¬
heit so durchdrungen ist, daß sich die von ihm dabei erlittne Einbuße
an geistigem Gleichgewicht eines äußerlich im Ausdruck des Gesichts,
in der Rede, im Gang oder in der Haltung kundgiebt, ist geschwollen.
Geschwollensein ist demnach eine Störung des geistigen Gleichgewichts,
! ein Pathos, dem jeder ausgesetzt ist; wir werden jedoch als besondre
Abarten chronisches, berufsmäßiges und dekoratives Geschwollensein unterscheiden
müssen.
Was den Ausdruck an sich anlangt, so halten wir ihn bis auf weiteres für
hyperbolisch, da wir trotz aufmerksamer Beobachtung ein körperliches Anschwellen
der Befallnen in keinem Falle wahrgenommen haben. Die verminderte Grazie und
Beweglichkeit, die das Geschwvllensein der Natur der Sache nach im Gefolge hat,
können leicht das Vvlksauge getäuscht haben und ihm als körperliches Anschwellen
erschienen sein. Zudem liegt es auf der Hand, daß eupeptische, behäbige, mit
sich selbst und mit der Welt zufriedne Leute, die gut bei Leibe zu sein Pflegen,
und zu denen schon Julius Cäsar berechtigtes Vertrauen hatte, dem Geschwollensein
mehr ausgesetzt sind als magere, grätige Geschöpfe, die obendrein — ein Raffinement
von Selbstbeherrschung und Tücke — es verstehn sollen, in heimlicher, das heißt
äußerlich nicht wahrnehmbarer Weise geschwollen zu sein. Da demnach die äußern
Symptome des Geschwvlleuseins leicht irre führen können, und man bei oberfläch¬
licher Beobachtung einen Mann für „geschwollen" halten könnte, dessen Beweglich¬
keit nur durch zu schweres Blut oder Fettleibigkeit beeinträchtigt wird, so empfiehlt
es sich, das Wort „geschwollen" mit dem Hilfszeitwort sein nur zu gebrauchen,
wenn man von sich spricht. Es ist also unbedenklich, zu sagen: „Ich war natürlich
nicht wenig geschwollen," während man, wenn es sich um den Herrn Professor X
handelt, gutthnn wird, zu sagen: Der Herr Professor X scheint mir ein wenig
geschwollen. Über sich selbst kann man urteilen; einem Professor sieht man nicht
in den Magen.
Zu den Obliegenheiten, die sich die Hüter unsers deutschen Sprachschatzes
zurechtgelegt haben, gehört auch die, daß sie Vorkommendenfalls dem einen oder
dem untern Worte, wie dies ja auch die Apotheker in ähnlicher Weise mit ihren
Tränkchen, Pulvern und Salben thun, ein Zettelchen aufkleben, woraus der Gläubige
ersieht, daß es ihrer Überzeugung nach familiär, trivial, volkstümlich, veraltet,
preziös, burschikos, vulgär, gemein oder schlimmeres ist. In Wörterbüchern er¬
warten uns in dieser Beziehung die seltsamsten Überraschungen. So ist man bis¬
weilen bei englisch-deutschen Interpreten dieser Art überrascht, englische Worte als
„gemein" oder „burschikos" gekennzeichnet zu finden, die man den Lippen authen-
tischer englischer Herzoginnen hat entschweben sehen, und die sich dabei — wir
meinen, wie sich das ohnehin aus der syntaktischen Fügung des Satzes ergiebt, die
Worte und nicht die Herzoginnen — weder schüchtern noch verlegen gebärdeten.
Dos kann nnr darin seinen Grund haben, daß entweder der Verkehr englischer
Herzoginnen mit englisch-deutschen Wörterbüchern und der der Verfasser englisch-
deutscher Wörterbücher mit englischen Herzoginnen kein besonders lebhafter ist, oder
daß das Avancement des einen oder des andern Slnngwortes zu einer der „Gesell¬
schaft" ohne jeden Anstoß geläufigen Vokabel der Redaktion nicht rechtzeitig gemeldet
Wird. Wir wissen nicht, wie unsre Autoritäten über das Wort „geschwollen" in der
von uns hier zu Gründe gelegten Bedeutung denken; es ist uus auch um deswillen
gleichgiltig, weil die Sache besteht, und sie deshalb auch, wie jedes anständige Kind,
einen Namen haben muß. Ein sonstiges, sich mit der Sache wirklich denkendes
Äquivalent ist uns aber im Deutschen nicht bekannt. Die Worte eitel, eingebildet,
hochnäsig, auf dem Kamele, bedeuten alle etwas andres, auch ist man bekanntlich
in vielen Fällen geschwollen, ohne deshalb notwendigerweise zugleich „gehoben,"
„gekitzelt," „gekratzt" oder „aufgeblasen" zu sei«.
Der Rabe, dem der Fuchs den Käse abschwindelte, fühlte sich geschmeichelt,
„burschikos" ausgedrückt, er fühlte sich gekratzt, und man muß billigerweise ein¬
räumen, daß man sich an seiner Stelle ebenfalls gekratzt gefühlt hätte, da Herr
Reineke seine Sache sehr geschickt angefangen hatte. Aber „geschwollen" war der
Rabe nicht: das geht ans mehr als einem Umstände hervor. Einmal sind dem
Geschwollensein zwar Gimpel, Papageien, Täubriche, alte Truthähne und sogar
minderbefähigte Eulen ausgesetzt, aber nicht Raben; dann erfahren wir, daß der
Umschmeichelte einen ganzen Käse, un kromlixo im Schnabel hatte, und es liegt auf
der Hand, daß er ihn, wenn es sich um Gcschwollensein hätte handeln sollen, bei
der ersten Anwandlung davon vornehm in Papier gewickelt und in die Tasche ge¬
steckt hätte; endlich wurde die Katastrophe dadurch herbeigeführt, daß der Rabe
etwas that, was man im geschwollnen Zustande nnr unter Sangcsbrüdern thut: er
schickte sich an, zu singen. Es singt oder schlägt das Rad mit dem Pfau um die
Wette, wer sich „gehoben" oder „gekratzt" fühlt; wer geschwollen ist, schweigt,
schließt oder rollt die Augen, verliert die frühere Leichtigkeit und Lebhaftigkeit der
Bewegungen, fäugt an zu posieren, verfällt in Starrkrampf; man könnte ihn für
hypnotisiert halten oder mit der Verdauung von Aalpastete beschäftigt.
Aufgeblasen war der Frosch, als er auf den unglücklichen Gedanken gekommen
war, es im Wege künstlichen Sichaufblähens dem Ochsen an körperlichem Volumen
gleichzuthun. Der Titel der Fabel bezeichnet ihn ausdrücklich als In, Arsnonillo qu
voulait Kg lAiro -uissi xrosso guo lo twät. Ein solches Unterfangen bewies leider
zu deutlich, daß es dem als tragischer Held auftretenden Frosch an Bescheiden¬
heit und an Einsicht, also überhaupt an Sophrvshue fehlte. Er hätte im Vollgefühl
seiner Schönheit und Wichtigkeit geschwollen sein können, das hätte nur die Elasti-
zität seiner Sprünge und die natürliche Anmut seiner Haltung beeinträchtigt, zu
einem tragischen Ende hätte die Geschwollenheit, auch wenn sie chronisch geworden
wäre, nicht geführt. Die andern Frösche mochten ihn als eitel und eingebildet
verspottet haben, und in seine Froschkarriere könnte durch das ihm vorschwebende,
leider unerreichbare Ideal des Überfrosches ein Mellau gefallen sein: geplatzt wäre
er ebensowenig wie eine Menge Leute, die wir jahraus jahrein geschwollen einher-
gehu sehen, und die diese Hhpertrophie des Selbstbewußtseins nicht hindert, ein
methusalemitisches Alter zu erreichen. Der Unterschied zwischen dem Geschwollen¬
sein und dem Sichaufblähen liegt am Tage: Geschwollensein ist ein Zustand, den
man über sich ergehn laßt, ein friedliches Gewährenlassen der Eitelkeit und der
Verblendung, während das, was beim Frosch die Katastrophe herbeiführte, sein rast¬
loser Ehrgeiz war. Lieber Platzen, dachte er, als im Sichaufblähen nachlassen, und
— hier erkennen wir eben das Walten der Moira — er platzte. Das war fatal,
fatal in dem Sinne, daß es der Idee entsprach, die sich ohne Zweifel seine Mit¬
frösche vom Fatum machten.
Um das Geschwollensein in möglichst reiner Form, das heißt ohne Zusatz
andrer Affekte zu beobachten, zieht man einem fünf- bis sechsjährigen Mädchen
Gvldlnferschuhe an, steckt es in ein kurzes, weißes Kleidchen, bindet ihm eine rosa-
seidne, möglichst breite Schärpe um deu Leib, setzt ihm einen Epheukrauz auf und
äußert zu einem der Anwesenden, das; es wie ein kleiner Engel aussehe. Die
Kultur ist in diesem Falle überaus dankbar, der virus wirkt sofort, und der
Schwellungsbazillus kann schon im nächsten Augenblick unter das Mikroskop ge¬
nommen werden. Das Kind giebt sich den Anschein, als habe es von der Engels¬
ähnlichkeit nichts gehört, streckt den Unterleib vor, setzt die Füße einwärts, verrenkt
und verdreht die Glieder, als habe es sich für den höhern Kursus eiues Gummi¬
manns vorzubereiten, und behandelt, solange der virus wirkt, seine Puppe, als wenn
sie eine Peitsche wäre. Wir haben unter solchen Umständen noch andre Symptome
beobachtet, die darauf schließen ließen, daß es dem Kinde zu heiß wurde, oder daß
es sich durch möglichste Beseitigung des Nöckchens noch mehr das Ansehen eines
Engels zu geben glaubte. Aber da dergleichen nur bei besonders lebhaften Kindern
vorkam, so können solche einen ausnahmsweise eintretenden Paroxysmus audeuteude
Erscheinungen um so mehr außer Betracht bleiben, als sich die betreffenden jungen
Damen, wenn man ihnen zwölf bis fünfzehn Jahre später den Thatbestand aucti
uur entfernt vorhielt, sofort in Cobra-Cabölo verwandelten.
Bei einem sechs- bis siebenjährigen Jungen wird das Engelskostüm durch
Uuiformstücke ersetzt. Ein goldig glänzender Pappküraß, ein Helm mit weißem
Roszhaarbusch und ein Miniatnrpallasch haben sosort die gewünschte Wirkung. Auch
der kleine Junge streckt wie das kleine Mädchen den Unterleib vor und setzt die
Füße einwärts, aber die weitem Symptome sind dann verschieden. Der Junge
stampft auf den Boden, nimmt eine Gangart an, die an die eines im Kreuze
lädierten, aber sehr würdevolle» höhern Befehlshabers erinnert, grüßt durch Be¬
rührung des Heims imaginäre Armeekorps und zieht blank. Lieb Vaterland, kannst
ruhig sein.
Wie das kleine Mädchen und der kleine Junge mit dem Gedanken, ein Engel
oder ein kommandierender General zu sein, nicht fertig werden können, so geht es
Erwachsenen mit andern ähnlichen Dingen und Vorstellungen. Für gewisse Menschen
scheint allerdings die Gefahr des Geschwvllenseins kaum, ja vielleicht überhaupt nicht
vorhanden: aber das find Ausnahmen. Entweder liegen ihre Lebensziele so hoch
und so abseits, daß Dinge, auf die der gewöhnliche Mensch Wert legt, für sie nicht
in Frage kommen, oder Teilnahme und Aufopferung für andre haben schon von
frühester Jugend auf jedes übergreifende Selbstgefühl in ihnen erstickt. Sie sind
offenbar das Holz, dessen sich die Vorsehung in den meisten Fällen bedient, wenn
es große Männer oder Heilige zu schnitzen giebt, aber andrerseits zeigt uns die
Geschichte doch auch große Männer, die bisweilen ein wenig, ab und zu sogar sehr
geschwollen sein konnten.
So hatte z. B. Goethe — das können auch seine leidenschaftlichsten Bewundrer
nicht bestreiten — die allerschönsten Anlagen zum Gecken, zum Kleidernarren, zu
jeder Form hochmütiger und rücksichtsloser Eitelkeit, Besondre Arten seiner ent¬
zückendsten Gedichte scheinen ihm im geschwollnen Zustand am besten gelungen zu
sein, auch seine Helden Tasso, Egiuont und Faust sind oft in fast unbequemer Weise
geschwollen. Aber vor dem Fall ins Lächerliche, dem die Geschwollenheit des
weniger begabten Mannes in so bedenklicher Weise ausgesetzt ist, bewahrt Goethe»
und seine Helden die hohe geistige Bedeutung, die unablässig schlichtet, ordnet und
zähmt, und° die es macht, daß einem das ehrbare Dahinschreiten der vor deu Wagen
gespannten Pantherkatzen doppelt edel und verdienstlich erscheint, weil man die
Bestien bei einigen mit urwüchsiger Wildheit und Grazie ausgeführten Sprüngen
hat beobachten können.
Einem vorübergehenden Anfalle von Geschwollenhcit dürfte kaum irgend welche
Pathologische Bedeutung beizumessen sein. Wo er sich einstellt, setzt er zwar natür¬
lich immer eine leichte Befangenheit des Urteils und eine gewisse Eitelkeit voraus,
aber dafür sind wir Menschen. Ganz vorurteilsfrei ist so leicht keiner, und das
Selbstgefühl ist uns auch schwerlich gegeben, damit es leer ausgehe. Weniger
harmlos gestaltet sich die Sache, wenn die Geschwollenheit, wie bet dem Bürger¬
meister von Zaardmn, chronisch wird: Dieses Aug, wie ein Flambeau!
Wir mochten über die chronische Geschwollenheit, die unsre geselligen Zustande
zu dem macht, was sie sind, am liebsten nichts sagen. Es giebt Bilder, die besser
nicht entrollt, Schleier, die besser nicht gelüftet werden. Versehen wir es vielleicht
gleich in den ersten Erziehnngsjahren? Sind der Wunsch und die Überzeugung,
mehr oder besser als dieser und jener zu sein — Triebkräfte, die offenbar der
stalaktirenförmigen Entwicklung unsers gesellige» Lebens zu Grunde liegen —, schuld
darau? Liegt die Veranlassung in der mneisen- und schmeißfliegenartigcn Äber-
fnllnng, die einen zu ersticken droht, sobald man sich einem zu teilenden Gute oder
einem zu genießenden Vergnügen mich mir von weitem zu nähern sucht? Wir
wissen es acht. Sogar die Porträts auf den Ausstellungen sehen aus ihren auf
„apart aussehen" berechneten Rahmen geschwollen auf uns herab, und das Er¬
scheinen der „Anleitung zum imponierender Auftreten" läßt uus hoffen, daß wir
den Gipfel der Erbärmlichkeit um so ziemlich erreicht haben, und daß also der
Augenblick nicht mehr fern ist, wo abermals die großen Wasser erfreuliche Wandlung
bringen werden.
Die berufsmäßige Geschwolleuheit gehört mehr der Vergangenheit an. Prä¬
sidenten, Generale, Duodezfürsten, Professoren, Pastoren, Büttel und Profoße glaubten
damit nur zu thun, was ihres Amtes war. Vielleicht war auch der Gedanke so
übel nicht: es wäre sonst für die Zwecke einer würdevollen „Repräsentation" oft¬
mals kaum mehr übrig geblieben als der liebe Körper, der den Wämsern, Rocken,
Mänteln und Roben als Kleiderstock diente. Konnten jene Jahrhunderte als Zeiten
bezeichnet werden, wo die Regierten nicht viel langten und die Regierenden gar
nichts, so hat sich das, soweit die Regierenden dabei in Frage kommen, erstaunlich
geändert. Je größer der Kreis ist, dem sie vorstehn, um so vorurteilsfreier und
zugänglicher, um so gebildeter und einsichtiger sind sie. Statt ihrer zeigen sich
uns heutzutage die Vertreter des Volks und des Pöbels und diese selbst in einer
berufsmäßige» Geschwollenheit, die deu Reiz jugendlichen Ungestüms und bären¬
hafter Tölpelhaftigkeit für sich hat, »ut die wir auch fürs Auge der schwächlichen,
altmodisch gewordnen suffisance der heutigentags noch vorhandnen, wenig zahl¬
reichen Hofmarschälle Kalb vorziehn.
Und nun endlich die dekorative Geschwvllenheit, die den fürstliche» Leibkutscher,
°en Thürhüter des herrschaftliche» Palais, den Leichenbitter, den militärischen Gra¬
dierten jeden Rangs, den kostümierte» Uttgnr», Türken oder Bergschotten, den
^hnrgierten in, Vierspänner, den Fahnenträger, den Bräutigam, den Jubilar „ziert."
^er getraute sich da etwas von Eitelkeit oder Überschätze» «ebeusächlicher Dinge
zu faseln, wo der Erfolg, die Leistung, das Schauspiel für das Auge so genußreich
siud? Gewisse Zeremonien müßten ja auf dem Flecke abgeschafft werden, wenn es
den dabei beteiligten an dekorativer Geschwollenheit zu gebrechen anfinge. Was
wäre eine Krönung, eine Festpolonaise, eine feierliche Paroleausgabe, eine Zurück¬
bringung der Fahnen und Standarten, ein Einzug des Rektors, der Dekane und
der Professoren, wenn dabei der Kern der Koryphäen aufhörte, dekorativ geschwollen
zu sein? Wir haben Männer bei solchen Gelegenheiten agieren sehen, die leider
nicht an das, was vor sich ging, „glaubten," denen in der That auch die ganze
Sache und die gesamte Mitwelt kunpp bis an die Ellbogen ging: eine Augenweide
war das demungeachtet uicht, und der dekorative Kreisdirektor, wenn er „mit
Schimmeln" gefahren gekommen war und, am obern Ende des grünen Tisches
sitzend, uns alle beruhigte, indem er erklärte, er sei beruhigt, war für den ooux
et'wil doch noch ein andrer Mann. Es wäre schade, wenn dekorative Geschwollen¬
heit aus der Mode käme. Was dem Auge heutzutage bei festlichen Gelegenheiten
geboten wird, ist ohnehin mager genug. Was soll aus der Welt denn noch werden,
ir müssen noch einmal zum Kirschberg und zum patriotischen Konzert
zurückkehren, denn wir haben da eine Ecke außer acht gelassen, in
der etwas nicht unwichtiges geschah, oder sich wenigstens vorbereitete.
Wir haben schon erzählt, daß sich Lydia und Ellen an einem Tisch
im Hintergrunde niedergelassen hatten, Ellen einfach und nett wie
immer, Lydia hochelegant gekleidet. Sie waren nicht allein ge¬
blieben; einige Töchter von Holzweißiger Patrioten hatten auf freundliche Ein¬
ladung der jungen Mädchen bei ihnen Platz genommen, aber es War nicht recht
zur Annäherung zwischen beiden Parteien gekommen. Die „Ökonomentöchter"
unterhielten sich vom letzten Ökonomenballe in Braunfels, und was sie da für
Kleider angehabt hätten, und vom nächsten Ökonomenballe, und was sie da für
Kleider einziehn würden. Sie sprachen sehr angelegentlich vom jungen Adlung in
Siebendorf, und wieviel Morgen Land der einmal von seinem Vater erben werde,
und was seine Tante für eine Frau sei, und wieviel ihr Gut wert sei; und vom
jungen Transfeld in Rodesheim, und welchen Mädchen der schon den Hof gemacht
habe, und wem er gegenwärtig den Hof mache; und daß Franz Ritter in Asse-
born nächstens heiraten werde, und daß seiue Braut einen ganz unvernünftigen
Aufwand mache. Und dann steckten sie die Köpfe zusammen und machten Be¬
merkungen über die jungen anwesenden Herren in ihren chausseestcmbfarbnen Anzügen
und mit ihren roten, frischwaschnen Gesichtern, die da herumstanden und, die Zigarre
im Munde, den Himmel anstaunten, als gebe es keine Mädchen, weder in der
Welt überhaupt, noch im besondern ans dem Kirschberg. Das war aber pure Ver¬
stellung.
So blieb auch für Ellen und Lydia nichts übrig, als gleichfalls die Köpfe
zusammenzustecken und sich zu mokieren. Lydia war sehr übermütig, und Elle»
bemühte sich gleichfalls, heiter zu sein, es kam aber nicht recht natürlich heraus,
und es war so, wie wenn jemand ans dem Dache eine bunte Fahne heraussteckt,
aber drinnen im Hause sieht es trübselig aus.
Sieh mal unsern Doktor Olbrich, sagte Lydia. Nicht wahr, ein netter Mensch
mit seinen kurzen Höschen und gelben langen Schuhen.
Er ist aber doch ein gescheiter Mensch, erwiderte Ellen.
Ja furchtbar gescheit, aber schrecklich dumm. Den Kneifer setzt er nur ans,
um interessanter auszusehen. Was hältst du denn von dem jungen Forsteleden?
Die grüne Farbe steht ihm ganz gut.
Finde ich auch, er ist mir nnr gar zu grün. Denke mal, als er bei uns
Besuch machte, erzählte er immer von seiner Mutter. Und rauchen kann er auch
nicht. Findest du nicht, daß sich unsre Holzweißiger Herrenwelt heute besonders
gut gewaschen hat? Dem jungen Langbein klebt ordentlich die Seife noch in den
Haaren. Puh! Sag mal, Ellen, wer ist denn der lächerliche, alte Kerl, der dort
bei Fran Duttmüller sitzt.
Ellen wußte es uicht, mußte aber zugestehn, daß er wie ein heruntergekommner
Generalsuperintendent aussehe. Jetzt hätte Wandrer dran kommen müssen, der
gerade in der Schußlinie stand. Wandrer bewegte sich in einer Umgebung, in
der jeder etwas besondres vorstellen wollte, frei und ungezwungen, war guten
Humors, sprach mit Drillhose und setzte ihm etwas auseinander, worüber jener
mit Händen und Füßen zappelte, klopfte ihm auf die Schulter und lachte. Worauf
Drillhose zu seinem Korps eilte und einen von den Leuten — figürlich gesprochen —
bei den Ohren nahm. Dies wäre eine günstige Gelegenheit gewesen, auch Wandrer
zu rupfen, aber es geschah nicht. Er war durch stillschweigendes Übereinkommen
beider „tabu." Und als Ellen Lydia ansah, bemerkte sie, daß ihre Angen an
Wandrer hingen, und als bald darauf Lydia Ellen ansah, bemerkte sie dasselbe, und
als sie sich darauf beide ansahen, lachten sie alle beide.
Lydia, sagte Ellen, Felix Wandrer wäre ein Mann für dich. Warum heiratest
du ihn eigentlich nicht?
Aber Ellen!
Ich habe es ihm schon neulich gesagt, er sollte dich »ebenen.
Aber Ellen! Lydia war ganz entsetzt. Du wirst doch nicht!
In allem Ernste. Wandrer ist ein netter, hübscher, gebildeter Mann. Was
willst du mehr? Er paßt in euer Geschäft. Eigentlich, fügte sie leiser hinzu, Paßt
er nicht hinein.
Du meinst, sagte Lydia, er ist zu gut für uns. Sprich es nur ans, ich habe
es schon selbst gedacht.
Zu gut will ich nicht sagen, aber anders als ihr. Nicht so — so kleinkarriert
wie ihr, sondern mehr einfarbig. Er müßte irgendwo Konsul sein oder so etwas,
wobei es uicht auf die Schreibehand, sondern auf den Menschen ankommt. Es
kann ja aber nicht jeder in der Welt den Platz einnehmen, für den er eigentlich
bestimmt ist.
So nimm du ihn doch. Mich will er sowieso nicht.
Ich? ein armes Mädchen wie ich? Sich, Lydia, das ist das böse in der
Welt, daß alles aufs Geld hinausläuft. Alles hat seinen Preis, Jugend, Schön¬
heit, Verstand, alles hat seinen Preis, aber den größten Preis hat das Geld selber.
Ein Künstler und ein Gelehrter braucht kein Geld, aber was seid ihr Kaufleute,
und was sind wir Edelleute ohne Geld? Ich habe mein Verhältnis mit Felix
Wandrer schon geregelt. Er ist Onkel Felix, und ich bin Tante Ellen. Und dabei
bleibt es.
Ellen, sagte Lydia, sei doch nicht so altklug. Du redest ja wie ein alter
Tapergrcis. Das steht dir nicht. Du bist jung, sei froh und genieße dein Leben.
Genießt sich was, wie Klapphorn sagt, erwiderte Ellen.
Da kommt ja York, rief Lydia sichtbar freudig überrascht. Ich wußte ja gar
nicht, daß er da sei.
Ich heute früh auch nicht.
Was will er deun hier?
Was wird er wollen? Das kann man sich leicht denken. Sieh nur, wie
leutselig er ist. Jetzt redet er mit Fritze Poplitz, nun grüßt er den Schulzen, und
nun spricht er mit Wandrer.
Aber der Zivilanzug steht ihm gar nicht.
Hin! ja. Und Wandrer steht er sehr gilt.
Das ist, weil wir es anders gewöhnt sind.
Vielleicht, Lydia. Vielleicht ist es aber auch wie mit meinem Hampelmann.
Wenn ich dem sein Kostüm abziehe, dann bleiben Sngespäne übrig. Deal bei ihm
ist Kostüm und Haut dasselbe.
Sägespäne? Ich verstehe dich nicht.
Es kommt nämlich darauf an, wo bei einem Menschen das Kostüm aufhört
und die Haut anfängt. Bei manchem sitzt die Haut tief drin, und bei den Herren
vom Ne—neue sitzt sie manchmal ganz draußen, das heißt im bunten Rock. Ich
möchte so einen Hampelmann nicht haben. Das gilt übrigens auch von uns
Frauen, nur gehn wir niemals „in Zivil" aus.
Dort und Wandrer kamen herauf. Aork machte sich sogleich an Lydia heran,
küßte ihr die Hand und war ungeheuer liebenswürdig. Lydia strahlte. Ellen ver¬
wunderte sich. Denn sah sie befremdet auf Dort. Sie schien begriffen zu haben,
um was es sich handle, und machte ein sorgenvolles Gesicht.
Ich wünschte, gnädiges Fräulein, sagte Wandrer, der grüßend herangetreten
war, es wäre etwas angenehmeres, worüber Sie nachdenken.
Ich auch, erwiderte Ellen seufzend.
Kann ich Ihnen nicht helfen, Fräulein Ellen? Sie wissen, daß ich mit Niesen
und Drachen kämpfen würde, wenn Sie es befohlen.
Sie konnten es Wohl, sagte Ellen und schaute auf Dorr und Lydia, die leb¬
haft miteinander beschäftigt waren. Dorr küßte Lydia schon wieder die Hand, und
Lydia schlug nach ihm mit dem Fächer. Es war unverkennbar, daß sich hier etwas
anspann oder weitcrspann. Ellen wollte dazwischen treten, aber sie wußte nicht,
Wie sie es anfangen sollte. Alles Kopfschütteln und alle: „Aber Avrk!" halfen
nicht. Der vorsichtige Uork, der sich schon früher gern mit Lydia geneckt hatte,
hatte alle Vorsicht beiseite gelegt und segelte munter drauf los. Und Lydia segelte
munter mit. Jetzt hatte er Lydia den Fächer entwandt und entfloh mit ihm, und
Lydia folgte, und so verschwanden sie beide.
Jork! Dorr! rief Ellen ihm nach. Aork hörte nicht, und Ellen rang die Hände.
Ach, Herr Wandrer, sagte sie, ich habe eine schreckliche Angst.
Darf ich es nicht wissen, worüber Sie sich ängstigen? Aber Sie brauchen
mir es gar nicht zu sagen, erwiderte Wandrer. Ich will Ihnen eine Geschichte er¬
zählen, und Sie sollen bloß Ja oder Nein dazu sagen. Also: Sie fürchten, daß
es zwischen Aork und Fräulein Lydia zu einer Verlobung kommen könnte.
Ja.
Sie fürchten . . . Wie soll ich mich ausdrücken, daß Ihr Herr Bruder mehr
gezwungen als aus wahrer Neigung zu Fräulein Lydia von Liebe reden werde.
Ja, Herr Wandrer.
Sie fürchten, daß Ihre Freundin durch Ihren Herrn Bruder unglücklich werden
könnte. Sie wollen aber auch nicht Ihrem Bruder entgegentreten, da für ihn von
dieser Partie vielleicht viel abhängt.
Ja ja.
Und da erleben Sie nun, Sie armes gnädiges Fräulein, in Ihren jungen
Jahren den schönsten tragischen Konflikt — hier der Bruder, und da die Freundin —
und wissen nicht, wie Sie den Knoten losen sollen.
Ach, Herr Wandrer, sagte Ellen mit Thränen in den Angen, thun Sie mir
den Gefallen und heiraten Sie Lydia.
Warum denn mit Thränen in den Augen? Warum empfand sie deun, als
sie das sagte, einen so merkwürdigen Schmerz, und warum war es ihr deun, als
wenn sie dabei etwas von sich selbst weggäbe? Aber sie war ein kleines tapfres
Mädchen, sie wollte nicht an sich denken, und so wiederholte sie: Nehmen Sie sie,
Herr Wandrer. Lydia ist ein gutes Mädchen, und Sie werden sie gewiß glücklich
machen.
Richtig, sagte Wandrer, und dann kaun sie Aork uicht kriegen. Die Rechnung würde
stimmen. Aber, Fräulein Ellen, sind deun das Necheugeschichten? Es giebt am
Ende noch altmodische Leute, die sich einbilden, so etwas zu bilden, was mau Herz
nennt, die sogar auf ihr Herz hören, ob es redet, und die es für eine Sünde halten
würden, zu einem Mädchen von Liebe zu reden, wo das Herz nicht mitspricht. Es
giebt altmodische Leute, die sich einbilden, es könne auch einmal vorkommen, daß
sich zwei Menschen aus wirklicher Liebe heiraten. Jawohl, Fräulein Lydia ist ein
gutes Mädchen, ein wenig oberflächlich, aber ein gutes Mädchen, und ich weiß, daß
ihr Vater es nicht ungern sehen würde, wenn wir zwei ein Paar würden. Und
viele an meiner Stelle würden unbedenklich zugreifen. Aber wenn ichs thäte, sagen
Sie mir, was wäre da zwischen Ihrem Herrn Bruder und mir für ein Unterschied?
Seien Sie mir nicht böse, ich will über Ihren Herrn Bruder nicht urteilen. Aber
hier, darüber sind wir ja einig, thut er wirklich unrecht, wenn er auch thut, was
alle seine Kameraden ebenso machen. Und . . . Fräulein Elleu ... ich möchte mir
auch nicht gern einen Korb holen.
Ihnen giebt sie keinen.
Ich weiß doch uicht. Gestern vielleicht nicht, aber heute steht die Fahne anders.
sehen Sie, da hinten gehn sie. Meinen Sie, daß die sich von Schiller und Goethe
unterhalten? Und es giebt Damen, für die ist das bunte Tuch, was für die
Magnetnadel der Nordpol ist.
Lieber Gott, was soll denn aber werden?
Man muß es gehn lassen. Kein Mensch hat es in der Hand, eine solche
Sache so oder so zu lenken. Hier kann auch keiner für den andern denken oder
entscheiden. Solche Dinge muß jeder mit sich selber ausmachen. Sie sind so fein
und verletzlich, daß man Schaden anrichtet, wenn man auch mit wohlmeinender
Hand eingreift.
Was Sie sagen, Herr Wandrer, ist sehr schön, aber — denken Sie nicht
schlimm von mir, daß ich mit Ihnen über meinen Bruder rede, ich habe ja niemand,
mit dem ich sprechen könnte. Jork spielt. Uork ist ein Verlorner Mensch. Er
wird Lydia in sein Verderben ziehn.
Wandrer war sehr ernst geworden. Das ist freilich schlimm, sehr schlimm,
sagte er. Still, da kommt der Direktor.
Der Direktor sah sich suchend um. — Wo ist Lydia? fragte er uicht ohne
Schärfe.
Dort geht sie mit Aork, erwiderte Ellen.
Es wäre mir lieber, sagte der Direktor, Lydia wendete ihre Freundschaft Ihnen
als Ihrem Herrn Bruder zu.
Ich will sie holen.
Wandrer blieb allein zurück. Da hatte er ja merkwürdige Dinge erlebt. Das
merkwürdigste aber war gewesen, daß er sich über Herzensangelegenheiten mit
einem jungen Mädchen unterhalten hatte, die er noch Vor wenig Monaten als
Backfisch höherer Ordnung behandelt hatte. Wandrer war in Herzensangelegen¬
heiten einigermaßen spröde und auch seiner Mutter gegenüber durchaus uicht red¬
selig. Hier hatte sich vou selbst der vertrauliche Ton gefunden. Das, was den
Menschen den Mund verschließt, sind die selbstsüchtigen Gedanken, die man entweder
selbst hat oder bei andern voraussetzt. Die fehlten hier gänzlich. Wandrer und
Ellen waren sich über ihre Lage vollkommen klar, er ein geborner Onkel und sie
eine geborne Tante. Warum aber sollen Onkel und Tante nicht gegeneinander
offen sein? Aber eine merkwürdige Sache war es doch. Nicht jeder Tante gegen¬
über würde er so gesprochen haben wie zu Tante Ellen.
Die gnädige Frau, die sich an dem Tage, an dem Jork angekommen war, in
höchster Aufregung befunden hatte, verfiel in ihr allgemeines Leiden. Doktor Dntt-
müller hatte schwere Stunden, und Klapphorn mußte jeden Tag zweimal nach
Rodesheim in die Apotheke. Nach einigen Tagen ließ sie sich wieder sehen, schwarz ge¬
kleidet, schmerzlich bewegt, aber gefaßt und bereit, auch dem grausamsten Schicksal
mit Fassung entgegenzutreten. Ihren Egon, über den sie sonst mit einer eleganten
Bewegung ihrer Lorgnette zu verfügen Pflegte, vermied sie. Sie ging ihm ans
dem Wege wie einem Menschen, von dem man eine unerhörte Enttäuschung erlebt
hat. Sie hatte auch gräßliches erlebt. Nicht allein, daß Egon ihren Gründen,
ihren so überzeugenden Darlegungen einen hartnäckigen Widerstand entgegengesetzt
hatte, er hatte auch gesagt: Konstanze, wir sind jetzt fertig mit dem Frvnhofe.
Wenn wir so weiter wirtschaften, können wir erleben, daß uns die Juden Haus
und Hof verkaufen, und wir mit dem Bettelsack durch die Welt ziehn müssen. Pfui,
welcher Gedanke, welcher gemeine Ausdruck. Wie kann eine Nienhagen, noch dazu
eine geborne Marschall, mit dem Begriffe des Bettelsacks zusammengedacht werden?
Und wie kann man die Empfindungsroheit haben, solche Gedanken auszusprechen?
Wenn nun auch die gnädige Frau das Verhalten ihres Egon durchaus mißbilligte,
so hatte sie doch einige Angst bekommen, und sie ging ihrem Egon und dessen
derber Ausdrucksweise vorsichtig aus dem Wege.
Aber Uork! Gerechter Himmel, was sollte aus Aork werden? Jork war
verloren, alle die glänzenden Hoffnungen, die sich an seine Zukunft knüpften, waren
hin. Und niemand nahm sich seiner an. Niemand!
In den Augenblicken höchster Gefahr zeigt sich der Heldenmut des Weibes,
der Mutter, der Edeldame. Die gnädige Frau war gewillt, da alle thu verließen,
für Aork einzutreten und für ihn zu arbeiten. Sie ergriff ihre Lorgnette und that
es. Sie arbeitete. Nicht mit den Händen, das war ja die Aufgabe der unter¬
geordneten Organe, sondern mit dem Geiste. Dirigieren, durchdenken, eine Frage
durchdringen, das war das Element der gnädigen Frau. Die gnädige Frau begab
sich in ihr Element. Sie that in ihrem Zimmer unzählige Gänge in verzwickter
Reihenfolge. Es kann nicht Mißbilligung hervorrufen, wenn hinter dieser Arbeit
alle andern zurücktreten, wenn Rosa vergeblich auf Anweisung warten mußte, was
gekocht werden sollte, wenn die Aufgabe, Obst einzumachen, an Wichtigkeit verlor,
und wenn die schon um acht Tage verschvbne Wäsche nochmals um acht Tage ver¬
schoben wurde, wobei die Eberten und die Lngeln anderweitig beschäftigt werden
mußten. Als die gnädige Frau nach mehreren Tagen strenger Gedankenarbeit zu
einem Resultate gekommen war, versammelte sie ihr Hans. Egon wurde von
Klapphorn hereingeführt und in einen Lehnstuhl gepflanzt. Die Meerschaumpfeife
wurde ihm verstattet, aber Ellen mußte ihre Stickerei aus der Hand legen, und
die gnädige Frau setzte sich an den runden Tisch in der Haltung eines Minister¬
präsidenten, der sich anschickt, vor seinem Kabinett sein Regierungsprogramm zu
entwickeln.
Meine Herren, sagte sie — nein, so sagte sie nicht, es lag aber etwas ähnliches
wie diese Anrede in dein Blicke, mit dem sie die Versammlung überschaute, und in dem
kurzen trocknen Räuspern, mit dem sie begann: Ich habe mit dir, Egon, und mit
Ellen zwei Punkte von großer Wichtigkeit zu besprechen. Und ich bitte euch, die
Sache mit rechtem Ernst zu betrachten und sie nicht etwa beiseite zu schieben. Es
muß durchaus etwas geschehn. Der Herzog von Argyll, ein schöner Mann, hatte
die Gnade, mich seines Wohlwollens zu würdigen; er pflegte zu sagen (ja was
pflegte er zu sagen?) — die Notwendigkeit ist der Vater (oder war es die Mutter)
der That. Ja so war es, tds noeessit^ is tus inottuzr c>k elf port, oder —
Oder, wie Klapphoru sagt, fügte Ellen halblaut hinzu: Wat Sinn mut, dat
mut sind.
Die gnädige Frau warf einen mißbilligenden Blick auf Ellen und fuhr fort:
Kommen wir also zur Sache. York — hier bezeichnete sie mit der Lorgnette einen
Punkt auf der Tischdecke, der offenbar York vorstellen sollte —, York ist in Be¬
drängnis. — Hiermit bezeichnete sie einen zweiten Punkt, der die Bedrängnis be¬
deutete. Bis dahin war alles in unanfechtbarer Richtigkeit, und keiner der beiden
Hörer unternahm es, gegen die Richtigkeit des ausgesprochen Axioms Einspruch
zu erheben. — Diese Bedrängnis muß um jeden Preis beseitigt werden. Die
Lorgnette beseitigte die imaginäre Bedrängnis mit einer nachdrücklichen Bewegung.
Es fragt sich um, wie und mit welchen Mitteln? Mein schönes Gut Sandhasen¬
hausen ist leider verkauft worden. Ich habe es stets gemißbilligt, und du siehst
«un, Egon, welche Folgen das hat. Du erklärst am Ende deiner Ressourcen zu
sein. Was bleibt übrig? York — muß — heiraten. — Sie sah sich mit dem
Ausdruck überlegnen Triumphes um wie einer, dem ein rettender Gedanke ein¬
gefallen ist, auf den sonst niemand in der Welt gekommen sein würde. — York —
muß — heiraten. Als ich bei Tante Maud in Skrovpshire-Castle war, war da
ein junger Mann aus bester Familie, ein Baron Woodstock. Dieser junge Mensch
hatte bet den Rennen viel Geld verloren und stand vor dem Ruin. Er heiratete
ein reiches Mädchen und war gerettet. Und er war nicht einmal Offizier.
Und so meinst du, sagte Egon, soll es York auch machen?
So meine ich.
Schön, aber wen?
Wie du fragst! erwiderte die gnädige Frau, als ob ein junger Mann von
der Stellung und Persönlichkeit Yorks nicht hundert für eine haben könnte!
Nimm mirs nicht übel, erwiderte Egon, aber mir wäre eine wirkliche Braut
lieber als hundert mögliche.
Egon, du thust wieder das zweite vorm ersten. Erst muß York zu der
Überzeugung gebracht werden, daß er nur diesen einen Rettungsweg hat, nämlich
heiraten.
Mama, sagte Ellen, mir scheint, diese Überzeugung hat York schou.
So? fragte Egon, wie heißt denn die Glückliche?
Große Spannung.
Lydia.
Ly—ti—a? Welche Lydia, fragte die gnädige Frau.
Nun, Lydia Wenzel.
Der gnädigen Frau blieb thatsächlich der Mund offen stehn.
Als sie wieder zu Atem gekommen war und den Mund geschlossen hatte,
lächelte sie überlegen und mitleidig und sagte: Du irrst, Ellen. Ich kann dir be¬
stimmt sagen, daß du irrst. York — Lydia? Gar nicht dran zu denken!
Warum nicht, Mama? Übrigens wäre mir Lydia tausendmal lieber als gewisse
Bankierstöchtcr in Berlin, wie sie die Herren Offiziere zu heiraten pflegen. Es
fragt sich nur, ob York für — — Sag mal, Mama, warum war eigentlich
Alice sür Duttmüller gut genug?
Das war eine kitzlige Frage. Eine geschickte Rednerin versteht es, eine solche
Frage zu parieren, indem sie sie umkehrt. So verfuhr auch die gnädige Frau.
Frage nicht, Ellen, erwiderte sie, warum Alice für Duttmüller gut genug war,
sondern warum Duttmüller für Alice gut genug war. Ich will es dir sagen.
Weil er ein unterrichteter Mann ist, weil er eine große Zukunft vor sich hat, weil
Alice ihr thörichtes Herz an ihn gehängt hat, weil sie ihn ihrer Liebe gewürdigt
hat. Das vermag auch einen Dnttmüller zu adeln. Aber York, der elegante, vor¬
nehme York, dem eine riesige Karriere offen steht, der berufen ist, nächstens in den
Generalstab versetzt zu werden, der die Aufgabe hat, in den höchsten Kreisen zu
Verkehren, York und Lydia — Lydia Wenzel! nicht daran zu denken!
Mir solls recht sein, erwiderte Ellen, wenn er Lydia ihren Frieden läßt.
Also dies ist erledigt, fuhr die gnädige Frau fort, York heiratet. Nun der
zweite Punkt. Widersprich mir nicht, Egon, es — ist — durch—aus — nötig,
daß — wir — uns — einschränken. Es ist ja schwer, und wir haben uns bereits
eingeschränkt nach Möglichkeit, aber die Pflicht, die Rücksicht auf das Wohl unsrer
Kinder fordert die äußerste Entsagung. Ich habe daran gedacht, den Thee eine
Nummer billiger zu nehmen. Wenn du nun auch das Rauchen lassen wolltest,
Egon —
Dummes Zeug! rief Egon. Schicke deine Rosa zum Teufel, daran Verdienst
du mehr.
Willst du nicht auch sagen, erwiderte die gnädige Frau, daß ich die Eberteu
und die Lngeln auch wegschicken soll, und daß ich dann selbst an die Waschwanne
treten möchte? Oder würdest du das thun, Ellen.
Ich? Warum nicht, wenn es sein müßte? Ich finde übrigens, Mama, Pa
hat nicht Unrecht. Rosa und Marie und Klapphorn und die Eberten und die
Lttgeln ist ein bischen viel für uns drei Leute.
Es sei, sagte die gnädige Frau, indem sie entsagungsvoll mit schmerzlichem
Ausdruck die Augen schloß, ich werde Rosa entlassen. Darauf erhob sie sich maje¬
stätisch und machte mit der Lorgnette eine abschließende Bewegung, um anzudeuten,
daß die Sitzung beendet sei.
Sage es ihr aber gleich, rief Ellen, sonst wird wieder nichts daraus.
Die gnädige Frau warf einen mißbilligenden Blick auf Ellen und verließ in
würdiger Haltung das Zimmer. Es ist nicht zu verwundern, daß sie, indem sie
mit ihren eignen Gedanken beschäftigt war, nicht bemerkte, wie es in der Küche
aussah, als sie eintrat. Noch weniger konnte sie wissen, wie es in den Schränken
und Kästen aussah, und daß in der Vorratskammer der Greuel der Verwüstung
herrschte. Sie fand Rosa vorm Ofen stehend, ein großes Butterbrot auf der Faust,
die Schnnpsflasche im Hintergründe. Die gnädige Frau machte eine gnädige
Miene und sagte: Rosa, ich komme, Ihnen zu sagen, daß ich mit Ihnen zu-
frieden bin.
Rosa hätte über dieses Lob erröten müssen, wenn nicht das Rot auf Wangen
und Nase schon zu hart geworden wäre, als daß es zartere Regungen hätte auf¬
komme» lassen können. Sie schlug also nur züchtig die Angen auf ihren umfang¬
reichen Busen nieder, erfaßte die Schürze zierlich an den Enden mit zwei Fingern,
wie sie es im Theater gesehen hatte, knickste und sagte: O, gnädige Frau belieben,
zu nachsichtig zu sein.
Aber, fuhr die gnädige Frau fort, wird es Ihnen bei uns nicht zu einsam?
Einsam? Hier? Wo die Sterne freundlich leuchten in dem milden Abend¬
schein? Nicht ein bischen.
Möchten Sie nicht wieder in die Stadt zurückkehren?
Nicht um die Welt. Deun bei Ihnen, gnädige Frau, ist es nur göttlich.
Aber Rosa! sagte die gnädige Frau befriedigt, und doch etwas verlegen
lächelnd.
Von Ihnen gehe ich nicht weg, fuhr Rosa fort, und wenn die höchsten Ex¬
zellenzen mich kniefällig bitten. Und wenn Sie, gnädige Frau, zu mir sagen:
Rosa, hier ist die Thür — ich bleibe doch. — Folgte eine längere dramatisch
bewegte Lobrede auf Holzweißig und das Nienhagensche Hans. Unter diesen Um¬
ständen war es ganz unmöglich, eine Kündigung nuszusprecheu. Die gnädige Frau
verschob es also auf eine spätere Gelegenheit.
Wir haben aber allen Grund, uns zu fragen, warum Rosa so an Holzweißig
und dem Nienhngcnschen Hause hing. Wegen der Verpflegung? wegen des Wein¬
kellers des Herrn? oder wegen gewisser netter Leute mittlern Alters, die zwar in
ihren Arbeitskleidern nicht gerade elegant nussaheu, aber unverhohlen die Absicht
kundgethan hatten, unter Umständen, und wenn sie etwas passendes fänden, sich
wieder zu verheiraten?
In den nun folgenden Wochen gab es für Happichs Dörcher, die mit der
größten Ausdauer fortfuhr, die Tasche des Lcmdbriefboteu zu untersuchen, interessante
Funde, nämlich Briefe aus Berlin an Lydia Wenzel in elegantesten Umschlägen,
und rosenrote Billets an York von Nienhagen. Damit war klar und ortskundig,
was vorging. Bald darauf erschien Jork. Diesesmal nicht allein in Uniform,
sondern auch mit dem Helmkoffer. Er war noch steifer und zugeknöpfter als sonst,
ging seinem Herrn Vater aus dem Wege und ward ungeduldig, wenn ihm seine
Frau Mutter längere Vortrage über die Notwendigkeit einer standesgemäßen
Heirat hielt.
Am nächsten Tage fuhr York in Duttmüllers Wagen mit Helm und Schärpe
hinaus nach Heinrichshall. Der Direktor war in seinem Bureau, ihm gegenüber
am Kontorpnlt saß Wandrer. Als York gemeldet wurde, reichte Wenzel Wandrer
die Visitenkarte über das Pult hinüber und fragte: Wissen Sie, Wandrer, was
der will?
Ich kann mirs denken, erwiderte Wandrer.
Was soll ich ihm antworten? Der Direktor warf, wie er zu thun Pflegte,
aus dem Augenwinkel einen scharfen Blick auf Wandrer, ohne jedoch eine Miene
zu »erziehn.
Was Sie thun müssen, erwiderte Wandrer, ohne auch seinerseits irgend eine
Bewegung zu verrate«. Wenzel zuckte die Achseln, nahm einen Aktendeckel, worin
Briefschaften lagen, und begab sich hinauf in seine Empfangsräume.
Nachdem man sich begrüßt und niedergelassen, und nachdem Dorr abgelegt,
d. h. seinen Helm beiseite gestellt hatte, begann Dorr, der die Peinliche Schwierig¬
keit des Augenblicks lebhaft empfand, mit etwas stockender Stimme: Ich komme,
Herr Direktor —
Ich weiß schon, weswegen Sie kommen, unterbrach thu der Direktor.
Darf ich auf die Erfüllung meiner Bitte hoffen?
Sie wollen Lydia haben? Vor vier Wochen wollten Sie sie nicht haben,
und jetzt werden Sie mir sogleich sagen, daß Sie ohne sie nicht leben können.
Warum so eilig, Herr von Nienhagen?
Uork wurde rot und erwiderte: Eilig? Jeder Schritt wird langsam erwogen,
und denn thut mau ihn eilig. Das ist Soldatenart. Erst wägs, dann wags,
wie Moltke sagt. Und dann kommt Ihnen doch offenbar meine Werbung nicht
unerwartet.
Nein. Lydia ist eine gute Tochter, sie empfängt gewisse Briefe nicht hinter
dem Rücken ihres Vaters.
Und wir kennen uns doch schon so lange, Herr Direktor.
Ich habe aber doch vorgezogen, mich nach Ihnen zu erkundigen, sagte der
Direktor und griff nach seinen Briefschaften. Ich erfahre, daß Sie im Hotel
Karlshafen verkehren. Es ist ein offnes Geheimnis, daß man dort spielt, sehr hoch
spielt, unvernünftig hoch spielt, daß dort in einer einzigen Nacht ganze Vermögen
umgesetzt werden. Man weiß, daß dort gewisse dunkle Ehrenmänner aus- und ein¬
gehn, die vom Spiel leben. Man weiß, Herr von Nienhagen — wo ich das her
weiß, ist meine Sache, aber ich weiß es aus ganz sichrer Quelle —, daß Sie
diesen Ehrenmännern zehntausend Mark schulden. Das ist ein bischen viel für
einen, der nichts hinter sich hat.
Aork war blaß geworden und suchte vergeblich nach einer Antwort.
Ich habe ferner erfahren, daß Ihr Oberst Ihnen aufgegeben hat, sich binnen
vier Wochen zu arrangieren, sonst erhalten Sie den blauen Brief. Diese vier
Wochen werden morgen verstrichen sein. So, nun wiederholen Sie Ihren Antrag.
Herr Direktor, sagte Aork, ich gebe zu, daß ich dernngiert bin. Aber das zu
ordnen würde doch für Sie eine Kleinigkeit sein. Und ich würde doch Ihrem
Fräulein Tochter eine glänzende Stellung verschaffen können, und ich würde mich
bemühn —
Sagen Sie mal, Herr von Nienhagen, haben Sie sich schon je in Ihrem
Leben bemüht, ich meine, wirkliche Mühe gegeben? Wissen Sie, was es heißt,
sich durchs Leben durchzuschlagen? Wie schwer es ist, in die Höhe zu kommen?
Welche Mühe es macht, die ersten zehntausend Mark zu verdienen? Ich will mich
nicht vor Ihnen als Tugendspiegel hinstellen. Man thut manches, was Geschäfts¬
gebrauch ist, was aber vor einem strengen Sittenkodex nicht besteht. Glauben Sie
mir, man fühlt es. Aber man nimmt es aufs Gewisse» — nicht für sich, sondern
um der Kinder willen. Wenn ich nachts nicht schlafen kann, und die Gedanken
Karussell reiten, dann wache ich für meine Lydia und meinen Fritz, für solche Leute
wie Sie — nicht. Wenn Wandrer käme und spräche, ich will Ihre Lydia haben,
ich gäbe Sie ihm unbesehens. Und wenn es Olbrich wäre oder irgend ein andrer,
von dem ich annehmen könnte, daß er meiner Lydia gegenüber seine Schuldigkeit
thun würde — warum nicht? Aber einem leichtlebigen, leichtsinnigen Offizier,
der es für nobel hält, das Geld, das ihm nicht gehört, zum Fenster hinaus¬
zuwerfen — nein, Herr von Nieuhagen, das können Sie von einem Vater nicht
verlangen.
Fragen Sie denn als Vater nicht auch nach dem Herzen Ihrer Tochter?
Fragen Sie denn danach? Sie fragen doch nur danach, wie Sie aus der Not
kommen. Und dazu ist Ihnen Lydia gut genng.
Ich gebe es zu, daß ich leichtfertig gehandelt habe. Aber meine Liebe zu
Lydia wird es vermögen, daß ich ein andrer Mensch werde und ein andres Leben
anfange.
Ich will Ihnen mal was sagen, Herr von Nienhagen, sagte der Direktor,
mit dem Herzen wird leicht großer Mißbrauch getrieben. So ein armes Mädchen
wird leicht bethört. Ein paar feurige Redensarten, die bei Ihresgleichen kleine
Münze sind, und ein bunter Kragen — da sind sie bald gefangen. Und dann
nennt man es Liebe. Meine Meinung ist, von Liebe reden, die man gar nicht
hat, und versprechen, was man gar nicht halten kann oder will, das ist nicht
ehrenhaft.
Jork fuhr auf. Herr Direktor, rief er, Sie wollen hoffentlich meine Ehren¬
haftigkeit nicht in Frage stellen.
Bewahre, entgegnete der Direktor im ruhigsten Gleichmut. Ich wollte nur
sagen, daß es verschiedne Sorten von Ehrenhaftigkeit giebt. Nach der einen macht
man Ehrenschulden, das heißt, man verpfändet seine Ehre dafür, etwas zu zahlen,
was man nicht zahlen kann, und schießt sich, wenn die Sache schief geht, eine Kugel
vor den Kopf. Und nach der andern verspricht man nur, was man halten kann
und will. Zu der zweiten Sorte Ehrenhaftigkeit habe ich Vertrauen, zu der
ersten nicht.
Aork erhob sich. Er nahm einen sehr gemessenen Ton an und sagte: Es
scheint, daß ich schon zu lange Belehrungen von Ihnen angehört habe. Ich sehe
keinen Grund, sie anzunehmen. Adieu.
Adieu.
Damit war alles aus. Am Nachmittag wanderte noch ein Brief an Lydia
nach Heinrichshall, aber er kam uneröffnet zurück. Als nach der Heimkehr Jorks
mit keinem Worte von dem Erfolg seines Besuchs die Rede war, fiel Ellen ein
Stein vom Herzen. Aber sogleich siel ein größerer Stein zurück. Was sollte Jork
nun anfangen? Jetzt war sein letzter Rettungsanker gebrochen. Nun war er ver¬
loren. Und wer war daran schuld? Sie selbst. Sie hatte rin Wandrer ge¬
sprochen, und Wandrer hatte Wenzel gewarnt, und Wenzel konnte seine Tochter
unmöglich einem vorm Verderben stehenden Spieler geben. Nun war zwar Lydia
gerettet, aber I)ort verloren — durch ihre Schuld. Niemand konnte wissen, zu
welcher Verzweiflungsthat sich York hinreißen lassen würde. Und Ellen hatte nie¬
mand, mit dem sie reden konnte. Denn sie durfte dem armen Pa das Herz nicht
noch schwerer machen, als es an sich schon war, und Mama — lieber Gott, Mama!
Was konnte ihr deren Weisheit helfen?
Am Abend zögerte sie, sich zur Ruhe zu legen; sie blieb lange, lange mit
ihren traurigen Gedanken allein. Es war längst Mitternacht vorüber, als sie ans
offne Fenster trat. Ein Lichtschein fiel aus der Nebenstube, die York bewohnte, auf
die Krone des alten Kastanienbanms, der gegeuüber stand. Und dieser Lichtschein
erlosch nicht, bis der bleiche Tag heraufkam. Ellen glaubte Schritte zu hören, die
die ganze Nacht ruhelos hin und her gingen. Als sie am nächsten Morgen aus
schwerem und unerquicklichen Schlaf erwachte, fuhr sie eilig in ihre Kleider und
machte sich auf, nach York zu sehen. Sie fand die Thür offen und das Zimmer
leer. Das Bett stand unberührt da, auf dem Tisch stand ein halbgeleertes Kästchen
mit Patronen, der Revolver, der sonst unter einer Wasfentrophäe an der Wand
hing, fehlte. Ellen hätte vor Schmerz aufschreien mögen; aber sie bezwang sich,
ergriff ihren Hut und eilte hinab und hinaus.
Unten stand Klapphorn. Klapphorn, rief sie, wo ist York? Klapphorn nahm
die vorschriftsmäßige Haltung an nud sagte: Der junge gnädige Herr sind soeben
den Weg nach dem Kirschberg hinaufgegangen, indem daß sie sagten, daß sie Kopf¬
schmerzen hätten. Auch sahen sie aus, mit Verlaub zu sagen, wie Käseqnark. Ellen
wartete das Ende des Berichts nicht ab, sondern eilte weiter, ohne zu bemerken,
daß sie ihren Hut nicht aufgesetzt hatte.
Es war Sonntag, früher Morgen vor Sonnenaufgang. Ein leichter Nebel
lag draußen auf der Ebene, der Wald aber stand über dem Nebel dunkel und
klar sichtbar. Auf alleu Gräsern lagen Tautropfen, die glitzerte» im Lichte des
Morgenrotes. Die ganze Welt sah aus wie neugeschaffen, aber noch schlafend,
noch wartend auf den Sonnenstrahl, der sie zum neuen Tage erwecken sollte. Der
Himmel, der sich darüber breitete, war still, klar und kühl, wie ein gutes Gewissen,
wie ein Mensch, der ausgeschlafen hat, der keinen Nest von Sorge und Schuld
aus dem vorigen Tage in den neuen Tag mitgebracht hat und sich froh ans Tage¬
werk macht. Unten vom Dorfe herauf klang der Ton der Glocken, die den
Sonntag einläuteteu. Und die Kirchen rings umher, die man vor dem Nebel
uicht sehen konnte, gaben Antwort mit ihren Glocken: Jawohl, wir wissen es schon,
daß Sonntag ist, und sind auch schon wach.
Und oben vorm Walde stand in dein frischen Morgentau ein junges Mädchen
atemlos in ratloser Verzweiflung und rang die Hände. Von dem Orte aus, wo
sie stand, führten drei Wege in den Wald hinein, und sie wußte nicht, welche»
Weg der eingeschlagen hatte, den sie suchte. In jedem Augenblicke konnte sie den
verhängnisvollen Schuß hören, der allem, auch ihrem Seelenfrieden ein Ende
machen mußte. Schlug sie den falschen Weg ein, so war dieses Ende un¬
vermeidlich.
Da tauchte zwischen den Büschen ein wohlbekannter, Heller Hut auf, und nun
erschien auch sein wohlbekannter Träger. Es war Wandrer, der seineu Sonntag-
Morgenspaziergang machte. Wandrer war ein hübscher Mensch, er war stattlich,
hatte freundliche Augen und ein vertrauenerweckendes Gesicht und eiuen Schnurr¬
bart, der ihm sehr gut stand. Aber mit einem Engel hatte er nicht die geringste
Ähnlichkeit. Dennoch war es Ellen zu Mute, als begegnete sie dein Erzengel
Gabriel. Sie eilte ihm entgegen. Herr Wandrer, rief sie atemlos, haben Sie
York gesehen?
Jawohl, gnädiges Fräulein, erwiderte er, eben bin ich ihm begegnet.
Gott sei Dank, jauchzte sie auf und lief weiter. Wandrer blieb verwundert
stehn, dann kehrte er um und folgte Ellen. Mit ein paar schnellen Schritten hatte
er sie eingeholt. — Was ist geschehn, Fräulein Ellen? fragte er.
Noch nichts, rief Ellen, aber York hat — York will — ich kann es
nicht sagen.
Es war nicht nötig, daß sie es sagte, Wandrer begriff die Lage voll¬
kommen und sagte: Kommen Sie, das müssen wir um jeden Preis verhindern. —
So eilten beide bis zu der Stelle, wo Wandrer York begegnet war. Da hielt
Wandrer den Schritt an und prüfte die Fußspuren im Grase. Hundert Schritt
weiter bog eine Spur, die nur daran zu erkennen war, daß der Tau vom Grase
abgestreift war, seitlich ab. Dieser Spur folgten sie, und sie fanden nicht weit
davon Aork, der auf einem Steine saß und das Gesicht abgewandt hielt. Der
Revolver lag neben ihm auf dem Stein. Wandrer hielt Ellen mit einer Be¬
wegung seiner Hand zurück, ging mit leisen Schritten heran und bemächtigte sich
des Revolvers. Dorr fuhr mit dem Kopfe herum und rief halb geistesabwesend
mit heiserer Stimme: Was wollen Sie hier? Was unterstehn Sie sich?
Ellen stürzte herbei, warf sich vor Dort auf die Kniee und rief: Dorr! Dort!
Um Gottes willen, was willst du thun? Denke an Papa und Mama!
Das habe ich gethan, erwiderte Uork, aber mir bleibt kein andrer Weg. Geh,
laß mich allein.
Das würde Ihnen nicht viel helfen, Herr Leutnant, sagte Wandrer, denn
damit würden Sie mich nicht los werden.
Herr, wie kommen Sie dazu? . . .
Ja, das sagen Sie mal. Ich hätte es vor fünf Minuten auch noch nicht
gedacht, daß ich den Vorzug haben würde, diesen schonen Sonntag in Ihrer
Gesellschaft zu verbringen. Denn das steht felsenfest, daß ich nicht von Ihrer
Seite weiche, Sie mögen thun, was Sie wollen. Sie werden mich nicht eher los,
als bis Sie mir Ihr Ehrenwort gegeben haben, daß Sie nicht Hand an sich
legen wollen.
Jork wollte auffahren, aber er sank kraftlos in sich zusammen. Es ist gegen
die Natur, daß sich ein Mensch in den Tod hineinstürzt. Er vermag es anch nur,
wenn er seine Gedanken in eine unnatürliche Spannung gebracht hat. Es ist nicht
richtig, wenn man sagt, daß dieser Zustand dem Wahnsinn verwandt sei. Aber
es ist ein künstlicher Zustand, die Kraft ist eine unnatürlich gesteigerte. Tritt ein
Hindernis ein, trifft die Kugel nicht tödlich, läßt das Wasser den nicht untersinken,
der sich hineingeworfen hat, so sinkt die Wut gegen das eigne Leben zusammen,
und der Zorn über die Störung geht schnell über in ein Gefühl der Erleichterung,
ja des Dankes. Jork war am Ende seiner Kraft. Er saß da, ein Bild des
Jammers, tief niedergeschlagen, ohne Mut und ohne Willen. Er hätte es ruhig
über sich ergehn lassen, wenn er hätte in diesem Augenblicke verurteilt oder degra¬
diert werden sollen.
Wandrer hielt ihm die Hand hin. — Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, sagte
er, daß Sie nicht die Hand an sich legen.
Aork schwieg.
Jork, thue es mir zuliebe, bat Ellen, ich habe nie wieder eine frohe Stunde,
wenn du es nicht thust.
Dorr ließ sich nicht ungern überreden, und zuletzt gab er sein Ehrenwort.
So, sagte Wandrer, das war Nummer eins. Gnädiges Fräulein, darf ich
Ihnen diesen Baumstumpf anbieten? Nun lassen Sie uns Rat halten, wie Ihnen
zu helfen ist. Sie haben Spielschulden, Herr von Nienhagen. Wieviel ist es?
Dorr zuckte die Achseln und schwieg.
Dorr, sagte Elleu, sage die Wahrheit. Und wenn wir dir auch nicht helfen
können, sage die Wahrheit.
Ihr? fragte Aork und schaute von dem einen ans die andre.
Wieviel ist es? fragte Wandrer, aber bitte nicht in Abschlagsbeichte.
Zehntausend Mark.
Wandrer erschrak. Das ist allerdings viel, sagte er. Und wann muß die
Angelegenheit reguliert sein?
Morgen.
Wandrer erwog die Lage. Hier war also schwer zu helfen und besonders
wegen der Kürze der Zeit. Der Herr Oberstleutnant konnte nicht zahlen, das war
klar. Der Direktor? Kein Gedanke, daß sich dieser ans etwas eingelassen hätte.
Exzellenz Marschall? War auf einer Nordlandsfahrt begriffen. War es denn gar
nicht möglich, eine Hilfe zu beschaffen? Vor ihm saß Ellen. Er sah sie nicht an,
aber er fühlte es, daß ihre Augen mit Vertrauen auf ihm ruhten. Die arme
kleine Ellen. Mit Aork hatte er nicht viel Mitleid, mochte er aufessen, was er
sich eingebrockt hatte, aber — Tante Ellen! Er hatte das Geld. Er hatte in
der letzten Zeit das Mehrfache der Summe mit Leichtigkeit verdient. Er war voll¬
ständig freier Herr über sein Vermögen und niemand verantwortlich. Es ist eine
große Dummheit, die ich begehe, sagte er zu sich, aber warum soll der Mensch nicht
auch einmal dumm sei»? — Herr von Nienhagen, fuhr er laut fort. Ich habe
einige Kuxe von Heinrichshall. Sie sind in den Händen meiner Mutter. Ver¬
kaufen kann ich sie nicht, denn sie haben noch immer stark steigende Tendenz, und
ich würde den Vorteil davon verlieren, wenn ich verkaufen wollte. Aber man
kann einige verpfänden, um darauf eine Zahlung von zehntausend Mark zu erhalten.
Sie haben keine Stunde zu versäumen. Gehn Sie nicht wieder in das Dorf zurück,
gehn Sie gleich von hier nach Altar, reisen Sie nach Hannover zu meiner Mutter
und dann nach Berlin. Dann können Sie morgen früh das Geld in der Hand
und alles geordnet haben, wenn Sie zu Ihrem Oberst müssen.
Damit riß er ein Blatt von seinem Notizblock ab und schrieb ein Paar Zeilen
an seine Mutter.
Es war merkwürdig, zu sehen, wie das Leben in Aork zurückkehrte. Er dankte
wortreich, nannte Wandrer seinen lieben Freund und sogar Kameraden, obgleich es
Wandrer nur bis zum Vizefeldwebel gebracht hatte, und versprach, alles bestens
regeln zu wollen, und Wandrer könne sich felsenfest auf seine Ehrenhaftigkeit ver¬
lassen.
Aber erst noch eins, sagte Ellen, du mußt mir es in die Hand versprechen,
daß du nie wieder eine Karte anrührst.
Work versprach es und eilte davon wie auf Flügeln. Wandrer und Ellen
blieben zurück. Ellen ergriff in überströmenden Danke mit beiden Händen die
Rechte Wandrers und rief: Wie kauu ich Ihnen jemals genug denken für das,
was Sie an meinem Bruder gethan haben! Und auch an mir, denn ich machte
mir schwere Vorwürfe, daß ich Ihnen mitgeteilt hatte, Dort spiele, und daß Sie
dann den Direktor gewarnt haben könnten.
Aber ich habe ja keinem Menschen ein Wort gesagt, erwiderte Wandrer; es
war anch gar nicht nötig, Wenzel wußte viel besser Bescheid als wir.
Sie wandten sich zum Gehn und schritten stumm nebeneinander her. — Herr
Wandrer, sagte Ellen nach einer Weile, ich weiß, was Sie jetzt denken. Sie deuteln
Es ist aber doch eine große Dummheit, die ich gemacht habe.
Wandrer lachte. Es stimmt, Fräulein Ellen, sagte er, aber ich bin nicht böse
darüber. Als ich Ihrem Herrn Bruder die Kuxe gab, wußte ich, daß es — nach
dem Urteil kluger Leute — eine Dummheit war; es war also eine bewußte Dumm¬
heit. Ich gestehe auch, daß es mir einigermaßen fatal sein würde, wenn Wenzel
etwas von der Sache erführe, und daß ich mich ärgern würde, wenn er mich mit
mitleidigem Hohn ans den Augenwinkeln ansahe. Aber, wissen Sie, Fräulein Ellen,
eine Dummheit zur rechten Zeit ist noch lange nicht das schlechteste, was man
machen kann. Alle unsre Tugenden sind in den Augen des den Nutzen berechnenden
Verstandes Dummheiten. Columbus, als er auszog, den Seeweg nach Indien zu
finden, wußte nicht, was er für eine Dummheit unternahm. Und war doch ein
großer Mann. Ist der nun nicht noch größer, der eine bewußte Dummheit be¬
geht? Nein, im Ernst, Fräulein Ellen. Das, worüber wir uns in unserm Leben
zu freuen haben, sind nicht immer unsre klug überlegten Handlungen, sondern unsre
Dummheiten, ich meine das, was man thut, dem weltklugen Verstand zum Trotz.
Und meinen Sie denn, daß es angeht, jemand gegen seinen Willen aus dem Wasser
zu ziehn und ihn auf dem Lande erfrieren zu lassen? Wenn wir Dort die Pistole
aus der Hand nahmen, mußten wir ihm auch helfen.
Wir? Ich hätte gemußt, aber was kann ich denn thun?
Sehen Sie, Fräulein Ellen, darum that ich es für Sie. Die Sache hat auch
gar keine Gefahr. Jork hat jetzt die Hände frei. Er wird sich jetzt schleunig in
der Tiergartenstraße oder andern feinen Orten umsehen und eines Tages mit
einer orientalischen Schönheit ankommen. Und dann werden wir alle beide als
die Gründer des Glücks des Hauses Nienhagen in Stein ausgehauen und im
Vestibül aufgestellt, und Sie werden die Tante eines schwarz und blond gemischten
Geschlechts.
Wandrer geleitete Ellen hinab, nicht über die Dorfstraße, ans der schon die
Kirchgänger ankamen, sondern hinter dein Dorfe herum, und plauderte lustige Dinge,
womit er erreichte, daß er Elters finstre Gedanken verscheuchte. Als sie sich vor
dem Frouhofe verabschiedet hatten, kehrte sich Ellen noch einmal um, winkte mit der
Hand und sagte mit dem Ausdruck kameradschaftlicher Zärtlichkeit: Onkel Felix!
Die Deputiertenkcunmer hat am 13. und
14. Februar über einen zwischen demi Unterrichtsminister Leygues und einer Kom¬
mission vereinbarten Plan einer Reform des Sekundärunterrichts beraten und ihn
gebilligt. Wir haben diesen Plan nicht zu Gesicht bekommen, können aber seinen
Inhalt ans der Debatte und aus der abfälligen Kritik, die Marcel PMiost im
Figaro vom 23. Februar daran übt, ungefähr erraten. Der bekannte Roman-
schreiber sagt: Nach einem kurzeu gemeinschaftlichen Studium werden die Schüler,
die das Lateinische und das Griechische nicht mögen, englisch und deutsch lernen.
Die bloß das Griechische nicht leiden können, werden das Latein weiter betreiben
und entweder das Englische oder das Deutsche hinzunehmen. Andre werden Realien
ohne die alten Sprachen treiben, noch andre das Studium der alten Sprachen mit
den: der Realien verbinden. Und, um die Freude der Eltern voll zu machen:
was einer auch getrieben haben mag, er wird der Würde des Bciccalnureats teil¬
haftig. Man glaube nicht, daß ich Spotte. Die gemeinsame Arbeit des Ministers
und der Kommission hat das Ergebnis gehabt, daß der Sekundärunterricht in zwei
Cyklen (das ist die amtliche Bezeichnung) geteilt werden soll, von denen keiner
Sekuudäruuterricht ist. Der erste Cyklus ist eine Fortsetzung des Primärunterrichts,
der zweite nur der Embryo eines höhern Unterrichts. Zwischen beiden Cyklen
verschwindet der wirkliche Scknndärnnterricht. Das Wesen des Primärunterrichts
und das des wissenschaftlichen Studiums steht fest. Die Wahl des zweiten hängt
selbstverständlich von den Anlagen und Neigungen des Studierenden ab, und sein
Betrieb muß der freiwilligen Thätigkeit des Studenten überlassen bleiben. In der
Zeit zwischen dem zehnten und dem achtzehnten Jahre dagegen bedarf der noch
sehr unfertige junge Mensch der Erziehung und Aufsicht, und es gehört eine starke
Illusion dazu, die Individualität dieser Bengel respektieren und sie ihren freiwilligen
Antrieben überlassen zu wollen, da doch aus eignem Antrieb die jüngern an nichts
als an Knabenspiel und die ältern nnr an Mädel denken. Auch wo Neigungen
für eine Beschäftigung hervortreten, beruhen sie meist auf Selbsttäuschung; gar
mancher, der als Knabe mit Maschinen spielt, ist zum Dichter geboren, und mancher
Träumer, der für einen angehenden Dichter gehalten wurde, wird ein ganz tüch¬
tiger Gerichtsvollzieher. Was dem jungen Menschen in diesem Alter beigebracht
werden kann und soll, das ist die allgemeine Bildung. Wer zu früh mit einer
Fachwissenschaft beginnt, der kann ein Gelehrter werden, aber er bleibt ein unge¬
bildeter Mensch. Die heutige Feindschaft gegen den Humanismus beruht auf zwei
Modeirrtümeru. Mau sagt, allgemeine Bildung sei heute wegen der Fülle des
Wissensstoffes nicht möglich. Aber der Wissensstoff war im sechzehnten Jahrhundert
gerade so groß wie heute, nur daß die damaligen Naturwissenschaften aus lauter
Irrtümern bestanden, und ein Wust von philosophischen Spitzfindigkeiten, die wir
glücklicherweise los geworden sind, zur allgemeinen Bildung gerechnet wurde. Zum
andern sagt man, die moderne Gesellschaft könne nur Menschen brauchen, die jeder
in seinem Fach tüchtig seien. Aber die allgemeine Bildung ist gerade die beste
Grundlage für eine tüchtige Fachbildung, und nur Geldmangel und die Notwendigkeit,
dem jungen Menschen rasch zum Brotverdienst zu verhelfen, können eine vorzeitige
Spezialisierung entschuldigen. Diesem Übelstande könnte durch Kürzung des Se-
knndärunterrichts einigermaßen abgeholfen werden: wenn man allen überflüssigen
Gelehrtenkram beseitigt und bloß das lehrt, was der Schüler behalten kann und
soll, braucht der Sekundärunterricht nicht über das sechzehnte Jahr ausgedehnt zu
werden. Ein aus lauter gebildeten Menschen bestehendes Volk ist keine Utopie;
Dänemark hat dieses Ideal nahezu verwirklicht.
Wir referieren nur, überlassen die Kritik dieser Ansichten des Novellisten den
Lesern und teilen aus der Kammerverhandlung noch einige Äußerungen mit. Nicht
bloß die Sozialisten, sondern auch Republikaner, wie Ribot, forderten, daß der
Seknndärunterricht allgemein sein und gratis erteilt werden solle. Darauf erwiderte
der Unterrichtsminister, es gehöre keineswegs zum Wesen der Demokratie, daß alle
denselben Unterricht genössen; vernünftig sei nur, daß jeder den seinen Fähigkeiten
und Neigungen entsprechenden empfange. Wenn man alle jungen Leute die Se¬
kundärschulen durchmachen lasse, dann werde die Mehrzahl studieren wollen, und das
Land werde von Ärzten und Advokaten ohne Praxis und von hoffnungslosen Aspi¬
ranten ans Staatsämter wimmeln, die ihr Leben nur als Schmarotzer fristen könnten.
Der Abgeordnete Masse donnerte gegen die Lateinschulen, die eine Schöpfung der
Jesuiten und nur dazu bestimmt seien, einer Kaste von Vornehmen die Herrschaft
über das Volk zu sichern. Begründeter waren seine Angriffe auf die Pedanterie und
den Bureaukratismus der höchsten Unterrichtsbehörde, der Universität; er frischte
die Anekdote von einem Unterrichtsminister aus, der, die Uhr ziehend, zu einem
Besucher gesagt haben soll: In diesem Augenblick wird in alleu Lyceen Frankreichs
der zwanzigste Vers des zweiten Buches der Jliade gelesen. Merkwürdigerweise
war es ein Sozialist, Vivicmi, der den Minister beschuldigte, er wolle mit seiner
Reform den Humanismus totschlagen, und Ribot, der kommende Manu und der
gefürchtetste Gegner des Kabinetts Waldeck-Rousseau, der Vivicmi beschuldigte, er
wolle grausamerweise die humanistische Bildung zu einem aristokratischen Privi¬
legium machen, eine Beschuldigung, die uns nicht gerechtfertigt erscheint, denn unter
den schönen Phrasen des pathetischen und immer schön redenden Viviani (seine
deutschen Parteigenossen könnten sich für die Form ihrer Reden ein Beispiel an
ihm nehmen) kommt auch folgende vor: „Der Primärunterricht ist die Offenbarung
der Menschennatur (I» r6vÄa,lion Äo t'dumauitv), der höhere Unterricht ist die Offen¬
barung der Wahrheit; zwischen beiden steht der Sekundärunterricht als Offenbarung
der Schönheit. Diesen will man jetzt zu einem Fachunterricht herabsetzen; aber
ehe mau die jungen Leute sich in die verschiednen Pfade des Lebens zerstreuen läßt,
sollte man sie die Schönheiten lernen lehren, die sie nie im Leben wiedersehen
werden." Der Minister Lehgues versicherte, es sei keineswegs seine Absicht, den
humanistischen Unterricht totzuschlagen. Im Gegenteil, er sei überzeugt, daß gerade
die Demokratie einer Aristokratie der Intelligenz bedürfe, die sich ans dem Volte
rekrutiere, und über die Zufälligkeiten der materiellen Nützlichkeit erhaben, dem
Volke seine idealen Güter bewahre. Und gerade die lateinischen Völker seien als
Abkömmlinge der Römer zur Pflege der klassischen Bildung berufen: „Zwei Zivili¬
sationen streiten um die Weltherrschaft: die in Rom und Athen geborne und die
angelsächsische,- wir Franzosen sind die Vertreter der ersten. Wir geben darum
unsrer Jugend nicht eine einseitig französische, sondern eine humane Bildung, die
einzige, die aus dem Kinde einen Bürger und einen Menschen zu macheu vermag."
Diese paar Sätze enthalten reichlich Stoff für Betrachtungen und Erwägungen.
Wer über die Thorheit der Mode, die sich als Kunst
oder als Litteratur gebärdet, von Herzen lachen möchte, dem seien zwei kleine Hefte
mit Bildern empfohlen aus dem Verlage von Dr. Ehsler u. Komp. in Berlin:
„Die Jusel der Blödsinnigen, Tollheiten der Modernen in Wort und Bild" und
„Der Drehwurm im Überbrettl," beide herausgegeben von Dr. L. Wulfs. Das ist
echter Humor, wirksamer als kritische Keulenschläge, überlegen und überzeugend: der
Leser fühlt es, dieser Unsinn, von dem z. B. die Münchner „Jugend" lebt, ist in
sich nichtig, mausetot. Wir selbst haben niemals anders gedacht, aber wir haben
bis jetzt nicht gewußt, daß es uoch eine wirkliche Jugend gebe, mit Geist und Form-
talent und echtem Witz begabt und vollauf befähigt, es mit den Lustigmachern
des Überbrettels im Tanz vor den Narren aufzunehmen, aber nicht gewillt, den
Geschmack mit Füßen zu treten, sondern fest entschlossen, gegen den Strom des
Unsinns zu schwimmen und mit offnem Visir dem frechen Blödsinn den Handschuh
hinzuwerfen. Ihr Talent thut es mit Grazie, ihr Mut ist ein Verdienst. Der-
blöde Maeterlinck, der affektierte Geck Gabriele d'Annuuzio, die deutschen Nachläufer
der französischen Dekadenten, die Bier- und Tingeltangelpoeten, die Ichmenschen
mit den tönenden, unverständlichen Phrasen, und wie sie nur heißen mögen, die
der Jugend von heute lieb und teuer find, alle werden gezeigt und abgehandelt
wie in einer Menagerie. Nicht minder die Albernheiten in der Malerei und im
Kunstgewerbe, die Schnörkel und Linien, der Buchschmuck, die formlosen Geräte
und die langweiligen, einfältigen Möbel. Die zum Teil recht gute» Zeichnungen
werden von dem manchmal wirklich geistreichen, witzsprühenden Text noch übertroffen.
Wir müssen es uns versagen, Proben auszuziehn, denn wir wüßten nicht, wo wir
anfangen sollten, und das Ende würde uns schwer werden. Neben dem Heraus¬
geber scheint uns den ersten Preis Rudolf Presber zu verdienen, den wir schon
früher als einen Kritiker von ungewöhnlicher Begabung kennen gelernt haben (1901,
drittes Quartal, S. 321). Vou ihm ist jetzt in dem Verlage dieser kleinen bunten
Bücher noch ein fein ausgestatteter Band Gedichte erschienen: „Aus dem Lande der
Liebe." Als Form ist bei den meisten die Einkleidung in ein Erlebnis gewählt,
und die Folge der einzelnen Abteilungen setzt sich für den Leser in Stufen einer
bis an des Lebens Mitte geführten Selbstbiographie um: Gymnasiast, Korpsstudent,
Reise nach Italien, Journalist in Berlin. Sie sind lebendig und persönlich, sicher
im Auftreten, möchte man wie von Menschen sagen, einzelne geradezu brillant, z. B.
Gekrönte Liebe. Man bewundert den Reichtum von Einfällen, Wendungen und
Überraschungen, das kurze Andenken weiter Kenntnisse, das gewählte Beobachten;
nichts ist platt und trivial, alles Auslese. Aber warm wird uns nicht dabei, wie¬
wohl dem Verfasser menschliche und sogar weiche Züge eigen sind. Macht das seine
überlegne Gewandtheit, das Spielen mit den Dingen bis zur Selbstironie? Oder
sind daran die „Vielzuvielen" des unverfälschten Wirtshausmilieus schuld, die Frauen¬
zimmer, Kellner, Getränke und Fressalien, die nun einmal ohne eine voraufgegangne
dichterische Verflüchtigung (Desinfizierung könnte man beinahe sagen) nicht poesie¬
fähig werden können? Woher es aber auch kommen mag, daß wir hier mehr den
Feuilletonisten durchfühlen als den Dichter (der bewährte Kritiker weiß das besser
als wir), bei der hohen Vorstellung, die wir von seineu Gaben haben, wollten wir
mit unserm Eindruck nicht zurückhalten.
s ist in den letzten Wochen wieder viel vom russisch-französischen
Bündnis die Rede gewesen. Die neuerlichen Abmachungen der
beiden Regierungen, die auf Ostasien Bezug haben, und der
Besuch des Präsidenten Loubet in Se. Petersburg haben die
Aufmerksamkeit der den politischen Ereignissen folgenden Welt
von neuem auf diesen seinerzeit vielbesprochnen Punkt gelenkt.
Es scheint, als wäre es von vornherein den beiden vertragschließenden
Mächten ganz besonders darum zu thun gewesen, das von ihnen getroffne
Abkommen als eine den europäischen Frieden fördernde und sichernde Verein¬
barung hinzustellen. Wenn man jemand eine geladne Pistole in die Hand
giebt und ihn auffordert, sie auf eine ihm bezeichnete Person abzuschießen,
sobald er den rechten Augenblick dafür gekommen glaube, so ist das in ähn¬
lichem Sinne eine friedfertige, den Frieden sichernde und fördernde Handlung.
Freilich wird es ja bei der dem Vertrage der Öffentlichkeit gegenüber unter¬
gelegten Absicht namentlich der russischen Regierung, wie auch sonst, um den
Honig der Glück und Segen verheißenden Redensarten zu thun gewesen sein,
und den billigen Wunsch der Schönfärberei konnte ihr Frankreich um so
weniger versagen, als es die deutschen Barbaren im Geiste schon über den
Rhein zurückgedrängt und in wilder Flucht auf die Lanzen „unzähliger"
Sotnicn von Kosaken zugetrieben sah.
Wie steht es aber nun, abgesehen von der aufgeklebten Friedensetikette,
mit dem Wesen des Vertrags, insoweit er veröffentlicht worden ist? Die Lage
Rußlands und Frankreichs, als sie den Vertrag schlössen, war klar genug, und
der Nutzen, den sie davon erwarteten, ist es auch. Die Sicherung des Welt¬
friedens und die Wiederherstellung des zu Deutschlands Gunsten verschobnen
europäischen Gleichgewichts hatten zwar wenig genug mit der getroffnen Ver¬
einbarung zu thun, dafür aber war sie in andrer Beziehung gut und zweck¬
müßig, da sie beiden Kontrahenten gerade die von ihnen gesuchten Vorteile
verschaffte. Eine Defensivallianz, die beide Bundesgenossen ins Feld rufen
sollte, wenn einer von ihnen augegriffen würde, und eine für russische Jndnstrie-
und Verkehrszweige in Frankreich aufzunehmende, nicht unbeträchtliche Anleihe:
das waren, abgesehen von den nur gerüchtweise vorhandnen geheimen Stimu¬
lationen, die beiden Hauptpunkte des Vertrags. Er ist zwar gegen Deutsch¬
land gerichtet, und es wird, insoweit dabei französische Wünsche und Er¬
wartungen in Betracht kommen, auf das Fell des deutschen Büren gehofft,
aber es liegt uns fern, aus deutschpatriotischeu Gründen an einem Vertrage
mäkeln zu wollen, für dessen Beurteilung nur die Frage maßgebend sein kann,
ob er im Nutzen derer lag, die ihn abschlossen. Und diesem Erfordernis ent¬
sprach er offenbar durchaus. Nußland brauchte französisches Kapital, Frank¬
reich dem eignen Volk und dem Auslande gegenüber eine Erhöhung seines
Prestige. Beides konnte der eine dem andern gewähren, und die russische
Diplomatie, die keiner andern nachsteht, war vorsichtig genug gewesen, sich so
einzurichten, daß der russische Finanzminister das französische Geld vorgeschossen
erhielt, ohne daß sich der russische Kriegsminister mit einer Mobilmachung in
Unkosten zu stürzen brauchte.
Daß das Bündnis, insoweit dessen Bestimmungen veröffentlicht worden
sind, nur defensive, nicht auch offensive Zwecke verfolgt, ist in den Augen der
französischen Chauvinisten sein Hauptfehler, und wenn man den dem Kaiser
Nikolaus dein Zweiten in Frankreich zu teil gewordnen Empfang aufmerksam
beobachtet hat, so wird man bemerkt haben, daß das russische Bündnis in
Frankreich sehr populär ist, daß die französische Republik in jedem der beiden
Fälle an entgegenkommenden, bisweilen sogar etwas byzantinischen Aufmerk¬
samkeiten mindestens ebensoviel geleistet hat, als dies eine monarchische Re¬
gierung Hütte thun können, und daß mau franzvsischerseits uach Möglichkeit
bestrebt gewesen ist, die französische Armee und die französische Flotte als die
Teile des Staatskörpers in den Vordergrund zu stellen, die das Bündnis vor
allen andern angehe, was man doch offenbar nicht hätte zu thun brauchen,
wenn es sich, wie behauptet wurde, nur um die Förderung und die Sicherung
des europäischen Friedens und Gleichgewichts gehandelt Hütte.
Der Leser muß uns hier auf einem Abstecher zum Se. Petersburger Hof
begleiten, da ein kurzer Überblick über die dortigen Verhültnisse für die Be¬
urteilung der durch den Vertrag geschaffnen Lage wimschenswert, und es uns
auch darum zu thun ist, dem einen oder dem andern Leser, der vielleicht den
Verhältnissen ferner stehn könnte, einen Maßstab dafür an die Hand zu geben,
wieviel nach unsrer Meinung der deutschen Regierung über etwaige geheime
Separatbestimmuugen des Vertrags bekannt sein könnte.
Die Romanows unsrer Tage sind, um es mit drei Worten zu sagen, alle
noble Charaktere gewesen, und nach dem, was man in wohlunterrichteten
Kreisen über Nikolaus II. hört, dürfte er ein pflichttreuer, gewissenhafter, durch
seinen Charakter den Thron in jeder Weise zierender Monarch sein. Wenn
es weiterhin wahr ist, daß er einen scharfen, richtigen Blick für Menschen hat
und denen seiner Berater, die sein Vertrauen genießen, ziemlich weiten Spiel¬
raum läßt, so kaun sich das rassische Volk zu diesem kaum vierunddreißigjührigen
Herrscher wohl gratulieren.
Deutschfreundlich, wie er es in den drei ersten Vierteln des vorigen Jahr¬
hunderts war, ist der russische Hof nicht mehr: was von Zeit zu Zeit geschieht,
um die alte Tradition patriarchalischer, preußisch-russischer Familienbeziehungen
aufrecht zu erhalten, ist nichts als Form. Die Kaiserin-Wittwe und die Mehr¬
zahl der Großfürsten und Großfürstinnen sind antideutsch, und der sie um¬
gebende Kreis zum Teil sehr vornehmer und vermögender Leute ist noch anti¬
deutscher als sie. Die Verdienste, die sich Deutschland seinerzeit um die Zivi¬
lisierung Rußlands erworben hat, sind vergessen, und die Sympathien der
großen Mehrzahl dieser glänzenden Gesellschaft haben sich den Franzosen zu¬
gewandt. Die Kaiserin-Wittwe und alles, was am russischen Hofe mehr oder
weniger mit dem zu Kopenhagen zusammenhängt, thun das ihre, das will-
kommne französische Feuer zu schüren. Selbstverständlich in sehr vorsichtiger
Weise. In der bekannten Art, wie vornehme Damen in ihrem Kreise jeden
unmöglich zu machen verstehn, dem sie nicht wohl wollen. Mit halben Worten
und gelegentlichen, scheinbar absichtslosen, aber aufs feinste berechneten kleinen
Kundgebungen, die denn, so unauffällig sie vielleicht scheinen mögen, dem Auge
der um die fürstliche Gunst bemühten Hofgesellschaft in der That auch nicht
entgehn und von ihr als Winke und Befehle angesehen werden.
Wenn der Zar die Franzosen noch nicht veranlaßt hat, irgend einen Vor¬
wand zum Kriege mit Deutschland vom Zaune zu brechen, so liegt das nicht
notwendig an einem Mangel von Antipathie gegen Deutschland oder von Sym¬
pathie für Frankreich: es liegt vielmehr daran, daß er einem politischen Ziele
zustrebt, das durch jeden europäischen Krieg, in den sich Rußland verwickeln ließe,
notwendig in weitere Ferne gerückt werden würde. Der an natürlichen Hilfs¬
quellen so reiche Staat ist noch so unentwickelt, daß er vor allem seinen Handel
ausbreiten und seine Industrie entwickeln muß, ehe er daran denken kann,
einen ernsten Krieg mit einer Macht wie das durch seine Bundesgenossen
verstärkte Deutschland aufzunehmen, solange dies vermieden werden kann.
Als die französische Regierung den bekannten Vertrag mit Nußland schloß,
mußte sie wissen und wußte sie, was sie that. Sie legte damit die beliebige
Entscheidung über Krieg und Frieden in Europa in die Hände eines jungen
dreißigjährigen Mannes, der in seiner Eigenschaft als Selbstherrscher an keine
andre Rücksicht gebunden war als die, zu der ihm die eigne Mäßigung riet.
In denselben Händen liegt sie noch, und das ist auch der Grund, warum
Kaiser Nikolaus II. bisweilen als der oberste Schiedsrichter von Europa be¬
zeichnet wird. Wir erinnern daran, daß auch Napoleon III. dasselbe Amt
jahrelang verwaltet hat, bis sich herausstellte, daß er nicht einmal mehr die
nötige Autorität hatte, sich im eignen Lande Gehorsam zu verschaffen, und
wir sehen — wie dies ja auch der brave alte Präsident Krüger unter einem
weit ungünstigern Ausblick in die Zukunft thut — vertrauensvoll den Er¬
eignissen entgegen, die uns den Ratschluß der Vorsehung entschleiern sollen.
Wenn der Deutsche nicht inzwischen, wozu er sich allerdings anzuschicken scheint,
in Vier, Festlichkeiten, oberflächlichem Wesen und unverantwortlicher Unwissen¬
heit von allem, was ringsherum geschieht, zur Molluske wird, so werdeu ja
die Franzosen und die Russen finden, ü, ani x-irlör. Aber leicht sollte man
die Sache um Gottes willen nicht nehmen. Es wird im eigentlichsten Sinne
des Worts an Rock und Kragen gehn, und wenn die Deutschen im ent-
scheidenden Augenblicke weniger hell, weniger kräftig, weniger begeistert, weniger
opferfreudig sein sollten, als sie es 1813 und 1870 gewesen sind, so könnte
man wohl etwas erleben, was zu dem Niederwalddenkmal, zu den Stand¬
bildern Wilhelms des Ersten und zu den Bismcircksäulen schlechter als schlecht
passen würde.
Von der hohen russischen Gesellschaft, über der der Zar und die Mit¬
glieder des Hauses Romanow stehn, und in die wir die Mitglieder des kaiser¬
lichen Hauses deshalb auch nicht einschließen, wäre mancherlei zu sagen. Wir
wollen uns hier damit begnügen, zu bemerken, daß sie auf der ganzen Welt,
was Lüge, Intrigue, Verleumdung und Falschheit anlangt, nicht ihresgleichen
hat: es müßten denn der Harem ii? Mdiz-Kiosk oder der Hof der Kaiserin-
Mutter von China nach diesen Richtungen hin noch Bedeutenderes leisten.
Die fidele, keine Verschämtheit kennende, sich an sich selbst erfreuende und im
hellen Tageslicht horrende Lüge findet sich, jene beiden Ausnahmen vielleicht
abgerechnet, nur in der russischen Gesellschaft in ebensolcher Vollendung vor.
Eine durchaus ehrbare und wohlerzogne Dame ist eben von vier bis
fünf andern abgeküßt und von der Herrin des Hauses unter den überschweng¬
lichsten Zärtlichteitsbezeiguugen ins Vorzimmer gebracht worden. Die Thür
hat sich kaum hinter der zur übrigen Gesellschaft zurückkehrenden Dame vom
Hause wieder geschlossen, und schon wird der eben hinausgeleiteten scheint und
Brand nachgesagt.
Wir waren sehr gut mit einer Dame und deren Töchtern bekannt, deren
Gatte und Vater längere Zeit einen Gesandtschnftspvsten in Se. Petersburg
bekleidet hatte. Es waren gute, liebenswürdige, ehrbare Deutsche, die auch
im Ausland gute ehrbare Deutsche geblieben waren. Der alte Herr, der in
Se. Petersburg, um zu repräsentieren, notgedrungen einige Bären angebunden
hatte, hatte seinem Souverän bei seiner Heimkehr ein weiteres Paar, Mischte und
Maschka, mitgebracht, und der Souverän hatte sich der mitgebrachten wie der in
Se. Petersburg angebundnen bereitwillig angenommen. Der alte Herr komman¬
dierte ein Kavallerieregiment, und es war rührend zu sehen, wie sich die Familie
unter den Überbleibseln großstädtisch moskowitischer Pracht und Herrlichkeit in
alteinfacher deutscher Art wieder zurechtzufinden suchte. Aber das Lügen hatten
sie sich in Se. Petersburg doch alle angewöhnt. Olga, du sollst nicht lügen!
war das dritte Wort der alten Dame, und auch Olga und ihre beiden Schwestern
thaten mit gegenseitigen Warnungen und vorsichtiger Selbstbeobachtung ihr
Möglichstes. Die Sache ist selbstverständlicherweise längst wieder in ihr rich¬
tiges Geleis gekommen, aber es war ordentlich, als wenn die ganze Familie
in eine Lügeulauge getaucht gewesen wäre.
Für einen deutschen Botschafter ist die Verpflichtung, in einer Gesellschaft
dieser Art Fuß zu fassen und sich da eine solche Stellung zu verschaffen, daß
er als dazu gehörig angesehen werde, und Verläßliches berichten könne,
ganz gewiß keine leichte Nummer, obwohl in solchen Füllen das Gesamtbild
immer für eine Menge angenehmer Ausnahmen Raum läßt. Es soll zwei
Wege geben, zum Ziele zu kommen: dem Kaiser zu gefallen, was nicht jedem
beschieden ist, aber sofort wie mit einem Zauberschlage jede Schwierigkeit aus
dem Wege räumt; oder sich durch Luxus, Eleganz und Liebenswürdigkeit eine
Stellung in der Gesellschaft zu machen. Wir haben das erwähnt, um die
Vermutung daran zu knüpfen, daß die deutsche Regierung in vielen Füllen,
wenn sie Glück in der Wahl des kaiserlichen Botschafters gehabt hat, leidlich
informiert sein und zum Beispiel ahnen wird, ob es geheime Stimulationen
bei dem französisch-russischen Bündnisse giebt, und welcher Art sie sind. Die
Engländer sagen: Luelr tliinAS log.1: tllroussli, IsaK out, und Vismarck hat sich
mehrfach, wenn von einem nicht diskreten Diplomaten oder Beamten des Aus¬
wärtigen Amts die Rede war, des Ausdrucks bedient: Er ist nicht dicht.
Ja wie sollen wir nun beschreiben, wie einzelnen Bevorzugten, unter
ihnen in erster Reihe einem gern gesehenen Botschafter gewisse Dinge bekannt
werden, ohne daß man eigentlich sagen kann, der oder jener habe die Katze
aus dem Sack gelassen? Wenn unsre verehrten Volksvertreter den Gehalt
des kaiserlichen Botschafters in Se. Petersburg mit Ach und Krach bewilligen,
als wenn es sich dabei um jemand handelte, der sich dort eines goldnen
Müßiggehns erfreuen solle, so geben sie sich freilich davon keine Rechenschaft,
daß der Eisenbahnbeamte, der an einem lebhaften Kreuzungspunkte das Be¬
obachten und Manipulieren im Signalhause mit Mühe und Not ein bis zwei
Stunden crmacht, vor dem beobachtenden Diplomaten in doppelter Beziehung
etwas voraus hat, weil er genau weiß, wohin er zu sehen hat, um die Signale
aufzunehmen, und er sich auf das, was er sieht, verlassen kann, während der
Beobachter im (W-as-vozuk des Winterpalasts weder weiß, wo etwas zu er¬
spähn sein wird, noch wem er trauen darf.
Wem? ein Botschafter der rechte Mann für Se. Petersburg ist und dn
gefällt, so bilden sich zwischen ihm und der Gesellschaft Beziehungen, Fäden,
Kanäle, die nicht dein ausländischen Diplomaten, sondern dem liebenswürdigen
Gesellschafter gelten, und bei diesem zwanglosen geselligen Verkehr seiht eben ab
und zu etwas durch. Allerdings ist alle Welt um ihn herum diskret. Das kaiser¬
liche Paar ist diskret, die Großfürstinnen sind diskret, die Minister, die Generale
und die Flügeladjutanten, die Kammerherren und die Kammerjunker sind dis¬
kret, aber — das einzige, was den Botschafter ganz auf den Pott setzen könnte —
stumm siud sie nicht. Man sieht sich und trifft sich zu jeder Tages- und
Nachtstunde: es giebt langes Warten, endlos erscheinende Diners, obwohl ihre
Dauer kaum ein Viertel der Zeit in Anspruch nimmt, die uns in Deutschland
Mi Festmahl kostet; es wird immer wieder von neuem konversiert, gefragt, ge¬
antwortet, diskuriert, supponiert, referiert. Die Großfürstin Vera soll von dem
Minister des Auswärtigen oder von dessen rechter Hand oder von dessen Sohn
gehört haben . . . Nein, die Großfürstin Vera hat der Fürstin Galitzine aus¬
drücklich versichert, sie habe nichts gehört . . . aber der Fürst Galitzine hat von
dem Großfürsten Paul gehört . . . Schließlich steht es fest, daß niemand etwas
gesagt und niemand etwas gehört hat, aber der Botschafter hat doch dabei den
Eindruck gewonnen, es könne in einer geheimen Stipulation der Fall vor¬
gesehen sein, daß wenn sich im Fehmarn-Belt etwas ganz Bestimmtes ereigne,
das ohne weiteres als (Wus vetu werde betrachtet werden, und dieses dunkle
„man sagt, aber die Quelle, woher es stammt, habe ich nicht mit Bestimmt-
heit ausfindig machen können," nimmt denn auch der Botschafter in seinen
nächsten Bericht auf; er kommt darauf in einem spätern Privatbricf an den
Staatssekretär zurück, der Fürst Obolensky hat auch eine Anspielung auf etwas
dergleichen gemacht, und so wird denn an dem nicht aufgespaltnen Knochen
solange herumgenagt und herumgcleckt, bis man sich ungefähr einen Begriff
davon zu machen imstande ist, was etwa für eine Sorte Mark darin stecken
könnte. Auch die zur Botschaft gehörenden jüngern Herren durcheilen das
Jagdrevier, schnuppern umher, lassen keine Fährte unversucht. Mit Durch¬
sieben, Auflösen, Klären, Verflüchtigen und Wiederverdichten kommt die Regie¬
rung doch schließlich dazu, etwas zu vermuten, was die Presse nicht weiß, und
was sie sogar mit Herrn von Blowitzens nie Hilfe erfahren wird, weil die
Herren von der Presse doch schließlich für diesen exklusiven und sich authen¬
tische Nachrichten im sublimierten Zustande zuflüsternden Teil der Gesellschaft
olltsi(I«zr8 sind, und man gewisse Dinge nur erschnüffeln kann, wenn man
wirklich zum Schwarm gehört und mittendrin fliegt.
Wir haben diesen kleinen Umweg genommen, um zu dem Schlüsse zu
kommen, daß die Presse — ihre großen Eigenschaften und Leistungen in
Ehren — einen Gegenstand wie das französisch-russische Bündnis immer mit
großer Zurückhaltung behandeln sollte, wie vorsichtige Leute etwas zu behandeln
pflegen, was sie nur von einer Seite kennen, und wovon sie wissen, daß andre
es von allen Seiten kennen. Denn es ist doch immerhin sonderbar, daß sich
irgend jemand ohne zwingende Not und ans eignem Antriebe in die falsche
und lächerliche Lage der berühmten Fliege bringen sollte, die auf einem schweren,
von vier Pferden bergauf gezognen Lastwagen sitzend das schwere Werk allein
mit ihren Reden zu gutem Ende und den Wagen auf die Höhe hinauf ge¬
bracht zu haben glaubte.
Ob sich die französische Regierung als Gegenleistung für das von ihr
Rußland zuliebe in Ostasien auf sich Geuommne in Osteuropa und insbesondre
an unsrer Grenze Trommeln und Trompeten hat versprechen lassen, wissen
wir nicht, und wir sind damit, glauben wir, in demselben Falle mit einer
Menge Menschen, die gern etwas darüber hören würden, aber sich bescheiden
den Mund wischen müssen. Die deutsche Regierung wird von einer solchen
Abmachung wohl auch schwerlich mehr als auf Umwegen die allgemeinsten
Umrisse zu erraten bekommen.
Wenn man sich nun sagen muß, daß mau in dieser Sache vom hellen
lichten Tage nichts weiß, und daß mau also weder beurteilen kann, wo die
Gefahr schwebt, noch wie dringlich sie ist, so läge es, sollten wir meinen,
nahe, daß man fürs erste die Negierung sorgen ließe. Wo es allem Ver¬
muten nach darauf ankommen wird, eine gefährliche Konstellation durch einen
raschen und praktischen Schachzug zu neutralisieren, dürfte es doch mehr als
Unverstand sein, wenn der ehrsame Bürger einen solchen Augenblick, für den
die Regierung alle Hände frei haben muß, dazu benutzte, in ungeniertester Weise
auf eigne Hand kurzsichtige, sagen wir zum Beispiel englischfeindliche Gefühls¬
politik zu treiben. Ihn vor solchen unreifen Streichen zu warnen, ist die
Pflicht und der Beruf der Presse. Wie sie ihre Pflicht erfüllt und ihrem
Berufe nachkommt, davon geben täglich viele Dutzende von Leitartikeln schmerz¬
liches Zeugnis. Wir wissen es zwar längst, daß alles Zureden dem von
seiner Weisheit und Uuübcrtrcfflichkeit durchdruugncn Deutschen gegenüber
vergeblich ist, aber leid thun uns solche Lalenbürgerstreiche doch immer wieder
von neuem, des Leiters der auswärtigen Politik und des Deutschen Reichs
wegen, denen auf diese Weise so beschwerliche Klötze ans Bein gebunden sind.
n der ganzen Weltgeschichte läßt sich nur die venctinnische Oli¬
garchie' mit der britischen vergleichen. Hier wie dort dieselbe
Thatkraft, derselbe Erfolg. Aber die Gefahr der Verknöcherung.
die Venedig kraftlos zu einer Beute Bounpartes machte, drohte
auch der britischen Regierung. So großes sie geleistet hatte,
sie war doch bloß eine Klasscnregieruug, und gegen das Ende des achtzehnten
Jahrhunderts mehrten sich die Anzeichen, daß sie nicht mehr so wie am An¬
fang den Besitz und die Bildung hinter sich hatte. Der Versuch, die ameri¬
kanischen Kolonien ebenso zu behandeln wie das britische Volk, war mißglückt,
doch der Fehlschlag hatte keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Daheim blieb
alles beim alten, und das Volk wurde mit schwerer Hand niedergehalten. Zur
Zeit der französischen Revolution öffentlich von einer Reform des Parlaments
zu sprechen, brachte vierzehn Jahre in Botanybai ein, nud die Habeascorvus-
akte blieb jahrelang außer Kraft gesetzt.
Nach der Zeit des Kampfes gegen Napoleon, die innere Fragen in den
Hintergrund gedrängt hatte, trat die Unzufriedenheit in vermehrter Stärke
hervor Das Volk nahm stetig zu an Zahl, es mühte sich ub in Fabriken
und Bergwerken, aber von dem Reichtum, der sich häufte, floß nichts in seine
Taschen. Eine erbarmungslose Ausbeutung drückte es herab auf ein Leben,
das noch geringer war als ein tierisches Dasein. Je länger je größer wurde
der Abstand zwischen Reich und Arm, Hoch und Niedrig, und die Regierung
sah dein gleichmütig zu. teils aus Hochmut, teils weil sie sich durch schranken¬
loses Gewährenlassen die Mittelklassen zu verbinden glaubte. Solange sie nur
mit den unorganisierten Massen zu thun hatte, brauchte sich die Regierung
nicht zu fürchten. Am 1». Angust 1819 hatte in Manchester eine Abteilung der
Neomanryreitcrei genügt, eine Volksversammlung von 60000 bis 80000 Menschen
Zu sprengen. Aber die Negierung sah auch den Mittelstand sich gegenüber mit
einer Waffe, weit gefährlicher als die Steine des Pöbels, mit der Waffe der
öffentlichen Meinung, die durch das gesprochn«: wie das geschriebn? Wort eine
Reform forderte. Denn der Mittelstand war nicht gewillt, noch länger als
gehorsamer Diener hinter dem Adel herzntrotten und sich mit den Brosamen
zu begnügen, die vom Tische der Großen fielen. Er wollte nicht länger den
bloßen Handlungsgehilfen in dem großen Geschäfte John Bull K Co. spielen,
sondern sehnte sich nach der Stellung eines Teilhabers, zu der ihn sein Ver¬
mögen und seine Kenntnisse berechtigten. Das mußte die Oligarchie einsehen.
Sie hatte nur die Wahl zwischen klugem Einlenken, das ihr die Möglichkeit
fernerer Führung offen ließ, und einem Aufstande, der sie für immer aller
Macht beraubt haben würde. Sie wühlte das erste, indem sie in der Par¬
lamentsreform den Mittelstand zur Teilnahme an der Regierung zuließ.
Die Reform des Parlaments schließt den zweiten Abschnitt in der Ent¬
wicklung der englischen Regierung seit dem Beginn der Neuzeit. Auf die
persönliche Herrschaft des Königs war die der Parteien eines Standes gefolgt,
und diese wich nun den Parteien aus mehreren Stünden. Der dritte Abschnitt
steht unter dem Zeichen des Interessenausgleichs zwischen Adel und Mittel¬
stand. Ein ungeheurer Fortschritt vollzieht sich in diesem Abschnitte. Der
Staat ist nicht länger der Ausbeutung eines kurzsichtigen Königs oder einer
engen Adelskaste preisgegeben und wird in den Stand gesetzt, durch Aus¬
dehnung der Verwaltung seine Aufgabe besser zu erfüllen. Aber über Partei-
regiernng ist das Viktorianische England nicht hinausgekommen. So viele Ge¬
brechen es geheilt hat, in diesen: steht es nicht über der frühern Zeit.
Eine hohe Auffassung von dem Wesen und den Pflichten eines Staats
war bei dem Mittelstände so wenig zu finden wie bei dem Adel. Seine
Standessclbstsucht war um nichts geringer. Er bestand auf dem, was er für
seinen Vorteil hielt, und dem hatte sich der Adel zu fügen. Die volkswirt¬
schaftlichen Grundsätze, die durch hohe Kornzölle dem Adel seine Hanptein-
ncihmeauelle gesichert hatten, machten denen des Freihandels Platz, die den
Ackerbau lähmten und das Land entvölkerten, aber Handel und Gewerbe
förderten. Mehr als Ungebundenheit in der Entfaltung seiner wirtschaftlichem
Kräfte verlangte der Mittelstand nicht, nach alleiniger Herrschaft zu streben
lag ihm fern. Solange er also seinen eignen Vorteil gesichert sah, überließ
er nicht ungern die weitere Führung der öffentlichen Angelegenheiten dem
regierungsgeübten Adel. Nicht lange, so erkannte auch dieser die Wege, seine
in der Landwirtschaft erlittnen Verluste auszugleichen, und nahm an der Aus¬
nutzung der durch die neue Volkswirtschaft erschlossenen Einnahmequellen mit
demselben Eifer teil, mit dem er vordem die Schutzzölle verteidigt hatte.
Die Aufgabe, die den so Verbündeten besitzenden Klassen erwuchs, wenn
sie am Nuder bleiben wollten, war, Handel und Gewerbe blühend zu erhalten.
In den Fnbrikgegendcn hatte die chartistische Bewegung ihre größte Stärke
entfaltet, dort waren das Elend und die Erbitterung am schärfsten ausgeprägt.
Wenn es gelang, die Lage der Fabrikarbeiter und der Bergleute durch lohnenden
Verdienst zu heben, dünn fiel die Gefahr einer chartistischen Erhebung weg.
Mit leerem Magen wird der Mensch leicht rebellisch, aber nach einer guten
Mahlzeit sieht die Welt gar nicht so übel aus. Die Freihandelspolitik, für
die sich die Regierung entschied, erfüllte also einen doppelten Zweck, einen
Wirtschaftlichen und einen politischen. Die Benachteiligung des Ackerbaus fiel
dagegen nicht schwer in die Wagschale. In der Politik war von der Un¬
zufriedenheit der Landbevölkerung nichts zu befürchten, und wenn es ihr
draußen an Arbeit mangelte, so stand ihr frei, lohnende Beschäftigung in der
Industrie zu finden. Der Mann vom Lande konnte sich leicht in die Stadt
einleben, der Städter dagegen würde nie einen brauchbaren Landarbeiter ab¬
geben. Also ging die Landwirtschaft über Bord, und das Schifflein des Staats
segelte unter der Flagge des Freihandels. Das war freilich nur möglich durch
die ungeheure Überlegenheit Großbritanniens in allem, was Handel und Ge¬
werbe anging. Die festländischen Staaten hatten sich noch nicht so hinreichend
von den Leiden des napoleonischen Zeitalters erholt, daß sie mit ihrer In¬
dustrie in Frage kommen konnten gegen Großbritannien, das durch keinen feind¬
lichen Einfall in der Entwicklung seiner Kräfte gestört worden war und, durch
eine riesige Kapitalmacht unterstützt, seine Erzeugnisse billiger und besser als
andre Länder herstellen konnte. Fast im Besitze eines Monopols fand Gro߬
britannien seine Rechnung beim Freihandel. Das dürfen wir nicht vergessen,
wenn wir die Briten sich ihrer Großmut rühmen hören, mit der sie seit einem
halben Jahrhundert fremden Waren freien Eintritt in das Vereinigte König¬
reich gewähren. Sie haben den Freihandel eingeführt, nicht um fremden
Völkern Wohlthaten zu erweisen, sondern weil es ihnen vorteilhaft schien, und
sie werden ihn verlassen, sobald sie der Ansicht werden, daß sie mit Schutz¬
zöllen besser fahren.
Mit der Sicherung lohnender Beschäftigung allein war jedoch die char¬
tistische Gefahr uoch nicht aus der Welt geschafft. Ihre Wurzel lag in der
Lehre des laisssr taire- et laigssr aller, wonach der Staat bloß Leben und
Eigentum zu schützen, nicht aber sich um das Verhältnis des Arbeitgebers zum
Arbeitnehmer zu kümmern hat. Die alte Adelsrcgierung hatte Kriegsschiffe
ausgesandt, die auf Sklavenhändler Jagd machen sollten, aber ohne Herz¬
beklemmung hatte sie unter ihren Augen eine Sklaverei anwachsen lassen, die
viel schlimmer war als die der Schwarzen, die in den Bergwerken die Frauen
zu Tieren machte, in den Fabriken die Kinder hinwelken ließ. Bei solchen
ungesunden Zuständen, die einen gänzlichen sittlichen Verfall der Arbeiter-
bevölkerung in sichere Aussicht stellten, war an eine dauernde Blüte der In¬
dustrie nicht zu denken. Von denen, die aus dem Arbeiterelend Gewinn zogen,
konnte man keine freiwillige Änderung hoffen. Die Gesetzgebung mußte ein¬
schreiten und die Arbeit in Fabriken und Bergwerken unter strengere staatliche
Aufsicht stellen.
Nachdem der Weg staatlicher Einmischung einmal beschritten war, mußte
er eingehalten werden. Trotz aller Betonung der persönlichen Freiheit, die
im Staate nur einen Bedrücker sehen will, trotz der mitleidigen Verachtung,
mit der der Brite die staatliche Gewalt bei andern Völkern als großmütter¬
liche Gängelung verurteilt, hat der Staat in Großbritannien seinen Wirkungs¬
kreis stetig erweitert und erweitert ihn noch. Früher begnügte er sich damit,
dein Bürger etwas vorzuschreiben, jetzt sieht er darauf, daß seine Vorschriften
auch wirklich befolgt werden. Der beste Beweis der erweiterten Fürsorge ist
die Schaffung einer Anzahl neuer und die Ausgestaltung einiger der altern
Negicrungsabteiluugen. Im Handelsamte hat sich die Zahl der fest angestellten
Beamten seit 1840 versiebenfacht. Niemand hätte es vor hundert Jahren für
möglich gehalten, daß der Staat in die Rechte eines Vaters über seine Kinder
eingreifen und sich mit Erziehung befassen könnte. Und doch hat der Staat
es gethan, und hat es jetzt sogar unternommen, etwas Ordnung in den
jammervollen Wirrwarr des höhern Unterrichts zu bringen. Der freie Brite
sieht sich heute von dem Racker von Staat, der in alles seine Nase stecken
möchte, ganz gewaltig in der freien Bewegung gehindert, und oft genug klagt
er, er werde zuviel regiert. Aber was hilft die Klage? Er muß sich ins Un¬
vermeidliche schicken und, wer weiß, vielleicht sogar die allgemeine Wehrpflicht
über sich ergehn lassen. Soll Großbritannien nicht zurückgehn, so muß es den
modernen Staat weiter ausbauen.
Ein groß angelegter Plan lag den Reformen, die durch die große
Parlamentsreform möglich wurden, nicht zu Grunde. Für etwas wie die
Stein-Hardenbergische Gesetzgebung, die ein neues Preußen schuf, war und ist
in Großbritannien kein Boden, weil es an dem einheitlichen Willen fehlt.
Alle Reformen waren mit Parteipolitik verquickt, trugen den Stempel der
Partei. Parteipolitik ist auch im besten Falle mangelhaft; denn sie kann sich
nicht über den Grundsatz erheben, der den größten Nutzen für die größte An¬
zahl fordert. Der Satz ist bestechend, aber einer wahren Staatskunst nicht
würdig. Er kennzeichnet den individualistischen Staat, nicht den gesellschaft¬
lichen, der für das Wohl aller, auch der geringsten seiner Glieder zu sorgen
hat. Für eine Parteircgierung ist der Satz aber sehr bequem. Da sie die
Mehrzahl der Wähler hinter sich haben muß, vermag sie mit ihm alle Ma߬
nahmen zu decken. In Großbritannien ist ihm der Ackerbau zum Opfer ge¬
fallen, und zu spät erkennt man jetzt, wie dadurch der beste und kräftigste Teil
des Volks vom Lande in die Fabrikstüdte oder zur Auswandrung getrieben
worden ist. Die Größe eines Staats beruht weniger auf der Masse der
Güter und des Geldes, die in ihm aufgehäuft wird, als auf den Menschen,
die ihm angehören, und ein kräftiges Volk hat eine bessere Zukunft vor sich
als ein reiches.
Die britische Gesetzgebung beschränkt sich auf das unmittelbar Nötige.
Die Gesetze sind schon in der Vorlage nicht von einem über dem Ganzen
stehenden Geiste, sondern von Parteirücksichten eingegeben. Nach allen Seiten
muß Ausschau gehalten werden, ob nicht durch eine Bestimmung eine der
vielen mächtigen Interessengruppen verletzt wird. Da sind die Eisenbahnen,
die Reedereien, die Banken, die Brauer und die Schenkwirte, sie alle verlangen
sehr zart behandelt zu werden, oder das Zünglein an der Wage neigt sich
nach der andern Seite. Die öffentliche Meinung muß sich in sehr starken
Ausdrücken ergehn, bevor die Interessengruppen ein Haarbreit von ihren ver¬
meintlichen Rechten aufgeben. Wo der Kuhhandel Regierungsmaxime ist,
muß man froh sein, wenn ein einigermaßen brauchbares Gesetz zustande kommt,
das wenigstens dem dringendsten Bedürfnis abhilft.
Unter der Notwendigkeit, auf die Interessengruppen Rücksicht nehmen zu
müssen, leiden beide Parteien als einer Folge der Parlamcntsreform. Der-
Mittelstand hat eine Fülle widerstreitender Bestrebungen in die Parteien ein¬
geführt, und die vordem so einfache Parteipolitik ist sehr verwickelt geworden.
Den Whigs und Tories machte die Parlamentsreform den Garaus. Sie waren
nur Vertreter einer einzigen Klasse der Gesellschaft und brauchten sich nicht
mit Rücksichten abzugeben. Die Parlamentarier der Zeit nach 1832 hatten
dagegen schon eine mehrere Klassen umfassende Wählerschaft hinter sich, und
dementsprechend ergab sich eine Umbildung der Parteien. Ans den Tories
wurden Konservative, aus den Whigs Liberale. Eine Reihe von Jahren zwar
blieben die alten Bezeichnungen noch im Gebrauch, weil die Mitglieder der
alten Parteien auch noch im reformierten Parlament saßen, und weil die Teilung
des Parlaments in zwei Parteien fortdauerte. Bald jedoch traten sie ganz
zurück; heute werden Whigs gar nicht mehr erwähnt, und von Tories liest
man höchstens noch in liberalen Blättern, wenn sie die Engherzigkeit der Kon¬
servativen besonders scharf abkanzeln wollen, etwa wie deutsche Zeitungen von
den Junkern reden.
Die weitere Ausdehnung des Stimmrechts ist natürlich nicht ohne Wirkung
geblieben. Noch haben, bei der Kostspieligkeit der Wahlen. Adel und Mittel¬
stand das Heft in Händen. Mit geringen Ausnahmen gehn aus ihnen die
Mitglieder des Unterhauses hervor. Aber die Stimmung der Massen muß
sorgfältig in Berechnung gezogen werden. Nun, die lange politische Schulung
befähigt die besitzenden Stände, sich den Verhältnissen anzupassen, und mit Hilfe
der Presse gelingt es ihnen, auch die Arbeiter zu leiten. Wenn die Presse
irgendwo eine Macht ist, so ist sie es in England.
In Deutschland wird es der Regierung herzlich schwer gemacht, durch
die Presse auf das Volk einzuwirken. Es gilt für gcsinnungstreu und un¬
abhängig, an allein, was die Regierung thut, zu mäkeln, und ein Blatt, das
die Regierung unterstützt, läuft Gefahr, als Reptil verschrieen zu werden. Bei
der Zersplitterung des deutschen Volkes in eine übergroße Zahl von Parteien
kann auch die deutsche Presse nur Zersplitterung widerspiegeln, und es kann
nur wenig Zeitungen geben, die mit der Negierung Fühlung behalten. Anders
liegt es in ^Großbritannien, wo die Regierung nicht über den Parteien steht,
sondern nur die Ausgeburt einer Partei ist. Den Anhängern der Partei muß
alles daran liegen, ihre Leute im Amte zu erhalten, und deshalb steht die
gesamte Presse der herrschenden Partei im Dienste der Regierung, um den
Ansturm der Gegner zu bekämpfen und dem weisen Wähler die Politik der
Minister als die allein waschechte und seligmachende Wahrheit zu predigen.
Von einer politischen Bildung und Erfahrung der Massen kaun man uicht
reden. Wo sollte die herkommen? Die Masse des Volkes hat ja erst 1867
ein Wahlrecht erhalten, und die allgemeine Schulpflicht ist erst 1870 eingeführt
worden. Die gerühmte politische Bildung der Briten findet sich nur in den
obern Klaffen. Die breite Mittelklasse leiert gedankenlos nach, was die
Zeitungen drucken, und in den untern Klassen stößt man beim ältern Geschlecht,
das 1870 schon über das schulpflichtige Alter hinaus war, fort und fort
auf Leute, denen das Schreiben eine unbekannte Kunst ist. die höchstens Ge-
drucktes entziffern können. Eignes Denken kann man auch bei denen nicht
«rwarten, die eine bessere Bildung als die der Elementarschule genossen haben.
'Das Denken wird immer und überall — das Volk der Denker und Dichter
macht davon keine Ausnahme — nur von wenigen besorgt; bei dem Reste
muß man zufrieden sein, wenn sie sich die Gedanken der wenigen aneignen
können. In Großbritannien ist deshalb die Presse Trumpf. Wer die Presse
in der Hand hat, hat die Macht. An der Spitze stehn die alten Parteiblatter
der Konservativen und der Liberalen, die, mit reichen Mitteln ausgestattet,
einen Unternehmungsgeist zu entfalten vermögen, gegen den minder begünstigte
Blatter schwer aufkommen können. Ihre Auflage zählt nach Hunderttausenden.
Ihnen sind, besonders in den letzten Jahren, eine Anzahl von Zeitungen zur
Seite getreten, die in der Behandlung des Stoffs wie in ihrem billigen Preise*)
vornehmlich auf die Massen berechnet sind. Aber auch sie fügen sich in den
Bann der beiden großen Parteien, die miteinander um die Herrschaft ringen,
und helfen ihrerseits eifrig mit, die Arbeiter unter der Führung der besitzenden
Klassen zu halten. Der Wille des Volks ist die Richtschnur der Regierung,
der Wille des Volkes ist entscheidend, so lautet das Lied, das in allen Ton¬
arten dem Volke vorgesungen wird. Daß der Wille des Volkes den Partei¬
führern genehm ist, dafür sorgt die Presse.
Der Geschlossenheit der Parteipresse darf man Wohl zuschreiben, daß die
britischen Parteien so lange vor der Zersetzung bewahrt geblieben sind, die das
Schicksal der Parteien in andern Ländern geworden ist, wie z. B. in Frank¬
reich, wo in den einunddreißig Jahren seit dem Sturze des Kaiserreichs die
Minister nicht weniger als siebenunddreißigmal gewechselt haben. Gro߬
britannien hat in demselben Zeitraum nur acht Premierminister gehabt. Aus¬
bleiben wird die Zersetzung auch in Großbritannien nicht. Der Mittelstand
und der Adel konnten sich zu den Parteien der Liberalen und der Konservativen
zusammenthun, weil sie bei allen Sonderinteressen die gemeinsame Grundlage des
Besitzes hatten. Durch die beiden spätern Reformen des Wahlrechts ist aber
die Zahl der Wähler aus den untern Klassen zu groß geworden, als daß an¬
zunehmen wäre, sie würden sich ans die Länge der Zeit damit begnügen, ge¬
gängelt zu werden. Solange die Regierung es fertig bringt, durch Erschließung
neuer Märkte Handel und Wandel blühend zu erhalten, mag der Arbeiter sich
das gefallen lassen. Sobald sich aber eine ungünstige Lage des Welthandels
ihm in der Tasche fühlbar macht, wird er die alten Parteien beiseite zu
schieben suchen.
In der liberalen Partei, als der demokratischen Einflüssen mehr aus¬
gesetzten, hat die Zersetzung schon begonnen. Sie begann schon zu Gladstones
Zeiten mit dem Abschwenken der liberalen Unionisten, und nur die Achtung,
die man dem verdienten Kämpen zollte, hielt die Einigkeit unter dem Neste
aufrecht. Nach Gladstones Abtreten von der Bühne sind die verschiednen
Richtungen, die innerhalb der Partei nebeneinander bestehn, schärfer zum
Ausdruck gekommen, sodaß die Einheit nur uoch äußerlich ist. In der für
Großbritannien so verhängnisvollen südafrikanischen Frage herrscht ein wirres
Durcheinander von Meinungen, das dem Führer der Partei ein festes und
folgerichtiges Auftreten verwehrt. Da sind unter seinem Gefolge viele, die
ganz und gar mit den Jingos gehn möchten; andre wieder verurteilen den
Krieg und die Weise, wie er herbeigeführt worden ist, sehen aber keinen Aus¬
weg, als der gegenwärtigen Regierung freie Hand zu lasse»; eine dritte Gruppe
glaubt, die Buren der britischen Flagge dnrch sanfte Behandlung geneigt
macheu zu können, und eine vierte endlich ist dafür, den Buren ihre volle
Unabhängigkeit zu lassen. Nicht mehr Übereinstimmung ist in der innern
Politik zu finden. Die Erweiterung des Wahlrechts hat die Partei nach
links getrieben, und die rührigen Radikalen ins Vordertreffen gebracht, aber
ohne ihnen ein Übergewicht zu verleihen. Auch nach dem Ausscheiden der
Unionisten steht diesen noch eine große Zahl gemäßigt Liberaler gegenüber,
die jederzeit Wasser in den radikalen Wein gießen und sich in vielen Dingen
dem Standpunkte des Herzogs von Devonshire und seiner Freunde nähern.
Ganz getrennt von den Liberalen ist schon die unabhängige Arbeiterpartei, die
zwar nur drei Mitglieder zählt, aber wahrscheinlich im Laufe der Zeit ebenso
wachsen wird, wie die der Sozialdemokraten im deutschen Reichstage.
Die Aussichten der Liberalen für die Zukunft sind wenig rosig. Bei der
Lauheit, mit der die Mehrheit der Liberalen die Homerulefrage betrachtet, ist
ein Bündnis mit den Iren ausgeschlossen. Durch innern Hader zerrüttet, ohne
feste innere oder äußere Politik könnten sie mich mit den Iren nicht auf einen
Sieg an der Wahlurne rechnen, auf keinen Fall aber stünde ein Sieg zu er¬
warten, der sie wie die gegenwärtige Regierung auch von den Iren unab¬
hängig machte.
Den Konservativen und den mit ihnen Verbündeten liberalen Unionisten
kommt der Zerfall der liberalen Partei sehr gelegen. Er hat ihnen 1895 die
Macht überantwortet und hat sie 1900 darin bestätigt. Als Verfechter des
Bestehenden sind die Konservativen an sich schon viel geschlossener als ihre
Nebenbuhler, und die Zeichen innerer Auflösung machen sich bei ihnen noch
nicht oder nur wenig bemerkbar. Die Konservativen mögen zufrieden sein,
aber für Großbritannien hat die Lage schwere Bedenken, denn thatsächlich
ist durch die Ohnmacht der Liberalen die Grundlage seiner parlamentarischen
Regierung zerstört. Die Erfolge dieser Regierungsform beruhten auf der
Mäßigung, die das Vorhandensein einer kräftigen, regierungsfähigen Opposition
der herrschenden Partei auferlegte. Wohl führten die Kompromisse, die bei
aller Gesetzgebung nötig waren, oft nur zu halben Maßregeln und zu einer
Unklarheit im Ausdruck, die Rechtsstreitigkeiten Thür und Thor öffnete, aber
sie verhinderten doch die schroffe Geltendmachung einer einseitigen Parteiauf-
fassuug. Davon kann bei der Allmacht einer einzigen Partei nicht mehr die
Rede sein. Die Konservativen fragen auch nicht das geringste mehr nach einer
Opposition, die uicht regierungsfähig ist, sondern verfolgen ohne Rücksicht die
imperialistische Politik, für die ihre Presse seit sieben Jahren das britische Volk
bearbeitet hat. Die imperialistische Politik hat den großen Haufen hinter sich.
und ohne Zweifel enthält sie auch ein gutes Stück nationaler Politik, da die
Ausbeutung der südafrikanischen Goldfelder die britische Kapitalkraft stärken
und der Industrie die Überwindung von Krisen erleichtern würde, die weniger
kräftigen Nebenbuhlern verhängnisvoll sein müßten. Am Ende würde also
auch der britische Arbeiter gewinnen. Aber das kann nicht den Hauptfehler
dieser Politik verdecken, daß sie nur Parteipolitik ist, eingegeben und geleitet
von einem geldgierigen Kapitalismus. I. A. Fronde schrieb 1885 in seinem
Buche Oceana: „Es liegt in der Natur der Partei, daß Parteiführer die
Dinge nie sehen, wie sie wirklich sind, sondern nur wie sie für den Augenblick
die Interessen eines Teils der Gesellschaft berühren." Fronde fand, daß die
heimischen Parteiführer in ihrer Kurzsichtigkeit kein Verständnis und kein Herz
für die Kolonien hätten. Jetzt werden die Kolonien gestreichelt und gehätschelt;
doch schwerlich würde sich Fronde, wenn er noch lebte, über diesen Imperia¬
lismus freuen, der die ganze Welt nur danach beurteilt, wie sie sich in den
Zahlenreihen des Hauptbuchs ausnimmt, und der sittliche Kräfte unterschätzt.
Selten hat sich eine Berechnung trügerischer erwiesen, als die der britischen
Imperialisten, und nun hat das ganze britische Volk mit seinem Blute und
seinem Gelde dafür zu büßen.
Es wäre thöricht, aus den Mißerfolgen in Südafrika geringschätzende
Schlüsse über Großbritannien zu ziehn. Ein andres Volk würde wahrscheinlich
unter gleichen Umständen nicht mehr geleistet und kaum dieselbe Zähigkeit
in der Verfolgung eines einmal begonnenen Unternehmens bewiesen haben.
Diese Zähigkeit in einer Sache, die von allen andern Völkern mit Recht ver¬
dammt wird, ist ein Beweis, daß noch ein tüchtiger Kern im britischen Volke
steckt. Bei der Beurteilung darf nicht übersehen werden, daß die imperialistische
Presse eine Reihe von Jahren systematisch das britische Volk wider die
Buren verhetzt und diese in solchen Farben dargestellt hat, daß der Brite
alles Ernstes glaubt, eine gute Sache zu verfechten. Die Blutschuld liegt uicht
bei dem irregeführten bethörten Haufen, sondern bei den Parteipolitikern, und
weiter zurück ist dafür verantwortlich der Verfall der parlamentarischen Re¬
gierungsform, die zu gedeihlichem Wirken das Vorhandensein einer Opposition
verlangt, die stark genug ist, Übergriffen zu begegnen. Die Form ist geblieben,
der Inhalt ist plutokratischer Cäsarismus.
Das Rom, das wir bewundern, ist das Rom der alten republikanischen
Einfachheit, nicht das lukullische, das nur einer kleinen Gruppe herrschsüctiger
Nabobs diente. England, das sein Reich so gern mit dem römischen vergleicht,
ähnelt heute mehr dem lukullischen als dem republikanischen, und sein Im¬
perialismus scheint ebenso teuer werden zu wollen wie der römische, durch den
Augustus die Varischeu Legionen verlor. Der Weg, den England eingeschlagen
hat, ist derselbe Weg, auf dem das alte Rom seinem Untergange zueilte. Ein
Zurück giebt es uicht, so lange die gegenwärtige Regierung mit ihrem im¬
perialistischen Programm besteht.
Eine liberale Ablösung kommt nicht in Frage. So bleibt dem englischen
Volke nur die Wahl, entweder die Folgen auf sich zu nehmen, die sich aus
dem Beharren auf dem betretnen Pfade ergeben, oder mit der Gewohnheit der
Regierung durch Parteien zu brechen und die Leitung des Reichs einem Kabinett
anzuvertraun, das nicht von einer Partei, sondern von dem über den Parteien
stehenden König ausgewählt wird. Eine Wiederkehr stuartischer Tyrannei
braucht man nicht zu befürchten, wenn der König die ihm gebührende Stellung
wiedergewinnt; dagegen würde dem Cüsarismus des Mammons die Spitze ab¬
gebrochen werden.
Wenn es dazu kommt, wird es auch an den geeigneten Leuten nicht fehlen,
die eine Negierung bilden könnten. Den Premierminister dürfte man in Lord
Nosebery sehen. Seit seinem Rücktritt im Jahre 1895 ist Nosebery seine eignen
Wege gewandelt. Er ist nicht mehr das Haupt der liberalen Partei; seit dem
vorigen Jahre kann er überhaupt nicht mehr zu ihr gerechnet werden. Nosebery
Pflüge seine Furche für sich allein. Er steht jetzt da als völlig parteilos, und
wenn er beteuert, er würde freiwillig die politische Arena nicht wieder betreten,
so darf man darunter nur die Arena des Parteikcimpfs verstehn. Er spart
seine Kräfte auf für die Zeit, wo er berufen wird, als Vertrauensmann des
Königs das rettende Ministerium der Zukunft zu schaffen. Doch erst mus; das
britische Volk zu der Einsicht gelangen, daß die konservativen Imperialisten den
Stnatskarren gründlich verfahren haben. Dann erst sind die Voraussetzungen
für eine parteilose Kabinettsbildung und eine neue gesunde Entwicklung ge¬
geben.
in Laufe der Zeiten haben es die Engländer verstanden, aus der
gesamten Erde die Länder, die durch Reichtum an Kultur- und
Handelspflanzen oder nutzbaren Mineralien besonders wertvoll
waren, sowie eine Anzahl von Orten, die als Handelsmetropolen
oder Etappen der Handelswege oder wegen ihrer strategischen
Bedeutung von Wichtigkeit waren, in ihren Besitz zu bringen.
Englands wertvollste Kolonie ist Ostindien. Ihre ungestörte Ausbeutung
erheischt die Sicherung des dahin führenden Weges. Als solcher kommt jetzt,
wo der früher nötige Umweg um das Kap der guten Hoffnung wegen des
Mehrverbrauchs an Zeit und Kohlen zu kostspielig wäre, fast ausschließlich der
durch den Suezkanal in Betracht. Dieser Weg ist durch eine Reihe von be¬
festigten Kriegshafen, Schiffs- und Kohlenstationen, von denen besonders
Gibraltar, Malta und Aden zu nennen sind, sowie durch die Okkupation von
Ägypten gesichert. Ägypten hat jedoch, da es als Beherrscher des Suez-
knnals den Verkehr Süd- und Ostasiens, Australiens und Ostafrikas mit
Europa vermittelt, inzwischen selbst eine ungeheure Bedeutung erlangt und
sich als eine Goldgrube für England erwiesen. Zugleich hat der Suezkanal
den sinkenden Handel im Mittelmeere wieder neubelebt. Aus diesen Thatsachen
ergiebt sich die hohe Bedeutung des Mittelländischen Meeres für England.
Die Herrschaft darin wird ihm streitig gemacht im östlichen Teile von
dem auf die Erbschaft des „kranken Mannes" spekulierenden Nußland, im
westlichen Teile von Frankreich, das diesen Teil in ein französisches Meer
verwandeln möchte. Italien dagegen war aus Besorgnis vor der ihm gefährlich
erscheinenden Schwesternatiou bisher ein Freund und ein geheimer Bundes¬
genosse Englands; neuerdings zeigt es jedoch Neigung, sich in Eintracht mit
Frankreich in die Herrschaft über das Westbccken des Mittelmeers und in den
Besitz der afrikanischen Küstenländer zu teilen. Als Operationsbasis für etwaige
Unternehmungen gegen England besitzt Frankreich eine ausgedehnte, mit guten
Kriegshafen versehene Küste, die sich in Europa von den Pyrenäen bis zu
den Seealpen, in Afrika von Marokko (Mündung des Maluja) bis Tripolis
erstreckt, dazu die strategisch sehr günstig liegende Insel Korsika mit mehreren
befestigten Häfen. Seitdem der Zwischenfall von Fnschoda den Franzosen gezeigt
hat, daß England in wichtigen Fragen auf Frankreichs Wünsche und Bedürf¬
nisse keine Rücksicht nimmt, sondern brutal an das Recht des Stärkern appel¬
liert und bei dieser Gelegenheit durch die Art der Erledigung des Streites das
reizbare französische Nationalgefühl tief verletzt hat, kommt in Frankreich all¬
mählich die Überzeugung zum Durchbruch, daß die Engländer für sie weit
gefährlichere Feinde sind, als die von ihnen bisher so sehr gehaßten Deutsche».
Militärische Kreise und die öffentliche Meinung beschäftigen sich mit den Chancen
eines Krieges mit England, und Vorschläge über die Führung eines solchen
tauchen von den verschiedensten Seiten auf. Diese Vorschläge gehn zum großen
Teil von der Anschauung ans, daß vorzugsweise im Mittelmeer der Hebel
angesetzt werden müsse zur Erschütterung von Englands Machtstellung: zu¬
nächst durch Zerstörung des englischen Handels mit Hilfe schnell fahrender
Kreuzer, dann aber auch durch Ausfälle mit der Schlachtflotte aus den süd-
französischen, den korsischen und den nordafrikanischen Kriegshafen gegen die
englische Mittelmeerflotte, und schließlich durch Landungen in Ägypten und
durch Bedrohung von Gibraltar — das letzte vielleicht in Gemeinschaft mit
dem sich freiwillig oder gezwungen Frankreich anschließenden Spanien.
England erkennt sehr wohl die Schwäche der eignen Mittelmeerstellung.
Es hat schon die Festungswerke, Arsenale, Docks, Werkstätten usw. in Malta
weiter ausgebaut und ist jetzt auf dem Wege, gleiches in Gibraltar zu thun.
Aber die Strecke Gibraltar—Malta ist sehr lang, etwa 1000 Seemeilen, und
in beiden Flanken von den französischen Küsten aus bedroht. Die größte
strategische Bedeutung im ganzen Westbecken des Mittelländischen Meeres haben
nun die Balkaren (Mallorca mit 3414 Quadratkilometern und etwa 280000 Ein¬
wohnern, Hauptstadt Palma mit etwa 70000 Einwohnern, Menorea mit
760 Quadratkilometern und etwa 45000 Einwohnern, Hauptstadt Mahon mit
etwa 20000 Einwohnern, und eine Anzahl kleinerer Inseln), und auf ihnen
besonders das befestigte Mahon, einer der besten und größten Häfen des Mittel¬
meers. Der Besitz dieses Platzes würde Frankreich zum Herrn des westlichen
Mittelmeers machen. Noch wertvoller wäre er aber für England. In Eng¬
lands Hand würde er die ganze Mittelmeerstclluug Frankreichs vernichten. Er
würde Frankreich das Zusammenwirken mit seinen nordafrikanischen Besitzungen
und eine Störung des Verkehrs von Gibraltar nach Malta unmöglich machen
und wäre eine ganz vorzügliche Operationsbasis für Unternehmungen gegen
Südfrankreich, Korsika und Nordafrika.
Aber die Balearen sind spanischer Besitz. Ob allerdings ihre Neutralität
in einem Kriege zwischen Frankreich und England respektiert werden würde,
erscheint sehr zweifelhaft, ja ausgeschlossen. Ein Krieg zwischen diesen beiden
Ländern ist für beide Teile, besonders für England, ein Existeuzkrieg. Eng¬
land hat niemals irgend welche Bedenken gehabt, wenn die eignen Interessen
mit den Rechten andrer in Konflikt gerieten, lediglich den eignen entsprechend
zu handeln, soweit es die Macht dazu hatte. Wer will ihm um aber ver¬
wehren, bei einem Kriege mit Frankreich die Balearen kurzerhand zu okku¬
pieren? Der Besitzer, Spanien, ist hierzu außer stände. Und die Neutralen?
Wenn Rußland nicht ohnehin schon an einem etwaigen Kriege zwischen Frank¬
reich und England aktiv beteiligt ist, wird es wegen der Balearen keinen Krieg
anfangen; ebensowenig Deutschland, Italien und Österreich, von Nordamerika
und Japan gar nicht zu reden. Daß England also nicht zögern wird, im
Kriege Hand auf die Balearen zu legen, dessen ist man sich in Frankreich
Wohl bewußt. Die französische Fachlitteratur empfiehlt deshalb ganz unver¬
hohlen, wenn der Krieg unvermeidlich erscheint, schon vor dessen Ausbruch die so¬
fortige Besetzung der Balearen durch Frankreich. Beide Länder haben von
ihren, Standpunkt aus vollständig Recht.
Wer hat um bei seinen Wünschen die meiste Aussicht ans Erfolg? Den
nähern Weg hätten wohl die Franzosen. Die Entfernung von Toulon, den,
Zentrum der französischen Mittelmeermacht, beträgt etwa 220, von Algier 20V
und von Ajaccio 240, dagegen von Gibraltar 430 und von Malta 580 See¬
meilen. Die Stärke der Mittelmcerflotten beider Mächte ist zwar Schwankungen
unterworfen, aber als ziemlich gleich anzunehmen. Allerdings könnten die
Engländer infolge ihrer absoluten Überlegenheit an Kriegsschiffen ihre Mittel-
Meerflotte der französischen überlegen machen. Auch wären sie in der Lage,
ihre Flotte nach Bedarf noch während des Krieges zu verstärken, den fran¬
zösischen Kriegsschiffen aber durch Sperrung der Meerenge von Gibraltar den
Eintritt in das Mittelländische Meer zu verwehren.
Wie würden sich nun die Besitzer bei dem Kampf um die Balearen ver¬
halten? Das Verhältnis zwischen England und Spanien war vor drei Jahren,
eilf England für die damals mit Spanien Krieg führenden Vereinigten Staaten
lebhaft Partei nahm, wenig freundlich. Aber es hat sich inzwischen sehr ge¬
bessert. Da es dem damals gänzlich zusammengcbrochnen Spanien nicht
gelungen ist, sich aus seiner Ohnmacht aufzuraffen, glaubt ein großer Teil
der Bevölkerung, und nicht der schlechteste, daß nur eine Einwirkung von außen
den Anstoß zur Wiedergesundung Spaniens geben könne. Das benachbarte
Frankreich, auf das man früher seine Hoffnungen gesetzt hatte, und für das
auch viel Sympathien im Lande, besonders in Katalonien, vorhanden sind, schreckt
doch viele ab, besonders unter den wohlhabenden Spaniern, wegen seiner
demokratisch-republikanischen Gesinnungen und seiner unsichern Staats- und
Regiernngsverhältnisse. Dagegen hat sich das Vertrauen zu dein sich im
Guten und Bösen gleich bleibenden, einen stetigen Aufschwung an Macht und
Reichtum nehmenden England sehr gehoben. Wie sich Portugal schon unter
die Fittiche des mächtigen Seebcherrschers gestellt hat, so ist dieser Gedanke
auch in Spanien nicht unpopulär. Dabei ist England imstande, Spanien nicht
nur wirtschaftlich zu unterstützen, sondern anch seine politischen Wünsche
— Sicherung und Vermehrung seines Einflusses und seiner Besitzungen in
Marokko — zu fördern. Der Umstand, daß andrerseits in Bezug auf Gibraltar
und die Balearen aber auch Spanien dem mächtigen England einen Dienst
erweisen kann, begünstigt noch die Annäherung der beiden Länder. Eine Über-
einkunft zwischen ihnen, durch die sich Spanien verpflichtet, im Kriegsfall nichts
gegen eine Okkupation Masons oder der gesamten Balearen zu unternehmen,
ist deshalb nicht unwahrscheinlich. Spanien kann sich dazu um so leichter
bereit erklären, als es thatsächlich nicht in der Lage wäre, eine Okkupation
Masons zu verhindern. Die Befestigungen von Mahon und Patan wurden
zwar im Jahre 1897 verstärkt. Da hierzu aber uur 360000 Pesetas für
Mahon und 225000 für Palma bewilligt wurden, so dürfte die Stärke der
vorher sehr vernachlässigten Werke noch immer recht gering sein.
Der etwa zu leistende aktive Widerstand der Inseln wäre gleich Null, da
die gesamte Besatzung nnr vier Jnfanteriebataillone, eine Abteilung Festnngs-
artillerie, eine Eskadron Kavallerie und eine Kompagnie Genie — zusammen
etwa 1500 Mann — beträgt. Ein Handstreich würde also auf keine großen
Schwierigkeiten stoßen, mag er nun von französischer oder von englischer Seite
unternommen werden. Aber die weitschanenden und klug berechnenden Eng¬
länder haben ihre Absichten schon im Frieden vorzüglich vorbereitet, während
die mit Parteistreitigkeiten ihre Zeit und Kraft verschwendenden Franzosen kaum
erst eine Ahnung von der ihnen drohenden Gefahr haben. So bringt die
englische Mittelmeerflotte schon jetzt einen großen Teil des Jahres in Mnhon
zu. Dieses sowie die gesamten Balearen mit den sie umgebenden Gewässern
ist den Engländern ebenso genau bekannt wie die englischen Besitzungen und
die englischen Gewässer. Vermessungen, Fahrübungen, Schiffs- und Torpedo¬
manöver, ja sogar Schießübungen finden dort in ausgedehntesten Maßstabe statt.
Das offizielle Spanien duldet es schweigend. Die Bevölkerung ist ganz damit
einverstanden, da die wohlhabende englische Schiffsbcmannnng ihnen eine will-
kommne Einnahmequelle geworden ist. Man findet dort schon in den meisten
Gast- und in vielen Privnthäusern wie in Old England das von den Engländern
so gern gesehene Bild der Queen Viktoria. Englische Sprache und Gewohnheiten
sind wohl bekannt und erfreuen sich wachsender Sympathien. Die spanische
Regierung dagegen, die dem Lande weder zu Wohlstand noch zu eiuer
Achtung gebietenden Stellung nach außen zu verhelfen vermochte, erfreut sich
eines sehr genügen Ansehens. Der Ruf mich Autonomie ist auf den Balearen
ebenso lebhaft wie in dem stammverwandten Katalonien. Von einer Autonomie,
etwa unter Englands Protektorat, ja, wenn es sein muß, auch vou einer
englischen Okkupation verspricht sich die Bevölkerung eine Hebung des Handels,
bessere Ausnützung seiner Erwerbsquellen, einen Aufschwung nach jeder Rich¬
tung. Man sieht, wie planvoll und erfolgreich die Engländer schon im Frieden
vorgearbeitet haben. Die Balenrcn sind schon nahezu cmnektionsrcif. Aller¬
dings haben die Engländer durch zwei Dinge in der letzten Zeit die Sympathien
der Bevölkerung etwas abgekühlt. Erstens durch den Burenkrieg. Dieser
zeigt ihnen die brutale Vergewaltigung eines Englands Wünschen im Wege
stehenden Volkes und empört, wie überall, ihr Gerechtigkeitsgefühl. Zweitens
durch die Unterdrückung der italienischen Sprache in Malta, die auch sie für die
einstige Unterdrückung ihrer Nationalität und Sprache besorgt macht. Ju diesem
Bestreben — die Sprache der Eingebornen zu unterdrücken — war England
soweit gegangen, daß es die englische Sprache als ausschließliche Gerichtssprache
in Malta vorschrieb. Nur aus Rücksicht gegen das hierüber sehr unwillige
Italien, mit dem es sich nicht verfeinden darf, zog es diese einschneidende und die
ganze Bevölkerung aufs äußerste erbitternde Verordnung wieder zurück.
Erst in der letzten Zeit sind die Franzose,: auf die ihnen hier erwachsende
Gefahr allmählich aufmerksam geworden. Sie sind aber schon soweit von den
Engländern überholt, daß sie an eine Erwerbung oder Besetzung der Inseln, sei
es im Frieden oder bei dem Ausbruch eines Kriegs mit England, gar nicht mehr
denken können, sondern sich lediglich darauf beschränken müssen, die Engländer an
der dauernden Besetzung dieser strategisch wichtigen Inselgruppe zu verhindern.
Die hohe strategische Bedeutung der Balearen hat schon früher veranlaßt,
daß diese im Laufe der Jahrhunderte sehr oft ihren Besitzer wechselten.
Kolonisiert von den Phöniziern, dann im Besitze der Griechen, kamen sie
später an die Karthager, denen die Römer sie nach dem zweiten punischen
Kriege wegnahmen. Im Jahre 426 n. Chr. bemächtigten sich die Vandalen
'hrer, aber sie mußten sie nach kurzer Zeit den Westgoten überlassen. Diesen
nahm sie Justinian wieder ub und den Oströmcrn Karl der Große; 798 fielen
sie in die Hände der den ganzen Süden Europas unterwerfenden Araber. Im
Jahre 1228 eroberte sie Aragonien, und bei diesem blieben sie, abgesehen von
der Zeit von 1276 bis 1343, wo sie einen eignen Herrscher hatten, bis zum
Jahre 1708. In diesem Jahre bemächtigte sich das aufstrebende England
ihrer, verlor sie jedoch nach längerm Kampfe 1756 an die Franzosen. Diese
mußten sie aber im Frieden von 1763 um England zurückgeben. Im Jahre
1782 wurden sie wieder von spanischen und französischen Truppen zurück¬
erobert und 1783 Spanien überlassen, 1798 aber aufs neue von den Eng¬
ländern besetzt, jedoch 1802 im Frieden von Amiens den Spaniern zurück¬
gegeben. Diese Übersicht zeigt, daß immer der jeweilige Beherrscher des
westlichen Mittelmeeres trachtete, diese strategisch so wichtigen Inseln in seine
Gewalt zu bringen. Da das infolge des unglücklichen amerikanischen Kriegs zu-
sammengebrochne Spanien auf die Herrschaft im Mittelmeer keinen Anspruch
mehr erheben kann, werden voraussichtlich diese wichtigen Inseln sehr bald in
kräftigere Hände übergehn. Vielleicht sind sie, wenn die Romanen die afrika¬
nischen Mittelmeerländer untereinander teilen, einmal ein „Kompensationsobjckt"
für das auf die Behauptung seiner Machtstellung im Mittelmeer eifrigst be¬
d
hnuptmann und Aomxngniochof >n> bayrische» Infmitcrieregimcttt
WM
GU»'/
it^S^meer dem Titel „Stenographie-Schwindel" wendet sich Eduard
Engel, „Vorsteher des amtlichen Stenographenlmrcaus des
deutschen Reichstags," in Ur. 10 der „Zukunft" in sehr scharfer
Weise gegen die Erfinder neuerer stenographischer Systeme, indem
er ihre Produkte als wertlos hinstellt und sie selbst als ,,Ne-
klmneschwindler" bezeichnet. Als Erfinder der von ihm ausdrücklich genannten
„Nationalstenographie" gehöre ich zu den Angegriffnen; trotzdem liegt es mir
fern, mich als Beleidigten aufzuspielen und die Angelegenheit so zu einer per¬
sönlichen zu machen. In der stenographischen Welt werden die Ausfälle Engels
nicht ernst genommen. Wir haben in Deutschland vier große Stcnographie-
schnlcn: Gabclsbergcr, Stolze-Schrey, Stenotachygraphie und Nationalsteno-
graphie, mit etwa 3000 Vereinen, und diese sind einig in der Ablehnung des
von Engel vertretnen Standpunktes. Nur für einzelne seiner Behauptungen
dürfte er bei der zuerst genannten ältesten Schule Beifall finden; die ganze
Tendenz seines Aufsatzes steht jedoch in zu offenbarem Widerspruch mit der
modernen stenographischen Entwicklung, als daß ich Veranlassung hätte, vor
Fachleuten näher darauf einzugehn. Bedeutung gewinnen sie nur dadurch, daß
sie in einer gelesenen Wochenschrift einem großen nicht sachverständigen Leser¬
kreise unterbreitet werden, der natürlich geneigt ist, die Berufung auf einen so
gewichtigen amtlichen Titel und auf eine „einunddreißigjührige Praxis als
Parlamentsstenograph" als beweiskräftig anzuerkennen. In Wahrheit hätte
Engel wohl vor fünfundzwanzig Jahren den Anspruch erheben können, als Auto¬
rität auf dem stenographischen Gebiet angesehen zu werden, unterdes aber haben
sich die Verhältnisse völlig verschoben und ihn in die Rolle eines Spezialisten
gedrängt. Andre in ähnlicher Lage sind in Berührung mit der ganzen steno¬
graphischen Bewegung geblieben und haben sich den vollen Überblick gewahrt.
Ihm ist die große stenographische Revolution der letzten Jahre trotz ihrer weit
zurückreichenden Vorbereitung überraschend gekommen, und nun weiß er sich
nicht anders mit ihr abzufinden, als daß er die Schale seines Zorns über die
verderbte Jugend ausgießt und das Lob der guten alten Zeit singt. Bei seiner
unleugbar hervorragenden praktischen Erfahrung ist es aber ganz selbstver¬
ständlich, daß seine Ausführungen eine Reihe unzweifelhafter Wahrheiten ent¬
halten, die auch von keinem Fachmanne bestritten werden. Vermischt mit un¬
richtigen Anschauungen werden sie jedoch zu falschen Schlüssen verwandt, die
für den Laien etwas Bestechendes haben. Bei der wachsenden Bedeutung der
Stenographie im öffentlichen wie im privaten Leben und bei dem zunehmenden
Interesse aller Gebildeten an ihr möge es deshalb einem mitten im steno¬
graphischen Leben stehenden erlaubt sein, die von Engel ausgeworfne Streit¬
frage auch von einem dem seinigen entgegengesetzten Standpunkt aus zu be¬
leuchten.
Engel vertritt die Sache der sogenannten „Zurückgebliebnen." Im Jahre
1897 vollzog sich die Einigung der beiden großen Stenographenschuleu Stolze
und Schrey auf ein System, das sie, nach Herrn E>?gel ,,zur Irreführung des
Publikums," Stolze-Schrey nannten. Ungefähr 1000 Vereine dieser Schulen
mit ihren Unterrichtsleitern und ihren zahlreiche» und hervorragenden Prak¬
tikern gingen zu diesem reformierten System über, ungefähr 10 Vereine und
etwa ein Dutzend Parlamentsstenographen, darunter Engel, blieben bei Stolze.
Engel hält es nun nicht für nötig, die Anschauungen dieser winzigen Minorität
gegen die der Majorität zu verteidigen, er geht vielmehr angriffsweise vor,
und dies nicht nur gegen die Abtrünnigen seiner Schule, sondern zugleich
gegen die Vertreter aller andern neuern Systeme. Ja er kann es schließlich
nicht unterlassen, bei dieser Gelegenheit auch dem Gabelsbcrgerschen System,
diesem alten Konkurrenten des von ihm vertretnen Stolzischen, einige nur dem
Eingeweihten erkennbare Seitenhiebe zu versetzen, während er im übrigen dessen
Erfinder in seiner Eigenschaft als Praktiker zum eigenen Eideshelfer benutzt
und gegen die jüngern ausspielt. Daß Engel einen so einseitigen Standpunkt
annehmen konnte, ohne daß es jedem Leser sofort auffiel, ja daß vielleicht nicht
wemgen seine Ausführungen ganz einleuchtend erscheinen konnten, das liegt an
der heutzutage noch ziemlich allgemein herrschenden Unkenntnis von dem Wesen
der Stenographie und von dem Umfang ihres Begriffes.
Wenn jemand sich dahin äußerte: ,,Jch will Musik lernen," so würde
er sich unzweifelhaft der Gegenfrage aussetzen: ,,Willst du Geige, Klavier,
Trompete oder Leierkasten spielen lernen, willst du Musiker von Fach werden,
willst du die Musik als Liebhaberei treiben, oder willst du in die Höfe betteln
gehn?" Musik ist ein sehr weiter Begriff; nun Stenographie ist es auch.
Engel kann sich darüber auch nicht ganz mit Stillschweigen hinwegsetzen, aber
er thut die Sache kurz und unvollständig ab und vergißt sie dann bei allen
weiter» Allsführungen geflissentlich. Er unterscheidet drei Hauptgattungen der
angewandten Stenographie: die Nedezeichenklinst, die Diktatstenographie und
die Kurzschrift im privaten Gebrauch zu Notizen und Ausarbeitungen. Für
die Vertreter der beiden ersten Gattungen giebt er auch schütznngsweise Zahlen
^n, indem er meint, daß nur etwa 25 Stenographen zu deu schwierigsten
Leistungen, also 300 Silbe» und mehr i» der Minute, befähigt sind, etwa
300 »och 250 Silben leisten lind schließlich 2 bis 3000 Geschäftsstenographen
Diktate von 100 bis 150 Silbe» mehr oder weniger stümperhaft aufnehmen
können. Dies sei der Stand nach einer 75jährigen Lehrtätigkeit. Die große
Masse derer, die die Stenographie nicht ausschließlich betreiben, sondern nur
nebenbei im Beruf oder privatim benutzen, läßt er aus der Berechnung weg
und schließt wörtlich: „In der Ausübung der Stenographie müssen so große
Schwierigkeiten stecken, daß es mit dem Dilettantismus nicht gethan ist, sondern
uur die angestrengteste Berufsübung zu deu höchsten Leistungen befähigt." Er setzt
also Voraus, daß alle Unterrichteten thatsächlich die höchste Stufe der Leistungs¬
fähigkeit erstrebt haben und in ihrem Streben größtenteils gescheitert sind. Er setzt
voraus, daß nur diese höchste Stufe einen Zweck hat, alles andre dagegen nutzlose
Stümperei ist. Denn nach feinem Hinweis darauf, wie selten und mit welcher
Anstrengung die höchste Vollkommenheit stenographischer Kunstfertigkeit erreicht
wird, fühlt er sich zu dieser Warnung veranlaßt: „Lieber Leser, hüte dich vor
allein, was dir als leicht erlernbar angepriesen wird, da du doch weißt, um
eine wie schwierige Kunstübung es sich handelt." Würde er wohl auch zu
einem einarmigen Invaliden, der sein Leben mit Leierkastenspiel fristen möchte,
sagen: ,,Lieber Freund, die wahre Musik besteht im Waldhornblasen. Das ist
freilich so schwer, daß höchstens ein Dutzend Männer in Deutschland es wirk¬
lich kunstgerecht versteht, aber hüte dich vor allen dir angepriesenen leicht er¬
lernbaren Instrumenten, da du um durch mich erfahren hast, wie schwierig
wahre Musikübung ist." Oder würde Engel glauben, auf die Hunderttausende
deutscher Turner einen Eindruck zu machen, wenn er ihnen die Tnrnerei als
Schwindel bezeichnete und nur den Sciltanz als das Wahre hinstellte?
Der Leser glaubt vielleicht, ich rede in Übertreibungen; das thue ich aber
keineswegs. Hunderttausend deutsche Stenographen rufe ich als Zeugen für die
Wahrheit meiner Worte an. Eine so klare Sachlage so zu verkennen, wie es
Engel thut, dazu muß man schon ein Menschenalter hindurch seinen Gesichtskreis
mit den engen Wänden eines parlamentarischen Bureaus abgegrenzt haben.
Es ist richtig, ihren Ausgang nahm die deutsche Stenographie von den
Parlamenten, und es vergingen viel Jahre, ehe sie auch außerhalb von diesen
nennenswerte Verwendung fand. Seit etwa 15 Jahren ist aber ein völliger
Umschwung eingetreten, der durch die Bedürfnisse des modernen Verkehrs ver¬
anlaßt wurde. Wir können ihn datieren von dein Erscheinen des Schreyschen
Systems im Jahre 1887, dem 1888 die Vereinfachung des Neustolzischen,
1891 die des Arendsschen Systems folgten. Die Bewegung zielte dahin, den
Hauptwert nicht mehr auf die Heranbildung weniger Berufsstenvgrapheu zu
legen, sondern die Stenographie allen Gebildeten zu vermitteln. Ein weiterer
Schritt auf dem betretnen Wege erfolgte in den Jahren 1897 und 1898
durch die Veröffentlichung der Systeme Stolze-Schrey und Nationalstenographic.
Hiermit wurde beabsichtigt, deu Kreis derer, die eiuen Vorteil aus der Steno¬
graphie ziehen konnten, so zu erweitern, daß er unabhängig von ihrem Bil¬
dungsgrade alle umfaßte, denen das Schreiben ein integrierender Teil ihrer
Berufsthätigkeit ist. Alle Reformatoren älterer Systeme und alle Erfinder
neuer waren sich klar darüber, daß die höchsten Leistungen immer ein Vorrecht
weniger besonders Begabter sind, aber sie erkannten zugleich, daß auch mittlere
und sogar niedere Geschwindigkeiten Minderbegabten Nutzen gewühreu könnten,
ja für viele eine Berufsnotwendigkeit wären. Dieser Gedanke klingt selbstver¬
ständlich; denn wenn jemand in Kurrentschrift 40 Silben in der Minute leistet,
so bedeuten für ihn 120 Silben in Stenographie immerhin eine Verdreifachung
seiner Leistungen. Der bloße Gedanke ist daran auch uoch keine Errungen¬
schaft, sondern durch die Verkehrsverhältnisse direkt aufgedrängt worden. Die
Schwierigkeit liegt in der glücklichen Lösung.
Wer nur eben Talent genug hat, einen Leierkasten zu drehen, der wird
mit einer Geige schwerlich etwas anzufangen wissen; um einem System, das
der Hochbegabte mit wunderbarer Geschicklichkeit handhabt, wird der Durch¬
schnittsmensch zumeist völlig scheitern. Aber auch wer es noch eben bemeistert
und auf Grund seiner überlegnen Kürze zwei- bis dreimal so schnell schreibt
wie mit der Kurrentschrift, hat durchaus noch keinen Vorteil davon. Die
Beobachtung der richtigen Formen und die Juuehaltnng der vorgeschriebnen
Regeln beschäftigt ihn geistig so, daß er dadurch verhindert wird, zugleich über
den Inhalt nachzudenken, zu entwerfen. Desgleichen bringt er es auch nicht
zu einem flüssigen Wiederlesen des Geschriebneu. Die bloße höhere Geschwin¬
digkeit ohne anstrengnngslose völlige Beherrschung der Schrift nützt also so
wenig, daß die Mehrzahl nach einiger Zeit vergeblichen Weiterstrebens die
Sache aufgiebt. So lagen die Verhältnisse, solange wir mir über die ältern
komplizierten und äußerst schwierig zu handhabenden Systeme verfügten, Systeme,
die von Berufssteuographeu geschaffen waren. Engel schildert seine Unter-
richtserfahrungcn mit dein Stolzischen System also ganz richtig, wenn er schreibt:
„Trotz aller Mühe aber null es ihnen nicht gelingen, die stenographischen Wort¬
bilder ohne Besinnen schnell aufs Papier zu werfen, und nach monatelanger
Übung sind sie doch kaum so weit gelaugt, in stenographischer Schrift anch
nur so schnell wie in gewöhnlicher schreiben zu können." Nur sieht er den
Grund des Scheiterns nicht im System, sondern in der Stenographie überhaupt
und sagt deshalb ganz allgemein: „Die Stenographie ist thatsächlich eine der
schwersten zu erlangenden Kunstfertigkeiten." Damit meint er die zu trösten,
^le sich bisher der Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen schämen zu müssen glaubten.
Die neuern Systcmcrfindcr haben sich aber mit diesem Trost nicht begnügt,
sondern dein Gedanken, die Kurzschrift zu popularisieren, den weitern hinzu¬
gefügt, daß Leuten von mäßiger Begabung, die überhaupt nur eine mittlere
Geschwindigkeit zu erlangen hoffen können, nicht dasselbe System geboten werden
dürfe, wie solchen, die nach den höchsten Zielen zu streben veranlaßt und be¬
fähigt sind. Andrerseits war es aber auch nicht empfehlenswert, für verschiedne
Zwecke völlig verschiedne Systeme aufzustellen; denn Begabung, Fleiß und Aus¬
dauer lassen sich nicht von vornherein richtig abschätzen. Als glücklichste Lösung
wußte eine Stnfenglicderung des Systems erscheinen, die mit einer längern.
aber einfachern Schriftform beginnt und allmählich zu einer zwar schwierigen,
aber so kurzen aufsteigt, daß sie auch den höchsten Ansprüchen genügt. Der
Übergang von Stufe zu Stufe mußte so geregelt werden, daß die auf die niedern
verwandte Mühe dem Lernenden auch auf den höhern zu gute kommt. Dieser
Plan liegt denn anch in der That allen neuern Systemen zu Grunde. Sie
gliedern sich in eine erste Stufe, die sogenannte Schul- oder Verkehrsschrift,
die das unerläßliche Minimum des Lehrstoffs darstellt, und in eine zweite, die
Eilschrift. Sie bedeutet eine Zusnmmenfassnng von beliebig vielen weitern
Stufen; deun da ihre Bestimmungen nur Zuthaten zur ersten sind, so lasse«
sie sich beliebig in Abschnitte zerlegen, nachdem sie in eine praktische Reihen¬
folge gebracht sind.
Die Stufcngliederung ist die eigentliche Kerusragc der modernen Spöte-
incidit. Man könnte nun aber der Meinung sein, daß sie die Aufstellung neuer
Systeme nicht nötig machte, sondern sich auch an den ältern verwirklichen
ließe. Demgegenüber kann ich nur sagen, daß gerade die Erkenntnis der Un¬
möglichkeit dieser einfachen Lösung die Quelle aller neuen Erfindungen gewesen
ist. Das Problem besteht zunächst darin, in die unerläßlichen Systembestim¬
mungen, d. h. in das bloße Alphabet, in die Darstellung der Laute und Laut-
Verbindungen und in ihre Verknüpfung zum Wvrtbilde möglichst wenig Schwierig¬
keiten eingehn zu lassen, alle feinern Unterscheidungen, alle peinlichern Züge,
alle erhöhte Aufmerksamkeit erfordernden Regeln, alle das Gedächtnis betastenden
gehäuften Bestimmungen der Systemgrundlage fern zu halten und erst, soweit
es überhaupt nötig ist, in Form zusätzlicher Kürzungen für die höhern Stufen
aufzusparen. Gegen diesen Grundsatz verstoßen aber die ältern Systeme, indem
sie schon in die bloße regelmüßige Darstellung der Laute, ohne daß besondre
Kürzungsvorteile damit verknüpft sind, sehr starke manuelle und geistige
Schwierigkeiten bringen, die es dem Durchschnitt unmöglich machen, auch nur
mit der Systemgrundlage wirklich vertraut zu werden. Es blieb also nichts
andres übrig, als eine neue zu schaffen, und die ganze moderne Entwicklung
der Kurzschrift spielt sich in dem Bestreben ab, einfachere Systemgrundlagen
zu finden, die zugleich eine fast unbegrenzte Entwicklungsfähigkeit haben. Wer
immer sich mit diesen Fragen produktiv oder kritisch an der Hand der System¬
vergleichung beschäftigt hat, der weiß, welche Fülle fruchtbarer Gedanken in
den verschiednen Systemen niedergelegt find, mit deren Hilfe die großen sich
bietenden Schwierigkeiten Schritt für Schritt überwunden werden. Nur von
dem beschränkten Standpunkt eines reinen Berufsstenographen aus, dem dieses
ganze Streben fernliegt, ist es möglich, das Ziel und die methodische Ausge¬
staltung der zu ihm führenden Mittel und Wege als wertlos, ja als Schwindel
anzusehen. Nur weil Herr Engel in einem der alten äußerst schwierigen
Systeme aufgewachsen ist, kann er sich nicht vorstellen, daß die Stenographie
auch in eine Form gebracht werden kann, die sie der Allgemeinheit zugänglich
macht, und nur weil das von ihm gehandhabte System völlig starr ist, zweifelt
er an der Gliedcrungsfühigteit überhaupt. Das Problem selbst kann ihm
nicht völlig unbekannt sein; wenn er es trotzdem mit keinem Worte erwähnt,
so muß er es für unlösbar oder sinnlos halten. Denn ich schene mich anzu¬
nehmen, daß er es verschweigt, um desto leichter die Unvereinbarkeit von
spielender Erlernbarkeit und höchster Leistungsfähigkeit darthun zu können, die
in Wahrheit nur als Anfangs- und Endpunkt einer Entwicklungsreihe gedacht
werden können.
Wer sich nicht damit, allein beschäftigt hat, selbst bis zur höchsten Stufe
der Leistungsfähigkeit emporzusteigen, sondern sich vorwiegend als Unterrichts¬
leiter bethätigt, der kann unmöglich die große Tragweite der wissenschaftlich¬
technischen Bestrebungen der modernen Stenographie so völlig verkennen. Wer
Hunderte, ja Tausende von Schülern in seinen Kursen gesehen, die Verschieden¬
heit der Begabung beobachtet und darüber nachgedacht hat, auf welche Weise
möglichst viele möglichst große» Nutzen aus der Stenographie ziehn können,
der muß zu der Überzeugung gelangen, daß die Schreibgeschwindigkeit inner-
halb weircr Grenzen unwesentlich ist. Zunächst trifft tels für alle Anfänger zu.
Für diese kommt es erst einmal darauf an, das System völlig zu beherrschen,
sodaß sie es besinnungslos handhaben können, wie die Kurrentschrift. Die
Schnelligkeit steht erst in zweiter Linie und wird einerseits durch das Be¬
dürfnis, andrerseits durch die Begabung begrenzt. Neunzig Prozent aller
Stenographierenden haben für die höchste» Geschwindigkeiten überhaupt keine
Verwendung, die wörtliche Aufnahme von Reden hat für sie nicht den min¬
desten Zweck. Ein Student thut viel besser daran, einen Vortrag uicht wort¬
getreu uachzustenographicren, anch wenn er es kann, da ihn die Zusammen¬
drängung des Gehörten zu eignem Nachdenken zwingt. Wie stark im übrigen
das Bedürfnis wechselt, das kann folgende einfache Erwägung veranschaulichen.
Für ein Kind, das in Kurrentschrift fünfundzwanzig Silben in der Minute
schreibt, bedeuten fünfundsiebzig Silben in Stenographie schon denselben Vor¬
teil, wie hundertfünfzig für einen Erwachsenen, der in Kurrentschrift ihrer
fünfzig leistet. Bis zu einem gewissen Grade nimmt die Schnelligkeit in beiden
Schriften gleichmüßig zu mit steigendem Alter und wachsender Übung. Soll
die stenographische Geschwindigkeit darüber hinaus gesteigert werden, so kann
dies nur an der Hand der Stnfengliederung des Systems geschehn. Sie wandelt
das zunächst spielend erlernte Instrument allmählich in der Hand des Lernenden
in ein leistungsfähigeres um. Dies darf aber immer nur in dem Maße ge¬
schehn, daß darunter die sichere Handhabung nicht leidet. Hierdurch wird jede
Stümperei ausgeschlossen. Gerade die ältern Systeme zogen massenhaft Stümper
Kroß, während die moderne Stenographie sich bemüht, jede Leistung, und sei
sie noch so bescheiden, zu einer in sich abgeschlossenen und vollwertigen zu
wachem
Die moderne stenographische Entwicklung zielt also vor allem dahin, die
erste Stufe möglichst vielen zugänglich zu machen, und dies so rasch und so
leicht, wie irgend denkbar. In der Nationalstenographic geht dieses Streben
so weit, daß alle niedern Bureaubcamten in deu Kreis der Erwägung gezogen
sind. Jeder, der Begabung genug hat, die Volksschule mit gutem Erfolge
durchzumachen, soll schon ans dieser die Kurzschrift erlernen können; denn
gerade die frühzeitige Aneignung bietet die Möglichkeit, völlig in ihr vertraut
zu werdeu, ehe hindernde änßere Umstände dazwischentreten. Ich selbst habe
"n't eignen Augen vierzehn- und fünfzehnjährige Volksschüler gesehen, die ihre
hundertvierzig bis hundertfünfzig Silben in: Wettschreiben leisteten, und habe
noch vou sehr vielen ähnlichen und bessern Erfolgen gehört. So hat es erst
jüngst ein elfjähriger Volksschüler in .Hannover auf hundertscchzig Silben ge¬
bracht. Den ältern Systemen ist dagegen die Volksschule so gut wie ver-
schlossen, und ähnliche Leistungen können mit ihnen nur in gereiftern Alter
und nach jahrelangen anstrengenden Übungen erreicht werden. Die leichte
Erlernbarkeit, die die moderne Stenographie auf ihre Fahne geschrieben hat,
ist also nichts welliger als ein bloßes Reklamemittel, sie ist vielmehr ein
Programm. Jede Lehrstunde weniger, die der bloßen Systcmgrundlage ge¬
widmet werden muß, bedeutet die Zulassung Tausender und die Vermeidung
nutzloser Stümperei.
Die Hauptschwierigkeit der ganzen Aufgabe besteht aber natürlich darin,
dem System unter allen Umstünden die volle Entwicklungsfähigkeit zu wahren.
Während die ältern Systeme die Gesamtheit der Schriftmittel für die System-
gruudlage und die Kürzungen auf einmal aufwenden konnten, in der Weise,
daß sich beide von vornherein ergänzten und ineinander griffen, soll jetzt zu¬
nächst die Systcmgrundlage auf einem beschränkten Teil der Schriftmittel ganz
für sich aufgebaut werden, während der Nest ihr nachträglich in Form von
Kürznngsbestimmnngcu angegliedert werden muß. Dadurch wird die Aus¬
nutzung dieses sehr beträchtlichen Nestes recht erschwert. Aber gerade diese
Erschwernis mußte zugleich auch den Ansporn abgeben zu einer methodischen
Ausgestaltung der stenographischen Ökonomie. Die Erfinder der ältern Systeme
hatten es nicht nötig gehabt, auf die Systemgrundlagc die höchste Sorgfalt
und den größten Scharfsinn zu verwenden, denn wo deren Vestimmuugeu zu
einer graphischen Unmöglichkeit führten, brauchten sie sie nur durch Eiuzel-
kürzungen zu ersetzen. Die Grundlage der modernen Systeme muß also ein
viel vollkommnercs Zusammenwirken aller Teile aufweisen. Das konnte nur
durch eine Vertiefung der graphischen Wissenschaft bewirkt werden. Seit
anderthalb Jahrzehnten sehen wir deshalb auch Männer der Wissenschaft eine
rege Thätigkeit auf diesem Gebiet entfalten. Auf der einen Seite untersuchen
sie die Physiologie und Psychologie des Schreibens, zerlegen das ganze Schrift¬
material in seine Elemente und erproben seine Verwendbarkeit in allen mög¬
lichen Kombinationen, auf der andern Seite suchen sie aus dem Studium der
Sprache und ihrer Lantverhältuisse die fruchtbarsten ökonomischen Handhaben
für die Verteilung der Schriftmittel und die verschiednen Formen ihrer Aus-
nutzung zu finden. Ihre Bemühungen sind nicht ohne Erfolge geblieben. Sie
haben erreicht, daß die in der bloßen Systemgruudlage aufgewandten Schrift¬
mittel eine größere Kürze bewirken, als ihr Anteil in den ältern Systemen
ausmacht. Die neuern Systeme sind in ihrer ersten Stufe zwar nicht absolut,
aber relativ, d. h. im Verhältnis zu deu aufgewandten Schriftmitteln, bedeutend
kürzer als die ülteru. Hierdurch ist aber natürlich die ganze weitere Aus¬
gestaltung der Systeme in der Eilschrift bedeutend erleichtert. Dies geht so
weit, daß die neuern Systeme auch hier auf manche Schwierigkeiten verzichten
können, deren man in den ältern uicht entraten zu können glaubte. Die
modernen Systeme haben mich für die höchste Praxis ihre Leistungsfähigkeit
erwiesen, sie haben notorisch Praktiker hervorgebracht, die sich denen der ältern
Systeme würdig anreihen, und sie haben dies in erstaunlich kurzer Zeit be¬
werkstelligt. Im Grunde genommen ist dieser Vorgang ja auch weiter uicht
merkwürdig; denn die Begründer der deutschen Kurzschrift mochten noch so
große Genies gewesen sein, ihr Werk konnte unmöglich sofort die höchste Voll¬
endung zeigen. Auch die Dampfmaschine eines Watt und die Lokomotive eines
Stephenson sind durch die methodische Arbeit sehr viel geringerer Geister ver¬
vollkommnet worden. Daß diese Verbesserung der stenographischen Systeme bei
den höchsten Leistungen weniger offenbar ist und sich vielleicht nur in einer
Abkürzung der Ausbildungszeit kuudthut, das liegt an der hier ausschlcig-
gebenden persönlichen Begabung.
Dieser ganzen hier geschilderten Entwicklung stehn nun, trotz ihrer jedem
Unbefangnen einleuchtenden praktischen Bedeutung, einige Praktiker der alten
Schule völlig verständnislos gegenüber. Aber was können sie letzten Endes
dagegen einwenden? .Herr Engel hat nur ein einziges Argument, das auf
den ersten Blick vielleicht manchen zu blenden vermag, das sich aber bei genaueren
Zusehen doch als recht verfehlt erweist. Er behauptet einfach, daß keiner der
neuern Systcmerfiudcr selbst ein anerkannter Praktiker sei und es wagen würde,
sich einer Prüfung auf eine Geschwindigkeit von zweihundertfunfzig Silben in
der Minute zu unterzieh,:. Gabelsberger und Stolze dagegen seien wirkliche
Praktiker gewesen. Ich leugne zunächst die Richtigkeit seiner Behauptung, da
mir von einzelnen Erfindern das Gegenteil bekannt ist. Weiterhin halte ich
aber diese ganze Herausforderung für wenig geschmackvoll. Sie kommt mir
so vor. wie wenn einer unsrer Radchampions, Arend, Rodi oder Fischer, die
Konstrukteure neuerer Räder zu einem persönlichen Wettkampf einlüde. Ich
glaube aber kaum, daß die Vorzüge des Niederrades, des Kugellagers, der
Pneumatik usw. durch die Erfinder selbst auf der Rennbahn bewiesen worden
sind, und daß man sie so lange als Schwindler bezeichnet hat, bis sie nicht
Persönlich einen neuen Rekord geschaffen hatten. Sie durften diesen Beweis getrost
andern überlassen, deren Stärke mehr in den Beinen als im Kopfe zu liegen
brauchte. Die Herausforderung Engels beruht auf einer Überschätzung der
bloßen praktischen Fertigkeit in ihrem Wert als Grundlage zur Abgabe eines
sachverständigen Urteils. Wissenschaft und Praxis verhalten sich aber auf
stenographischen Gebiete gerade so wie auf jedem andern auch. Die Praxis
stellt nur eine Einzelerfahrung dar, die Wissenschaft baut sich auf der Summe
aller Erfahrungen auf. Der Praktiker handhabt das fertige System, das er
nicht selbst geschaffen, der Erfinder untersucht die Gründe der Erscheinungen
und steht dabei in Fühlung sowohl mit dem Praktiker wie mit dem Unter¬
richtsleiter. Gerade der große Stab der Untcrrichtsleiter mit ihrer überaus
mannigfachen Erfahrung liefert die breiteste Grundlage für die wissenschaftliche
Arbeit und die schöpferische Erfindung. Der Umstand, daß unsre ältesten
Systemerfinder dieser Grundlage notwendig entbehren mußten, daß sie mehr
Praktiker waren als Männer der Wissenschaft, erklärt die Schwächen ihrer
Geistesprodukte.
Der .einzelne Praktiker wird nicht leicht ein gewohntes System aufgeben,
worin er die Arbeit vieler Jahre angelegt hat, und zu einem neuen übergehn.
Auch ein etwaiger Vorteil wäre zu teuer erkauft. Der Uuterrichtslciter da¬
gegen, der noch die hinreichende Elastizität des Geistes hat, noch einmal von
vorn anzufangen, der wird in der Erleichterung seiner Arbeit und in der Er¬
höhung ihrer Erfolge reichlichen Ersatz finden. Das erklärt denn auch den
fast restlosen Übergang der ehemals Stolzischen Unterrichtsleiter zu Stolze-
Schrey, und ebenso die ganz auffällig starken Übertritte aus allen Lagern zu
der noch jüngern Nationalstenogrnphie. Mögen die Praktiker alten Schlags
also ruhig fortfahren, ihre Hochräder zu benutzen. Keiner von uns allen, die
wir die neue Bewegung mitgemacht haben, mißgönnt ihnen ihre Eleganz und
Fertigkeit oder zieht sie in Zweifel. Aber mögen sie nun ihrerseits auch uns
Jüngern den Übergang zum Niedcrradc nicht verargen, das dem Knaben, der
zarten Dame und dein Greise leichten Aufstieg und mühelose Fahrt verschafft,
zugleich aber auch vermöge einer verbesserten Übertragung dem jungen Sports¬
mann mit ihnen zu wetteifern erlaubt. Mögen sie sich vorsehen, daß sie nicht
auf ihrem eignen Felde geschlagen werden.
er Schiffsverkehr auf dem Elbstrom wird merklich geringer, sowie
man die Grenze des Königreichs Sachsen passiert hat. Nur
dann und wann im Sommer führt einer der schlanken, grün¬
weißen Dampfer der Sächsisch-böhmischen Gesellschaft von Mühl¬
berg bis Torgnu weiter. Wem es aber glückt, einen solchen
Dampfer bei schönem Wetter benutzeu zu können, der wird die Fahrt uicht
bereuen. Denn die landschaftlichen Reize, die uus bis Mühlberg begleiteten,
dauern auch weiterhin fort: die herrlichen Wiesenflächen mit ihren malerischen
Baumgruppen, die stattlichen Höfe und Rittergüter, die sich aus der Elbau
erheben, der waldumsäumte Horizont. Vor allem aber lohnt das in der Mitte
zwischen Mühlberg und Torgau auf dem linken Ufer hoch liegende Belgern
eines Besuches. Hier betritt der Wandrer eine uralte Kulturstätte. Der
Sitzenrodaer Forst senkt sich hier von einer bis zu 200 Metern aufsteigenden
Höhe bis zu 115 Metern herab, doch so, daß Belgern noch immer gegen
30 Meter über die Elbau emporragt. Es ist also vor Überschwemmungen
gesichert und ist ein wichtiger Punkt der alten, zwischeu Dresden und Witten-
berg laufenden Poststraße; zugleich aber treffen die aus dem westlich vom
Strom liegenden Waldgebiete herausführenden Wege hier zusammen. Die
Anhöhe, auf der Belgern liegt, besteht größtenteils aus Thonlagern, die der
Stadt vielleicht noch einmal von Nutzen werden können, zumal da auch Braun¬
kohlen und Alaunslöze darunter vorkommen sollen. Die Umgegend der Stadt
war einst ein ebenso berühmtes Weinlnnd wie die Süptitzer Berge bei Torgau;
man zählte um Belgern 72 Weinberge, die noch zu Ende des achtzehnten
Jahrhunderts einen ansehnlichen Ertrag lieferten; jetzt sind sie meist in frucht¬
bare Felder und Obstpflanzungen umgewandelt.
Belgern, in einer Urkunde vom Jahre 98Z civitas LkloMrg, genannt
— der Name bedeutet dasselbe wie Wittenberg ^ Weißer Berg —, muß schon
vor der Einwcmdrung der Deutschen ein bedeutender Ort gewesen sein, denn
er wurde der Mittelpunkt des nach ihm benannten Gaues (xag-us LelvAori).
Auch wurde hier von den auf dem Strom fahrende» Schiffen ein Zoll er-
hoben, den Otto II. in der oben erwähnten Urkunde dem Bischöfe von Meißen
verlieh. Der Lausitzer Markgraf Gero II. besaß in Belgern ein Landgut
(xrecliuni). Es muß groß und auch mit ansehnlichen Gebäuden ausgestattet
gewesen sein, denn es war im Jahre 1010 bald nach dem Osterfeste der
Sammelpunkt der Reichsfürsten und des Heerbanns, der gegen den gewaltigen
Polenherzog Boleslav Chrobry zu Felde zog. Damals war Kaiser Heinrich II.
in Belgern und mit ihm Herzog Jarimir von Böhmen, Herzog Bernhard von
Sachsen, Tagino, der Bischof, und Walther, der Propst des Erzstifts Mägde
bürg, endlich Bischof Thietmar von Merseburg, dem wir diese Nachrichten
verdanken. Von Belgern aus sandte der Kaiser den Herzog Bernhard und
den Propst Walther zum Polenherzog, um ihn zu bekehren, aber sie kamen
unverrichteter Sache zurück. So mußten die Waffen entscheiden. Der Heereszug
der Deutschen drang bis Glogciu in Schlesien vor, wo sich Boleslav damals
aufhielt; ja sie zogen sogar höhnend an der Stadtmauer vorüber, aber Boleslav
hielt sich klug zurück, und so kehrten die Deutschen schließlich zur Elbe zurück,
ohne viel ausgerichtet zu haben. Auch im Jahre 1012 fand, nachdem sich der
Heerbann in der Nähe von Zörbig zwischen Saale und Mulde versammelt
hatte, ein Vormarsch an die Elbe bis nach Belgern statt; doch beschloß mau
hier, nicht weiter vorzurücken, sondern die Marken Lausitz und Meißen lieber
mit allen Kräften zu befestigen. Ein drittes mal erwähnt Thietmar Belgern
im Jahre 1017: eine Streifschar des Boleslav hat die Stadt am 15. August
vergeblich berannt. Diese dürftigen Nachrichten geben uns doch ein Bild des
Grenzkrieges, der damals jahrzehntelang auf beiden Ufern der mittlern Elbe
zwischen Polen und Deutschen geführt wurde, bis endlich unter der kraft¬
vollen Politik Heinrichs III. und mehr noch durch Kolonisation der deutschen
Bauern im zwölften und dreizehnten Jahrhundert das polnische Element end¬
giltig hinter die Oder zurückgeworfen wurde.
Belgern muß im zehnten und elften Jahrhundert an Wichtigkeit Torgau
mindestens gleich gewesen sein, später ist es von Torgau überflügelt worden.
Das kommt wohl daher, daß es 1309 unter geistliche Oberhoheit geriet, als
es Friedrich der Freidige dem Kloster Buch (bei Leisnig) schenkte. Doch bewahrte
die herrlich liegende, wohlnmmauerte Stadt bis in den Dreißigjährigen Krieg
hinein eine gewisse Blüte. Aber am 25. Oktober 1632 wurde Belgern von
den Kaiserlichen unter Obrist Colloredo fast ganz niedergebrannt und im fol¬
genden Jahre so von der Pest heimgesucht, daß 1200 Meuscheu starben. Eine
ebenso gründliche Verwüstung der Stadt nahm der Schwede Bauer im
Jahre 1637 vor; so kam es, daß die Stadt, die im Jahre 1621 noch
284 Häuser gehabt hatte, im Jahre 1644 deren nur noch 46 zählte.
Die wichtigste Quelle des Wohlstands war bis dahin die Bierbrauerei
gewesen. Im Zeitalter der Reformation hatte das Belgernsche Bier einen ähn¬
lichen Ruf wie das Torgatter. Melanchthon soll es besonders gern getrunken
haben; auf ihn wird das Sprichwort zurückgeführt: vsrsvisig, Lslxrima est
omnibus Mull.. Es wurde auch nach Leipzig und .Halle verfrachtet und am
sächsischen Hofe getrunken. Dieser schwunghafte Handel erregte den Neid der
Torgauer, die sich schon im Jahre 1423 beim Kurfürsten Friedrich über den
„unlautern Wettbewerb" der Nachbarstädte Schilda, Dommitzsch und Belgern
beschwerten. Der Kurfürst verordnete, daß diese drei Städte „mit Torgau zu
brauen anheben und aufhören sollten." Aber die Bclgernschcn, gestützt auf ihren
Lehnsherrn, den Abt von Buch, kamen dem einfach uicht nach, sondern branden,
so lange und so oft es ihnen beliebte. Auch spätern Klagen, die die Torgauer
bei ihren Landesfürsten Ernst und Albrecht einbrachten, führten nur zu der
Bewilligung, daß Belgern, ehe Torgau mit Brauen beginne, schon drei Ge¬
bräude, und nachdem dieses aufgehört, uoch zwei Gebrüude einmaischen dürfe.
Heute ist Belgern ein sehr stilles Landstädtchen, ohne Bahn, mit nur
wenig Industrie — zwischen den Pflastersteinen des Markes wachsen sogar
einige vcrstohlne Grashalme. Aber etwas von der alten Herrlichkeit ist doch
übrig geblieben: das Rathaus von 1574 und davor ein hochbeiniges Steinbild,
vor dem man sich fürchten könnte, wenn der fahle Mondschein die ohnehin
gewaltigen Konturen noch ins Riesenhafte vergrößert. Das ist der Roland
von Belgern. Von den mittelclbischen Städten hat sich außer Belgern nur
noch Magdeburg, vou den oberelbischen nur das böhmische Leitmcritz ein solches
altes Wahrzeichen erhalten; doch ist der Leitmeritzer Roland viel unansehnlicher
als der Belgernsche. Früher nahm man an, der Roland bedeute das Recht
der Stadt zum Gericht über Leben und Tod oder gar ihre Neichsunmittelbarkeit;
jetzt aber sieht man in den Rolandssäulen nur das äußere Abzeichen der Markt-
gcrcchtigkcit. Daß gerade der Belgernsche Roland ursprünglich als Schützer
des Markes und des Mnrktfriedens und als Schirmherr von Handel und
Wandel gedacht war, geht ans einigen alten Gebräuchen hervor, die dort geübt
wurden: Am Roland mußten die von der Stadt Bestraften Urfehde schwören
(1580); ferner sollte nach einer Verordnung von 1550 das zu schlecht oder
zu leicht befundne Backwerk nicht auf den Bänken, sondern um Roland verkauft
werden, auch die Subhastatiouen und die Ankunft des Vierkänfers aus dem
Leipziger Burgkeller, der den Belgeruschen Bürgern ihre Gebräue abkaufte,
wurden am Roland ausgerufen, endlich war neben seinem Postamente seit 1614
ein steinerner halber Hahnischer (Großenhainer) Scheffel als Normalmaß an¬
gebracht. Übrigens hat der Belgernsche Roland seine besondre Geschichte. Er
war ursprünglich von Holz — und so haben ihn denn einmal fünfzig Torgauer
Bürger, um die Nachbarn zu höhnen, mit fortgeschleppt; aber diese verstanden
keinen Spaß, jagten den Räubern nach und nahmen ihnen ihre Beute wieder
ab. Um aber bei der fortdauernden Eifersucht der beiden Städte die Wieder¬
holung eines solchen Bubenstücks unmöglich zu machen, ließen die Belgernschen
1610 durch den Steinmetzen Peter Büringer einen über vier Meter hohen
Roland aus Sandstein herstellen. So kommt es, daß „Roland der Nies" in
Belgern die Tracht und Bewaffnung eines Kürassiers des siebzehnten Jahr¬
hunderts zeigt, dem die Beine etwas zu lang geraten sind. Der linke Arm
ist selbstbewußt in die Seite gestemmt, die Rechte hält einen aufrecht stehenden
eisernen Flamberg, den im Jahre 1686 der Mnhlbergcr Amtsschreiber Juchser
gestiftet hat; der wohlfrisierte Kopf ist, wie bei den ältern Nvlandsbildern, bar¬
häuptig.
An Alter und einstiger Bedeutung steht Belgern etwa der Stadt Prettin
gleich, die eben so weit nördlich von Torgau gelegen ist wie Belgern südlich.
Man gelangt nach Prcttin am besten von Dommitzsch aus, das ihm auf dem
linken Elbufer gegenüber liegt. Wir haben Dommitzsch schon auf der Wande¬
rung nach Pretzsch berührt. Jetzt steigen wir von dem hoch liegenden Orte
ans Elbufer hinab und betreten die breite Fähre, die uns über den im hellsten
Sonnenglanze leuchtenden Strom langsam ans rechte Ufer hinüberträgt. Von
dort zieht sich der Weg durch Wiesen allmählich nach Prcttin hinauf. Auch
dieser Ort — die älteste überlieferte Namensform ist Prctimi oder Prellen —
wird schon unter den Ottonen genannt. Unter Heinrich II. erwarb ihn, wie
Thietmar von Merseburg erzählt, Tngino, der Erzbischof von Magdeburg
(1004 bis 1012), für sein Erzstift. Später kam Prettin mit der Grafschaft
Vrehua an den Askcmier Rudolf I. von Sachsen, der 1335 am Südwestende
der Stadt eine Burg erbaute und öfter hier residierte. Im Jahre 1423 siel
die Stadt mit dem ganzen Kurkreis an die Wettiner.
Noch jetzt besitzt die Stadt ansehnliche Reste ihrer alten Befestigungen,
besonders anmutend aber ist der mit Linden umgebne stille Platz, auf dem die
ehrwürdige Kirche des Orts steht. Wir betraten ihn an einem Sonntage
gerade in dem Augenblick, wo der Gottesdienst zu Ende ging. So erlauschten
wir noch den Schluszvers der Gemeinde und thaten durch die geöffneten Kirch¬
thüren einen Blick in das geschmackvoll restaurierte Innere, einen Ziegelbau aus
gotischer Zeit von edeln Verhältnissen, überragt von einem massigen, sich nach
oben zu in verschiednen Stockwerken verjüngenden Turme, der weithin sichtbar
ein Wahrzeichen der Gegend ist. Noch waren wir in die Betrachtung des
schönen Vnuwerks versunken, da erklang von dem Umgang des Turms in
mächtigen Posaunenakkordeu der Choral „Ein feste Burg ist unser Gott" den
heimkehrenden Kirchgängern zum Geleit — weithin über die saubern Häuser
der Stadt und über die frnchtstrotzcnden Gärten und Felder trug die warme
Herbstluft die erhabnen Klänge fort, uns aber mahnten sie daran, daß wir
auch in Prcttin in einer der Wiegen der Reformation sind. Doch zunächst
sollen uns ältere kirchliche Erinnerungen beschäftigen.
Da sich der mittelalterliche Lehnsstant lediglich mit der Lösung seiner
rechtlichen und kriegerischem Ausgabe» beschäftigte, so war der christlichen
Liebesthätigkeit der Kirche ein unermeßlicher Spielraum gegeben, ja die
Thätigkeit der Kirche reichte nicht aus, das menschliche Elend mich nur
einigermaßen zu bekämpfen. Deshalb bildeten sich in besondern Nöten und
bei epidemischen Krankheiten auch Laienbrüdcrschnften zum Zwecke der Kranken¬
pflege, die aber nach einiger Zeit in der Regel auch eine geistliche Organisation
annahmen. Nun gehörte seit dein neunten Jahrhundert der durch den Genuß
vou Mutterkorn entstandne Mutterkornbrand zu den verbreiterten Krankheiten
in Europa. Den davon Ergriffnen faulem unter furchtbaren Schmerzen
einzelne Teile des Gesichts, ja ganze Glieder ab; meist starben sie, die Ge¬
nesenen aber boten einen fürchterlichen Anblick. Als im elften Jahrhundert
diese Krankheit in Frankreich wütete, wallfahrtete man besonders gern in die
Antoniuskirche zu Se. Didier-la-Motte und betete dort zu dem Schutzheiligen,
Antonins dem Großen, um Genesung; deshalb nannte man die Krankheit
Antoniusfeuer iMvsr inorbus). Zur Bekämpfung des Übels stiftete Gaston,
ein reicher Ritter der Dauphinee, zur Zeit der Synode von Clermont (1095)
voll Dankes darüber, daß sein Sohn vom Antoninsfeuer genesen war, die Laien¬
brüderschaft der Antoniusherren, die die vom Laver morbus Beharren zu pflegen
gelobten.
Die Brüderschaft blieb nicht auf Frankreich beschränkt; im schwarzen Ge¬
wand, ein emailliertes I' auf der Brust, am Halse ein Glöcklein, um sich be¬
merkbar zu machen, kamen sie auch nach Deutschland, Gaben zu heischen, und
wurden von den Landleuten als Erretter vom Antoniusfener freundlich auf¬
genommen, später sogar mit besondern Festen begrüßt. Im Jahre 1223
wurden sie als Orden bestätigt, und Bonifaz VIII. gab ihnen 1297 die Regel
der Augustinerchorherren. Aber schon ein Jahrhundert zuvor hatten sie im
deutschen Reiche Grundbesitz erlangt. Herzog Bernhard von Sachsen (1180
bis 1212) stiftete den Antoniern das östlich von Prettin liegende Gebiet,
auf dem jetzt das Schloß Lichtenburg mit der gleichnamigen Gemeinde und
das Dorf Hintersee liegt. Dort bauten sie zuerst ein Hospital, später aber
ein größeres Ordenshalls, das von den nach der Elbe zu vorgelagerten,
weithin sichtbaren weißen Sanddünen den Namen Lichtenberg erhielt. Der
ursprüngliche Zweck des Ordens, die Krankenpflege, trat allmählich zurück, da¬
gegen haben sich die Antonier um die Entwässerung und Urbarmachung des
Landes um Prettin große Verdienste erworben. Dabei wuchs ihnen ihr Besitz
in Kisten und Kasten, in Scheuern und Ställen; sie wußten ihn aber auch
noch durch Betteln und Erbschleichers klüglich zu mehren. Luther, der ihnen
befreundet war, sagt in einer seiner Tischreden: „Ich verwundre mich des großen
Gutes und der herrlichen Gebäude der Antoniusherren zu Lichtenberg also, daß
es zu dieser Zeit mit drei Tonnen Goldes schwerlich zu enden wäre. Das hat
vorzeiten das schändliche Treutelwerk gegeben, sie sind umher gegangen wie die
Knappsäcke, haben die Leute an sich gelockt mit Gürtlein, Täschchen und
Messerlein." Das Wort „Treutelwerk" hängt wohl mit dem mittelhochdeutschen
trinket, erntet, dem neuhochdeutschen Traudel ^ Liebchen und dem Verbum
trinken ^ liebkosen zusammen. Luther bezichtigt also hier die Antonier, sie
hätten mit den Weibern schön gethan, Liebelei getrieben, um Geschenke und
Erbschaften zu erlangen. Lichtenberg bei Prettin war und blieb die Haupt-
uiederlassung der Antonier. Ihr Hof zu Eilenburg und ebenso der „Tönnies¬
hof" zu Halberstadt hingen von Lichtenberg ab, denn im Jahre 1382 z. B. be¬
zeichnen sich die Hnlberstädter Antonier als „Herren der Ordens zu Prettin."
Viel genannt wurden Prettin und Lichtenberg, wie schon oben augedeutet
worden ist, im Zeitalter der Reformation. Als der kühne Augustiner oder,
wie Kardinal'Cajetan zu sagen beliebte, „die Bestie mit den tiefen Augen und
den wundersamen Spekulationen im Kopfe" den am 31. Oktober 1517 be¬
gonnenen Kampf unerschrocken weiter führte, war er auch daheim in Witten-
berg des Schutzes des Kurfürsten keineswegs sicher; er dachte daran, nach Paris
oder in eine andre Stadt Frankreichs auszuwandern. Aber da fand im No¬
vember 1518 im Ordenshause Lichtenberg die folgenschwere Unterredung Luthers
mit Spalatin, dem Abgesandten des Kurfürsten, statt, durch die er die Er¬
laubnis erhielt, zunächst in Wittenberg zu bleiben und weiter zu wirken.
Luther selbst war zwar auch vor dieser Unterredung voll froher Hoffnung;
hatte er doch schon in Augsburg einem Italiener, der ihn fragte, wo er zu
bleiben gedenke, wenn der Kurfürst seine schützende Hand von ihm abziehe,
geantwortet: „Unter dem Himmel," aber in Wahrheit war gerade damals die
zarte Pflanze seines Werkes gefährdeter als jemals später. Zwei Jahre darauf,
am 11. Oktober 1520, fand in demselben Lichtenberg auf Wunsch des Kur¬
fürsten noch eine Unterredung des damals schon gebannten Luthers mit dem
päpstlichen Kammerherrn von Miltitz statt: aber auch diesesmcü brachen sich
alle die feinen Überredungs- und Vermittlungskünste des Höflings an dem
harten Felsen des Lutherscheu Gewissens. Bei diesen Unterredungen war
Luther auch dem Prüzeptor (Abt) der Autonier, Wolfgang Rcißcnbusch, näher
getreten und hatte auf ihn und seine Klostergenossen einen so tiefen Eindruck
gemacht, daß die „Töuniesherren" von Lichtenberg 1525 ihren Konvent auf¬
lösten und zur evangelischen Lehre übertraten. Wolfgang Neißenbusch ließ sich
sogar von Luther überreden, ein Weib zu nehmen. Ehe er sich dazu ent¬
schloß, äußerte er gegen Luther seine Sorge vor dem Übeln Geschwätz, das
daraus entsteh» werde. Aber dieser hieß ihn guten Muts sein: „Es ist um
ein kleines Schandstündlein zu thun, danach werden eitel Ehrenjahre folgen."
Bei dieser Umwandlung im Kloster Lichtenberg erhielten die fünf Klostervögte
aus dem reichen Besitze des Ordens jeder ein Hufcngut, die zwölf Arbeiter
aber je eine Gnrtennahrung. So entstand das Dorf Lichtenberg. Das übrige
Klostergut wurde zur Dotierung von Pfarrstellen und zur Einrichtung einer
stattlichen kurfürstlichen Domäne verwandt. Auch später kam der große Refor¬
mator und mit ihm sein sanfterer humanistischer Freund Melanchthon öfters
von Wittenberg nach Prettin. Noch verwahrt die Superintendentur das Visi¬
tationsprotokoll von 1529 mit Luthers eigenhändiger Namensunterschrift und
eignem Insiegel. Vor allem aber führte ihn der langjährige Aufenthalt der
brandenburgischen Kurfürstin Elisabeth in Prettin öfters in das stille Städtchen.
Die Geschichte dieser schwergeprüften Frau gewährt uns einen tiefen Einblick
in den gewaltigen Gärungsprozeß, dem in diesem Revolutivnszeitalter alle
Verhältnisse, auch die Baude der Familie unterlagen.
Geliebt von ihrem Manne, dem jähzornigen, aber im Grunde gutmütigen Kur¬
fürsten Joachim I., war Elisabeth (geboren 1485 als Prinzessin von Dänemark)
nach fünfnndzwanzigjähriger glücklicher Ehe, in der sie dem Gatten neun
Kinder geboren hatte, von der Allgewalt der Lehre Luthers ergriffen worden.
Ihr Gemahl war, wie Herzog Georg der Bärtige von Sachsen, ein ingrimmiger
Feind der neuen Ketzerei; deshalb genoß die Kurfürstin nur ganz insgeheim
das Abendmahl in beiderlei Gestalt. Aber die Plauderei ihrer Tochter
Elisabeth verriet dem Vater das Geheimnis. Joachim war außer sich vor
Wut, verlangte, daß die Gattin dem Luthertum abschwöre, und als sie sich
dessen weigerte, ließ er sie einsperren und bewachen, ja er soll sogar gedroht
haben, sie lebendig einmauern zu lassen. Aber die Gefangne gewann ihre
Wächter, die Herren von Götz und von Bredow, und während sie den Kur¬
fürsten durch scheinbare Nachgiebigkeit täuschte, bereitete sie sich im Einver¬
ständnis mit ihrem Oheim, dem Kurfürsten Johann von Sachsen, zur Flucht.
Am 24. März 1528 hatte Joachim eine Reise nach Braunschweig angetreten.
In der folgenden Nacht, die durch Nebel den Plan begünstigte, öffnete der
„Thürknecht" des Kölner Schlosses, Joachim von Götz, die Schlösser der
Gänge, die zu der Wasserpforte hinabführten, leitete sie hinaus und fuhr sie
samt ihrer Vertrauten, Ursula von Zettwitz, ans andre Ufer der Spree. Außer¬
halb der Stadt Berlin stand ein Wagen bereit, der die Flüchtigen aufnahm.
Und nährend nun die Kartaunen dröhnten und die Sturmglocken läuteten,
ging es eiligst südwärts auf Trebbin. Dort stieg die Kurfürstin mit ihrer
Begleitung zu Pferde und erreichte schließlich unter vielen Abenteuern und
zu Tode erschöpft die kursächsische Grenze, wo sie von ihrem Bruder, dem aus
der Heimat Vertriebnen Dünenkönig Christian II., und einigen sächsischen Edel¬
leuten empfangen wurde. Diese geleiteten sie nach Torgau an den Hof des
Kurfürsten Johann.
Joachim erfuhr die schlimme Kunde in Potsdam und wetterte darüber in
seiner Weise. Er konnte nicht ahnen, daß dreiundeinhalb Jahrhunderte später
(1883) bei der vierten Centenarfeier des Geburtstages Luthers einer seiner
edelsten Sprossen, der nachmalige Kaiser Friedrich III., in Vertretung seines
greisen Vaters mit einer Schar deutscher Fürsten und den angesehensten Ver¬
tretern des geistigen und religiösen Lebens auch Brandenburg-Preußens, nicht
nur in stiller Andacht am Grabe des großen Ketzers in der Schloßkirche zu
Wittenberg stehn, sondern auch das Bedürfnis empfinden werde, sein Be¬
kenntnis zur evangelischen Kirche weit in die Lande hinauszurufen.
Die Kurfürstin Elisabeth wurde von Johann von Sachsen zu Torgau
väterlich aufgenommen und blieb zunächst an seinem Hofe. Als aber die erste
Aufregung über die Gefaugensctznng und die Flucht vorüber war, wurde sie auch
vou schweren Gewisseuskämpfcu heimgesucht, daß sie den Gemahl und die
Kinder verlassen habe. In solchen Stimmungen suchte sie oft Wochen- und
monatelang Luthers Haus in Wittenberg auf, um sich an seinem Gottvertrauen
aufzurichten. Am schlimmsten war ihr Gemütszustand, als Joachim I. 1535
gestorben war. Infolge der Aufregungen darüber verfiel sie sogar zeitweise
in geistige Umnachtung. Da saß Frau Käthe an ihrem Bett und „schwcigete
sie." Aber Elisabeth wurde wieder gesund, und am 25. Januar 1536 fand
ihretwegen eine Zusammenkunft der brandenlmrgischeu Brüder mit Johann
Friedrich von Sachsen in der Lochau statt, wo ihr ein Jahreseinkommen von
6000 Gulden ausgesetzt wurde. Von dieser Summe konnte sie sich in dem
Schlosse zu Prettin, das ihr der Kurfürst überlassen hatte, einen eignen kleinen
Hofhalt einrichten. Hier hat Elisabeth zehn Jahre gelebt und hat sich auch
öfters Luthers Besuchs erfreut.
Aber im Jahre 1546 kehrte sie nach Brandenburg zurück, das sich unter
ihren Söhnen anch der Reformation geöffnet hatte, und lebte dort noch bis
ins Jahr 1555. In die Erzählung ihrer Schicksale haben sich bald nach ihrem
Tode Legenden und Irrtümer eingeschlichen. So wird schon in Seckendorff
grundgelehrten Werke as I^utborg.ni8imo (Frankfurt und Leipzig 1692, Lid. II,
S. 122) als ihr Asyl statt Prettiu fälschlich das Schloß Lichtenburg genannt,
und die neuern Lutherbiographen, wie Kostim II, S. 420, haben diesen Irrtum
nachgeschrieben. Aber Schloß Lichtenburg hat, wie unter gezeigt werden wird,
damals noch gar nicht gestanden. Übrigens ist das Prettiner Schloß, das
der schwergeprüften Frau so lange Jahre als Wohnsitz diente, nicht mehr vor¬
handen; es wurde im Jahre 1574, zur Gewinnung von Baumaterial für
Aunaburg, abgetragen; an seiner Stelle steht jetzt ein Gutshof, doch erinnert
eine Inschrift an den Aufenthalt der Kurfürstin.
Auch der Antonierhof Lichtenberg hat das sechzehnte Jahrhundert nicht über¬
dauert. Schon im Jahre 1533 soll eine Feuersbrunst die meisten Gebäude in
Asche gelegt haben. Aber es kam die Zeit, wo auch hier aus den Ruinen neues
Leben erblühte. Als nämlich in den Jahren 1572 und 1573 die alte Lochau
ihr neues Kleid anzog und zu der schöngeschmückter Annabnrg umgebaut wurde,
erschien die edle Fürstin, der dieser Bau gewidmet war, eines Tages auch in
Prettin und wanderte aufmerksamen Sinnes durch die Gärten und Felder und
durch die Trümmer des ehemaligen Antonierhofcs. Sie fand die Gegend
lieblicher und schöner und vor allem fruchtbarer als die waldige und auch
etwas sandige Umgebung von Annaburg. Es kam hinzu, daß in Auuaburg
erst der Wald gerötet werden mußte, daß für die geplanten Baumschulen und
Gartenanlagen Platz geschafft wurde, in Lichtenberg aber fand sie einen durch
vielhundcrtjnhrige Kultnrcirbeit der Mouche bereiteten Boden; in Annabnrg
schien das Gedeihen der feinern Obstsorten, auf die es die Kurfürstin besonders
abgesehen hatte, wegen der Nähe des Waldes immerhin zweifelhaft, in dem
sonnigen, offnen Gelände von Lichtenberg dagegen gesichert. So gewann sie
den Kurfürsten für den Plan, gewissermaßen als eine heitere Ergänzung zu
dem ernstern Annabnrg, nunmehr auch Lichtenberg — oder wie man seitdem
meistens schrieb Lichtenburg — neu zu bauen. Zuerst wurde wohl der Wirt¬
schaftshof, der dicht neben den Hauptgebäuden liegt, gebaut und im Jahre 1580
das eigentliche Schloß. Einige die Baugeschichte betreffenden Nachrichten
fanden sich 1890 bei Erncuernngsarbeiten im Turmknopfe des Schlosses.
Darin bezeichnet sich Kurfürst August als den Bauherrn und fügt hinzu: „Und
hat Seiner Chnrf. Gnaden geliebtes Gemahl. . . solche gebaute alle, wie es
vor Augen stehet, angegeben und die Gemach darinnen geordnet." Als Ober¬
aufseher und Bauschreiber wird aufgeführt Wolff Bieger von S. Catharincnbergk,
sonst Buchholtz genannt, als Baumeister: Christoph Terrier (Tendler) von
Gelenau, also der Erbauer der Annaburg, als Maurermeister: Georg Hoffmann
von Gelenau und Paul . . . von Reichstedt, als Steinmetz Caßper . . . von
Torgau; Tischler, Zimmermann, Schlosser, Glaser und Schmied waren aus
Dresden.
Sowohl der Wirtschaftshof als auch das Schloß sind heute noch vor¬
trefflich erhalten; und wenn auch das Schloß jetzt einem wesentlich andern
Zwecke dient als zu heiterer Hofhaltung, so strahlte es doch, als ich es besuchte,
noch recht stattlich in seinem reinen hellgelben Putze, von dein sich das Dunkel¬
grau der Thüren und Fenstergewände wirkungsvoll abhob. Es erinnert mit
seinem hochragenden Uhrturm über dem Thorweg, mit seinen Erkern und den
schiefwinkligen Fenstern der Treppentürme in manchen Stücken an das königliche
Residenzschloß in Dresden, nur sind die Verhältnisse in der Lichtenburg weit
kleiner und bescheidner. Besonders der große Hof mit dem malerischen, süulen-
und figurengeschmückten Brunnen hat sich einen Abglanz der alten Heiterkeit
bewahrt. Nach Osten zu endete das Schloß, ähnlich wie die benachbarte
Annaburg, in eine freundliche, den Gärten und dem See zugekehrte Balustrade,
die aus zwei übereinander gestellten Pilaster- und Bogenreihen besteht. An
diese Balustrade ist dann die Kirche in der Weise angebaut worden, daß jene
jetzt eine dem Altar gegenüberliegende zweistöckige Empore bildet. Der Altar
ist ein vornehmer Renaissancebau aus den edelsten Materialien; die Pfeiler
stehn auffallenderweise in der Mitte der Kirche und teilen sie in zwei gleich¬
große Schiffe; über dem an der Westseite liegenden Eingange sieht man eine
anmutige Loggia; das Ganze ist eins der graziösesten deutschen Bauwerke aus
dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts. Noch während des Baues, am
15. Februar 1576, wurde in der Lichtenburg ein theologischer Konvent ab¬
gehalten, der die im Jahre 1577 veröffentlichte Konkordienformel, die die
Eintracht der Bekenntnisse innerhalb der lutherischen Kirche herstellen sollte,
vorbereitete.
Während der letzten fünf Jahre ihres Lebens hat die Kurfürstin Anna
oft und lange mit ihren Kindern in Lichtenburg Hof gehalten. Das war
wohl die glänzendste Zeit des Schlosses. In den Gurten um das Schloß
wuchsen außer den üblichen Kirschen-, Birnen- und Äpfelsorten auch Mandel-,
Pomeranzen-, Margrantenbäume, die Erzherzog Ferdinand ans Innsbruck
schickte, ferner „Abricous und Morellen," die der Landgraf von Hessen gegen
„Baumsalbe, Erdnüsse und Pferschenkenbünme" eintauschte. Auf den Gemüse¬
beeten sah man den Salat inäivis, (Endivien), „das Kraut Pvrtulciea," die
„Nebundicen Wurzel" (Rlmpontiea) und andre Seltenheiten. Auf den Blumen¬
beeten Majoran, Rosmarin, Vasilicn, ferner „Zwiebeln ans der Türkei, die
die schönen Blumen tragen und ganz wohl schmecken" (-^ riechen; es sind
wohl Hyazinthen gemeint), „gefüllte Benonien Rosen" (Päonien), „Samen
von dem Kraut Tabaco und das Kraut selbst, beiderlei Art, das Münnlein
mit den schmalen Blättern und das Weiblein mit den breiten Blättern." In
den Ställen und auf den Weidetriften nach dem Strome zu lagerte das edelste
holsteinische und friesische Milchvieh. Auf dem Hühnerhofe stolzierten „Weiße
und scheckigte Pfauen," rote Feldhühner und Turteltauben; auf dem Wasser¬
spiegel der den Hof umgebenden Teiche schwammen „türkischrote EntVögel und
Löffelgünse," selbstverständlich auch Schwäne, bei den Festessen dieser Zeit ein
beliebtes Gericht. Und zwischen den Prunkgemächern des Schlosses und den
Wirtschaftsgebäuden, bald im Verkehr mit vornehmen Hofleuten und gelehrten
Theologen, dann wieder mit Gärtnern, Handwerkern und Mägden, vielbegehrt
und vielgerufen, freundlich gegen Hilfsbedürftige und Kranke, aber auch kurz
angebunden, wo es zu befehlen galt, und scharfäugig immer ihren Vorteil
erspähend tummelte sich die Kurfürstin selbst, damals noch eine rüstige Vierzigerin,
das belebende Element des ganzen Getriebes.
Die wirtschaftliche Geschäftigkeit ist die Seite des Wesens der trefflichen
Frau, die sich in der Erinnerung des sächsischen Stammes am treusten wieder¬
spiegelt. Der sächsische Kleinbürger und Bauer erzählt sich noch hente mit
Vorliebe die zahlreichen von „Mutter Anna" umlaufenden Anekdoten, denen
ein gewisser Stallgeruch anhaftet. Und gewiß hat diese Kurfürstin zu den
Vorwerken und Gütern, die ihr seit 1578 von ihrem Gemahl zu „Nutzung
und Einkommen" überwiesen waren, in keinem losem Verhältnis gestanden,
als eine sorgliche Gntsherrin zu ihrem Gute. Aber wir dürfen nun nicht
meinen, daß sie der höhern Interessen entbehrte oder etwa in ihrer Lebens¬
führung von bäurischer Derbheit gewesen sei. Die 11000 Briefe, die von
ihr in zweiundzwanzig Foliobänden des Dresdner Archivs erhalten sind, zeigen,
daß sie in allen Zweigen der damaligen Bildung zu Haus war und besonders
auch für Schönheit und Eleganz, wenn auch durchaus in den Grenzen der
Zucht und des Vaterländischen, eine sehr lebhafte Empfindung hatte. Das
beweist auch ihr im historischen Museum zu Dresden erhaltenes Mobiliar und
ihr winziger Fingerhut, der Maßstab für eine sehr kleine und feine Hand, die
sie mit aller Sorgfalt, auch mit besondrer Seife und „Handsalbe" zu pflegen
verstand. Auch für Haar und Zähne gebrauchte sie die feinsten Kosmetik«,
ja sie stellte den Satz auf, „daß wir solche Sachen, so wir für uns gebrauchen,
keiner Mmmspcrson untergeben, sondern mit unsern Dienerinnen für uns selbst
zurichten."
Man sagt, daß sich Anna das Schloß Lichtenburg zu ihrem Wittum er¬
sehen habe; aber sie starb vor ihrem Gemahl am 1. Oktober 1585; noch auf
ihrem Sterbelager konnte sie sich an treuer Fürsorge für ihre Kinder, namentlich
für die damals einen Braunschweiger Herzog heiratende Tochter Dorothea
nicht genug thun. Charakteristisch für ihren frommen, schlichten Sinn ist auch
das allgemeine Kirchengebet ihrer Leidenszeit, dessen Wortlaut sie selbst fest¬
setzte: „Es wird begehrt, ein gemein christliches Gebet zu thun für eine arme
Sünderin, deren Sterbestündlein vorhanden ist, Gott wolle ihr gnädig sein
um Christi seines lieben Sohnes willen. Amen!"
Nach dem Tode der Kurfürstin Anna hat die Lichtenburg noch manche
fürstliche Frau beherbergt: so vor allem die Kurfürstin Hedwig, die Witwe
Christians II., auch eine dünische Königstochter, die von 1611 bis 1641 die
Ämter Annaburg, Schwcinitz (mit Prettin und Lichtenburg), Septa und Schlieben,
die ihr als Wittum angewiesen waren, wie die souveräne Herrin eines kleinen
Fürstentums verwaltete. Hatte sie doch sogar ein kleines Heer zur Verfügung,
da ihr Johann Georg I., ihr Schwager, eine Schwadron Dragoner und eine
Abteilung Fußvolk als Ehrenwache überließ. Kurfürstin Hedwig hat sich selbst
am besten charakterisiert durch den Spruch, den sie über dein Thore der
Lichtenburg anbringen ließ: „Ehre und Hoheit habe ich von Gott"; aus ihm
spricht gleichermaßen christliche Demut wie fürstliches Standesbewußtsein.
Und so lebt denn Hedwig in der Erinnerung des Volkes um Prettin fort,
einmal als die fromme, wohlthätige Frau, die für Kirchen und Schulen sorgt,
die während des Dreißigjährigen Kriegs die Hungrigen speist und Pestlazarette
errichtet, dann aber auch als die strafgewaltige Fürstin, die Trunkenbolde und
Spieler züchtigt, Fronten zur Eindeichung der Elbe ausschreibt, widerspenstige
Gemeinden durch Zwangseinqunrtiernng von Dragoner» zum Gehorsam bringt,
als die stolze, königliche Dame, die sogar einem Bauer so imponiert, daß er ihr,
Während Annabnrg von den Schweden schonungslos verwüstet wird, „aus eigner
Bewegnis" eine Lulva xag-Mg. von hundert Pferden nach Lichtcnburg schickt.
Nach Hedwigs Tode kamen stille Jahrzehnte für die Lichtcnburg. Doch
sah sie im Februar 1658 den gewaltigsten Deutschen dieser Zeit, Friedrich
Wilhelm, den Großen Kurfürsten, in ihren Mauern, der, noch umstrahlt von
dem Lorbeer der Warschauer Reiterschlacht (1656) und im Begriff, sich an der
Spitze einer brandenburgisch-österreichisch-polnischen Koalition gegen den allzu¬
kühnen Karl X. Gustav von Schweden zu wenden, nach Lichtcnburg kam, um
sich mit seinem Nachbar, Johann Georg II., über die Neuwahl eines Kaisers,
Leopolds I.. zu verständigen. Noch waren die Machtverhältnisse Sachsens und
Brandenburgs annähernd gleich; aber schon stand der Stern des Hohenzollern,
der damals den verausländerten Volksgenossen zurief: „Bedenke, daß du ein
Deutscher bist," höher als der der Wettiner, die sich seit Krells Hinrichtung
mehr in höfischem Prunk als in der großen Politik hervorthaten. Große
Geister erwuchsen damals unserm noch immer hochgebildeten sächsischen Stamme:
der Trias Pufendorf (geboren 1634 zu Dorfchemnitz), Leibniz (geboren 1646
zu Leipzig), Thomasius (geboren 1655 in Leipzig) läßt sich keine gleichzeitige
gleichwertige brandenburgische Trias zur Seite stellen. Diese drei bahn¬
brechenden Heroen eines neuen geistigen und politischen Lebens wurzeln in dem
alten Kulturboden der Wettiner und haben auf den trefflichen sächsischen Schulen
ihre Bildung genossen; auch die Väter eines neuen religiösen Lebens, Francke
und Spener, waren, wenn auch nicht durch Geburt, so doch durch ihren Wirkungs¬
kreis Sachsen geworden, aber das Baterland that nichts, sie zu halten und ihre
Kraft im Interesse der Gesamtheit zu nutzen. So ist das siebzehnte Jahrhundert
insbesondre für Sachsen das Jahrhundert der großen Unterlassungssünden.
Neues Leben zog in das verödete Schloß und seine Gurten ein, als im
Jahre 1685 Wilhelmine Ernestine, die verwitwete Kurfürstin von der Pfalz
und Schwester der Kurfürstin Anna Sophie, der Gemahlin Johann Georgs III.
von Sachsen, in Lichtcnburg ihren Wohnsitz aufschlagen durfte. Die schon
oben erwähnten 1890 dem Turmknopf eutuommncn Nachrichten berichten
darüber, diese Fürstin habe „den Baumgarten bei dein Schloß, darin vorhin
das Vieh getrieben worden, in dem nichts als Gras und alte Obstbäume da¬
gestanden, zu einem Lustgarten mit Hagebuchen, Alleen, verschiednen Luststücken,
allerhand jungen Obstbäumen, Gartengebäuden und Springwässern aus eignem
Angeben versehen und die alte verfallne Mauer um diesen Garten teils neu
wieder aufführen, teils reparieren lasse»; das dabei in dem Plankgarten stehende
Hühner- und Taubenhaus haben Sie gleichfalls von Grund auf bauen lassen.
Wie dann auch daS Schloß inwendig nicht allein renovieren, sondern auch
mit Zimmern, doppelten Thüren, großen Fenstern (großen Fensterscheiben im
Gegensatz zu den altväterischen in Blei gefaßten Butzenscheiben) und Malwerk
nach heutiger Art verbessern und zieren lassen. Nachdem sich dann anch be¬
funden, daß auf dem Glockcnturm die Uhr, der Knopf und die Fahne schadhaft
worden, haben Sie die Uhr reparieren, den Knopf und die Fahne gleichfalls
ausbessern und dabei aufs neue vergulden lassen." Wir sehen aus diesen
Worten, daß damals die französische Gartenkunst von Lenvtre in der Um-
gebung von Lichtenburg ihren Einzug hielt. Zu Ernestine Wilhelmine gesellte
sich im Jahre 1691 nach dem Tode des „sächsischen Mars" ihre Schwester,
die verwitwete Kurfürstin Anna Sophie als die eigentliche Inhaberin des
WittumS. Wir kennen diese treffliche Fran, die Gesinnungsgenossin ihres
ehemaligen Hvfpredigers Spener, die mütterliche Freundin ihrer Schwieger¬
tochter Christine Eberhardine, die eifrig protestantische Leiterin der Erziehung
ihres Enkels, des Kurprinzen Friedrich August it., schon aus dem Aufsatze
über „Pretzsch." Sie folgte ihrer 1706 im Tode vorangegangnen Schwester
am 1. Juli 1717 nach, und so groß war der Respekt vor der energischen
Frau, daß man den schon fünf Jahre zuvor erfolgten Übertritt des Kurprinzen
zum Katholizismus erst jetzt (13. Juli 1717) bekannt zu geben wagte. Die
beiden kurfürstlichen Schwestern fanden in einem Gewölbe unter der Lichten-
burger Kirche ihr Grab, über dem sich ein gemeinsames Epitaphium erhob.
Danach wurde es im Schlosse stiller und stiller; nur dann und wann
rauschte das neumodische Gepränge des sächsischen roi 8o1«ZiI, einem antiken
Alexnnderzuge vergleichbar, auch an den einsamen Gestaden von Prettin und
der Lichtenbnrg vorüber. So berichtet die Bclgernsche Chronik vom Jahre 1728:
„Den 21. Mai passierte Se. Majestät der König von Polen auf der Elbe
mit seiner kleinen aus 4 Brigantium, 4 Schaluppen und 6 großen Prasum
bestehenden, mit 144 Bootsleuten und 18 Kanonen besetzte» Flottille an den
Städten Strehla, Mühlberg und Belgern vorbei. Air jedem dieser Orte stand
die Bürgerschaft mit Musik und Gewehr, gaben dreimalige Salven und wurden
dagegen von der Flottille mit 9 Kanonenschüssen begrüßt. Die Fahrt ging
zunächst nach dein Schloß der verstorbnen Königin Eberhardine zu Pretzsch,
von da am 23. Mai weiter nach Wittenberg." Auch die Vergnügungen, die
sich an das bekannte „Lnstlager von Zeithain" anschlössen, schlugen ihre Wellen
bis in die ehrwürdige Lichtenburg. Wieder wählte August der Starke, ein
Verehrer glänzenden Wassersports, den Weg auf der Elbe; die Belgernsche
Chronik erzählt vom Jahre 1730: „Den 27. Juni führ S. Majestät der König
voll Polen mit Sr. Majestät dem König von Preußen, Friedrich dem Großen
jinuß heißen: Friedrich Wilhelm I.j, aus dem Lager auf der Elbe hier vorbei
zur Jagd nach Lichtenburg. Die hiesige Bürgerschaft machte dieserhalb am
Ziegelberge Parade und gab Salve, wobei aber der Tischler Samuel Lümmels!)
den Ackersmann Fröber ans Unachtsamkeit durch einen Schuß in den Rücken
in die linke Hüfte 2^ Zoll tief, hart verwundete. Wiewohl Fröber kuriert
wurde, so mußte der vielen Kur- und sonstigen Kosten wegen doch Lümmels
Haus zur Subhastation gebracht werden." Damals sah die Lichtenburg Angust
den Starken und Friedrich Wilhelm I- in ihren Mauern; aber die bescheidne
Pracht aus den Tagen der Mutter Anna genügte dem königlichen Gastgeber
nicht mehr: so war für den einen Tag der großen Hofjagd ein hölzernes Jagd¬
schloß errichtet worden, voll dessen vergoldeten Fenstern und Thüren die
Bürger und Bauern der Umgegend sich noch lange erzählten.
Auf August den Starken folgte 1733 sein Sohn Friedrich Augnstll. Auch
er hat Beziehungen zu Lichtenburg gehabt, doch sie lagen, als er zur Regierung
kam, in unermeßlicher Ferne hinter ihn, — in der Jugendzeit. Bis zu seinem
vollendeten vierzehnten Jahre ist Friedrich August II. unter der liebevollen
Obhut der Großmutter und der Mutter auf den Fluren von Prettin und Lichten-
burg gewandelt, ein sanfter, gutmütiger Knabe ohne hervorstechende Anlagen,
aber doch normal begabt und fähig, sich für Großes und Edles zu begeistern.
Dann und wann brach sogar ein energisch protestantisches Bewußtsein ganz
spontan bei ihm hervor, und seine Briefe zeigen, daß ihm von Haus aus der
Trieb zur Selbstbestimmung seiner Wege und Ziele durchaus uicht mangelte.
Noch im Januar 1712, als ihn der Vater schon auf das Drängen seiner
ultramontanen Umgebung und des Papstes unter der Leitung des Jesuiten
Salerno, des Rektors des Collegium Germanicum in Rom, auf die Reise nach
Italien geschickt hatte, schrieb der Kurprinz aus Heidelberg, er bitte ihm zu
erlauben, im Frühjahr nach Deutschland zurückzukehren oder eine Reise nach
Holland zu machen, da er zu diesem Lande mehr Neigung empfinde als zu
Italien. Aber als er sechs Jahre später nach Sachsen heimkehrte, erschien er
als ein in seinem ganzen Wollen gebrochner Jüngling, als ein willenloses
Werkzeug in der Hand der Jesuiten. Sie hatten an ihm ihre Arbeit so gut
gethan, daß Pater Salerno den Kardinalspurpur wirklich zu verdienen schien,
mit dem ihn der dankbare Papst schmückte. So wankte denn das einst so
blühende Staatswesen der Wettiner, als Friedrich August II. 1733 den Thron
bestiegen hatte, unaufhaltsam seiner beklagenswertesten Periode entgegen, die
in den maßlosen und nutzlosen Leiden des Landes während des siebenjährigen
Kriegs ihren Höhepunkt erreichte. Nicht der Übertritt des Kurprinzen zum
Katholizismus an sich — denn die im Vergleich zu jenen Zeiten beglückende
Gegenwart beweist, daß ein guter Katholik zugleich auch ein guter und von
allen geliebter Landesvater sein kann —, sondern der Jesuitismus hat diese
bittern Früchte gezeitigt, der diesem unglücklichen Fürstensöhne das Mark aus
den Knochen sog und ihn durch eine jahrelang fortgesetzte Knechtung des
Geistes und des Gewissens so tief erniedrigte, daß er auf dem Throne einem
Brühl, dem lakaienhaftesten und durchtriebensten Schurken unter seinen Hof¬
leuten, zum Opfer fiel. Mit einem Katholizismus, wie ihn z. B. das fromme
Volk der deutschen Alpenlande im Herzen tragt, kann sich der evangelische
Christ sehr wohl vertragen, mit dem Jesuitismus niemals. Denn die Tendenz
des Jesuitismus ist spanischen, das heißt halb semitischen Ursprungs und
widerstrebt dem deutschen Volkstumc von Grund aus. Drum wehe denen,
die aus ultramontanen Fanatismus oder aus kurzsichtiger Lauheit im Reichs¬
tage der Aufhebung des Jesuitengesetzes das Wort reden! Sie wissen nicht,
was sie thun! Auch das ruhmreiche Haus der Albertiner hat sich von der
tiefen Erniedrigung, in die es von Jesuiten und Lakaien gestürzt worden war.
erst dann wieder erholt, als der Jesuitismus auf einige Zeit durch die herrschende
Aufklärung zurückgedrängt war, als Friedrich Christian und Maria Antonia
Walpurgis, in der Staatskunst begeisterte Anhänger Friedrichs des Großen,
am 5. Oktober 1763 deu Thron bestiegen. Vou diesem edeln Fürstenpaar
und seinen Kindern geht ein neuer Geist fürstlichen Pflichtgefühls und edler
Lebensführung aus, der in der Negierung und Verwaltung Sachsens herrschend
geblieben ist bis auf diesen Tag.
Die Grabesruhe der beiden fürstlichen Schwestern in der Lichtenbnrger
Kirche und die über das ganze Schloß ausgebreitete Stille wurde jäh unter¬
brochen im Kometen- und Weinjahre 1811. Damals verlangte Napoleon die
Verwandlung Torgaus in eine Festung ersten Ranges, und so wurde denn das
bis dahin im Torgauer Schlosse untergebrachte Zuchthaus in die Lichtenburg
verlegt. Ehe aber die Sträflinge im April 1812 in den für sie hergerichteten
Fnrstcnsitz einzogen, wurden die Leichen der beiden Kurfürstinnen samt ihrem Epi¬
taphium am 22. September 1811 aus der Schloßkirche abgeholt und in die
ehrwürdige Begräbniskapelle der Wettiner im Dome zu Freiberg übergeführt.
Es ist merkwürdig, daß alle die vier Fürstinnen: Anna, Hedwig, Wil¬
helmine Ernestine und Anna Sophie, die längere Zeit in Lichtenburg Hof
hielten, dänische Prinzessinnen waren. Ihre Vorliebe für Lichtenburg erklärt
fich wohl zum Teil auch daraus, daß sie der ganze Charakter der wald- und
wasserreichen Gegend, die auf dem Strome vorübergleitenden Segel und endlich
auch die Bauart des Schlosses selbst an die am Sunde liegenden heimischen
Königssitze erinnerten. In Dänemark ist die Renaissance ein Jahrhundert
später als in Deutschland durchgerungen; die zahlreichen Heiraten dänischer
Königstöchter nach Sachsen haben der neuen Richtung im Norden mit zum
Siege verholfen, indem sie eine Ungleichung des dänischen Geschmacks an den
sächsischen beförderten. Gewisse Übereinstimmungen zwischen der Annaburg
und Lichtenburg auf der einen und den allerdings weit mächtigern und gro߬
artigern Schlössern Friedrichs II. von Dänemark (1559 bis 1588), Kronborg
und Frederiksborg auf der andern Seite lassen, wenn ich nicht irre, erkennen,
daß damals zahlreiche Fäden zwischen der dänischen und der sächsischen Baukunst
hin- und herliefen. Auch wenn man die unvergleichlichen Schätze des dänischen
Natiounlmuseums in Frederiksborg durchwandert, wird man beim Anblick der
Hausgeräte, des Mobiliars, der Uhren aus dem sechzehnten und siebzehnten
Jahrhundert Schritt für Schritt an die fast ganz entsprechenden Erzeugnisse
sächsischen Kunstfleißes erinnert, die das Dresdner historische Museum bewahrt.
cum Meister Otaria den alten Duttmüller, alias David Müller, das
„Jnfanterieübel" von Heinrichshnll genannt hätte, so hätte ihm sein
Schwiegersohn Drillhose unzweifelhaft Recht gegeben. Dieser David
Müller war ein gräßlicher Kerl, faul, unzuverlässig und immer etwas
angetrunken, außer in dem Falle, daß er seinen Raptus kriegte und
sich mehrere Tage so schwer betrank, daß nichts mit ihm anzu¬
fangen war. In diesem Falle nahm er Hut und Stock und verschwand eine oder
zwei Wochen, worauf er unglaublich verwahrlost und schmutzig wieder anzukommen
pflegte. Dann ging es wieder eine Weile, und so fort in schöner Abwechslung.
Und all das ließ sich der Direktor gefallen, der doch sonst kurzen Prozeß machte,
wenn einer nicht den Pfad der Tugend wandelte. Seinen Posten als Bote hatte
er längst verloren, weil er viel zu unzuverlässig war. Man hatte ihn in der
Fabrik beschäftigt, da und dort kleine Arbeiten thun lassen, und zuletzt kriegte ihn
Drillhose, der seine Bestände neu aufnehmen wollte und dazu einiger Hilfskräfte
bedürfte. Es waren die besten Kräfte nicht, die ihm zugewiesen wurden, aber der
schlechteste von allen war ohne Zweifel Müller oder, Wie er nach seinem Lieblings¬
getränk genannt wurde, Kümmelmüller.
Kümmelmüller und Drillhose paßten nun gar nicht zu einander. Denn
Drillhose hatte von seiner Soldatenzeit her für Müller viel zu viel militärische
Strammigkeit in den Knochen. — Aber Müller! rief Drillhose, als er sah, daß
dieser nicht nur selbst nichts that, sondern auch die andern am Arbeiten verhinderte.
Müller hörte nicht.
Sie, Mensch, können Sie nicht hören? schrie Drillhose in den höchsten
Lokomotivtönen.
Meinen Sie mir? fragte Müller gelassen. — Was dieser Sklavenzüchter
für einen mordsdämlichen Sprechnnismus hat! Die Arbeiter lachten.
Ja, Sie meine ich, Sie Faultier. Was haben Sie nun den ganzen Viertels¬
tag fertig gebracht? Und die andern halten Sie von der Arbeit ab, und nach
Schnaps riechen Sie auch.
Ob ick nach Schnaps rieche, kann Ihnen ganz eingal sind. Sie bezahlen ihn
mir doch nicht. Ick will Ihnen wat sagen,, Herr Oberinspektor, Sie können mir
mit Filzparisern den Buckel lang rutschen.
Drillhose war wütend. — Wenn Sie das Maul nicht halten, wird man Sie
hinausthun.
Thun Sie mir doch einmal hinaus! Hei! bei!
Die andern Arbeiter grinsten vor Vergnügen und sagten: Immer feste, Müller,
giebs ihm nur ordentlich.
Drillhose kochte vor Wut und hätte am liebsten nach einem Knüppel gegriffen.
Aber er bezwang sich und ging zum Obersteiger, um sich zu beklagen. Der Mensch
müsse fort, es sei ein wahrer Skandal, er thue selbst nichts und hindre die andern.
Rummel zuckte die Achseln und sagte, da sei nichts zu machen.
Ein andermal traf Drillhose Kümmelmüllern, wie er eine ganze Volksversamm¬
lung zusammengerufen hatte und dem Volke einen Zettel vorlas, worin große Worte
wie Lohnsklaven, Ausbeutung der Arbeiter, kapitalistische Staatsordnung, Umsturz,
Volksversammlung und andres vorkam. Drillhvse riß ihm den Zettel aus der
Hand und eilte damit zum Direktor, den er in seiner Veranda, die Zeitung lesend,
fand. Der Direktor antwortete auf die Anzeige Drillhoses in seiner lässigen, aber
keineswegs gutmütigen Art: Ach was! Thun Sie Ihre Arbeit, machen Sie Ihre
Musik und kümmern Sie sich nicht um Dinge, die Sie nichts eingehn.
Entschuldigen Sie, Herr Direktor, erwiderte Drillhose, aber ich habe es für
meine Pflicht gehalten, Anzeige zu machen. Denn das kann doch nicht geduldet
werden, daß uns die Sozialen mit ihren Schandblättern die Arbeiter verhetzen.
Der Direktor wandte sich seiner Zeitung zu, ohne Drillhose weiter eines Worts
zu würdigen, und dieser zog einigermaßen betreten ab und sagte zu sich: Na, das
kann ja hier noch recht schön werden.
Natürlich war es nicht unbemerkt geblieben, daß Drillhose beim Direktor ge¬
wesen war, ohne etwas auszurichten. Jetzte legte es Kümmelmüller darauf an,
Drillhosen zu ärgern, wie er nur konnte.
Was haben Sie denn, Drillhose? fragte Wandrer, der dessen bekümmerte
Miene sah.
Ach, Herr Wandrer, der Kerl, der Müller ärgert mich noch tot, und keiner
steht einem bei, erwiderte Drillhose.
Drillhose, sagte Wandrer, ein ordentlicher Kerl hilft sich selber.
Drillhose sah Wandrer fragend an, worauf Wandrer ein paarmal nachdrücklich
mit dem Kopfe nickte, worauf Drillhose ebenso nickte, worauf sie sich verstanden
hatten.
Inzwischen fuhr Kümmelmüller fort zu schimpfen über den Hungerlohn, den
er verdiene, und daß er sich zu Schanden arbeiten müsse, und daß das eine
menschenunwürdige Existenz sei, und daß er sich fünfundzwanzig Jahre als Arbeiter
in der Welt herumgetrieben habe, und daß er Anspruch auf die Alters- und
Invalidenrente habe, und daß, wenn er reden dürfte, mancher vor ihm den Hut
abnehmen würde, der jetzt den Großmogul spiele.
Halten Sie das Maul, schnäuzte ihn Drillhose im Unteroffizierstone an, und
thun Sie Ihre Arbeit.
Wild? Maulhalten? Hier? Ick? Vor wem denn? Vor Ihnen? Sie
ruppiger Blechtuter, Sie Maschinennachtwächter Sie, Sie Jammerlappen mit der
zersprungnen Stimmritze! Mich anschnauzen? Hier? Wo ick Herr und Vater bin?
Drillhose wurde blau im Gesicht vor Wut, er bezwang sich aber. Am Abend
jedoch ereigneten sich merkwürdige Dinge. Riemer hatte sechs Uhr gepfiffen, die
Arbeiter waren abgezogen, und Kümmelmüller, der wieder sein volles Teil hatte,
taumelte allein hinterher. Da ergriff ihn von hinten eine kräftige Faust am Rock¬
kragen und zog ihn trotz seines Widerstrebend in einen verschwiegnen Schuppen.
Bald darauf erklangen aus dem Schuppen jammervolle Töne, es war jedoch niemand
da, dessen Herz sie hätten rühren können, und so verhallten sie wirkungslos. Der
Klagegesnng wollte kein Ende nehmen, er erhob sich immer von neuem, als ob zur
Kompletierung Nachtragszahlnngen geleistet würden. Dann öffnete sich die Thür,
>ab Kümmelmüller flog bears, blieb stöhnend auf einem Häuser Asche liegen und
schlief ein.
Am nächsten Morgen erschien er, ein Bild des Elends, mit steifen Gliedern
und behaftet mit innern, und äußerm Jammer beim Obersteiger und führte Klage,
daß er von Drillhose verhauen worden sei. Rummel schmunzelte und fragte, ob
ihn denn Drillhose feste versuum habe. Halb zu schänden habe er ihn geschlagen,
erwiderte Müller. — Na dann sein Sie zufrieden, sagte Rummel, dann haben Sie
gekriegt, was Sie brauchten. Müller war verdutzt und zog schimpfend ab. Was
das für eine Wirtschaft sei. Er als deutscher Staatsbürger müßte sein Recht haben,
und wenn man ihm sein Recht nicht gebe, dann gehe er bis an den Kaiser.
Diesesmal ging er jedoch nur bis zu Wandrer und brachte seine Klage an. — Hat
denn Drillhose sehr zugeschlagen? fragte Wandrer.
Unvernünftig, Herr Wandrer, krumm und lahm hat er mich gehauen.
Nun sehen Sie mal. Ja da ist nichts zu machen. Das ist eine Privatsache
zwischen Ihnen und Drillhose. Höchstens können Sie ihn verklagen — voraus¬
gesetzt, daß Sie Zeugen haben.
Auch diese Abfertigung war ungenügend. Darum ging Duttmüller zum
Direktor, der ihn gar nicht vorließ, sondern sagen ließ, er möchte sich gefälligst
zum Teufel scheren. Da stand nnn Duttmüller mit seiner gekränkten Menschen¬
würde, die verfolgte Unschuld, der ungerecht behandelte deutsche Staatsbürger. Was
blieb ihm übrig als die Welt zu verfluchen? Dies that er. Darauf betraut er
sich fürchterlich, schlief aus und ging auf die Walze.
Nach vierzehn Tagen kam er schmutzig und heruntergekommen, wie nie, wieder
an, lungerte um des Doktors Haus herum, schlüpfte, nachdem er bemerkt hatte, daß
Frau Duttmüller ausgegangen war, hinein, öffnete ohne weiteres die Thür zu des
Doktors Studierzimmer und setzte sich auf den Stuhl neben der Thür. Der Doktor
war eben damit beschäftigt, seine ärztlichen Honornrforderuugen in das Hauptbuch
einzutragen und zu überrechnen, eine Beschäftigung, die ihm lieb war, und bei der
er sich nicht gern stören ließ. Als er aufblickte, sah er seinen Erzeuger in ab¬
gerissenster und lumpigster Gestalt vor sich. Er war davon keineswegs erbaut und
fragte in mürrischem Tone: Was willst du denn schon wieder?
Asche, erwiderte Alois Duttmüller heiserer als je.
Asche? frcigte Louis Duttmüller.
Kitt, sagte der Alte und machte die Handbewegung des Geldzählens.
Geld giebts nicht, erwiderte der Doktor. Geh zum alten Brandeisen und laß
dir deinen Lohn auszahlen.
Nich in die Düte, erwiderte der Alte. Wenn ick einen einzigen Schritt wieder
in die Räuberhöhle setze, so will ick Strümpfe stricken und nnter die Betschwestern
gehn. Wat? Hier! Sich den ganzen Tag abmarachten und denn zum Krüppel
verhauen werden?
So sieh zu, wo du was kriegst.
Louis, sagte der Alte nach einer Pause, wo ick dein ehcleiblicher Vater bin,
und du hast mir außer mit die Kleedasche mit keinem Sechser nnter die Arme ge¬
griffen. Handelst du an mir, wie ein gehorsamer Sohn? Kannst du das vor
Gott im Himmel verantworten?
Schweig. Ich habe genug für dich gethan. Denkst du denn, sie würden dich
auf dem Werke acht Tage behalten haben, wenn ich nicht deinen Lohn aus meiner
Tasche bezahlt hätte?
Alois Duttmüller stand da wie einer, der von einem furchtbaren Schicksal ge¬
troffen wird. Und ick, sagte er mit tiefem Seufzen, ick habe darum Schuften müssen.
Louis, dat vergebe ick dir nich. Dieses war eine Schlechtigkeit von dir, oder von
der oller Schreckschraube, deiner Mutter. Wo ick fünfundzwanzig Jahre als Ar¬
beiter auf der Walze gewesen bin, und wo ick Anspruch auf mein Altersteil habe,
und wo dn ein reicher Knopp geworden bist. Und denn um die paar Sechser nach
dem Werke gehn und Sand Schippen müssen? Pfui Deibel! Aber so struppiert
uff die Gedankenfabrik bin ick noch nich, daß ick nur sowas bieten lasse. Verstehst
du mich. Und das schwöre ich dir mit sieben Eiden, dat ick mit keinem Fuße
wieder in die Mörderhöhle trete. Ick will mein Altenteil haben, worauf ick ein
göttliches und menschliches Recht habe.
Alois Duttmüller hatte seine Stimme mehr und mehr erhoben und war in
den ihm geläufigen Näsonnierton gefallen, den der Bummler anstimme, wenn er
nichts oder zu wenig bekommen hat. Louis Duttmüller sah dabei unruhig nach
der Thür, die zum Nebenzimmer führte, und sagte: Schrei nicht so. — Aha, dachte
Alois Dnttmüller, das ist der schwache Punkt, und fing nun erst recht an zu schreien:
Eine Sünde ist es und eine Schande, wenn ein Vater bei seinem eheleiblichen Sohne
um ein paar Jroschen betteln muß. Und, Louis, hast du denn gar kein Jefühl?
Hier! Wo ick die Hungerpotenlutscherei satt habe und selber ein Geschäft anfangen
will und Geld dazu brauche?
Louis zog widerwillig den Schubkästen heraus und gab feinem Erzeuger ein
paar Mark. Dieser sah das Geld mit unverhohlner Verachtung an und sagte: Dat?
Hier! Dat soll allens siud? Wo ick vor das Buch vom alten Schäfer Matthias
in Klein-Siebendorf allein fünfzig Mark brauche? Nein, Louis, dat kann ich nich
annehmen, und wenn — Darauf brach er plötzlich ab, steckte das Geld in die
Tasche und verschwand mit Blitzesschnelle, ohne weiter etwas zurückzulassen, als den
müssiger Geruch, den seinesgleichen an sich zu haben Pflegt. Er hatte nämlich
durch die Thür die Stimme seiner lieben Frau gehört, die er vor fünfundzwanzig
Jahren schnöde verlassen hatte, und die er noch immer wie das Feuer fürchtete.
Als Louis in das Zimmer seiner Frau trat, fragte diese: Louis, wer war
denn da, der so laut sprach?
Es — es war ein Lump, antwortete Louis.
Er muß schou öfter dagewesen sein, fuhr Alice fort, seine Stimme kam mir
bekannt vor.
Jawohl, sagte die alte Duttmüllern, die wohl wußte, wer dagewesen war, und
ihrem Sohne helfen wollte, es ist ein Kerl vom Werke.
So? Du kennst ihn auch?
Ja, so — oberflächlich. Der Kerl will immer Geld hoben.
Der arme Mensch! Er ist wohl krank?
Na ja, so ungefähr; er hats Faulfieber.
Aber, Mutterchen, warum läßt sich denn Louis mit so einem ein?
Die große Volksversammlung, die am Tage des patriotischen Konzerts durch
Plakate angekündigt war, hatte nicht stcittgefnnden. Der Oberstleutnant hatte sein
Komitee versammelt und die Herren aufgefordert, mit alleu Kräften den Einbruch
der Demokrateubande zu verhindern, hatte aber wenig Entgegenkommen gefunden.
Der eine fürchtete, sich Ungelegenheiten zuzuziehn, und der andre hielt die Sache
für ungefährlich, und der Direktor konnte es als liberaler Mann nicht billigen, daß
Menschen, und wenn es auch Sozialdemokraten seien, in ihren gesetzlichen Rechten
beschränkt würden. Mit Polizeimaßregeln überwinde man die Sozialdemokratie über¬
haupt nicht, es müsse mit geistigen Waffen geschehn.
Damit gab sich jedoch der Herr Oberstleutnant nicht zufrieden. Er ließ sich
Happich kommen, um ihm vorzustellen, daß er als königstrcner Mann und Mit¬
glied des Patriotenbuuds seinen Saal zu Versammlungen, die den Umsturz des
Staats und die Beraubung der Wohlgesinnten planen, nicht hergeben dürfe. Es
war aber mit Happich nicht viel anzufangen, er sagte nicht ja und sagte nicht nein,
er versprach es und versprach es auch nicht, er war, wie immer, der echte Happich.
Der Oberstleutnant schrieb an den Herrn Landrat. Dieser wies ihn an den Herrn
Amtsvorsteher in Asseborn. Und der Herr Amtsvorsteher äußerte sich dahin, die
Versammlung könne nicht verboten werden, wenn sie ordnungsmäßig angemeldet
sei. Wenn die Anmeldung dagegen mangelhaft sei, so werde er die Versammlung
untersagen. Richtig enthielt die Anmeldung einen Formfehler, und die Volksver¬
sammlung wurde noch im letzten Augenblick, als es zu spät war, den Fehler zu
verbessern, verboten. Schon hatte Happich sein Bier angeschafft, schon kamen die
Genossen aus Brannfels an, da erschien auch die bewaffnete Macht in Gestalt
zweier Gendarmen. Diese nahm den Saal in Besitz, schnäuzte jedermann an, der
hinein wollte, und zerstreute Zusammenrottungen vou drei bis sechs Menschen auf
der Straße mit bekannter Schneidigkeit.
Dies hatte zur Folge, daß sich ein großer Zorn der Arbeiter bemächtigte, die
der Meinung waren, daß man sie vergewaltigt und ihnen die ihnen gesetzlich zu¬
erkannten Rechte verkürzt habe. Nun brannte man erst recht auf die Versammlung,
die die Arbeiterschaft über ihre Rechte aufklären sollte, und viele, die bis dahin
gleichgiltig gewesen waren, wurden zornig, lasen den „Volksherold" und ließen sich
von diesem gehörig einbeizen. Es wurden also schleunigst alle Kräfte in Bewegung
gesetzt, eine neue und glänzendere Versammlung vorzubereiten.
Dagegen war der Patriotenbund thätig gewesen. Man hatte einen Skatabend
eingerichtet, wobei die notleidende Landwirtschaft, das heißt die, die ihre Gelder
in Heinrichshaller Kuxen angelegt hatten, den Point zu zwei Pfennigen spielten,
und wobei eine Art Börse für Heinrichshaller Papiere abgehalten wurde. Der
Direktor Wenzel war natürlich die Seele der Sache. Auch ein großes Fest¬
essen in Brauufels wurde vorbereitet, und für den Winter waren Theaterabende,
natürlich mit Stücken patriotischen Inhalts, und sich daran anschließende Tanz-
unterhaltungen geplant. Freilich bei Happich, da ein andres Lokal nicht zu haben
war, aber was thut man nicht für eine gene Sache!
Nicht lange darauf verlor Herr von Nienhagen seinen Patriotenbund wieder
aus den Augen. Denn es war in seiner Familie ein langerwartetes frohes Er¬
eignis eingetreten. Doktor Louis Duttmüller war Vater geworden. Er hatte dabei
die höchste ärztliche Umsicht walten lasse», er hatte die neusten Nährpräparate mit
den allerschönsten Namen kommen lassen, er hatte die schwierigsten Fälle in seinen
Zeitschriften nachgelesen, er hatte alle erdenklichen Instrumente, die in den extremsten
Fällen angewandt werden, bereit gelegt, er hatte schon im voraus salicylscmres
Natron, diesesmal mit Himbecrfirup verordnet. Und die alte Duttmüllern, die
schon seit längerer Zeit eine liebevolle Tyrannei über Alice ausgeübt hatte, steigerte
diese bis zum äußersten. Nicht einmal eine Nähnadel durfte Alice in die Hand
nehmen, weil das gewisse mystische Folgen haben konnte, und weil einmal eine
Frau in Branufels, die dennoch gegen den Rat der Duttmüllern eine Nadel ein¬
gefädelt hatte, am Kindbettfieber gestorben war, und weil das Kind einer andern,
die sich mit einer Nadel gestochen hatte, mit einer Hasenscharte geboren worden war.
Mit der gnädigen Frau, die eifrig in dem Bestreben fortfuhr, sich andrer
Leute Köpfe zu zerbrechen, hatte es einige unerfreuliche Auseinandersetzungen ge¬
geben, und es war kaum möglich gewesen, ihr das Unfaßbare beizubringen, daß
sie mit ihrer Lorgnette nicht alles zu dirigieren habe, und daß des Doktors Haus
nicht ihr Haus sei. Ganz besonders war es die Wiegenfrage gewesen, die die Ge¬
müter erregt hatte. Die gnädige Frau hatte es für selbstverständlich gehalten, daß
eine Wiege elegantester Form angeschafft werde, leichtes eisernes Gestell mit duftiger
Umkleidung, eine Säule oder einen Stab am Kopfende und Schleier von oben
herab. Alle gekrönten Häupter haben in solchen Prunkwiegen gelegen, allen Thron¬
folgern sind solche Wiegen von den begeisterten Hauptstädten geschenkt worden.
Und was plante man bei Duttmüllers? Einen einfachen Waschkorb, ein gemeines
Nützlichkeitsmöbel, wenn man einen Waschkorb überhaupt ein Möbel nennen dürfte.
Aber es half ihr alles nichts, es blieb beim Waschkorbe, da ein Waschkorb von
höherm wissenschaftlichen Wert ist als die hygienisch gänzlich veraltete Wiege. Mit
Mühe setzte die gnädige Frau wenigstens das durch, daß der Waschkorb mit Mull
überzogen und mit Rosaatlasbändern verziert wurde.
Schließlich trat das große Ereignis ein, als Doktor Duttmüller nicht zu Hause
war, sondern auf einer seiner Außenstationen eine Entbindung „leitete." Als er
zurückkehrte, war unter Beihilfe der alten Hüttnern, die er sonst nicht für voll
anzusehen pflegte, alles vorüber, und es war an dem Resultate nichts auszusetzen,
als daß der erwartete Knabe ein Mädchen war. Mau denke, ein Mädchen, nachdem
Duttmüller — allerdings mit aller Reserve — aus den Anzeichen geschlossen hatte,
daß es bestimmt ein Knabe sein werde, ein Mädchen, das in seinen Augen nur
eine halbe Leistung darstellte. Duttmüller war so unvorsichtig gewesen, seiner Frau
seine Enttäuschung merken zu lassen, worüber diese sehr unglücklich war, und Fran
Duttmüller zählte aus ihrer Bekanntschaft alle Fälle ans — von ihr selbst zu
schweigen —, wo Mütter gleich das erstemal ihre volle Schuldigkeit gethan hatten
und Mütter von Söhnen geworden waren.
Auch die Wochenpflege gab der gnädigen Frau Gelegenheit zu langen Reden
und zur Entwicklung großer Weisheit. Zur Ausführung der von ihr gegebnen
großen Gesichtspunkte drängte sie sich nicht. Details waren ihre Sachen nicht.
Dagegen trat Frau Duttmüllcr das Hausregiment an. Wie der wohlwollende
Drache im Märchen, der die Prinzessin bewacht, so lauerte sie vor der Thür des
Wochenzimmers und ließ niemand hinein, kaum daß Ellen einmal die Nasenspitze
des Nichtchens bewundern durfte. Sogar gegen die Wissenschaft des Herrn Sohnes
empörte sie sich. Dutimüller wollte alle Fenster offen haben, sie schloß alles her¬
metisch ab; er kam mit Rotwein, Pepsin, Plaston und Noborin, sie ließ die Wöch¬
nerin bei dünnsten Mehlsüppchen fast verhungern. Duttmüller gab die bestimmtesten
Weisungen, konnte aber gegen seine Frau Mutter nicht aufkommen — und es
ging anch so.
Nun nahte der wichtige Tag der Taufe. Alice hatte den Eindruck, als hätte
es Duttmüller am liebsten gehabt, wenn gar nicht getauft worden wäre; aber das
ging doch nicht. Duttmüller leistete keinen direkten Widerstand, er hatte aber auch
keine Freudigkeit zur Sache. Und das zur Feier nötige Geld rückte er sichtlich
ungern heraus. Zuerst galt es, die Wahl der Paten zu beraten. Hier trat nun
die Lorgnette der gnädigen Frau wieder in Thätigkeit, und unter ihren Taktschlägen
wuchsen zahlreiche Schwierigkeiten aus dem Boden, deren Überwindung um so
schwieriger war, als auf dem Fronhofe nach rechts und bei Doktors nach links
kutschiert wurde.
Louis, sagte Alice, laß dich durch Mama nicht irre machen. Ich gehöre zu
dir, und ich möchte, daß zu der Taufe deine Freunde zugegen seien.
Das war gewiß gut gemeint, aber dem Doktor doch nicht ganz recht. Denn
hier entstand die Schwierigkeit, herauszufinden, wer eigentlich seine Freunde waren.
Wandrer? Jawohl, unbesehen. Aber Larisch mit seinen bösartigen Witzen? Bolze?
oder gar der Braumeister? oder Ölmnuns? Es wäre doch eine merkwürdige Tauf¬
gesellschaft geworden, wenn man diese geladen hatte. Und die Taufgesellschaft
durfte doch mich nicht groß werden, des Raumes und der Kosten wegen, und so
einigte man sich dahin, daß mir Bolze als Vertreter der Brminfelser Tafelrunde
geladen werden sollte.
Egon, sagte die gnädige Frau, du wirst mir Recht geben, wenn ich sage, daß
die Wahl der Paten für das ganze zukünftige Leben des Täuflings von hoher
Bedeutung ist. Durch angesehene Pater kann sich der junge Mensch Konnexionen
erwerben, und du kannst gar nicht wissen, was es für Ellen noch für Wert haben
wird, daß Tante Marschall ihre Pate ist. Hätten wir doch auch bei Jork so Ver¬
fahren. Aber du wolltest ja damals nicht hören. Was hat er nun davon, daß
seine Paten pensionierte Offiziere sind.
Egon versuchte es nicht, festzustellen, daß die liebe Frau selbst damals die
Paten bestimmt hatte.
Die gnädige Frau fuhr fort: Mit Rücksicht darauf, daß ich die Mutter bin,
würde ich beanspruchen können, Pate zu stehn.
Aber Mama, sagte Ellen, Frau Duttmüller ist doch auch die Mutter und
kann es doch auch beanspruchen. Willst du mit der Duttmüller zusammen stehn?
- Die Lorgnette machte einige ratlose Bewegungen. — Dann mußt du, Egon,
das Patenamt übernehmen, sagte sie.
Mich laßt aus, erwiderte Egon, nehmt junge Leute, die noch leben, wenn das
Enkelchen heranwächst, nicht so alte Krümper wie mich.
Pa, warum denn nicht? fragte Ellen. Wir schaffen deinen Stuhl in die Kirche,
und warum solltest du nicht auch „Pate sitzen" können?
Schnucki, das will ich gerade nicht. Ich will nicht, daß man mich betrachtet
und bemitleidet.
Die gnädige Frau dachte an Tante Marschall, die Duttmüllern dachte an
Ölmmm, zwei Gedanken, die sich unmöglich miteinander vereinigen ließen, und so
kam nach endlosen Verhandlungen, Erwägungen, Vorschlägen und Gegenvorschlägen
eine Patenliste zustande, die alle beteiligten maßgebenden Personen als einfach un¬
möglich abgelehnt haben würden, wenn sie ihnen von vornherein vorgelegt worden
wäre, nämlich: Onkel Alfons und die Duttmüllern, Wandrer und Ellen, Bolze und
Fräulein Lüttge, die dicke Tochter des dicken Schulze» in Holzweißig, die Doktor
Duttmüller aus Geschäftsrücksichten mit herangezogen hatte.
Alice freute sich darauf, eilf Wirtin dem eignen Haushalt vorstehn und Freunde
bei sich sehen und bewirten zu können. Sie halte gern bei den Vorbereitungen
mit Hand augelegt, aber sie traf auf deu entschlossenen Widerstand von Mutter
Duttmüller, die sich wie ein Erzengel mit bloßem hauenden Schwerte vor das
Wirtschaftsdepartement stellte und nicht duldete, daß Alice auch mir ein Milch-
töpfchen anrührte.
Aber Mutterchen, sagte Alice, ich bin ja gar nicht so schwach, ich kaun ganz
gut mit angreifen.
Doch Mutter Duttmüller ließ sich nicht bedeuten. Prinzessinnen wie Alice
seien viel zu zerbrechlich, man müsse sie durchaus schonen und dürfe ihnen gar nichts
in die Hand geben. So griff denn Alice, da das Würmchen artig war und viel
schlief, zu ihrem Tagebuch und schrieb:
Man will mich nicht arbeiten lassen. Das ist schade. Ich hätte gern die
Hände gerührt für meinen Doktor und für mein Kind, mein Goldkind, mein Juwel
im Waschkorbe. Vier Wände! so klein kann eines Menschen Welt werden, und doch
kann eine unerschöpfliche Fülle von Glück und Befriedigung darin liegen. Ich
wünsche mir nichts weiter, als daß ich nicht verliere, was ich habe.
Wie lange habe ich nicht in mein Tagebuch geschrieben. Wenn ich jetzt die
Blätter lese, die ich einst beschrieben habe, ist mirs zu Mute, als sei ich es gar
nicht gewesen, als seien das fremde Gedanken, von fremder Hand geschrieben. War
ich wirklich das wunderliche Menschenkind, das sich den Kopf über ungelöste Lebens¬
fragen zerbrochen hat! Welche Thorheit! Die große Frage heißt: Mutter und
Kind — mein Kind! Gott segne dich, Kind, Gott gebe dir glückliche Eltern. Glück
ist ein Gut, das sich vererbt. Du sollst es erben.
Was ist das Höchste in der Welt? Nicht der Ruhm, nicht einmal der Dank,
sondern die Liebe. Echte Liebe ist mächtig und unveränderlich wie eine Nciturkrnft,
wie der Busch auf dem Berge Horeb, der mit Feuer brannte und doch nicht verzehrt
wurde. Echte Liebe brennt, aber sie verzehrt sich nie.
Wie gut Louis aussieht! Und wie es ihm schmeckt! Ich glaube, er ist schon
stärker geworden. Und welche Würde und Selbständigkeit er Mama gegenüber
heraussteckt! Ich muß im stillen lachen, wenn ich sehe, wie er sein Kind ans dem
Arme hat und seine Bedeutung als Vater und Sachverständiger auf seinen Mienen
zu lesen ist. Aber er gefällt mir so. Nicht alle Blüten am Baume entwickeln
sich zur Frucht. Manchmal sind es die, die am spätesten blühen, die die Frucht
geben. Ich sage es nicht, wen ich meine und welche Blüte und Frucht.
Mein Goldkind. Da liegt es im Weißen Bettchen und streckt die roteir
Fäustchen in die Höhe und schläft und schläft, wie nur ein Kind schlafen kann.
Das Herz schlägt, und der Atem geht, und das Blut rollt seine Wege, und die
Seele ruht, und kein dummer Verstand redet hinein. Schlafe, mein Kind, und
wachse. Umkehren, spricht Christus, und werden wie ein Kind. Meint er nicht
vielleicht ein schlafendes Kind? Ist nicht das gerade die höchste Weisheit, was wir
unbewußt fühlen und thun? Wer nachts nicht schlafen kann und sich quält mit
seinen Gedanken, die die Dinge falsch darstellen, der sehnt sich nach dem traum¬
losen Schlafe des Kindes, wie nach einem Frieden, den die Welt nicht geben und
der wachende Geist nicht finden kann. Wenn der Mensch schläft, so setzt Gott an
ihm sein Schöpfungswerk fort. Kindchen, Gott erhalte dir deinen Schlaf.
Liebe kann viel vertragen, manche Enttäuschung kann sie verwinden, aber daß
sie in ihrem Vertrauen getäuscht wird, das kann sie nicht verwinden. Ich glaube,
ich würde sterben, wenn mirs begegnete.
Jch habe einmal gelesen, daß die Neger eine weniger empfindliche Haut haben
als wir, und daß sie Verletzungen ertragen, die uns niederwerfen würden. Es
muß Wohl uuter den Europäern auch diesen Unterschied geben, nämlich was die
innere Empfindung angeht. Wer doch innerlich eine Negerhaut hätte?
Je näher der Tauftag kam, desto unliebenswürdiger wurde der Doktor. Alice
bemühte sich vergebens, durch freundliches Zureden seine Lanne zu verbessern. In
der That, sein Verhalten machte den Eindruck, als würde er am liebsten über¬
haupt nicht taufen lassen. Am Morgen des Tauftags fuhr er wie gewöhnlich
auf Praxis. Man machte ihm Vorstellungen. Ob er denn nicht wenigstens an
diesem Tage zu Hanse bleiben könnte? — Nein, durchaus nicht, die Patienten
gingen vor, und wenn er nicht zur richtigen Zeit wieder da sei, so möchte man
ohne ihn taufen.
Alice war schmerzlich berührt. Nicht ihrer selbst wegen, sondern des armen
Kindes wegen, das an seinem Ehrentage halb verwaist sein sollte, und Ellen sagte
zu Pa, als sie es erfuhr: Ich habe es jn gesagt, er ißt mit dem Messer. — Auch
Alice empfand etwas ähnliches, aber sie gestand es sich selbst nicht ein, vielmehr
rechtfertigte sie ihren Mann vor sich selber, indem sie dachte: Er ist Arzt. Sein
schöner Beruf ist es, Opfer zu bringen. Der Patient ruft, und der Arzt muß
kommen, und wenn er dabei die Taufe seines Kindes versäumt.
Aber mußte es sein, daß Duttmüller über KleimSiebendorf fuhr, um die alte
Klausewitzen zu besuchen, deren Krankheit in weiter nichts bestand, als daß sie alt
war, und die ärztlich weiter kein Interesse bot, als daß man ihr drei Mark für
den Besuch berechnete? Mußte es sein, daß er in Weuigeusteiu mit dem Herrn
Pastor ein endlos langes wissenschaftliches Gespräch über den Krebs und die
Heilungsaussichten bei dieser Krankheit hielt, während doch der Herr Pastor keine
Zeit hatte und über die Beharrlichkeit des Herrn Doktors schwer seufzte? Mußte
es sein, daß er in Asscboru fünfviertel Stunden brauchte, um einem Kinde die
Augen einzupinseln. Und mußte er auch noch den Umweg über Siebendvrf nehmen,
wo er eigentlich gar nichts zu suchen hatte?
Und so geschah es richtig, daß er zur Taufe nicht da war, und daß er damit
den alte» Herrn Pastor in Verlegenheit brachte. Denn der alte Herr hatte sich
vorgenommen, in der Taufe ganz besonders dem Doktor, der das ganze Jahr
weder in die Kirche noch zum Abendmahl gekommen war, ins Gewissen zu reden
und ihn an seine christlichen Vaterpflichten zu erinnern. Nun war er nicht da,
und da, was einmal aufgeschrieben war, auch gesagt werden mußte, so kriegte» die
Paten ab, was dem Taufvater zugedacht gewesen war.
Gott weiß, wie lange Zeit seit der Tnnfhandlung schon vergangen war. Die
Paten standen im Zimmer herum, hatten Hunger und hatten ihren Vorrat an
Gemeinplätzen schon vollständig ausgegeben. Duttmüller kam immer noch nicht.
Die alte Duttmüllern unten in der'Küche wollte verzweifeln. Der Braten war
schon mehr als einmal in Gefahr gewesen, anzubrennen, und was aus den .Kar¬
toffeln und dem Frikassee werden sollte, mochte Gott wissen. Alice stand an dem
Fenster des Hinterzimmers, von dem aus man über die Dächer des Dorfes hinweg
die Straße nach Assebvrn übersehen konnte, und schaute mit Thränen in den Augen
aus, ob nicht der wohlbekannte Doktorwagen zwischen den Bäumen auftauchen wollte.
Aber es war jedesmal ein fremder Wagen. Duttmüller kam nicht.
Ellen saß festlich geschmückt in einem Lehnstuhl und betrachtete das aus¬
gezeichnete Bouquet, das ihr Wandrer überreicht hatte. Hinter ihr saß Wandrer
und betrachtete seine Stiefelspitze. Beide dachten viel und sprachen wenig.
Haben Sie Hunger? fragte Ellen.
Ich kanns nicht leugnen, entgegnete Wandrer.
Ich auch. Sage» Sie, ist es uicht scheußlich von Duttmüller, uns so warten
zu lassen?
Einem andern Menschenkinde würde das allerdings nicht zu verzeihen sein,
aber ein Arzt darf es sich erlauben.
Aha! Sie meinen mit den Krankenbesuchen hätte es nicht solche Eile? Meine
ich auch. Ich bin überzeugt, dieser Mensch will sich nur wichtig machen, und damit
kränkt er seine Frau nud läßt uns hungern. Aber warte, Louis, ich Hetze dir deine
Mutter auf den Hals. Du sollst noch erfahren, was die nlle Duttmüllern bedeutet.
Onkel Alfons, der Bruder des Oberstleutnants und Bürgermeister in Hinter-
hauseu — wir erinnern uns seiner von der Hochzeit her —, wurde jetzt ernstlich
ungehalten und sagte, so etwas sei ein Skandal und grenze an Tierquälerei. Harm¬
lose Menschen in der Patenfnlle einzufangen und hungern zu lassen wie die Rnnb-
tiere, das sei nicht zu verantworten und nicht zu dulden. Darauf feste er sich an
die Spitze der Freßgevattern und stürmte die Küche. Die Duttmüllern verteidigte
ihr Reich mit Heldenmut, aber sie wurde überwältigt und mußte sich bequemen,
die Pastetchen und den Suppenwein herauszugeben. Das wurde im Triumphe
hinaufgetragen, und so wurde wild und gefräßig ein Einleitungsessen gehalten, zu
dem Bolze einen Einleitnngstoast mit einer Extraeinleitung hielt. Hierdurch wurde
der Humor wesentlich gebessert, nicht aber die gesellschaftlichen Formen. Gut, daß
die gnädige Frau nicht dabei war. Egon war an diesem Tage unwohl — nichts
erhebliches — Schwindelanfälle. Dies benutzte die gnädige Frau als willkommnen
Vorwand, selbst auch daheim zu bleiben, um ihren Egon zu Pflegen, das heißt, ihm
so lange Reden zu halten, bis es ihm wieder schwindlig wurde.
Endlich kam Duttmüller, und zwar unbemerkt, da er den Siebendorfer Weg
eingeschlagen hatte. Man hörte den Wagen auf den Hof fahren, und darauf die
Frau Duttmüller, die ernstlich ungehalten rief: Aber Louis! aber Louis! ich dachte
schon, du kämst gar nicht wieder. Und wir sitzen hier wie die Affen im Kasten und
warten. Und der Braten ist schon ganz verbräkelt, und die Kartoffeln kann kein
Mensch genießen.
Kauns nicht ändern, erwiderte Duttmüller. Hättet ja ohne mich essen
können.
Wilh dn dir einbildest! Und wie wäre das überhaupt gegangen? Und du
hättest heute auch nicht aufzufahren brauchen. Ich will dir was sagen: Deine
Patienten wären nicht gleich gestorben, wenn dn auch einmal nicht alle Tage ge¬
kommen wärst. Die Leute sagen sowieso schon, daß du sie überläufst.
Das verstehst du nicht.
Nach gemessener Zeit, und nachdem er sich in Wichs geworfen hatte, erschien
der Doktor unter seinen Gästen, entschuldigte sich mit höchst wichtigen Fällen, die vor¬
gelegen hätten, fand aber damit keinen rechten Glauben, nicht einmal bei Alice, die
doch sonst geneigt war, alles, was ihren Mann anging, zu entschuldigen und zum
besten zu kehren. Onkel Alfons aber rief: Wo zum Heuler bleiben Sie denn,
Doktor, meinen Sie denn, daß wir Klapperschlangen sind und sechs Wochen hungern
können?
Wichtige Fälle —
Ah! puh! Bei euch Doktors ist immer alles höchst wichtig, als wenn die
Welt gleich untergehn müßte, wenn ihr nicht dabei seid. Es wäre viel bester,
ihr redetet nicht soviel hinein und überließet es der Natur, sich selber zu helfen.
Na ja, dann gäbe es freilich auch keine so schönen Doktorrechnungen, und wo bliebe
der Apotheker? Sagen Sie mal, Doktor, wieviel Tantieme kriegen Sie denn von
dem Nodesheimer Apotheker?
Der Doktor nahm die Sache für einen Scherz, lächelte etwas gezwungen
und schaute sich nach der Suppe um. Der dicke Schulze schlug sich aufs Knie
und lachte aus vollem Halse, und Bolze erklärte mit Vorbemerkungen, daß zu seiner
Zeit Tantiemen an die Ärzte nicht gezahlt worden seien, und daß es ein Skandal
sei, wenn es jetzt geschähe.
Was wollen Sie, sagte Onkel Alfons, die Medizin ist ein Gewerbe wie andre
auch. Geld machen, das ist der Zweck davon.
Damit war die Tonart gegeben, die von nun an festgehalten wurde. Mau
war aufgeräumt, nun legte sich keinen Zwang auf, man riß Witze, und der Tauf¬
vater mußte die Kosten tragen. Dieser ließ sich das nicht anfechten, sondern führte
sich sein Festessen mit Ausdauer und Gründlichkeit zu Gemüt, kaum daß er sich
bewege« ließ, drei Worte zur Begrüßung der Gäste zu sagen. Und als zum Nach¬
tisch der Täufling herumgereicht wurde, da war ihm der Käse auf seinem Butter¬
brot viel wichtiger als dieses wichtige Ereignis. Der Schulze war bester Laune
und lachte als Biedermann über alles, was sich irgend belachen ließ, und Kathrinchen,
seine Tochter, saß da, erfüllt von der Bedeutung der Stunde, stumm und mit im-
beweglicher Haltung und Miene und nß nur, was sie konnte, und was sie zu Hause
zu essen gewohnt war, wobei sie freilich nicht satt wurde, Onkel Alfons und Bolze
teilten sich in die Tischreden und überboten sich in der Länge ihrer Toaste, sodaß
es die Selbsterhaltung forderte, sie reden zu lassen und sich nicht weiter um sie
zu kümmern. Alice, von der Ungezwungenheit ihrer Gäste freilich nicht angenehm
berührt, war doch geneigt, alles milde zu beurteilen, und freute sich über den guten
Appetit ihres Mannes.
Ellen war etwas kritischer gestimmt. Sie überschaute die Tafelrunde mit
lächelnder Überlegenheit und sagte zu sich: Der vornehmste von der ganzen Gesell¬
schaft, Onkel Alfons mit einbegriffen, ist Felix Wandrer. Darauf betrachtete sie
mit Wohlgefallen den Strauß, deu ihr Wandrer verehrt hatte, und der vor ihr
die Tafel zierte, und nickte dem Geber freundlich zu, als wollte sie sagen: Sie guter
Onkel Felix.
Da erhob sich Bolze zu seiner vierten oder fünften Rede.
Freunde, Brüder, Festgeuossen, so begann er, gestatten Sie mir vorauszuschicken,
daß ich glaube, zu dem, was ich zu sagen beabsichtige, ganz besonders berechtigt
zu sein — einesteils als Mensch und Mitglied der Tote-Asse-merkantil-Ausbentungs-
Genossenschaft, andernteils als langjähriger Freund unsers Taufvaters. Meine
Herren und Damen, oder vielmehr Damen und Herren, die Kegelgesellschaft auf
dem Kirschberg zu Holzweißig ist allen, die mit ihr verkehrt haben, eine freund¬
liche — und ich darf wohl sagen — liebe Erinnerung. An einem dieser Kegel¬
abende war es, daß — Herr Schulze, Sie erinnern sich dessen gewiß noch —
(der Schulze erinnerte sich), daß Doktor Duttmüller zum erstenmal in ihrer Mitte
erschienen ist.
Heil sei dem Tag, an welchem Ihr bei uns erschienen, dideldum, dideldum,
dideldum, sang Onkel Alfons. Bolze fuhr, nachdem er sich gestärkt hatte, fort:
Nun aber war er es nicht allein, der damals in unserm Kreise zum erstenmal
weilte, sondern auch ein Mann, der seitdem die halbe Welt bereist hat und nun
an der Spitze — oder wenigstens mit an der Spitze eines großen industriellen
Unternehmens steht (Verbeugung vor Wandrer): Herr Felix Wandrer, der Freund
unsers Duttmüller.
Wie kommt es denn, fragte Ellen, daß Sie immer der Freund Duttmüllers
genannt werden? Sind Sie es denn?
Warum nicht, Fräulein Ellen? Man kann gar nicht Freunde genug
haben —
Und wenn es auch Louis Duttmüller wäre — meinen Sie.
Bolze fuhr fort: Unser Freund Doktor Duttmüller ist in den Hafen der Ehe
eingelaufen. Ja noch mehr, wir feiern heute das Fest der ersten Kindtaufe und
wünschen, daß wir noch oft wie heute versammelt sein möchten. (Alice wurde rot
und schämte sich.) Herr Wandrer kreuzt noch immer auf dem Meere der Ungewi߬
heit umher. Will er denn Zeit seines Lebens ein „Wandrer" bleiben? Warum
aber weiter schweifen, sieh, das Gute liegt so nah, oder daß ich mich genauer aus¬
drücke — sitzt so nah. Wir sehen an seiner Seite weilen eine junge Dame —
Wort entzogen, rief Wandrer. — Aber Bolze, der von dem Schwunge seiner
eignen Rede widerstandslos fortgetragen wurde, fuhr unbeirrt fort: — eine junge
Dame, so reizend, so liebenswürdig, so geeignet, das Herz eines Jünglings zu
entflamme»; und wenn ich mich nicht täusche, so hat sich zwischen ihnen bereits ein
zartes Verhältnis angesponnen. Möge es mir verstattet sein, in diesem Sinne —
Wort entzogen! rief Wandrer abermals; dieser Bolze redet einmal wieder,
was er nicht verantworten kann.
Wieso denn? sagte Bolze, lassen Sie mich nur ausreden. Möge es uus also
gestattet sein, ebenso, wie wir heute Doktor Duttmüller und seinen Freund leben
lassen, ebenso ein Hoch auszubringen auf Felix Wandrer und seinen Freund. Sie
leben hoch!
Ellen war errötet bis über Stirn und Rücken und war sehr böse, sah aber
gerade darum besonders reizend aus. — So ein abscheulicher Kerl, sagte sie, so
ein taktloser Mensch, wie kann er sich erdreisten —
Warten Sie, Fräulein Ellen, wir wollen es ihm heimzahlen. Wir dürfen
das nicht auf uus sitzen lassen.
Wandrer erhob sich (hört! hört!) und begann: Man sagt von der Pythia, der
alten Orakeltante der alten Hellenen, daß sie in einem Zustande, den mau nicht
gerade als nüchtern bezeichnen kann, obwohl nicht gerade spirituösen in Frage
kamen, ihre dunkeln Sprüche redete. Herr Bolze hat sich, wie es scheint, diese alte
Dame zum Vorbilde genommen. (Heiterkeit.) Er orakelt und hat sich hierzu durch
geeignete Mittel in deu erforderlichen Zustand gesetzt. Auch ist der Sinn seines
Orakels von pythischer Dunkelheit. Nur eine Wendung ist bis in ein gewisses Halb-
dunkel gerückt, die Bemerkung, daß zwischen mir und meiner hochgeschätzten Frciuleiu
Nachbarin ein gewisses Verhältnis bestehe. Ich halte mich für verpflichtet, dieses Ver¬
hältnis aufzuklären. (Hört! hört!) Ja, es besteht ein solches Verhältnis. (Große
Sensation; Alice wollte schon in frohem Schrecken aufspringen.) Es ist ein Oukel-
und Tantenverhältnis, und sonnt habe ich die Ehre, der hochausehnlichen Gesellschaft
Fräulein Elleu als Taute und mich als Onkel vorzustellen, zwei Personen, die sich
vereinigt haben in der Absicht —
Sich nicht zu heiraten, sagte Elleu.
— Sich nicht zu heirate», bestätigte Felix Wandrer, vielmehr andern glück¬
licher situierten Dienste zu leisten als Hilfstruppe, Mädchen für alles, Paten,
sowie als Erbonkel und Erdkarte.
Große Heiterkeit. Das war etwas für Onkel Alfons, der nicht eher ruhte,
als bis mit großer Feierlichkeit Wandrer und Ellen sich öffentlich Onkel und Tante
genannt und ihren Nichtheiratskontrakt unterschrieben hatten.
Wo war denn Duttmüller? Duttmüller war im Laufe des Abends einsilbiger
und verstimmter geworden und hatte nach der Thür gehorcht. Dann war er selbst
hinausgegangen, und Wandrer konnte, als gerade die Thür aufging, eine bekannte
heisere Stimme reden hören: Wo ich dein eheleiblicher Vater bin. — Aha! Nach
einiger Zeit kehrte Duttmüller ganz verstimmt zurück, und die alte Duttmüllern be¬
wegte die Arme, als wenn sie jemand unter die Walle nehmen wollte.
Als man Kaffee getrunken und die Zigarre angesteckt hatte, erhob sich die
Frage: Was nun? Duttmüller schien nicht geneigt, sie aus eigner Initiative zu
beantworten. Onkel Alfons schlug einen Skat vor. Aber der Erzphilifter von
Doktor hatte weder Karten, noch konnte er Karten spielen. — Was da, meine
Herren, sagte Onkel Alfons, wir gehn zu Happich in den Braunen Bären und
spielen unsern Skat dort.
Wird nicht gehn, sagte der Schulze, da dort heute abend große soziale Volks¬
versammlung ist.
Was? Volksversammlung? Und da sitzen Sie, alter Dvrftyrann, hier, als
wenn Sie die Geschichte nichts angehe?
Ja, was kann man dabei thun?
Eine ganze Masse können Sie dabei thun. Sie können deu Kerls die Ge¬
schichte verekeln, daß sie nicht wiederkommen. Rausschmeißen, niederdispntiereu
können Sie sie. Herr Gott von Frankreich, wenn das bei mir in Hinterhäuser
vorkäme, mit Hurra wollte ich sie auf den Schub bringen. Nein, Schulze, wir
gehn hin. Wer kommt mit! Kreuzzug gegen die Sozialdemokratie! Sie, Herr Bolze,
müssen jedenfalls mitkommen. Sie sind ein gottbegnadeter Redner. Also los!
Bolze hatte zwar keine Lust. Offen gestanden fürchtete er sich etwas, aber
es half nichts, er mußte mit.
Gehn Sie nicht auch mit? fragte Ellen Onkel Felix.
Nein, ich ziehe es vor, hier zu bleiben, entgegnete Wandrer, vorausgesetzt, daß
mich Tante Ellen nicht vor die Thür setzt.
Eigentlich sollte ich es, da Sie unser zartes Verhältnis an die Öffentlichkeit
gebracht haben. Aber fühlen Sie sich denn nicht verpflichtet, der Sozialdemokratie
entgegenzutreten?
In Volksversammlungen? Nein. Ich halte solche Klopffechtereien für ganz
überflüssig. Was sich jetzt vorbereitet, das ist ein Kampf um die Macht. Solche
Kämpfe werden nicht mit Worten ausgefochten, sondern mit Kräften. Dazu brauchen
wir also keine Redner, sondern Männer, die mit ihrer Person für ihre Sache ein¬
treten. Wenn einer in mein Haus eindringen will, um es zu plündern, wird es
nicht viel helfen, mit ihm durchs Feuster zu verhandeln und ihm die Heiligkeit des
Besitzstandes auseinander zu scheu; man muß selbst in die Thür treten, die Rock¬
ärmel aufstreifen und sagen: Na, nun komm einmal her. Ich wünschte nur, daß
unser Direktor der Mann dazu wäre!
Ein Von den Grenzboten in deren
14. Heft gebrachter, die Räuber überschriebner Artikel hat, wie das vorzukommen
pflegt und auch ganz in der Ordnung ist, zweierlei Beurteilung erfahren, beifällige
und tadelnde. Bei einem Wortgefecht das letzte Wort zu haben ist schön, das
ist unter anderen auch durch das Märtyrertum der bekannten Bauernfrau bewiesen
worden, die ihren Mann einen Länseknicker genannt hatte, von ihm in den Brunnen¬
eimer gesetzt und langsam Zoll für Zoll ius Wasser gelassen worden war mit dem
Zurufe, wenn sie revoziere, werde der Eimer wieder in die Hohe geleiert werden.
Dessen ungeachtet hatte die Frau, die eine Hartgesottne war, fortgefahren, ihren
Mann einen Länseknicker zu nennen, und als sie soweit eingetaucht war, daß sie
das nicht mehr hatte thun könne«, weil ihr das Wasser über dem Kopf zusammen¬
schlug, hatte sie die Arme aus dem kalten Naß emporgehoben und die letzte ihr
verbleibende Lebenskraft dazu verwandt, mit den Daumennägeln die Geste des Länse-
knickens zu skizzieren.
Vielleicht könnte jemand denken, daß es dem Verfasser des halb kalt, halb
warm, halb süß, halb sauer behandelten Artikels darum zu thun sei, Recht zu be¬
halten und das letzte Wort zu haben, und daß es das sei, was ihn veranlaßte,
nochmals aus dem Kasten emporzuschnellen: aber das wäre ein Irrtum; ich möchte
vielmehr die Diskussion zu allseitigem Nutzen in möglichst sachlicher Weise noch
einmal aufnehmen, und es wird jedem klar werden, daß es mir nicht darum zu
thun ist, Recht zu behalten, sondern daß ich vielmehr den Kontradizenten alles ein¬
zuräumen bereit bin, was ich ihnen mit gutem Gewisse» einräumen zu können
glaube.
Über das eigentliche Thema, die Fahrt des studentischen Thespiskarrens nach
Paris, brauche ich nichts mehr zu sagen: die Sache ist fürs erste -del OÄEQäü«
Ls,aeoÄL aufgeschoben worden, und man scheint allerseits der Meinung zu sein, daß
es vorsichtiger, klüger und würdevoller war, unsre Musensöhne keinem ungewissen
Schicksale auszusetzen. Die unsrer Warnung beigegebnen Motive und beiläufig
gethanen Bemerkungen sind es, die zu Ausstellungen veranlaßt haben. Was ich
über die deutsche Presse, oder richtiger über einen Teil davon gesagt habe, hat
Anstoß erregt, und die von mir behauptete feindselige Stimmung des französischen
Volkes gegen das deutsche ist bestritten oder aus andern Gründen als den von
mir angegebnen hergeleitet worden.
Man wird — und die Münchner Allgemeine Zeitung hat das in wohlwollendster
Weise gethan — meine Absicht und meine Anschauung am besten verstehn, wenn
man davon ausgeht, daß ich mit Leib und Seele Deutscher bin, daß ich wirklich
erlebt und wahrgenommen habe, was ich erlebt und wahrgenommen zu haben
behaupte, und daß ich mich ohne die Absicht, irgend jemand zu lehrmeistern, aus
Vaterlandsliebe und heimatlicher Anhänglichkeit gefragt habe, wie wir Deutschen,
die wir doch ganz gutmütige Menschen und in unserm Innern gar nicht unbe¬
scheiden siud, dazu kommen, an vielen Orten so wenig beliebt zu sein; ich hatte
gesagt, mehr geachtet als geliebt zu sein, was doch im wesentlichen auch auf das
wenig beliebt sein hinauskommt. Wer den Artikel ohne vorcingenommne Absicht
gelesen hat, wird nicht den Eindruck gehabt habe», daß mich die in Frankreich ge¬
machten unerfreulichen Wahrnehmungen über Gebühr trostlos und nervös gemacht
hätten, und wenn meine Erklärung des Wahrgenvmmnen unvollständig oder ein¬
seitig sein sollte, so wäre ein solches Vorkommnis ans derartigen, Gebiet keine un¬
erhörte Seltenheit oder Ausnahme, und sie würde sich namentlich dadurch erkläre»,
daß es mir weniger um eine erschöpfende Behandlung der Frage als um einige
Gesichtspunkte zu thun war, von denen aus ich nach meinem Dafürhalten die
Unterlassung der beabsichtigten Tour für das Klügere ansah.
Der von der Münchner Allgemeinen Zeitung gebrauchte Ausdruck Selbstkritik
bezeichnet das unbehagliche Gefühl, das mir gewisse deutsche Prcßerzeugnisse verur¬
sachen, ziemlich genau. Wenn ausländische Zeitungen einen ähnlichen Ton an¬
schlagen, so bin ich dafür weniger empfindlich, weil es nicht meine Landsleute sind
für die ich zwar nicht einzustehn habe, die mir aber doch weit mehr am Herzen
liegen als Fremde. Was die ausländische Presse sagt, läßt mich aus diesem Grunde,
ziemlich kalt: wenn nur alles, was in Deutschland gedruckt wird, korrekt, maßvoll
und darauf berechnet ist, nicht ohne Not anzustoßen. Streng genommen ist es
ja eine Ungerechtigkeit, einen solchen Unterschied zu macheu: aber beleidigen oder
verletzen kann er schon um des Motivs willen niemand. Wenn man sich hütet,
ohne Not anzustoßen, so braucht man deswegen noch vor niemand ins Mauseloch
zu kriechen: uur das bisweilen unnötig absprechende, unerfreuliche Motive unter¬
legende Urteil möchte ich vermieden sehen, nicht weil ich zum Richter oder zum
Lehrmeister irgend jemands berufen zu sein glaube, sondern weil Urteile der deutschen
Presse mein Gefühl oft in dem Sinne verletzt haben, daß ich dachte: was würden
wir Deutschen sage», wenn uns in Sachen, die nur uns etwas angehn, in ähn¬
licher Weise der Text gelesen würde. In dem Sinne habe ich aus Überzeugung
von einer in andern Ländern unerreichten Neid- und Giftpilzkultur gesprochen, eine
Redewendung, die ich nicht als eine unentbehrliche Trope ansehe, und die ich mit
Freuden fallen lasse, wenn nur das, was ich dabei gemeint habe, nicht übersehen
wird, nämlich daß ein Teil der deutschen Presse die Gewohnheit hat, nicht bloß
wie z. B. die dänische und die polnische über die Feinde des eignen Landes
oder der eignen Sache, sondern über jeden herzufallen, der ihr gerade in den Wurf
kommt. Keine Rücksicht der Klugheit oder des Wohlwollens vermag sie in solchen
Fällen abzuhalten, das Schlimmste zu argwöhnen und das Derbste, Unfreundlichste
zu sagen. Es ist mir vorgekommen — und andre scheinen denselben Eindruck ge¬
habt zu habe« —, als wenn diese lehrmeisterliche Richtung für eiuen Teil der
deutschen Presse geradezu typisch wäre: selbstverständlich muß die Qualität der mir
täglich zu Gesicht kommenden, vielleicht nicht glücklich gewählten Blätter ans mein
Urteil einwirken und kann es möglichenfalls einseitig beeinflussen. Thatsache ist,
daß mir nichts ferner gelegen hat, als der deutschen Presse, zu der ich doch auch
gehöre, etwas Unverdientes anhängen zu wollen, und daß ich in gutem Glauben
gehandelt habe, wenn ich sagte, ein großer Teil der notorischen Unbeliebtheit des
deutschen Volks in vielen Ländern sei dem unfreundlichen Tone eines Teils seiner
Presse zuzuschreiben. Wenn ich hierbei meine innersten Gedanken aussprechen soll,
so war es der — Kino no^s werimM —, daß man in Bezug auf unfreundliches
Lehrmeistern namentlich England gegenüber jedes Maß und jede Rücksicht außer
Auge gelassen habe. Viele wollen das nicht Wort haben und finden, daß man
dem stolzen Albion gegenüber nie absprechend und rücksichtslos genug sein könne.
Ich bin der entgegengesetzten Meinung und glaube nicht, daß zu bramarbasieren und
von sich in den höchsten Tönen zu sprechen in irgend jemands Munde schön sei: im
Gegenteil hat mir die Auffassung, die auch dem andern gerecht zu werden sucht
und Würde mit rücksichtsvollen Entgegenkommen zu verbinden bestrebt ist, immer
mehr imponiert und besser gefallen als maßloses Jnszeuggehn bei einer vrlckio
pro äomo.
Die Berliner Börsenzeitung leugnet das Bestehen einer allgemeinen, seit dem
Frankfurter Frieden unverändert gebliebner antideutschen Richtung in Frankreich,
und sie nennt mich, weil ich andre Erfahrungen gemacht habe, einen schlechten
Beobachter. Sie sagt: „Schreiber dieser Zeilen hat häufig Gelegenheit, sich im Gespräch
mit gebildete» Franzosen, älter» Herren, die den Krieg von 1870/71 mit¬
erlebt oder gar mitgemacht haben, und mit jüngern Leuten, die erst während
des Kriegs oder im darauffolgenden Jahrzehnt geboren sind, über die Ansichten,
die man in Frankreich und namentlich auch in Paris hegt, eingehend zu unter¬
richten. Mit Genugthuung kann er feststellen, daß vom chauvinistischen Revauche-
gednnken, dessen Pflege früher eine deutsch-französische Annäherung ganz unmöglich
machte, bei diesen Franzosen kaum noch eine Spur zu finden ist." Das klingt
fast, als wenn die von dem Gewährsmann der Berliner Börsenzeituug geschilderten
Wahrnehmungen in Berlin gemacht worden wären, und sie scheinen sich obendrein
auf Kreise zu beziehn, die ich nicht in erster Reihe im Auge hatte, als ich von
den unseru Musensöhncn in Paris drohenden Unerquicklichkeitcn sprach. Daß es
in Frankreich Leute giebt, die weniger deutschfeindlich sind als die Masse des
Volkes, leugne ich nicht; diese weniger feindlichen Elemente würden der Natur der
Sache nach auch in erster Reihe in Frage kommen, wenn es sich um einen Ausflug
oder eine Geschäftsreise nach Berlin handelte. Gelehrte und Geschäftsleute haben
einen weitern internationalen Blick als der Durchschnitt des Volkes, und namentlich
mit solchen dürfte wohl der Gewährsmann der Berliner Börsenzeitung gesprochen
und verkehrt haben. Ich habe zehn Jahre in Paris und außerdem noch in der
Provinz ans dem Lande gelebt; persönlich ist mir nie eine Sclnvicrigkeit in den
Weg gelegt worden, und ich habe in dem Artikel der Grenzboten absichtlich der
Art, wie der gebildete und oft auch der ungebildete Franzose dein Fremden gegen¬
über das Gastrecht achtet, voll Rechnung getragen: aber desnngcachtet ist es meine
Überzeugung, daß sich der Gedanke eines Kriegs mit Deutschland unter der französischen
Bevölkerung nach wie vor der größten Popularität erfreut, und daß daraus im
öffentlichen wie im Privatleben bei keiner Gelegenheit auch nur das mindeste Hehl
gemacht wird.
Ein Blatt, das sich mit meinem Artikel beschäftigt hat, stellt das Vorhandensein
einer solchen deutschfeindlichen, revanchelnstigcn Stimmung zwar nicht in Abrede,
aber es glaubt deren Grund nicht sowohl, wie ich es thue, in den Hetzartikeln
der französischen und der internationalen Presse, als vielmehr in dem Gegensatze der
romanischen und der germanischen Rasse suchen zu sollen. Auch in der Betonung
dieses Gegensatzes mag ja etwas Wahres liegen. Nur eins möchte ich dazu bemerke»:
daß ich ein halbes Jahr im Departement an 1^s-av-0icks.i8 gelebt habe, wo die
Rasse gar keinen romanischen Eindruck machte, sondern ans Schritt und Tritt, Wie
es ja auch die Geschichte an die Hand giebt, an holländisches Wesen und holländischen
Typus erinnert. Aber auch im l?a8-as-0iüai8 war es, was die allgemeinen
Gefühle gegen Deutschland anlangt, wie im übrigen Frankreich. Jeder glaubte
sich bei seinem Nachbar entschuldigen z» müssen, daß er mit einem Deutschen in
Verkehr und in Beziehungen sei. 0» xsut sxöorvr !-r »ation, hörte ich auf dem
Viehmarkt in Desvres sagen, und es war leider von mir die Rede, se tont-
(Zg-lusus no pg.s hair I'inäivülu, s'it sse, Agntil. Das xsntil sein besteht meiner
Erfahrung nach dem Franzosen wie dem Engländer gegenüber im Sichnichtnuf-
spielen, in der Zurückhaltung, im Nichtruhmredigsein. Das ist die Erfahrung,
die ich meinen deutschen Landsleuten gern zu gute kommen lassen wollte, und ein
Unternehmen, das darauf hinauslief, den Parisern unter Aufbietung der Blüte
»usrer Nation zu lehren, wie man künstlerisch bewegte Massengruppen auf der
Bühne herzustellen habe, paßte natürlich nicht in den Rahmen meiner nicht ge¬
radezu pessimistischen, aber freilich auch nicht rosig angehauchten Anschauungen.
In der kunstreichen Stadt, in der ich lebe, ist ein schon in
einem Wettbewerbe preisgekröntes Fräulein ans den ansprechenden Gedanken ge¬
kommen, die Frauen sollten, wie sich der Knnstreporter meines Leibblatts ausdrückt,
„von jedem Kleide, das sie ihr ganzes Leben hindurch" getragen haben, einen
Flicken zur Erinnerung aufbewahren und ihn in ein von ihr hergestelltes Album
mit fünfzig Blättern einkleben, das den geschmackvollen Titel, so findet wenigstens
mein Gewährsmann, „Erinnerungsflicken" führt. Gemeine hat er übrigens wohl,
in Anbetracht der Blätterzahl: von alle» Kleidern, die sie einmal in ihrem Leben
getragen haben, denn auch so wird das Album für die meisten noch unnötig dick
sein, aber die Erinnerungen lassen sich ja leicht auf Strümpfe und Unterkleidung
ausdehnen. Die Damen sollen ihre abgetragnen Andenken mit poetischen An¬
merkungen erläutern, wozu das einleitende Gedicht einer bekannten sächsischen
Dichterin (so sagt mein Gewährsmann) anleiten kann, wie folgende sinnige Perle
zeigen mag:
Das Jnteressanteste an diesem, wie der Gewährsmann findet, interessanten und
geschmackvollen Album dürfte sein, daß man es in der Stadt der Sixtinischen
Madonna nicht bet einem Damenschneider, sondern in einer Kunsthandlung aus¬
gestellt hat.
In unserm Artikel „Zwei französische Urteile über Deutschlands Seegeltung"
hat der Verfasser zu Cuvervilles Bemerkung auf Seite 71: „Der Kaiser mit seinem großen Geiste
würde nachsichtig gewesen sein; aber die Diplomaten se »urtout I'-cktrsrix p^otoools würden
mich gesteinigt haben," ein Fragezeichen zu den französischen Worten gesetzt und sie unübersetzt
gelassen. Auch uns waren sie unklar, und mir haben uns bei dein Fragezeichen beruhigt. Aus
unsern: Leserkreis werden uns aber von verschiednen Seiten Erklärungen des „in'vtosolo" zu¬
gesandt, die uns belehren, daß das Wort hier nicht nur soviel wie „Etikette, Hofetikette" bedeutet,
was uns bekannt war (das viotiovnairv as 1'L.osckömis giebt folgende Erklärung: U so an
«mssi, vdsü los ssorötlurss ä'Heat, vno« Iss ssorstsirss Asu Zrancks xriavss, ot clans Iss
aÄmimstiMoa» xMiizuss, S'n» tormnlku'v vootonMt I» in»al«rs Avnt los roi«, los xmucki
xvinoos se lo» «Koth ä'scklmmstrsiioa traitout Äsns Isurs lottrss, vsrvc «. c^in ils sorivsnt),
sondern den Beamten, der über die genaue Beobachtung des Hosceremoniells zu wachen hat,
also den Oberceremonienmeister. Im französischen Reallexikon von Klöpper finden wir folgende
interessante Bemerkung: „?i'otooo1s, ehedem Souffleur im Theater, nach dem Borbild der Römer,
bei denen gewisse Sklaven, welche die Namen aller Mitbürger kannten, dieselben ihren, Herrn
ins Ohr flüsterten, damitj sie jeden bei seinem Namen anreden konnten, behufs der Amts¬
bewerbung."
Eine kleine Ungenauigkeit in der Übersetzung mag hierneben berichtigt werden: der ivZor
vonp ni'sMÜs auf Seite 70 und Seite 137 ist nicht ein freundlicher Schulterklaps, sondern eine
kleine Nachhilfe oder Unterstützung. Und da wir einmal beim Bekennen sind, wollen wir noch
etwas Schreckliches beichten, daß wir nämlich, wie wohl alle unsre Leser bis auf einen, über
den Lapsus weggelesen haben, der dein Verfasser der „Winterfeldzuge" auf Seite 36 passiert ist,
wo er sagt: „Napoleon verlor 1812 auf den Schneefeldern Rußlands binnen einem Vierteljahr
etwa 340 000 Mann und kam nur mit einem Fünftel seines Heeres bei Moskau an" — nämlich
Mitte September! Wer denkt aber bei Moskau an etwas andres als an die Schrecken des
Rückzugs!
enden der königstreue Demokrat Giuseppe Zannrdelli die Leitung
des italienischen Gesamtimnisteriums übernommen hat, und
Guido Baecelli das Ackerbauministerium, ist die soziale Reform-
bewegung lebhafter in Gang gekommen. Die Thronrede hat
die Herabsetzung der überaus drückenden Salzstener verheißen,
dem Parlament ist ein Gesetzentwurf über die Frauen- und Kinderarbeit, ein
andrer über die Einsetzung von „Vertrauensmännern" (proviviri) für die
Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Grundbesitzern, Pächtern und Land-
nrbeitern zugegangen, und der Abgeordnete Maggiorino Ferraris, der frühere
Direktor im Verkehrsministerium (1883), hat einen dritten über eine gründliche
Reform der Agrarverhültnisse eingereicht, deren unbedingte Notwendigkeit von
keiner Seite verkannt werden kann und verkannt wird. Denn eine neue
dringende Mahnung dazu liegt vor allem in der großen Ausstandsbewegung, die
in diesem Frühjahr wieder durch einen bedeutenden Teil Oberitaliens gegangen
ist. Seitdem dort von der Provinz Mantua aus die von den Sozialisten
organisierten IlSssbö al iniM0rg.w6ut() und al rvsistön^iZ. für die Verbesserung
in der Lage der ländlichen Arbeiterbevölkerung immer weiter um sich gegriffen
haben, steht diese den Besitzern und Großpüchtern in großen, geschlossenen, straff
disziplinierten Organisationen gegenüber. (Vgl. Grenzboten 1901, 2. Quartal,
S. 382 f.) Im November 1901 versammelte sich auf oberitalienischen Boden,
in Bologna, der erste italienische Bnuernkvngreß. Acht- bis neunhundert Abge¬
sandte, darunter etwa hundert Frauen, vertraten dabei über 800 Banernvereine
aus dein ganzen Lande mit 100000 Mitgliedern und verhandelten über die
Einrichtung eines gemeinsamen statistischen Amtes, die Einführung von Schieds¬
gerichten und die Notwendigkeit einer Agrarreform, nüchtern und besonnen,
ohne sich in sozialdemvkmtische Utopien einzulassen. Dein gegenüber sammelten
sich aber auch die Besitzenden, wenigstens in dem von den Ideen des Sozia¬
lismus besonders durchdrungnen Potieflande. Etwa 700 von ihnen traten
zu Anfang Februar 1902 zu einem „agrarischen Kongreß" in Verona zu¬
sammen, Männer aus den Gebieten von Verona, Mantua, Modena, Padua,
Forli, Ravenna, Rovigo, dem Polesine (der Landschaft links vom untersten
Teile des Polaufs), um Mittel gegen die drohenden Arbeitseinstellungen zu
beraten (gemeinsame Ordnung der Arbeitskontrakte, Schiedsgerichte) und sich
ihnen gegenüber in einer festen Organisation zu verbinden. Aber der Streik
kam, und zwar in größter Ausdehnung, Den Anfang machten mit dem Beginn
des März die Bauern des Polesine und des Ferrarcsischen, dann folgten die
um Mantua, Modena und Padua, um Vercelli und in der Lomellina
(zwischen Ticino und Sesia), wenn anch nicht überall in demselben Umfange.
Das Signal gaben überall die Leghe oder vielmehr ihre sozialistische Zentral¬
leitung. Die Ursachen waren mannigfaltig: zu niedrige Löhne, schlechte Be¬
zahlung der Überstunden oder besonders mühsamer Arbeiten, nicht pünktliche
Erfüllung der Arbeitsverträge u. a. in. Aber auch da, wo die Leute weder
über die Behandlung noch über die Löhne, die schon vorher vielfach erhöht
worden waren, zu klagen hatten und in dauernden Verhältnissen zu der Grund¬
herrschaft standen, gehorchten sie blind der ausgegebnen Losung. Sie blieben
dabei ganz ruhig, erregten weder Auflüufe noch auch nur Geschrei, verweigerten
eben nur die Arbeit, sogar die Fütterung des Viehs, und erklärten auf Be¬
fragen oft, der König habe den Aufstand befohlen, ein merkwürdiges, un¬
bewußtes Zeugnis dafür, daß diese armen, unwissenden Leute ihre Hoffnung
auf die Monarchie setzen, nicht auf das von Cliquen beherrschte Parlament
und nicht auf die rote Republik. Nur die Arbeitswilligen wurden durch stille
Drohungen möglichst zum Anschluß gezwungen. In den ihnen von ihren
Leitern vorgeschriebnen allgemeinen Forderungen waren sie ganz einig; sie
verlangten Land für die landlosen Tagelöhner, eine höchst charakteristische
Bedingung, deren Bewilligung übrigens Landarbeiter in Mendana bei Rom
auf den dortigen Besitzungen der Neapolitanischen Bank schon durchgesetzt
haben, Mitwirkung der Leghe beim Abschluß der Arbeitserträge und Er¬
richtung von Arbeitsvermittlungsämtern. Währenddem fand um Mitte März
ein großer Kongreß der Leghe in Verona statt, der neue Lvhntarife vom
1. April ab aufstellte und bei ihrer Verweigerung den allgemeinen Streik
androhte. Die Grundbesitzer und die Großpächter gerieten durch das alles be¬
greiflicherweise in arge Verlegenheit. Die große Lovists. donillv-z. im Polesine,
die eine Fläche von 15000 Hektaren entwässert und in fruchtbares Marschland
verwandelt hat, mußte die Ernte, da sie die Entwüsserungsvorrichtuugen nach
schweren Regengüssen aus Mangel an Arbeitern nicht rechtzeitig in Thätigkeit
setzen konnte, zur Hälfte verloren geben, und zahlreiche kleinere Besitzer
wurden einfach ruiniert. Sie suchten sich deshalb durch Heranziehung aus¬
wärtiger Arbeiter aus andern Teilen Italiens zu helfen und schlössen sich
untereinander fest zusammen. Denn die Regierung blieb in diesem merk¬
würdigen Lohnkampfe völlig neutral und begnügte sich damit, durch starke
Polizei- und Truppenaufgebote die Arbeitswilligen zu schützen, die Ordnung
zu erhalten und dnrch die königlichen und städtischen Behörden so gut es
ging zu vermitteln. Ein Gemisch von Zugeständnissen, Drohungen und Aus¬
sperrungen (denn die Leghe konnten aus Mangel an Mitteln und bei dem
Überfluß an Arbeitskräften nicht lange aushalten) dämpfte endlich die Be¬
wegung, aber im ganzen ist der Sieg unzweifelhaft den Ausständigen ge-
blieben, die meist wesentliche Verbesserungen ihrer Lage durchgesetzt haben.
Ob das um freilich so ohne weiteres ein dauernder Vorteil für sie ist, wird
stark bezweifelt. Man fürchtet namentlich vielfach, daß die Besitzer, um die
teurer gewordnen Arbeitskräfte zu sparen, in noch größerm Umfange als
bisher zur Anwendung landwirtschaftlicher Maschinen übergehn und den
Körnerbau mit der Anlage von Knnstwiesen vertauschen, also die Aufzucht
von Schlachtvieh steigern werden. Dann würden zwar die jetzt beschäftigten
Arbeiter einen Gewinn erreicht haben, aber die Zahl der erforderlichen mensch¬
lichen Arbeitskräfte abnehmen, also die Verlegenheit, Beschäftigung und Ver¬
dienst zu finden, zunehmen, und der Kleinbesitz rasch zu Grunde gehn. (Das
Vorstehende besonders nach den sorgfältigen Berichten des Mailänder vorrikrs
äslla Lsrg, und den Stimmen in der Ruvo-i ^tologia vom 16. April,
S. 759 ff.)
Unter solchen Umständen thut Eile in der sozialpolitischen Gesetzgebung
wahrlich not. Am bedrängtesten aber ist die Lage des Südens, des
ehemaligen Königreichs Neapel. Sie steht heute im Vordergründe der
Diskussion, denn die wirtschaftlichen Zustünde sind dort seit 1860 in vieler
Hinsicht kaum besser geworden. „Der Norden macht Fortschritte, der Süden
verarmt," so kennzeichnet man heute die Lage. Schon Graf Cavour hatte
den Süden von Anfang an ganz besonders ins Auge gefaßt. Lange bevor
er Minister wurde, sah er weit vorausschauend aus dem Bau eines Eisenbahn¬
netzes eine große Zukunft gerade für den Süden erblühn, da er das Durch¬
gangsland für den Verkehr mit dem Orient sein werde, was er wirklich
geworden ist; er hielt daneben die Steigerung der Produktion und die
Begründung einer Industrie für dringend nötig und beschäftigte sich noch auf
dem Sterbebett mit dem herrlichen Lande, das der Unverstand der Menschen so
unglücklich gemacht hatte. „Unsre armen Neapolitaner, sagte er u. a., es
giebt dort Leute, die viel Talent haben, es giebt andre, die ganz korrumpiert
sind... die muß man waschen.... Sie verlangen von mir Ämter, Kreuze
und Beförderung; sie müssen arbeiten, sie müssen anstündig sein, und ich
werde ihnen Kreuze, Beförderung und Dekorationen geben... Kein Be¬
lagerungszustand . . . mit dem Belagerungszustand kann jeder regieren, ich
werde sie mit der Freiheit regieren, und ich werde zeigen, was zehn Jahre
Freiheit aus diesen schönen Lüudern machen können. In zwanzig Jahren
werden es die reichsten Provinzen Italiens sein." <A ^loin, U oonw an
Liitvonr s 1a <ins8t,i0ils iiÄpolswint in der Fuovs, ^ntoloAa vom 1. November
1901.) Die hoffnungsvolle Prophezeiung ging nicht in Erfüllung, der
große Staatsmann starb darüber am 6. Juni 1861, und das neue Italien
erlag nur zu bald dem Fluche des Parlamentarismus, der Cliquenwirtschaft
und der Korruption, die Cavour selbst noch zu bemeistern wußte. Wie es
damals in Neapel aussah, das hat einer seiner besten Helfer, Costantino
Nigra, den er zu Anfang des Jahres 1861 dem damaligen Generalstatthalter,
dem Prinzen von Savoyen-Carignan beigegeben hatte, in einem ausführliche»
Bericht vom 20. Mai desselben Jahres (mitgeteilt in der Nuovs. ^nwloKia
vom 16. Januar 1902: Mpoli oft 1861) seinem Chef in klassischer Kürze
folgendermaßen geschildert: „Die wenigen ehrenvollen Ausnahmen beiseite,
kann man mit vollem Recht sagen, daß jeder Zweig der öffentlichen Verwaltung
von der greulichsten Korruption angesteckt ist. Die Kriminaljustiz diente der
Rache des Fürsten, die Zivilgerichtsbarkeit war weniger korrumpiert, aber
wurde auch von der Willkür der Regierung gehemmt. Es gab keine Freiheit
weder für Privatleute noch für Gemeinden. Die Gefängnisse und die Galeeren
waren angefüllt mit den ehrenwertesten Bürgern, die mit den gemeinsten
Verbrechern zusammengesperrt wurden. Zahllos waren die Verbannten. Die
Ämter wurden nach Gunst oder um Geld verliehen, die Beamten waren
zehnmal zahlreicher, als es das Bedürfnis forderte; die höhern Ämter
reichlich bezahlt, die andern ganz ungenügend... Zu den Regierungsämtern
wurden kaum geborne Knaben in Menge zugelassen, sodaß die Jahre des
Dieustalters von der frühsten Kindheit an datierten. Einen Elementar¬
unterricht gab es nicht, der mittlere war ungenügend, die Universitütsbildung
noch viel schlechter, mehr noch die weibliche Erziehung vernachlässigt, darum
herrscht die ärgste Unwissenheit in allen Volksschichten. Gering sind die
Verkehrsmittel, weder die Straßen noch Leben noch Eigentum der Bürger
sicher, vernachlässigt die Provinzen. Trotz der unermeßlichen Hilfsquellen des
reichen Landes ist der Handel gering. Höchst dürftig ist die Industrie, darum
verbinden sich mit der Unwissenheit Elend und Hunger. . . . Die Wohl¬
thätigkeitsanstalten, reich dotiert, werden doch von einer unermeßlichen Schar
von Beamten, Verwaltern, Advokaten ausgeplündert, und ihre Einkünfte
gehn in der Regel zu drei Vierteln für die Verwaltung drauf, und nur ein
Viertel kommt dem Zwecke der Stiftung zu gute. In den Gefängnissen, im
Heere, in der Verwaltung, in allen öffentlichen Stellen herrscht im weitesten
Maße die Ccuuorra, das Brigantaggio in den Provinzen, das Nüubcrweseu
überall. Die Polizei war erbärmlich, anmaßend, böswillig, Herrin über
Freiheit und Ruf der Bürger. Die öffentliche» Arbeiten wurden beschlossen
und bezahlt, aber nicht ausgeführt... Der Klerus, zahllos und unwissend,
abgesehen von einigen seltnen Ausnahmen in der Diözese von Neapel, war
ohne Würde und ohne Bewußtsein des eignen Berufs. Im Volke herrschte
der rohste Aberglaube. Die Bettelei wurde in verschiednen Formen
von alleu Klassen der Bevölkerung ausgeübt, die Höchsten nicht ausge¬
schlossen ..."
Seitdem ist unzweifelhaft vieles sehr viel besser geworden. Kaum war
die neue Regierung eingerichtet, so begann sie den Weiterbau der neapolitanischen
Eisenbahnen, die sich 1860 auf die obendrein in ganz veralteter Weise ausgeführten
kurzen Linien Neapel—Castellammare—Vietri und Neapel—Capua beschränkten.
Die Linie nach Rom wurde sofort in Angriff genommen, die schwierige
Gebirgsbahn über Salerno und Eboli nach Apulien und die Küstenbahn nach
Calabrien projektiert, und längst ist der Jugendtraum Cavours in Erfüllung
gegangen. Aber der Bau eines umfassenden Eisenbahn- und Straßennetzes,
die energische Herstellung der öffentlichen Sicherheit, die gründliche Reform des
Unterrichtswesens und das Aufschieße» einer rührigen Presse, das alles hat
nicht genügt, den wirtschaftlichen Zustand des Landes auf die Stufe zu
bringen, die in der nördlichen Hälfte Italiens längst erreicht ist. Es fragt
sich, worin die Gründe liegen.
Die Verteilung des Grund und Bodens ist auch im Süden sehr ver¬
schieden. Neben den Latifundien auf Sizilien und in Calabrien und den
ausgedehnten Weidegründen der apulischen Steppe, die, wie in der römischen
Cnmpagna, wenigen großen Besitzern gehören und durch die Wandrnngeu
der Schafherden in die kühlern Gebirge während des heißen Sommers auch
in deren Wirtschaftsbetrieb tief eingreifen, ist der Boden oft sehr geteilt oder
an Halbpächter (inWöaclri) ausgethan. Aber auch hier herrscht eine ganz
veraltete, extensive Betriebsweise. Mit wenig Ausnahmen nämlich wird das
Land noch nach der Dreifelderwirtschaft bestellt mit dem römischen Pfluge,
der den Boden nur an der Oberfläche aufreißt, und die Ernte mit der Sichel
geschnitten. Maschinen fehlen, es giebt keine Wiesen, und der Anbau von
Futterkräutern ist sehr beschränkt. Infolgedessen bleibt der Ertrag über die
Hälfte hinter dein zurück, was bei besserer Wirtschaft produziert werden
könnte, und auch die Qualität läßt zu wünschen übrig. Deshalb wächst die
Einfuhr fremden Getreides alljährlich, sie betrug 1895/1901 durchschnittlich
7 Millionen Qnintal (Zentner) im Werte von 147 Millionen Lire, stellt also
einen schweren Tribut an das Ausland dar, den sich Italien mit Leichtigkeit
ersparen könnte. Eine Ausnahme im Betrieb machen die gartenähnlichen
Kulturen in Campanien sowie der Agrumen- und Weinbau, der bis zur Über¬
produktion gepflegt wird. Die Lage hat sich seit 1860 noch wesentlich ver¬
schlechtert durch die unverständige Entwaldung, gegen die der Staat gesetzlich
ohnmächtig ist, und die das Wegspülen des Humus an fruchtbaren Abhängen
und die Verschotterung der Thäler durch das Geröll der allstretenden Gebirgs-
flüsse begünstigt; der überstürzte Verkauf der eingezognen Kirchengüter hat
nnr die Latifundien, nicht den bäuerlichen Besitz vermehrt, und die
Erleichterung der Aufhebung alter Zins- und Pachtverhältnisse, die vielen
kleinen Leuten Gelegenheit gaben, ein Stück Land, wenn nicht zu erwerben,
so doch gegen Leistungen um deu Besitzer anzubauen, hat diese Quelle der
Bodenverteilung verstopft. Dazu kommt der schwere Steuerdruck, der allein
an direkten Abgaben für Staat und Gemeinde durchschnittlich 30 Prozent des
Rohertrags in Anspruch nimmt, und der hohe Zinsfuß von 10 bis 15 Prozent.
schändlicher Wucher treibt ihn oft noch viel höher; und sind die Steuer-
rückstände längere Zeit nicht bezahlt worden, dann wird das Gütchen zwangs¬
weise versteigert, und die Familie auf die Straße geworfen. So kamen z. B.
im Jahre 1895 auf je 100000 Einwohner in Oberitalien nur 13 Zwangs¬
versteigerungen, in Süditalien aber 71, auf Sizilien 109, auf Sardinien
gar 536. Dann bleibt den Leuten uur die Auswcmdrung, denn eine
Industrie, die sie aufnehmen könnte, existiert nicht. So schwindet der
Kleinbesitz immer mehr zusammen, und die Latifundien gewinnen noch an
Ausdehnung.
Kein Wunder, daß heute im Süden Italiens eine weit und tiefgreifende
Güruug herrscht. Das Mißtrauen gegen das parlamentarische Regiment
und die fortwährende Einmischung der Parteipolitik in die Verwaltung ist so
hoch gestiegen, daß man meinen sollte, ein energisches und klares Eingreifen
der Krone, das mit all diesem heillosen Unfug kräftig aufräumte und der ebenso
verderblichen wie lächerlichen Abhängigkeit des Ministeriums von jeder zu¬
fälligen Kammermehrheit ein Ende machte, könne auf Erfolg rechnen. Ob
in der Weigerung des jungen Königs, das Kabinett Zcmardclli nur deshalb
zu entlassen, weil die Wahl des Präsidenten der Deputiertenkammer nicht ganz
seinen Wünschen entsprach, der Anfang zu einer solchen monarchischen Politik
zu erkennen ist, läßt sich noch nicht sagen. Jedenfalls ist alle Welt, auch in
der Kammer darüber einig, daß dem Süden geholfen werden müsse, wenn die
schwer errungne nationale Einheit nicht Schaden nehmen soll. Nur über die
Mittel gehn die Meinungen immer noch weit auseinander. Die einen fordern
neue Eisenbahnen, die andern günstige Handelsverträge zu Gunsten der Ausfuhr
süditalienischer Bodenprodukte, die dritten Herabsetzung der Steuern, noch
andre Förderung der Industrie u. s. f.
Ferraris, einer der einsichtigsten und entschiedensten Verfechter einer
kräftigen Sozialreform, ein genauer Kenner der einschlagenden deutschen
Verhältnisse und ein scharfer Gegner der Mißbrüuche des parlamentarischen
Parteiregimeuts, unterzieht in eingehenden Darlegungen über die Agrarreform
(II riseMo övonoinioo alvi Ne^oAlorno, ^l. ^not. 1. April 1902; II «rsclito
gKrario in Liellis., Heft vom 16. Februar 1902; vgl. die frühern Abhandlungen:
?oMog. <Zi lavorv und öl un?i, ritormN, g,g'rg.lig, in den Nummern vom 16. Juni
1898 und vom 16. November 1899) zunächst alle diese verschiednen Besse¬
rungsvorschläge einer gründlichen Prüfung. Er verwirft sie zwar keines¬
wegs, erklärt sie aber, jede für sich betrachtet, als ungenügend. Eine Eisen¬
bahn bringt allerdings, so lange sie gebaut wird, Geld ins Land. Ist sie
aber fertig, so ziehn die Arbeiter größtenteils wieder weg, und die Geschäfte,
die von ihnen verdient haben, verlieren diesen Verdienst. Wohl aber dringen
auswärtige Jndustrieerzeuguisse auf den Eisenbahnen ein, die dem alten Haus¬
gewerbe verderblich werden, und die wohlhabenden Leute benützen sie, um
wenigstens den Winter in größern Städten zuzubringen. Ohne besonders gut
verwertbare Naturschätze und ohne gleichzeitige Steigerung der wirtschaftlichen
Kraft des Landes wirken Eisenbahnen wie Kanäle ohne Wasser; notwendiger
als neue große Linien sind für Süditalien billige Sekundärbahnen und
fahrbare Straßen, die die abgelegnen Orte mit der Welt in bequeme Ver¬
bindung setzen, denn wer solche einsame Felsennester im Innern nicht gesehen
hat, macht sich keine Vorstellung von ihrer Verlassenheit. Für die Begründung
einer großen Industrie fehlt dem Süden jetzt noch alles: billiges Kapital,
Unternehmungsgeist, geschulte Arbeiter, kaufkräftige Märkte, Kohlen und
Eisen. Auch die Zollpolitik wird für den Süden unmittelbar wenig leisten
können, dem: Italien wird froh sein müssen, wenn es die Bedingungen der
ablaufenden Handelsverträge wieder erhält, und Steuererleichterungen sind
zwar nötig, aber nur mit großer Vorsicht durchzuführen, weil die Sozialreform
dem Staate viel Geld kosten wird. Wenn man eine kräftige Förderung des
Unterrichts verlangt, so ist das berechtigt, aber notwendig ist vor allem die
Ausdehnung des Elementarschulwesens und des gewerbliche» Unterrichts, nicht
des Mittelschulwesens auf klassischer Grundlage, weil sich durch dieses „die
Mittelklassen in eine Schar von Advokaten, Ärzten, überhaupt von studierten
Leuten weit über das Bedürfnis hinaus verwandeln."
Also kann nur eine energische und umsichtige Agrarpolitik helfen, die die
landwirtschaftliche Produktion und damit den Wohlstand vermehrt. Dafür
giebt es drei Hauptmittel: Kapital, Assoziation und Unterricht. Das Kapital
muß der Landwirtschaft zu niedrigem Zinsfuß und so zugeführt werden, daß
es auch für den einfachen Landmann leicht erreichbar ist und ihn der traurigen
Notwendigkeit überhebt, sich an Wucherer zu wenden. Eben die Organisation
dieses landwirtschaftlichen Kredits ist jetzt im ganzen Süden noch höchst mangels
haft. Auf Sizilien z. B. giebt es (30. Juni 1901) nur 122 Kreditinstitute
überhaupt, die sich obendrein sehr ungleich verteilen, meist mit ländlichen Ver¬
hältnissen gar nicht abgeben und auch vielfach über viel zu geringe Mittel
verfügen (von den 51 Volksbanken — parvus xovolgri — haben nur 5 über
eine Million Kapital, von den 19 ländlichen Darlehnskassen nur wenige bis
gegen 100000 Lire). Ferraris will nun für die 357 Gemeinden der Insel
(unter denen man bekanntlich in ganz Italien nur eine Stadt mit den ihr
administrativ zugeteilten Flecken und Dörfern, das voniuns, versteht) mindestens
ebensoviele landwirtschaftliche Kreditinstitute errichtet wissen und ebenso auf
dem Festlande Verfahren. Dafür nimmt er vor allein die Postanstalten in
Anspruch, deren es jetzt in jedem Comune wenigstens eine giebt, und die seit
1874 mit Postsparkassen verbunden sind; er schlägt aber auch die Bildung von
landwirtschaftlichen Genossenschaften in jedem Gerichtsbezirk (rmicmi marcis.-
msuwli) vor, die wieder in einer llnione rsMngls für jede „Region", d. h. für
jede der 16 statistische» Provinzen ihre landschaftliche Spitze finden und in
einer llnicmc! uaxioimlö in Rom gipfeln sollen. Für den Anfang müßte das
nötige Betriebskapital — für Sizilien 8 Millionen, für ganz Italien 100 Mil¬
lionen Lire — als ouotg. enlg.nßibils der Depositen- und Darlehenskasse (OiWa
clsxoÄti v prssW äst L,6Fro) entnommen werden, zu dem dann die Banken
und Sparkassen der Region beisteuern würden. So würde jeder, auch der
kleinste Bauer sofort billigen Kredit (zu 5 Prozent) nach Maßgabe seiner Steuer¬
kraft finden, und allmählich würden die Kapitalien des wohlhabenden Nordens
dem armen Süden zu Hilfe kommen, da sich dessen Kreditfähigkeit steigern
würde. Dazutreten müßte in nicht zu langer Zeit eine Regulierung der Hypo¬
thekenschulden mit Herabsetzung des Zinsfußes.
Überall müssen sich ferner landwirtschaftliche Genossenschaften bilden für
den gemeinsamen Einkauf landwirtschaftlicher Bedürfnisse, den gemeinsamen
Verkauf der Erzeugnisse, Errichtung gemeinsamer Kornhüuser, Versicherung
gegen Wctterschäden, Viehseuchen u. s. f., die den Bauern aus seiner Verein¬
samung herausreißen, ihm die Produktion erleichtern, die Verwertung ohne
überflüssigen, seine Preise drückenden Zwischenhandel vermitteln.
Bei seiner Unwissenheit und Hilflosigkeit ist es aber ebenso nötig, ihn mit
den Methoden einer fortgeschrittenen Wirtsschaftsweise vertraut zu machen.
Dazu dienen nicht nur die landwirtschaftlichen Schulen, die immer nur sehr
wenige besuchen können, sondern im Süden vor allem die Wanderlehrer, die
ihre o-Mvärö simbuinnti in jeder Gemeinde aufschlagen, die Leute, auf die sie
wirken wollen, also aufsuchen und die Fragen ganz praktisch behandeln. Es
ist ein glücklicher Gedanke G, Baeeellis, auch die Volksschullehrer, namentlich
auf dem Lande, für den Landbau zu erziehen, damit sie mich hierin als Lehrer
und Vorbilder auftreten können.
Nur mit solchen mannigfachen Mitteln wird eS gelingen, den im ganzen
veralteten Wirtschaftsbetrieb des Südens zu verbessern und die Produktion
zu steigern. Die Dreifelderwirtschaft muß sich in die Fruchtwechselwirtschaft
verwandeln, an Stelle des alten Pflugs muß der tiefgreifende moderne (d. h.
nordeuropäische) treten, die schwachen, weil schlecht genährten, Zugtiere müssen
durch kräftige ersetzt werden, ausgewählte Sämereien und künstliche Düngung
müssen hinzukommen, und landwirtschaftliche Maschinen, wie sie in Norditalien
schon längst in Gebrauch sind, müssen die Arbeiten übernehmen, die mit
Menschenkraft teurer und unvollkommner geleistet werden. So sieht Ferraris
eine glücklichere Zukunft voraus, in der Sizilien wieder die Kornkammer Italiens
werden wird, die es im Altertum jahrhundertelang gewesen ist, und wo
Italien von dem schweren Tribut erlöst sein wird, den es jetzt für Getreide
an das Ausland zahlt.
Es kann auffallen, daß unter den Heilmitteln, die Ferraris vorschlägt,
eins nicht ist, das man vor allem in Deutschland sür das wichtigste hält und
P. D. Fischer auch in der zweiten, mannigfach vermehrten Auflage seines vor¬
trefflichen und von den Italienern selbst sehr geschätzten Buches „Italien und
die Italiener" (1901) nachdrücklich vertritt (S. 238 f.), eine bessere Bodenver¬
teilung, die Gründung freier Bauernstellen, die bisher mich bei großen, vom
Staate oder von Privatgesellschaften durchgeführten Meliorationen, geschweige
denn bei dem überhasteten Verkauf der eingezognen Kirchengüter, nicht ver¬
sucht worden ist. Aber vielleicht ist das nur eine vorsichtige taktische Zurück-
haltung, deun ohne die Beihilfe der großen Grundherren können die geplanten
Reformen gar nicht durchgeführt werden, es wäre also sehr unvorsichtig,
sie jetzt durch Pläne zu reizen, die nur auf ihre Kosten verwirklicht werden
könnten, wie sie wenigstens argwöhnen würden. Vielleicht werden sie aber
allmählich selbst so klug, ihre oft so extensive Latifundienwirtschaft allmählich
in intensivem Betrieb zu verwandeln und Bnuernstellen auf Halbpacht (irieW-
ärig.) oder in irgend welchem Zinsvcrhültnis zu errichten. Dazu bietet sich
jetzt wieder eine großartige Gelegenheit, denu soeben verhandelt eine kapital¬
kräftige deutsche Gesellschaft unter dem Major von Donat mit dem Herzog
von Sermvueta, dem Fürsten Borghese und dem Marchese Ferraiuoli über die
Pachtung von 20 000 Hektaren in den pontinischen Sümpfen auf dreißig Jahre,
um sie durch Entwässerung in fruchtbares Ackerland zu verwandeln, und hat
zu demselben Zwecke schon von der Gemeinde Terracina 2500 Hektar in Pacht
genommen, die in zehn Jahren kultiviert sein sollen.
Der Gesetzentwurf von Ferraris hat die Via oruvis durch das italienische
Parlament angetreten und ist, nachdem er von der Kommission durchberaten
worden, am 21. Dezember v. I. der Kammer vorgelegt worden. Sein Ur¬
heber hofft, daß er noch in der jetzigen Tagung angenommen werde und schon
im nächsten Herbst seine Wirkungen äußern könne. Wir Deutschen haben alle
Ursache, nicht mit der bei uns leider so vielfach üblichen Geringschätzung, mit
der wir gern auf das, was südeuropüische Völker leisten, herabsehen und uns
bei ihnen unbeliebt, ja verhaßt machen, diese Bestrebungen zu begleiten, son¬
dern sie mit Sympathie und Hoffnung zu verfolgen. Die Erneuerung des
Dreibundes scheint nach den Besprechungen des Grafen Bülow mit Prinetti
in Venedig und mit Graf Goluchowski in Wien gesichert zu sein, aber ein
wirklich wertvoller Bundesgenosse kann für uns nur ein wirtschaftlich und
uf Grund von Treubers vortrefflicher Biographie des Herzogs
Wilhelm von Württemberg, des ersten Organisators in den 1878
von Österreich-Ungarn besetzten, staatsrechtlich noch heute tür¬
kischen Gebieten Bosnien und der Herzegowina, ist in den Grenz¬
boten (1901, Heft 22) auf die Fehler hingewiesen worden, die
Osterreich hier im Anfang machte; der Hauptfehler war, daß es sich allzusehr von
fiskalischen Grundsätzen leiten ließ und größere Aufwendungen vermeiden wollte,
die bei der Verwahrlosung und Zurückgcbliebenheit dieser Lande geboten waren,
und daß es ferner einen freien Bauernstand zu schaffen unterließ, in ziemlich
roher Weise die frühere Hörigkeit eines großen Teils der landwirtschaftlichen Be¬
völkerung, der sogenannten Kneten, beseitigte und die Kneten in Pächter ver¬
wandelte, wobei sich deren rechtliche und wirtschaftliche Lage verschlimmerte.
Insbesondre ist sodann an der Hand des im Frühjahr 1901 erschienenen
Buches von Nikaschinowitsch darauf hingewiesen worden, wie die gegen Öster¬
reich feindselige Strömung auf der Balkanhalbinsel und die Bestrebungen, die
slawische Bevölkerung unter russische Führung zu bringen, neue Kraft dadurch
gewonnen haben, daß Österreich seine Kulturmission in den Okkupationsgebieten
nicht besser und rascher durchgeführt hat. Wenn aber Nikaschinowitsch glaubt,
das von der Landesregierung für Bosnien und die Herzegowina herausgegebne
Werk: „Die Landwirtschaft in Bosnien und der Herzegowina" (Mit 21 Karto¬
grammen, 14 Diagrammen und 20 Vildertafeln. Sarajevo, Landesdruckerei, 1899)
mit einer leichten Handbewegung abthun zu dürfen, so schadet er sich und
seinen südslawischen Brüdern damit nur selbst. Sieht man von dem Fehler
zu großer Breite und mehrfacher Wiederholung, sowie davon ab, daß diese
amtliche Veröffentlichung kein Budget über die in der Landwirtschaft gemachten
jährlichen und Gesmntanfwendungen aufstellt, so wird man dieser genauen und
übersichtlichen, dabei hervorragend ausgestatteten Arbeit nur Dank wissen.
Und nachdem darauf hingewiesen worden ist, daß der wichtigste Teil von Öster¬
reichs Kulturmission in Bosnien und der .Herzegowina, die volle Befreiung
des gesamten Bauernstandes, noch nicht erfüllt worden ist, erfordert es die
Gerechtigkeit, auf Grund dieser amtlichen Veröffentlichung darzulegen, in welchem
Umfang die geordnete westeuropäische Regierung diesen Ländern genützt hat,
und welche erfolgreiche und hochachtbare Arbeit Österreich im großen und
ganzen ein ihnen geleistet hat.
Das Werk, das, gestützt auf die Akten der Landesregierung und die
Arbeiten ihres statistische« Departements sowie auf die einschlägige Litteratur
der letzten zwei Jahrzehnte, ein Bild der Entwicklung der Landwirtschaft in
Bosnien und der Herzegowina zu geben sucht, weist zunächst in einer kurzen
Einleitung darauf hin, wie auf Grund der slawischen Einwandrnng seit dem
siebenten Jahrhundert diese Länder eine Kulturentwicklung erlebten, die dem
Mittelalter entsprach, wie sich aber von dieser Entwicklung, abgesehen von
einer einzigen wirtschaftlichen Erscheinung, dein in der altslawischen Sippen¬
gemeinschaft fußender Zadrugasystcm, infolge der osmanischen Eroberung nichts
erhalten hat. Denn es brachte diese im Bunde mit dem natürlichen Bollwerk
der dinarischcn Alpen dein Lande den strengsten Abschluß von der abendlän¬
dischen Kultur. Statt einer Fortentwicklung erlebten die von Natur keines¬
wegs kärglich bedachten Gebiete von da ab nnr noch innere Unruhen; der
Bevölkerungszuwachs war kaum nennenswert. „Die im Innern herrschenden
Zustände: Rechtlosigkeit ganzer Bcvölkerungsschichten, willkürliche Machtüber¬
griffe einzelner Kasten, Unsicherheit der Person und des Eigentums, Danieder¬
liegen des Unterrichts, des Handels und Komnumikationswesens, in Verbindung
mit einer infolge strengen Abschlusses nach außen niemals aus ihrer Ursprüng¬
lichkeit geweckte:? Bedürfnislosigkeit der in ihren Sitten und Gebräuchen zum
großen Teil orientalischen Bevölkerung vervollständigen die Reihe derjenigen
Faktoren, die an dem Zurückbleiben Bosniens und der Herzegowina hinter
der sie umgebenden Kulturwelt mitgewirkt haben."
Weiter behandelt das Werk in dein ersten allgemeinen Teil nnter dem
Titel: „Die natürlichen Produktiousfattoreu und die sozialen, wirtschaftlichen
und verwaltungspolitischen Faktoren" Land und Leute von Bosnien und der
Herzegowina und schildert in einem zweiten speziellen Teile den dortigen
Landwirtschaftsbetrieb im allgemeinen, die Maßnahmen zur Hebung der Land¬
wirtschaft und die landwirtschaftliche Produktion Bosniens und der Herzego¬
wina. Da das umfangreiche Werk in Deutschland uur wcing Verbreitung
gefunden haben wird und sich wohl nur landwirtschaftliche Fachleute und Ge¬
lehrte, die der Balkanhalbinsel ein besondres Studium zuwenden, die Zeit ge¬
nommen haben dürften, es durchzuarbeiten, und da andrerseits sowohl das
Gebiet an sich als Österreichs Leistung in ihm ein allgemeines Interesse durch¬
aus verdient, so wollen wir im folgenden einen kurzen Auszug aus dem
Werte gebe».
Bosnien allem hat mit rund 41000 Quadratkilometern etwa die Größe
der Schweiz; so groß wie ein schwaches Viertel davon ist die Herzegowina.
Die Bevölkerung von Bosnien und der Herzegowina zusammen mit rund
1^ Millionen entspricht der Hälfte der Einwohnerschaft der Schweiz mit rund
3 Millionen. An Mannigfaltigkeit der Oberflächeugestaltlmg wird das Land
Von keinem andern Gebiete des europäischen Festlands erreicht; im allgemeinen
bergigen Charakters zeigt es, neben ausgesprochnen Hochgebirge, an der save
die Tiefebne, Eine besondre Eigentümlichkeit des Landes sind die Einstnrz-
becken des Karstes, „meist langgestreckte und ringsnm dnrch Höhenzüge um¬
säumte Hochthäler mit vollständig ebner Sohle," Diese sogenannten „Polje"
mit ihrem höchst fruchtbaren Berwitterungsbvden sind die Korn- und Frucht-
kaminern der umliegenden Distrikte. Wie diese Poljes so sind noch mehr die
kleinen Karstlöcher, die trichterförmigen Einsenkungen der „Dolium" gegen die
verheerende Wirkung der im Karstgebiete hausenden Borastürme geschützt. Außer¬
dem bieten Plateaus des im übrigen spärlich bewachsenen Karstes in ihren
ausgedehnten Grasflüchen wertvolle Alpenweiden, Die ertragreichsten Gegenden
des Gebiets sind die allerdings auch Überschwemmungen ausgesetzten Fluß-
alluvien der fünf um Slawonien stoßenden Niederungen, die mit ihren äußerst
fruchtbarem Bodenarten etwa 5 Prozent des Landes ausmachen. Ungefähr
24 Prozent davon bestehn aus Hügelland. An Ertragsfähigkeit des Bodens
reiht sich dieses der Tiefebne unmittelbar um, und diesen 29 Prozent des
Landes fällt der Hauptanteil an der Bodenproduktiou zu, während das Berg-
und Waldgebiet, etwa 42 Prozent, und das Karstgebiet, annähernd 29 Prozent,
3 Prozent Poljes, in der Hnnptsache der tierischen Produktion angehört.
Wenig bekannt ist, daß Bosnien und die Herzegowina zu den um stärksten
bewaldeten Ländern Europas gehöre»,; über 52 Prozent der Gesamtfläche sind
Waldboden, davon etwa die eine Hälfte mit Gestrüppwald, die andre Hälfte
mit ausgedehnten und geschlossenen Hoch- und Niederwaldbestünden, Dieses
Gebiet mit deu eingesprengten Wiesen und Hangweideu und seine«? Hochweiden
liefert zusammen mit dein Karstgebiete den Boden für die mißerordentlich starke
Viehhaltung des Landes.
Das Land, von ausgesprochen gebirgigen Charakter, ist durchzogen von
einer „Fortsetzung des südnlpinen Kalkgnrtels," die sich seiner dalmatinischen
Südwestgrenze und der Adria zu immer höher erhebt und namentlich den
Süden und die Herzegowina ganz einnimmt. Trotzdem weist das Gebiet
dank seiner südlichen Lage (Breite Mittelitaliens) keine strengern Winter auf
als Wien und Budapest, Namentlich in der Herzegowina wird infolge dieser
Lage der Mangel an produktiven Flüchen dnrch eine üppige Vegetation aus¬
geglichen; teilweise wird hier zweimal im Jahre geerntet, Mais gedeiht in
südlichen Teilen Bosniens noch in Höhe von 700 Metern, Winterweizen von
1000, Sommergetreide von 1400 Metern. Ein böser Feind ist allerdings die Bora,
der Nordvststnrm, der, sich etwa bis zu 50 Metern Geschwindigkeit in der Se¬
kunde steigernd, oftmals den ganzen Nutzertrag der Wirtschaft gefährdet, glück¬
licherweise aber meist in den Spätherbst und die Wintermonate fällt. Ihn
zu bekämpfen, dazu dienen vor allem die geschonten Wälder und deren Auf¬
forstung.
Bei einer Einwohnerzahl von stark l'/z Millionen (1895) sind Bosnien
und die Herzegowina immer noch die weitaus am dünnsten bevölkerten Länder
der Habsburgischen Monarchie, indem sie 31 Bewohner für den Quadrat¬
kilometer aufweisen gegenüber 79 bei den im Reichsrat vertretnen Ländern
und 58 bei den Ländern der ungarischen Krone. Das Deutsche Reich hatte
schon damals (1895) über 100 Einwohner auf den Quadratkilometer und sogar
in dem am dünnsten bevölkerten Mecklenburg-Strelitz noch 35. Sehr rühmlich
für Österreich aber ist die Steigerung der Bevölkerung in den Jahren 1878 bis
1895 von 23 auf 31 Seelen auf den Quadratkilometer, von 1158000 auf
1568000 Seelen insgesamt. Der Jahreszuwachs von 2^ Prozent übersteigt
den des Deutschen Reichs von 1885/95 und den Ungarns von 1880/90 um
mehr als das Doppelte, den von Cisleithanien fast um das Dreifache. Bis
1878, unter türkischer Verwaltung, hatte das Land so gut wie keinen Be¬
völkerungszuwachs. Die Bevölkerungsdichtigkeit im Jahre 1895 schwankt in
den einzelnen Bezirken zwischen 10 und 62 auf den Quadratkilometer. „Im
ganzen Lande gehören 1385291 Personen oder 88,34 Prozent der Bewohner
dein landwirtschaftlichen Berufe an" gegenüber 65^/z Prozent in Ungarn,
57,3 Prozent in Cisleithanien. Ein Drittel der Bevölkerung von Bosnien
und der Herzegowina ist muhammedanisch; in 14 von den 50 Bezirken des
Landes beträgt die Zahl der Muhammedaner die Hälfte bis fast vier Fünftel
der Einwohnerschaft. Bei der Gewissenhaftigkeit, mit der diese ihre Glaubens-
satzungen halten, besonders bei dein strengen Abschluß der erwachsenen weib¬
lichen Personen ist hier die Einbürgerung einer intensivem Feldbearbeitung
sehr erschwert.
Von ganz besondern! Interesse ist die wirklich vortreffliche Behandlung
der heutigen „rechtlichen Verhältnisse des Grundbesitzes" in Bosnien und der
Herzegowina, die die amtliche österreichisch-ungarische Veröffentlichung bietet.
Zu deren Verständnis müssen wir auf die türkische Zeit zurückgreifen. Nach
muhammedanischen Recht giebt es zweierlei Grundbesitz: „Mull," ursprünglich
vollfreies Eigentum auf Grund der Bebauung des Bodens, und „Tessaruf,"
zehntpflichtiges erobertes Land; doch wurde in spätern Zeiten der osmanischen
Eroberung auch das „Mull" der Zehntabgnbe unterworfen, abgesehen von den
Haus- und Hofstellen und deren nächsten Gärten selber, sodaß es nur noch
eine einzige Art von Grundbesitz gab: das zehntpflichtige „Mirije." Neben
diesem Privatbesitz, dem Mirije, dessen Übertragung und Vererbung jedoch an
obrigkeitliche Zustimmung gebunden ist, steht das Vakuf, das durch Stiftung
auf ewige Zeiten dem freien Verkehr entzogne Eigentum. Außerdem giebt es
reines Staatseigentum, Mevat — Ödland und „Metruke," das dem allgemeinen
Gebrauch dienende öffentliche Gut, wie Straßen, Plätze, Gemeindewaldungen
und Gemeindehutweiden. Grundbücher gab es nicht; nur mangelhaft war der
Klarhaltung der verwickelten Grundbesitzverhältnisse durch das „Tapijenwesen,"
die Beurkundung, gedient. Eigentlicher Großgrundbesitz und Latifundien fehlen
in Bosnien und der Herzegowina völlig. Die Grundlage der Besitzverhältnisse
ist vielmehr die „Vergesellschaftung des Ackerbauers mit dein Kriegsmanne zum
Zwecke der gemeinsamen Bodennutzung im Anteilsverhältnisse." „Die über¬
wiegende Mehrzahl der sei es durch das Recht des Eroberers zum Besitz ge¬
langten, sei es durch Glaubenswechsel oder auf irgend eine andre Weise in ihrem
Besitztum verblichnen Grundherren überließ daher auch nach der Eroberung
die Bewirtschaftung ihrer Lündereien den teilweise schon früher in einem ge-
wissen Giebigkeits- oder Abhängigkeitsverhältnis zu den einheimischen Grund¬
besitzern gestcmdnen oder erst durch die Eroberung ihres freien Eigentums ver¬
lustig gewordnen, jedoch auf den betreffenden Grundstücken bereits ansässigen
Landwirten gegen Abgabe eines aliquoten Teils vom Bodenertrage oder be¬
siedelte freies oder durch Kriegsereignisse freigewordnes Land mit ihren Ge¬
folgsleuten unter den gleichen Bedingungen." Dabei behielten sich die Grund¬
herren nur ein kleines Besitztum, sogenannte Beglnks, zur Eigenbewirtschaftung
vor. Neben diesen unterthänigen Anteilbauern erhielten sich aber natürlich viele
Freibauern, und es entstand auch neuer freier Kleinbesitz. .Sowohl beim Anteil¬
bauern, dem Kneten, wie beim Freibauern aber blieb es beim Klein- und
Einzelbetrieb; große Wirtschaftsbetriebe der Grundherren, der „Agas" oder
„Begs" oder „Spcchijas" zeigten sich nirgends.
Da der Islam nur den Rechtgläubigen das freie Herrenrecht zuerkennt,
so ergab sich von selber, daß die Grundherren und Freibauern Muhammedaner
waren, während der Stand der abhängigen Kneten Christen waren; doch ver¬
mochten sich, dank ihrem bessern und umsichtiger» Wirtschnftsbetrieb, viele Land¬
wirte, die einst im Kmetenverhültnisse gestanden hatten, loszukaufen und sich gleich¬
falls zu Freibauern aufzuschwingen. Neben Grundherren, Freibauern und reinen
Kneten giebt es dann noch Landwirte, die neben eignem Freiland grnndherrliches
Zinsland innehaben, also ein Zwischenglied zwischen Freibauern und Kneten
sind. Beteiligt an der Landwirtschaft sind in Bosnien und der Herzegowina
221581 Familienhäupter; vou diesen sind Grundherren nur 5833 oder 2,63 Pro¬
zent, Freibauern 86867 oder 39,21 Prozent, Kneten 88970 oder 40,15 Prozent,
Halbkmeten und Halbfreibauern 22655 oder 10,23 Prozent, während es sonstige
bei der Landwirtschaft beschäftigte Personen nur 17 256 oder 7,78 Prozent
giebt. Die freien und zinsenden Kleinwirte sind also vier Fünftel der land¬
wirtschaftlichen Bevölkerung, während die Grundherren und die besitzlosen Hilfs¬
kräfte nur ein Fünftel ausmachen. Auch auf diesem Gebiete ist die langsame,
aber stetige und schließlich doch recht namhafte Zunahme der Freibauern gegen¬
über den Kneten ein ganz besondrer Ruhmestitel der österreichischen Verwal¬
tung; man hätte wünschen mögen, diese Umwandlung hätte sich rascher voll¬
zogen, aber man muß bekennen, daß' dies nur durch radikale Eingriffe in die
bestehenden Besitzverhältnisse und durch einen starken Stoß gegen die über-
kommnen Gewohnheiten hätte bewirkt werden können. Man muß zugeben, daß
sich auch so eine allerdings wesentlich langsamere, dabei aber auch weniger
schmerzhafte Gesundung der agrarischen Besitzverhältnisse erzielen lassen wird.
Noch im Jahre 1885 verhielt sich die Anzahl der Freibauern zu der der Kneten
im ganzen Lande wie 11:19; 1898 war das Verhältnis beider zu einander
Z0:11. Die Freibauern hatten also in zehn Jahren um 12,77 Prozent zu,
die Kneten um ebensoviel abgenommen, was einem jährlichen Übergang von
Kneten in den Freibauernstand von 1,3 Prozent entspricht.
Recht günstige Aussichten über die künftige Weiterentwicklung von Bosnien
und der Herzegowina in landwirtschaftlicher Beziehung eröffnen aber noch zwei
weitere Ergebnisse der vorliegenden Statistik. Es entfüllt erst aus 7 bis 8
selbständige Landwirte eine Hilfskraft; die Zahl der in den einzelnen landwirt-
schaftliche» Betrieben thätigen Hände ist also sehr beschränkt, und die noch ge¬
ringe durchschnittliche Intensität des landwirtschaftlichen Betriebes dieser Länder
ist demnach noch einer bedeutenden Steigerung fähig. Da andrerseits über
85 Prozent der Zivilbevölkerung von Bosnien lind der Herzegowina dein Stande
der Gutsbesitzer, Freibauern, Halbfreibauern, Halbzinsbnuern und Zinsbnuern
angehören, so ist die Existenzgrundlage der neun Zehntel ausmachenden land¬
wirtschaftlichen Bevölkerung dieser Länder in einem Umfang gesichert, wie dies
„kaum in einem andern, in der Reihe der europäischen Kulturstaaten stehenden
Gebiete ein zweitesmal nachweisbar sein dürfte."
Was die ,,Aufteilung des Bodens uach den einzelnen Kulturgattungen"
anbetrifft, so wird es interessieren, zu erfahren, daß von den annähernd
42000 Quadratkilometern Bosniens gegen 14000 Quadratkilometer, also ein
Drittel landwirtschaftlich direkt tragende Fläche ist, während die landwirtschaftlich
benutzte Fläche gegen 18500 Quadratkilometer, also 44 Prozent betrügt; von
den über 9000 Quadratkilometern der Herzegowina sind dagegen direkt tragende
Fläche nur gegen 1300 Quadratkilometer, also 14 Prozent, während die land¬
wirtschaftlich benutzte Fläche über 5000 Quadratkilometer betrügt, also mehr als
55 Prozent. Von dem für die Landwirtschaft und Viehzucht nicht verwerteten
Boden kommen über 26 500 Quadratkilometer auf Waldboden und nur gegen
1000 Quadratkilometer auf Ödland. Über 90 Prozent der landwirtschaftlich
benutzten Fläche sind direkt tragender Boden in den Niederungen und dem
Hügelland im Norden von Bosnien, 50 bis 90 Prozent kommen ans dein direkt
tragenden Grund in dein von Nordwest nach Ostsüdost Bosnien durchziehenden
Berg- und Waldland, weniger als die Hälfte des landwirtschaftlich benutzten
Bodens ist direkt tragende Fläche in dem Karstgebiet, das von Norden her
nach Südosten zu sich verbreitend den Westen von Bosnien und die Herzegowina
einnimmt. Auch hier zeigt sich ein großer Aufschwung; die Äcker hatten in
der Zeit von 1886 bis 1895 einen Zuwachs um 73000 Hektare, die Wiesen
um 20300 Hektare, die Gärten, namentlich infolge des Aufblühens der Zwetschen-
tultur, um fast 9000 Hektare, also über ein Fünftel, und die Weinberge um
nahezu 1000 Hektare, also beinahe um ein Fünftel. Der Gesamtzuwachs der
direkt tragenden Fläche, die sich 1886 auf rund 14000 Quadratkilometer, 1895
auf rund 15000 Quadratkilometer belief, beträgt über 1000 Quadratkilometer
oder 7^ Prozent.
An öffentlichen Lasten ruhen in Bosnien und der Herzegowina auf der
Landwirtschaft eine Reihe von direkten Steuern außer der Straßenrobot, der
Verpflichtung der männlichen Einwohnerschaft zwischen dem sechzehnten und
sechzigsten Jahre zu jährlich sechstägiger Arbeit an den Straßen usw. oder
Zahlung von drei Kronen. Von der ottomanischen Zeit her ist die Haupt¬
steuer der Zehnt, der aber nicht mehr verpachtet und auch nicht mehr in nawrg,,
sondern in Form eines jährlich erschätzten „Geldrelutums" erhoben wird. Nach
Zahlung des Zehnts hat der Kenel in der Regel noch ein Drittel seines Ernte¬
ertrags an den Grundherrn abzugeben. Dazu kommt eine Grund- und Gebäude-
wertstener von 0,4 Prozent, die Einkommen- und Hauszinssteuer, die Aus-
schanksteuer und Marktlizenzgebühr und die Kleinviehsteuer mit 12 Kreuzern
für daS Schaf, 30 Kreuzern für das Schwein und 22 Kreuzern für die wald-
frcvlerische Ziege.
Was den Lattdwirtschaftsbetrieb im allgemeinen betrifft, so kann bei dein
einheimischen Landbau von Wirtschaftssystemen im westeuropäischen Sinne nicht
gesprochen werden; es haben sich nur gewisse besondre Betriebsarten, durchweg
aber von einer höchst primitiven Entwicklungsstufe, ausgebildet. Diese ur¬
sprünglichen und höchst mangelhaften Verfahren haben sich in der nahezu vier-
hundertjührigell Stagnation unter der Herrschaft des Halbmonds hier in einem
Grade eingelebt und als unabänderlich eingenistet, wie kaum anderswo. In
den Niederungen und im Hügelland, sonne auch in den um Ackern reichern
Teilen des Waldlandcs herrscht allerorten die Feldgraswirtschaft vor. Nur in
den ackerarmen Teilen des Waldlandes und im ganzen Karst, wo die Vieh¬
haltung die Hauptsache ist, findet sich eine mehr oder minder ausgeprägte
Köruerwirtschaft. Die Gründe sind der Mangel an Absatz infolge der frühern
gänzlichen Abgeschlossenheit des Landes und des Fehlens von Kommunikationen,
der Überfluß an Früchten und damit der geringe Wert des produktiven Bodens,
ferner die Bevorzugung der Viehhaltung vor dein Feldbau, die ihren Grund
hatte und noch hat in der Steuerfreiheit des Großviehs und der niedern Be¬
steuerung des Kleinviehs, namentlich aber in ihrer Mühelosigkeit. Wiederholt
klagt die amtliche Veröffentlichung über den Hang der orientalisiertcn Bevölke¬
rung zu beschaulicher Ruhe und ihre ins Nationälempfindcn übergegcmgne
„Verachtung schwerer körperlicher Arbeit und Scheu vor derselbe»." Im Zu¬
sammenhang hiermit steht die auf der ganzen Balkanhalbinsel zu beobachtende
Mangelhaftigkeit der Düngerwirtschaft, und duzn kam früher die Unsicherheit
im Lande, wobei sich Vieh eher retten ließ als eine erst bestellte oder selbst
als eine eingebrachte Ernte. Nur in der Nähe der größern Städte fanden
sich schon vor der österreichischen Zeit die Anfange der Dreifelderwirtschaft.
„Es mangelte aber — und mangelt heute »och — im allgemeinen das Ver¬
ständnis für die Vorteile einer angemessenen Vereinigung des Feldbaus mit
der Viehhaltung," was der Entwicklung rationeller Wirtschaftsmethoden hinder¬
lich ist. Ein Umschwung ist erst angebahnt, und eine große Anzahl Landwirte
verharrt mit bekannter Bauernzähigkeit am Althergebrachten und bei Betriebs¬
arten, die den heutigen Absatzbedinguugen und der jetzigen Sicherheit im Lande
nicht mehr entsprechen.
„Die bevorzugte Gctreidepflanze in Bosnien und der Herzegowina ist,
wie in allen Ländern des südöstlichen Europas, der Mais"; er ist das Haupt-
nnhrnngsmittel der Bevölkerung. Nächst diesem nimmt Weizen und Gerste,
diese namentlich in den hohem Lagen, die größte Anbaufläche ein. Hafer wird
viel, Roggen dagegen nur sehr wenig gebaut. Bekannte Spezialitäten des
Landes sind Tabak und Zwetschen; daneben finden sich die meisten Legumi¬
nose», die allgemein üblichen Hackfrüchte und Gemüsepflanzen, in der Herze¬
gowina auch Wein. Ausgedehnte Großwirtschaften fehlen dem Lande ganz,
der Eigenbetrieb war immer mir ans die Bearbeitung der für den Familien¬
bedarf — der bei der ungemeinen Bedürfnislosigkeit der Bevölkerung klein
genug ist - ausreichende» Aren beschränkt. Hinsichtlich der Wohn- und
Wirtschaftsgebäude beschränkten sich die Grundherren gegenüber den Kneten
auf das notdürftigste, während den muhammedanische» Freibauern bei ihrem
kleinen und durch Erbteilungen zersplitterten Besitze die Mittel zu Verbesse¬
rungen fehlten. Die Gebäude, namentlich die für Unterbringung der Nutztiere,
sind denn auch ganz unzulänglich, und hier ist der Wandel erst angebahnt.
Die Häuser der ländlichen Wirtschaften entsprechen den bekannten, in allen
slawischen Balkanländern verbreiteten Typen; eine besondre Eigentümlichkeit
sind in den Saveniederungen die Pfahlroste uuter vielen Häusern, um sie
über den Hochwasserstand zu heben. Im allgemeinen besteht das Wohnhaus
aus einer Flur und einem bis zwei großer» Räumen, von denen einer die
Feuerstelle enthält und zugleich als Wohnraum dient, während der andre die
Vorratskammer ist. Die sonst in der Regel zu ebner Erde liegenden Gebäude
sind besonders in muhammedanischen Gegenden meist einstöckig, mit dem Stall
im Erdgeschoß und der Wohnung darüber; das Material ist Holz allein oder
Holz und Lehmziegel in Fachwcrkmnnier, uur in Südbosnien und der Herze¬
gowina Stein.
Das spitzgieblige Dach besteht vorwiegend aus großen gespaltnen Schindeln.
Bessere Hänser sind mit Hohlziegeln gedeckt, wie sie sich in allen Ländern
früherer rönnscher Kultur finden, Flachziegel sieht man an der save und an
d^n Bahnlinien. Flechtwände mit Lehmbewurf giebt es namentlich bei Neben¬
gebäuden; die Stallungen haben meist nur auf drei Seiten Wände. Frucht-
und Futterscheuern sind anßer bei Kolonisten nu der save nicht üblich; da¬
gegen finden sich in Gegenden mit Maisbau immer noch ein oder mehrere
Maiskörbe ans Nntengeflecht vor. Im übrigen dienen für das Getreide die
„Hambar," Schneelasten mit einer Öffnung an der Seite unten. Das Ganze
umgiebt ein bei Muhammedanern streng abgeschlossener Hofraum. Schuppen
zur Bergung der Geräte fehlen fast ganz; ebenso dienen in der südlichen
Herzegowina an Stelle der vielerorteu ganz fehlenden Stallungen sehr primi¬
tive Unterstände. Dagegen giebt es transportable Hürden zur Pferchdüngung
mit kleinen Schutzhütten für die Hirten. In Gegenden mit Schweinezucht ist
ein primitiver Schweinekoben meist in der entlegensten Ecke des Baueruhofs.
In solchen mit Zwetschenknltnr giebt es immer einen Dörrofen; Backöfen sind
nur längs der save üblich. Zisternen sind in den quellenarmen Teilen Süd-
und Südwestbosniens und der Herzegowina ein wertvoller Besitz einzelner
Wohnstätten und ganzer Weiler.
So zurückgeblieben wie in der Art der Gebäude ist die bäuerliche Bevölkerung
des Okkupationsgebiets anch in der Form der landwirtschaftlichen Geräte. Neben
dem „Ralo" genannten Pfluge, der noch ganz unverändert die Form des alten
römischen Hakens aufweist, ist der am weitesten verbreitete Pflug ein kleiner
ganz hölzerner und nur mit eiserner Schar und zuweilen einem Sees ver¬
sehener Karrenpflug, der, zwei- bis sechsspännig angewandt, eine Nachbildung
einer schon in frühern Jahrhunderten hier eingedrungnen und in ihrer unvoll-
kommnen Gestalt festgehaltneu Pflugnrt ist. Ein wahres Ungetüm von Schwer¬
fälligkeit ist der zwei- bis dreimal größere Pflug, der, gleichfalls bis auf die
Schar ganz hölzern, sechs- bis zehnspännig namentlich in den Polje gebraucht
wird. Diese beiden sind Flach- und Rechtswender; der Ralo kann zum Rechts-
nnd Linkswenden und also auch als Kehrpflng benützt werden. Als Zugtiere
dient nur Hornvieh unter einem höchst primitiven Joch. Die ganz seichten
Ackernngen geh» selten über 12 bis 15 Zentimeter tief. Dieses an sich un¬
zureichende Pflügen wird dazu noch oft zur Unzeit vorgenommen. Bei scholliger
Ackerung wird alsdann eine Egge zu Hilfe genommen, die bis ans die vordersten
eisernen Zähne gleichfalls ganz aus Holz besteht. Walze, Muldbrett, Gruber,
Häufelpflug waren bis in die jüngste Zeit ganz unbekannt.
Den Transport besorgen abseits von den großen Kommunikationen auch
heute noch zumeist Tragtiere. Moderne Wagen finden sich nur nahe bei der
save; im übrigen ist auch der böhmische Wagen gleichfalls eine getreue Nach¬
bildung des altrömischen. Über die Wiesen und begrasten Hutweiden weg ge¬
braucht man daneben Schlitten für Zugtiere und — mit hochaufgebognen
Kufenhörnern — für Menschen, wie in andern Berglündern. An Hand¬
geräten sind zu nennen die Haue, mit der man aufrecht stehend arbeiten kann,
und eine ganz kleine Gartenhaue, sowie ein Spatel zum Jäten, der Karst und
eine einseitige Spitzhane; bis zur Okkupation gab es nur hölzerne Wurf¬
schaufeln. Sensen und Sicheln wurden früher im Lande in hervorragender
Güte erzeugt; jene mit reicher Verzierung von Schnitzarbeit und in den
Schaft eingelassenen Spiegeln. Als Getreide- und Heugabeln dienen zwei- und
dreiteilige natürliche Astzwiesel.
Die Felder werden nicht regelrecht gedüngt; fast ebenso nachlässig ist die
Aussaat. Eine weitere Pflege der Saat fehlt ganz, abgesehen von dem Be¬
hacken der Hackfrüchte. Die Ernte wird erst in der Vollreife, häufig sogar
erst in der Überreife hereingebracht, was einen bedeutenden Ausfall auf dem
Felde zur Folge hat. Einen weitern Ausfall giebt es bei der losen Über¬
führung des Getreides — nnr Roggen und Weizen werden in Garben ge-
bunden — zum Schvberplntz. Einen nochmaligen Verlust bringt das dazu
noch wenig reinliche Austreten der Frucht durch Pferde oder auch Ochsen auf
der Tenne; das Dreschen ist den Leuten zu mühsam, und Dreschmaschinen
werden erst jetzt eingeführt. Das so ansgetretne Getreide wird sodann mit
der hölzernen Wurfschaufel ausgewirtet und in den Schüttküsten aufbewahrt
oder in Säcken aus Ziegenhaargewebe oder Tierhänten versandt. Bohnen,
Erbsen, Linsen, Hirse, auch Mais — dieser ans tischförmigen Hürdengeflechten —
werden mit Stecken ansgcdrvschcn. Kleinere Handrebler für Mais, Putz-
mühlcn, Windfegen, Trieure werden erst in neuerer Zeit eingeführt. Das
stark mit Unkraut vermischte Getreide wird nur von der gröbsten Unreinigkeit
befreit durch Sieben und Werfen auf flachen Holzmulden.
Heu wird zu spät gemacht und deshalb Grummet nur selten gewonnen.
Eine Pflege der Wiesen, von einer primitiv angelegten Berieselung abgesehen,
war bis in die jüngste Zeit ganz unbekannt. Für Winterfüttcrung des Viehes
ist die Vorsorge unzulänglich. Außerdem fehlt es am Sinn für eine richtige
Zuchtwahl, auch wird das Vieh zu früh zur Arbeit und Fortpflanzung ver¬
wandt. Der Hauptzweck der Viehhaltung ist die Vermehrung der Stückzahl;
eine Viehhaltung zum Zwecke der Erzeugung tierischer Produkte (Milch, Wolle)
findet erst in neuster Zeit statt. Das Vieh wirft durchweg im Frühjahr;
ein besondres Aufzuchtfutter während der Entwöhnung oder im ersten Jahre
zu verabreichen, ist nicht üblich. Über den Sommer ist dann das gesamte
Vieh in Südbosnien und der Herzegowina ans den Hochweiden, wo es ge
molten und wo auch die erste Schur vorgenommen wird.
Wie man sieht: alles so ursprünglich und so weit entfernt von einem
modernen Betriebe der Landwirtschaft und Viehzucht, wie möglich. Die erste
Maßnahme, einen Fortschritt anzubahnen, war die schon von Herzog Wilhelm
von Württemberg betriebne, endlich 1880 begonnene und 1886 abgeschlossene
Katastralanfnahme und -Schützung. Dieser Arbeit zur Seite ging die Über¬
leitung des Landes von der Natural- zur Geldwirtschaft, die angebahnt wurde
durch Feststellung bestimmter Sätze anstatt der Naturalablieferung des Zehnte».
Außerdem wurde sofort die Herstellung von Kommunikationen begonnen, die
beim Einmärsche der Österreicher so gut wie ganz mangelten. Während 1878
das Land etwas über 900 Kilometer fahrbarer Straßen und etwas über
100 Kilometer Eisenbahnen aufwies, zeigte es 1898 an Fahr- und Reitwegen
über 6250 Kilometer, an Eisenbahnen in Betrieb nahezu 900 Kilometer; dazu
kam inzwischen die beinahe 200 Kilometer lange Linie Gabela-Cättaro mit
Abzweigungen nach Grawvsa (Nagusn) und Trebinje.
(Schluß folgt)
cum Menschen schweigen, werden Steine reden — dieser alte Satz
hat in den letzten Jahrzehnten die mannigfachste Bestätigung ge¬
funden, seitdem H. Schliemmm in Mhkenä und in Troja den
Spaten angesetzt hat, und eine Reihe antiker Kulturstätten
wieder ans Tageslicht getreten sind, von der uns die erhaltene
Litteratur wenig oder nichts zu sagen wußte. Von diesen Stätten ist zwar
manche viel älter, aber keine wichtiger als Rom, und hier wieder überragt
alles an Bedeutung das Forum romanum, das politische Zentrum der Alten
Welt. Es hat nach dem Ausgange des Altertums die größten Veränderungen
durchgemacht. Unter den Schuttmnsseu des Mittelalters und der Renaissance
verschwanden der antike Boden und die Reste der meisten Bauten; es wurde
zum L!g,my0 vAovmo, wo die mächtigen, silbergrauen, großhörnigen Rinder der
Campagna vor ihren schwerfälligen Wagen lagerten, wenn sie zur Stadt
kamen; nur einzelne Sünlengruppen und der Triumphbogen des Septimius
Severus ragten über die öde Fläche empor, eine Reihe dürftiger Hänser zog
sich von der Phokassänle aus über den Platz, eine andre nahm auf einer
hohen Mauer die ganze Nordseite des Forums zwischen Sant' Adrian» und
San Lorenzo in Miranda, dem Faustinatempel, ein, und der schöne Titusbogen
auf der Velia trug die Reste eines mittelalterlichen Streitturms der Frangipaui,
Immerhin war das Schicksal des Forums insofern günstiger als das andrer
Teile der antiken Stadt, als seine Fläche zwar völlig verschüttet, aber
niemals völlig mit Häusern besetzt wurde, wie der Boden der Kaiserfora, die
ohne die Niederlegung ganzer Straßenzügc gar nicht ausgegraben werden
könnten, und eben der Schutt verhüllte schützend die Reste der Monumente.
So stiegen sie denn allmählich ans Tageslicht. Die kurze französische Herr¬
schaft in der napoleonischen Zeit 1808 bis 1814 räumte den Schutt von dem
untern Teile des Tabularinms an der Westseite, von den Tempeln des Saturn
und des Vespasianns, aus der Säulenhalle des Faustinatempels weg, legte
den Titusbogen frei und beseitigte die Hänsergruppe an der Phokassänle. Deren
Unterban wurde dann 1817 ausgegraben, seit l835 wurde mich die Basilica
Julia an der Südseite, der Streittnrm ans dem Titusbogen 1822 abgebrochen,
um dieselbe Zeit der Schutt vom Sevcrusbogeu weggeräumt, der ihn bis
zu einem Drittel seiner Höhe verdeckt hatte. In diesem Zustand aber blieb
der Platz bis 1870, so hat ihn noch Franz Reder in seinem für diese Zeit
grundlegenden Werke „Die Ruinen Roms," dessen erste Auflage 1863 er¬
schien, beschrieben und gezeichnet, ein Bild, das sich von dem alten, wie es
Winckelmann und Goethe gesehen hatten, noch nicht so sehr viel unterschied.
Erst mit der Einnahme Roms durch die Truppen des jungen König¬
reichs Italien am 20. September 1870 stieg auch für das Forum eine neue
Zeit herauf. Die bald nachher begonnenen planmäßigen Ausgrabungen
deckten die Fundamente des Konkordiatcmpels und des Vestaheiligtums, die
Reste des Hauses der Vestalinnen, des Cäsartempels und der kaiserlichen
Rednerbühne an der Westseite auf und legten das graue vieleckige Lava-
Pflaster bloß, das man lange für das letzte antike hielt, bis man es vor
kurzer Zeit als das des frühen Mittelalters erkannte. Aber mit dem
Jahre 1884 hörte diese Thätigkeit auf; nur ein Teil der Regia, des alten
Amtslokals der Pontifices, wurde 1886 und 1888 von den deutschen Ge¬
lehrten Jordan und Hülsen aufgedeckt. Erst im November 1898 begann ein
neuer Abschnitt der Ausgrabungen auf Veranlassung des damaligen Unter¬
richtsministers Guido Baceelli, eiues gebornen Römers, der schon 1893 bis
1896 Anfänge hatte machen lassen. Eine besondre Kommission, an der auch
Gelehrte von, Deutschen archäologischen Institut teilnahmen, wurde gebildet,
und die Leitung der technischen Arbeiten dem Ingenieur Giacomo Boni über¬
tragen. Die mit Energie und Umsicht unternommnen Grabungen gewährten
bald überraschende Ergebnisse und veränderten das Bild des Forunis in
wesentlichen Zügen. Als ich die denkwürdige Stätte im April 1895 zum
erstenmal sah, gewährte sie noch fast ganz den Anblick, den die Ausgrabungen
bis 1884 geschaffen hatten; bei meiner zweiten Anwesenheit im Oktober 1899
war die Mauer an der Nordseite samt den Häusern darauf verschwunden, an
ihrer Stelle ragten Säulen über mächtigen Fundamenten auf, andre Säulen
erhoben sich vor der Curia Julia, und tiefe Einschnitte hier und dn zeigten,
daß man begonnen hatte, auch die Schichten des Bodens unter dem grauen
Lavapflaster zu untersuchen. Seitdem hat der Abbruch der damals noch
stehenden Kirche Santa Maria Liberatrice am Fuße des Palatinus zu weitern,
bedeutsamen Entdeckungen geführt. Dabei ist G. Boni nach einem wohl¬
überlegten Plane vorgegangen. Er dringt überall in senkrechten Schnitten
bis auf den gewachsenen Boden hinab, oder er benutzt dazu einen der trocknen
Brunnenschächte; dann werden die Horizontalschichten sorgfältig abgetragen,
und die etwaigen Scherben, Terrakotten lind dergleichen gesammelt, ein Block
aber vom gesamten Terrain bleibt unangetastet stehn (II instoän nsZii servi
Are,meo1oAioi, Uuov» ^.ntoloxm 16. Juli 1901).
Es ist nun hier nicht meine Absicht, auf alle die Einzelheiten und die
sich daran knüpfenden Streitfragen einzugehn. Ich möchte vielmehr nur die
wichtigsten Ergebnisse zusammenfassen und die hohe Bedeutung, die sie für
die römische Geschichte haben, kurz beleuchten. Das Material dazu bieten
vor allein die ausführlichen, mit Abbildungen und Plänen vortrefflich aus¬
gestatteten Berichte von G. Boni, G. F. Gamurrini, G. Galli, Lcmciani in
den amtlichen ^vti^is clsM sonvi, im öullötino ÄredsoloAloo oomrmalö 6i
Konnt n. s. f., daneben kürzere zusammenfassende Besprechungen und Bear¬
beitungen einzelner Fragen in deutschen Publikationen (von Chr. Hülsen,
E. Petersen, O. Keller, O. E. Schmidt), vor allem im Archäologischen
Anzeiger des römischen Instituts, in den Jahresheften des österreichischen
archäologischen Instituts, in der Berliner Philologischen Wochenschrift und in
den Jlbcrg-Nichterschen Jahrbüchern für das klassische Altertum. O. Richter
hat danach in einem Anhange zur zweiten Auflage seiner vortrefflichen
„Topographie der Stadt Rom" (im Handbuch der klassischen Altertums¬
wissenschaft von Iwan von Müller, 1901) die Hauptzüge der Entdeckungen,
soweit sie das Altertum betreffen, kurz zusammengefaßt. — Die erste Stelle
des Forums, deren Bild ein ganz neues Ansehen gewonnen hat, ist das
Comitium, der Platz für die OomitiÄ triduo. Er lag um der Nordseite
des Forums, des weit größern Platzes für den Markt- und Gerichtsverkehr,
doch in abweichender, nordsüdlich laufender Achse, die durch die Ostseite
des Lg,ro«r NAinörtiuus bestimmt wird, und stand zu jenem etwa wie in
Siena der großartige halbkreisförmige Campo mit dein Rathause zu dem
dahinter liegenden Mercato, in Venedig die Picizzetta zum Markusplatze.
Seine Lage war bis jetzt unsicher, denn das Comitium ist unter Cäsar voll¬
ständig und zwar absichtlich zerstört worden, um die Erinnerungen an die
Republik möglichst auszulöschen — man begreift auch daraus den Haß der
Republikaner, dem er schließlich zum Opfer fiel —; er verwandte den Platz
zu seinem Forum Julium und für die neue Curia Julia, die er bis an das
eigentliche Forum vorschob. Der darüber südlich bis an den Severusbogen
hin vorspringende Teil des Comitinms wurde zum Forum geschlagen. Diese
Verhältnisse sind erst durch die neuen Ausgrabungen klar geworden. Die
Curia Julia steht noch heute in den Umfassungsmauern der beiden Kirchen
Sand' Adriano und San Luca e Martin», von denen die erste den Sitzungs¬
saal des Senats, die zweite das Archiv (Soorötarium ssrmws) einnimmt; ihre
ursprüngliche Verbindung, das Atrium Ninsivas wurde erst durch die Anlage
der Bin Bonella 1550 zerstört. Jetzt, wo die 9 Meter hohe Schuttschicht
vor der Front von Seine' Adrinuo und das moderne Pflaster am Severus-
bogen beseitigt sind, liegt als oberste Schicht das frühmittelalterliche Lava¬
pflaster, darunter das nach der Curia Julia orientierte kaiserliche Pflaster aus
carrarischem Marmor, unter diesem als dritte Schicht das vorzüglich gefügte
Travertinpflaster der spätern republikanischen Zeit (etwa aus dem zweiten
Jahrhundert) in wesentlich abweichender, nordsüdlicher Orientierung, also in
der Orientierung des republikanischen Comitiums. Vorausgegangen sind
ihm aber noch eine Reihe früherer Pflasterungen oder Beschotterungen,
deren tiefste nach den dabei gefundnen Gcfäßbruchstücken bis ins sechste
und siebente vorchristliche Jahrhundert zurückgehn und bis zu dem ge¬
wachsenen Gestein, dem vulkanischen Tuff, hinunterreicheu. Im ganzen
unterscheidet Boni 23 Schichten und hat dabei bis jetzt 21 meist quadratische
cloliolg. (poWi M^ruM) für die Libationen an die Götter der Unterwelt
gefunden.
Auf der vermutlichen Grenze des alten Comitiums und des Forums ist
nun im Januar 1899 das älteste Baudenkmal, das Rom besitzt, zu Tage
gekommen, der sogenannte I^xis ni»<zr. Etwa 20 Meter vom Severusbogen
östlich stieß man in gleicher Höhe mit dem Marmorpflaster der Kaiserzeit auf
ein unregelmäßiges Viereck aus schwarzen Marmorplatten von Uoro antivo,
das von einer Einfassung aus Tuff umgeben und nach der Curia Julia
orientiert ist. Im Mai desselben Jahres fand man 1,40 Meter unter dem
kaiserlichen Pflaster und dein I^xis nisssr, 0,80 Meter unter dem spätesten
republikanischen Pflaster auf einem weit ältern Bodenbelag ans gestampftem
gelbem Tuff über einer Grube zwei große parallele, oblonge, auf der dem Forum
zugewandten Seite unter sich verbundne Postamente aus gelben Tuffquadern
von je 2,66 Metern Länge und 1,32 Meter Breite, die voneinander 1 Meter
entfernt sind und mit dem freigelassenen Raum, aus dem ein ebenso hohes
Postament von 0,52 zu 0,75 Meter Größe hervorragt, ein Rechteck im ganzen
von 2,66 zu 3,64 Metern, oder wenn das deutlicher ist, ein eckiges, nach
dem Comitinm geöffnetes Hufeisen bilden. Daneben erheben sich östlich auf
einer kleinern dreiseitigen, in zwei Stufen aufsteigenden Plattform ein konischer
Stumpf aus gelbem Tuff und hinter ihm (südlich) ein vierseitiger Pfeiler (Cippus)
aus dunklerm Tuff mit der ältesten lateinischen Inschrift in senkrecht ver¬
laufenden Bustrophedvnzeilen, von denen immer die erste von rechts nach
links, die zweite von links nach rechts und so fort verläuft. Beide sind in
der Höhe von etwa 0,50 Meter abgebrochen. Weitere Ausgrabungen legten
einen größer» rechtwinkligen freien Platz und zwischen diesem und dem
Cippus einen kleinern Platz bloß; das Ganze aber war eingehegt von einer
Qnadermaner, die stellenweise noch vorhanden ist. Über diesen Denkmälern
lagen aufgeschüttete Massen in verschiednen Schichten: zu unterst Asche und
Kvhlenrestc, darüber saudgemischter Kies (breovia «»dbiosg.) vom Ponte Molle,
über diesem wieder eine Schicht aus Erde, Asche und Kohlen, darüber endlich
eine Tnfsschüttnng (mgWioe.enlg. all wto), über der das spätere republikanische
Pflaster liegt.
Das hohe Alter dieser Denkmäler ergiebt sich ohne weiteres aus ihrer
tiefen Lage, ans den in den untersten Schichten der Verschüttung, vor allem
in der tiefsten Kohlen- und Aschcnschicht aufgefundnen Scherben archaischer,
schwarzfiguriger Vasen, deren jüngste etwa aus der Zeit um 550 v. Chr, stammt,
den Brouzefigürchen vou orientalischem Typus, kleinen rohen Terrakotten,
Stücken von kss ruäc, das nach der Tradition erst Servius Tullius dnrch
gestempelte Barren ersetzte, aus dem bei den Postamenten angewandten Maße,
dein altrömisch-medischen Fuß von 0,295 Meter, endlich und nicht um wenigsten
aus dem Charakter der Inschrift, die nach Art und Buchstabeuform nicht
jünger als 500 v. Chr, sein kann, also den letzten Jahrzehnten der Königs¬
zeit oder dem ersten der Republik angehören muß, wenn sie nicht noch älter
ist. Die zweite Frage ist: Wie sind diese Denkmäler in ihren Zustand ver¬
setzt worden? Daß dies absichtlich und in sehr alter Zeit geschehn ist, leuchtet
ohne weiteres ein. Der Kegel und der Cippus sind abgebrochen, das Ganze
ist sorgfältig verschüttet, die tiefste ganz reine, nur mit uralten Scherben und der¬
gleichen gemischte Aschen- und Kohlenschicht rührt augenscheinlich von einen: Opfer
her, das nach der Verschüttung gebracht worden ist. Da es nicht denkbar ist,
daß die gottesfürchtigen Römer der alten Zeit selbst eine ihnen, nach den
Opfcrresten zu urteilen, hochheilige Stätte zerstört haben sollten, so muß ein
auswärtiger Feind die Verwüstung angerichtet haben, und das können nur
die Gallier um 390 gewesen sein, denn außer ihnen hat kein fremdes Heer in
der Zeit des Königtums und der Republik den Boden Roms betreten. Die
Gallier aber haben damals monatelang zerstörend in der Stadt gehaust, sie
haben sie niedergebrannt und auch die Heiligtümer verwüstet, also entweiht,
sodaß der Senat nach ihrem Abzüge den Beschluß faßte: „daß alle Heilig¬
tümer, weil sie der Landesfeind in Besitz genommen habe, wiederhergestellt,
abgegrenzt lind entsühnt würden" (?g,na, omni», quocl hostis xosssäissöt,
rostiworentur, törnunarontm-, vxxiarvnwr. I.lo. V, 50). Haben wir hier ein
Heiligtum vor uns, das die Gallier zerstörten, so ist es damals zwar nicht
wiederhergestellt, aber durch ein Opfer entsühnt worden, dessen Reste die unterste
Verschüttungsschicht bilden. Darüber hat man dann das schwarze Marmor¬
pflaster, den I^xis nigsr, gelegt, von dessen sin Rom sehr seltnen?) Gestein sich
Splitter in den obern Verschüttnngsschichten finden, natürlich in der Höhe
des damaligen, nicht des kaiserlichen Pflasters.
Aber wem hat nun dieses uralte Heiligtum, das seit etwa 390 nnter dem
I^xis ni^ör den Blicken entzogen lag, angehört? Die Zeitgenossen des
Augustus, die also auch nur den I^rpis mMr sahen, nicht die darunter ver¬
borgnen Denkmäler, hielten die Stätte für das Grab des Romulus oder seines
Pflegevaters Faustulus. In der 16. Epode ans dem Jahre 41 v. Chr., also
aus der Zeit, wo der Bürgerkrieg neu entbrannte, sieht Horaz, wenn diese
Selbstvernichtung des weltbeherrschenden Volks so weiter gehe, bekümmert
voraus, wie der Feind abermals Rom betreten, und wie er sogar „die Gebeine
des Quirinus (Romulus), die Wind und Sonne nicht berührten und niemand
sehen dürfe, übermütig zerstreuen" würde flZxact. 16, 13 f.: (juitscino «MLut
vvntis vt 8olibu8 088g, Huimn (nölÄ8 viclvrö), al88ipiMt, in8v1on8j. Die
Stelle war also damals allbekannt und galt als hochheilig, Sie war ferner
nach Verrius Flacms, der nnter Tiberius starb (bei Festus S. 177), dnrch
einen Mg'or lapig in <üvwitio als loous lunösws bezeichnet, galt aber auch
als Grab des Faustulus oder gar des Hostus Hostilius, dessen Enkel der
dritte König Roms Tullus Hostilius n>ar, und der Grieche Dionysios von Hali-
karnassos weiß in derselben Zeit zu berichten (111. 1, 1, 87), daß Hostus
Hostilius oder Faustulus an dein wichtigsten Orte des Forums bei der Redner-
bühne bestattet nud einer lobenden Inschrift gewürdigt worden sei, meint also
offenbar dieselbe Stätte. Diese Angaben vervollständigt der gelehrte Antiquar
M, Terentius Varro (1- 28 v. Chr.) durch die weitern Nachrichten, Romulus
sei in rostris oder xrc> roLtris bestattet worden, und zur Erinnerung seien zwei
Löwen dort angebracht gewesen (beim Scholiasten zu Horazens Ep. 16, 13f.).
Faßt man das alles zusammen, so ergiebt sich mit großer Wahrscheinlichkeit
folgendes: das aufgedeckte Heiligtum enthielt das Grab des mythischen Romulus,
war also ein Hervor des Stadtgründers nud lag als solches auf dem
Markte, wie z. B. das deS Theseus in Athen. Die beiden seitlichen Postamente
trugen wohl die Löwen, die ja oft genug als schützende Symbole Denkmäler
und Gräber bezeichneten, wie das Löwenthor in Mykenä, das Massengrab der
bei Chairvneia 338 gefallnen Thebaner, das Grab des Mausollvs n. n. in., das
Ganze war aber kein eigentliches Grab, fondern nach einer Deutung des Herrn
Prof. Franz Stndniezka in Leipzig ein Altar mit Opfergrnbe, wie sich deren in
Griechenland und Italien in unterweltlichen Kulten nachweisen lassen.") Dagegen
Herr Prof. Studniczka war so freundlich, mir eine Aufzeichnung darüber zur Ver¬
fügung zu stellen, indem er sich ausführliche Begründung vorbehält.
„Das; das Feld aus lapis Mg'in- in dem wahrscheinlich cäsnrischen Pflaster des Comi-
tiums das vermeintliche Romulusgrnb überdeckte, kann schwerlich noch bezweifelt werden. Und
daß an dieser Stelle spätestens vom sechsten Jahrhundert an ein dauernder Kultus stattfand, beweist
die von Scwignoni analysierte »t-ip« votiva (Opfcrschutt). Das architektonische Hauptdenkmal
dieses Kultusplatzes bilden nun die beiden »Postamente«, von denen, auf gemeinsamer Schwelle,
große Teile des charakteristisch altitalischen, von Basen und Altären her bekannten Profils, eines
schiveren lesbischen Kymas sDoppelwellenlcistej, übrig sind. Wohl möglich, das; die entsprechenden
Oberstücke dieser zwei »Basen« einst die beiden von Vnrro erwähnten Löwen trugen, wie wir
sie auf Grabdenkmälern wiederfinden. Aber aus dieser ihrer Funktion erklärt sich nicht die
ganze Form des Monuments. Die beiden Teile sind hinten durch eine dünne Querwand zu
einem »Hufeisen« verbunden, und das so umfaßte Rechteck ist, von der Vorderschwelle abgesehen,
nicht gepflastert, sondern besteht tief hinab aus schwarzer, wie Herr Boni mir sagt, nschenhal-
tiger Erde. Es wird eine Art seitlich zugänglicher Opfergrube gewesen sein, die sich zu den
gewöhnlichen, besonders aus den Kabirentempcln bekannten Opfergruben ähnlich verhielt wie
ein Kammergrab zu einem Schachtgrabc. Der vorn lose hingelegte flache Stein mag zum
Schlachten der Opfertiere gedient haben. Das ganze Denkmal wäre somit ein chthonischer Altar,
nach Art des von Pausanius 8, is,5 beschriebnen »Huakinthosgrabes« in Amyklä, nur daß
dort die zum ^«^««v sTotenopfer bringens dienende Öffnung uicht offen blieb, sondern
durch eine Bronzethür verschlossen werden konnte. Solche Thüraltäre sind auf römischen
Münzen und auf italischen Vasen dargestellt. Eine der unsrigen sehr genau entsprechende, nur
kleinere Anlage vor einem cyprischen Tcmenos hat Ohnefalsch-Richter ohne weiteres als Altar
aufgefaßt (Kupros, Tafel 4, 1). Auch das vermeintliche Grab vor der Thür des alten Tempels
auf dem Mrrun tiiauZMars zu Pompeji möchte wenigstens ursprünglich ein solcher Altar
gewesen sein. Die Analogie des »Hyatinthosgrabes« mit den, »Romulusgrnbe« wäre be
war der konische Stumpf ein Schmuck des Grabes uach etruskischer Art (wie z. B,
das uralte Grabmal an der Via Appin zwischen Albano und Arieeia solche
konische Spitzsüuleu trügt). Die Inschrift des Cippus enthielt irgendwelche,
sich auf die heilige Stätte beziehende Bestimmungen. Die Inschrift kann mit
ziemlicher Sicherheit gelesen werden, ist aber bis jetzt noch nicht wirklich ge¬
deutet worden, da ein großer Teil, vielleicht zwei Drittel, fehlt und so nur
Satzbrnchstücke vorhanden sind. Fest stehn ihrer Bedeutung nach nur einzelne
Wörter: quoi-cM, sg.taro8-8g.e6r, esecl-erit, Lorg.(no), reeei-re^el-reZl, Icalg.-
dorein, iouxmeutg-luwsntÄ, cheval-esto. Danach betraf die Inschrift priester¬
liche Funktionen des rex oder des rex sgerikeioruni, also des republikanischen
Oberpriesters, bei denen sein „Rufer" (Kg.1a.or) und ein Gespann oder Großvieh im
allgemeinen (iuwevtg) beteiligt waren. Vielleicht enthielt danach die Inschrift im
ersten Teile eine Verfluchung gegen Schänder des Grabmals, im zweiten irgend
welche Vorschriften für den rsx. Ganz in der Nähe lag die älteste Rednerbühne.
Gegen ihre Identifizierung mit der Löwenplattform spricht zwar nicht die vom
Comitium etwas abweichende Orientierung, da z. B. auch die kaiserliche»: roslrg.
nicht genau nach dem Forum orientiert sind, wohl aber die wahrscheinliche
Deutung der Anlage als Opfernltar. Die Gallier beschädigten das Heiligtum so,
daß es nicht wieder hergestellt, sondern durch ein Opfer entsühnt und dann ver¬
schüttet wurde; die Erinnerung daran bewahrte aber der I-axi« niger, der die
Stelle als loeuirc tunöswni, als einen Ort der Trauer bezeichnete. Mit der
spätern Hebung des Pflasters wurde auch er natürlich gehoben; daß aber das
zum erstenmal unter Maxentius, also im Anfange des vierten Jahrhunderts ge¬
schehn sein sollte, ist unwahrscheinlich, wenn auch die nachlässige Arbeit des
schwarzen Marmorpflasters, wie es jetzt liegt, auf eine späte Zeit deutet.")
Nicht nur das Altertum, sondern auch die altchristliche Zeit beleuchten
die Ausgrabungen vor Seine' Adricmo. Nachdem die Curia Julia nochmals
im Jahre 412 vom Stadtpräfekten Epiphanius, also unter Kaiser Honorius
restauriert worden war, verwandelte Papst Honorius I. (625 bis 638) den
Sitzungssaal des Senats in die Kirche Sank' Adricmo. Da das Niveau des
Bodens davor schon damals durch Schutt erhöht wordeu war, so mußte auch
über dem alten Eingange in die Curie, zu den: eine Freitreppe von sechs bis acht
Stufen führte, ein neuer, drei Meter höher liegender, in die Kirche gebrochen
werden. Die unmittelbare Umgebung wurde als Begräbnisstätte benützt, dabei
sogar in den untersten Teil der Ziegelmauern der Curie eine Anzahl Be¬
gräbnisnischen (loco.1t) ganz in der Art der Katakomben hineingearbeitet, die
ebenfalls bei der Abrüumuug der Schneemassen zu Tage gekommen sind, so
gut wie der alte, mit Bruchstücken aller Art vermauerte Eingang in die Curie.
Weitere Ausgrabungen auf der Nordseite des Forums nach dem Fcmstina-
tempel hin wurden erst dadurch möglich, dnß ein Engländer Mr. Philipps
die ganze dort stehende Häuserreihe ankaufte und sie der italienischen Regierung
zur Verfügung stellte. Bei dem Abbruch dieser Häuser und der vor ihnen
liegenden Stützmauer faud man ansehnliche Reste der hier schon ver¬
muteten Basilica Ämilia, als deren Erbauer jetzt durch Jnschriftenfragmente
L. Anilins Paullus, der Sieger von Phdna 168, gesichert ist. Es war
nach dem Forum zu eine großartige, 85 Meter lange Halle von 16 Marmor¬
pfeilern mit vorgelegten Halbsäulen und dorischem Gebälk auf Travertiu-
fnndamenten, doch von geringer Tiefe, Denn nur 15 Meter von der Front
entfernt kunst ihr parallel eine Mauer aus großen Tuffquadern, von der aus recht¬
winklig nach deu Pfeilern zu 7 Meter lange Qnermcmern gehn. Die dadurch
gebildete» Abteilungen waren jedenfalls Tabernen (Läden), denn die Basilica
trat an die Stelle der I'g.dörrmo iwvacz. Hinter der Tuffiunuer liegt eine
Ziegelmnner, von deren altem Marmorbelag noch Reste vorhanden sind; sie
schloß den innern Hauptraum der Basilica an der südlicheu Langseite ab.
Sicher war dieser Smal durch parallele Sünlenstelluugen in der üblichen
Weise gegliedert und reichte vermutlich bis zum spätern Forum des Nerva,
aber er ist nur zum kleinsten Teil aufgedeckt. Belege war der Boden mit
bunten Marmorpaviment. In ihrer Gesamtausdehnung, 85 zu 30 Meter, erreichte
die Basilica Ämilia annähernd die Dimensionen des Mittelschiffs der
Trajanischen Basilica Ulpia. Sie ist bis tief in die Kaiserzeit hinein mehr¬
fach umgebaut worden, und vielleicht gehört ciueiu solchen Umbau die in der
Basilica aufgefundne prächtige, große Inschrift an, die der Senat dem Enkel
des Augustus L. Cäsar im Jahre 1 v. Chr. setzte, als er xrinosxs wvcmwtis
(Führer der Ritterschaft) geworden und zum Konsul designiert worden war
im August des Jahres 2 n. Chr.). Dabei wurden, vielleicht erst im vierten
Jahrhundert, die 16 Pfeiler der Front durch 23 Säulen ersetzt, von denen
noch einzelne gefunden und wiederaufgerichtet worden sind. In byzantinischer
Zeit nistete sich in den Tabernen der Basilica ein vornehmes Privathnus
ein; die erhaltnen Zimmer haben Pavimente aus Giallo mutico, Serpentin
und Porphyr in einfachen Mustern mich der Art sehr alter römischer Kirche»,
wie Santa Prnssede und Santa Maria in Cosmedia.
Östlich vom Faustiuatempel, dessen Unterban ebenfalls von dem hohen
Schutt befreit worden ist, hat man 2 Meter unter dem späten Lavapflaster
ein langes Stück der Liiera on, der ältesten Straße Roms, aufgedeckt. Sie
ist nur 5 Meter breit, vorzüglich gepflastert und biegt etwa vor der Mitte
der Konstantinsbasilicn nach Süden um, bis sie unter späteren, erhöhtem
Pflaster verschwindet. Da sie aus dem Eude der Republik oder aus der
frühsten Kaiserzeit stammt, so dürfen wir annehmen, daß hier auf diesem Pflaster
Horaz nösvio «mie! inöäita,l>8 nuZÄiuin, totus in Mi« einherschlenderte, als der
geschwätzige Streber ihn überfiel und bis über das Vestaheiligtum hinaus an ihm
h äugen blieb. Später, wahrscheinlich unter Hadrian wurde dieser Straßenzug
verschüttet, und die Straße in gerader Richtung auf die Achse des hadrianischcn
Tempels der Venus und Roma zu geführt, wovon noch zwei das ältere
Pflaster schneidende Substruktionen mis Gußwerk zeugen, die diese Linie
verfolgen. Reste von Privathäusern zu beiden Seiten des alten Zuges er¬
innern daran, daß die 8g.org via, vom Ostende des Forums aus nach der
Velia hinauf die wichtigste Geschäftsstraße Roms gewesen ist.
Zwischen der Laers. pig. und der Südwestecke des Fnnstinatempels ist am
2. April dieses Jahres ein hochaltertiimlichcs Grad, wahrscheinlich nur der
Nest einer größern Begräbnisstätte, in die später die Fundamente des Tempels
eingesetzt wurden, aufgedeckt worden. Es liegt 4 Meter unter dem. Pflaster
der Zgorg pig, hat die Form eines sogenannten Bruunengrabes (loro.bg g xcWv,
xoWötto) und ist an den Wänden mit rohen Tuffstücken bekleidet. Auf dem
Grunde steht ein großes, rundes Gefäß (clolioluin), aus dunkelgrauem, schwärz¬
lichem Thon mit der Hand geformt und nachträglich außen geglättet, 0,43 Meter
hoch und im größten Durchmesser 0,53 Meter weit, mit einem gewölbten
Deckel verschlossen. In dieses Gefäß ist ein kleines von bauchiger Form und
von derselben Arbeit wie das große eingesetzt, das von einem ein Hausdach
nachahmenden Deckel bedeckt ist, also die Form einer ladinischen Hausurne
(urng ogpgmrg) hat. Es enthält die Neste des Leichenbrcmdcs mit Stücken
des Schädels und den Zähnen. Ringsum stehn sieben Gefäße von verschiedner
Form, aber derselben Art. Da alle diese Gefäße genau denen in den ältesten
ladinischen Gräbern des Albanergebirgcs, von Velletri nud Ardea, sowie denen
der estruskischen Gräber in Cäre-Tarquinii entsprechen, und mit ihnen kein
Stück Metall, nicht einmal von «.es ruäo, gefunden worden ist, so gehört das
Grab der allerältesten Zeit Roms an. Dasselbe ergiebt sich aus feiner Lage
auf der Flüche des spätern Forums; denn da diese schon in die Ummauerungs-
linie der sogenannten Vierregiouenstadt eingezogen wurde, also noch vor der
Servimnschen Befestigung mitten in der Stadt lag, so konnte sie von dieser
Zeit an nicht mehr als Begräbnisstätte benutzt werden, das Grab gehört also
mindestens dem siebenten, wenn nicht dein achten vorchristlichen Jahrhundert
an. Wie mir Herr G. Boni liebenswürdigerweise brieflich mitteilte, hofft er
noch andre Gräber in der Nähe zu finden (vgl. >>!>r»l>lxü. I,g. tombg.
voeu8ti88ling. 8ooportg ne.1 loro romg.no in der Uuovg. ^ntoloAig. vom 16. April
dieses Jahres S. 709 ff.).
An die Lg.org. pig. stieß mit ihrer Nordseite die Regia, das Amtshaus des
l^me-itex ingxinrus, das die östliche Schmalseite des Forums abschloß. Sie
besteht aus zwei Teilen. Im Süden liegt das Gebäude selbst, ein Rechteck
von 22 Metern Länge und 7 Metern Breite, das in drei Räume von ver¬
schiedner Größe zerfällt und im Westen einen kleinen Anbau hat, nach einer
dort gefundnen Inschrift die LolMg. (Amtslokal) der Kg.1g.ore8 xontiLourv se
llgininnm. Das ältere Mauerwerk dieses Baues besteht aus Tuff und stammt
aus republikanischer Zeit, darüber liegt der solide Marmorquadcrbau des
?cmtilox eng.ximu8 Cil. Domitius Ccilvinus aus dem Jahre 36 v. Chr.,
an dessen Außenseite die Namen der eponymen Beamten eingegraben waren.
Im Norden grenzte daran ein offner Hof mit mehreren Brunnen und einer
Zisterne; an dessen Nordseite liefen drei Stufen längs der Lsorg. pig. hin mit
Resten von Cipollinosänlen, die indes vielleicht erst einem mittelalterlichen
Bau angehörten.
Da der Oberpriester zu dem Dienste der Vesta in den engsten Beziehungen
stand, so lag dicht bei der Regia nach dem Palatinus zu das Heiligtum der
Vesta, eines der ältesten der Stadt, in seiner kreisrunden Form das
Abbild des liritalischen Hauses, der Nvhrhütte, wie sie noch heute in der
Campagna Hirten und Köhler errichten, und wie sie das Pantheon in der höchsten
künstlerischen Ausgestaltung dargestellt hat. Das freilich, was heute noch
von der ^.sass V«zö<Ä<z übrig ist, gehört meist einer ziemlich späten Zeit an.
Der kreisrunde Unterban von 15,05 Metern Durchmesser ist in den gewachsenen
Boden, den sandigen gelblichen Thon, über dein der Körnertufs als höhere
Schicht gelagert ist, eingeschnitten und besteht aus Gußwerk von rötlichen
Tuff, Darauf ruhn zwei Schichten wohl aus republikanischer Zeit von dem
etwas geringern Durchmesser von 14,8 Metern --^ 50 römischen Fuß. Die
untere und ältere besteht aus Gußwerk, das mit Tuff verkleidet ist, die zweite
obere aus Tuffblöcken, die mit Marmor bedeckt sind; an der Ostseite sind diese
Marmorauadern als Stufe» gestaltet. Durch alle diese Schichten hindurch geht
bis auf den Thonboden ein Schacht von unregelmäßig viereckigem Grundriß,
über dem wahrscheinlich das heilige Feuer brannte, damit es von dein
mütterlichen Boden durch kein Menschenwerk getrennt sei. Ans diesem Unter¬
bau erhebt sich die Ruudmauer der Cella aus Gußwerk, die in der Höhe
von 1,40 abgebrochen ist. Umgeben war die Cella von zwanzig korinthischen
Marmorsäulen, bedeckt in der Mitte mit einer offnen Kuppel, der Umgang
mit einer Marmordecke. Von diesen Architekturteilen sind noch ansehnliche
Reste gefunden worden. Dieser ganze prächtige Oberbau gehört der letzten
Restauration des Vestaheiligtums nach dein verheerenden Brande von 191
n. Chr. an, die die Gemahlin des Septimius Severus Julia Donna
nach dem Zeugnisse ihrer Münzen unternahm. Auch die jetzt wieder aus deu
Trümmern aufgerichtete zierliche Äöäivnlg. Vssws für das ursprünglich gar
nicht vorhandne Bild der Göttin, die nur in ihrem Sinnbild, dem lodernden
Feuer, verehrt wurde, östlich vom Rundbau, stammt erst aus dem zweiten
nachchristlichen Jahrhundert. Während sonnt die erhaltnen Reste des Heilig¬
tums nicht so sehr alt sind, reichen die Reste der Opfer, die auf der Südwest-
und der Nordseite des Unterbaus aufgehäuft liegen, bis ins sechste und
siebente Jahrhundert v. Chr. zurück. Denn unter den Aschen- und Knochen-
Überbleibseln von Opfertieren fanden sich dort etwa hundert Stück von -of
ruäs und Scherbe» von sogenannten prototorinthischen, altattischen schwarz-
figurigen wie rotfigurigen Vasen strengen Stils, endlich von italischen Ge¬
fäßen aus dem vierten und dem dritten Jahrhundert, dazu Thonkrüge, Kelche
und Statuetten aus Terrakotta.
Wie und wann das Heiligtum zerstört worden ist, läßt sich nicht sagen.
Wie bei andern Tempeln wurden seine Güter 382 eingezogen, und 394 wurde
die Knltstütte geschlossen. Im Mittelalter galt sie als der Sitz eines menschen¬
fressenden Drachen, den Bischof Silvester, der Zeitgenosse Konstantins des
Großen, gebändigt habe, offenbar ein Symbol des überwundnen Heidentums,
wie anch sonst antike Denkmäler christlich umgedeutet wurden, z- B. der
I,g.<zu8 Qurrii ans dein Forum als der Eingang in die Hölle galt und des-
halb am Forum, dicht beim Vestatempel, in sehr früher Zeit angeblich unter
demselben Silvester der Maria als Befreierin von den Höllenstrafen eine
Kirche, Santa Maria Liberatriee, erbaut wurde. Noch gegen Ende des zwölften
Jahrhunderts erwähne» die Nirsbili«, urdi3 Koma« das Heiligtum.
Dicht neben dem heiligen Feuer quoll das heilbringende Wasser aus dem
?omz ^liturrui-ö, denn beide gehörten als die unentbehrlichsten Bedürfnisse des
menschlichen Lebens zusammen, und jemand von Wasser und Feuer aus¬
schließen, g.Hug.<z se lArii iirterciiLörv, hieß ihn aus der Heimat schutzlos in
die feindliche Fremde hinausstoßen. Erst der Abbruch der Santa Maria
Liberatriee seit Ende 1899 hat im Juli 1900 dieses ewlfalls uralte Heilig¬
tum der Juturna (d. i. Diuturua) an den Tag gebracht, deren Dienst aus
dem Gebiete von Lavinium am Albanergebirge nach Nom verlegt worden
war. Zwischen der schräg zu seiner Hauptachse verlaufenden, ans Gewölbe sich
stützenden antiken Rampe, die vom Vestatempel nach dem Palaste führte, lind
der östlichen Langseite des Dioskurentempels nimmt es einen verhältnis¬
mäßig großen Raum ein, der etwa 30 Meter in der Länge und 20 Meter
durchschnittlich in der Breite mißt. Hier quillt seit der Urzeit die Ju¬
turna aus der wasserreichen Kiesschicht nnter dein Thon und dem Tuff
hervor, eine von den zahlreichen Quellen, auf die Rom vor der Er¬
bauung der ersten künstlichen Wasserleitung 312 v. Chr. durchweg au¬
gewiesen war. Sie bildete in einer Senkung des Bodens ein natürliches
Becken (ig,(M8) und galt als besonders heilkräftig, sodaß Varro den Namen
fälschlich von ^juvark (helfen) ableitete; an diesem Becken erschienen, wie die
Sage berichtete, nach der Schlacht am Negillersee 496 die Dioskuren, um
ihre Rosse und Waffen zu reinigen, zugleich als göttliche Boten des Sieges.
Später wurden auch andre Heilgötter, namentlich Äskulap, Apollo und
Diana hier verehrt, und das Heiligtum diente, wie das weit berühmtere des
Asklepios in Epidauros, als Kurort.
Die ganze Anlage, wie sie wenigstens in der spätern Zeit war, besteht
aus mehreren Teilen. Ganz an der südlichen Schmalseite erhebt sich die
kwäieula der Juturna, ein kleines Tempelchen ähnlich der itsckieula, Veswo,
im Grundriß nur 2,30 zu 2,80 Meter groß mit Pronaos und gewölbter
Nische für das Standbild im Hintergründe der Cella. Die Wände bestehn ans
Ziegeln, die Grundmauer aus Gußwerk, die Eingangswand ans Netzmauerwerk
(opu8 rötioulawiQ) des ersten Jahrhunderts u. Chr., die architektonisch-künstlerischen
Teile und das Paviment aus weißem Marmor. Eine Bronzeinschrift auf
dem Epistyl, von der noch die Einschnitte für die Buchstaben übrig sind:
^uturruti 3., meldet die Bestimmung des kleinen Baus. Davor erhebt sich ein
Brnnneneylinder (xutvÄ, xoMv), 0,636 Meter hoch, aus weißem Marmor, den
nach der Inschrift U. Larbatius ?vitio ac-ä. cur. der Juturna im ersten
Jahrhundert n. Chr. wieder herstellte. Im Brunnen steht das Wasser noch
1,25 Meter über dem Boden. Für die starke Benutzung im Altertum zeugen
die abgctretnen Marmorplatten davor, die Spuren der Seile auf dem
Rande des xutgg,!, ans dem die Vestalinnen das Wasser holten, und eine
Menge Scherben von Amphoren im Brunnenschacht, Erst im zweiten oder
dritten Jahrhundert n. Chr. ist davor ein Altar gesetzt worden, dessen Relief
wahrscheinlich den Abschied des Turnus von Juturna (Vergil. ^su. 12, 139 ff.)
darstellt. Weiter nördlich liegt tiefer der 1in?u8 ^uturims, 8 Meter vom
Castortempel entfernt und uach ihm orientiert, ein rechteckiges Becken von
5,13 zu 5,04 Metern Fläche und 2,12 Metern Tiefe. In der Mitte ragt eine
Art von Insel derselben Gestalt empor. Die Wände sind durchweg mit
carrarischem Marmor bekleidet; doch zeigt das republikanische Tuffpflaster
darunter, daß das Becken ursprünglich tiefer lag und erst allmählich der
Grund nufgehöht worden ist. Nach dem xuts^l führte eine Bleiröhrc. Auf
dem Grunde des l-ums quillt das Wasser an zwei Stellen herauf und füllt
ihn ungefähr 1 Meter hoch, sodaß der Spiegel mit dem Wasserspiegel im
Brunnen gleich hoch steht. Ein kleineres trocknes Becken, mit Tuff bekleidet,
liegt zwischen beiden. 80 vollständig erhaltene Thvukrüge, zahlreiche Scherben
aus dem ersten bis fünften Jahrhundert, kleine Gerätschaften aus Eisen und
Bronze, die sich in dem iaous fanden, beweisen die fleißige Benutzung.
Wahrscheinlich auf der Insel des Ig-vus ^uwru^e stand eine Dioskureu-
gruppe, ein griechisches Originalwerk aus der ersten Hälfte des fünften
Jahrhunderts v. Chr., dessen sehr ansehnliche Neste ebenfalls aus dem Becken
zu Tage kamen. Eine andre Marmorstatue, ein Äskulap, bis ans den
Kopf und den rechten Arm wohlerhciltcn, wurde umgestürzt in einem Gewölbe
an der Mauer der Rampe vor der Nische, wo er gestanden haben wird, ge¬
funden, in demselben Raume der archaistische Torso eines Apollo, an andern
Stellen eine Büste des Jupiter-Serapis, der Rumpf einer ephesischen Diana
und andres mehr, dazu ein Marmoraltar ans der ersten Kaiserzeit mit Flach¬
reliefs auf allen vier Seiten (Jupiter, Lebu mit dem Schwan, die Dioskuren
und Diana mit der Fackel), zahlreiche Gerätschaften und eine Inschrift aus
dem ersten Jahrhundert der Kniscrzeit, die die Cvlonia Julia Uthiua einem
Kaiser für irgend eine Wohlthat hier gewidmet hat. Mehrere Inschriften
aus der Zeit Konstantins des Großen zeigen, daß damals hier eine statio
iMis-rum, zur Überwachung der Quelle unter dem Lurg-Wr acirmrum (erst Ver-
senus Fortunatus, dann Q. Flavius Musius Egnatius Lollianns) als dem
Oberaufseher der Wasserwerke lag.
So läßt sich die Geschichte des Heiligtums von den ältesten Zeiten der
Stadt bis zu der Zeit verfolgen, wo das siegreiche Christentum den Ver-
nichtttngskampf gegen das antike Heidentum begaun. Ihm ist auch das
WorArwui .luturuiuz zum Opfer gefallen, denn die vielverehrte und viel¬
besuchte Stätte heilender Götter galt den Christen offenbar als ein besonders
gefährlicher Sitz der Dämonen. Es ist deshalb vermutlich im fünften Jahrhundert
sicherlich gewaltsam und mit Absicht zerstört worden. Die Statuen wurden
umgeworfen und zerschlagen, zum Teil in den I^g-vus ^uturns.6 geworfen — die
Gruppe der Dioskuren trägt deutliche Spuren von Hammerschlngen —, dieser
selbst teilweise in eine öffentliche Latrine verwandelt, zu der eine mittelalter¬
liche Treppe hinabführt, und aus der nach der Aufdeckung eine 2 Meter hohe
Schicht schwarzen Kotes herausgeschafft werden mußte. Durch diese jahr¬
hundertelange Verunreinigung ist das Wasser der Quelle ungenießbar ge-
worden. Über dem verwüsteten und verschütteten Heiligtum erhob sich wie
triumphierend die Kirche Santa Maria Liberatriee, die ursprünglich San
Salvatore in lam hieß, also in ihrem Namen noch eine Erinnerung an
die Heilquelle der Juturna bewahrte; daneben entstand eine christliche Be¬
gräbnisstätte.
Wie der Abbruch dieser Kirche die Juturna bloßlegte, so hat er auch zur
Aufdeckung eines längst gesuchten altchristlichen Heiligtums Veranlassung
gegeben, der Santa Maria antigua. Sie ist wahrscheinlich im sechsten Jahr¬
hundert hinter der Juturna zwischen dem westlichen Abhänge des Palcitinus
und der riesigen, jetzt ebenfalls völlig aufgedeckten Ruine des sogenannten
Templum Augusti in einen Teil der alten Kaiserpaläste eingebaut worden und
war die älteste Hauskapelle der Päpste. Denn unter byzantinischer Herrschaft
residierten diese gewöhnlich auf dem Palatin, also nnter der unmittelbaren Auf¬
sicht der byzantinischen Exarchen und Dunes, die bis ins achte Jahrhundert hinein
einen Teil der Kaiserpaläste bewohnten. Noch Plato, der Bater des Bischofs
Johannes VII. (705 bis 707), ein Grieche, stellte deshalb die Aufgnngsrampe
vom Forum nach dem Palatin wieder her, wie seine Grabschrift in Sand'
Anastasia rühmt; sein Sohn, eben jener Papst, richtete darüber das Vischofs-
haus (IZpi800pwiu) ein, also im Palaste des Tiberius und Caligula auf der
Nordwestecke des Palatinus. Die Kirche selbst, ein bescheidner Bau nur
von etwa 35 Metern Gesamtlänge nud 12 Metern Breite, also in der That
nur eine Kapelle, ist so in das antike Mauerwerk eingebaut, daß dessen erster
(nördlicher) Raum als Vorhof diente; der zweite bildete die eigentliche Kirche,
einen Raum von nur 12 Metern Länge und kaum 9 Metern Breite, der durch
je drei Säulen in drei Schiffe abgeteilt wurde; dahinter liegt die halbrunde
Apsis mit Nebenräumen. Den Namen Santa Marin antiqua hat sie natür¬
lich erst erhalten, als die beiden seit dem siebenten Jahrhundert in die Ruinen
des nähen Tempels der Venus und Nomn eingebauten Kirchen unter
Nikolaus I. um 860 zu einer Kirche vereinigt wurden, die nun Santa Maria
nuova hieß (erst seit den? fünfzehnten Jahrhundert Santa Francesca Romcma).
An der Ausschmückung ihrer Hauskapelle mit Mosaiken und Fresken arbeiteten
die Päpste fast zwei Jahrhunderte laug. Johann VII. (705 bis 707) begann
sie, noch Nikolaus I. (858 bis 807) fuhr damit fort. Unter den wohl-
erhaltnen Fresken ist besonders eine Kreuzigung aus der Zeit des Papstes
Zacharias (741 bis 752), desselben, der zuerst mit den Frankenkönigen anknüpfte,
merkwürdig. Mehrere Sarkophage zeigen, daß die Kirche auch als Begräbnis¬
stätte ansehnlicher Leute gedient hat. Zu Grunde gegangen ist sie wohl mit
den Kaiserpalüsten des Palatins, die seit dem achten Jahrhundert verödeten und
zerfielen. Jetzt hat man die Säulen wieder ausgerichtet, die zerbrochnen
Sarkophage zusammengesetzt und Vorkehrungen zum Schutze der Wandgemälde
und Mosaiken getroffen.
So hat der Spaten auf diesem in so einziger Weise historischen Boden,
über den nun eine Geschichte von reichlich zweieinhalb Jahrtausenden hinweg-
gezogen ist, eine Reihe der merkwürdigsten Entdeckungen vermittelt, und die
italienische Archäologie, die, der deutschen ebenbürtig geworden, sie leitet, hat
sich zugleich das Verdienst erworben, die Funde aufs sorgfältigste aufzunehmen.
Was nicht an Ort und Stelle bleiben kann, also namentlich plastische Neste,
Terrakotten, Gefäße und dergleichen, wird zu einem besondern Forumsmuseum
in Santa Francesca Romnna vereinigt. Säulen und andre Architekturteile,
auch Statuen, wenn sie leidlich erhalten sind, werden am Fundorte möglichst
wieder aufgerichtet. Die Italiener befriedigen damit auch ein ästhetisches
Bedürfnis, wie ihre Vorfahren in der Renaissance; die deutschen Archäologen
sind damit nicht immer zufrieden, weil diese Restaurationen der vollen
Zuverlässigkeit zuweilen entbehren mögen. Aber dieses Verfahren ist doch
schließlich vernünftiger, als wenn man die Trümmer etwa in einem Museum
aufstapeln und dadurch aus ihrem natürlichen Zusammenhange reißen wollte.
Auch in der Würdigung der Ergebnisse sind Deutsche und Italiener hier
und da auseinandergegangen. Wenn Professor Luigi Ceei in Rom behauptet,
daß die Entdeckung (des Niger Lapis) sicher das Vertrauen auf das Wort
Niebuhrs und Mvmmsens abschwächen und die Hoffnung der wenigen, die
noch all die Autorität des Livius und an die historische Grundlage der
Tradition glauben, verstörten wird, so ist das im ersten Teile zuviel gesagt,
aber in der zweiten Hälfte nicht unrichtig. Denn die „Wissenschaft des
Spatens," die Mhkenä und Troja aus dein schwankenden Nebel der Sage
in das helle Licht der Wirklichkeit versetzt hat, sie hat jetzt auch den Beweis
erbracht, daß die Alllage des Forums und des Comitinins, also die Er¬
weiterung der Stadt über den Palatin hinaus wirklich bis in die frühere
Königszeit zurückreicht, und sie mahnt zur Vorsicht auch gegenüber andern
Nachrichten der litterarischen Tradition.
le Frage nach den religiösen Überzeugungen und der Auffassung
des Übersinnlichen bei einem Manne von solcher Geistesgröße
und universalen Begabung und dabei von so ausgeprägter selb-
stüudiger Art, wie Goethe, gehört zweifellos zu den interessan¬
testen psychologischen Problemen, die es geben kann. Denn es liegt
auf der Hand, daß die Vorstellung, die sich ein so hoher Genius vom Göttlichen
gemacht hat, mit den landläufigen platten Anschauungen nichts zu thun haben
kann, souderu etwas besondres ausweisen muß. In der That sagt Goethe
selbst hierüber (Gespräch mit Eckermann am 4. Januar 1824): „Ich glaubte an
Gott und die Natur und an den Sieg des Edeln über das Schlechte; aber
das war den frommen Seelen nicht genug, ich sollte auch glauben, daß Drei
Eins sei und Eins Drei: das aber widerstrebte dem Wahrheitsgefühl meiner
Seele; auch sah ich nicht ein, daß mir damit nur im mindesten wäre geholfen
gewesen." Ein solcher Protest gegen jede kleinliche und beschränkte Auffassung
des religiösen Problems macht sich auch im nachfolgenden Goethischen Satz
geltend: „Wir geben allen Fanatikern zu bedenken, ob es dem höchsten Wesen
anständig sei, jede Vorstellungsart von ihm, dem Menschen und dessen Ver¬
hältnis zu ihm zur Sache Gottes zu machen und darum mit Verfolguugs-
geiste zu behaupten, daß das, was Gott von uns als gut und böse angesehen
haben will, auch vor ihm gut und böse sei, oder ob das, was in zwei Farben
für unser Auge gebrochen wird, nicht in einen Lichtstrahl für ihn zurückfließen
könne!" Treffend bemerkt deshalb Eckermann über das Verhältnis Goethes zur
Religion (28. Februar 1831): „Widersacher haben ihn oft beschuldigt, er habe
keinen Glauben. Er hatte aber bloß den ihrigen nicht, weil er ihm zu klein
war. Wollte er den seinigen aussprechen, so würden sie erstaunen, aber sie
würden nicht fähig sein, ihn zu fassen."
Im zwanzigsten Buche von „Wahrheit und Dichtung" hat nun Goethe
den Schleier von dem Vorstellungskreise, zu dem er über das Wesen der ge¬
heimnisvollen und problematischen, in der Natur wirkenden Macht gelangt
war, ein wenig gelüftet, und es kommt uns vor, sagt Eckermann, „als würden
von gewissen Hintergründen unsers Lebens die Vorhänge weggezogen: wir
glauben weiter und deutlicher zu sehen, werden aber bald gewahr, daß der
Gegenstand zu groß und mannigfaltig ist, und daß unsre Augen nur bis zu
einer gewissen Grenze reichen."
In dem genannten Kapitel seiner Selbstbiographie giebt Goethe die Formen
an, die die Entwicklung seines religiösen Bewußtseins während seines langen
Lebens durchgemacht hat, „wie er als Knabe, Jüngling und Mann sich auf
verschiednen Wegen dein Übersinnlichen zu nähern gesucht, erst mit Neigung
nach einer natürlichen Religion hingeblickt, denn mit Liebe sich an eine posi¬
tive festgeschlossen, ferner durch Zusammenziehung in sich selbst seine eignen
Kräfte versucht und sich endlich dem allgemeinen Glauben freudig hingegeben
habe." Aber durch alle diese Phasen seiner geistigen Entwicklung zieht sich
das Gefühl von etwas, was zu keiner von allen gehören und passen mochte,
und was seine eigentliche, persönliche Auffassung von der uns beherrschenden
übersinnlichen Macht darstellt: er glaubt in der belebten und der unbelebten,
der beseelten und der unbeseelten Natur etwas widerspruchsvolles und darum
unter keinen Begriff faßbares zu entdecken, das weder göttlich ist (denn es
scheint unvernünftig), noch auch menschlich (denn es hat keinen Verstand),
weder teuflisch (da es wohlthätig wirkt), noch engelhaft (denn es läßt oft
Schadenfreude merken). Dieses Etwas, sagt Goethe, gleicht dem Zufall und
ähnelt doch der Vorsehung, es durchdringt alles, was für uns begrenzt ist,
scheint mit den Elementen unsers Daseins willkürlich zu schalten, am Unmög¬
lichen Gefallen zu finden und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen:
diese rätselhafte, unheimliche Macht, der Welt und Leben unterworfen sind,
und die alle Wesen beeinflußt, nennt Goethe das Dämonische, nach der
Vorstellung der Alten, wonach sogar die Götter von dem waltenden Fatum
beherrscht wurden. Ich suchte mich fügt er hinzu — vor diesen, furcht-
baren Wesen zu retten, indem ich mich nach meiner Gewohnheit hinter ein
Bild flüchtete. Er berichtet nnn, wie er sich durch seinen Egmont, worin er
(ganz im Gegensatz zur Geschichte) eine solche dämonische Natur zu schildern
versucht, von dem Alp dieser Vorstellung befreite. Denn das Dämonische,
fährt Goethe mit Nachdruck fort, das sich in allem Körperlichen und Unkörper¬
lichen, ja bei den Tieren muss merkwürdigste manifestieren kann, steht vorzugs¬
weise mit den: Menschen im wunderbarsten Zusammenhang und bildet eine der
moralischen Weltordnung wenn nicht entgegengesetzte, so doch sie durchkreuzende
Macht.
Am furchtbarsten aber erscheint das Dämonische, wenn es in irgend einem
Menschen überwiegend hervortritt. „Während meines Lebensganges, erklärt
Goethe, habe ich mehrere, teils in der Nähe, teils in der Ferne, beobachten
können. Es sind nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist
noch an Talenten, selten durch Herzensgüte sich empfehlend; aber eine un¬
geheure Kraft geht von ihnen aus, und sie üben eine unglaubliche Gewalt
über alle Geschöpfe, ja sogar über die Elemente, und wer kann sagen, wie
weit sich eine solche Wirkung erstrecken wird? Alle vereinten sittlichen Kräfte
vermögen nichts gegen sie; vergebens, daß der hellere Teil der Menschen
sie als Betrogne oder als Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird
von ihnen angezogen. Selten oder nie finden sich Gleichzeitige ihresgleichen,
und sie sind durch nichts zu überwinden, als durch das Universum selbst,
mit dein sie den Kampf begonnen; und aus solchen Beobachtungen mag
Wohl jener sonderbare, aber ungeheure Spruch entstanden sein: Usuro ooickrg.
ahnen, rllsi äsus ixss." Soweit die dunkeln Worte Goethes in Wahrheit und
Dichtung.
Es wäre nun interessant, von ihm selbst über das Wesen des Dämonischen,
und was er eigentlich darunter versteht, etwas unser aufgeklärt zu werden
und darüber etwas bestimmteres, vielleicht durch Beispiele erläutert, zu erfahren.
Natürlich ist es ein mißliches Ding, in Goethes poetischen Schöpfungen
— etwa im Faust, der doch des Dämonischen genug zu enthalten scheint —
nach einer Aufklärung dieses seltsamen Begriffs zu suchen, da die in einer
Dichtung ausgesprochnen Sentenzen nicht immer mit den persönlichen Über¬
zeugungen eines Autors kongruent zu sein brauchen und sich im übrigen zu¬
meist nach dem Prinzip der Thesis und Antithesis bewegen. So dürfte sich
im Faust kaum ein Ausspruch finden, der nicht bei andrer Gelegenheit, Be¬
leuchtung und Stimmung irgendwo sein Gegenteil hervorriefe. Aber in den
Gesprächen Goethes mit Eckermann aus den letzten Lebensjahren des Dichter¬
fürsten — die eine wahre Fundgrube gerade für die Kenntnis der persönlichen
Anschauungen und Überzeugungen Goethes und der Eigentümlichkeiten seines
Charakters sind — ist uns die Gelegenheit geboten, auch über den eigent¬
lichen Sinn und die Bedeutung, die er der Idee des Dämonischen beilegte,
Ausklärung zu erhalten, da Eckermann mit richtigem Spürsinn und Verständnis
für die Wichtigkeit des Gegenstands mehrmals die Aufmerksamkeit des greisen
Dichters auf diesen dunkeln Begriff lenkte, und ihn durch geschickt gestellte
Fragen veranlaßte, sich ausführlicher darüber zu äußern.
Was zunächst den Begriff des Dämonischen betrifft, so gelingt es Ecker¬
mann (am 2. März 1831), Goethe aus seiner Zurückhaltung zu bringen und
ihm eine Art von Definition zu entlocken, „Das Dämonische ist dasjenige,
was durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen ist," „Es manifestiert sich,
fügt Goethe an einer andern Stelle hinzu, auf die verschiedenste Weise in der
ganzen Natur, in der unsichtbaren wie in der sichtbaren. Manche Geschöpfe
sind ganz dämonischer Art, in manchen andern sind Teile von ihm vorhanden..."
„Es pflegt jede Leidenschaft zu begleiten, sagt er am 5. März 1830, und findet
in der Liebe sein eigentliches Element." Wichtig für die Goethische Auffassung
dieses Begriffs ist ferner, daß er sowohl abstrakt von dem „Dämonischen" als
auch konkret-symbolisch vom „Dämon" und von „Dämonen" spricht. Und zwar
ist der eigentliche Charakterzug alles Dämonischen seine Positivität: ein un¬
ruhiger Drang, Thatkraft, höchste Produktivität!
Aus allen diesen orakelhaften Andeutungen ersehen wir nur so viel, daß
Goethe die Erklärung des Dämonischen für ein transzendentes, die Erkenntnis-
kräfte des Menschen übersteigendes Problem hält. Das Wesen des Dämonischen,
das übersinnlicher Natur ist, geht ihm also für das menschliche Verständnis
im Unbewußten unter, sein Ursprung liegt in dem, was allem Wissen voraus¬
geht, im unbekannten Urquell alles Entstehens verborgen. Wir werden des¬
halb kaum fehl gehn, wenn wir uns deu Begriff des Dämonischen und der
Dämonen in der Goethischen Phantasie plastisch-künstlerisch etwa nach Analogie
des von ihm ersonnenen Prinzips der „Mütter" im zweiten Teil des Faust
konstruieren. Wie diese, der Annahme Eckermanns nach, das schaffende Prinzip
sind, von dem alles ausgeht, schaffende Wesen, die in ewiger Dämmerung und
Einsamkeit beharren, und zu denen alles, was zu atmen aufhört, als geistige
Natur zurückkehrt, bis es wieder Gelegenheit findet, in ein neues Dasein zu
treten; wie alle Seelen und Formen von dem, was einst war und künftig
sein wird, in dem endlosen Raum des Aufenthalts der „Mütter" wolkenartig
hin und her schweben, und wie die nie aufhörende Beschäftigung der Mütter
in der ewigen Metamorphose des irdischen Daseins besteht: so ist das Dä¬
monische das Fatum, und die Dämonen sind gleichsam Schicksalsboten, die den
Beschluß des Verhängnisses vollziehn. Sehen wir in den „Müttern" alle¬
gorisch eine Individualisierung der Naturkräfte, so stellen die „Dämonen"
Symbvlisierungen der im Leben sich manifestierenden Schicksalsmacht dar. „Wir
sehen auf Erden Erscheinungen und empfinden Wirkungen, von denen wir nicht
wissen, woher sie kommen und wohin sie gehn; wir schließen auf einen Urquell,
auf ein Göttliches, wofür wir keine Begriffe und keinen Ausdruck haben, und
das wir zu uns herabziehn und anthropomorphisieren müssen, um unsre dunkeln
Ahnungen einigermaßen zu verkörpern und faßlich zu machen. So sind alle
Mythen entstanden."
„In die Idee des Göttlichen scheint die wirkende Kraft des Dämonischen
indes nicht einzugehn?" fragt Eckermann. Aber Goethe antwortet ausweichend:
„Liebes Kind, was wissen wir denn von der Idee des Göttlichen, und was
wollen denn unsre engen Begriffe vom höchsten Wesen sagen! Wollte ich es,
gleich einem Türken, mit hundert Namen nennen, so würde ich doch noch zu
kurz kommen und im Vergleich so grenzenloser Eigenschaften noch nichts gesagt
haben."
Somit schließt Goethe das Dämonische aus der Idee des Göttlichen nicht
direkt ans; und anch ans einer andern Stelle geht hervor, daß er die Mög¬
lichkeit, daß das Dämonische einer so tiefen Quelle entströmen könne, nicht
von der Hand weist, „Dergleichen ist mir in meinem Leben öfter begegnet,
sagt er anläßlich der wunderbaren Thatsache, daß anfänglich für widrig ge-
haltne Hindernisse sich oft als förderlich und günstig für eine Arbeit erweisen,
und man kommt dahin, in solchen Fällen um eine höhere Einwirkung, all etwas
Dämonisches zu glauben, das man anbetet, ohne sich anzumaßen, es weiter
erklären zu wollen." Goethe also geht, gleich Dante, am Abgrunde dieser
tiefen Probleme vorüber und läßt die Frage nach ihrer Lösung offen:
Avr i'SMoiiiuu ni lor', ZU«, guaräÄ s xassg.!
Zwei für die Wesensbcstimnmng des Dämonischen wichtige Eigenschaften
entnehmen wir jedoch der erwähnten Goethischen Definition: daß es in den
Begebenheiten erscheint, und daß es in den Personen wirkt. Was das erste
betrifft, so haben wir es uns als „höhere Einwirkung," als das geheimnis¬
volle Walten und Eingreifen der Schicksalsmacht im menschlichen Dasein, bald
störend und hemmend, bald begünstigend und fördernd, zu denken. Wir be¬
gegnen hierbei gleich einer originellen Lebensanschauung Goethes, die uns
diesen Grundgedanken erläutert. „Sie werden finden, sagt er zu Eckermann
(11. Mürz 1828), daß im mittlern Leben eines Menschen häufig eine Wendung
eintritt, und daß, wie ihn in seiner Jngend alles begünstigte und alles ihm
glückte, nun mit einemmal alles ganz anders wird, und ein Unfall und ein
Mißgeschick sich auf das andre häuft. Wissen Sie aber, wie ich es mir denke?
Der Mensch muß wieder ruiniert werden. Jeder außerordentliche Mensch hat
eine gewisse Sendung, die er zu vollführen berufen ist. Hat er sie vollbracht,
so ist er auf Erden in dieser Gestalt nicht weiter von nöten, lind die Vorsehung
verwendet ihn wieder zu etwas anderm. Da aber hienieden alles auf natür¬
lichem Wege geschieht, so stellen ihm die Dämonen ein Bein nach dein andern
(sie!), bis er zuletzt unterliegt. So ging es Napoleon und vielen andern:
Mozart starb in seinem sechsuuddreißigsten Jahre, Naffael in demselben Alter,
Byron nur um wenig älter. Alle aber hatten ihre Mission erfüllt, und es
war wohl Zeit, daß sie gingen, damit auch andern Leuten in dieser auf eine
lange Dauer berechneten Welt noch etwas zu thun übrig bliebe."
Am darauffolgenden Tage (12. März 1828) kommt er auf diese» seltsamen
Gedanken zurück. „Aber wissen Sie was, ruft er Eckermaun zu — nach
klagenden Reflexionen über den zu frühen Tod des Großherzogs von Weimar,
von dessen längeren Leben er für den Fortschritt der Zeit noch viel erhofft
hatte —, die Welt soll nicht so rasch zum Ziel, als wir denken und wünschen.
Immer sind die retardierenden Dämonen da, die überall dazwischen- und ent¬
gegentreten, sodnß es zwar im ganzen vorwärts geht, aber sehr langsam. Leben
Sie nur fort, und Sie werden schon finden, daß ich Recht hatte!"
„Die Entwicklung der Menschheit, wirft Eckermann ein, scheint auf Jahr¬
tausende angelegt?"
„Wer weiß, erwidert Goethe, vielleicht auf Millionen!" Und im weitern
Verlauf spricht er den ernsten Gedanken aus: „Klüger und einsichtiger wird
die Menschheit werden, aber besser, glücklicher und thatkräftiger nicht, oder doch
nur auf Epochen!"
Doch auch eiuen wohlthätigen und fördernden Einfluß auf den Gang
der Geschichte spricht Goethe dem dämonischen Weltelement zu, so bei der be¬
geisterten Erhebung von 1813 zur Abschüttlung der Fremdherrschaft. „Die
allgemeine Not und das allgemeine Gefühl der Schmach, ruft er aus, hatte
die Nation als etwas Dämonisches ergriffen; das begeisternde Feuer, das der
Dichter Hütte entzünden können, brannte bereits überall von selber." Aber
Goethe dachte sich das Eingreifen der dämonischen Macht auch als etwas den
Verlauf des persönlichen Lebens beeinflussendes. Am 18. Februar 1831 er¬
zählt er Eckermann, daß seine mit Soret unternommne Übersetzung der „Meta¬
morphose der Pflanzen" ins Französische anfangs auf widerwärtige Hindernisse
und Verzögerungen gestoßen wäre, die er im stillen oft verwünscht hätte.
Allein später habe er eingesehen, daß dieser Aufschub der Arbeit außerordentlich
zu statten gekommen sei, da inzwischen andre Schriften und Entdeckungen er¬
schienen waren, die sein eignes Werk ungemein gefördert hätten. Man kommt
dahin, meint Goethe, bei solchen wunderbaren Wendungen an die Einwirkung
einer dämonischen Macht zu glauben, der man, ohne sie fassen zu können,
Verehrung und Dank zu schulden fühlt.
„So waltete auch bei meiner Bekanntschaft mit Schiller durchaus etwas
Dämonisches ob, berichtet er um 24. März 1829. Wir konnten früher, wir
konnten später zusammengeführt werden: aber daß wir es gerade in der Epoche
wurden, wo ich die italienische Reise hinter mir hatte, und Schiller der philo¬
sophischen Spekulationen müde zu werden anfing, war von Bedeutung und
für beide vom größten Erfolg."
Noch andre wichtige Beispiele solcher Schickungen der Vorsehung führt
Goethe an (12. Mai 1825). „Daß Lessing, Winckelmann und Kant älter
waren als ich, und die beiden erstern auf meine Jugend, der letztere aber auf
mein Alter wirkte, war für mich von großer Bedeutung." Auch seine Über¬
siedlung nach Weimar schreibt er einer solchen „Schicksalsfügung" zu. Ju
einem Gespräch am 5. Mürz 1830, als Eckermann die Äußerung thut, daß
die Liebe sich nach dem Charakter und der Persönlichkeit der Person, die wir
lieben, modifiziere, sagt Goethe: „Sie haben vollkommen Recht: denn nicht
bloß wir sind die Liebe, sondern es ist auch das anreizende Objekt. Und dann,
was nicht zu vergesse», kommt als ein mächtiges drittes noch das Dämonische
hinzu, das jede Leidenschaft zu begleiten pflegt, und das in der Liebe sein
eigentliches Element findet. In meinem Verhältnis zu Lili war es besonders
wirksam, es gab meinem ganzen Leben eine andre Richtung, und ich sage nicht
zu viel, wenn ich behaupte, daß meine Herkunft nach Weimar und mein jetziges
Hiersein davon eine unmittelbare Folge war!"
Man sieht, einen wie großen Spielraum Goethe den Einwirkungen der
Vorsehung im menschlichen Leben einräumt, und wir werden kaum fehlgehu,
wenn wir in der nachstehenden Stelle aus der „Natürlichen Tochter" (Akt lo,
Szene 1) die aus diesen, ganzen fatalistischen Ideenkreise gezogne Bilanz sehen:
„Was geschehn soll, es wird geschehn! In ganz gemeinen Dingen hängt viel
von Wahl und Wollen ab; aber das höchste, was uns begegnet, kommt wer
weiß woher?"
Wie Variationen über das Heraklitische ^Lox «vA^?rc,) 6«/^»- unter
uus die nachfolgenden Äußerungen des Altmeisters an: „Des Menschen Ver¬
finsterungen und Erleuchtungen macheu sein Schicksal, Es thäte uns not, daß
der Dämon uus täglich am Gängelbande führte und uns sagte und triebe,
was immer zu thun sei. Aber der gute Geist verlaßt uns, und wir sind
schlaff und tappen im Dunkeln. . , . Im übrigen ist der Mensch ein dunkles
Wesen, er weiß nicht, woher er kommt, noch wohin er geht, er weiß wenig
von der Welt und am wenigsten von sich selber!"
„Es ist sicherlich wohlgethan, solchen höhern Einwirkungen nachzugeben,
meint Eckermann, denn das Dämonische scheint so mächtiger Natur zu sein,
daß es am Ende doch Recht behält!"
Allein, Goethe erwidert unerwartet: „Nur muß der Mensch auch wiederum
gegen das Dämonische Recht zu behalten suchen." Und schon im April 1829
hatte er auf eine ähnliche Äußerung Eckermanns, daß man vor allen Dingen
darauf zu achten habe, ob ein Einfluß hinderlich oder förderlich, ob unsrer
Natur angemessen oder ihr zuwider sei, geantwortet: „Das ist es freilich,
worauf es ankommt; aber das ist auch das Schwere: daß unsre bessere Natur
sich kräftig durchhalte und dem Dämon nicht mehr Gewalt einräume, als
billig." (Schluß folgt)
MMM
WM
M! orsichtige Leute nennen, feine kennen ihn nicht. Die christliche Kirche
hat uns über seine Gewohnheiten und Listen überraschende Aufschlüsse
gegeben, und in Kreisen, die dem von ihr ausströmenden Lichte mehr
oder weniger fernstehn, ist über den „Vater der Lüge" manches
gesagt und geschrieben worden, was mehr schlechten Geschmack und
! verderbte Phantasie verrät, als es Sachkenntnis und einsichtiges
Urteil beweist. Dagegen giebt es sehr nette Leute, für die Beelzebub überhaupt
nicht vorhanden ist. So versicherte uus ein Herr, den wir in dieser Angelegenheit
um seine Meinung fragten, ohne jedes Besinne», daß es überhaupt keinen Teufel
gebe, und daß das Übel, das wir in der Welt wcihrnnhmen, nur fadenscheinig und
schadhaft qcwordnes Gutes sei, ähnlich wie die schönsten Kleider im Wege der Ab¬
nutzung von einer Stufe zur andern herabsinken, bis sie schließlich dem Lumpen¬
sammler in die Hände fallen. Da um doch das Fadenscheinig- und Schndhaft-
werden auch ein Übel ist, das uicht in eine vollkommne Welt paßt, so hat die
Versicherung unsers Gewährsmanns keinen großen Eindruck auf uns gemacht, und
die Art, wie er das Vorhandensein des Bösen in der Welt erklärt, hat uns nicht
befriedigt. Er ist Naturphilosoph und Autodidakt, er hat weder Kant noch Spinoza
gelesen.' auch Plato und Aristoteles sind ihm fremd. Da ihm die eigne Überzeugung
und die gefundne Erklärung zu genügen schienen, so ließen wir den Gegenstand
fallen und behielten unsern Glauben für uns.
Aber eine Besprechung ist der Ritter mit dem Pferdefuß doch wert.
Wir möchten vorausschicken, daß wir jede religiöse Anschauung hochachten und
ehren, und daß wir nie den Versuch macheu würden, irgend jemand das auszu¬
reden, was ihm von maßgebender Seite über den Teufel mitgeteilt, oder wie man
ja wohl sagen muß, gelehrt worden ist. Wenn es zum Wesen der orthodoxen
Anschauung gehört, sich ihn mit einem Pferdefuß, einem Kuhschwanz und Hörnern
vorzustellen, so möchten wir niemand um seiner Seele Seligkeit hinderlich sein. Wir
haben den alten Herrn, den viel Mut-Iowan, wie ihn die Engländer nennen, nie
von Auge zu Auge gesehen, können also auch nicht behaupten, daß er keinen
Pferdefuß, keinen Kuhschwnnz und keine Hörner habe. Wir müssen die hierauf
gerichteten Fragen, wie sich die Juristen ausdrücken, mit „Nichtwissen" beantworten,
aber wir finden, daß wenn es jemand besonders daran liegt, sich den Versucher in
Fleisch und Bein vorzustellen, Hörner und Kuhschwanz ganz geeignet sind, eine
unfreundliche, ungünstige Vorstellung von seiner äußern Erscheinung zu erwecken,
was ja der Moral nur förderlich sein kann. Leuten mit Hörnern, die einen
Klumpfuß und einen Kuhschwanz haben, geht man aus dem Wege: und nichr ist
ja auch dein Teufel gegenüber nicht nötig, wenn man ihn nicht geradezu aufsucht,
um ihn zu bekämpfe», was zwar sehr verdienstlich, aber nicht immer geraten und
nie ganz gefahrlos ist. Wir glaubten, es wäre besser, wenn wir die Authentizität
des von der Kirche gelieferten Konterfeis ausdrücklich anerkennte», damit niemand
ans den Gedanken komme, wir wollten es mit den kirchlichen Satzungen in diesem
Punkte leicht nehmen. Nichts liegt uns ferner. Bei genauerer Betrachtung haben
wir sogar zu bemerken geglaubt, daß uus eine Eigenschaft, in Ansehung deren
manche Menschen zu kurz gekommen zu sein scheinen, in zu starkem und geradezu
bedenklichem Maße zu teil geworden ist, die Fähigkeit, Dinge, über die sich Lieb¬
haber um jeden Preis schlüssig zu macheu suchen, „auf sich beruhn zu lassen."
Von Zweifelsucht kann, wie uns scheint, bei einem Menschen, der allerhand Dinge
gern „auf sich beruhn läßt," schwerlich die Rede sein.
So geht es uns auch mit den Rätseln des Jenseits und der Ewigkeit. Wir
glauben, was uns gelehrt wird, aber wir fühlen wohl, unser Glaube würde keine
Berge versetzen, und zu Blutzeugen würde er uns, fürchten wir, auch kaum gemacht
haben. Er ist mehr passiv und beschränkt sich auf ein Nichtbezweifeln, Nichtwider¬
sprechen. Wir sehen, daß wir von der Sache wenig versteh«, und da wir uicht
vermessen genug siud, über Dinge zu urteile», für deren Verständnis uns jede
Grundlage abgeht, sagen wir zu dem, was uus gelehrt wird, Ja und Amen und
rütteln uicht an dem, was in den symbolischen Büchern gelehrt wird. Was wir
uns von dem lutherischen Glaubensbekenntnis, von andern Dogmen und allerhand
philosophischen Lehrgebäuden wirklich zu eigen gemocht haben, hat sich in unserm Innern
zu einem Bilde gestaltet, das wir nicht als Kunstwerk ausgeben möchten, und das
sich wahrscheinlich, bei Licht betrachtet, bunt und lückenhaft genug aufnehmen würde,
das uns aber so. wie es ist, befriedigt, und das wir mit keinen, andern vertauschen
könnten oder möchten. „Mondes nicht für ein andres geben," wie der erste Jäger
in Wallensteins Lager sagt. Wir kennen die übliche Redensart, die einen warnt
und auf der Hut zu sein rät, weil so ein Sammelsurium von Glaubensbrocken not¬
wendigerweise ein Trugbild des Bösen sei, und nur das Dogma ein bloc selig
mache, aber sie macht keinen Eindruck auf uns. Wenn dem lieben Gott daran gelegen
wäre, daß wir eine andre Vorstellung von der Sache hätten, so wäre es ihm
offenbar ein Leichtes gewesen, uns in diesem andern Sinne Erleuchtung und Be¬
lehrung zukommen zu lassen. Da er es nicht gethan hat, obwohl wir unser Ohr
grundsätzlich keiner Stimme verschlossen, und was wir aus die eine oder die andre
Weise vernommen hatten, immer nach besten Kräften geprüft haben, so halten wir
uns an das, was uns einleuchtet. Das ist das einfachste, und es erlaubt tägliches
Nachbessern: mitunter muß man freilich umlenken und wieder zurückfahren, wenn
man auf dem Holzwege war, aber dasselbe Tasten und Suchen bemerken wir überall,
und nur im Steigen weitet sich der Blick.
Wir haben das vorausgeschickt, um den Leser zu beruhigen, denn etwas
hetervdox und häretisch fühlen wir uns, was den Teufel und sein Gebiet anlangt,
doch. Inmitten aller der Mysterien, die wir über das Wesen Gottes, die Schöpfung
und das Guadeuheil statuieren müssen, um uns nicht mit dein großen oder dem
kleinen Katechismus zu überwerfen, steht uns der eine Umstand ganz besonders
klar vor Augen, daß Gott mit dem Teufel kämpft, und daß der ungeduldige
Ausruf: ,,Dn' schlag doch Gott den Teufel tot!" leerer Wortschwall ist. Wir meinen,
und ganz orthodox ist das allerdings nicht, wenn er es könnte, würde er es längst
gethan haben. Warum das so ist, und wie sich damit die göttliche Allmacht reimt,
lassen wir „ans sich beruhn." Für uus erklärt ein Kampf zwischen zwei einander
fürs erste noch gewachsenen Prinzipen, dem des Lichts und dem der Finsternis, am
besten das, was wir um uus herum und in uus wahrnehmen, und da wir das
Leben vom Standpunkt eines solchen Kampfs betrachten, so wird jedermann gern
zugebe», daß wir für unser System den Teufel sozusagen zu Brote brauchen. Wir
würden uns, wenn plötzlich festgestellt würde, daß es keinen Teufel giebt, vor¬
kommen wie ein Landsknecht, dem infolge eingetretnen allgemeinen Weltfriedens
jede Daseinsberechtigung fehlte. Wir müssen also auf einen gesunden, persönlichen
Teufel halten, wenn wir nicht, wie wir ungern thun würden, unsre ganze Lcbens-
und Weltanschauung umkrempeln sollen.
Hörner und einen Kuhschwanz hat unser Teufel zwar nicht, und mich die
ungleich großartigere und poetischere Schilderung, die Milton von dem gefallnen
Engel giebt, ist uus nie in Fleisch und Blut übergegangen, aber ein Individuum,
das mau aufsitzen lassen und dem man den Schwanz einklemmen kann, ist er für
uus doch. Auch das Tintenglas würden wir, schon ans ökonomischen Gründen,
nicht nach ihm schleudern, aber ihm die Zunge rauszustrecken, ist uus geläufig. Der
Kampf des Lichts und der Finsternis, von dem anch die Bibel spricht, ist ja eben¬
falls etwas sehr Großartiges und Poetisches, aber wir würden doch den Eindruck
eiuer etwas vagen und nebelhaften Auffassung haben, wenn wir uns den täglichen
Kampf, dessen Folgen und begleitende Erscheinungen wir wahrnehmen, lediglich als
ein Ringen zwischen Licht und Finsternis, zwischen Wohlgeruch und Gestank vor¬
stellen dürften, so bezeichnend auch für mauche Kreise das in ihnen herrschende
Gemisch von Licht und Finsternis und — komischer noch — von Wohlgeruch und
Gestank sein mag. Ein persönlicher Teufel, der deshalb weder wie ein Ziegenbock
noch wie ein unheimlich geschwollner Pudel auszusehen braucht, der aber flink und
leichtfüßig herumfährt, um zu iutriguieren, zu lügen, zu verdrehen, zu hocken, zu
tanzen und zu schwenzeln, entspricht der Vorstellung, die wir uns von dem gefähr¬
lichen Gegner machen, besser als die tote unthätige Masse der Finsternis, mit der es
doch eigentlich für unsereiner weder Kampf noch Spaß giebt: allerdings umschließt
das Wesen der Finsternis in glücklichster Weise beide Mächte, gegen die es zu kämpfen
gilt: den Teufel als General und die Dummheit als Armee, aber es kommt unsrer
Meinung unes darauf an, sich die beiden getrennt als Rädelsführer und willenlos
folgende Masse zu vergegenwärtigen.
Vielleicht wird die menschliche Dummheit in ihrer Wichtigkeit für die Zwecke
des Teufels bisweilen unterschätzt. Sie ist zwar uicht sein Werk, wie sie ja auch
andrerseits kaum die Schöpfung des hellen, klaren Lichtgottes sein dürfte, aber sie
ist recht eigentlich seine Armee.' Die Dummheit an und für sich dürfte ja, wie das
Chaos, zu dem sie gehört, aus einer frühern Weltperiode stammen, während die
Vermindrung ihres Volumens der Zweck der gegenwärtigen zu sein scheint. Wenn
die Strahlen der göttlichen Wahrheitssonne das letzte noch vorhandne dunkle Gewölk
aufgesogen haben werden, wird der Teufel keine Soldaten mehr haben und vom
lieben Gott unter dem Jubel von Himmel und Erde totgeschlagen werden. Das
wird uns „mit etwas andern Worten" in Aussicht gestellt: aber bis dahin giebt
es täglichen Kampf, und es ist gut, wenn wir uns den nicht so vorstellen, als wenn
er ohne unsre Beteiligung über unsern Häuptern in den Wolken geführt würde:
eine indifferente Anschauung in dieser Beziehung könnte dem „Feinde" für ein er¬
folgreiches Vorgehn seiner Schleichpatrouillen und Streifkvrps nur willkommen sein.
Es ist bald nur von einem Teufel, bald von Legionen von Teufeln die Rede,
und gewisse Arten davon — vermutlich die, die unsern Studenten, einjährig Frei¬
willigen und Handwerksgesellen entsprechen — scheinen obendrein sehr unternehmender
und burschikoser Natur zu sein, da doch zum Beispiel der übermütige Gedanke, in
eine Herde neutestamentlicher Säue zu fahren, sogar Pipifax dem Kleinen Ehre
gemacht haben würde. Da uns gesagt wird, es gebe viele hunderttausend Teufel,
so giebt es viele hunderttausend Teufel, das liegt auf der Hand, und die Geschichte,
wie der Mann allen Mietbewohnern im Rausch gekündigt und nach einiger Zeit
eine noch viel schlimmere Rasselbande in sein Herz aufgenommen hatte, beweist, das;
es schlimmere und weniger schlimme Teufel giebt. Aber da wiederholt von einem
Oberkommando in der Hand Beelzebubs, des Höchstkommandierenden, die Rede ist,
so hindert uns nichts, unsern Haß und unsre Feindschaft auf ihn zu konzentrieren,
und überall da, wo Teufel in Frage kommen, nur ihn zu scheu, wie ja zum Beispiel
auch die zur Einschließung von Paris verwandten deutschen Truppen es ihrer Idee
nach immer nur mit Trochu zu thun hatte«, obwohl dieser an den Gefechten in
der Regel keinen teil nahm, sondern währenddem ans dem Mont Valerien oder
in einem der Forts saß und seine Pfeife rauchte. Eine gewisse Anzahl verschieden
gefärbter Teufel kann ja jeder ohnehin in seinem Innern unterscheiden, und es ist
auch sonst natürlich, daß sich Beelzebub nicht wegen jeder Kleinigkeit selbst bemühn,
sondern sich vielmehr in den meisten Fällen damit begnügen wird, seine Unterteufel
zu schicken. Aber an der Sache selbst ändert das nichts. In Wahrheit ist er es
doch, den man im Dienste des hellen Lichtgottes bekämpft, und deshalb ist auch,
ohne daß damit den übrigen Herren zu nahe getreten werden soll, die Einzahl
„der Teufel" ganz am Platze.
Wenn einem Menschen der Teufel zuwider ist, und er Freude daran findet,
ihn zu bekämpfen, was beiläufig gesagt gar kein schlechter Gedanke ist, so kann er
sich dabei entweder auf die Verteidigung beschränken, oder er kann zum Angriff
vorgehn. Es ist freilich für unsereiner nie ein recht erfreulicher oder erfolgreicher
Kampf, da man Teufel nicht töten, sondern bekanntlich nur abwehren, austreiben,
zum besten haben und um einen schon halb eingeheimsten Gewinn bringen kann.
Auch in dem eignen Netze läßt sich ein Teufel nicht fangen. Es giebt Leute,
die sich den Teufel vom Halse zu halten wissen, aber nicht daran denken, ihn an¬
griffsweise zu bekämpfen. In diese Kategorie gehören beispielsweise Nonnen, wenn
sie die von ihnen abgelegten Gelübde halten, was man ja bis zum Beweise des
Gegenteils immer hoffen darf. Daß ihnen dabei mitunter eine Strohpuppe als
künstlicher Beelzebub aufgebunden wird, mindert ihr Verdienst nicht. Sie schlagen
die feindlichen Angriffe ab, indem sie sich auf die Verteidigung der eignen Festungs¬
werke beschränken, und ziehn, den weißen Rosenkranz der Siegerinnen auf dem
Haupte, durch die goldnen Thore ein. Daß sie reinen Herzens sind, hat die, man
möchte fast sagen mystische Wirkung, daß auch Unwissenheit und Beschränktheit, wo
sie sich bei ihnen vorfinden, ihrer Vollendung nichts anhaben können.
Dagegen giebt es gewaltige Streiter, die dem Teufel sehr ernstlich zu Leibe
gehn, aber das eigne Herz zu verteidige» versäumen. Ihrer Seele könnte es,
wenn man Goethe glauben wollte, leicht gehn, wie es der Fausts beinahe gegangen
wäre: aber so wie eine Mäusejagd denken wir uns die Sache doch nicht, schon
deswegen nicht, weil wir nicht an Bündnisse mit dem Teufel glauben, und im
Gegenteil überzeugt sind, daß der Natur der Sache nach jemand, der deu Teufel
haßt, nie sein Knecht werden kann.
Haß, Kampf, Versuchung, Knechtschaft und List sind selbstverständlich Ausdrücke,
die uns das, was in höhern Regionen vorgehn mag, nur menschlich näher rücken
sollen, und die auf die eine oder die andre Weise dem wahren Vorgang ebenso¬
wenig entsprechen, wie eine uns auf der Bühne vorgeführte Handlung das histo¬
rische Ereignis selbst ist. Wie der Rahme» der Bühne enger ist als die Wirklich¬
keit, und wie das, was sie uns zeigt, auf Konvention beruht, so find auch die
Vorstellungen, die wir uns vom Kampfe des Lichts und der Finsternis machen
können, nur herkömmliche Gleichnisse, die den wahren Verhält notwendigerweise
nur in sehr unvollkommner Masse wiederzugeben vermögen. Daß wir es auf der
Bühne nnr mit mangelhaften Andeutungen und vereinzelten Bruchstücken zu thun
haben, tritt noch mehr hervor, wenn wir bei dem uns Vorgeführten weniger auf
die handelnden Personen sehen als ans die geistigen Mächte, die sie für unser Auge
verkörpern, für unsre Phantasie wahrnehmbar machen sollen. Wenn jemand, der
einer Vorstellung von Schillers Don Carlos beigewohnt hätte, dann noch den kirch¬
lichen Fanatismus und den weltlichen Absolutismus abgelöst von jeder Personifikation
und als abstrakte ethische Erscheinungen und Mächte vorgeführt sehen wollte, so
würde man ihn, wie billig, darauf zu verweisen haben, daß Übersinnliches unserm
Verständnis nur andeutungsweise, im Bild, im Gleichnis, im Symbol, in der
Parabel näher gebracht werden kann, und daß es ihm, nachdem er den König und
den Kardinal-Großinquisitor gehört und gesehen hat, überlassen bleiben muß, sich
nach diese» beiden „Typen" eine allgemeine Vorstellung davon zu machen, was die
abstrakten Begriffe Fanatismus und Absolutismus zu bedeuten habe». Je höher
er geistig steht, um so besser wird er mit seiner Vorstellung den abstrakten Begriff,
eine der übersinnlichen Welt angehörige reine Idee, zu erfassen imstande sein.
In ähnlicher Weise sind natürlich auch unsre Vorstellungen vom Teufel nichts
als ein Notbehelf, da wir mit unsern für endliche Verhältnisse und Vorgänge be¬
rechneten Fähigkeiten das absolut Böse, das obendrein von Zeit und Raum un¬
abhängig zu sein und dem Allmächtigen vollbürtig gegenüberzustehn scheint, nicht
erfassen können. Jeder macht sich von dieser Riesenmacht und deren Äußerungen ein
seinem geistigen Standpunkt entsprechendes Lvtterbildchen, und man kann in diesem
Sinne sagen, daß jeder von uns den Teufel hat, deu er braucht und verdient.
Unser Teufel, der umhergeht, und vor dem wir nicht sicher sind, ob er nicht
rvtgekleidet ist und eine rote Hahnenfeder auf der Kappe trägt, würde Kant un¬
erträglich bäurisch und skurril erschienen sein, da sich der große Denker höchst
wahrscheinlich das absolut Böse in abstrakter Weise so lebhaft vorstellen konnte, daß
es dabei für ihn anthropomorvher Hilfsanschauungen schlechterdings nicht bedürfte.
Und wie ihm unser Teufel burlesk und banausisch vorkommen müßte, so macht uns der
Teufel der spanischen Pfaffen den Eindruck eines gemeinen, dummen Folterknechts,
was mit unsrer germanischen Auffassung, die in dem Teufel einen zwar gewissen¬
losen, aber witzigen und umgänglichen Pfiffikus sieht, ganz und gar nicht stimmt.
Wo die römisch-katholische Kirche oder streng orthodoxes Luthertum dem
Menschen jede Hoffnung rauben, mit Hilfe der ihm von Gott in die Wiege ge¬
legten natürlichen Fähigkeiten auch nur das mindeste zu leiste», herrscht der Teufel
als Popanz: was man für ihn empfindet ist Furcht. Auch Ludwig dem Vierzehnten,
der doch sonst nicht an Herzdrücken starb, und dem es auf ein Paar hundert ein¬
geäscherte Ortschaften mehr oder weniger nicht ankam, sobald es keine französischen
waren, scheinen die Beichtväter die Furcht vor dem Teufel, mit deren Hilfe sie
soviel erreichten, glücklich eingeimpft zu haben, und es nimmt sich besonders spaßig
aus, wenn der Herzog von Saint-Simon ganz ernsthaft berichtet, der König sei so eitel
und hochmütig gewesen, daß er sich würde göttliche Ehren haben erweisen lassen,
Wenn er sich nicht vor dem Teufel gefürchtet hätte (s'it n'a,van, su xsur ein all^dle).
Die in der Kunst vergangner Jahrhunderte sehr verbreitete Anschauung, daß
der Teufel Gott gewissermaßen ans Erden als Scherge und in der Hölle als Ober-
foltermeister diene, stammt aus romanischen Landen; wir Deutschen haben sie Von
da mit andern fanatischen Vorstellungen erhalten, und nachdem die lutherischen
Geistlichen auch ihren besten Kohl dazu gegeben hatten, ist diese Teufelssaat bei
uns in Deutschland lustig genug aufgegangen, ja wir können sogar leider kaum in
Abrede stellen, daß wir es in allem, was Aberglauben und Grausamkeiten anlangt,
eine Zeit lang unsern ausländischen Lehrmeistern mit deutscher Gründlichkeit min¬
destens gleichgethau haben.
Um so angenehmer berührt, wo wir sie in Deutschland, in den Niederlanden
und in Frankreich finden, die dieser Tenfelsfurcht entgegengesetzte Anschauung, die
es mit dem Teufel aufnimmt, statt vor ihm ins Mauseloch zu kriechen, und die ihm
denn auch wirklich von Zeit zu Zeit eine gesunde Nase andrehen zu können glaubt.
Wenn man liest, was von dem Teufel in frühern Zeiten erzählt und geglaubt,
was — um an die Hexenprozesse nur ganz von ferne zu erinnern — ihm zu¬
getraut und zugemutet wurde, und wenn man damit vergleicht, wie heutzutage über
ihn geurteilt wird, so sieht man recht, wie sehr seine Popularität im Schwinden
ist. In ein paar schon recht veralteten Redensarten hat sich noch die Erinnerung
daran erhalten. „Wenn man den Teufel nennt, kommt er schon gerennt," hört
man ab und zu einen weißhaarigen Greis meckern, und was „ein wahrer Teufels¬
kerl" ist versteht zur Not auch noch der eine oder der andre, aber in der Haupt¬
sache ist der lebhafte Anteil, den das sechzehnte, das siebzehnte und das achtzehnte
Jahrhundert an ihm nahmen, erkaltet und verblaßt.
Wenn ihm Goethe nicht eine dauernde Anstellung bei der Bühne gesichert,
und wenn die Heilsarmee nicht ein paar leidlich erfolgreiche Versuche gemacht hätte,
ihn wieder in die Mode zu bringen, so sähe es in betreff der fideler Popularität
schlimm um thu aus. Was dagegen die geheime Anbetung anlangt, so ist bekanntlich
alles beim alten geblieben; namentlich dem Partner der Firma, der unter dem
Namen Mammon verehrt wird, duften täglich unzählige Opfer in Tempeln, wie
sie ihm zu keiner Zeit größer und prächtiger gebant worden sind. Dieser Mammon
ist aber doch ein faber, langweiliger Kerl, und wir ziehn ihm den lustigen nieder¬
deutschen Bauernteufel, der sich von dem schlauen Bäuerlein mit den Rüben und
dem Weizen hinters Licht hatte führen lassen, bei weitem vor. Dem sind wir beinahe
gut, und die sich hierin bekundende Schlaffheit des Urteils beweist uus recht, daß mau
doch schließlich am besten thut, sich an die beideu Katechismen, den großen und deu
kleinen, wie an die Hörner des Altars zu halten und dem Teufel und allen seinen
Werken ohne Unterschied und bei der Erde weg zu entsagen. An dem kleinen Nüben-
und Weizenteufel war doch auch im Grunde genommen nichts empfehlenswertes als
Doktor Duttmüller und sein Freund
Achtzehntes Aapitel
Der Feind macht mobil
le Herren Sozialdemokraten hatten sich diesesmal vorgesehen und
eine unanfechtbare Anmeldung für ihre Volksversammlung angebracht.
Auch Happich hatte sich vorgesehen, nicht eher seinen Saal heraus¬
gegeben und nicht eher das nötige Bier angeschafft, als bis er die
Genehmigung der Versammlung schwarz auf weiß gesehen hatte. Auch
duldete er nicht, daß das Transparent des Kriegervereins, sowie die
Bilder des Gesangvereins, die eine Germania und eine Lorelei in Neu-Ruppiner
Manier darstellten, sowie seine eignen Trinksprüche von der Wand entfernt wurden.
Denn er hatte es doch nicht bloß mit den Herren Sozialen zu thun und durfte
es mit seinen übrigen Kunden nicht verderben. Und so nagelten die sozialistischen
Festordner ihre Sprüche und Embleme, die sie aus Braunsels mitgebracht hatten,
dazwischen. Man konnte also lesen: Seid willkommen, Sangesbrüder — und
darunter: Religion ist Privatsache; Proletarier aller Länder, vereinigt euch — und
daneben: Trinkt aus, schenkt ein, es lebe das Bier und der Wein; oder: Hoch lebe
die politisch organisierte Arbeiterschaft — und daneben ein Bild, das einen Arbeiter
an der Pumpe darstellt mit der Unterschrift: Gepumpt wird nicht. Dasselbe Podium,
das bestimmt war, das Theater für die patriotischen Aufführungen zu tragen, wurde
nun die Unterlage für den Vorstandstisch, an dem die Größen der roten Umsturz-
Partei Platz nehmen sollten. Vor dem Podium war auf einem verhängten Tisch
eine Gipsbüste aufgestellt. Wer ist denn das? fragte Happich die Festordner. —
Das ist Lassalle, antwortete man. Damit wußte Happich nun zwar nicht mehr als
vorher, aber er konnte aus der tiefen Verehrung, die diesem Bildnis erwiesen wurde,
schließen, daß es sich um einen Heiligen oder Märtyrer der Parteireligion handle.
Hinter der Büste waren ein paar deutsche Fahnen aufgestellt und so geordnet, daß
man nur die roten Streifen sehen konnte.
Man hatte für diesesmal etwas ganz besondres vorbereitet. Kein geringerer
c>is der Rechtsanwalt Dr. Limburg, ein berühmter Agitator, hatte es übernommen,
den Vorsitz zu führen. Sein Stab kam in einem großen Omnibus schou gegen
Abend aus Braunfels an und nahm von dein Podium Besitz. Die dort auf¬
gestellten Tische wurden mit einer Fülle von Papieren bedeckt/ was sehr gelehrt
aussah. Die Arbeiter vom Werke, die gerade keinen Dienst hatten, aber auch solche,
die von der Arbeit weggegangen waren, kamen in hellen Haufen an. Dazu fanden
sich Knechte und kleine Leute aus dem Dorfe. Viele von ihnen bewiesen darum einen so
großen Eifer, weil sie das vorige mal gestört worden waren. Bald war der Saal
bis auf den letzten Platz gefüllt, der Vorstand saß am Tische, der Redner des
Abends, ein junger Mensch mit einem großen, borstigen Haarschopf, einem dürftigen
Bart und einem blassen Geficht, besah sich angelegentlich die Decke des Saals, und
im Hintergrund hatte die staatliche Ordnung in Gestalt eines Gendarmerie-
Wachtmeisters Platz genommen, wurde aber von den Herren am Tisch als Luft
augesehen.
Man wartete mehr als eine Stunde. Die Verhandlungen konnten immer
noch nicht beginnen, weil die Meister der Partei, der Herr Rechtsanwalt und sein
Adjutant, der Redakteur des Brnunfelser „Volksherolds," Lautsch, »och nicht erschienen
waren. Die Versammelten standen dicht gedrängt. Die in der Mitte des Saales
stehenden ertrugen Durst und Ungemach zu Ehren der Partei und in der Hoffnung
auf eine einstige gründliche Entschädigung. Die sich im Hintergrund des Saals auf¬
gestellt hatten, protestierten gegen die kapitalistische Weltordnung, indem sie unter
Aufopferung ihres eignen Kapitals foviel Bier vertilgten, als aus Happichs Faß
fließen wollte. Happich und sein künftiger Schwiegersohn arbeiteten mit Hochdruck,
und Dörcher hatte genug zu thun, Geld einzunehmen und die Arbeiter, die den
Schanktisch umstanden, anzuschreien.
Die Arbeitermassen, die sich versammelt hatten, waren keine Neulinge in der
sozialdemokratischen Welt. Sie alle hatten hier oder dort schon losere oder engere
Beziehungen zur Partei gehabt. Es fehlte aber uoch die Zusammenfassung, die
Organisation, das Aktionsobjekt. Das sollte nun gegeben werden, und die „politisch
reife" Arbeiterschaft war bereit, es sich geben zu küssen.
Endlich erschienen die Erwarteten. Sie drängten sich nicht etwa durch den
„frei zu haltenden" Mittelgang nach dem Podium durch, vielmehr tauchten sie wie
Theatergötter aus deu Kulissen auf, was mehr Eindruck macht, und nahmen Platz.
Der Rechtsanwalt setzte seinen goldnen Kneifer auf und ließ die Blicke mit gleich-
giltiger Miene über die Versammlung schweifen. Der Herr Redakteur, als Ge¬
schäftsmann, denn der „Volksherold" war nicht ein Parteiunternehmen, sondern sein
Eigentum, grüßte reich rechts und links und wies seine Schreibtataren an. Natür¬
lich waren es unabweisbare Pflichten gewesen, die die Herren ferngehalten hatten.
Pflichten gegen sich selbst, schrieb das Braunfelser Kreisblatt am andern Tage
und behauptete, aus bester Quelle, nämlich aus dem Munde des Oberkellners
des Goldner Ringes, wo Herr Doktor Limburg abgestiegen war, zu wissen, daß
die Herren sich dort festgekneipt gehabt hätten. Der „Volksherold" verfehlte nicht,
darauf zu antworten, daß es das Braunfelser Tintenkuliorgan wieder einmal nicht
habe unterlassen können, sich unsterblich zu blamieren, indem es sich von Ober¬
kellnern habe Märchen aufbinden lassen. Wenn die sozialistische Presse geheime
Vorgänge bei den Regierungen aufgedeckt habe, so habe sie dazu noch niemals mit
Kellnern Freundschaft geschlossen. Mau gratuliere zu der Seelenverwandtschaft des
Tintenkulivrgans mit klatschenden Oberkellnern usw. Das Tintenkuliorgan hatte
den Herren wirklich Unrecht gethan. Man hatte mit seinem Erscheinen gezögert,
nicht, weil man sich festgekneipt hatte, sondern weil dies zum festen Bestand ihrer
Versammlungstechnik gehörte. Man ließ die Arbeiter warten, damit sie durch Bier,
Tabak, Ungeduld und Gedränge in die rechte Stimmung kommen möchten.
Nachdem die Herren also eingetroffen waren, schritt man zur Bildung des
Bureaus. Die Liste der Herren, die das Bureau bilden sollten, und die schon an
den Tischen Platz genommen hatten, wurde vorgelesen und mit brüllender Zu¬
stimmung angenommen. Die Sache der Arbeiter war also in den Händen eines
Berufspolitikers, eines Zeitungsverlegers, eines Bierwirth, eines Zignrrenhändlers
und einiger Agitatoren und damit in den besten Händen. Nach einem Hoch auf
die Parteigrößen begann der einleitende Vortrag. Dieser wurde von dem schon
erwähnten jungen Manne mit dem dürftigen Bart und borstigen Haarbusche ge¬
halten.
Der Redner sagte, was auf hundert Versammlungen schon gesagt und in
hundert Leitartikeln und Flugschriften schon gedruckt worden war, wie die Nachtigall,
die wiederkehrend nichts neues gelernt hat, sondern die alten lieben Lieder singt.
Und die Versammlung hörte andächtig zu; gerade darum, weil es die alten lieben
Lieder waren. Gleich Kindern, die es am liebsten haben, wenn die alten Märchen
ganz genau mit den alten Worten erzählt werden, und die sich schon im voraus
auf den goldnen Schatz im Zauberberg freuen, der zum Schluß gehoben wird.
Das Ange des Gesetzes wachte und wurde während der Rede immer größer.
Da kam eine besonders gepfefferte Wendung. Der Mann des Gesetzes erhob sich.
Er war im Begriff, die Versammlung aufzulösen, aber man fiel ihm in die Arme
und wies nach, daß ganz genan dasselbe, was der junge Mann gesagt hatte, schon
wiederholt unbeanstandet gesagt und gedruckt worden sei. So mußte er sich wieder
setzen, und der Redner fuhr fort, während die Schreibtataren des Herrn Redakteur
Lautsch die Köpfe auf ihre Papiere hängen ließen. Der Redner redete sich all¬
mählich in Wut, wurde erst rot und dann blau im Gesicht, bearbeitete die Tisch¬
platte vor sich mit der Faust und schloß: Nieder mit der Ausbeutung der Arbeit,
nieder mit den Zwingburgen wirtschaftlicher und politischer Macht, den Kasernen
und Gefängnissen, nieder mit den verruchten Fabrikdespotcn, deren Freude es ist,
über Sklaven die Peitsche zu schwingen, nieder mit den Versuchen der Reaktion,
euch eure Koalitionsfreiheit zu nehmen, nieder rin dem Militarismus, nieder mit
den Brotwucherern, nieder mit der kapitalistischen Korruption, nieder mit der de¬
generierten herrschenden Klasse, nieder mit der verbrecherischen Politik der Volks¬
bedrücker.
Als er dies alles „nieder" hatte, setzte er sich selbst nieder, wischte sich mit
dem Handrücken die Stirn und stürzte ein Glas Bier hinunter. Ein dumpfes
Bravo ans der Versammlung folgte seiner Rede. Sonst kümmerte man sich nicht
um deu Redner. Man behandelte ihn etwa so, wie wenn er ein Nedekuli gewesen
wäre. Jedenfalls war er noch nicht in die höhern Grade aufgerückt, er gehörte
noch nicht zu den Parteigrößen, die ihre feste Stellung errungen hatten, er wollte
erst an die Parteikrippe heran, er war also ein Konkurrent, und Konkurrenten be¬
handelt man diesseits wie jenseits nicht besonders freundlich.
Während der Rede waren Onkel Alfons, Bolze und der Schulze angekommen.
Der Schulze ging an dritter Stelle. Es war ihm nicht wohl zu Mute, er würde
sich am liebsten gedrückt haben, wenn man ihn freigegeben hätte. Die beiden
andern waren voll Zuversicht. Sie hatten unterwegs einen Kriegsplan gemacht.
Man wollte sich nicht auf theoretische Erörterungen einlassen, sondern den Leuten
die Mißerfolge der Sozialdemokratie in ihren eignen Unternehmungen vorhalten
und ihnen klarmachen, daß sie von ihren eignen Führern mißbraucht und ausgesogen
würden. Das mußte wirken.
Herr Bolze hörte dem Redner aufmerksam und mit dem Bewußtsein der
Überlegenheit zu. Das waren ja „olle Kamelien," die der Mensch vortrug, hundert¬
mal widerlegte Dinge. Sein Redeeifer stieg in dem Maße, als der andre seine
Rede verlängerte. Kaum war der zum Schlüsse gelangt, so erhob Bolze von seinem
Winkel aus, in den er uoch mit Mühe und Not gelangt war, seine Stimme und
rief: Ich bitte ums Wort, ich bitte ums Wort! Alle Köpfe wandten sich der
Stelle zu, ohne jedoch den kleinen Bolze zu scheu. — Wer bittet ums Wort? fragte
der Vorsitzende.
Bolze, Leberecht Bolze.
Die Herren am Tische steckten die Köpfe zusammen und fragten von ihrem
Podium herab, vor dem sich eine Gruppe „Zielbewußter" versammelt hatte, die
die Rolle des Chors in der Komödie zu spielen hatte. Dann nickte der Vorsitzende
mit dem Kopfe und sagte: Herr — Rentier Bolze hat das Wort.
Meine Herren, fing Bolze an.
Vortreten! Auf die Tribüne! rief man.
Bolze versuchte sich durchzudrängen. Aha! riefen die Bergleute, das ist ja
der Riesegoliath von dazumal! — Es fehlte nicht viel, so hätte man ihn sich wie
dazumal über die Köpfe der Versammlung weg zugereicht. Bolze kam also nicht
ohne Prüfungen und spöttische Geleitworte oben an, aber er achtete dessen nicht,
verbeugte sich flüchtig vor dem Vorsitzenden und begann: Meine Herren. Wenn
ich mich zum Worte gemeldet habe, so ist es nicht meine Absicht, mit Gründen zu
widerlegen, was der Vorredner soeben ausgeführt hat. (Stimme aus dem Chorus
der Zielbewußte»: Thun Sie auch sehr Wohl daran! Gelächter.) Ich will nur
dem einen Gedanken Ausdruck geben — (Sprechen Sie Ihren einen Gedanken aus!
Gelächter.) Bolze sandte dem Unterbrecher einen unwilligen Blick zu und fuhr fort:
daß eine jede Behauptung auf Ihre Richtigkeit geprüft wird, indem man die Probe
macht. Machen wir diese Probe. Sie wollen nicht allein die Stnatsform, sondern
die ganze Gesellschaftsform umändern (Sehr richtig!), derart, daß der Staat die
Produktionsmittel, Kapital und Werkzeug einzieht und als Geueralunternehmer an
die Stelle des Einzelunternehmers tritt. (Sehr richtig!) Nun ist es aber den
Freunden der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung (Cvupouschncider!) nicht zu ver¬
denken, wenn sie sagen: Ihr versprecht zwar goldne Berge, wird aber das neue
Unternehmen auch gehn? wird der Staat, wenn er eine unerhört schwierige Auf¬
gabe übernimmt, auch leisten können, was ihr versprecht? (Wissenschaftlich be¬
wiesen!) Nein, meine Herren, das kann die Wissenschaft nicht beweisen. Die
Wissenschaft hat ihre hohen theoretischen Aufgaben — und ich würde der letzte
sein, der den Wert der Wissenschaft herabsetzte —, aber in praktischen Dingen ent¬
scheidet das Experiment. Und die Experimente, die Sie angestellt haben, beweisen
gegen Ihre Behauptungen. (Murren. Quatschkvpp! Rumler! Wort entzogen!)
Herr Vorsitzender, ich frage um, ob Sie beabsichtigen, auch die gegnerische Meinung
zu Worte kommen zu lassen?
Genossen, sagte der Vorsitzende, laßt doch den Mann reden. Es ist za acht
uninteressant, einmal zu erfahren, wie sich in solchem Kopfe die Welt malt. Also
bitte —
Bolze fuhr fort: Die belgischen Glasfabriken, die nach Ihrem Muster ein¬
gerichtet sind, gehn eine nach der andern ein, oder werden in kapitalistische Unter¬
nehmungen umgewandelt. (Welche? Namen nennen!) Die Genossenfchnftsbäckereien
in Berlin haben ihren Betrieb einstellen müssen (Namen nennen! Namen nennen!),
dasselbe gilt von den Druckereien in Leipzig. Hier erlebt man das erbauliche
Schauspiel, daß sozialdemokratische Arbeiter gegen sozialdemokratische Unternehmer
streiken. (Unsinn! Lüge! Namen nennen!) Die Angestellten der sächsischen sozia¬
listischen Konsumvereine sagen, daß sie es unter sozialdemokratischen Regiment
schlechter hätten als unter ihren frühern „Ausbeutern." (Große Unruhe. Namen
nennen! Quatsch! Nausschmeißen!) Herr Vorsitzender, ich frage noch einmal an,
ob es gestattet sein soll, seine Meinung in einer allgemeinen Volksversammlung
auszusprechen.
Ja, lieber Herr, erwiderte der Vorsitzende, Sie haben hier keine Hurra-
kauaille vor sich, sondern denkende Köpfe, eine politisch geschulte Arbeiterschaft, die
uicht jede Ente, die man vor ihr auffliegen läßt, bewundert, sondern die jede Behaup¬
tung auf ihre Nichtigkeit nachprüft und sich nicht jedermanns Gefasel gefallen läßt.
Aber die Zeitungen schreiben das, was ich gesagt habe. Es ist notorisch —
Es ist notorisch, daß Ihre Presse gänzlich korrumpiert ist, daß sie in Lohn
und Brot der Herren Schlotbarone steht, und daß sie von der Verleumdung der
Sozialdemokratie lebt. Also heraus mit der wildeu Katze, wenn Sie was wissen.
Ich weiß nur —
Sie wissen nur, was Ihnen von den Jammerkerls Ihrer Presse vorgesungen
wird. Haben Sie sonst noch etwas zu sagen? — Bolze suchte nach Worten zu einer
Antwort. Inzwischen fuhr der Vorsitzende fort: Wenn Sie nichts mehr zu sagen
haben, dann setzen Sie sich. Genossen, ich habe diesem Herrn Rentier Bolze,
dieser Drohne im Bienenstocke der Arbeit (jubelnder Beifall) das Wort verstattet,
uni euch zu zeigen, mit welchen Waffen gegen uns gekämpft wird. Die Weisheit
dieser Herren ist Zeitungsklatsch, die Weisheit der Zeitungen Lüge und Verleum¬
dung. (Bitte ums Wort! rief Bolze, aber niemand achtete ans ihn.) Auf unsrer
Seite ist die Wissenschaft, das heißt, die Kenntnis des innern und notwendigen
Zusammenhanges der Dinge. Diese Kenntnis zeigt uns die Verelendung der Massen,
den notwendige» Zusammenbruch der kapitalistischen Welt und das Entstehen einer
neue« sozialistischen Weltordnung, in der dor Arbeiter der Herr sein wird. (Jubelnder
Beifall.)
Inzwischen wurde Bolze gegen seinen Willen zurückspediert, es half ihm nichts,
daß er mit den Armen in der Luft herumfuchtelte und immer von neuem ums Wort
bat. Er tauchte unter und kam nicht wieder in die Höhe. Ehe er jedoch wieder an
seinem Platze angelangt war, erklang aus derselben Ecke ein lautes und schneidiges:
Bitte ums Wort!
Wer bittet ums Wort?
Ich-
Wer ist das?
Kann Ihnen gleichgiltig sein. Ich gehöre zum deutschen Volle und habe
die bürgerlichen Ehrenrechte, kann also verlangen, in einer öffentlichen Volksver¬
sammlung gehört zu werden.
Die Herren am Vorstandstische steckten die Köpfe zusammen. Happich wurde
gerufen und mußte Auskunft geben. Der Herr Vorsitzende strich seinen roten
Bart hoch, setzte seinen goldnen Kneifer auf und sagte zu Onkel Alfons, der
eben auf der Tribüne auftauchte: Der Herr hätte nicht nötig gehabt, seinen
Namen zu verschweigen. Wir wissen, aus welchem Hage dieser Vogel singt.
Herr von Nienhagen, Bürgermeister in Hinterhanseu in Hinterpommern, hat
das Wort. (Heiterkeit.)
Onkel Alfons war ein Mann der Öffentlichkeit und fürchtete sich nicht vorm
Publikum. Er hatte schon manche „markige" oder „zündende" Rede vor der
Front oder vor seiner Hinterhäuser Bürgerschaft gehaltein Hier war er aber doch
etwas in Zweifel, welchen Ton er anschlagen sollte, den militärischen oder den
zivilem, und wie er die Versammlung anreden sollte. „Genossen, Kameraden "
das ging nicht, ebensowenig „Freunde und Brüder." Sagen wir also „Leute."
Und der Ton? — den Bergleuten da unten sah man es immer noch an, daß sie
beim Militär gestanden hatten. Wenden wir also eine militärisch-zivile Mischung
um, etwa den Ton des wohlwollenden Kompagniechefs bei nicht dienstlicher Ange¬
legenheit. Er begann also: Leute! (Unruhe. Rufe: Wir find Ihre Leute nicht.)
Ihr habt der großen Mehrzahl nach euers Königs Rock getragen. (Jawohl!)
Und ich glaube, daß ihr darum anständige Kerls seid. (Schwacher Beifall aus
dem Hintergründe.) Keine vaterlandslosen Gesellen, sondern Männer, die sich
erinnern, daß sie einst ihrem Könige den Fahneneid geschworen haben. (Unruhe
bei dem Chorus der Zielbewußten.) Diese Hohenzollernfahne weht heute noch.
Ein anständiger Kerl bricht sein Wort nicht, er beteiligt sich nicht daran, diese
Fahne herunter zu reißen. Ja, herunter zu reißen! Denn das wollen eure
Führer. Es ist ein verfluchter Unsinn, ein Verbrechen an der Weltgeschichte, jenen
stolzen Ban, den unsre Könige errichtet, unsre Väter ersehnt, unsre Brüder mit
ihrem Blute besiegelt haben, in Schutt und Trümmer zu legen, um darauf den
Herren Singer, Bebel und Aaron Lehnstühle zu errichten. (Große Unruhe, leiden¬
schaftlicher Widerspruch. Rufe: Unverschämtheit! Rumler mit dem Kerle!) Ja,
das wollen eure Führer. Leute, ich will euch sagen, was die sozialdemokratische
Partei ist: eine große Lotteriekollektion. (Gelächter.) Die Inhaber des Geschäfts
sind eure Führer, die von dem Geschäfte leben und euch anhalten, fleißig ein¬
zuzahlen. Aber ein Gewinn ist noch nie herausgekommen und wird nie heraus¬
kommen. Ja, wird nie herauskommen! (Der Chorus geriet in Pnroxysmus,
ballte die Fäuste und brüllte. Ju die ganze Versammlung kam eine Bewegung,
wie die einer unruhigen Wasserfläche.) Ihr gleicht den Leuten, die die Wirtschaft
aus dem Fenster werfen, ehe sie das große Los gewonnen haben. Rechnet doch
einmal zusammen, was euch die Partei an Beiträgen, Tcllersmnmlungen, Streik-
gelderu und Abonnements kostet. Dagegen sind die Staatsstenern eine Lumperei.
(Brüllender Widerspruch.) Wenn ihr das alles spartet, wäret ihr kluge Leute,
aber wer spart, wird ein Lump genannt. (Sehr richtig.) Und geschieht denn für
den Arbeiter nichts? Ihr habt freie Schule. Denn was ihr dazu an Steuern
zahlt, kommt nicht in Betracht. (Schallendes Hohngelächter.) Ihr habt die Alters¬
und Invalidenrente, ihr habt das Unfallgesetz, Gesetze, die die besitzenden Klassen
schwer belasten. (Heftiger Widerspruch.) Wo ist die Verelendung des Volkes? (Tumult.)
Weiter kam Onkel Alfons nicht. Der Chorus der Zielbewußten wütete und
ließ den Redner nicht wieder zum Worte gelangen. Und der Vorsitzende sah mit
lächelnder Geringschätzung zu. Onkel Alfons mußte abziehn, und er that es mit
verächtlichem Achselzucken. Darauf strich der Vorsitzende seinen roten Bart hoch,
legte sein Gesicht in seine niederträchtigsten Falten und sagte mit einer Stimme,
deren verhaltne Leidenschaft um so mehr wirkte, als ihr Ton eisig kalt war:
Genossen, wenn sich ein Spion aus dem feindlichen Heere ins Lager schleicht,
um die Soldaten gegen ihre Führer zu verhetzen, so schießt man den Kerl tot.
Das muß der Herr wissen, ders bis zur Majorsecke gebracht hat. Wenn wir
den Bürgermeister von Mottenburg in Hinterpommern laufen lassen, ohne ihm
etwas zu thun, so beweisen wir damit, daß wir wirklich die anständigen Kerls
sind, als die er uns bezeichnet hat. (Großer Beifall.) Wir sind nicht „vaterlands¬
lose Gesellen." Wir lieben Haus und Herd und Heimat. Aber unser Herd soll
»icht ein Herd für die Schwindsucht sein. (Jubclude Zustimmung.) Unsre Heimat
soll nicht in den Händen der Kornjunker und Zollbanditen liegen, die uns mit ehren
Kornwncher das tägliche Brot wegnehmen. Wir habe» kein Vertrauen zum kapi¬
talistischen Staate. Der Teufel hole die Geduld. (Großer Jubel.) Unser Recht,
das man uns verweigert, das nehmen wir uns. (Großer Beifall. Der Chorus
brüllte vor Wonne.) Natürlich, fügte der Vorsitzende hinzu, empfehlen wir nicht die
Revolution, sondern den legalen Gebrauch unsers Rechts.
Dieser Zusatz wurde aber wegen des Getöses im Saale nicht gehört und
gelangte nur bis an das Ohr des Hüters der staatlichen Ordnung, Und weiter
hatte es mich keinen Zweck.
Jetzt trat eine Pause ein, darauf ergriff Herr Lautsch das Wort, um
von der Bedeutung der Presse, insonderheit seines Blattes zu reden. — Genossen,
Arbeiter, rief er in so warmem Ton, wie es die Wahrung seines Interesses forderte,
und in den Wendungen, die ihm von den vierteljährlichen Abonnementsenwfehlungen
her geläufig waren, wenn die Volker den Inhalt der sozialen Lehre begreifen sollen,
so müssen sie aufgeklärt werden. Dies thut die Presse. Es gilt, die politische
Bildung in die Massen hineinzubringen. Dies thut die Presse. Die Presse ist
eure wahre Freundin. Die Presse ist eine Macht, sie ist auch die Macht des
Proletariats. Unsre Presse ist das Gewissen der bürgerlichen Gesellschaft, sie ruft
der kapitalistischen Welt ihr Menetekel zu, sie bringt die geheimen Erlasse und
Scheiterhaufenbriefe der Fronherren ans Tageslicht. Sie fordert Gerechtigkeit für
den unterdrückten Arbeiter, sie hilft euch gegen die Peitsche eurer Brotherren.
Darum auf aus der Lethargie! Ein Lump, wer die Wische des Brannfelser
Tintenkulivrgans je wieder in die Hand nimmt. Der „Volksherold" hat noch lange
nicht die Verbreitung gewonnen, die ihm gebührt. Abonniert, werde Abonnenten
für euer Blatt. An der Thür liegt eine Liste aus, in der Zeichnungen entgegen¬
genommen werden.
Jetzt sollte nun die übliche Resolution sür die Solidarität der Interessen des
Proletariats angenommen werden, als ein Vertrauensmann einen alten Kerl hinter
sich her auf die Tribüne schleppte und ihn Lautsch übergab. Der alte Kerl hatte
sichtlich schwer geladen. Man hörte hinter ihm her Lachen und das Wort: Kümmel¬
müller. Nach einigem heimlichen Parlamentieren ergriff der Herr Redakteur von
neuem das Wort: Genossen, ich habe gesagt, die Presse, die Öffentlichkeit müsse
uns helfen. Hier bringe ich einen Manu vor die Öffentlichkeit, der euch sagen
wird, wie Ihr in Heinrichshall behandelt werdet. — Nun, so reden Sie doch! Was
habe» Sie zu sagen —
Kümmelmüller blickte mit verschwommnen Augen im Saale umher und flüsterte
unhörbare Worte. Unten im Saale lachte man und meinte, der alte Schweinehund
sei wieder einmal schön dure, und auf der Tribüne gab man ihm einige Rippen¬
stöße, um ihn an seine Zeugnispflicht zu erinnern.
Na, was ist denn? fragte Kümmelmüller unwillig.
Wie war die Sache? fragte Lautfch.
Wie wird et denn jewesen sind? In den Schuppen haben sie mir reingelockt
und verhauen, daß ick dachte, es wäre mein Letztes. Und dann haben sie mir
auf einen Haufen Asche jeschmissen und mir liegen jelassen.
So, sagte Lautsch in einem Tone, der jedem Untersuchungsrichter Ehre gemacht
hätte. Das ist ja recht nett. — Wink für die Preßtataren, die sogleich eifrig
ansingen zu schreiben. — Merkt euch das, Genossen. Und haben Sie sich beschwert?
Nathusius, habe ick mir beschwert. Aber da hieß et: Mein Name is Hase.
Nausgeschmissen haben sie mir. Wink nach dem Tische der Schreiber. Diese
berührten mit den Nasen fast die Tischplatte. Kümmelmüller fuhr fort: Und dem
Alten sein Hauptschreiber, der lange Labanter mit dem Ncisenquetscher — Wandrer
heißt der Mensch — hat gesagt, mir wäre ganz recht geschehen. (Stimme aus
der Versammlung: Da hat Herr Wandrer ganz Recht gehabt. Großer Unwille.
Beginnende Prügelei.) Wo ick doch mein allerhöchstes Alibi nachweisen kann und fünf¬
undzwanzig Jahre als Arbeiter herumgewälzt bin und Anspruch auf mein Altenteil
habe. Und wo doch der junge Mensch dort mit der blassen Nase und dem Mottenfraße
im Barte gesagt hat, daß et keine Ehrfurcht mehr mang die Jugend jiebt, und
daß sie ihre alten Eltern hungern lassen. (Hier kam das betrunkne Elend bei
Kümmelmüller zum Durchbruch; er fing ein zu schluchzen, während ein heiliger
Schauer von Mitleid die Versammlung durchbebte und Lautsch mit gesenktem Haupte
und ineinander gelegten Händen dabei stand, als stünde er am Grabe der deutschen
Ehre.) Huu! Und wo ick det an meinem Fleisch und Blut erleben thue, und
mein Sohn, was der Doktor Duttmüller ist, hun! —
Wer? Wer ist Ihr Sohn? fragte man.
Na, wer solls denn sein? Doktor Louis Duttmüller, der seinen alten Vater
siebenmal verstoßen hat. Huu! Und heute hat er mich erst wieder rausgeschmissen,
wo doch heute Doofe ist, und ick als Vater vont Janze verlangen kann, daß ick
meine Verpflegung kriege. Und was hat er mir gegeben, der Lulatsch? —
Duttmüller griff in die Tasche und holte ein paar Groschen heraus, das übrige
hatte er schon vertrunken. — Nun aber trete ick aus meinem allerhöchsten Alibi
heraus und erkläre mir als Alois Duttmüller, Arbeiter und Naturdoktor, indem
dat ick dem alten Schäfer Matthias sein Buch habe und alle Krankheiten heilen
kann. Huu!
Diese Mitteilung machte den allergrößten Eindruck. Die Kümmelmüllern
kannten, waren zwar nicht sehr gerührt, aber die ihn nicht kannten, entrüsteten sich
über solche Lösung aller menschlichen Bande. Und daß dieser alte Kerl der Vater
von Doktor Duttmüller sei, das war doch höchst pikant und wurde von Lautsch
genossen wie eine Leckerei von einem Feinschmecker. Er verfehlte denn auch nicht,
die Sache in das rechte Licht zu scheu, nachdem er Alois Duttmüllern, der nicht
mehr stehn konnte, auf einen Stuhl gesetzt hatte, wo er fortfuhr zu wimmern.
Genossen, rief er, indem er einen aufmunternden Blick seinen Schreibtataren
zuwarf, die sogleich loslegten, daß die Tinte spritzte, ihr seid Zeugen eines
Jamiliendramas gewesen. Ihr habt einen Blick in die kapitalistische Welt gethan
und habt gesehen Vergewaltigung, Mißhandlung, Lösung der heiligsten Familien¬
bande. Hier erblickt ihr vor euch ein Opfer der kapitalistischen Weltordnung, einen
ehrenwerten Arbeiter, einen alten Mann, von seinem leiblichen Sohne mit einem
Hungergrvschen abgespeist und ins Elend verstoßen. Wo ist der Staat, wo die
Gesellschaft, die hier einschritte? Unsre Presse wird das Verbrechen zu sühnen
wissen. Genossen, die Presse ist unsre Macht. Wer jetzt auch nur uoch ein Blatt
des bewußten Tintenknliorgnns anrührt, hat keine Spur von Solidarität im Leibe.
Weg mit dem Gewäsch der gesinnungstüchtigen Schlafmützen. Lese den „Volksherold."
werde Abonnenten, die Liste liegt immer noch an der Thür aus.
Aber auch die Mißhandlung des Mannes durch Beamte in Heinrichshall
forderte Sühne, und so ergab sich eine günstige Gelegenheit, zum Feldzuge gegen
Heinrichshall aufzurufen, die Arbeiterbataillone zu organisieren und den Sturm
vorzubereiten, um diese Zwingburg der Reaktion, in der die Prügelstrafe florierte,
"is lebe man noch im Mittelalter, zu brechen. Herr Rechtsanwalt Doktor Limburg
stellte deun auch dieses Ziel vor den Augen der Arbeiter auf und fuhr in seiner
kühlen, geschäftsmäßigen Weise fort: Soll ich euch mit Zahlen vorrechnen, um
was man euch betrügt? Die Kaligesellschnft verteilt in diesem Jahre 8 Prozent Zinsen.
Das macht bei einem Mtienbestcmde von zehn Millionen 800 000 Mark Rein¬
gewinn. Hierzu kommen 100 000 Mark Abschreibungen. 50 000 Mark Grati¬
fikationen und Tantiemen für die Direktoren, macht also 950 000 Mark Gewinn.
Herr Lautsch, sagte einer der Protokollführer, sollen wir die Zahlen auch
hinschreiben?
Lasse» Sie sie lieber weg, erwiderte Lautsch.
In diese 950000 Mark teilen sich vierzig Aktionäre. Macht ans jeden durch¬
schnittlich 24000 Mark. Und ihr werdet mit dem Hnngerlohn von 4 ^arr
""gespeist. Jene erhalten ihr Geld, ohne die Hand zu rühren, ihr mußt tagUcy
eure gesunden Knochen aufs Spiel setzen. Jene gebrauchen die Coupon,chere
ihr Hammer und Schlägel. Ihr seid tausend Mann, werdet also ein jeder mhrllch
um 950 Mark an dem Lohne verkürzt, der euch zukommt. Der Mensch muß
das Gehirn eines Kretins haben, der nicht sieht, welche schreiende Ungerechtigkeit
hier vorliegt. Genossen, ihr hofft ans den großen Kladderadatsch, der das alles
ändern soll. Ihr täuscht euch. Jeder große Erfolg besteht aus kleinen Erfolgen,
ein Heer wird besiegt, indem jeder einzelne Mann besiegt wird. Hier steht vor
euch der einzelne Mann, Heinrichshall. Heraus aus der gedankenlosen Schlamperei.
Organisiert euch, stellt eure Forderungen: Verkürzung der Arbeitszeit, Erhöhung
des Lohns, Arbeiternachweis, und ihr werdet das Werk in eure Hände bringen.
Der Rede folgte eine stürmische Zustimmung, in der sich jedoch widersprechende
Töne bemerklich machten, und eine Stimme aus der Versammlung rief: Arbeiter,
Freunde, bedenkt, was ihr thut. (Rufe: Schluß! Wort entzogen! Ruhe! Reden
lassen!) Ihr habt doch euer Auskommen! (Gelächter. Wer ist denn der Mensch? —
Nothkamm, der Portier. Den hat doch nur der Direktor geschickt. Spitzel! Pfui!)
Wollt ihr für die Herren Agitatoren da hungern? Wollt mit Weib und Kind
ins Elend gehn? (Haut doch dem Lumpen übern Schädel! Er hat Recht!)
Das ist ein thörichter Mensch, der die Kuh krank macht. Woher will er hernach
die Milch nehmen? (Schlagt ihm muss Maul! Raus! raus!)
Die Menge fing an, hin und her zu schieben, schon fielen Hiebe. Der Vor¬
sitzende sah mit eisiger Ruhe zu und that nichts, die Menge zu beruhigen. Der
Mann des Gesetzes erhob sich. Man beschwichtigte ihn und brachte ihn wieder
auf seinen Stuhl, aber er saß offenbar nicht fest. Auch die Beschwichtigung der
erregten Menge, zu der man sich jetzt herbeiließ, war nicht dauerhaft. Es zeigte
sich, daß die Opposition von einer Gruppe älterer Arbeiter ausging, die sich an
dem einen Ende des Saales zusammengeschlossen hatte. Mau drohte mit den
Fäusten, man warf Schimpfworte herüber und hinüber, der Chorus der Zielbewußten
stimmte die Arbeitermarseillaise an, und die ganze Menge, die den Saal füllte,
geriet in Bewegung. Tische und Stühle krachten zusammen, Knüppel und Stöcke
erschienen über den Köpfen, das Geschrei wurde ohrenbetäubend. Der Mann des
Gesetzes erhob sich, zugleich auch der Vorsitzende.
Im Namen des Gesetzes — sagte der Gendarmeriewachtmeister.
Die Versammlung ist geschlossen, rief der Vorsitzende mit scharfer, Heller Stimme
dazwischen, dem Manne des Gesetzes zuvorkommend.
Sogleich erschien in der Thür des Nebenzimmers ein halbes Dutzend Helme.
Die bewaffnete Macht griff ein, um den Saal zu leeren. Wütendes Geschrei,
Hohngelächter der Arbeiter war die Antwort, die höllischen, schrillen Töne wurden
laut, die erklingen, wenn die Bestie im Menschen wach wird. Hier sang man
die Arbeitermarseillaise, dort schrie einer, wie wenn er erwürgt würde, Stöcke
und Gläser flogen durch die Luft, da waren einige auf Tische gesprungen und
gebärdeten sich, als wenn sie wahnsinnig wären.
Die Hüter der Ordnung thaten in bekannter Schneidigkeit ihre Schuldigkeit,
wodurch zum Heil der bürgerlichen Ordnung erreicht wurde, daß der Saal fünf
Minuten schneller entleert wurde, als es sonst der Fall gewesen wäre, und daß
ein halbes Dutzend Menschen, statt nach Hause gehn zu können, im Spritzenhaus
übernachten mußten, nachdem sie nach den Regeln der Kunst angeschrieen und
abgeschüttelt worden waren.
Die Herren auf der Tribüne sahen mit lächelndem Hohn auf den Tumult
hinab, zogen ihre Überzieher an und fuhren heim mit dem Bewußtsein, ihr Unter¬
nehmen erfolgreich beendet zu haben.
Die Differenz zwischen Herrn Dr. spähn
und mir (vgl. Ur. 16 und 17 der Grenzboten) besteht in zwei Punkten. Herr
Dr. Spcchu bestreitet zunächst daß das auch von ihm nicht geleugnete Mißtrauen
der protestantischen Deutschen historisch begründet sei, und dann, daß, auch wenn
das der Fall sei, die Fortdauer des Jesuitengesetzes vom 4. Juli 1872 berechtigt
sei. Für die historische Begründung des so tiefgewurzelten protestantischen Mi߬
trauens spricht einigermaßen schon das alte Sprichwort: Wo Rauch ist, da ist auch
Feuer; wo ein solches Mißtrauen besteht, da muß es doch irgendwelche, vielleicht
in der Vorstellung sehr übertriebne, aber objektive Ursache haben. Gewiß, als
„Kampforden gegen die Protestanten" ist der Orden nicht gerade gestiftet worden,
d. h. Ignatius Loyola hat diesen Zweck nicht geradezu ausgesprochen, vielleicht
weil er von den germanischen Lutheranern nicht viel wußte, wahrscheinlicher, weil
er zwischen den verschiednen Arten der „Ungläubigen" keinen Unterschied machte,
da es ihm auf den Grad des „Irrtums" nicht ankommen konnte; aber als die
„Kompagnie Jesu" ihre Gelübde ablegte, da war darunter auch die Verpflichtung:
..Alles zu thun, was ihnen der jedesmalige Papst befehlen werde, in jedes Land zu
gehn, zu Türken, Heiden und Ketzern, in das er sie senden werde, ohne Wider¬
rede, ohne Bedingung und Lohn, unverzüglich" (Ranke, Päpste I>> 127, in den
sämtlichen Werken Band 31). Die Heidenmission, ans die Herr Dr. spähn be¬
sonders hinweist, war doch eben nur die eine Seite ihrer Thätigkeit, die Ketzer¬
mission eine andre; von der Mission unter den Mohammedanern wollten sie ur¬
sprünglich ausgehn. Also missionieren, bekehren, die ungläubige oder irrgläubige
Welt der römischen Kirche, dem Papsttum unterwerfen wollten sie jedenfalls. Einen
Vorwurf wird ihnen der Historiker natürlich nicht daraus machen, sie folgten
einer großartigen Idee; aber nicht davon ist hier die Rede, sondern von der
Empfindung derer, auf die sich ihre Missionsarbeit richtete, und die sich ebenso gut
oder in noch höheren Grade ini Besitz der christlichen Wahrheit glaubten. Einem
Feinde, der mich angreift, werde ich vielleicht zugestehn, daß er von seinem
Standpunkt aus nicht anders handeln konnte, aber von meinem Standpunkt aus
werde ich mich wehren, so gut ich kann, denn ich halte ihn für ebenso oder besser
berechtigt als den andern, und ich werde, mich wenn der Friede wieder hergestellt
ist, doch nicht vergessen, daß ich mich habe wehren müssen, und daß ich ans der
Hut sein muß. Ju dieser Lage sind die protestantischen Deutschen keineswegs
gegenüber der römisch-katholischen Kirche als solcher, auch nicht gegeuüber ihren
Ordeusgenossenschaften, von denen manche wie vor allem die seit mehr als
einem Jahrtausend in Deutschland einheimischen Benediktiner bei uns sogar lebhafte
Shmpathien genießen, sondern eben mir gegeuüber den Jesuiten. Denn sie haben
dem Protestantismus mit allen Mitteln weite Gebiete entrissen, wo er empor¬
gekommen war und schon festgewurzelt schien; sie haben überall, gestützt auf die
Staatsgewalt und nicht selten auf die Waffen roher Söldner, die Schwachen zu
sich herübergezogen, die Starken und standhaften aus der Heimat in die Fremde,
oft ins Elend getrieben, und wir können nicht zugeben, daß sie etwas Besseres an
die Stelle dessen gesetzt hätten, was sie zerstört'hatten, denn was mit äußern
Mitteln, mit Überredung, mit Zwang auf religiösem Gebiete geleistet wird, ist
sittlich wertlos. So aber haben vor allem (nicht allein) die Jesuiten das geistige
Leben der österreichischen Deutschen unheilbar geschädigt, sie haben es dem Leben
Gesamtdeutschlands für Jahrhunderte entfremdet, sie haben in Böhmen nach 1621
einen geistigen „Völkermord" verüben helfen, wie die europäische Geschichte keinen
Zweiten kennt, und doch das furchtbar geschwächte tschechische Volkstum der deutschen
Bildung nicht unterworfen, weil sie selbst diese gar nicht vertraten. Sie waren
die Träger der Gegenreformation in den geistlichen Stiftslanden, die um 1^70
größtenteils so gut wie protestantisch waren; sie sollten nach dem verhängnisvollen
Restitutionsedikt vou 1629, das 120 Stifte in Norddeutschland .für die römische
Kirche zurückforderte, durch ein Netz vou Niederlassungen diese ganz protestan¬
tischen Gebiete ihrer Kirche zurückgewinnen; sie beherrschten als Beichtväter die ka¬
tholischen Fürsten Deutschlands und damit ihre Kirchenpolitik, die schließlich die be¬
drängten evangelischen Fürsten, die wahrlich den Frieden wollten, dem Fremden,
dem Schwedenkönig in die Arme trieb und den greuelvolleu Krieg erst zu einem
dreißigjährigen machte; sie haben auch später noch allerorten daran gearbeitet, pro¬
testantische Fürsten in den Schoß ihrer Kirche zurückzuführen, und wir haben es
in Sachsen noch hente nicht vergessen, daß sie es waren, die nach der äußerlichen,
von äußerlichen Gründen herbeigeführten Konversion Friedrich Augusts des Starke«
den Kurprinzen auf jahrelange» Reisen in katholischen Ländern von seiner prote¬
stantischen Umgebung trennten und ihn so lange umgarnten, bis der verlassene
und ratlose junge Fürst ihnen den Willen that und durch seinen Übertritt die Kon¬
version der Dynastie entschied. Es hat der ganzen hingebenden Treue des prote¬
stantischen sächsischen Volkes zu seinem Herrscherhause bedurft, auch diesen Schlag
ohne dauernden Schaden für beide zu überwinden. Gewiß, das sind tsmxi xW-M,
aber ihre Folgen greifen wir noch heute mit Händen, und deshalb können wir sie
auch noch nicht vergessen.
Herr I)r. spähn bestreitet weiter, daß die Sittlichkeit der Jesuiten in schroffem
Gegensatze zum protestantisch-germanischen Geiste stehe, denn die katholische Kirche
dulde bet keinem Orden „eine andre Moral als die Moral Jesu Christi." Theo¬
retisch mag der Satz richtig sein, praktisch haben Amphibolie, Prvbabilität, rssör-
vatio MöntÄlls und andre Grundsätze der spitzfindigen jesuitischen Kasuistik mit der
erhabnen Sittenlehre des Erlösers nicht nur nichts zu thun, sondern sie stehn
mit ihr in unversöhnlichem Widerspruch. Sogar der gelehrte französische Benedik¬
tiner Mabillon hat bitter geklagt, daß die heidnische Ethik solche angeblich christliche
Theologen beschaue. Und nicht nur gegen sie, sondern anch gegen den „Kadaver¬
gehorsam," diesen Kernsatz jesuitischer Disziplin und Erziehung, bäumt sich alles
auf, was im protestantischen und germanischen Menschen lebt. Dieser Orden aber
hat auf die entscheidende Schlußsessiou des Tridentiner Konzils 1562/63 einen
bestimmenden Einfluß ausgeübt und jede damals vielleicht noch mögliche Ver¬
ständigung mit dem Protestantismus verhindert. Seitdem ist die römische Kirche
immer mehr zentralisiert und immer mehr romanisiert, ist das germanische Element
in ihrer Leitung immer mehr zurückgedrängt worden, und damit ist sie eben etwas
wesentlich andres geworden, als sie im Mittelalter gewesen ist, vollends seitdem
die pis, ssntontia. der Jesuiten von der Unfehlbarkeit des Papstes 1870 Dogma
geworden ist; sie ist nicht mehr der kirchliche Ausdruck des romanisch-germanischen
Völkerkreises, sondern im wesentlichen nur noch seiner romanischen Hälfte, und sie
wird das bleiben, bis die deutschen Elemente wieder mehr Einfluß auf ihre Leitung
gewinnen, als sie offenbar jetzt haben.
Daß die Jesuiten in katholischen Ländern zuweilen einzelnen hierarchischen An¬
sprüchen der Staatsgewalt entgegengetreten sind, wie Herr Dr. Spahn weiterhin
ausführt, mag sein; in solchen Ländern waren sie der Herrscher doch durch andre
Mittel hinlänglich sicher, und nicht darauf kommt es an, sondern ans das Prinzip.
Da hat nun schon Jakob Lainez, der zweite Ordensgeneral, 1562 die päpstliche
Macht unmittelbar aus göttlicher Einsetzung abgeleitet, die Staatsgewalt als eine
vom souveränen Volk eingesetzte, also rein menschlich der kirchlichen Autorität unter¬
geordnete Institution bezeichnet und damit die Anschauung eines Gregors VII. und
Innocenz III. wieder aufgenommen. Es kann doch gar nicht daran gezweifelt
werden, daß diese Lehren auch in den Jesuitenschulen gelehrt wurden, daß sie also
auch ihre» Einfluß ausübten, soweit der dieser Schulen reichte, wenngleich sie
natürlich nicht immer nrbi et ordi verkündet wurden aus — Vorsicht. Und wenn uicht
Ricci, sondern Papst Clemens XIII. (1753—1769) den Satz Ant ut sunt, aut,
non sink ausgesprochen hat, so ist das sachlich doch ganz gleichgiltig.
Die historischen Gründe für das protestantische Mißtrauen gegen die Jesuiten
sind also doch wohl stark genug, es zu erklären. Wenn sich mehrmals eine Reichs¬
tagsmehrheit für die Aufhebung des Jesuitengesetzes zusammengefunden hat, so wird
diese aus Elementen gebildet, die im konfessionellen Interesse handeln oder ihre Partei-
doktrincn allen andern Erwägungen voranstellen; Freisinnige und Sozialdemokraten
sind nicht die Leute, mit deren Zustimmung etwas für den nationalen Charakter
einer Maßregel bewiesen werden könnte. Ein Recht aber zu dem Verlangen, daß
ein Mehrheitsbeschluß des Reichstags vom Bundesrat angenommen wird, besteht
bekanntlich nach der Reichsverfassung nicht, denn beide Gewalten sind in der Gesetz¬
gebung einander koordiniert.
Herr Dr. Spahn beruft sich aber darauf, daß das Jesuitengesetz gegen die
Rechtsüberzeugung der Mehrheit verstoße, weil es ein Ausnahmegesetz sei, und
ohne weiteres muß man ihm zugeben, daß mit dem Nachweis, das Mißtrauen der
Protestanten gegen den Orden sei historisch begründet, die zweite Frage nach der
Berechtigung des Jesuitengesetzes noch nicht entschieden sei. Ich gebe ihm sogar
zu, daß es dem Standpunkt der abstrakten Gerechtigkeit widerspricht. Die Frage
ist nur, ob der Staat immer imstande ist, namentlich gegen öffentlich-rechtliche
Korporationen und tgi., diese abstrakte Gerechtigkeit zu wahren. Dem Satze:
iustitig, reg'noram 5unAamontum steht ein andrer entgegen: salus reipublie^g su-
pre-ma, lex. Der Staat kann nicht sagen: nat, iustitia, verölt, munäus, denn sein
Dasein ist ihm Selbstzweck; seine Gerechtigkeit findet also ihre Schranke in seiner
höchsten und nächsten Pflicht, der Pflicht der Selbstbehauptung. Wenn er findet,
daß etwas in seinem Körper diese Selbstbehauptung gefährdet, so wird er es aus¬
stoßen oder niederzuhalten suchen. Der preußische Staat ist gegen die Polen nicht
gerecht, denn er kann es nicht sein, so lange sie als Feinde unsers Volkes und unsers
Staats auf die Polonisiernng und die Loslösung unsrer Ostproviuzeu hinarbeiten,
die wir so wenig aufgeben können wie Elsaß und Lothringen; der sächsische Staat
ist trotz seines katholischen Herrscherhauses gegen die katholische Kirche nicht ganz
gerecht, insofern, als seine Verfassung vom 4. September 1831 die Gründung neuer
Ordeusniederlassuugeu außer den beiden alten Cisterzienscrnonnenklöstern der Ober¬
lausitz schlechtweg verbietet. Auch wenn heute das Jesuiteugesetz aufgehoben würde,
Würde diese Bestimmung Sachsen dem Orden verschließen, und der Versuch, sie zu
umgehn oder zu verletzen, würde einen Sturm der Empörung im Lande entfachen,
bei dem Herr Dr. spähn das sonst so ruhige Volk nicht wiedererkennen würde.
So lange ein ähnliches Urteil über die Jesuiten im protestantischen Deutschland
besteht, so lange wir fürchten müssen, daß sie den konfessionellen Frieden stören,
die heillose Absondrung unsrer katholischen Mitbürger in katholischen Verbindungen
und Vereinen mir fördern würden, die mit kirchlichen und religiösen Zwecken gar
nichts zu thun haben, aber überall ans dem Boden geschossen sind und den Ver¬
kehr mit deu Evangelischen künstlich unterbinden, die Nation zerreißen — so lange
ist für sie kein Platz im Deutschen Reiche, so lange wäre die Gerechtigkeit gegen
sie eine schwere Ungerechtigkeit gegen die nun einmal weit überwiegend protestan¬
tische Mehrheit unsers Volkes. Daran kann kein Reichstagsbeschluß etwas ändern.
So lange! Es giebt nur einen Ausweg, der dieses „so lange" abkürzen
könnte. Gewiß, wir haben es nicht mit den Jesuiten des sechzehnten und des sieb¬
zehnten Jahrhunderts, sondern mit den Jesuiten der Gegenwart und mit den deutschen
Jesuiten zu thun. Es kann sein, daß sie aus ihren Erfahrungen gelernt und sich
den neuen Anforderungen angepaßt haben, wie sie es immer verstanden und z. B.
in der neuen Ratio swciiornm von 1832 auf dem Gebiete des Schulwesens gethan
haben; es ist möglich, daß sie sogar gelernt haben, sich als Deutsche zu fühlen,
obwohl der Orden mit seiner grundsätzlichen Gleichgiltigkeit gegen die Nationalität
Mi sich dazu nicht erzieht. Die von den deutschen Jesuiten außerhalb des Deutschen
Reichs gegründeten Kollegien (eins in Dänemark, vier in Ostindien, zwei in Nord¬
amerika, eins in Südamerika) gelten als deutsche Anstalten und sollen, wie der Jesuit
G. M. Pachtler versichert, „dazu beitragen, deutsche Sprache und Sinnesart auch bei
den ausgewanderten Landsleuten zu bewahren." Nicht immer kann man aus Prinzipien
alle praktischen Konsequenzen zieh», wenn man sie auch theoretisch uicht aufgiebt. Der
Anspruch der römischen Kirche auf selbständige Abgrenzung ihres Machtkreises und
die Souveränität des modernen Staats stehn in prinzipiellem Widerspruch, aber
beide müssen sich praktisch doch immer wieder miteinander vertragen. Wir haben
in Deutschland schon so manches altehrwürdige Kriegsbeil begraben und müssen
damit fortfahren, wenn wir weiter leben wollen; kein Volk Europas hat das so nötig
wie wir. So mag dereinst vielleicht anch das jesuitische Kriegsbeil begraben werden,
und die Zeit mag kommen, wo die beiden Kirchen friedlich und freundlich neben¬
einander wetteifernd am Wohl unsers Volkes und damit der Menschheit arbeiten
werden, ohne ihre Besonderheiten, in denen ihre eigentümliche Kraft beruht, auf¬
zugeben. Aber dann muß sich erst die Meinung des protestantischen Volkes über
die Jesuiten ändern. Die bloße Polemik hilft hier gar nichts, vielleicht aber die
Belehrung, die ehrliche, sachliche Diskussion. Wie wäre es, wenn Herr Dr. Spahn,
der doch überzeugt ist, daß die heutigen deutschen Jesuiten die alten Vorwürfe
nicht mehr verdienen, zunächst eine möglichst allgemein verständliche und unbefangne
Darstellung ihres Wirkens als Lehrer, Missionare und Gelehrte in der Gegenwart
oder seit der Wiederherstellung des Ordens 1814 unternähme oder veranlaßte, die
einfach die Thatsachen reden ließe? Daß eine solche Darstellung in der protestan¬
tischen Presse totgeschwiegen würde, wäre kaum zu befürchten — die Grenzboten
würden sie sicher nicht totschweigen —, und so würde sie auch allmählich auf die ge¬
bildeten Protestanten wirken. Denn auf diese kommt es zunächst an, nicht ans die
Massen. Änderte sich unser Urteil über die Jesuiten, könnten wir uns mit gutem
Grunde davon überzeugen, ..daß diese nicht mehr die Erzfeinde unsrer Kirche, sondern
nur treue Priester der katholischen Kirche und gute Deutsche sind, dann würde der
Boden bereitet, auf dem die Jesuiten den Rückweg ins Vaterland finden könnten.
Aber niemals darf diese Rückkehr eine Kapitulation des Deutschen Reichs und des
Protestantismus vor der römischen Kirche sein. -
Bei den
jetzt wiederholt in der Presse auftauchende» Notizen und unklaren Gerüchten über
die Unruhen an den russischen Hochschulen und bet den sich daran knüpfenden
Mntmaßuugen und Befürchtungen vor dem drohenden Gespenst der Revolution
wollen wir versuchen, dem deutschen Leser die den Unruhen zu Grunde liegenden
Ursachen verständlicher zu machen. Um den jungen russischen Studenten in seinem
stark ausgeprägten Triebe nach Befreiung von allen Fesseln und jedem Zwang
besser zu verstehn, ist es notwendig, einen kurzen Blick ans die seiner Studienzeit
vorausgehende Schulzeit zu werfen. Von dem Tage seines Eintritts in eine
öffentliche Schule bis zur Vollendung seines Studiums auf der Universität muß
der russische Jüngling in Uniform erscheinen; dieser Uniformzwang trägt wesentlich
dazu bei, daß sich der russische Schüler seinem gleichfalls uniformierten Lehrer gegen¬
über hauptsächlich als Untergebner fühlt, fast wie ein Soldat seinem Offizier
gegenüber. In den meisten Fällen tritt er infolgedessen während seiner ganzen
Schulzeit in gar keine nähern Beziehungen zu seinem Lehrer, dieser ist und bleibt für
ihn uur der strenge Richter und Vorgesetzte, der unerbittlich jedes Versehen straft
und durch eine schlechte Zensur sogar den häuslichen Frieden zu stören droht.
Das oft herzliche patriarchalische Verhältnis, wie es sich wohl auf deutschen Schulen
zwischen Lehrer und Schüler mit der Zeit auszubilden pflegt, ja häufig zu einer
Freundschaft für das ganze Leben wird, kennt der russische Zögling nicht; der Lehrer
ist und bleibt ihm ein Fremder, zumal wenn er, wie es sast immer der Fall zu
sein pflegt, aus einem andern, entfernten Gouvernement des ungeheuern Reiches
stammt. In Rußland kommt es nicht selten vor, daß z. B. ein Lehrer, der in
Kasan seine Studien betrieben hat und aus dem Ural stammt, nach Polen geschickt
wird; ein Pole wird nach Sibirien versetzt, ein Sibirier endlich soll erziehend auf
die Jugend im Kaukasus oder gar in deu russischen Ostseeprovinzen einwirken.
Wie soll ein Zusammenarbeiten zwischen dem Lehrer und den Schülern möglich
sein, wenn der Lehrer mit den der Provinz eigentümlichen Gewohnheiten völlig
unbekannt ist? Kommt nun noch hinzu, daß Lehrer und Schuler verschiedner Natio¬
nalität und Religion sind, so ist der Boden für ein gewisses Mißtrauen, das sich bei
den Schülern oft bis zur offnen Feindschaft zu steigern Pflegt, vorbereitet. Und wie¬
viel Nationalitäten und Religionen giebt es in dem großen Rußland, das seine Arme
vom Herzen Europas bis zu den äußersten Gestaden des Stillen Ozeans erstreckt!
Endlich schlägt für deu Schüler die Stunde der Befreiung; das Abiturienten-
examen ist glücklich überwunden, hinter dem Jünglinge schließen sich die engen
Pforten der Schule, er ist frei, und die Welt steht ihm offen. Doch halt! Schon
bet dem ersten Schritt außerhalb des Ghmnasiums fühlt er eine Fessel; er hat
nämlich nicht das Recht, sich eine Universität selbst zu wählen, er muß sich den
Bestimmungen unterwerfen, wonach die verschiednen Universitäten nur Hörer aus
bestimmten Gouvernements aufnehmen dürfen. Doch er unterwirft sich gern diesem
Zwang, denn dahinter winkt ja die Freiheit des Burschenlebens! — Ein Student
Westeuropas kann sich keinen Begriff davon machen, wie wenig Annehmlichkeiten
dem russischen Kommilitonen das Burscheuleben bietet. Alls Schritt und Tritt
verfolgen den russischen Studenten Verordnungen, die seine persönliche Freiheit ein¬
schränken, in der ihn überall als Studenten kennzeichnenden Uniform fühlt er jeder¬
zeit das Auge des Gesetzes mit „besondern: Wohlwollen" ans sich ruhen, denn
der russische Student steht im ganzen Reich unter Polizeiaufsicht! Ist er eine
stille Natur, die sich nur ihren Studien und Arbeiten widmet, so kommt er nicht
dazu, die ihm gezognen engen Grenzen zu überschreiten und dadurch in Konflikt
mit der Obrigkeit zu geraten, hat er aber wie die Mehrzahl der jungen Leute
das Bedürfnis, sich auszutoben oder sich die Hörner abzulaufen, dann wehe ihm!
Jede Nation hat einen ihrer Art entsprechenden Blitzableiter für die über¬
schäumende Jngendkrnft der in dem neuen Gefühl der Freiheit schwelgenden
Jünglingsseele. Nur die russische Hochschule erlaubt dem jungen Manne nichts der¬
gleichen, sondern erstickt noch mit Macht den sich hier und da regenden ungefähr¬
lichen Freiheitsdrang, während vielleicht gerade die russische Natur, eine impulsive,
leicht für das Edle, rein Menschliche begeistrnngsfähige, mehr als andre Naturen
einer Ablenkung in ein harmloses, ungefährliches Fahrwasser bedürfte. Sich zu
Korporationen oder Vereinen zusammenzuthun verbietet das Universitätsstatut,
ja sobald mehr als sechs junge Leute auf der Wohnung eines Kameraden zusammen
sind, müssen sie der Polizei Meldung erstatten, widrigenfalls jeder Schutzmann
das Recht und sogar die Pflicht hat, sie zum Anseinandergehn aufzufordern. Der
Sport ist in Rußland noch wenig bekannt und beliebt, auch bringt er viele Aus¬
gaben mit sich, die der russische Student in den meisten Fällen nicht zu leisten im¬
stande ist. Dazu kommt, daß das Zusammenschließen zu Vereinen, Gesellschaften usw.,
-ein unbedingtes Erfordernis zur gedeihlichen Entwicklung des Sports, durch die
Universitntsbehörde verboten wird.
Viele Zeitschriften und Bücher sind in Nußland verboten. Bei „Verdächtigen"
können durch die Gendarmerie zu jeder Tages- und Nachtzeit Haussuchungen vor¬
genommen werden. Dieser Zustand wird noch verschlimmert durch eine wachsende
Denunzianten-und Spionenwirtschnft. So hatte sich z. B. jüngst ans einer geheimen
Versammlung, die trotz des Verbots doch zustciude gekommen war, ein Angeber in
der Uniform eines Studenten eingeschlichen; er hielt eine zündende Rede über
Freiheit, Gleichheit usw.; die begeistrungsfcihigen Hörer wurden fortgerissen und
ließen sich zu nhulichen unvorsichtigen Reden verleiten. Die Folge davon war, daß sie
auf die Denunziation des Angebers zur Verantwortung gezogen wurden. Mau male
sich aus, wie ein solcher Vorfall auf junge, empfängliche Gemüter wirken muß.
Durch das Fehlen irgend einer Ablenkung während der Sturm- und Drang-
periode der Jünglingsjahre, durch die ihm überall in den Weg tretenden Vorschriften
und Verbote, durch das Mißtrauen, das der russische Student häufig seinen Kom-
Millionen entgegen zu bringen gezwungen ist, wird er gerade in seinen ersten Se¬
mestern in eine innere Auflehnung gegen die herrschende Regierungsform, gegen seine
Lehrer und Vorgesetzten hinein getrieben. „Weh das Herz voll ist, des geht der
Mund über." Aus den Gedanken werden Worte, die sich bei Gelegenheit in Thaten
umsetzen, in öffentliche Demonstrationen und tumultuarische Protestkundgebungen.
Ein Beweis für die Richtigkeit der hier angeführten Ursachen der Studenten¬
bewegung liegt schon darin, daß bei allen Unruhen, neben einer geringen Anzahl
von Hetzern, die bei Tumulten ja nie zu fehlen Pflegen, fast nur Studenten der
ersten Semester vertreten sind; die ältern Studenten, die kurz vor dem Examen
stehn, die ihre Sturm- und Drangperiode schon hinter sich haben, halten sich fast
immer fern, ja sie mißbilligen oft das Vorgehn ihrer jüngern Kommilitonen. Als
weiterer Beweis können die beiden alten baltischen Hochschulen in Dorpat und in
Riga angeführt werden. Sowohl in Dorpat als auch in Riga bestehn seit etwa
siebzig Jahre» Korporationen mit laudsmannschaftlichen Grundsätzen. Nie sind
während der langen Dauer des Bestehns dieser Korporationen Unruhen der
Studenten in diesen beiden Städten vorgekommen; erst in den letzten Jahren, mit
der Einführung der russischen Univerfitätsordnuug, der Uniformierung der Studenten¬
schaft, des Verbotes von Verbindungen aller Art und der Überschwemmung der
erwähnten Hochschulen durch russische Akademiker machen sich auch hier Anzeichen
einer steigenden Unzufriedenheit bemerkbar.
In Dorpat ist das Farbentrngen auf der Straße verboten, aber die Korporationen
bestehn noch fort und werden von der Universitätsbehörde geduldet, da sich diese
des Wertes der Verbindungen wohl bewußt zu sein scheint. In Riga dürfen
die Couleurstudenten ihre Farben öffentlich tragen und sind dadurch von dem
Uniformzwnng befreit, während jeder nicht kvrporierte Student diesem Zwange
unterworfen ist. Sogar Petersburg, das Zentrum der Studeutenunruhen, hat eine
farbentragende Korporation, deren Mitgliedern erst im vorigen Jahr das Recht
verliehen wurde, ihre Abzeichen öffentlich zu tragen als Belohnung dafür, daß sie
sich nie an den studentischen Kundgebungen beteiligt haben.
Während früher die Unruhen an den Hochschulen und Universitäten nur von
den Studenten ausgingen, sind sie jetzt häufig mit Arbeiterrevolten verbunden.
Der Akademiker hat mit der Zeit eingesehen, daß er allein gegen die Staats¬
gewaltnichts auszurichten vermag, und sucht nun den leicht entzündbaren, unzufriednen
russischen Fabrikarbeiter zu seinem Bundesgenossen zu machen; und dies ist der
einzige Puukt in der ganzen Bewegung, der sür den Staat eine Gefahr mit sich
zu bringen vermag, den man deshalb ernst nehmen muß, denn es könnte einmal
der Fall eintreten, daß der Akademiker mit dem Goethischen Zauberlehrling ausrufen
müßte: Die ich rief die Geister werd ich nun nicht los! Sollte man sich in
Rußland endlich entschließen können, den Akademiker nicht als gemeingefährliches
Subjekt, sondern als Menschen anzusehen und ihm dasselbe Recht der freien Selbst¬
bestimmung zu gewähren, wie es jedem andern Staatsbürger ohne weiteres zusteht,
und wie es der Student, sobald er die Hochschule verläßt, ebenfalls genießt, so
würde die ganze von der Studentenschaft ausgehende Gefahr in ein Nichts zerfallen,
weil der russische Student sich, wie seine Kommilitonen im übrigen Europa, selbst
ein seinen Neigungen entsprechendes, weniger gefahrvolles Feld wählen würde.
So wie die Dinge jetzt liegen, kommt er gar nicht dazu, sich der Freiheit des
Studentenlebens zu erfreuen; vou dem ersten Tage an muß er um sie kämpfen,
und dieser Kampf bietet zugleich der jungen, impulsiver Natur soviel Reiz, vielleicht
gerade wegen der damit verbundnen Gefahr, daß er sich ihm völlig hingiebt.
Die Zeiten haben sich geändert; was zu Nikolaus des Ersten Zeit, wo ja bekanntlich
das russische Hochschulwesen militärisch organisiert war, gepaßt hat, paßt für die
Z
eit fruchtbar und mehret euch, und wenn euch die Feinde in
diesem euerm natürlichen Recht hindern wollen, so trefft sie mit
der Schärfe des Schwerts und laßt euch durch nichts andres
irre machen. Ob eine Idee, oder der Befehl Jchovcchs — nur
mit der aufopferungsfähigen Bethätigung der in den Worten
liegenden Wahrheit giebt ein Volk der Unabhängigkeit seines Daseins die aus¬
reichende Gewähr. Den Juden gehörte das Land nicht, in das sie einbrachen,
um Platz für ihr Leben zu gewinnen, aber es war ihnen verheißen worden,
und so traf das scharfe Schwert, das ihnen ihr Gottesglaube in die Hand
drückte, mit solcher Wucht, daß nicht bloß Raum wurde für eine erste Be¬
siedlung, fondern auch für die spätere völlige Besetzung des Landes. Um¬
gekehrt hatten die Geusen den besten Besitztitel auf das Land ihrer Väter,
aber trotz dieses Rechts hätten sie ewig draußen bleiben müssen, wenn nicht
ein begeisterter Glaube die Kraft ihres Arms gestählt und ihnen den Sieg
über ihre Bedränger verliehen hätte.
Herrschaft wird mit den Mitteln erhalten, durch die sie gewonnen wurde.
Diese Wahrheit tönt in den verschiedensten Variationen von aller Menschen
Lippen, aber nur wenigen kommt sie aus dem Herzen. Ein tönendes Erz und
eine klingende Schelle, weil den Worten die Liebe fehlt, die allein die Kraft
der Fortpflanzung hat. In der Glut der Liebe vergeht die Selbstsucht und
vereinigt sich mit dein, was im andern ist, zu einer höhern Einheit. Zu der
Einheit, die das Ganze will und deshalb unüberwindlich ist. Nicht ein schwäch¬
liches Mitleiden mit dem andern, sondern die höchste, die feinste Form des
Egoismus, der das Fortbestehn der Menschheit gewährleistet.
Auch den Bestand der Staaten sichert er auf die Dauer allein. Die
Meergeusen fuhren auf den Kämmen der Wogen daher, mit denen ihre Schiffe
verwachsen schienen, wie die Leiber der Centauren mit denen ihrer Rosse. Der
Geist, der über den Wassern liegt, das freie Meer und die Freiheit der Seelen.
Dem Brüllen der Wogen glich ihr Befreiungsgesang, der Glauben und Liebe
ins Land trug, das ihm mit heißer Brunst entgegenkam. Briel und Leyden.
Hat jemals eine Siegesbotschaft die Gemüter höher aufwallen machen, als die
Kunde, die von diesen beiden Städten ausging? Die Liebe schmelzt die
Herzenshärtigkeit, und die Selbstsucht, sie wirst ihr Besondres weg, um dafür
das allen Gehörige zu gewinnen. So gewannen die Holländer das ihnen ge¬
hörende Land aus den Händen ihrer Unterdrücker und stellten es als selb¬
ständige politische Macht mitten in die Reihe der europäischen Großstaaten.
Wohl mag es eine Frage sein, ob Holland, gering an Umfang und ohne
die Möglichkeit der lokalen Expansion, den ganzen Umfang seiner Bedeutung,
den es im Jahre 1675 hatte, inmitten der sich mehr und mehr entfaltenden
nationalen Staaten des Kontinents habe behaupten können. Viele Gründe
der verschiedensten Art lassen diese Frage als berechtigt erscheinen, aber mir
die beiden hervorragendsten sollen uns hier beschäftigen. Zunächst war es für
die Niederlande ein Unglück, daß es der Glut der nationalen Erhebung nicht
gelang, zugleich mit der Abstoßung des äußern Feindes auch die Möglichkeit
des Nachwuchses ihrer vielköpfigen Zwietracht ansznsengen. Es ging ihnen
wie den Griechen, die durch Schlachten wie bei Salamis und Platäa die
Perser für immer aus ihren Grenzen vertreiben konnten, aber es nicht ver¬
mochten, ihrem nationalen Verbände von Grund aus das Gepräge politischer
Zusammengehörigkeit zu geben. Aus ihrer Zugehörigkeit zum Deutschen Reiche
hatten die Holländer die Angewöhnung an das Sonderleben mitgebracht, das
im besondern germanisch ist, und so boten sie im kleinen dasselbe Bild, das
jenes Konglomerat von Stämmen derselben Nationalität im großen darstellte.
Wie groß und gefährlich die Reibungen waren, die aus diesem Hange
zu politischer Gliederung bis in die kleinsten Teile entstanden, darüber giebt die
Geschichte der Niederlande einen Ausweis so anziehenden Inhalts, daß ihm
aus der neuern Geschichte kaum etwas ähnliches an die Seite gestellt werden
kann. Wunderbar das Interesse, das von diesen Dingen ausgeht, und noch
wunderbarer dadurch, daß die drohende Entzündung nicht bloß einseitig hintan
gehalten wird, soudern daß an der Ausglättung der Gegensätze beide sich be¬
kämpfende Parteien gleicherweise teil haben. Den großen Männer» aus dem
Hause Oranien stehn ebenso große Republikaner gegenüber und wetteifern mit
ihnen, das Vaterland nicht unter der Reibung der gegeneinander stehenden
Kräfte leiden zu lassen. Besser freilich wäre es gewesen, wenn in einem akuten
Ausbruch die große Frage in dein Sinne erledigt worden wäre, wie sie
nach der Wiederherstellung Hollands im Jahre 1815 ihren Auftrag gefunden
hat. Einigemal hatte es anch den Anschein, als ob auf diese Weise die
Lösung herbeigeführt werden sollte, aber dann blieb das Leiden doch wieder
chronisch und wurde so einer der Gründe, von denen im vorigen die
Rede war.
Der zweite lag in dem Umstände, daß die englische Revolution von 1688
den Prinzen Wilhelm von Oranien auf den englischen Königsthron rief. Das
war allerdings deshalb ein großes historisches Ereignis, weil es dem Ehrgeize
Frankreichs den Zügel anlegte und das Gleichgewicht Europas auf die festeste
Grundlage stellte. Auch wurde der holländischen Politik damit die Stetigkeit
gegeben, die für die freie Bewegung des Handels und für die Entwicklung der
Industrie im Lande überaus günstig war. Gewiß höchst erfreulich für den
Erwerbssinn der betriebsamen Niederländer, die, die wagelustigsten Seefahrer
der Welt, ihre Fühlhörner nach allen Richtungen der Windrose hin aus¬
streckten. solange Wilhelm III. lebte, war Friede zwischen den beiden See¬
mächten, und wenn auch die nationale Eifersucht nicht geringer werden mochte,
so waren doch Vergewaltigungen wie die Navigationsakte Cromwells aus¬
geschlossen.
Aber auch mir, so lange der große Oranier lebte. Wenn er einmal die
Augen schloß, war die Lage der Dinge zwischen beiden Ländern dieselbe wie
vorher, nur mit dem Unterschiede, daß Holland ans dem Verband innerlich ge¬
schwächt auf die eigue Basis zurück trat. Das Sprichwort sagt, daß die
Menschen nicht ungestraft nnter Palmen wandeln; ebenso wahr ist, daß
Staaten nicht ohne empfindlichen Schaden für ihre innere Festigkeit im
Schatten größerer Mächte einherziehn. Das mochte sich nun damals, als die
Union eingegangen wurde, sogar dem weit ausschauenden Auge des größten
Herrschers in Europa entzieh», auch mochte er des Glaubens sein, daß in
einer Zeit, wo auf der einen Seite bigotter Katholizismus und starrer Absolu¬
tismus die Welt regierte, auf der andern der freiere Glaube und der um-
fassendere Staatsgedanke den Zwiespalt zwischen den beiden gleichangelegten
Völkern nicht wieder aufkommen lassen werde. Wilhelm III. von England
war einer der größten Realpolitiker, die es jemals gegeben hat, aber der Ge¬
walt der Ideen, die damals das protestantische Europa außerhalb Deutschlands
durchsetzten, war auch er unterworfen. Es kommt noch etwas andres hinzu,
daß es auch diesem Großen uicht anders ging als allen übrigen Menschen,
daß sie das, was sie in sich selber fühlen, auch bei andern voraussetzen.
Wilhelm von Oranien glaubte an die Tradition seines Hauses und war der
Überzeugung, daß, wie sie in ihm Leben hatte, sie so auch in den spätern
Gliedern seiner Familie Großes wirken werde.
Doch mag es hiermit sein, wie es will, jedenfalls hat es sich nachträglich
herausgestellt, daß der große Gedanke, den der Ornnier zum Vorteil Englands
und zum Besten der in der protestantischen Welt umgehenden Ideen durch¬
geführt hat, sehr zum Nachteil Hollands ausgeschlagen ist. Nicht in dem Ge¬
danken an und für sich lag das, geschweige daß gar die Politik Wilhelms
darauf ausgegangen wäre, das Land seiner Väter in Abhängigkeit von seinem
Adoptivvaterlande zu bringen, aber es liegt in der Natur der menschlichen
Dinge, daß mit einem solchen politischen Anschluß das kleinere Staatswesen
dein Übergewicht des größern ausgeliefert wird.
Nichtsdestoweniger lag die Gefahr, völlig in der englische» Selbstsucht auf-
zugehn, noch fern genug. Noch Ware» die großen Überlieferungen sowohl in
der republikanischen wie in der oranischen Partei lebendig. Wenn mau lvolltc,
so konnte jeder sich sagen, was von einem Bündnis mit England zu halten
war, wenn nicht die eignen Breitseiten für die loyale Ausführung der Ver¬
träge sorgten. Nicht bloß aus den Staatsakten, sondern noch aus der eignen
Erinnerung konnte man sich die Gründe heraufholen, die für Johann de Wit
gegen ein von Cromwell gewünschtes Bündnis ausschlaggebend waren. Nicht
gegen ein Bündnis überhaupt, sondern gegen ein solches, worin nicht genau
nach den herrschenden Interessen der Vorteil gleichmäßig abgemessen war. Es
war nicht anders, als daß die Niederländer auch nach dem Tode Wilhelms
an der Seite Englands gegen Frankreich kämpfen mußten, aber es kam darauf
an, wie sie selbst ihre Stellung in diesem Koalitionskriege auffaßten.
Den Republikanern wurde dauernd der Vorwurf gemacht, daß sie die
holländische Landmacht vernachlässigten, ohne Zweifel mit gutem Grunde.
Aber auf der andern Seite darf mit einigem Recht auch die Frage auf¬
geworfen werden, ob nicht von oranischer Seite auf die Pflege der Sicherung
des Landes dnrch die herrschende politische Überzeugung zu viel Gewicht gelegt
worden sei. Wenn man in der holländischen Geschichte von der Not liest,
die der Haager Politik die Erhaltung der Festungsbarriere gegen Frankreich
gemacht hat, so drängt sich dem rückwärts schauenden Betrachter immer wieder der
Gedanke auf, daß mit deu auf diese Sorge verwandten Mitteln das Gleich¬
gewicht der Wehrkraft gestört worden sei, auf dessen Erhaltung Holland viel¬
leicht mehr hingewiesen war als irgend ein andrer Staat damaliger Zeit.
Daß die Niederlande der Angriffslust Frankreichs gegenüber starker
Grenzfestungen bedurften, darüber braucht es keine Worte weiter, aber über
dieser unzweifelhaften Notwendigkeit darf man nicht vergessen, daß die eigent¬
liche Stärke Hollands in seiner Lage am Meere beruht. Wenn es heißt, daß
dieses Land eine Seemacht war, so ist damit nicht genug gesagt, Holland
war das, was zu Zeiten der alten Griechen Athen bedeutete, und damit war ihm
auch dessen maritime Politik vorgeschrieben. Man hat niemals davon gehört,
daß Themistokles darauf ausgewesen sei, die Kraft zu brechen, die in der
Phalanx der Marathonkämpfer lag, aber er ruhte nicht, bis er der Flotte das
Recht verschafft hatte, das ihr gebührte, und damit Athen auf den freien Dreh¬
punkt gehoben hatte. Die Politik der „hölzernen Mauern" war die einzig
richtige für die Niederländer, sie mußten diese so weit muss Meer hinnus-
bauen, wie es nur eben anging. Nicht nur die geographische Lage ihres
Landes an der günstigsten Stelle Europas gebot ihnen das, sondern auch
ihre politische Stellung. Diese war so vorteilhaft wie jene und wies mit der
Stetigkeit der Magnetnadel in die Richtung, wohin das Staatsschiff zu lenken
war. Nicht bloß für die Republikaner, sondern auch für die Orcmicr. Mit
großem Erfolg hatte Johann de Wit diese Staatskunst geübt; als das
dynastische Interesse die Holländer nicht mehr an England knüpfte, mußten
ihre Staatsmänner dahin zurückkehren.
In der That, die Zeiten boten dem kleinen Holland eine Gunst, wie sie
in der Weise niemals wiederkehren kann. In der Lücke, die die Eifersucht
Frankreichs und Englands ließ, war es leicht, sich die Ellenbogenfreiheit zu
bewahren, die für die Selbständigkeit der Bewegung ausreichend war. Aller¬
dings gehörte nach der französischen Seite dazu eine wenigstens für den ersten
Anfall ausreichende Landmacht, während bei der viel größern englischen
Gefahr die Flotte nicht stark genug sein konnte. Die Holländer mußten jeder¬
zeit über eine Flotte gebieten, die ihnen nicht bloß die Freiheit der Meere
und die Ergebnisse ihres Handels sicherte, sondern ihnen anch in dem großen
Gedränge der politischen Gegensätze die völlige Unabhängigkeit ihres Entschlusses
gewährte. In unsern Tagen hat das Genie Bismarcks für die deutsche Politik
die Parole der Bündnisfähigkeit abgegeben, ein Wort, das nicht bloß den
spontanen Gedanken des überlegnen Geistes umfaßt, sondern vielmehr die Ab¬
straktion einer ans alter Zeit zuströmenden historischen Erfahrung darstellt.
Für die Niederlande war diese Politik um so mehr geboten, als sie der
Hauptsache nach nur uach zwei Seiten auszuschauen brauchten. Das Deutsche
Reich, von Österreich geführt, machte ihnen keine große Sorge, und die
Aspirationen der preußischen Könige lagen meist in ihrer Richtung. So
konnten sie das ausschlaggebende Gewicht ihres Beistands ungehindert dahin
werfen, wo jedesmal die eignen Interessen zu verteidigen waren. Droste die
übermächtige Offensive Frankreichs, so war nicht bloß bei England, sondern
in ganz Europa Rückhalt zu finden, und war von England ihre Seegeltnng
in Frage gestellt, so brauchten die holländischen Orlogschiffe auch nicht allein
den Kampf aufzunehmen. Eines wilden kriegerischen Trotzes, wie ihn einst¬
mals Tromp mit dem Besen an seinem Besnnmaste gezeigt hatte, bedürfte es
nicht, sich Respekt auf dem Meere zu verschaffen, dazu reichten die ruhige
Haltung, der Mut und die Disziplin im Geiste eines de Richter auch aus.
Dessen allerdings mußte man sich in der Führung der Geschäfte immer
bewußt bleiben, daß, wo auch Gelegenheit war, sich in die Angelegenheiten
Europas zu mischen, ausschließlich die eignen Interessen Anlaß dazu geben
durften. Daß dies nicht geschehn ist, davon bringt die Geschichte mehr als
genug Beweise, und es soll noch darüber die Rede sein; doch vorab noch eine
andre Bemerkung. Dein Historiker, der sich gewöhnt hat, die Dinge der Ver¬
gangenheit aus dem Bismarckischen Geiste anzuschauen, will es scheinen, als
ob seit dem Tode Wilhelms III. die holländische Diplomatie um einer Viel-
gcschäftigkeit gelitten habe, die überhaupt nichts Gutes an sich hat. Erklärlich
war das, weil der Haag schon seit langer Zeit der Mittelpunkt vieler diplo¬
matischen Geschäfte war. Viele schönen Ideen sind hier lebendig gewesen und
haben auf den Lippen großer Staatsmänner beredten Ausdruck gefunden. Be¬
sonders die Idee des europäische» Gleichgewichts hat im Haag, man möchte
fast sagen, persönlichen Charakter angenommen, und damit hängt es denn
Wohl auch zusammen, daß sie in ihrer Erweiterung zum Gedanken des all¬
gemeinen Weltfriedens noch jetzt ihr Wesen dort hat. Aber als ein Gespenst
ohne Mark und Blut und als ein Hohn auf die Wirklichkeit des Lebens,
die im Lande der Buren zu den mühsam aufgedeckten Paragraphen die „roten
Rubriken" zieht.
Die Staatskunst als die Kunst der Wirklichkeiten im höchsten Sinne
sollte immer in engster Fühlung mit dein Pillsschlag des nationalen Lebens
bleiben und sich vor nichts mehr hüten, als durch die sogenannten Ideen fest¬
gelegt zu werden. Die Hegung vorgefaßter Meinungen birgt zweierlei Gefahr
in sich, erstens, der Aiigewöhuung akademischer Erörterung zu verfallen, und
zweitens, über dem Hang zur Vielseitigkeit das Eigne aus den Augen zu ver¬
lieren. Obgleich das eine nicht minder vom Übel ist als das andre, so hat
sich doch die holländische Staatskunst, die nach dem Tode Wilhelms die Ge¬
schäfte aufnahm, vor der Vielthuerei so wenig in acht genommen wie vor der
Gewöhnung. Es ist das Charakteristische alles Epigonentums, des Beharrungs¬
vermögens nicht Herr werden zu können. Epigonen haben die Erkenntnis
einer gewesenen Wahrheit, aber außer der Wahrnehmungsfähigkeit für
neue Lebenstriebe fehlt ihnen die schöpferische Kraft, die Form, über die sie
gebieten, frisch sprossenden Ansätzen anzupassen. Die Diplomatie der Holländer
fuhr je länger je mehr teils auf alten, ausgefahrnen Geleisen, teils auf solchen,
die nicht auf dem eignen Boden lagen.
Nach allediesem war es kein Wunder, daß die gerühmte holländische
Staatskunst schon in den letzten Jahren des spanischen Erbfvlgekriegs sehr
auf abschüssiger Bahn war. Die Zeiten hatten sich während der Regierung
der Königin Anna anfangs nicht, aber dann plötzlich wie mit dem Handum¬
drehn geändert. Wenn man geglaubt hatte, daß die Politik in England, die
zur Entthronung der Stuarts geführt hatte, niemals eine Änderung erfahren
könne, so war das eine große Täuschung gewesen. Für den Tag des Ab¬
lebens der Königin plänkelt die Tories die Restauration der Stuarts, wie sie
nach dem Tode Cromwells gelungen war. Aber ob diese Gefahr groß oder
klein für England war, mußte deu Holländern bis zu dem Augenblick gleich-
giltig sein, wo die Haltung Frankreichs ihnen selbst die Gefahr nahe brachte.
Bis dahin durften sie nichts andres thun, als den Engländern die Sorge um
ihre innern Angelegenheiten selbst überlassen.
Zu dieser freien Höhe der Auffassung hat sich die Politik der Holländer
nicht emporschwingen können, und so sind sie in der Verstrickung hängen ge¬
blieben, die die Staatskunst des englischen Königs aus oranischen Hanse über
sie gebracht hat. Das war schlimm, viel schlimmer, als jemals eine Ver¬
brüderung nnter der republikanischen Staatsordnung eines de Wit und Cromwells
für die Niederlande hätte werden können, aber noch brauchte nicht das Aller¬
schlimmste in Aussicht zu stehn, wenn sie nur ihrer natürlichen Wehrkraft
nicht hätten vergessen wollen, die ihnen die Natur so gut um deu Leib gelegt
hatte wie den Engländern. Diese hatten im Beginn des achtzehnten Jahr¬
hunderts, die Brander und die kleinen Fahrzeuge nicht mitgerechnet, eine Flotte
von 184 Kriegsschiffen mit einer Bemannung von mehr als 50000 Mann
darauf. Einer solchen Machtentfaltung konnte wohl Holland nicht gleich¬
kommen, aber mit einer Kraftanstrengung, die allerdings große Lasten auf den
Steuerzahler legte, hatten die Niederländer in den Jahren 1667 und 1672
Flotten ausgesandt, die der englischen nahezu gleich und jedenfalls imstande
waren, sie zu besiegen. Mittlerweile war Holland nicht ärmer, wohl aber
reicher geworden, sodaß der zu machende Schluß für jeden auf der Hemd liegt.
Auch der Geist der großen Admiräle, denen von der Zeit der Geusen her
die Führung dieser Flotten anvertraut war, war mit nichten schlafen gegangen.
In den Thaten einzelner Führer flammte immer wieder die alte Heidenschaft
empor und warf denen, die das Beste des Landes wollten, leuchtend die Er¬
kenntnis in die Seelen, daß es, um Großes zu erreichen, nur auf das stolze
Selbstbewußtsein ankam, das nicht bloß gegen den Spanier, sondern auch gegen
den Engländer durchschlagend war. Aber wo regte sich noch diese gehaltne
Selbstachtung in dem Willen der holländischen Diplomatie? Nicht einmal den
Schatten des Trompschcn Besens wagte man auf die englische Wand fallen
zu lassen. Im Jahre 1704 eroberte holländische Tapferkeit Gibraltar. Dem
aus der Schule de Nuyters stammenden Admiral Calleuberg, der die Stadt
zur Übergabe gezwungen hatte, wurde deshalb vom König Karl ein eigen¬
händiges Dankschreiben zu teil, das in den Ausdrücken wärmster Anerkennung
abgefaßt war. Auch erklärte die Königin Anna dem holländischen Gesandten
van Vrhbergen, daß die Erhaltung der „gemeinsamen Eroberung" ein Gegen¬
stand ihrer Unterhandlungen mit den Generalstaaten sein werde. Seitdem ist
diese wichtige Festung in den alleinigen Besitz Großbritanniens übergegangen;
in den Verhandlungen aber, die zum Utrechter Frieden führten, hört man auch
nicht von einem Worte des Protestes, das von einem holländischen Unter¬
händler ausgegangen wäre.
Freilich, was half die beredteste Erörterung der Gesandten, wenn man
nicht den Mut hatte, ihren Worten mit dem Donner der Kanonen Nachdruck
zu verleihen? Nicht einmal den Franzosen gegenüber war die Verbindung
mit England stark genug. Während dieses damals begann, seine Polhpenarme
um die ganze Welt zu legen, und in der Nahe und in der Ferne anch seinen
Verbündeten deu Atem zu verkümmern, waren die Holländer der Hauptsache
nach damit beschäftigt, den Franzosen blutige Schlachten zu Lande zu liefern.
Als ob das feste Land ihr Lebenselement und als ob es ihre Schicksals¬
bestimmung gewesen wäre, für die Engländer die Vorpostenstellung einzu¬
nehmen, ließen sie die Kraft ihrer reichen Mittel in die Aufstellung von Land¬
heeren fließen, verteidigten leblose steinerne Grcnzwälle gegen die Franzosen
und hatten keine Sorge, daß ihre lebendigen hölzernen Mauern ans dem Meere
verfielen.
Der Lebensstrom der Niederlande ging durch die Rheinmündungen und
die Zuidersec aufs Weltmeer hinaus; wo die Engländer draußen waren, da
mußten sie auch sein, um sich die Luftzugänge offen zu halten. Obgleich dies
eine Wahrheit war, deren Predigt auf deu Lippen der Unmündigen zum Sturm
aufrufen mußte, sorgte die Regierung kaum für den Schutz ihres notwendigsten
Handels. Schon im Jahre 1703 konnte es vorkommen, daß eine Kauffahrrei¬
flotte von hundertdreißig Schiffen und in einem andern Falle eine Herings¬
flotte nur mit genauer Not den Franzosen entrannen, während die unge¬
nügenden Konvois nach tapferer Gegenwehr entweder sanken oder eine Beute
der Feinde wurden. Es ist in der That eine Wahrheit, die irgendwo anders
ausgesprochen worden ist, daß die Holländer ihr bestes Blut haben umsonst
ins'Meer fließen lasten.
Das ist eine schreckliche Wahrheit, und um so schrecklicher, als sie die
Folgen noch jeden Tag an ihrem Leibe fühlen, und sie aus dem Ver-
zweifluugsschrei der Bnrenfrauen und Bnrenkinder an ihre Ohren schallen
hören, ohne helfen zu können. Denn was nützen moralische Vorhaltungen
und Boykotts gegen englische Schiffe, was helfen Friedenskongresse, und was
hilft das Herz einer jungen edeln Königin, deren Augen von Thränen über¬
fließen, aber deren Hände ins Leere fassen? Was half Heknba all ihr Jammer
und ihre Not, als die Fehler ihrer Söhne nicht mehr gut gemacht werden
konnten? Entrüstungsversammlungen? Wenn sich die doch wenigstens die
Holländer hätten sparen wollen! Die Engländer können gar nicht anders
handeln, als wie sie thun. Es liegt in dem Gang ihrer Geschichte, den diese
einmal eingeschlagen hat, und den sie durchlaufen muß, mag es im Thal oder
auf der Höhe sein, wenn sie sich nicht selber aufgeben wollen. Chamberlain
und Cecil Rhodes sind die natürlichen Erben und Fortsetzer der Politik, die
einst in Indien unter Warren Hastings und Lord Clive ihre blutigen
Furchen zog.
Da Hütten die Holländer eher zusehen müssen. Noch war es Zeit, als
der Utrechter Friede geschlossen war. Was wahrend der Verhandlungen in
dieser Stadt selbst ihrem Gesandten widerfuhr, konnten sie als Beispiel für
das ansehen, was ihnen selber beschieden war, wenn sie sich nicht vorsahen
und nicht von Grund aus ihre Politik auf die andre Basis stellten. Aber es
ist unnötig, von der Höhe der Gegenwart rückblickend Betrachtungen darüber
anzustellen, was hätte geschehn müssen, da es nicht geschehn ist. Statt daß
eine freiere Zeit der Selbsterkenntnis die nationale Erhebung herausführte,
legte sich die des Verkennens der eignen Kraft immer tastender und lähmender
auf Volk und Regierung. Jetzt kam das, wovon die Rede war, mehr und
mehr zur Entfaltung, es kommen die Tage der Fülle der Rede und des
Mangels an Thatkraft.
Aus dem Jahrhundert, das zwischen dem Frieden von Utrecht und dein
Wiener Kongreß liegt, braucht nur Weniges hervorgehoben zu werden: die Dinge
reden alle dieselbe Sprache. Zu den tüchtigsten Unterhändlern auf hollän¬
discher Seite während des spanischen Erbfolgekriegs hatte Buys gehört, auch
war er, aus der Schule Wilhelms, immer für kräftige Fortführung des Kriegs
an der Seite Englands gewesen. Aber die Erfahrungen, die er seit dem Jahre
1710 mit dieser Macht gemacht hatte, waren stark genug, ihn der entgegen¬
gesetzten politischen Auffassung zuzuführen. Im Jahre 1715 handelte es sich
um ein Bündnis zwischen Frankreich, England und den Niederlanden, von dein
nur die beiden ersten Mächte Vorteil hatten, Frankreich die Sicherung der
Orleansschen Regentschaft gegen die Machenschaften Alberonis, England die
der protestantischen hannoverschen Erbfolge gegen die Stuarts. Buys wider¬
riet die Abschließung des Vertrags aufs entschiedenste mit Gründen, die, um
es kurz zu sagen, von der Fabel der mit dem Löwen jagenden Tiere her¬
genommen waren. Aber wie einleuchtend seine Darstellungen auch warm, so
schlugen sie doch nicht durch, und das Bündnis kam zustande. Holland nahm
daran mit einer reichlichen Ausgabe vou Worten, aber keineswegs mit einer
nennenswerten Rüstung von Kampfmitteln teil.
Aus diesem Bündnis ging im Jahre 1718 die sogenannte Quadrupel¬
allianz hervor, die geschlossen wurde, ohne daß man die Beitrittserklärung
Hollands abgewartet hatte. Nur hierin liegt denn auch das Interesse, das
wir an dieser Stelle um dem Vorgange nehmen dürfen. Es ist charakteristisch,
daß die drei abschließenden Mächte nach außen des Namens der zweiten „See¬
macht" nicht entbehren konnten, daß sie aber unter sich der beratenden Stimme
Hollands wohl entraten zu können glaubten. Wie die Voraussetzung gewesen
war, so geschah es: Holland trat, ohne Empfindlichkeit zu zeigen, bei und hatte
dafür die Genugthuung, später den Friedensvermittler spielen zu dürfen. Das
war billig, es bedürfte dazu nur eines geeigneten Aufwands von Worten,
wahrend die Kriegsschiffe weiter in den Häfen vermodern durften.
Um uicht nach allgemein Bekannten zu greifen, möge hier noch auf die
Weiterungen hingewiesen werden, die durch die vom deutschen Kaiser in Ost¬
ende installierte Handelskompagnie ins Leben gerufen wurden. Wie die Schelde
vertragsmäßig für den Handel geschlossen war, so wollten die Holländer auch
den von Ostende ausgehenden Handel uicht dulden. In den langjährigen
Verhandlungen, die sich neben andern wichtigern auch auf diesen Gegenstand
bezogen, zeichnete sich ans holländischer Seite der Ratspensionür Simon
von Slingelandt aus. Die holländische Geschichtschreibung stellt ihn zum Teil
als Bewahrer des Friedens neben Walpole und den Kardinal Fleury und
legt ihm als holländischem Staatsmann ohne Bedenken die Bedeutung Johanns
de Wit bei. Die Wahrheit ist, daß Slingelandt den Friedenstraktat entworfen
hat, den nach langen vergeblichen Bemühungen in Soissons und Sevilla
endlich die streitenden Mächte in Wien annahmen, und daß er vom Lord
Chesterfield deshalb höchlich gelobt wird.
Mag hierüber die Genugthuung der Holländer groß sein, mögen sie auch
die Wohlredenheit und die Geschäftskenntnis ihres Ministers so hoch stellen,
wie sie wollen, besser wäre es für sie gewesen, wenn er hinter den von ihm
Paragraphierten Traktat auch die starke Flotte hätte stellen können. Nicht
auf die Bewundrung des einzelnen Engländers, und wenn er noch so hoch
gestellt war, kam es an, sondern auf die Achtung, die ganz Großbritannien
vor dem starken Willeir seines alten Nebenbuhlers hatte. Diese Achtung er¬
zwang seinen Landsleuten weder Slingelandt, noch einer seiner Nachfolger,
wie guten Willen diese auch im einzelnen Falle zeigten. In der verhältnis¬
müßig langen Friedenszeit von 1766 bis 1780, während der der holländische
Handel flott ging und reichen Gewinn abwarf, nahmen die Finanzen des
Staats einen solchen Aufschwung, daß nicht bloß die Schulden gedeckt wurden,
sondern daß man sogar nicht wußte, wo mit dem Gelde bleiben. Die
holländischen zweieinhalbprozentigen Obligationen stiegen auf 106 und 107, und
reiche Leute hatten thatsächlich Not, ihr Geld irgendwie gewinnabwerfend unter¬
zubringen. In dieser günstigen Lage dachte der Schatzmeister Johann Hoy alles
Ernstes daran, die Kriegsmarine wieder auf den Stand zu bringen, den sie in
ihren besten Zeiten gehabt hatte, aber als er mit seinen Vorschlägen heraustrat,
fand er bei den Regierenden kaum irgendwo Verständnis. Die Ausgaben für
eine Flotte waren nicht „produktiv," und wo in aller Welt zeigte sich denn
am Horizont ein Wölkchen, das zu einer Gewitterwolke anschwellen konnte?
Europa hatte Ruhe; sanft eingebettet lag es zwischen den Kissen der
Traktate, die seine Diplomatie ihm gestopft hatte. Besonders über Holland
lag ein milder Friedcnshimmel, der den von den Geldsäcken seiner Kapitalisten
aufsteigenden Träume,: so wohlig förderlich war. Die niederländischen Kauf¬
leute wollten Ruhe und Frieden haben. Mit Worten und Reden, gesprochnen
und geschriebnen, hatten sie sich heiß in Europa darum gemüht und auch nicht
vergessen, eifrig ein Beispiel zu geben, wie das zu machen sei. Dem ge¬
schmeidigen Kaufmann machen die von Kanonen starrenden Seiten der Orlog-
schisfe das Geschäft nur schwierig. Deshalb laßt uns dieses gefährliche Spiel¬
zeug fein säuberlich fern halten: auf die Dauer wäre es doch ein Wunder,
Wenns die andern nicht nachmachten. Diese sanfte Friedenspolitik hatte schon
in den fünfziger Jahren den Holländern das Urteil von englischer Seite ein¬
gebracht, daß „Holland noch eine Seemacht hieß, aber keine mehr war," und
im Jahre 1776 sagte ein Mitglied des englischen Parlaments: „Holland ist
wenig mehr als eine große Handelsgesellschaft mit verweichlichten Sitten und
einem erschöpften Einkommen, gering an Kraft und noch geringer an Mut."
Das war hundert Jahre, nachdem der Kapitän Brakel mit seinem Linien¬
schiffe die Kette unterhalb des Schlosses Upnore auf der Themse gesprengt
hatte. Brakel war von de Ruyter wegen eines Vergehens im Dienste in
Disziplinarstrafe genommen worden: das ging dem ehrliebenden Manne be¬
sonders unter diesem Admiral an die Nieren. Aber statt sich in grollendem
Mißmut zurückzuziehn, meldete er sich zur Ausführung des Wagnisses, wenn
der Kommandeur ihm Verzeihung zuteil werden lasse. Man sieht daraus, wie
der Untergebne die Notwendigkeiten des Dienstes auffaßte. Wie war dem
gegenüber der Admiral? De Ruyter war in seinem Privatleben ein mild
denkender Mann und von sprichwörtlich gewordner Sanftmut der Sitten, aber
im Dienst kannte er keine Nachsicht und im Donner der Schlacht kein Zurück¬
weichen. Warum drängten sich im Frieden seines Hauses die Kinder um seine
Kniee? Weil sie wußten, wo Liebe zu haben war, und weil sie das un¬
erschütterliche Vertrauen des Kinderglaubens zu ihm hatten. Und weshalb
warfen sich auf den Planken der von den Feinden umdrängten Schiffe seine
Untergebnen bis auf den letzten Mann in den Tod? Weil er das Beispiel
gab, und weil sie sich in seiner Obhut geborgen fühlten.
Neben Michael de Ruyter, der die Schlachten der Republik schlug, stand
der andre Mann, dem die Nation im Rate die Leitung ihrer Geschicke an¬
vertraut hatte. Johann de Wit war in der Führung der holländischen Politik,
der innern und der äußern, dasselbe, was de Ruyter an der Spitze der Flotte
war, sowohl was die Anforderungen der Disziplin betraf wie die andern der
Schlacht. Niemals haben sich beide Seiten eines Staatslebens völliger ge¬
deckt als in diesen beiden Männern, die durch eine unzertrennliche Freund¬
schaft miteinander verbunden waren. Unzertrennlich war dieses Herzcnsbündnis,
weil es nicht auf persönlichen Interessen, sondern auf einem Interesse beruhte,
das außer ihnen lag. Johann de Wit und Michael de Ruyter fühlten sich
eins in der gemeinsamen uneigennützigen Liebe zum Vaterlande, das ihnen über
alles ging. So floß in den beiden die Einheit des holländischen Staats zur
Unüberwindlichkeit zusammen.
Ob auch unter der Voraussetzung einer ähnlichen Geschlossenheit der
führenden Kräfte diese Unüberwindlichkeit in ihrem ganzen Umfange dauernd
gesichert gewesen wäre, kann aus den im vorigen ausgeführten Gründen be¬
zweifelt werden; aber auf der andern Seite ist es noch viel gewisser, daß
Holland mit einem ganz andern, und zwar bessern Ergebnis seiner Geschichte
in das neunzehnte Jahrhundert eingetreten wäre, wenn es einigermaßen eine
seinen wirklichen Interessen angepaßte Politik befolgt Hütte. Wenn man be¬
denkt, daß ohne ihr Zuthun die Niederlande ans völligem Zusammenbruch
noch mit der Ausstattung ihres indischen Besitzes wieder aufgetaucht sind, so
ist der Schluß durchaus berechtigt, daß eine thatkräftigere Wahrung ihrer
eigentlichen Lebensinteressen ihnen noch viel wertvollern Besitz gerettet hätte.
Freilich als der Unabhüngigkeitskampf der Nordamerikaner sie noch in der
frühern völligen Schwäche überraschte, war es dazu zu spät.
Der furchtbare Krieg, in den die Engländer durch den Widerstand ihrer
eignen Kolonien verwickelt wurden, war für die Holländer die letzte Gelegen¬
heit, sich aus dem Marasmus emporzureißen, der ihr Staatsleben umfangen
hielt. Da sie es nicht gethan haben, so sind sie rettungslos in dem Wirbel
untergegangen, mit dem die französische Revolution das westliche Festland von
Europa überflutet hat. Rettungslos und ohne alle Hoffnung, zu der Selb¬
ständigkeit des Lebens zurückkehren zu können, an der vergangne Geschlechter
ihre stolze Freude gehabt hatten. Andre Völker haben das gekonnt, aber die
Niederländer führen bloß ein Scheinleben und waren und werden nur das
fein, was ihnen die Gnade der Großen vorzustellen erlaubt.
Eine Lehre so eindringlicher Natur, wie sie einstmals die Geschichte der
Athener geliefert hat. Noch niemals ist ein Volk daran zu Grunde gegangen,
daß es sich schwere Lasten auferlegte, wohl aber, wenn es glaubte, der Müdig¬
keit nachgeben zu dürfen, wozu es im Drange des Lebens keine Zeit hatte.
Es stimmt mit den Sätzen der Darwinischen Lehre durchaus überein, daß nur
das Volk wahrhaften Anspruch auf ein unabhängiges Leben hat, das in der
Freiheit der Selbstbestimmung mit immer erneuerter Auffrischung seiner sitt¬
lichen Kräfte in den Kampf ums Dasein hinabsteigt. Das Leben ist nicht
notwendig, wohl aber der Kampf darum; nur der wird das Leben gewinnen,
wer im Ringen darum es auch hingeben kann.
Am Leibe eines Gemästeten sitzen die Fettschichten nur im Wege, und im
Leben der Völker ist der Reichtum nur dann von Nutzen, wenn er zum Vor¬
teil des Ganzen immer von neuem wieder hinausgeworfen wird zur Gewinnung
neuer Werte. Fein ausgeklügelte volkswirtschaftliche Systeme? Man hat noch
von keinem gehört, das nur annähernd den universalen Charakter trüge. Da
das Wesen zwischen zwei Gegensätzen pendelt, hier unten der Begierde und
dort oben der Kraft der Entsagung, so kann man nur das sagen, daß es
richtig ist, in irgend einer Weise das Gleichgewicht zwischen beiden herzustellen
und aufrecht zu erhalten. Glücklich die Nation, an deren Spitze eine Negie¬
rung ist, die es versteht, den Erwerbssinn auf die richtigen Ziele zu leiten,
und andrerseits nicht zaghaft ist, der Hypertrophie entgegenzutreten, die nur
stickiges, faules Blut schafft. In der Schreckenszeit der'französischen Revo¬
lution sagte Saint-Just: Der Körper muß schwitzen, wenn er gesunden soll.
Aber es ist besser, die Bürger eines Staats durch ihre Geldbeutel als aus
ihren Adern schwitzen zu lassen.
Wenn es sich um das Wohl des Vaterlands handelt, dann soll man das
Geld da nehmen, wo es zu haben ist. Nur keine zarte Rücksicht oder Zag-
haftigkeit vor den Anhäufungen des Mammons: es ist besser, daß der eigne
Staat mit fünf Fingern von ihnen nimmt, als daß der fremde sie mit vollen
Händen davon trägt. Mau weiß aus der Geschichte, wie der eindringende
Eroberer die Hilfsquellen eines Landes aufzufinden und sie nicht sprudeln,
sondern strömen zu machen versteht. Mus; daran erinnert werden, wie der große
Napoleon das arme Preußen unter die Darusche Druckpumpe genommen hat?
In Holland hatten die großen Kaufleute mit ihren Behörden um Quentchen ge¬
schachert, aber den französischen Intendanten schleppten sie es zentnerweise zu.
In frühern Zeiten war die Armut Deutschlands sprichwörtlich; jetzt be¬
ginnt mau von seinem Reichtume zu reden. Jedenfalls hat er einen Umfang
angenommen, der im Interesse des Staats noch viel größere Anbohruugen
verträgt, als worüber jetzt seine Besitzer klagen. Als Miquel vor Jahren seine
Finanzreform durchsetzte, da hieß es, daß die Brutalität eiues solchen Ver¬
fahrens die Kapitalisten zwingen werde, das Land ihrer Geburt zu verlassen
und in der Fremde Zuflucht vor den Bedrängnissen der Heimat zu suchen.
Als ob in der Fremde die Berge auf sie fallen und die Hügel über sie stürzen
würden, um sie zu schützen, und als ob nicht auch dort der Steuereiutreiber
im Schatten des Thales einherwandelte, vielleicht mit einer noch zähem
Schraube, als die das deutsche Gesetz seinen Beamten in die Hand giebt. In
den beiden ersten Dritteln des Mittelalters waren vorzugsweise die Juden die
Geldleute, aber man hat nicht davon gehört, daß sie trotz der grausamsten
Unterdrückung, die es hauptsächlich auf ihren Reichtum abgesehen hatte, dauernd
aus den Ländern weggezogen wären, wo es was zu verdienen gab.
Seit der Zeit haben sich christliche Mammonsjäger eine ebenso zähe Haut
angelebt, vielleicht eine noch zähere und weniger durchlässige. Denn die Juden
bezahlen nicht bloß ihre Staatssteuern, sondern haben auch viel für ihre all¬
gemeinen Zwecke nationaler oder religiöser Natur übrig. Außer der römischen
Kirche giebt es vielleicht keinen Verband, der über mächtigere Geldmittel ge¬
hste, als die sich um die ganze Welt spannende israelitische Allianz. An ihren
Früchten, heißt es, sollt ihr sie erkennen, und warum sollte man nicht auch ein
Beispiel an ihnen nehmen? Aber wo und wann hat man davon gehört, daß sich
das deutsche Kapital mit seinen Mitteln für eine große nationale Idee ins Zeug
geworfen Hütte? _ (Schluß folgt)
esondre Verdienste erwarb sich die österreichische Negierung um
das Land durch die Austilgung der Rinderpest, was ihr schon
in den ersten drei Jahren gelang; um das Land vor ihr zu
schützen, wird noch jetzt die Grenzsperre gegen Montenegro und
Novibazar aufrecht erhalten, während aus Serbien Vieh nur bei
Vardischte eingelassen wird. Natürlich hat die Bevölkerung diese Maßnahmen
schwer empfunden, und besonders hart war auch die Regelung der vielfach
sehr verworrenen Besitz- und Eigentumsverhältnisse, insbesondre der Wald¬
besitzfrage; die Ausscheidung des staatlichen und die Zuerkennung des privaten
Waldbesitzes war 1899 durchgeführt, während die Arbeiten für die Grund-
bnchssachen seit 1885 im Gange sind und bis 1905 abgeschlossen sein dürften.
Wenn man das von Nikaschinowitsch veröffentlichte Agrarmemoraudum bosnisch-
herzegowinischer Bauern vom 20. April 1897 als Ausdruck der allgemeinen
Stimmung gelten lassen will, so würde das im übrigen recht verdienstliche
Vorgehn der Negierung die Bevölkerung sehr unangenehm berührt haben.
Die amtliche Schilderung der österreichischen Landesregierung behauptet da¬
gegen, man sei durchweg auf Verständnis, teilweise auf bemerkenswertes Ent¬
gegenkommen gestoßen. Einige Zweifel müssen hiergegen rege werden, wenn
unmittelbar darauf die Schwierigkeiten betont werden, die aus dem zähen
Festhalten der Bevölkerung an ihren althergebrachten Gewohnheiten und
ans ihrem tiefgewurzelten Mißtrauen gegen alles Fremde und Ungewohnte
erwachsen seien. Rechnet man aber dazu, daß in der That hier noch Sitten
und Einrichtungen bestehn, die ganz und gar abseits liegen von den Grund¬
lagen des übrigen europäischen wirtschaftlichen Lebens, so muß man sich jeden¬
falls wundern, daß es nicht zu schweren und wiederholten Erschütterungen ge¬
kommen ist. Unter diesen patriarchalischen Einrichtungen ist von besondrer
Bedeutung die „Zadrnga" oder Hausgemeinschaft, die, wie bei allen Süd¬
slawen, so auch in Bosnien und der Herzegowina besteht. Die Zadrnga ist
die durch Blutsverwandtschaft znsammcngehaltne Hausgemeinschaft einer Anzahl
von Familiengenossen, die unter Leitung des Hausältesten (Starjesina) gemein¬
sam sowohl die Wirtschaft betreibt, als auch an deren Ertrag teilnimmt, und
die sonach den Grundbesitz gemeinsam ungeteilt inne hat und bewirtschaftet.
Charakteristisch für die Verfassung, in der die Banersame lebt, ist serner der
Umstand, daß geschlossene Dorfschaften zu deu Ausnahmen gehören, der Bauern¬
hof vielmehr inmitten des ihn umgebenden Besitzes liegt und sich somit die
losen Dorfgemeinschaften ans einer Anzahl verstreuter, oft weit voneinander
liegender Gehöfte zusammensetzen.
Daß unter diesen Bedingungen die Arbeit nicht leicht war, liegt auf der
Hand. Bei der Überführung des Laudes zur Geldwirtschaft war infolge
des Mangels an Barmitteln bei den Bauern die Frage der Bargeldbeschaffung
von größter Wichtigkeit, wollte man diese nicht der Gefahr der Verschuldung
und des Wuchers aussetzen. Um ihnen eine billige und leicht zugängliche
Geldquelle zu eröffnen, wurden von der Landesverwaltung in den einzelnen
Bezirken Hilfs- und Darlehnskassen mit insgesamt gegen sechs Millionen
Franken Kapital ins Leben gerufen, die den Bauern gegen Bürgschaft einen
Personalkredit von 4—6 Prozent für Bargeld eröffnen, auch gutes Snat-
getrcide bis zur nächsten Ernte abgeben; auf diesem Wege sucht man zugleich
auch die Aussaat zu veredeln. Dazu kam die Ermöglichung des Hyvvthekar-
kredits durch die Anlegung der Grundbücher und die Einrichtung einer Lcmdes-
hhpothekaranstalt.
Starken Widerstand scheint bei der Bevölkerung insbesondre eine Ma߬
nahme gefunden zu haben, die gleichfalls auf Hebung der Kultur des Landes
abzielte, die Ansiedlung von Einwandrern. Anfangs unterstützte man nur
Ansiedler, die sich auf Privatgrundstücken niedergelassen hatten, nach Möglich¬
keit. So entstanden die blühenden Kolonien von Sachsen, Westfalen, Hol¬
ländern und Preußen in Nndolfsthal und Windthorst im Bezirke Bosnisch-
Gradiska und die Kolonie Franz-Josephsfeld im Bezirke Bjelin, die von deutschen
Einwandrern aus dem Bach-Bodrogher Komitnt gegründet wurde. Mit
einer planmäßigen staatlichen Kolonisation auf Staatsgrund begann man
erst 1894. Während durch die private Ansiedlung in den obengenannten drei
Kolonien 487 Familien mit 2621 Mitgliedern ins Land kamen, zog in dieses
die kräftige staatliche Unterstützung in kaum zwei Jahren 441 Familien mit
2646 Mitgliedern. Der förderliche Einfluß dieser vorgeschrittenen Bevölkerung
auf das Umgebungsgebict ist unverkennbar; der Feldbau hebt sich rings um
sie, weil das Verständnis für vervollkommnete Ackergeräte und eine bessere und
sorgsamere Bodenbearbeitung von ihnen geweckt wird.
Auf diese allgemeinen Maßnahmen zur Hebung der Landwirtschaft in
Bosnien und der Herzegowina beschränkte sich jedoch die Landesregierung
nicht, sondern sie richtete ihr Augenmerk außerdem auf eine Reihe besondrer
Veranstaltungen. Unter diesen muß um erster Stelle die Errichtung von
landcsürarischen landwirtschaftlichen Stationen in Gazkv, Livno, Modritsch,
Jlidsche in den Jahren 1886 bis 1893 genannt werden. Der Schilderung
des Betriebes auf den einzelnen von diesen Stationen ist ein breiter Raum
in der amtlichen Veröffentlichung gewidmet. Den Fernerstehenden kann nur
das Allgemeine interessieren. Der Hauptzweck dieser landwirtschaftlichen
Stationen ist einerseits, den Krieken Demonstrationsobjekte zu bieten, andrer¬
seits, eine Art landwirtschaftlicher Lehranstalten für die heranwachsende Jugend
zu bilden. Von diesen Anstalten liegt Modritsch in der Kornkammer Bosniens,
und demgemäß ist sein hervorragendster Wirtschaftszweig ein rationeller Feld¬
bau. Viehzucht und Viehhaltung stehn im Vordergrund in den beiden, schon
1886 gegründeten Stationen Gazko und Livno, die in hauptsächlich Viehzucht
treibenden Gegenden liegen. Eine Zwischenstellung nimmt die jüngste Station
Jlidsche ein. Keine der Stationen will eine Versuchs- und Musterwirtschaft in
westeuropäischem Sinne sein; nicht Neuerungen wollen auf ihnen erprobt
werden, wenn auch jede Station ein besondres Versuchsfeld besitzt, sondern
nur das Bewährte und örtlich Anwendbare soll durch sie vorbildlich vorgeführt
werden. Nebenher dienen sie als Produktionsstütten für Zuchtmaterial und
Saatgut, das, an die Umgegend abgegeben, zur Veredlung beitragen soll.
Die gesamte Oberleitung hat die Regierung in Sarajevo.
Eine Hauptaufgabe dieser Stationen ist es, durch praktische Schulung
junge Bauern zu tüchtigen Landwirten heranzubilden. Den abweichenden Be¬
dingungen des Landes entsprechend ist das Verfahren hierbei etwas anders
als auf den sonstigen Ackerbanschulen Österreichs. Es werden nämlich die als
„Lehrlinge" bei den Stationswirtschaften eintretenden jungen Leute als Arbeiter
im Wirtschaftsbetriebe verwandt. Ausgenommen werden 104 Leute auf den
vier Stationen im Alter von sechzehn bis zwanzig Jahren und zwar je auf
die Dauer von drei Jahren. Bevorzugt werden Söhne von Freibauern und
Kneten. Neben freiem, kasernenartigem Quartier und freier Kleidung wird
den Leuten eine Krone Tagelohn gegeben, dazu im zweiten und dritten Jahr
eine Monatsznlage von sechs Kronen; hiervon haben sie für die Verpflegung
täglich im Durchschnitt 25 Kreuzer zu bezahlen. In der Hauptsache ist die
Ausbildung eine praktische, auf dem Feld und in der Wirtschaft, unter Führung
von Meisterknechten. Nebenher findet jedoch auch ein theoretischer Unterricht
statt; dieser umfaßt das einfachste von der Bodenkunde und das nötigste von
der Düngerlehre. In der Ackerbau- und Pflanzenlehre werden die eingeführten
Kulturen erläutert und die Konstruktion, die Anwendung und die Instand¬
haltung der Geräte erklärt; in der Ticrzuchtlehre werden die wichtigsten Grund¬
sätze der Züchtung, Haltung und Pflege der häuslichen Nutztiere den Lehr¬
lingen beigebracht. Nach dem Fachunterricht findet eine Unterweisung im Lesen,
Schreiben und Rechnen statt. Beim Abgang wird ein Zeugnis ausgestellt, und
die tüchtigsten Leute erhalten als Belohnung einen Pflug oder aus Wunsch
auserlesenes Saatgut oder Zuchtvieh.
Ein andrer Weg, auf dem die Landesregierung zur Hebung der Land¬
wirtschaft beizutragen sucht, ist die Einrichtung von je drei bis fünf Muster¬
wirtschaften in der Nähe der genannten Stationen, die vertragsgemäß für drei
Jahre unter den Anordnungen der benachbarten Stationen stehn und dafür
eine einmalige Unterstützung in Höhe von 100 bis 150 Gulden erhalten.
Indem nach drei Jahren an Stelle der bisher unterstützten und geleiteten, neue
Musterwirtschaften eingerichtet werden, dehnt sich der Kreis der einem sach¬
gemäßen Betriebe zugeführten bäuerlichen Wirtschaften immer weiter aus.
Bei der bedeutenden Menge von Vieh lenkte außerdem die Negierung ihr
Augenmerk auf die Hebung der einheimischen Nntztierschlüge durch die Einfuhr
höher entwickelter Nassen und durch die Kreuzung mit diesen. Eselhengste zur
Verbesserung des kleinen und unansehnlichen Maultierschlags wurden aus
Cypern eingeführt. Das niedere, aber sonst gute böhmische Pferd wurde durch
Araberhengste verbessert und durchschnittlich um 16 Centimeter höher gebracht.
Außerdem suchte man durch Prämiierungen anzuspornen, sowie durch die Be¬
günstigung der Wettrennen, die von jeher zu den beliebtesten Volksbelustigungen,
namentlich bei Hochzeiten begüterter Begs, gehörten.
Ähnliche Maßnahmen dienen zur Hebung der Rindviehzucht. Für die
Niederungen erwies sich das ungarische Steppenrind als das am meisten zur
Besserung des Schlags geeignete, für den Karst das Wippthaler Rind und
für die Zone des Hügel-, Wald- und Berglandes das Pinzgauer-Möllthaler
Rind. Ähnlich den Pferdebeschälstationen wurden zahlreiche Stierstände ein¬
gerichtet, und auch auf diesem Gebiete sucht man, neben der Begünstigung
der Einfuhr von Rassekühen und der Abgabe trächtiger Kälber von den
Stationen, durch Prämiierungeu anzufeuern. Da das einheimische „Zackcl"-
Schaf nur geringe Milchergiebigkeit und Körpergröße, sowie el» ungünstiges
Körpergewicht ausweist, so suchte man auch hier zu bessern. Als bestes Ver¬
edlungstier erkannte man für die futterreichen Niederungen das „Horodenka"-
Schaf. für den Karst das Bucharafettschwnnzschaf, dessen Hauptwert in dein
kostbaren Pelzwerk der Lammfelle besteht, das unter der Bezeichnung „Per-
sianer" oder „Astrachan" bekannt ist. Der Ziegenzucht gegenüber bestanden
natürlich Bedenken der Forstwirtschaft. Doch auch hier sucht die Landesver¬
waltung, den Schlag durch Einfuhr echter Angoraziegen zu heben. Das so
erzielte Haar steht zwar zurück hinter dem der Originaltiere, liefert aber doch
ein gutes Material für die Erzeugung feiner Knüpfteppiche in persischer
Manier. Von ziemlicher Bedeutung, jedoch nur in christlichen Gegenden ist
mich die Schweinezucht, zu deren Förderung das Berkshireschwein eingeführt
wurde. Sehr zu wünschen ließ das einheimische böhmische Huhn, weshalb
jährlich über 20000 Bruteier und ungefähr 2000 Stück Zuchtgcslügel verteilt
werden. Dagegen ist die böhmische Biene sowohl der italienischen als der
Krciiner überlegen, und so handelt es sich nur um die Überwindung des sehr
ursprünglichen Verfahrens, die Bienenvölker auszuräuchern und zu töten; indem
die Landesverwaltung Stöcke mit beweglichen Waben von der Zehntsteuer
befreit, sucht sie auch auf diesem Gebiete einen höhern Stand zu erzielen.
Zugleich begann man, durch Anlegung großer Plantagen von Manlbeer-
büumchen die Seidenranpenzucht wieder zu beleben, namentlich um für die sehr
abgeschlossenen muhammednnischen Frauen eine leicht zugängliche häusliche
Erwerbsquelle zu eröffnen. Auch die Sorge für die Erhaltung des Fischreich¬
tums der Flüsse übersah man nicht.
Wie wir schon ausgeführt haben, ist es ein ganz besondrer Übelstand,
daß die Bauern noch ihr schlechtes Ackergerät behalten. Damit diesen die
Vorzüge namentlich der modernen Pflüge klar gemacht werden könnten, wurden
Musterpslüge an alle Bezirksämter verteilt, mit denen nun alljährlich im Früh¬
jahr und Herbst öffentliche Probenckeruugeu vorgenommen werden. Außerdem
vermittelt die Landesverwaltung den Ankauf nicht nur von Pflügen, sondern
auch voll sonstigem Gerät für Ackerbau, Obst- und Weinbau und Kellerei¬
betrieb, indem sie Kredit dafür eröffnet und den Bauern die Geräte und
Maschinen auf Abzahlung in mehreren zinsfreien Jahresraten zustellt. Ans
diese Art kamen bis Ende 1898 etwa zweitausend moderne Eisenpflüge ins
Land, ferner namentlich Trieurs und Perouosporaspritzen, aber mich zahlreiche
andre Geräte und Maschinen wie Putzmühlen, Hand- und Göpeldreschgarni¬
turen, Futterschncidinaschinen und Kellereigeräte.
Durch zweckmäßige Verteilung guter Kartoffeln gelang es, die Produktion
in den Jahren von 1882 bis 1898 auf das Neunfache zu bringen; auf ähn¬
lichem Wege erreichte man den Bau eiuer branwurdigen Gerste im Lande, und
im Bunde mit einer Aktiengesellschaft, die 1893 eine Zuckerfabrik in llsora in
Betrieb setzte, die Einbürgerung des früher im Lande ganz unbekannten Zucker¬
rübenbaus. Ganz eigen aber ist die Idee der Landesregierung, deren Ver¬
wirklichung schon im Gange ist, in den Lehrplatt der Dorfschulen einen syste¬
matischen und gründlichen landwirtschaftlichen Unterricht aufzunehmen mit
Wiederholungskursen an den Sonntagen, denen die Landbevölkerung ein weit
über alles Erwarten lebhaftes Interesse entgegengebracht haben soll. Nicht
vergessen dürfen wir schließlich die großen Meliorationsarbeiten der öster¬
reichischen Negierung des Okkupationsgebiets, Ent- und Bewässerungsanlagen,
durch die namhafte Landstrecken in einigen Poljes der gesicherten Kultivierung
gewonnen ivnrdeu, und die in wasserarmen Gegenden ausgeführten Quell¬
fassungen, Zisternen und Tränkanlagen, sowie die Einrichtung eines geordneten
Meldedienstes für Wasser-, Feuer- und Hagelschaden und die Einführung
.egelmäßiger Pegelbeobachtnngen und Saatenstands- und Ernteberichte.
Sowohl in Bosnien als in der Herzegowina bestehn überaus günstige
Knlturverhültnisse für den Obst- und Weinbau; südliche Lage, feuchtwarme
und windgeschützte Thaler an den Wasserläufen, sanft verlaufende Gebirgs-
lehnen, günstige Verteilung der Niederschlüge und vorteilhafter Boden. Früh¬
zeitig weit verbreitet, waren denn auch der Weinban und der bei der Bevölke¬
rung sehr beliebte Obstbau schon lange eine reiche Einnahmequelle für sie trotz
des primitiven Betriebs. Hier und da bilden Walruß und Kastanie in Bosnien
und in der Herzegowina ganze Waldbestände; der Holzapfel und die Holzbiruc
kommen ebenfalls in ganzen Waldstrichen sehr häufig vor; außer der Haselnuß
trifft man ferner die Kirsche in wildem oder verwilderten Zustande überall an,
und ferner, wenigstens in der Herzegowina, den Granatapfel und die Feige.
„Während in Bosnien alle wichtigen Repräsentanten der Kernobst-, Steinobst-
nnd Schalenobstgrnppe mit bestem Erfolg kultiviert werden, sind in der mittlern
und südlichen Herzegowina, welche ein der Würmern gemäßigten Zone gleich¬
kommendes Klima aufweist, nußer der Weinrebe die Feige, der Granatapfel,
die Mandel, die Aprikose, der Pfirsich die vorherrschenden Obstarten, neben
denen in besonders günstigen Lagen auch die Olive, der Johannisbrotbaum
und die Orange vorkommt." Vor allem aber ist die Herzegowina ein rechtes
Weinland; während der langen und heißen Vegetationsperiode erreichen hier
die Tranben eine hohe Reife, die bis zur Rosinenbildung führen kann.
Was die einzelnen Obstarten anbetrifft, so entfallen acht Zehntel des
Bodens aller Gurten in Bosnien auf die Kultur der blauen böhmischen Zwetsche,
deren Heimat wahrscheinlich Mittelasien ist, von wo sie über den Kaukasus
nach Südrußland und Ungarn und von da in die Balkanhalbinsel kam. Die
jährliche Ausfuhr im Durchschnitt der letzten zehn Jahre von gedörrten Zwetschen
betrug 10284 Waggons, und es ist Thatsache, daß die Einfuhr gedörrter böh¬
mischer und serbischer Zwetschen nach dem übrigen Europa die frühere Industrie
des Zwetscheudörrens in den nördlichern Strichen des Kontinents völlig ge¬
lähmt hat. Am besten gedeihen die Zwetschenbanmgüter an sanft verlaufenden
Lehnen und in eisenhaltigen Boden. Was die Landesverwaltung bei diesem
überaus wichtigen Erwerbszweig vor allem anstrebte, das war die Verbreitung
veredelter Bäume, die Lichtung der zum Teil unzweckmäßig dichten Bestände
nud die Vervollkommnung des Dörrverfahrens. Die früher hierfür im Lande
gebrauchten Dörröfen, die Pushnizns, entbehrten jeder Ventilation; außerdem
kamen die Zwetschen unsortiert in die Darre. Da nnn die besten französische»
Dörrapparate infolge ihres hohen Preises von 450 oder 800 Gulden aus eine
größere Verbreitung im Lande keine Aussicht hatten, so suchte man die schon
borhandnen einheimischen Dörröfen zu verbessern; diese Verbesserung fand rasche
Verbreitung bei der liberalen Unterstützung, die die Landesregierung anch hier
zeigte, und bei den verhältnismäßig niedern Kosten von 50 bis 100 Gulden,
die der Umbau verursacht. Außerdem bemühte sich die Regierung, die Bauern
für ein geeignetes Zwetschensvrtiersieb zu gewinnen. Einige Bedeutung auch für
die Ausfuhr hat neben dein Dorre» der Zwetschen auch deren Verarbeitung
zu Mus, Pekinez, von dein in guten Jahren Bosnien bis zu 700 Wnggous
ausführt, während an frischen Früchten im Durchschnitt jährlich 150 Waggons
zum Export kommen.
Im Süden und im Westen des Landes ist die Hnuptobstvcrwertnng das
Brennen von Branntwein und zwar nicht mir aus Zwetschen und deu ver-
schiednen Pslaumeuarten, namentlich der böhmischen gelben Zwetsche und der
Kirschpflaume, „Mirabolcme," sondern auch aus Birnen, Äpfeln, Kirschen,
Kornelkirschen und Wacholderbeeren; dazu kommt der Tresterbrauutwein ans
der Herzegowina. Auch hier beabsichtigt man, zur Verbesserung des Verfahrens
französische Vreuuapparnte einzuführen.
Zu ähnlicher Bedeutuug, wie sie die Kultur der Zwetsche für Bosnien
schon hat, wird in einigen Jahren die Äpfelkultnr gelangen, dank den nament¬
lich auch vou den Muhnmmedaueru mit Verstünduis aufgenommnen Be¬
mühungen der Negierung, an Stelle der fast durchweg schlechten einheimischen
Sorten Edelüpselpflanzuugen zu verbreiten. Der Erfolg war, daß schon 1898
vierunddreißig Waggons Apfel namentlich nach Pola und Fiume ausgeführt
werden konnten. An Kastanien wurden in demselben Jahre fünfundzwanzig
Waggons versandt. Bei dem vorläufig noch unbedeutenden Wert dieser Aus¬
fuhr von Äpfeln und Kastanien hat die Landesregierung der Ausfuhr hiervon
bis jetzt keine weitere Aufmerksamkeit zugewandt; um so mehr dagegen der
Ausfuhr gedörrter Zwetschen, die im Mittel der letzten drei Jahre rund vier
Millionen Gulden betrug. Es wurde ein besondres Zwetschenmarktstatut
herausgegeben, und besondre Kommissionen wurden eingesetzt, die die Händler
bis zur Höhe von 250 Gulden strafen und im Notfall zeitweise oder dauernd
vom Zwischenhandel ausschließen können. Das Ergebnis war, daß die böh¬
mische gedörrte Zwetsche nicht nur in der österreichisch-ungarischen Monarchie
geschätzt wurde, sondern anch in entfernter» Absatzgebieten, zu denen haupt¬
sächlich das Deutsche Reich, England, die Schweiz, Norwegen und Schweden,
sowie Italien und Rußland gehören.
Für die Herzegowina ist neben dein Tabakbau der Weinbau die Haupt-
einnahmequelle; der wichtigste Bezirk für diesen ist der von Mostar, wo von
der Landesverwaltung namentlich die Tafeltranbenkultur gefördert wird. Der
um Mostar sehr verbreitete Zilavtn ist von den herzegowinischen Weißweine»
weitaus der wichtigste lind bekannteste; er erinnert im ganzen an Burgunder¬
und Ruläuderweine, stellt aber wegen seines Muskatellergeschmacks eine ganz
besondre Sorte dar. In der Bekämpfung von Schädlingen ist man sehr ent¬
schieden vorgegangen, und so ist man denn auch von der Reblaus bis jetzt
verschont geblieben. Von frühreifen Sorten erzielte »ran bei Mostar schon
Mitte Juli reife Trauben, im größten Teil von der Herzegowina findet aber
die Ernte Mitte, spätestens Eude September statt. Wie man den Ackerbau
durch Anlage besondrer Stationen zu fördern gesucht hat, so hat mau auch
für deu Weinbau solche 1888 in Mostar und Dervent und 1894 in Lastva
angelegt; ihre Aufgabe ist, Mnsterpflauzuugen zu schaffen, Arbeiter aus-
zubilden, Pflanz- und Edelrcismaterial zit verbreiten und die Winzer im Lande
durch Wanderlehrer zu unterrichten. Ebenso wurden für den Obstbau in
Bosnien sechs und in der Herzegowina zwei derartige Stationen angelegt.
Die Preise, die für die herzegowinischen Weine erzielt werden, 22 bis 36 Gulden
für den Hektoliter oder 40 bis 75 Kreuzer für die Flasche, muß man als
recht namhaft bezeichnen.
Der beste Benins, daß es sich uicht um eine „trügerische Reklame" handelt,
wie Nikaschiuowitsch in seinem Pamphlet gegen den Minister Kallay behauptet,
die mit dem amtlichen Rechenschaftsbericht der Landesregierung über ihre Arbeit
auf landwirtschaftlichen Gebiete und in andern Werken gemacht morden wäre,
liegt in den Zahlen, die angeführt werden, und die doch nicht einfach erfunden
sein können. Nicht mir die Bevölkerung des besetzten Gebiets hat in diesen
zwanzig Jahren riesig zugenommen, sondern auch dessen Produktion. Mit
Genugthuung kann die Landesregierung in der That auf ihre Arbeit zurück¬
schallen. Der alleinige Zweck der dortigen Landwirtschaft war immer die Er¬
zeugung der Brotfrüchte, und in dieser Hinsicht ist allerdings kein Umschwung
eingetreten; dagegen weist die Quantität des Erzeugten eine erfreuliche Steige¬
rung auf. Mais, das Nahrungsmittel, das die Bevölkerung immer am meisten
bevorzugte und deshalb mich pflanzte, Gerste, deren Bau die zweite Stelle
einnimmt, Weizen, der nicht weit hinter der Gerste zurücksteht, Hafer, Hirse,
Spelz, Roggen zeigen durchaus, wem, man von deu beträchtlichen Erntc-
schwanknngen absieht, von 1882—98 eine konstante Zunahme. Die Hülsen¬
früchte haben zwar noch immer keine große Bedeutung; dagegen ist es gelungen,
den Kartofselbau über die ganze Herzegowina zu verbreiten. Die Gcsmnt-
getreideernte hat sich in der Zeit vou 1882 bis 1896 mehr als verdoppelt,
die Zunahme bei den Hülsenfrüchten beträgt 126 Prozent, bei der Kartoffel
von Jahrfünft zu Jahrfünft 100 Prozent; die Zwetschenproduktion stieg um
94 Prozent. Im ganzen nicht minder erfreulich ist die in einzelnen Posten
sogar recht überraschende Vermehrung des Viehstandes. Im Jahre 1879 kamen
auf 100 Einwohner fast 14 Pferde. Esel, Maultiere und 66 Rinder und
Büffel, 72 >/-j Schafe, 45 Ziegen, 37 Schweine und beinahe 10 Bienenstöcke,
dagegen 1895: über 15 Pferde, Esel und Maultiere und über 98 Rinder und
Büffel, 203 Schafe, 91 Ziegen, 417., Schweine und 9 Bienenstöcke. Ent¬
sprechend größer war natürlich auch der Gewinn, der dem Lande aus seinen,
regen Viehhandel und der Ausfuhr vou tierischen Produkten, Häuten, Fellen,
Eiern, Honig, Wachs und Knochen sowie den großen, meist nach Triest kom¬
menden Mengen von Wolle erwuchs.
Überschaut man diese Gesamtleistung der österreichischen Regierung auf
dein Gebiete der Landwirtschaft in dem Okkupationsgebiete, so wird mau zu¬
geben müssen, daß eine große und sehr verdienstliche Arbeit und eine Wesens
liebe Wertsteigernng des ganzen Landes vorliegt. Es mögen wohl Mißgriffe
gemacht worden sein; vor allein hätte man wünschen können, die Verwand¬
lung der hörigen Kneten in freie Bauern wäre erreicht worden ohne deren
vorübergehende rechtliche und wirtschaftliche Hcrunterdrückuug zu Pächtern,
aber ans dem Wege, den die österreichische Regierung eingeschlagen hat, voll-
zieht sich, wie man sieht, doch die allmähliche Befreiung der ganzen böhmischen
Bauernschaft. Was aber deren Erziehung zu modernen Landwirten anlangt,
so werden dem etwas josephinischen Verfahren der Regierung einzelne Härten
wohl nicht fehlen; ebenso mögen solche bei der Einführung der Geldwirtschaft
an Stelle der Naturalwirtschaft mit untergelaufen sein, und auch die Fest¬
legung der Besitzverhültnisse mag solche mit sich geführt haben. Aber wenn
man auch an der amtlichen Darstellung die durch die Kritik gebotnen Abzüge
und Zusätze macht, so bleibt doch noch Ruhm genug für die österreichische
Landesregierung. Die Einwendungen, die Niknschinowitsch gegen sie erhoben
hat, wird sie mit Vorteil im einzelnen selber prüfen, um aus ihnen Nutzen
zu ziehn, so feindselig auch die Gesinnung ist, aus der dieses Pamphlet gegen
die leitenden Leute, Herrn von Kallay und Kntschera, hervorgegangen ist. Das
Gesamturteil, das Nikaschinowitsch über die höhnisch-herzegowinischc Landes-
regierung füllt, erweist sich aber an der Hand der vorliegenden Akten als
gänzlich verfehlt. Wenn anch spät und langsam sucht mau hier das zu ver¬
wirkliche!?, was der ruhmvolle erste Organisator dieses österreichischen Ren¬
tamtes, Herzog Wilhelm von Württemberg, gefordert hat; und wenn er heute
wieder in das Land käme, das er im Unmut verlassen und bis zu seinem Tode
nicht mehr gesehen hat, würde er gewiß mit Genugthuung anerkennen, das;
Osterreich wenigstens auf einem guten Wege ist zur Lösung der hier übcr-
nommnen Knlturciufgabc. Ihre Lösung wäre aber nicht nnr ein örtlicher
Erfolg des Kaiserstaates, sondern würde seinem Einfluß auf der ganzen Balkan-
halbinsel in einem hohen Grade zu gute kommen, worüber sich niemand mehr
freuen würde als das gesamte deutsche Volk.
in 24. März desselben Jahres spricht Goethe das entscheidende,
zusammenfassende Wort: „Je höher ein Mensch, desto mehr
steht er unter dem Einfluß des Dämonischen, und er muß nur
immer aufpassen, daß sein leitender Wille nicht auf Abwege
gerate."
Wir gelangen damit zum zweiten Punkte der Goethischen Weseus-
bestimmung des Dämonischen: nämlich daß es in den Personen als mächtiger
Naturinstinkt wirke. ,,Das Dämonische wirft sich gern in bedeutende Indi¬
viduen, erklärt er am 8. Mürz 1831, vorzüglich, wenn sie eine hohe Stellung
haben, wie Friedrich und Peter der Große." „Auch wählt es sich meist etwas
dunkle Zeiten: in einer klaren, prosaischen Stadt wie Berlin fände es keine
Gelegenheit, sich zu manifestieren" (30. März 1830). Und am 6. Dezember
1829, in einem Gespräch über den zweiten Teil des Faust, entwickelt er eine
eigentümliche Theorie über das Erscheinen des Dämonischen in den Personen.
,,Goethe war eine Weile in stilles Nachdenken versunken, erzählt Eckermaun,
dann begann er folgendermaßen: »Wenn man alt ist, denkt man über die welt¬
lichen Dinge anders, als da man jung war. So kann ich mich des Gedankens
nicht erwehren, daß die Dämonen, um die Menschheit zu necken und zum besten
zu haben, mitunter einzelne Figuren hinstellen, die so anlockend sind, daß jeder
nach ihnen strebt, und so groß, daß niemand sie erreicht. So stellten sie den
Raffael hin, bei dein Denken und Thun gleich vollkommen war; einzelne
treffliche Nachkommen haben sich ihm genähert, aber erreicht hat ihn niemand.
So stellten sie Mozart hin als ein Unerreichbares in der Musik. Und so in
der Poesie Shakespeare. Ich weiß, was Sie mir gegen diesen sagen können,
aber ich meine nur das Naturell, das große Ungeborne der Natur.« Bei mir
selbst aber dachte ich im stillen, fügt Eckermann treffend hinzu, daß auch mit
Goethe die Dämonen so etwas möchten im Sinne haben, indem auch er eine
Figur sei, zu anlockend, um ihm nicht nachzustreben, und zu groß, um ihn zu
erreichen."
Von hohem Interesse ist es, die Persönlichkeiten kennen zu lernen, die
Goethe für besonders dämonische Naturen hielt. „Napoleon war es im höchsten
Grade, sodaß kaum ein andrer ihm zu vergleichen ist." (2. März 1831.)
„Auch in Byron mag das Dämonische in hohem Grade wirksam gewesen sein,
weshalb er auch die Attrccktiva in großer Masse besessen, sodaß ihm besonders
die Frauen nicht haben widerstehn können." (8. März 1831.) Auch Mirabeau
hielt Goethe für eine eminent dämonische Natur. „Die Hauptsache ist, stellt
er fest (17. Februar 1832), daß man ein großes Wollen habe und Geschick
und Beharrlichkeit besitze, es auszuführen. Mirabeau hatte daher vollkommen
Recht, wenn er sich der äußern Welt und ihrer Kräfte bediente, wie er konnte.
Er besaß die Gabe, das Talent zu unterscheiden, und das Talent fühlte sich
von dem Dämon seiner gewaltigen Natur angezogen, sodaß es sich ihm und
seiner Leitung willig hingab. So war er von einer Masse ausgezeichneter
Kräfte umgeben, die er mit seinem Jener durchdrang und zu seinen höher»
Zwecken in Thätigkeit setzte. Und eben, daß er es verstand, mit andern und
durch andre zu Wirten, das war sein Genie, das war seine Originalität, das
war seine Größe."
Mit Erstaunen vernehmen Nur, daß dem Großherzog Karl August in
hohen, Grade ein dämonisches Wesen eigen war. „Auch der verstorbne Gro߬
herzog, berichtet Goethe (2. März 1831), war dämonischer Natur, voll unbe¬
grenzter Thatkraft und Unruhe, sodaß sei» eignes Reich ihm zu klein war
und das größte ihm zu klein gewesen wäre." Nach dieser Schildrung können
wir nicht zweifeln, daß Goethe sicherlich auch Kaiser Wilhelm II. zu den dämo¬
nischen Naturen gerechnet haben würde, wie er eine solche ja auch schon Fried¬
rich dem Großen zugesprochen hatte. Einige Tage später (am 8. Mürz 1831)
kommt Goethe noch einmal aus das dämonische Wesen Karl Augusts zurück:
„Beim verstorbnen Großherzog war es in dem Grade, daß niemand ihm wider¬
stehn konnte. Er übte auf die Menschen eine Anziehung dnrch seine ruhige
Gegenwart, ohne daß er sich eben gütig oder freundlich zu erweisen brauchte.
Alles, was ich auf seinen Rat unternahm, glückte mir, sodaß ich in Fällen,
wo mein Verstand und meine Vernunft nicht hinreichten, ihn nur zu fragen
brauchte, Unis zu thu» sei, wo er es denn instinktmäßig nnssprach und ich
immer im voraus eines guten Erfolgs gewiß sein konnte. Ihm wäre zu gönnen
gewesen, daß er sich meiner Ideen und höhern Bestrebungen hätte bemächtigen
können; denn wenn ihn der dämonische Geist verließ, so wußte er mit sich
nichts anzufangen, und er war übel daran." Als hochgradig von dämonischen
Geist beseelte Naturen nennt Goethe ausdrücklich Venvenuto Cellini und
Filippo Neri.
Was die selbstgcschaffnen Gestalten seiner dichterischen Phantasie anlangt,
so haben wir schon gesehen, daß Goethe dem Egmont eine dämonische Natur
beimißt. Es ist nun interessant, ans Goethes eignem Munde zu erfahren, daß
er der so markant-diabolischen Figur des Mephistopheles doch entschieden ein
dämonisches Wesen abspricht, ein solches hingegen ausdrücklich — dem Homun-
culus beilegt! Auf die direkte Jnterpellation Eckermanns, ob nicht Mephisto¬
pheles dämonische Züge habe, antwortet Goethe (2. März 1831) resolut: „Nein!
Der Mephistopheles ist ein viel zu negatives Wesen, das Dämonische aber
äußert sich in einer durchaus positiven Thatkraft." Aus andern Stellen er¬
fahren wir denn mich, daß Goethe als den Hauptcharakterzug des Mephisto¬
pheles die Ironie bezeichnet. Hingegen erklärt er (10. Dezember 1829) den
Homunculus für ein Wesen, dessen Sache das Räsonnieren nicht ist, sondern
der handeln will: Wagners Fragen über unbegreifliche Dinge lehnt er deshalb
ab und ist auch dem Mephistopheles durch seiue Tendenz zum Schönen nud
förderlich Thätigen überlegen. Als ein Wesen, dem die Gegenwart durchaus
klar und durchsichtig ist, sieht Homunculus das Innere des schlafenden Faust:
„Solche Geisterwesen, erklärt Goethe, die dnrch eine vollständige Menschwerdung
noch nicht verdüstert und beschränkt worden, zählt man zu den Dämonen!"
Ans dieser spiritistisch angehauchten Stelle könnte man schließen, daß Goethe
geradezu beabsichtigt habe, im Homunculus ein dieser seiner Idee von den
Dämonen entsprechendes Wesen dichterisch zu erschaffen und handelnd i» sein
Werk einzuführen. Züge, die für die Goethische Auffassung des Dämonischen
charakteristisch sind, offenbart das phantastische Gebilde unzweifelhaft in seineu
Aussprüchen: „Natürlichem genügt das Weltall kaum," und: „Dieweil ich bin,
muß ich anch thätig sein!" Und wie steht es mit „Faust" selbst'? „In meiner
Natur liegt das Dämonische nicht, erklärt Goethe am 2. März 1831, aber ich
bin ihm unterworfen."
Endlich glaubte Goethe besonders in der Kunst das Wirken einer dämo¬
nischen Kraft zu verspüren. „In der Poesie ist durchaus etwas Dämonisches,
und zwar vorzüglich in der unbewußten, sagt er im März 1831 zu Eckermann,
bei der aller Verstand und alle Vernunft zu kurz kommen, und die daher auch
über alle Begriffe wirkt." Goethe steht also ganz auf dem Standpunkte
Schellings, der das Unbewußte für den Grundtrieb, für den schöpferischen
Drang in jedem Kunstschaffen bei der Konzeption des Kunstwerks, das Be¬
wußte dagegen nur für etwas Technisches erklärt hatte. „Jede Produktivität
höchster Art, äußerte sich Goethe ganz in diesem Sinne am 11. Mürz 1828
bei einem Gespräch über den Hamlet von Shakespeare, jedes bedeutende Apery«,
jede Erfindung, jeder große Gedanke, der Früchte bringt und Folgen hat, steht
in niemandes Gewalt und ist über aller irdischen Macht erhaben. Dergleichen
hat der Mensch als unverhoffte Geschenke van oben, als reine Kinder Gottes
zu betrachten, die er mit freudigem Dank zu empfangen und zu verehren hat.
Es ist dem Dämonischen verwandt, das übermächtig mit ihm thut, wie es ihm
beliebt, und dem er sich bewußtlos hingiebt, wahrend er glaubt, er handle aus
eignem Antriebe." Jeder Sachkundige wird hierin wohl dem Altmeister bei¬
stimmen, wir haben in der Litteratur von bekannten Schriftstellern zahllose
Bestätigungen dieser Auffassung, Ich will aus der jüngsten Zeit nur um die
interessanten „Jugenderinnerungen und Bekenntnisse" von Paul Heyse erinnern,
sowie an deu kürzlich veröffentlichten Brief Ernst von Wildenbruchs an die
llhrmachergilde: „Das werdende Werk liegt wie ein mit geheimnisvoll eignem
Leben erfüllter Organismus in der Seele des Künstlers, keimend und sich selbst
ausarbeitend, in einem Dunkel, in das kein Auge dringt, sodaß niemand, auch
der Schöpfer des Werkes selbst nicht, sagen kann, dies ist mein Bewußtsein,
was da gearbeitet hat, dies ist das Werk selbst, das nur entgegengekommen ist."
Diese unbewußt thätige Einbildungskraft und die Macht des Übersinn¬
lichen äußern sich nach Goethes Ansicht am auffallendsten in der Musik: „Das
Dämonische erscheint in der Musik im höchsten Grade, denn sie steht so hoch,
daß kein Verstand ihr beikommen kann, und es geht von ihr eine Wirkung
ans, die alles beherrscht, und von der niemand imstande ist, sich Rechenschaft
zu geben. Der religiöse Kultus kann sie daher auch nicht entbehren; sie ist
eins der ersten Mittel, um auf die Menschen wunderbar zu wirken."
Überblicken wir das bisher Gesagte, so drängt sich uns unwillkürlich die
Frage auf die Lippen: Was also ist um das Dämonische? Was denkt sich
Goethe eigentlich dabei? Es dürfte wohl schwer fallen, darauf eine präzise
Autwort zu finden, und man wird Bielschowsky Recht geben müssen, der über
die in Rede stehenden Goethischen Auseinandersetzungen sagt: „Bei der Unbe¬
stimmtheit des weder göttlichen noch teuflischen Wesens, das dnrch Verstand
und Vernunft nicht aufzulösen ist, und das ihm auch das Unbelebte zu durch-
dringen schien, war es ihm unmöglich, mit allen Darlegungen etwas Deut¬
liches und Faßliches auszusprechen. So viel läßt sich jedoch erkennen, daß
es beim Menschen eine dunkelwirkende Macht ist, die ihn mit unbegrenztem
Zutrauen zu sich selbst erfüllt und dadurch ihn ebenso zu großer erfolgreicher
That befähigt, wie sie ihn in Unheil oder Verderben führt." Jedenfalls be¬
friedigt uns am wenigsten die nüchterne Auffassung, wie sie Möbius in seinem
berüchtigten Buche „Über das Pathologische bei Goethe" zur Geltung z»
bringen sucht, das hohe Schicksalsgefühl Goethes rationalistisch zu zerpflücken
und das Dämonische zu einer leeren Fiktion zu verflüchtigen.
,,Es ist nnr Schein, sagt Möbins, daß wir vollkommen getrennte Indi¬
viduen sind. Wie wir in materieller Auffassung nur Teile eines Systems
sind, die Materie durch uns hindurchtritt, materielle Bewegungen ungehindert
dnrch das Ganze gehn, so sind wir mich in geistiger Beziehung in ein Ganzes
eingepflanzt und nehmen an seinem Leben teil, leben und handeln als seine
Organe. Im normalen oder Durchschnittszustande merken wir von unsrer
thatsächlichen Verbindung untereinander und mit dem Ganzen nichts, in patho¬
logischen Zuständen aber und besonders beim Genie reißen sozusagen für
Augenblicke die uns umhüllenden Wolken, es kommt zu einem Handeln und
Erleiden nngelvvhnlicher Art, der Einfluß des für uns Unbewußten außer uus
wird fühlbar. So kommen die Eigenschaften und Ereignisse zustande, die wir
je nach ihrer Erscheinung bald als wunderbar, bald als dämonisch zu be¬
zeichnen geneigt sind, Sie fallen ebenso wie das Gewöhnliche in den gesetz¬
lichen Zusammenhang der Dinge, es liegt nur an unsrer Unkenntnis, daß wir
ihre gesetzlichen Beziehungen nicht verstehn," Nun, mit dergleichen hnusbnckueu
Räsonnements läßt sich einem Goethischen Wort und einer großzügigen Goethischen
Konzeption nicht beikommen; ganz abgesehen davon, daß auch Möbius mit
seiner Idee, daß wir „als Organe eines geistigen Ganzen leben und handeln,"
auf ein nicht minder mystisches Gebiet gerät und im übrigen mit seinem
Rechenexempel doch die faseiniereude Wirkung, wie sie von der Persönlichkeit
(z. B. Napoleons) oder den Werken eiues Menschen (etwa Michelangelos) aus¬
geht, uicht zu erklären vermag. Zudem, wenn uns anch Filtsch überraschend
neue Beziehungen Goethes zur Religion gezeigt und Max Seiling uns kürzlich
das nahe Verhältnis unsers größten Dichters zum Okkultismus enthüllt hat,
woraus hervorgeht, daß es wenige mystische Dinge und okkulte Phänomene
giebt, zu denen Goethe nicht irgendwie in Beziehung gestanden, ja die er nicht
sogar selbst erlebt habe, so ist es doch sonnenklar, daß es sich bei dem
Goethischen Begriff des Dämonischen keinesfalls um etwas Pathologisches,
etwa um eine finstere Ausgeburt der Dämouomanie handelt, sondern um eine
rein künstlerische Konzeption, da sie mit der grandiosen Plastik seines
Denkens und mit dem Vermögen seines Genius, überall bis zu den Wurzeln
der Natur zu dringen, im engsten Zusammenhange steht.
In der That läßt es sich nicht leugnen, des alten Hamletwortes von den
Dingen, die unsre Schulweisheit übersteigen, eingedenk, daß wir vor einem der
tiefsten Probleme stehn, die den menschlichen Verstand beschäftigen können, und
daß Goethe mit seiner Vorstellung vom Dämonischen der Welt tiefgründigstes
Mysterium berührt —nämlich die zwiespältige Natur ihres Urgrundes! „Das
Weltbild, sagt Johannes Volkelt in seinein Werk über Schopenhauer, drängt
von zahlreichen wesentlichen Zügen aus mit unwiderstehlicher Gewalt zu der
Annahme, daß der Weltgrund nicht durch und durch vernünftig sei, sondern
eine irrationelle Seite als wesenhaft und unentscheidend in sich habe. Ich
sehe geradezu einen der heilige» Urgedanken der Menschheit in der Über¬
zeugung, daß der Kern der Welt eine abgrnndartige Tiefe, ein Nichtsein¬
sollendes, Verkehrtes, Furchtbares in sich schließt." Eben das, was Goethe
das Dämonische neunt, und mau begreift nun, weshalb er auf die Frage
Eckermanns, daß das Dämonische in die Idee des Göttlichen nicht einzugehn
scheine, ausweichend antwortet. Dieser dualistische Urgedanke der Menschheit
tritt in der That in allen Religionen als Gegensatz des Göttlichen, im
Prinzip des Bösen, im Satanismus zu Tage. Diese dem hebräischen
Monotheismus ursprünglich fremde Vorstellung nimmt allmählich in den
nachexilischen Büchern (besonders unter persischem Einfluß) die Stelle des
Zornes Gottes ein, woraus deutlich wird, daß der Satausgedauke thatsächlich
in der Gottesidee wurzelt und nichts andres als eine Personifikation des
göttlichen Zornes darstellt — eine Auffassung, die besonders von der Gnosis
und dem Manichmsmus zugelassen wurde. Später tritt der Satausglnube
mehr und mehr zurück und macht der abergläubischen Vorstellung von
Dämonen und Plagegeistern Platz. Erst mit dem Auftreten Jesu erhält auch
die Teufelsvorstellung wieder mehr Relief und erweitert sich zu einem dem
messianischen Reiche gegenüberstehenden Höllcnstaate des Bösen und der
Finsternis, bis sie in der Lehre vom Antichrist ihren Höhepunkt erreicht, ge¬
wissermaßen eine Historisierung des Teufelsglanbeus. Auch diese Lehre be¬
stätigt den Zwiespalt im Charakter der religiösen Grundvorstellung: denn der
Menschwerdung Gottes in Christus entspricht die Menschwerdung des Teufels
im Widerchrist, der, gestützt auf die den messianischen parallel laufenden
Weissagungen von dem Einfalle des Fürsten Gog und des Königs Antiochus
Epiphanes, kurz vor der Wiederkehr des Heilands als „falscher Christus"
und Gegemnessias auftreten wird. Diese im Laufe der Geschichte bestündig
wiederkehrende Idee von einem Zerrbilde des Erhabnen, von einer Karikiernng
des Idealen, wie sie Goethe selbst in seinein Mephistopheles verkörpert hat,
fußt im Grunde auf der Übertragung der dualistischen Gottesvorstellung auf
zwei halb menschliche, halb dämonische Mittelspersonen, die auf dem Boden
der Menschheit stehn.
Auch dnrch die gesamte mittelalterliche Philosophie geht die dualistische
Auffassung von einem in der Gottheit gleichsam als Unterströmung verborgnen
dunkeln Prinzip hindurch und erreicht auf ihrer Höhe in Spinoza und Jakob
Böhme einen markanten Ausdruck. In der That spricht Spinoza seinem
Gottesweseu Vernunft und Willen ab und unterwirft es der Naturnotwendig¬
keit als dein obersten Weltgesetz. Auch Jakob Böhme erklärt die ursprüng¬
liche göttliche Wesenheit für eine unbewußte und willenlose, und das Böse ist
ihm ein notwendiges Element der Weltentwicklung, als Gegensatz des Guten:
er lehrt die Korrelation der Gegensätze. Dieser fatalistische Zug der philo¬
sophischen Spekulation erhält in der Prädestiuationsidee und in der Leib-
nizischen Lehre von der prästabilierten Harmonie seinen systematischen Abschluß.
Vou den neuem Philosophen ist es besonders Schopenhauer, bei dem ein
dämonischer Zug in der metaphysischen Grundauffassung des Daseins hervor¬
tritt, das seinen Ursprung in etwas Nichtscinsollcndem, in einer Urschuld und
moralischen Verkehrung hat. Bedenken wir nun, daß gerade Spinoza und
Jakob Böhme ans Goethe den tiefsten und nachhaltigsten Einfluß ausgeübt
haben, und daß er mit Schopenhauer auch in persönlicher Fühlung stand, so
wird es uns uicht wunder nehmen, wenn diese Aussaat als die Idee einer
der Welt zu Grunde liegenden schöpferischen und förderlichen, aber anch furcht¬
bare» und lebensfeindlichen Macht in seinem Geiste aufging. Nehmen wir
hierzu noch als Grundstimmung Goethes schwärmerische Hinneigung zur grie¬
chischem Vorstelluugswelt, dann ist die Konzeption seiner Idee des Dämonischen
erklärt. Denn bei der Vorliebe Goethes für Symbolik, wo — seiner Defi¬
nition nach — „das Besondre das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum
oder Schatten, sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des Uner-
forschlichen" und bei seiner dem hellenischen Geiste so kongenialen Künstler-
natur werden wir ans keiner falschen Fährte sein, wenn wir in seinem Be¬
griffe des Dämonischen etwas der altgrichischen (Homerischen) Vorstellung der
Moira, dem alles beherrschenden Verhängnisse, Analoges oder den Schicksals-
göttinnen im Sinne der Hesiodischen Theogonie Verwandtes sehen, die den
Lebensfaden der Menschen spinnen, ihnen das Lebenslos znerteilen und un¬
abwendbar ihren Untergang bestimmen. Antik in diesem Sinne gedacht ist die
Warnung des Mephistopheles an Faust (I. Teil, Schluß): „Über des Er-
schlagnen Stätte schweben rächende Geister und lauern auf den wiederkehrenden
Mörder." Aber wir können noch einen Schritt weiter gehn und dort, wo er
direkt von (gute» oder bösen) Dämonen spricht, deren Macht sich überall
fühlbar mache, bald in neckischen Schabernack und schadenfrohen Streichen,
bald in glücklichen und förderlichen Eingriffen in unsern Lebenslauf, einen
Beleg für seine polytheistische Denkweise finden, durch die er mit künstlerischer
Kraft die Emanationen ans dein göttlichen Urgrund der Welt zu plastischen
Phantasiegebilden gestaltet. Erklärt er doch selbst ausdrücklich: „Als Dichter
und Künstler bin ich Polytheist, Pnntheist dagegen als Naturforscher, und eins
so entschieden wie das andre!"
Goethe liebte es eben, dein prosaisch Reellen das poetisch symbolische
entgegenzusetzen, und es war der Trieb seines Schöpfergeistes, wie schon Merck
es treffend bezeichnet hat, „dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben."
Das erreicht die dichterische Einbildungskraft durch den Prozeß der Individua¬
lisierung, und so wußte Goethe die dunkel wirkenden Naturkräfte, gegenüber
dem sich selbst denkenden bewußten Geiste, zu geheimnisvoll zwischen Himmel
und Erde schwebenden Übergangsgestalten zu verdichten, Verkörperungen der
nur hnlbbewußten unheilvollen Naturgewalt, als Gegensatz zu dein sich in der
Welt realisierenden erhabnen Vernunftprinzip.
Der Untergrund für diese ganze Gedankenwelt Goethes ist sein lebendiges
Gefühl für die Tragik der menschlichen Stellung in der Natur, »vorüber das
faustische Wort vom „ganzen Jammer der Menschheit" ein düstres Schlaglicht
wirft! Zugleich aber empfinden wir aus deu an Eckermann wiederholt ge¬
richteten Ermahnungen des greisen Titanen, „dem Einfluß des Dämonischen
zu widerstehn und sich seiner Macht zu widersetzet?," etwas von dem Über¬
menschentum Goethes, die ganze sittliche Kühnheit und Größe seines Wesens,
da er das Korrektiv zur dämonisch herrschenden Schicksalsgewalt im schöpfe¬
rischen Selbstbewußtsein des Menschen findet, das ihn aus dem leidend Unter¬
liegenden zum erkennend Schauenden und durch einen starken Willen über das
Leben Triumphierenden erhebt.
Allen Gewalten
Zum Trutz sich erhalten,
Nimmer sich beugen,
Kräftig sich zeigen,
Rufet die Arme
Der Götter herbei.
>uf der Heimkehr vom Süden, nachdem mir wochenlang keine
deutsche Zeitung zu Gesicht gekommen war, traf ich mit einem
Nachtzuge in Wien ein und geriet, am Ende eines erfrischenden
Spazierganges im Freien, vor das Ausstellungsgebüude des
! Künstlervereins. Der lebhafte Zudrang lockte mich zu sehen,
was diesesmal darin zu finden sei, und schnell entschlossen trat ich ein. Ich
will versuchen, freimütig niederzuschreiben, was ich, ganz unbefangen von
irgend einer Erwartung, bei diesem Besuch erlebt habe. Dann erst sollen
sich einige Erwägungen anreihen, bei denen ich jeden Einblick in die sonstigen
Besprechungen ferngehalten habe, da sie bei dieser zufälligen Gelegenheit zu
vorurteilsfreier Beobachtung uur beirren konnten.
Die mittlere Glasthür mit ihren kleinen Scheiben gewährt, über die
grünen Büsche hin, die erste überraschende Anschauung von einer hellen Ge¬
stalt darinnen — noch ehe man durch einen der seitlichen Eingänge, von
allerlei Vorkehrungen aufgehalten, selber hineingelange.
Unter dem kahlen Gewölbe mit Oberlicht sieht man mitten im Saal
einen nackten Mann ans breitem Stuhl mit hoher Rücklehne dasitzen. Nach
vorn gewandt, etwas gebeugt, den Kopf vorschiebend, legt er beide Arme auf
das übergeschlagne Bein und ballt die Hände hinter einander zur Faust,
beinahe als drückten sie auf die gespannten Muskeln gegen das erhobne Knie,
auf dessen Höhe nur eben noch das weite Gewand hängen bleibt, das den
untern Teil bis auf die Füße verhüllt. So zusammengenommen scheint der
alternde Mann, durch einen Anblick vor ihm festgehalten, seines eigentlichen
Vorhabens zu vergessen. Wir versuchen, auf Grund dieser Anschauung uns
Rechenschaft zu geben, was es sei, das ihn hierhergeführt habe, und was deu
Entkleideten in solcher vorübergehenden Situation zu fesseln vermöge, ja zu
solchem selbstvergessener Anteil gefangen nehme. Wir pflegen ja nackte Männer
mit einem Laken um die Beine nur in Badeanstalten zu sehen. Und die kahle
Umgebung des Bildwerks, die Form und die Beleuchtung der Halle zwingen
uns, an einen jener Thermenräume zu denken, wo sich dieser Alte ausgezogen
und mit wüstem Haar auf eine Bank niedergelassen hat, um sich vor dem
Bade lieber abzukühlen. Vom Oberkörper ist schon die letzte Hülle gefallen,
und er würde gewiß bald ins Wasser steigen, wenn nicht das Schauspiel ihn
noch abzöge, das er vor sich sieht. Und dieses, was kann es anderes sein,
als ein Ringkampf oder ein Angriff mit den Fünften zwischen jungen Ge¬
sellen? Denn im Zuschauen ballen sich unbewußt auch seine Hände zur Faust,
und nur mit Mühe scheint er sich zurück zu halten. Die Erinnerung an
die kunstgerechte Übung aus den Jahren seiner Vollkraft wird so lebendig,
als möchte er aufspringen und sich einmischen, um denen da zu zeigen, wie
es gemacht werden muß. Aber es steigt wohl das Bewußtsein ans, daß die
Zeit der stählernen Muskeln für ihn vorüber ist, daß die Erschlaffung seines
Körpers ihm nicht mehr erlaubt, durch Schnelligkeit zu ersetzen, was sein
Wuchs ihm versagt. Daher also das mürrische Aussehen? ^swxi paWicki —
pöLvato! In der That, es muß ein kräftiger Körper gewesen sein; aber die
Brust wird eingeengt, als hätte sich der Rücken zu sehr gerundet; nur die
Arme haben, durch Athletenübungen ausgebildet, derbe Fäuste bekommen
und ziemlich starke Schultern behalten. Nur fehlt durchaus die Spannung
und Frische.
Aber dieser breite Schädel verkündet doch wohl mehr als das leidenschaft¬
liche Interesse für gymnastischen Wettstreit? Lager die Augen ein wenig tiefer
unter der vorgewölbten Stirn, würden wir kaum zweifeln, daß hier Gedanken¬
arbeit zu Hause sei, würden im festgeschlossenen Munde eine andre Willens-
energie, als nur die Entschlossenheit eines Fanstkümpfers vermuten, auch wenn
die Nase wenig davon mitzureden weiß. Allerdings, dieses Antlitz gerade ist,
wie der buschige Haarwuchs, sehr summarisch behandelt und läßt alle feinern
Züge der Physiognomie vermissen, deren sonst das Marmorbild eines alternden
Mannes fähig wäre. Nur die Absicht des Künstlers, den Ausdruck doch auf
dem Niveau der rohem Körperkraft zu halten und uns nicht mit den Wider¬
sprüchen eines durchgeistigte» Mienenspiels gegen die Situation der Palästra
oder der Thermenhalle zu behelligen, vermag diese Zurückhaltung zu erklären. —
Treten wir doch näher!
Die Gesamtheit der Eindrücke bleibt auch besteh», wenn man, in der Halle
angelangt, genau in derselben Richtung vor dem Werke Stellung nimmt. Und
doch, diese summarisch wiedergegebnen Chnralterzüge glauben wir schon zu
kennen. Erinnern sie uns nicht auch so bestimmt genug an ein Individuum,
dem wir anderswo begegnet siud? — Nicht in solcher Umgebung war es,
nicht beim Baden oder ans dem Turnplatz. Ist es ein Schuldirektor, der
seinen gewohnten Verkehr mit den Gymnasiasten beibehült und ihnen bei
leiblichen Übungen und erfrischenden Spielen noch gern mit gutem Beispiel
voranginge, obgleich sein ganzes Wesen doch mehr von der Stndierlampe
durchleuchtet wird, während der Sonnenschein draußen die nackten Glieder
seiner Zöglinge brummt? — Erst wenn wir auch diese Möglichkeit abgelehnt
und alle Einflüsse des Schauplatzes überwunden haben, fällt es uns wie
Schuppen vou den Augen. Der ganze Verlauf mag in schnellerm Tempo
geschehen sein. Wenn eine bekannte Person in irgend einem ungewohnten
Auszug, in fremder Verkleidung oder in voller Nacktheit neben uns auftaucht,
wie ein triefendes Tritonenhaupt aus dem Wasser — so brauchen wir eine
Weile, uus zu besinnen, und fühlen wohl gar den Ruck in dein Umschwung
aller Vorstellungen. Seltsames qui pro ano! Nun leuchtet es plötzlich auf:
mit diesem Kopf verbindet sich in unserm Gedächtnis ein großer Name:
Ludwig van Beethoven müßte so ausgesehen haben, wenn er — jn, wann
lind wo? Mehr als der Kopf darf nicht auftauchen! Seinen nackten Körper,
seine Haltung haben wir nun und nimmer so sehen können. Wir haben ja
nicht wirklich mit ihm gelebt.
Das Übrige also ist die Phantasie des Künstlers, der den Kopf in diesem
Zustand der Bearbeitung gelassen hat. Auf die Erkennung des Dargestellten
folgt unmittelbar eine andre Jdeenassoziation: Stehn wir am Ende vor dem
langerwarteten Werke, von dem man uns oftmals schon viel versprochen hat?
Ist das der Beethoven von Max Klinger?
Freilich, muß er es sein. Immer deutlicher drängen sich die Merkmale auf,
die wir schon als Eigentümlichkeiten seiner Arbeiten kennen. Das Gefühl für
die Formensprache des Bildners, für die Knotenpunkte seines Gestaltens und
die seltsamen Gedankenstriche seines Geschmacks nur ist es, was wir uns zum
Bewußtsein bringen, wenn dieser Künstlername über die Schwelle tritt und
sich dem Eindruck des Ganzen da gesellt.
Damit aber werden wir den vollzognen Lauf unsrer eignen Vorstellungen
nicht los. Das also ist die Frucht zwölfjähriger Thätigkeit, die er seinein
Beethoven gewidmet hat — und wir müssen uns ganz anders damit abfinden.
Aber auch die Anschauung unsrer sehenden Augen hält stand. Dieser
summarisch nur mich der Totenmaske, doch mit dem leise verzognen Mund
sogar, die Ähnlichkeit festhaltende Kopf — ohne Zweifel ist er in bestimmter
Absicht, nach der wir weiter fragen müssen, gerade so behandelt, d. h. im
Vergleich zu der Erwartung, die wir einem Beethovendenkmal entgegenbringen,
auffallend allgemein gehalten. Und dieser Kopf des großen Komponisten, den
wir auch so als Bildnis anerkennen wollen, sitzt er nicht auf einem Rumpfe,
der uns absolut unbekannt erscheinen muß, auch wenn wir noch so bereitwillig
hinzutreten, den Intentionen des Künstlers zu folgen, der ihn gemeißelt hat?
Dieser Leib ist nackt. Also sollen wir auf den Boden der Voraussetzungen
übertreten, die unsre moderne Skulptur aus der Tradition des klassischen Alter¬
tums übernommen hat?
Dann ist die Absicht des Bildners, dem Geistesheroen, den er vor uns
hinstellt, dem Vorrecht seiner Kunst gemäß, einen Körper anzudichten, der das
innerste Wesen seines Genius widerspiegelt. Die Plastik verfügt über kein
andres Mittel geistigen Ausdrucks als über die sinnlich sichtbare Gestalt. Bei
ihr muß die Annahme gelten: es ist der Geist, der sich den Körper baut.
Wir würden dein Künstler anstandslos folgen, auch wenn er die Sprache der
überlegneu Schöpferkraft nur wie der Grieche in Apoll und den Musen zu
finden glaubte und für den Meister der Tonkunst hier die Formen eines
Olympischen wählte. Wir würden kaum eine» Einspruch erheben, wenn dieser
ganz Moderne wieder zu der Überzeugung Goethes zurückgriffe, gelänge es
ihm nur, wie Thorwaldsen seinen Schiller, nach dem Götteridcal der Antike
auch unsern Beethoven zu verkörpern. Aber was ist uns Beethoven heute?
Ein absolutes Ideal, eine unbedingt anerkannte Größe, ein Höchster, dem
wir rückhaltlos huldigen? Und ist das Wesentliche seiner Leistungen so fest
umschrieben, daß die unsterbliche Form sich ungerufen einstellte, sich wie von
selber verstttude?
So weit hat Klinger nicht gehn wollen. Dieser Leib da ist keines
Gottes, keines Heros, überhaupt keines unsterblichen Geistes Ebenbild. Das
Übergewicht des breiten Kopfes über die eingeengte Brust, die Haltung des
Körpers widersprechen der Vorstellung einer freien, ganz mit sich selber einigen
Person, geschweige denn der Harmonie der ewigen Urbilder, die eine lange
glorreiche Reihe plastischer Schöpfungen der Hellenen so überzeugend vor
Augen gestellt haben, als wären sie Abbilder nur eines wirklich lebenden
Geschlechts. Hier ist UnVollkommenheit und Hemmung des Gefäßes sichtbar,
also ein Gegensatz gegen den beseligten Aufschwung des Geistes gewollt, den
wir seinerseits doch anch — eben das ist die unverbrüchliche Bedingung der
plastischen Kunst — nur in Entfaltung und Bewegung der Körperform zu
schauen vermögen. Ist es die Absicht des Künstlers, uns die Befangenheit
und die Anstrengung zu zeigen, dann geht auch die Voraussetzung der klassischen
Tradition in die Brüche. Fällt damit auch das Vorrecht der Nacktheit? wäre
die eigentliche Frage.
Klinger greift mit Entschiedenheit zum nackten, will aber die Idealität
der Antike nicht in den Kauf nehmen. Er will keinen Göttlichen schaffen,
sondern einen Menschen — keinen abstrakten Inbegriff eines Geistes, sondern
den Mann. Also den geschichtlichen Beethoven, drängt man uns weiter, also
ein historisches Bildnis? Soweit sind wir noch nicht. Doch eröffnen wir
einmal diese Perspektive von Möglichkeiten. Statt der idealen Verklärung,
die nur die bleibenden Züge seines Wesens festhält und die vorübergehenden
Bedingungen seiner irdischen Laufbahn abstreift, erhielten wir dann ein Abbild
des Ringenden, immer noch Strebenden, der das Höchste will, aber nur mühsam
und stückweise die Schätze zu Tage fördert, die ein Gott — so sagen wir —
in seine Seele gegossen hat. Vielleicht entspricht das dem heutigen Bedürf¬
nis besser.
Doch auch dazu hat Klinger nicht die überlieferten Mittel der Skulptur,
wie sie sich seit den Zeiten der Romantik ausgebildet haben, übernommen: nennen
wir nur seinen eignen Landsmann Rietschel. Wir sind es gewohnt, uns die ent¬
schlossene Wiedergabe des Zeitkostüms mit all seinen unplastischen, vielleicht
nicht einmal malerischen Bedingungen gefallen zu lassen, vorausgesetzt, daß
eben der Mensch in seiner zeitlichen Befangenheit vorgeführt werden soll. In
der Tracht seiner eignen Zeit würden wir bereitwillig anch den Komponisten in
der vorübergehenden Unzulänglichkeit, in den Banden einer ganz bestimmten
Situation hinnehmen, wenn nur mitten darin das Feuer seines Geistes auf¬
sprühte. Eine konventionelle Kostümfignr, nur mit dem Portrütkopf darauf,
wie so häufig sonst, hätten wir von Klinger gewiß nicht zu fürchten. Wir
würden diesem hochbegabten Meister gewiß gern bis hinein in die Erregung
des Augenblicks, in die zufällige Entstehungsgeschichte eines bestimmten Werkes,
in einen denkwürdigen Akt aus dem Schöpferleben Beethovens zu folgen
bereit sein. Aber der Bildner, der den sagbaren und den unsagbaren Inhalt
einer musikalischen Komposition für sein lebendiges Gefühl heraufzuschwören
vermag, wird gerade dagegen mehr Bedenken haben als der Laie, wird sich
fragen, ob ein solches Wagnis für den Maler, für den graphischen Künstler
gar, dem eine Reihe von losen Blättern zur Verfügung steht, auch dem
Plastiker gelingen könne. Und die heutige Generation verlangt mehr zu
sehen, als was die romantische Kunst nach ihrem Herzen einst als Kern der
Aufgabe gesucht hat.
Klinger verschmäht das Zeitkostüm und kehrt entschlösset: zur Nacktheit
zurück, in der klaren Erkenntnis, ohne Zweifel, daß sich nnr die Skulptur ans
diesem Wege von den zahlreichen Verirrungen ins Malerische loszuringeu
vermöchte, die gerade die „historische" Darstellung ihr aufgenötigt hat. Mit
voller Sympathie muß jeder Freund der statuarischen Kunst den erneuten Ver-
such begrüßen, der hier gewagt wird. Von seinem Gelingen und seinem Sieg
hängt das Schicksal ihrer Zukunft ab.
Wie ist er vorgegangen? Gewiß im Sinne unsers wissenschaftlichen Zeit¬
alters. Er aeeeptiert den überlieferten Bildniskvpf und übersetzt die Toten¬
maske in das Leben zurück, wie es eben erst unter den Augen des Anatomen
mit dem Schädel Bachs versucht ward. Und zu diesem Kopf des alternden
Beethoven rekonstruiert er die entschwnndne Gestalt, wie sie auf Grund jener
Maske vorgestellt werden darf, oder ausgesehen haben muß. Die Überzeugung,
das Nichtige gefunden zu haben, führt den Bildner gewiß wie den Anatomen
vom Skelett zum Nackten. Wie weit aber kann dieses Nackte, wie es sich in
Wirklichkeit darstellen mußte, heute noch zu der künstlerischen Lösung der Auf¬
gabe beitrage,,, uns im plastischen Bilde den ganzen Mann vorzuführen? Gilt
es überhaupt, ihn exakt so wieder z» bringen, „wie er leibt und lebt"?
Führt uus gerade da nicht die Nacktheit auf eine falsche Bahn, indem sie uns
vom Psychischen unwillkürlich aber unweigerlich auf das Physische leitet?
Kommt der Künstler nicht gerade durch den leidigen Umstand, daß wir das
Nackte im allgemeinen Leben nicht mehr zu sehen gewohnt sind, in die Gefahr,
daß er uns statt des Brotes einen Stein biete? Klinger giebt seinein Beet¬
hoven der Altersstufe entsprechend die erschlaffte Muskulatur, die zusammen-
gesnntne Brust, den gekrümmten Rücken, die gewohnheitsmäßig, wie momentan
abgelauschte vorgeschobne Kopfhaltung des Stubenhockers, der am Schreibtisch
sanft. Aber wer fragt denn, wie der historische Beethoven in der Badewanne
ausgesehen hat, gleichwie beim Tode eines Seneca, den uns Rubens, oder
eines Marat, den uns David gemalt hat? Mag der Mediziner, der schöpfe¬
rische Begabung nnr als Zustand von Neurose aufzufassen sucht, auch darauf
Pochen, daß der Sohn des Musikus, eines Alkoholisten, nur ein schnell ver¬
fallendes Gewächs gewesen sein könne. Der Bildhauer giebt jedenfalls eines
der wertvollsten Privilegien seiner Kunst preis, wenn er diesen Vorstellungen
zu folgen unternimmt und auf die Darstellung des Mannes in seiner Vollkraft
verzichtet, in deren Besitz wir auch seinem Geiste den glücklichsten Aufschwung
im Vollbesitz seiner Meisterschaft zutrauen.
Folgen wir dagegen dem Bildner vollauf in seiner realistischen Überzeugung,
die Natur in nackter Wahrheit wiedergeben zu müssen, weil sie allein und
ungetrübt vom Stand des innern Lebens zeuge, so bemerken wir mit Ver-
wundrung, daß Klinger diese Konsequenz nicht vollständig mitmacht. Ist das
die Ursache der summarischen Behandlung des Kopfes, daß er doch von der
genausten Durchführung des nackten Leibes zurücksehend? Wenn die Züge des
Antlitzes seiner ins einzelne eingingen, wenn ein bewegliches Mienenspiel
gleichsam unsern Blick veranlaßte, länger dabei zu verweilen und die Spiege¬
lung der Gedanken darin zu belauschen, dann müßte auch die Haut des
Körpers, die Faltenlagen des Halses, die Textur des Fleisches genauer
wiedergegeben werden. Damit aber käme der Bildner zu einem neuen
Widersprüche zwischen dem kalten Marmor und seiner rauh gelassenen Ober¬
fläche hier und dem wirklichen Anblick unsrer, für gewöhnlich durch die engen
Kleider eingeschlossenen Körperteile bis hinein in die Ungleichheiten der Farbe,
der Hautbeschaffenhcit. Und auch uns würde die leidige Ungewohnheit, das
Nackte im freien Verkehr mit Licht und Luft zu sehen, erst recht beirren.
Nun aber finden wir diese Allgemeinheit, die den Porträtkopf selbst an
die Grenze gefährlicher Verwechslungen gebracht hat, noch an einem andern
Bestandteile des Werkes wieder: eine willkürlich gewählte Draperie über den
Beinen. Statt eines solchen konventionellen Atelierapparats für die Anwärter
der Unsterblichkeit erwarten wir bei dem Realismus der Körperbildung doch etwas
andres oder verfallen uuter dem Einfluß dieser letzten — ans ein Badelaken. Wir
bleiben bei der Unentschiedenheit, wie in Houdons Voltaire, der den alten
ausgemergelten Spötter halb nackt, halb mit einem Stück Zeug behängt da¬
sitzen läßt, aber freilich mit so lebhaftem Ausdruck des Gesichts, daß wir über
diese Halbheiten, wegkommen. — Da liegen noch Klippen unsers Vorurteils,
über die uns nnr die Siegesfahrt genialer Schöpfungen hinausführen kann.
Hier aber müssen wir den Neuerer beim Worte nehmen. Dieser nackte
Körper eines schlaffen alternden Denkers versetzt uns gerade durch die summa¬
rische Behandlung im Verein mit den derb hingehaltenen Zügen und dem
mürrischen Ausdruck des Gesichts in eine Sphäre, wo wir unsre edelsten
Geister weder nackt uoch bekleidet zu suchen gewohnt sind. Das fehlende
Kostüm dieses Entkleideten ist die Arbeiterbluse, oder wenn es hoch kommt,
der Schlafrock.
Mit der Wahl des nackten Körpers endlich für den Zeugen der Geister¬
welt wird unabweislich ein andrer Anspruch der plastischen Kunst herein¬
genommen: nun müssen die Gliedmaßen als integrierende Bestandteile der
Gestalt mitsprechen zum Ausdruck des Ganzen. Und wer wird sich dein
Widerspruch verschließen können, solange im Kreise derer, die Beethoven ver¬
ehren, noch etwas natürlicher Geschmack für körperliche Dinge vorhanden ist?
Diese übergeschlagnen Beine künden uns selbstbewußte Genugthuung. Aber die
geballten Fäuste darauf sind ein Mißgriff in der Gebärdensprache. In der Art
des GeHabens und Benehmens spricht sich noch viel verletzender aus, was schon
in der Formensprache des Gewächses an sich hervortrat. So bewegt sich gewohn¬
heitsmäßig ein Dienstmann, wenn er Modell sitzen muß, statt Holz zu hacken.
Gern wollen wir auch hier fragen, was der Künstler mit dieser Haltung
und Gebärde hat sagen wollen. Und damit kommen wir vielleicht erst auf
das schwierigste Kapitel der ganzen auf der vorgezeichneten Grundlage weiter¬
zuführenden Charakteristik. Wie weit kaun die statuarische Kunst mit ihren
Mitteln überhaupt zur Charakteristik einer geistigen Individualität gelange»,
und wie viel hat der Künstler in diesem Falle zu sagen versucht, zu sagen
vermocht? Wir reden hier nur noch von der Gestalt allein, nicht von weitern
Hilfsmitteln und Zuthaten, und vermeiden es auf der andern Seite grundsätzlich,
über das Sichtbare, im Bildwerk anschnnlich Vorhandne hinauszuschweifen in
das Reich der geistigen Vorstellungen, die das plastische Gebild, nachträglich
oder vorahnend, mit ihren schillernden Fäden umspinnen mögen.
Der mürrische Ausdruck des Gesichts entstammt doch der Totenmaske.
Er gehört dem Leidenden, der Agonie, ist also höchst trcmsitorisch. Und solche
Verzerrung pflegt ja selbst der unbarmherzige Tod wieder auszulöschen, wenn
sich die Züge friedlich herstellen in ihre dauernde Lage. Wird die Pietät für
die Echtheit der Züge nicht zur Blasphemie, wenn mau diese Verklärung im
Tode versagt? Als permanenter Ausdruck wird das Symptom nur auf das
mißtrauische Wesen des Schwerhörige:, geschoben werden. Für sich allein
verrät es nnr den Mißmut der Verbitterung. Verbindet man diesen Ausdruck
mit einer Gebärde, wie die auf das Bein gelegten Fäuste, hintereinander
^- also ein durch Wiederholung verstärktes Motiv—, so muß der Beschauer,
der diese Teile, Antlitz und Hände, zusammen erblickt, nach einer innern Einheit
dieser mimischen Elemente suchen. Wenn er dem Bildner im Gedanken an
Beethoven weit entgegenkommt, so verfällt er wohl darauf, sich deu Kompo¬
nisten bei Schwierigkeiten seiner schöpferischen Arbeit zu denken. Sowie er aber
gleich uns von der Handwerklichkeit dieser Gebärde verletzt wird, so antwortet
er durch die notwendige Ergänzung, indem er die Bedingungen hinzudenkt,
die bei Kompositionen mitzuspielen pflegen, und fragt sich, ob dieser Beethoven
im Begriff sei , mit den Fäusten irgend el» Motiv zu trommeln? Dem wider¬
spricht die Haltung der Beine, wie die Zusammenfassung der Gestalt. Dann
bleibt aber mir das Brüten und Drücke,, bei der quälenden Schwergeburt
übrig — und daß hier musikalische Gedanken sich emporringen, daß wir einen
Schöpfer im Reich der Töne vor uns haben, sagt uns kein Zeichen irgend
welcher Art. Nur die Porträtzüge, die unser», Gedächtnis eingeprägt sind,
bringen den Namen Beethoven herauf. So aber ist uns diese Denkerstirn mit
"en tiefliegenden Augen, die düstre Wolke selbst über den zusammengepreßte»
Lippen zu lieb geworden, als daß wir einer unedeln Gebärde daz» auch nur in
der Vorstellung folgen möchten. Die Zumutung, sie in der Kunst verewigt zu
sehen und sie auf immer mit unserm Bilde des großen Meisters zu verbinden,
lehnen wir ebenso ab, wie wir die schnellfertige Übertragung Kaiser Wilhelms I.
u> den Theaterhimmel des Rokoko nicht für eine Apotheose unsers Kaisers
ansehen können, auch wenn ein Maler wie Keller sie c» cMoio zu bieten wagt.
Oder geht solche Erfindung nicht etwa über die Machtvollkommenheit
des Künstlers, der sich anderweit so streng an die historische Treue gebunden
hält, hinaus? Tragt dieses Handwerkermotiv irgend etwas dazu bei, den histo¬
rischen Beethoven zu charakterisiere»? Warum muß uns gerade das Bild der Be¬
fangenheit, Hemmung und Qual als Ausdruck eines Geistes vorgeführt
werden, dem wir so viel Genüsse des herrlichsten Aufschwungs und der gro߬
artigsten Leidenschaft verdanken? Rühren wir damit etwa um die persönlichste
Auffassung des musikalischen Bildhauers selbst? Will er uns sage,,, was er
Über Beethovens musikalische Bedeutung und schöpferische Individualität aus
dem tiefsten Studium seiner Werke gewonnen hat? Dann müssen wir auch
die weitern Beigaben zu Rate ziehn und eine Antwort zurückhalten, bis wir
das Ganze in allen seinen Teilen kennen gelernt haben.
Und wenn wir zu Anfang auch den Vorstcllungslauf freilegen mußten,
der in den Köpfen derer, die Beethoven nicht im Gedächtnis tragen, not¬
wendig zum Austrag kommt und dem Genuß des Kunstwerks hinderlich im
Wege steht — wie gern würden wir nun alle Voraussetzungen einfach an¬
nehmen und der Schöpfung des Künstlers die vollste Anerkennung zollen.
Den näher kommenden Betrachter des Bildwerks beschäftigt notwendiger¬
weise der Gegensatz zwischen der weißen Marmvrfigur und den übrigen Bestand¬
teilen ans farbigem Material. Um so mehr, als er nicht im Zweifel darüber
bleiben kann, daß gerade der farbige Eindruck dieser verschiednen hier zusammen¬
gefügten Stoffe nach dem Sinn des Meisters eine der wesentlichen Eigenschaften
sei, aus denen sich die Entstehung des Ganzen erklärt. Mit Absicht ist in dein
Ausstellungsraum die Pracht des Kleinods in der Mitte dnrch die Einfachheit,
ja eine gewisse Öde der Wandung umher erst recht hervorgehoben — ob ganz
mit Recht, ist eine andre Frage. Versuchen wir auch diesen Weg zum Ver¬
ständnis! Er führt uus unmittelbar von dem Sinnlichen, sozusagen Elemen¬
taren in die Geheimnisse des Empfindens und lehrt uns so vielleicht zuver¬
lässiger die Ausdrucksweise, die in Farbe geboren, sich nicht von dem Medium
losen will, solange es irgend geht.
Die Liebe zu deu wunderbaren Erzengnissen der unorganischen Natur,
diesen gestreiften und geäderten Marmorsorten oder dem leuchtenden, hier
durchsichtig gelben, dort milchweißen Gestein, das wie im Fluß der Massen
weich durcheinander geglitten, im Schoße der Berge zur Deinauthürtc erstarrt
ist und doch den Schein eine.r sanften Bewegung aus eigner Kraft, eines
lebendigen Wachstums von innen her bewahrt — das Gefühl für die urzeit¬
lichen, den Gebilden erfinderischer Menschennrbeit so verwandten Stoffe hat
unverkennbar bei der Konzeption des Gesamteindrucks wie bei Gestalt und
Fügung der Teile bestimmend angesprochen, wenn nicht den Grundton
angegeben oder gar den entscheidenden Einfluß behalten. Und wer die innere
Bildung dieser Gesteine mit hingebenden Blick verfolgt, der bewundert gewiß
bald auch die Hand des Künstlers, die hier gewaltet hat. Mit welcher An¬
passung an die eigentümlichen Schönheiten dieser Gewächse ist sie bemüht
gewesen, so viel wie möglich zu schonen und die natürlichen Formen an der
Stelle, für die sie gewühlt worden sind, für sich selber wirken zu lassen. Es
sind Mysterien unsrer eignen sinnlich-geistigen Natur, in die wir bei solchem
Prozeß des Schaffens hineinsehen, und Grundfragen des Materiälstils und
seiner Machtsphüre drungen sich auf. An ihrer Grenze steht die verhängnis¬
volle Entscheidung, wie weit die Geisteskraft bewußten Schaffens sich diesem
dunklern Gestaltungsdrang vertrauen mag — wie weit der gefundne Stein¬
block die Phantasie des Künstlers bei der Geburt der Form gefangen nehmen
darf> ohne ihren eignen freien Flügelschlag zu lahmen und zum Verhängnis
des Kunstwerks zu werden, indem es den Schein des Naturwerks eintauscht.
Als Grundlage des Ganzen dient hier ein großer Block von dunkeln,
violettbraunem Ton, wie die oberste Platte eines isolierten Felsens, die bei
einem Sturz von oben darauf liegen geblieben ist. Vom Zufall des Bruches
so geformt wie sie war, scheint sie gelassen zu sein. Tektonische Regelmäßig¬
keit, die uns sonst sofort die bevorzugte Stätte verkündet, wo der Wille des
Menschen ein Mal errichtet oder eine geweihte Schwelle ausgesondert hat,
ist hier verschmäht. Aber am andern Ende des hingeworfnen Bruchstücks steht
doch ein kunstreicher Sitz aus gegossener Bronze, der wohl das Werk der
Menschenhand nicht mehr verleugnet, so malerisch auch sonst der natürlich vor-
handue Zustand der Scholle ausgebeutet worden ist. Fänden wir den Hochsitz
draußen auf den Bergen, so wüßte gewiß die Sage bedeutsam zu berichten,
daß Hephüstvs oder der kluge Schmied der Asen deu Thron gestaltet habe.
Die dunkle, warm sich rötende Masse des Sockels bildet die unterste
Schicht der farbigen Rechnung, die Bronzefarbe wieder die Folie für die Ge¬
stalt. Über den Schemel hebt sich die versteinerte Flut des prachtvollen
weißgelben Gewandes, das von der Höhe des Kniees auf den Boden füllt,
sodaß nur die Füße der übereinnndergeschlagnen Beine mit ihren Sandalen in
verschiedner Haltung hervorsehen. Unleugbar auch hier das verlockende Vor¬
bild aus dem klassischen Altertum, wenn auch aus den üppigen Tagen der
späten Kaiserzeit, unverkennbar die selbstverleugnende Hingebung an das kost¬
bare Naturgebilde bis hinein in die Faltenlagen, die vielleicht nicht alle so
geordnet wären, wo Geschmack und Laune des Künstlers allein gewirtschnftet
hätten, ohne sich an die natürliche Unterlage anzuschmiegen. Genug, dieses
goldgelb strahlende Gewand bildet die leuchtende Mitte des Ganzen, und ihm
zuliebe sind auch die bronzenen Lehnen des Sessels vergoldet und poliert,
sodaß das Auge nicht umhin kann, die Wellenlinie dieser mittlern Farbenschicht
in ihrer symmetrischen Gliederung zu fassen. Durch die höhere Erhebung des
verhüllten Kniees wird es hinausgewiesen, zur Gipflung in dem nackten Körper,
der aus weißem Marmor, in unpolierter Meißelarbeit, sich vorstreckt, sodaß
der Kopf nur leise in der letzten horizontalen Begrenzung durch deu Stuhl¬
rücken mehr den Hauptpunkt als den Höhepunkt des rhythmischen Gewoges
ausmacht. Deun die Büste wird links und rechts vom Randstreifen der breiten
Rückenwand eingerahmt, und hier find zwischen emailartig schimmernden, blau
und grün wie Pfauenaugen gemusterten Teilen Relieffragmente aus weißem,
etwas gelblich getonten Marmor eingesetzt, Engelköpfe, die auf beiden Seiten
wie kleinere Trabanten neben dem Haupte des Sitzenden zu schweben scheinen.
Hier verrät sich die willkürliche Zusammenfügung des verschiednen Mate¬
rials, dem rhythmischen Aufstieg der Töne zum Trotz. Schon der weiße
Körper tritt hart und unvermittelt aus der begleitenden Masse, ohne daß der
Schatteuraum der Sitztiefe diesen Kontrast für das Ange verminderte. Aber
der Eindruck der hellen marmornen Engelköpfe in dein blnugrün schillernden
Randstreifen des Stuhles kann vollends mir als ein verletzendes Flickwerk
empfunden werden und thut dem Auge weh, anstatt durch dekorative Einheit
des Fcirbenflusses unser Sinnesorgan zu erquicken und uach der Bewegung
zu beruhigen.
Diese Zerstückelung der abschließenden Zone oben wirkt um so nachteiliger,
je mehr sich die Gesamtform des Stuhles dem GeWoge der Horizontalschichten
anschließt und den Schein spontaner Regung und Streckung, eines malerischen
Vor- und Zurücktretens, das den Menschenkörper begleitet, auch in seinen
glänzenden Armlehnen hervorruft und als durchgehendes Gesetz der Bildung
verkündet. Die störenden Engelköpfe haben aber noch eine schlimme Eigen¬
schaft: sie durchbrechen nicht nnr die Farbenschicht, ans der sie allzu grell auf¬
tauchen, sondern sie treten auch aus ihrer Gebundenheit innerhalb eines
dekorativen Bestandteils heraus. Es sind sozusagen Amphibien, die einmal
in der Flüche und ein andermal im dreidimensionalen Raume davor leben.
Sie beeinträchtigen nicht nur den Hauptkopf durch die Beunruhigung
unsers Auges, wo es ihm allein sich widmen sollte, sondern zwingen unsre
Aufmerksamkeit, eine Beziehung geistiger Art zwischen ihnen und dem darge
stellten Heros der Geisterwelt anzuerkennen; es sind nicht Schmuckstücke nur
der Randleiste des Möbels, sondern integrierende Bestandteile der Darstellung,
Figuranten, die mitsprechen wollen. Sie sind sogar aufdringlicher beabsichtigt
als die dienenden Geführten der Einsamkeit, die Michelangelo seinen gemalten
Propheten und Sibhllen gegönnt hat, obwohl diese wenigstens in voller Leib¬
haftigkeit auftreten und ganz basirt, wo sie erscheinen. Hier sind es ab-
geschnittne Köpfe, die aus einem unbezeichneten Jenseits auftauchen; aber sie
springen uns unerbittlich in die Augen — und damit ist der Zauber der
ganzen farbigen Materialwirkung, dem wir gern bis zu einem harmonischen Ge¬
samtresultat gefolgt wären, gesprengt. Vergebens versuchen wir uns vorzustellen,
ob nicht eine Tönung der ganzen Marmvrfigur, vielleicht gar ein weiterer
Schritt zur Polychromie, wenigstens beim Haupthaar, einheitlich wirke, oder
wagen es, die Beleuchtung, unter der das Werk hier aufgestellt ist, als die
Ursache des unbefriedigender Totaleindrucks — rein für das Auge — anzuklagen.
Der Künstler selbst hat durch den grellen Mißklang zu .Häupten nur den
Sprung ins Land der geistigen Vorstellungen vorbereitet, den wir vollzieh«
sollen, wie er selbst, doch gewiß nicht unbewußt, ihn gethan hat.
Neugierig drängen sich diese Engel an den Kopf des Sitzenden heran,
man könnte meinen, in die Nähe seines Ohres, wie die Stimmen der In¬
spiration. Aber der Eine hebt gar den ausgestreckten Finger bis zum Kinn
empor und zeigt — doch dem Beschauer — den Gegenstand seiner naseweisen
Späherlust. Diese nervöse Hast der Bewegung ist wieder ein Mißgriff in
der Gebärdensprache, der durch seine lehrhafte Absichtlichkeit mehr belästigt
und an dieser Stelle die ruhige Vertiefung in das Anscheinen des Denkers
selbst vereitelt. Die andern Köpfchen mögen durch naive Schönheit erfreuen.
Diese eine Zuthat ist aber zugleich ein ganz unplastischcr, nur malerisch verwert¬
barer Gedanke. Wir bekommen von der Gestalt des Engels nichts zu sehen
als das Gesicht und dieses Glied, die Hand, die wir in Kinnhöhe erhoben zu
denken haben — hinzuzudenken, d. h. in unsrer Phantasie zu ergänzen; denn
für unser Auge sind die zwischen Kopf und Finger liegenden Körperteile nicht
da. Das thun wir bereitwillig da, wo solche Fragmente eines Ganzen aus
dem Helldunkel bis zur erkennbaren Deutlichkeit emporsteigen, wie so häufig
in Gemälden oder auf graphischen Blättern. Dort nehmen wir die Erscheinung
zweier von Natur nicht aneinandergewachsener Körperteile anstandslos als
Zeichen für die Anwesenheit oder Annäherung, für das Sichtbarwerden des
ganzen Wesens hin, zumal da, wo es nur auf die Träger des Ausdrucks
ankommt, und das Übrige nichts weiter zu schaffen hat. Aber ein Bildhauer,
der plastisch denkende .Künstler, wird sogar im Relief eine solche Kombination
verschmähen, weil an ihr sein bestes fehlt: der organische Zusammenhang des
Gewächses, dessen Schönheit ihm über alles geht. Es kam darauf an, dies
zu betonen; denn es offenbart, daß an dieser Stelle ein Übertritt der
schöpferischen Phantasie des Künstlers aus dem einen Gebiet auf das andre
stattgefunden hat, nämlich aus der klaren und konsequenten Anschaulichkeit
der Körperwelt und ihrem dauernden Bestände in die unbestimmtere und
transitorische Erscheinungswelt des Malers, oder gar die noch veränderlichere
verschwimmende Auffassung der auch mit Andeutungen und Abbreviaturen
aller Art sich verquickenden Zeichnung, die ihrerseits so unvermerkt aus dem
freien Spiel der anschaulichen Phantasie in das unsichtbare Reich der geistigen
Vorstellung hinübergleitet.
Damit sind wir im vollen Zuge der sonstigen Zuthaten, die Klinger
herbeigezogen hat, um die Bedeutung seiner Gestalt dem Geiste des Betrachters
weiter zu vermitteln.
(Schluß folgt)
/'x^-Ä M^M''
M>AM VM
FM?M.M/ ?es habe vor Jahr und Tag in einer großen deutschen Prollinzstadt
einer Aufführung des Weberschen Oberen beigewohnt, von der mir
eine schreckliche Erinnerung geblieben ist, nicht weil das Orchester,
die mitwirkenden ersten Kräfte oder die Chöre ungenießbar gewesen
wären, sondern weil der Gesamteindruck der Vorstellung infolge
der schlechten Inszenierung so ganz unter aller Würde our, daß
ich diese als „stockgemein" bezeichnen würde, wenn der Ausdruck nicht auf eine
lieblose Absicht schließen lassen könnte, die mir durchaus fern liegt. Wenig Abende
später wurden in demselben Theater drei Lustspiele gegeben, deren Wiedergabe mir
einen vortrefflichen Eindruck gemacht hat. Der große Abstand, den ich hierbei
zwischen den Leistungen guter Künstler ans ein und derselben Bühne wahrgenommen
habe, hat mich von neuem davon überzeugt, wie wenig Recht die haben, die sich
bemühen, uns die Inszenierung als etwas Nebensächliches, mit dem Wesen der
Kunst nicht Zusammenhängendes darzustellen.
Ich gehe bei der allgemeinen Würdigung des Theaterbesuchs von der bescheidnen
Annahme ans, daß er eine Zerstreuung ist. und daß man von dem gebotnen
Genusse leine Wunder, sondern die Befriedigung der uns allen gemeinsamen Hor-
nnd Schaulust auf einer Stufe erwarten soll, unter die der Geschmack des gebildeten
Durchschnittspnbliknms herabzngchn verbietet. Mit diesem Standpunkt werden sich
auch die befreunden können, die, wie mir das in einer der diesjährigen Grenzbvtcn-
unmmern mehr ex Lkctbeära dekretiert als eigentlich nachgewiesen wurden zu sein
scheint, von der Ansicht ausgehn, daß das Theater — es ist offenbar nur das unsrer
Zeit gemeint — seiner Natur nach nicht zu eiuer Volksbildungsanstalt geeignet sei.
Einer guten Jnszenieruug stehn mancherlei Schwierigkeiten entgegen, die mau
nicht verschweigen darf. Bei nicht subventionierten Bühnen der Mangel an Mitteln,
der begreifliche, aber für die Theaterdirektionen sehr unbequeme Wunsch des Publikums,
von Zeit zu Zeit etwas Neues, Blendendes und Kostbares in Gestalt einer großen
Oper, eines Spektakelstücks oder eines Balletts zu sehen, die unglaubliche Schnelligkeit,
mit der sich Dekorationen und Kostüme abnützen, die Bierbauche und die sonstige
physische Mißgestaltung der Choristen und Statisten, der Mangel an Liebreiz bei
einem Teile der Choristinnen und Statistinnen, die gesuchten Absonderlichkeiten
und Tricks, mit denen Tondichter und andre Dichter ihre Werke nach dem Vor¬
gange Meyerbeers — ich erinnere an den elektrischen Sonnenaufgang und das
Schlittschuhballett im Propheten, sowie an die schaukelnde Caravelle der Afrikanerin —
geflissentlich ausstatten, und nicht am wenigsten der Geschmack eines großen Teiles
des Publikums, der mit dein Wohlgefallen des eäsarischen Roms an Wagenspielen
und Gladiatoreukampfe« oder mit dem der iberischen Halbinsel an Stiergefechten
ungefähr auf derselben Ebene, wenn nicht, wie wir fürchten, noch ein paar Fuß
niedriger steht.
Leicht hat es also der Regisseur nicht. Ich habe es mit ihm hier natürlich
uur insoweit zu thun, als er in Szene setzt, und ich vermute, daß bei der Auf¬
führung des Weberscheu Obcrvns, einer Svnntagsvorstelluug, der beizuwohnen mich
trügerische Erinnerungen an gewisse der Vergangenheit angehörende stilvolle Leistungen
eines großem Nesidcnztheaters verleitet hatten, der kommandierende General unpäßlich,
abwesend oder sonst um der Leitung der Dinge behindert war, sonst hätte offenbar
etwas so Unbeschreibliches nicht vom Stapel laufen küuueu.
Es giebt Opern, die so ziemlich jeder inszenieren kann, der die Mittel dazu
im Kasten liegen hat und sich ein ganz klein wenig auf Kostümkunde und Architektur
versteht. Fidele italienische Brüll- und Kolornturoperu, vou denen wir ganz gut
von Zeit zu Zeit die eine oder die andre vertragen, erheischen keinen besondern
Zauber der Inszenierung. In das Land der Träume werdeu wir durch den
Troubadour zum Beispiel nicht entrückt. Wenn sich Graf Luna an der Raupe mit
durchgedrückten Waden und verrenkten Armen wie eine verrückt gewordne Marionette
gebärdet, und Manrieo beim Anblick des Scheiterhaufens annal läuft, so hat das
nichts auf sich, solange das Pvrtamento der Cavatine tigerartig heult und das
hohe 0 der Schlußcnbaletta rein und fanfarenartig heransgeschmettert wird. So
groß auch die Schönheiten dieser populären Oper und namentlich der daraus auf
den meisten Bühnen wegfallenden, tiefer empfundnen Stücke ist, so sieht doch
bei ihr jeder die Spielenden als Schrei- und Singpuppeu an, die sich mit ihren
Stückchen nie zu sehr in den Vordergrund drängen können, und uns stören bei
eiuer solchen Vorstellung Gaklichkeit und Kulisseureiszerei nicht; nur Schmutz und
Verlumptheit machen uns einen schmerzliche» Eindruck, weil wir daran denken,
daß die Leute hungern werden, wenn die Lampen ausgelöscht sind, und daß es
ihnen an warmen Betten zum Zudecken fehlen wird.
Mit einer Oper wie dem Weberscheu Oberon ist es etwas ganz andres.
Der bewegt sich in dem Zauberreiche der Poesie und der Romantik, in dem
Wunderlands des nie Geschehenen und thatsächlich Unmöglichen, aber doch so entzückend
Anregenden und Befriedigender. Der ganze Oberon müßte, um es gerade heraus¬
zusagen, hinter einem Flor gespielt und gesungen werden, und die Jnszenieruug,
die ihm vor Jahren auf der von mir bezeichneten Bühne einer Residenzstadt zuteil
geworden war, kam dieser Auffassung in der That sehr nahe.
Es war ja natürlich auch so manches auszusetzein der Ritter Huon war zu
stark, und Rezia hatte einen wahren Hemmschuh von einer Nase im Gesicht. Der
Elfenkönig war etwas fade, und man ertrug deshalb die Nachricht, daß er ins
Feenreich zurückkehre, mit Fassung. Es gab auch — ans welcher Bühne gäbe es
die nicht — Elfengroßmütter und Elfengroßväter, und die eine der Elfenmütter,
eine kreuzbrave Frau, die jeden Chor „hielt," hätte man lieber mit dem Strick¬
strumpfe gesehen als mit dem gewissen Lilieustnb, den sie wie einen Besenstiel,
nur etwas verschämter, handhabte: aber im großen und ganzen hatte man doch
den Eindruck, bei einem wirklich vornehmen Kunstiustitut zu Gaste zu sein, eine
Genugthuung, die einem an jenem Abende im Theater der großen deutschen Mittel¬
stadt leider versagt war. Im Theater der Residenzstadt saug der gewaltige Huon
seine Partie mit der Weihe, die trotz des zu großen „Embonpoints" jede seiner
Rollen zu einer aus lauterster Empfindung hervorquellenden Kunstleistung machte,
und Nezia war bei geradezu himmlischem Gesaug zwar keine Odaliske — nach
dieser Richtung ließ ihre Nase keine Illusion aufkommen —, aber wenn sie auch
keine Odaliske war, so war sie doch — woran man das merkte, kann ich nicht so
schnell und im Handumdrehn beschreiben -— eine vornehme Dame, eine Fürstin,
eine Kalifentochter, die jeder in der Idee entführen konnte, er werde schließlich
auch ihre Nase lieben lernen, und dabei eine Orientalin, die Pumphosen anhatte,
Pumphosen von schwerem rvsedechinefarbigem Atlas und auf ganz kleinen aristo¬
kratischen Füßchen in winzigen Pantöffelchen im Harem oder am Strande des
»Ungeheuers" herumtrippelte.
Dagegen die auch ganz lieblich singende Nezia jenes verhängnisvollen andern
Abends, wie könnten, wie dürften wir je das schildern, was sie ausgedacht hatte,
um — wir fragen uns, ans wen? — einen orientalischen Eindruck zu machen.
Es schmückte sie ein entarteter toll-Ninon, in unheimlicher Weise wie eine Jahrmarkts¬
bude mit Stücken weißen Baumwollenstoffs besteckt, den bunte, ich glaube in der
Hauptsache rote Maschiuenstickerei als aus Chemnitz oder Glauchau gebürtig doku¬
mentierte. Wußte die unselige Rezia nicht, daß ein Mann von Bildung sich eine
orientalische Prinzessin auch uuter den erschwerendsten Umständen, zu denen ein
Schiffbruch ja offenbar gehört, nicht ohne schwcrseidne Pumphosen vorstellen kann?
War es ihr unbekannt, daß weißer Baumwollenstoff mit Chemnitzer Maschiuenstickerei
für eine Tochter Harun-al-Naschids nicht bloß ein Anachronismus, souderu auch in jeder
Beziehung etwas Unleidliches, geradezu Schimpfliches gewesen sein würde? Gold¬
durchwirkte Seidengaze schließt für Damen von Nezieus Rang und Erziehung das
sächsische Baumwolleuprodukt völlig aus.
Und so war an jenem verhängnisvollen Abend alles. Der Prospekt von
Bagdad abgescheuert, schuiutzig und faltig, die sich dem Textbuche zufolge auf
der wogenden Flut schaukelnden Meerjniigfrauen entweder hoffnungslos festgefahren
oder wie auf „Käsehitscheu" hin und her gerüttelt; die Serenade im Serail eine
Pasquinade, der Hofstaat Harun-al-Naschids ein Trottelmuseum. Was ich gar
nicht schildern kann, weil es unfaßlich war, ist das Kostüm, in das man die ver¬
kleideten Gärtner gesteckt hatte. Ich glaube auf der Foire des Boulevard Mont¬
martre in einem Akrvbatcnetablissement dritten Ranges etwas Ähnliches gesehen
zu haben, nicht so neu — denn der Anputz war obendrein neu, das war das
Schlimme — aber von ähnlichem Schlag, oomvoLiw, wie die Engländer von einer
gewissen Art von Säulenknäufen sagen, und wo der Obergärtner des Emirs, der
doch anständige „Terken" zu sehe» gewohnt sein mußte, die Augen gehabt haben
kann, als er diese Vogelscheuchen für Gläubige ansah, ist mir ein Rätsel.
Für den nächsten Tag standen die Hugenotten auf dem Zettel: sie ragten in
der That schon mehrfach mit ihren Dekorationen in die Oberonaufführnng herein.
Die im Garten des Emirs hinauf und hinab führenden ornamentalen Treppen
waren im Vnloisstil, und an den Hof Karls des Großen, Prospekt, Kulissen, ^>er-
satzstncke und Kostüme denke ich nur ungern zurück; beschreiben könnte us ohnehin
das unglaubliche Durcheinander von Baustilen und Trachten verschiedner Jahr¬
hunderte nicht.
Wie unus nicht machen soll, hatte ich ein jenem Abende gesehen, und wie
mens mcichen muß much: weit früher in jenem subventionierten Hoftheater, dessen
Intendant, ein alter vornehmer Herr, noch der inzwischen abgekommnen Tradition
huldigte, daß es besser sei, ein Stück gar nicht aufzuführen als schlecht. Er hatte vor¬
zügliche Dekorationsmaler an der Hand, und Noschcmcis Divan habe ich nirgends
anders so pittoresk aufgefaßt und mit so feinem Geschmack ausgestattet gesehen,
aber die einheimischen Künstler genügten ihm, wenn er etwas ganz Apartes und
Verschmitztes haben wollte, nicht immer, und von Zeit zu Zeit war denn auch auf
ein paar Tage oder Wochen der damals in Paris berühmte Desplöchin da, um Rat
zu erteilen oder selbst Hand anzulegen (pour Vrossor un Mit äöeoi). Etwas
Pratschiges, Gewöhnliches oder sonst Geschmackloses kam grundsätzlich nicht auf
die Bühne.
Wie im Oberon damals manche Dinge geleistet worden sind, ohne daß es
einen Bühnen- und Theaterbrand gegeben hat, habe ich mich seitdem manchmal
gefragt; Thatsache ist, daß die getrvffnen Veranstaltungen überaus feuergefährlicher
Art waren. So oft nach den Vorschriften des Scenarios das Feenreich von der
Bühne Besitz nahm, senkte sich, nicht auf einmal sondern allmählich in vielfältigen
Schleiern, erst leicht und durchsichtig, dann immer dichter und undurchsichtiger
werdend ein Wolkennebel auf die Bühne herab, oder er hüllte sie vou rechts
und links kommend ein: eine Prozedur von so fein berechneter Wirkuug, wie ich
seitdem nie wieder etwas Ähnliches gesehen habe. Alles ging facht, geräuschlos
und feierlich vor sich, ohne Gewackel und Gefackel, ohne Zucken und Mucken, ohne
Falten oder Spalten, und es würde mich nicht überraschen zu hören, daß die ge¬
malten Wolkenschleier und die Veranstaltungen, die getroffen worden waren, ihr
geisterhaftes Herab- und Zusammenfließen zu sichern, mehr gekostet hätten als eines
unsrer modernen, in allen Farben schillernden und doch häufig banalen Balletts.
Aber wie nobel, einfach und befriedigend war dafür auch der Effekt: die sich ihrer
Schleier langsam und allmählich wieder entledigende Bühne beginnt in hellerm
Lichte zu strahlen, die Zaubernebel, die letzten noch verbleibenden leichtesten und
dünnsten Schleier scheinen sich zu lösen, zu verduften, und der entzückende Küsten¬
strich, an dem Huon und Scherasmin eben durch Feenhände abgesetzt worden sind
— die tiefblaue, unter einem Saphirhimmel brandende See, weiße Mauern und
Kiosks auf Hellem Gestade, schlauke, schwanke, goldigschimmernde Palmen über grauen
Aloes emporragend — liegt heiter lächelnd, in harmonischer Schönheit vor dem
Auge des staunenden Beschauers. Das nenne ich Zauber, und solche Eindrücke
verfeinern den Geschmack dessen, dem sie zuteil werden.
Derselbe märchenhafte Zauber lag über der ganzen Vorstellung. Es giebt
kaum etwas, was schwerer zu inszenieren wäre als die Serenade und das Ballabile-
busfo im Serail des Kalifen. Wie fein, wie graziös, wie elegant war das gemacht!
Ein über die ganze Breite der Bühne gespanntes, mit bunten exotischen Schling¬
pflanzen bewachsenes leichtes Gitterwerk trennte die Sultauiuuen von der vorbei¬
ziehenden Janitscharenbnnda, und das Haremsgelichter, meist kleine zierliche Mvhren-
kinder, quirlte dann zu den Zauberklängen des Horns innerhalb der „Klausur"
so geräuschlos, drollig, luftig und elfenartig im Kreise herum, daß mau eher ein
Märchen zu lesen als im Theater zu sein glaubte. Eine solche Inszenierung ist
dann wirklich ein Triumph des guten Geschmacks, und die Erinnerung daran hat
mich in Paris mit Wehmut erfüllt, als ich, durch die Reklame eines Spektnkelstücks
angelockt, im Theatre Chatelet gleich bei meinem Eintritt von dem Menageriegeruch
begrüßt wurde, der mit Hilfe der in dem Stücke vorkommenden Elefanten,
Dromedare, Löwen und Tiger aus dem sonst leidlich eleganten Hanse eine wider¬
liche Tierbude gemacht hatte.
Von den sich auf der wogenden Flut schaukelnden Nereiden der idealen
Oberonvorstelluug sage ich nichts. Sie waren zu schön. Die Mütter und die Gro߬
mütter mit den herrlichen Stimmen sangen ungesehen hinter den Kulissen, und deren
Töchter mit den herrlichen Armen gaukelten in feenhaftem „Überlicht" zwischen
den schäkernden Wellen herum. Der Intendant, ein feiner Kenner des Schönen
in jeder Gestalt, machte gelegentlich ans die eine oder die andre seiner Meinung
nach besonders gelungne Tanzleistuug, eiuen roncl als vras oder einen rcmÄ as
,j»nrdo, wie das Ding mit dem technischen Ausdrucke hieß, besonders aufmerksam,
und der Ballettmeister hatte dann keine Schwierigkeit, für die graziöse Nereide eine
Gehaltszulage zu erwirken, während die Mütter und die Großmütter das mögliche
Mnximum schon vor Jahren erreicht hatten.
Die beiden Pseudogärtner, ja das war faules, in Babuschen dahinschlurfendes,
mit Pumphosen bekleidetes, kahlgeschvrnes, Allah willkommnes und erstaunlich echt
aussehendes Pack: da konnte man den Obergärtner, der sich hatte täuschen lasse»,
zur Not noch versteh» i anfänglich hatte man ja selbst geglaubt, es müßten mos-
lemitische, mit Pflanzenwnrtnng beschäftigte Tagediebe sein. Und nun der Einzug
der glücklich heimgekehrte» beiden Helden und ihrer Schönen in den Festsaal der
kaiserlichen Pfalz! Ich erinnere mich, daß ich an jenem verhängnisvolle» Abend,
ohne daß es jemand bemerkte, vor Scham rot wurde, als sich das erbärmliche
Schauspiel vor mir abspielte. So leid war es mir um den Regisseur, den Direktor,
die Stadt. So lumpig und elend wars. Im andern Theater in frühern Jahren
wurde man sogleich durch den ersten Trompetenstoß der Märchenwelt entrückt:
mit dem herrlichen Einzngsmarsche kehrte man in historische Verhältnisse zurück.
Jeder von uns Jungen hätte sich darauf totschlagen lassen, daß die Trompeten,
auf denen geblasen wurde, „von Silber" wären. Ich will das zwar im Lichte
später cingezogner Erkundigungen nicht so schroff hinstellen, aber der Einzug der
Palasttruppen, des Hoff und des Kaisers in den prächtigen, wie ein Saal, nicht wie ein
Knlissensammelsnrium aussehenden Festraum, ja das war Inszenierung. Wenn dann
schließlich alles herein war, wenn alle Emporen, Tribünen, Treppen und Galerien
„gerappelt" voll waren von Geharnischten und Paladinen, und der Kaiser — er
war seines Zeichens Köhler, gab nur diese eine Rolle und wurde jedesmal mittels
eines besondern Wagens aus seinem Waldreviere herbeigeholt — umgeben von
Page», Seneschallen, Schild- und Schwertträgern wie ein Gott durch den Saal
schritt und auf dem Throne Platz nahm, von dem wir wußten, daß er massiv
war und auf einem massiven Unterbau stand — beides hatte sich der Köhler, der
ein Niese und ein vorsichtiger Mann war, ausdrücklich ausgebeten —, da wurde
in einem wirklich etwas lebendig, was sich wie geschichtliche Wiedererweckung
aufnahm, und ob sich in einem solchen Falle nicht doch vielleicht das Theater
„seiner Natur nach zur Volksbildung geeignet" haben dürfte, wollen wir dahin¬
gestellt sein lassen.
Diese vornehme, von dem besten geläuterte» Geschmacke getragne und auf
ihn berechnete Inszenierung, und zwar in dem besondern Falle des Weberschen
Obervns in erster Reihe das Festhalten der Idee des märchenhaften Traums ist
es, was man bewundern mußte, und was ich als nachnhmungswürdiges Beispiel hin¬
stellen möchte. Zu den Sonderbarkeiten des alten Intendanten gehörte es, daß
er sich in seiner Szenerie und in seine» Kostüme», wie er sich ausdrückte, uicht
„herummantscheu" ließ. Eine Bank, eine Rosenlande, die für den und den Akt
des Oberon oder für die und die Stelle der Bühne gemalt war, durfte unter
keinen Umständen anders verwandt werden. Eine fünfte Kulisse wurde gleich ga»z
unters gemalt als eine erste, und er hielt streng darauf, daß die Miediugs, was
sie zu thun geneigt waren, keine „zweckmäßigen" Einrichtungen von ihrer eignen
Erfindung trafen. Damit erreichte er es meist, daß man beim ersten Sichtbar¬
werden einer Dekoration wirklich einen Augenblick wahrer Sinnentäuschung hatte
und eiuen Prospekt, einzelne Kulissen und 'Versatzstücke vor sich zu haben vergaß.
Und patriarchalisch war er insofern, als er oft aus seiner Küche und aus seinem
Keller das echt lieferte, was auf der Bühne verspeist und vertrunkc» werden sollte.
Er war der Überzeugung, daß das dem Gelingen der Vorstellung zu gute kam,
und ich glaube, es war in der That auch die Art von Echtheit in der Insze¬
nierung, für die das in dem Stück in selbständigen Rollen mitwirkende oder
mit andern Worten wirklich mitessende und mittrinkende Personal das feinste Ver¬
reignisse von der Bedeutung der Holzweißiger Volksversammlung
können nicht ohne Nachwirkungen bleiben. Herr Leberecht Bolze litt
sichtlich an Nedeverhaltung und Ärger, er wurde hinfällig und ganz
gelb im Gesicht. Onkel Alfons erließ in Hinterhäuser eine strenge,
gegen die Sozialdemokraten gerichtete Verfügung, wobei es nur schade
war, daß es in Hinterhäuser außer ein paar alten Holzhackern, die
übrigens nicht in Betracht kamen, keine Sozialdemokraten gab, und hielt am Stamm¬
tische donnernde Reden gegen die Niedertracht und die Gemeingefährlichkeit des roten
Gespenstes. Happich aber zählte mit Ruhe und Genugthuung seine Gelder, die
er von den Sozialisten verdient hatte, auf und legte sie in — Heiurichshaller
Kuxen an.
Rummel hatte festgestellt, daß am Tage der Volksversammlung zweiundvierzig
Mann ohne Entschuldigung von der Arbeit weggeblieben waren. Das war um so
schlimmer, als man mit Entlassung gedroht hatte, wenn jemand, um die Volks¬
versammlung zu besuchen, nicht zur Arbeit kommen würde. Rummels Meinung
war, daß diese zweiundvierzig Mann sogleich abgelohnt werden müßten. Denn
wenn man jetzt nicht die Faust zeige, so wüchsen einem die Kerls über den Kopf.
Und wenn sie deswegen streiken wollten, möchten sie immerhin streiken, zum Krach
komme es binnen kurzem doch. Diese Meinung setzte Rummel dem Herrn Direktor
in aller Bescheidenheit auseinander.
Der Herr Direktor saß wie ein welker Apfel ans seinem Dreibein, hatte
die Beine hochgezogen, brütete vor sich hin und antwortete nicht. Er sah nicht
gut aus, schwammig, müde und nervös. Es war zweifelhaft, ob er überhaupt
zugehört hatte. Als Rummel seine Sache vorgetragen und nochmals wiederholt
hatte, trat eine Pause ein.
Herr Direktor, sagte Wandrer, Rummel möchte wissen, was er mit deu zwei¬
undvierzig Mann machen soll.
Abschießen I schrie der Direktor, darauf verfiel er wieder in sein Brüten.
Rummel hielt das Wort „Abschießen!" für einen direktorialen Scherz und sich für
verpflichtet, Beifall kundzugeben. Aber es kam ihm nicht von Herzen, denn
der Spaß war doch etwas zu blutig, und zum spaßen war die Lage nicht recht
geeignet. Der Direktor ermannte sich, es war wie wenn er einen Bann abwürfe,
und sagte in kaltem Geschäftstone: Zweiundvierzig Mann Mohren? Ich dächte
gar. Sie wissen doch, daß wir jeden Mann brauchen.
Ich mache darauf aufmerksam, sagte Wandrer, daß es hohe Zeit wird, daß
wir unsre Autorität wahren. Wir verlieren die Leute aus der Hand, und was
wird dann?
Ein andermal, Wandrer. Erst müssen die laufenden Lieferungen erledigt sein.
Vor der Generalversammlung, fügte er leise hinzu, dürfen wir den Betrieb nicht
einschränken. Das macht einen schlechten Eindruck. Wir müssen den Kurs noch
um einige Prozent treiben.
Herr Direktor, sagte Rummel —
Was wollen Sie noch?
Es ist mit Entlassung gedroht worden. Wenn wir nun nicht ausführen, was
wir gedroht haben —
Ach was! Sehen Sie zu, wie Sie mit den Leuten auskommen. Nächsten
Monat können Sie so viele zum Teufel schicken, wie Sie wollen.
Rummel ging, indem er einen verzweifelten Blick auf Wandrer warf, davon.
Der Direktor versank wieder ins Brüten. Nach einer Weile schrak er auf und
sagte: Wandrer, ich wünschte, ich hätte die gesunden Knochen, die Sie haben.
Ihre Knochen sind ja ganz intakt, Herr Direktor, erwiderte Wandrer.
Wie mans nimmt. Ich meine mich die Knochen nicht, sondern die Haut
Ach was! ich meine auch die Haut nicht, sondern die innere Pelle. Es kommt
nachgerade durch. Hols der Teufel, ich werde Tag und Nacht den Gedanken,
nicht los, daß mir die Bande eines Tages die Haut bei lebendigem Leibe abzieht.
Sie warten nur auf die Gelegenheit. Es ist Unsinn, aber ich bilde nur ein, daß
hinter jeder Ecke einer steht und wartet. Der Direktor sah sich scheu um.
Man muß sich nicht fürchten, Herr Direktor, sagte Wandrer. Treten Sie
den Leuten mutig entgegen, keine Hand hebt sich gegen Sie auf.
Wer das könnte! — Pause. — Wandrer, fuhr der Direktor fort, ich würde
jetzt an Ihrer Stelle die Heinrichshaller Kuxe verkaufen.
Warum denn?
Man kann nicht wissen, was kommt. Ich habe vorige Nacht von Mohr¬
rüben geträumt, das bedeutet allemal Unheil.
Würden Sie denn Ihre Papiere verkaufen?
Ich denke ernstlich daran. Wissen Sie, so ein Knx ist wie ein Luftballon.
Wenn er im besten Steigen ist, platzt er.
Wandrer hielt die Sache für eine krankhafte Erregung des Direktors und
verlor sie aus dem Auge.
Am nächsten Tage erschien im „Volksherold" ein langer Bericht über die
Volksversammlung in Holzweißtg. Der Berichterstatter stand nicht an, diese Ver¬
sammlung als einen Markstein in der Geschichte der volksbefreienden Idee zu be-
zeichnen, als eine That, die das Licht der Vernunft in breite Volksschichten tragen
werde. Nieder mit dem gedankenlosen Schlendrian, nieder mit der Indolenz, nieder
mit der Duckmäuserei, dem Angsthasentnm und den Kompromissen. Es giebt nur
einen souveränen Willen in der Welt, den des organisierten Proletariats. Von dem
Hauptredner war uicht viel die Rede, der hatte seinen Lohn dahin. Desto mehr
von Doktor Limburg, der mit überlegnem Geiste und kaustischem Witze die Ver¬
sammlung geleitet hatte, und von ihm, dem Berichterstatter, dem es zu verdanken
war, daß die Versammlung eine höchst interessante Wendung genommen hatte.
Auch die Genossen, die voll und ganz ihre Schuldigkeit gethan hätten, erhielten
ihr volles Maß von Lob. Die beiden bürgerlichen Redner aber erhielten ihr
volles Maß von Hohn und Niedertracht. Diese Herren, schrieb der Volksherold,
erschienen als Ritter von der traurigen Gestalt und spielten eine klägliche Rolle.
Sie sagten ihre Zaubersprüche her, mit denen sie an ihren Stammtischen und in
ihren Zeitungen die Svzinldemokratie schon so oft vernichtet hatten, und mußten es
erleben, einfach ausgelacht zu werden. Der erste Redner, ein wohlbekannter Nichts¬
thuer aus Braunfels, tischte allerhand schöne Märchen auf, mußte aber begossen
"bziehn, als man seiner Quasselei auf den Grund ging und beglaubigte Thatsachen
verlangte. Der andre, ein Bürgermeister ans Mottenburg in Hinterpommern, war
«och beklagenswerter. Er mußte wohl in seinen Denkorganen nicht ganz korrekt
sein; seine Wutausbrüche konnten kaum anders als mit dem Worte Patrioten¬
koller bezeichnet werden. Man habe den armen Mann unbeschädigt nach Haus
geschickt. Die alten Weiber in Mottenbnrg würden hoffentlich nicht über die Be¬
schädigung des Denkorgans ihres Stadtoberhauptes untröstlich fein. Darauf wurde
die Brutalität der bewaffneten Macht, die sich die Gelegenheit, friedliche Arbeiter
zu mißhandeln, nicht habe entgehn lassen, gebührend gekennzeichnet. Diese Schergen
einer mittelalterlichen Tyrannei, diese Fronvögte der kapitalistischen Sklavenhalter
wurden der allgemeinen Verachtung übergeben, und der Tag wurde Prophezeit, an
dem Gerechtigkeit und Vernunft über Gewalt und Hinterlist triumphieren werde.
Dieser Bericht brachte zwar dem Volksherold zwei Beleidignngsklagen ein,
doch was geschrieben war, blieb geschrieben und wirkte weiter. Der Vvlksherold
erhielt einen Zuwachs von einigen hundert Abonnenten und wurde eifrig gelesen.
Das Feuer, das man angefacht hatte, sing an zu brennen.
Äußerlich merkte man nicht viel. Alles ging seinen alten Gang, höchstens
daß die Mienen der „Zielbewußten" noch verbissener und ihr Gruß noch mürrischer
war. Aber unten vor Ort, wenn der Steiger den Rücken gekehrt hatte, legte man
den Schlägel nieder und steckte die Köpfe zusammen. Und auf dem Snlzlager saß
man, statt zu arbeiten, auf den Säcken und diskutierte, und in der Sodafnbrik
wurde gemurmelt, und in der Schmiede geschimpft. Wenn man gestört wurde,
wandte man sich mürrisch zur Arbeit, und wenn man gefragt wurde, was denn
los sei, gab man keine Antwort. Und immer mehr brach sich über Tage wie nnter
Tage die Überzeugung Bahn, daß es nicht eher besser werde, als bis die modernen
Zwingburgen gebrochen seien, und die Dividenden, statt in die Taschen der Aktio¬
näre, in die der Arbeiter flössen, denen sie von Rechts wegen zukämen. Und da
offenbar der Direktor der böse Genius war, der die Dividende nicht herausgab,
so wandte sich auf ihn der allgemeine Unwille. Man schüttelte die Faust hinter
seinem Rücken, wenn er vorbeiging, und rief ihm halblaut ein Fluchwort nach. Als
einmal ein Arbeiter dem andern zuraunte, man müsse dem alten Schweinehunde
die Haut über die Ohren ziehn, war der Direktor unvermutet näher getreten und
hatte das Wort gehört. Er sagte nichts darauf, sondern lief davon, als wenn der
Boden unter seinen Füßen brennte, und ließ sich drei Tage nicht sehen. Aber bei
nächster Gelegenheit wurde der Mann ohne Angabe eines Grundes abgelohnt, was
wieder neuen Unwillen erregte.
Nachmittag um vier Uhr war Schichtwechsel. Die Bergleute pflegten sich,
nachdem sie sich schon in ihren Arbeiterwichs geworfen hatten, bevor sie einfuhren,
auf die Barriere zu setzen, die den Raum vor dem Förderhnuse von den Eisen¬
bahnschienen trennte, in langer Reihe wie die Dohlen ans dem Kirchendache. Um
diese Zeit machte Wandrer in der Regel einen Gang durch das Werk. Er setzte
sich daun wohl anch auf die Barriere und redete mit dem einen oder dem andern,
und die Leute hatten es gern, ein Wort mit Wandrer zu plaudern. Er war unter
ihnen wegen seiner guten Laune, und weil er die Arbeiter wohlwollend und gerecht
behandelte, beliebt, und man vergaß es bisweilen, daß er zu den Schergen des Kapi¬
talismus gehörte, und redete mit ihm wie mit seinesgleichen.
Sagen Sie mal, Vogelfang, sagte Wandrer bei einer solchen Gelegenheit zu
seinem Nachbar auf der Barriere, einem ältern und verständigen Bergmann, was
ist denn eigentlich los?
Was soll denn los sein, Herr Wandrer?
Was murmeln denn die Leute in allen Ecken herum. Das soll gewiß einen
Streik geben.
Das könnte wohl kommen.
Warum wollen sie denn aber streiken?
Nu, Herr Wandrer, man will doch seine Lage verbessern.
Sagen Sie mal, ist denn Ihre Lage schlecht?
Vogelfang und die andern, die dem Gespräche zuhörten, schauten erstaunt auf.
Wie konnte ein Mensch die Idee haben, daß die Lage der Arbeiter nicht schlecht sei?
Die Verelendung der Massen war doch „wissenschaftlich" nachgewiesen.
Wir wollen es einmal ausrechnen, fuhr Wandrer fort. Was verdient der
Bergmann. Durchschnittlich — gering gerechnet 4 Mark 50 Pfennige, Und das
das ganze Jahr. Nehmen wir an 300 Arbeitstage, aber mit den Überschichten
und Sonntagen sind es mehr. Giebt 1480 Mark. Und der Lehrer in Holzweißig
hat 200 Mark weniger und hat auch Frau und Kinder. Was meint ihr, wenn der
und seine Kollegen einmal anfingen zu Streite»?
Das kann er ja, erwiderte der Nachbar auf der andern Seite. Jeder sieht,
wo er bleibt, und wenn Sie, Herr Wandrer, mehr kriegen können, dann nehmen
Sie es auch.
Natürlich, aber ich sehe mich bor, daß ich nicht mit den Händen in die
Brennesseln greife, wenn ich Äpfel aufheben will. Also die Forderung sei: eine
Mark mehr. Die möchten Sie haben, aber die giebt Ihnen die Gesellschaft nicht
freiwillig, denn das würde für sie einen Einnahmeverlnst von 300 bis 400000 Mark
bedeuten. Es entsteht also ein Lohnkampf. Ein Vierteljahr dauert die Geschichte ganz
gewiß. Früher giebt die Gesellschaft nicht unes, vielleicht giebt sie überhaupt nicht
nach und läßt das Werk liegen. Wir wollen aber einmal annehmen, nach einem
Vierteljahre kommt es zur Einigung, Sie setzen die Hälfte Ihrer Forderung durch
und haben nun 1650 Mark Einkommen. Das ist schon ein ganz hübscher Beamten¬
gehalt, Aber das haben Sie nicht gleich. Zunächst haben Sie während des
Streiks 370 Mark zugesetzt, die Sie zurückverdienen müssen.
Ja, wir kriegen aber doch Strcikgelder.
Von wem denn? Das sind doch Ihre eignen Ersparnisse, die Sie zuvor in
die Streikkasse gezahlt haben, Sie wären kluge Leute, wenn Sie Ihre Ersparnisse
irgend wo anders auf die hohe Kante stellten. Nun brauchen Sie erst einmal
zwei Jahre, ehe Sie Ihren Verlust eingebracht haben, und in zwei Jahren ist
wieder der Teufel los, und es wird wieder gestreikt, und Sie kommen zu nichts. Frau
und Kinder leiden not, und die Wirtschaft verlumpt.
Die Bergleute dachten nach. — Ja, da haben Sie ja ganz Recht, Herr Wandrer.
Wenn man konnte, wie man wollte, dann machte man nicht mit. Aber da schicken
sie uns die Agitatoren, und dann wird Radau gemacht und abgestimmt, und
dann muß mau mit.
Müsse» Sie wirklich? fragte Wandrer.
Ja, erwiderte Vogelfang, wir müssen. Wer nicht mitmacht, wird so veralbert,
daß ers nicht aushalte» kann, oder man spielt ihn, einen Schabernack, daß er
seine gesunden Knochen zusetzt.
Was wird aber aus Ihrem Hause, Vogelsang, wenn Sie das Werk zum Still¬
stand bringen? Dahin könnte es doch kommen. Und was wird aus Ihnen,
Meßner?
Rummel erschien, und die Bergleute sprangen von ihrem Sitze herab, um zur
Einfahrt anzutreten. Vogelsang blieb noch zurück. Er hatte offenbar noch etwas
zu sagen, aber er traute sich mit der Rede nicht recht heraus. — Herr Wandrer,
sagte er dann leise, ich muß Ihnen was sagen, aber verraten Sie mich nicht.
Einer — Sie kennen ihn ganz gut, aber ich will seinen Namen nicht nennen —
hat gestern gesagt, man müsse nicht verhandeln, um» müsse das Werk in die
Luft schießen.
I wo, erwiderte Wnudrer mit scheinbar sorgloser Miene, dazu gehört viel
Dynamik, so ein Werk in die Luft zu sprengen. — Als aber Vogelsang gegangen
war, sah Wandrer sehr ernst aus. Er kannte die Achillesferse von Heinrichshall gut
genug. — Rummel, sagte er zu dem Obersteiger, stellen Sie doch dem Direktor
Kor, daß die Förderung auf Sohle zwei eingestellt wird, und lassen Sie den
Stollen gleich am Eingange vermauern. Warum, das brauche ich Ihnen nicht
zu sagen.
Wenns nur wahr wird, entgegnete Rummel.
Als sich Wandrer umdrehte, sah er Ellen, die auf ihn zu kam und ihm zurief:
Ach, Herr Wandrer. . .
Mein nllergnädigstes Fräulein, erwiderte Wandrer, indem er mit übertriebner
Devotion herantrat."
Ich bin nicht Ihr „allergnädigstes Fräulein.
Und ich bin nicht Ihr „Herr Wandrer."
Ellen lachte. Nun denn! Onkel Felix, haben Sie einen Augenblick Zeit für Pa?
Er ist im Garten des Direktors und mochte ein Paar Worte mit Ihnen reden.
Ich stehe sogleich zu Diensten.
Über Aork. Der arme Pa quält sich, daß Dorr nichts von sich hören und
sehen läßt. Pa ist das nicht gewöhnt, und nun stellt er sich die schlimmsten
Dinge vor.
Herr von Nienhagen saß in seinem Fahrstuhl, und hinter ihm stand Klapp¬
horn in dienstlicher Haltung. Der Oberstleutnant streckte schon von weitem Wandrer
die Hand entgegen und rief: Verzeihen Sie, liebster Wandrer, wenn ich Sie
bemühe — Klapphorn, gehn Sie mal hinunter in die Kantine und lassen Sie
sich ein Glas Bier geben. — Klapphorn ging dienstlich ab, ließ sich in der Kantine
dienstlich ein Glas Bier geben und trank außerdienstlich noch ein zweites. -
Herr Wandrer, fuhr der Herr Oberstleutnant fort, was ist mit Hort? Er schreibt
nicht, und ich erwarte jeden Tag die Nachricht vom Schlimmsten zu erhalten.
Herr Oberstleutnant, Sie habe» keinen Grund zu Befürchtungen, Herr von
Nienhagen hat sich arrangiert.
Dem Oberstleutnant blieb der Mund offen stehn. — Ar—rang—? Wo zum
Kuckuck hat denn der Mensch das Geld her?
Kann ich nicht sagen.
Von Tante Marschall?
Kann wohl sein.
Ja aber, Herr Wandrer, wenn Sie wissen, daß er sich arrangiert hat, so
müssen Sie doch Ihre Hand dabei gehabt haben.
Hat er auch, Pa, sagte Ellen, worüber Felix die Stirn runzelte.
Wandrer, sagte Herr von Nienhagen, indem er Wandrer die Hand reichte,
Sie sind ein guter Mensch. Schnncki hat ganz Recht, wenn sie von früh bis
abend Ihr Lob singt.
Pa, Scham dich, sagte Ellen errötend, wer wird eine alte Plaudertasche fein.
Erst vorhin sagte sie, fuhr der Oberstleutnant fort, daß Sie —
Willst du wohl still sein, Pa, ich fahre dich sonst dort in den Winkel und
lasse dich mit dem Gesicht gegen die Wand stehn.
Es traf sich günstig, daß in diesem Augenblicke Lhdia aus der Veranda heraus¬
trat. Ellen flog also davon und entzog sich weitern Erörterungen über das, was
sie zum Lobe Wandrers gesagt haben sollte. Die beiden Zurückbleibenden sahen
ihr eifrig »ach, und es trat eine etwas verlegne Pause ein. Der Herr Oberst¬
leutnant fühlte das Bedürfnis, seinem Danke Ausdruck zu geben, wußte aber nicht
recht, wie und wofür, und Wandrer wünschte es nicht zu einer solchen Aussprache
kommen zu lassen.
Was macht denn Ihr Patrioteubuud, Herr Oberstleutnant? fragte er also, um
einen ableitender Gegenstand zur Sprache zu bringen.
Lieber Gott, erwiderte Herr von Nienhagen, da müssen Sie Ihren Direktor
fragen. Ich will mit der Sippschaft nichts mehr zu thun haben. Sind ja die
reinen Champagnerpatrioten geworden. Saufen Sekt wie Wasser und sehen den
Staat als milchende Kuh an. Wissen Sie, liebster Wandrer, der Gesellschaft
gönnte ich es, wenn ihnen die Herren Sozialdemokraten ein Feuer unterm Stuhl
anbrennten. Hätte ich nie gedacht, daß Vetter Klaus und solche Leute unter die
Gründer gehn und Sekt trinken würden, Kerls, die noch vor einem Vierteljahre mit
dem Mistwagen aufs Feld fuhren und das Zittern kriegten, wenn sie einen Thaler
ausgeben sollten. Das hat die Industrie auf dem Gewissen. Die Industrie demo¬
ralisiert die Menschen, sie untergräbt den Staat. Wenn solche Patrioten die Elemente
sind, auf die sich der Staat bei Erschütterungen stützen soll, dann sind wir auf¬
geschrieben. Wie sieht es denn bei Ihnen aus?
Schlecht, Herr Oberstleutnant. Der Rummel wird nächstens losgehn.
Donnerwetter! Und Sie meinen, die Sache wird schlimm?
Das kann kein Mensch wissen. Wenn die Bestie losgebrochen ist, weiß keiner,
was sie für Unheil anrichtet.
Und was werden Sie thun?
Wir müssen es kommen lassen. Zur Vernunft reden hilft nichts. Wenn ich
nur ein, zwei Dutzend entschlossener Leute hätte, wollte ich mich nicht furchten.
Sie haben Recht. Wandrer, Sie haben Recht. Nur ein paar Dutzend Kerls,
die sich schneidig für die gute Sache einsetzen, und die ganze Schwefelbande reißt
ans. Unsre Stärke ist die Armee, und die Leute, die in der Armee gedient haben,
das Volk in Waffen, die Leute, die sich vor Gott fürchten und sonst vor nichts in
der Welt. Wandrer, bilden Sie Ihre Cadres, suchen Sie die guten Elemente her¬
aus, ich werde dasselbe thun. Ich werde mich an den Kricgerverein wenden.
Die Kriegervereine sind das Knochengerüst des Volkes. Die Kriegervereine bilden
in kritischen Zeiten die Stütze der Gesellschaft. Sie werden von mir hören.
Himmeldonnerwetter, wenn ich denke, daß so ein Haufen zusammengelaufuer Hans¬
wurste mit ihrem verrückten Unsinn im Kopfe die Welt umstülpen wollen, das sollte
ja mit dem Teufel zugehn, wenn wir da nicht Ordnung schaffen wollten.
Der Herr Oberstleutnant war ganz lebhaft geworden. Die schwere Sorge
um Jork war von ihm genommen worden. Er fragte nicht nach dem Wie oder
Wielange, sondern fühlte sich wie ein freier Mann und griff in seiner Weise mit
Feuer eine neue Aufgabe an, und die bestand darin, den Holzweißiger Kriegerverein
auf Kriegsfuß zu bringen. Vor seinen Augen stand es schon fix und fertig, eine
Kompagnie kriegsgeübter und entschlossener Männer, und voraus er selber — auf
dem Fahrstuhle.
Sehen Sie, lieber Wandrer, sagte er betrübt, so ein Krüppel ist man nun.
Wenn ich aufs Pferd steigen und meine Kriegskameraden hinter mir die Rassel¬
bande in alle Vier Winde auseinanderjagen könnte, das wäre der schönste Tag
Meines Lebens, an dem Tage würde ich gern sterben. Aber so —?
Herr Oberstleutnant, sagte Wandrer scherzend, Sie müssen das nicht so tragisch
nehmen. In dem Zeitalter des Zweirads und des Automobils hat das Pferd nur
noch einen relativen Wert. Der Mann macht es doch, und nicht die Pferdebeine.
Die Augen des Oberstleutnants leuchteten. — Sie haben Recht, Herr Wandrer,
weiß Gott, Sie haben Recht. Der Mann -nachts und wird es machen. Klapphvrn!
Klapphorn war dienstlich in der Kantine beschäftigt und horte nicht. Auch
nötigten Lydia und der Direktor zum Bleiben, und so mußte man in der Veranda
Erfrischungen annehmen. Der Oberstleutnant war in der besten Laune und er¬
zählte alte Kriegsgeschichten. Dann legte er die Idee einer Erfindung von Chloro¬
formbomben dar und kam auf die Notwendigkeit einer Morphiumsteuer und auf
die Ausbeutung seiner Steinbrüche zu sprechen. Am Abend aber ließ er sich von
Klapphorn in den Kriegcrverein fahren, dessen Ehrenmitglied er war. Der Krieger¬
verein hatte gerade Appell, das heißt er hatte sich versammelt, ein Faß Bier zu
trinken. Der Oberstleutnant bezahlte dieses Bier und hielt eine schneidige Rede
über die gesellschaftstützende Aufgabe der Kriegervereine, und die Krieger hörten
die Rede gleichsam Gewehr bei Fuß um und tranken ihr Bier aus.
Nunmehr erschien im Volksherold der zweite Brandartikel unter der Über¬
schrift: Russische Zustände in Deutschland. Man sei, so führte der Artikel aus,
bisher der Meinung gewesen, daß wenn auch die Arbeiterschaft in Deutschland
keineswegs auf Rosen gebettet sei, doch wenigstens die Knute nicht über sie herrsche.
Man müsse von dieser günstigen Meinung zurückkommen, wenn man die Zu¬
stände eines benachbarten Kaliwerks ins Ange fasse. Dort herrschten heillose
Zustände. Die Arbeiter würden wie Sklaven von den Aufsehern mißhandelt und
geschlagen. Beschwerden beim Direktor seien fruchtlos, da dieser in den Zeiten,
die nicht seiner körperlichen Pflege gewidmet seien, sich mit Coupvuschneiden be¬
schäftige, worin ihn niemand stören dürfe. So sehe die Humanität des modernen
Sklavenhalterstaats ans. Niemand kümmere sich darum, ob der Arbeiter zum
Krüppel geschlagen werde. Glücklicherweise sei noch die Presse da, usw.
Dieser Aufsatz wurde dem Direktor unter Kreuzband zugesandt, und der
Direktor that dem Schreiber des Artikels den Gefallen, sich furchtbar zu ärger«,
ja einen Wutanfall zu bekommen und danach in „geistigen Kollaps" zu geraten.
Er war kaum wieder genesen, so erschien, wie in der Volksversammlung verab¬
redet worden our, eine Deputation der Arbeiter, um beim Direktor wegen Er¬
höhung des Lohnes vorstellig zu werden. Die Mitglieder der Deputation waren
keineswegs die Hauptwühler, sondern Leute untergeordneten Ranges, die sich
hatten vorschieben lassen, unter ihnen auch Husarenweidling. Sie trugen ihre
Sache vor. Der Direktor hörte sie scheinbar wohlwollend an und sagte weder
ja noch nein. Am nächsten Tage erhielten sämtliche Mitglieder der Deputation
ihre Kündigung. Man war starr. Darauf erhob sich eine allgemeine Entrüstung.
Man schimpfte an allen Orten. Das Wort Solidarität wurde mit größtem Nach¬
druck ausgesprochen, man verlangte sofortige Arbeitseinstellung, der Volksherold
brachte wütende Artikel, aber weiter geschah nichts. Die unsichtbaren Führer
waren der Meinung, daß zum Losschlagen noch nicht die richtige Zeit gekommen
sei, und so ließ man die abgelvhnte Deputation einfach fallen. Das hatten sich
Husarenweidling und seine Genossen nicht gedacht. , Sie hatten gemeint, Soli¬
darität bedeute, daß einer unbedingt für den andern eintrete. Sie waren be¬
lehrt worden, daß dies nur unter Wahrung „höherer Gesichtspunkte" geschehe, und
hatten nun die Wahl, der Partei den Rücken zu kehren oder sich zu fügen. Sie
zogen es vor, nun erst recht wütende Sozialisten zu werden.
Sagen Sie mal, Rummel, fragte Wandrer,, wer hat denn angeordnet, daß
die Leute zu entlassen seien?
Der Direktor, antwortete Rummel.
Haben Sie ihn nicht darauf aufmerksam gemacht, welche Folgen das
haben werde?
Habe ich, Herr Wandrer. Aber der Direktor schnäuzte mich an. Der Direktor
ist jetzt manchmal ganz wunderlich. Ich denke manchmal, daß — na, daß 7—
na Sie wissen ja, was ich meine.
Wandrer antwortete nicht, aber aus seiner sorgenvollen Miene konnte man
sehen, daß er wohl wußte, was Rummel meine. —
Die alte Duttmüllern hatte ihre runde Brille auf der Nase, saß in ihrem
Lehnstuhle und las mit dem innern Gleichmut, den ein gutes Gewissen und eine
gesicherte soziale Stellung verleiht, ihr Leib- und Magenblatt, die Braunfelser
Zeitung. Über die Hauptsache, die Familiennachrichten und die Annoncen war
sie schon hinweg und bis zum Vermischten gelangt, das von einem nmgeschlagneu
Kahne, drei Selbstmorden, einem Brande zufolge von Kurzschluß und zwei ent¬
flohenen Kassierern berichtete. Dann folgte ein Absatz mit der Überschrift: Ein
guter Sohn. Der „V.-H." berichtet aus unsrer Gegend folgende kaum glaubliche
Geschichte. In dem benachbarten H- praktiziert ein Doktor D. Derselbe erfreut
sich zufolge seiner ausgedehnten Praxis eines hohen Einkommens. Kürzlich enthüllte
sich nun die überraschende Thatsache, daß dieser Ehrenmann einen alten Vater
hat, den er, offenbar mit Rücksicht auf seine vornehmen Verwandten, verleugnet.
Während also der Sohn in Überfluß lebt, muß der alte Vater sein saures Brot
als gewöhnlicher Arbeiter in H . . . l verdienen. Das vierte Gebot scheint der
Herr Doktor nicht zu kennen. Wir würden solche Pietätlosigkeit nicht für möglich
halten, wenn nicht die Thatsache von der beteiligten Person in unanfechtbarer
Weise bezeugt würde.
Frau Duttmüller versetzte sich in die sittliche Entrüstung, die man bei der
Lektüre solcher Schandthaten zu empfinde« verpflichtet ist. Darauf kam ihr die
unangenehme Empfindung, als sei sie selbst bei der Sache nicht unbeteiligt.
Darauf begann es furchtbar zu tage». Der brave Sohn war ja ihr Louis, und
der verleugnete, schnöde behandelte Ehrenmann war ja der Luribams, sein Vater!
Und das stand alles in der Zeitung und konnte von jedermann gelesen und ver¬
standen werden. Wo war Louis? Eben trat er ins Zimmer. — Louis, rief
die Duttmüllern im Eifer erhabnen Zorns und ohne zu bedenken, daß die Thür
zum Nebenzimmer offen stand, hier lies, was der Lump, dein Vater wieder an¬
gerichtet hat.
Louis las, wurde blaß vor Ärger, nagte an seiner Lippe und sah nicht gut
ans. — Hol der Teufel den Lump, sagte er.
Hätte ers uur schon vor zehn Jahren gethan! rief die Duttmüllern. Na
warte! Komm du mir nur unter die Finger! Erst davon gehn und nicht nach
Frau und Kind fragen, und dann wiederkommen als Vagabund und sich füttern
lassen und Lügen in die Zeitungen bringen, daß sie mit Fingern auf einen
weisen — da möchte einen ja der Schlag rühren! — Frau Duttmüller sah
wirklich ans, als wollte sie der Schlag rühren, und Louis ballte die Zeitung zu¬
sammen und sah in alle Winkel seines Zimmers, als suchte er den, dem er sie an
den Kopf werfen wollte. Da that sich die Thür auf, und herein schob sich Alois
Dnttmüller, schmutzig und betrunken wie immer.
Hinaus! schrie Louis Duttmüller.
Nanu! antwortete der Alte, indem er sich auf einen Stuhl neben der Thür
fallen ließ.
Hinaus, du Lump!
Wat? rausschmeiszeu? Mich? Hier? Wo ick der Vater vont Janze bin? Nee,
Louis, rausschmeiszen is nicht.
Wenn du dich nicht augenblicklich entfernst, so vergesse ich mich.
Nee, giebts nich. Erst Asche. Und wenn ick nichts kriege, verklage ick
dich bei Lautschen und bring et unter die Leute, was Ihr Burschcwa für Gold¬
sohne seid.
Und ich werde es unter die Leute bringen, schrie die Duttmüllern, daß du
Frau und Kind bei Nacht und Nebel verlassen hast und hast dich um gar nichts
gekümmert, bist nach zwanzig Jahren als Schnapsbruder wieder gekommen und
willst nun den Vater spielen.
Und ick werde unter die Leute bringen, daß du eine Karnallje bist und immer
eine gewesen bist, erwiderte der Alte.
Louis, schmeiß deu Hund die Treppe hinunter. Ich, eine Karnallje? na warte,
du Strömer.
Louis griff nach der Hundepeitsche.
Louis/es ist dem Vater! Alice hatte es mit dem Ausdruck des Entsetzens
gerufen. Sie stand in der Thür, leichenblaß, mit weit geöffneten Augen. Louis
s"h, wie sie halb ohnmächtig zusammen sinken wollte, warf die Peitsche weg, fing
Alice auf und führte sie hinnus. Die Ohnmacht wich bald, aber deu ganzen Tag
über blieb große Schwäche und Zittern zurück. Die alte Duttmüllern Pflegte ihre
Schwiegertochter, aber sie that es mit einer Miene, als wollte sie sagen: Das
will nun die Frau von meinem Louis sein und kann nicht einmal einen gerechten
ehelichen Zwist vertragen. Und klappt alle Nasen lang zusammen und kriegt Ohu-
wnchten und das Zittern. Ein komplettes Frauenzimmer ist die nicht. Du lieber
Gott, was sollte Louis anfangen, wenn er mich nicht hätte?
Und Louis redete mit seiner Frau kein freundliches Wort. Was hatte ihm
denn Alice gethan? Louis fühlte sich beschämt, und das giebt gewissen Geistern
Anlaß, denen zu zürnen, in deren Augen sie sich herabgesetzt sehen. Es ist ja mich
das leichteste, über ein Unrecht wegzukommen, wenn man es auf andre abschiebt.
Alice fühlte das alles wohl, und das machte sie tief unglücklich. Sie sah;
stundenlang an dem Bette ihres Kindchens mit heißen Augen und dachte und
sann. Sie kam sich vor, als wenn sie ausgewandert wäre unter fremde Leute eines
anders geartete» Volkes, von denen niemand ihre Sprache verstünde, von denen
niemand fühlte, wie sie fühlte, und sie dürfte niemals wieder nach Hause zurück¬
kehren. Ins Tagebuch schrieb sie:
Dieses Blatt bleibt weiß, eigentlich müßte es schwarz sein. Armes Kind,
dein Erbe an Glück wird klein.
Die bayrischen politischen Verhältnisse haben in den
letzten Jahren stetig eine Verschiebung nach rechts erfahren. Auch in Bayern ist
dermalen das Zentrum Trumpf. Bei den Laudtagswcchleu im Jahre 1899 hat
es zum erstenmal wieder in der Kammer der Abgeordneten die absolute Majo¬
rität erreicht. Die Ultrnmontcmen verdanken dies zum Teil dem Niedergang des
Bauernbundes, der nach dem Sturze Bismnrcks unter den Wirkungen der Caprivi-
schen Handelsverträge entstanden war, eine politische Macht zu werden versprach,
dann aber infolge nicht geschickter Führung zurückging; sie verdanken dies weiter
ihrem Pakte mit den Sozialdemokraten in München und in der Pfalz und der
eigentümlichen Taktik der protestantischen Konservativen in einem überwiegend
protestantische» Wahlkreise in Mittelfrnnken, wo diese dem Zentrum Konzessionen
machten. Der Pakt des Zentrums mit den Sozialdemokraten entsprang dem
Wille» der Ultramontanen, zur Macht zu kommen: deshalb »ahmen sie keinen
Anstoß an den „Sozis," die man sonst in den klerikalen Arbeitervereine» bekämpft.
Das Zentrum wollte für alle Fälle, wenn el» Wechsel in der Regentschaft eintreten
würde, eine gesicherte Mehrheit i» der Kammer haben. Die Hoffmmge» des
Zentrums in dieser Richtung sind bekannt; es hofft auf den Nachfolger des jetzigen
Prinzregenten. Ob sich diese Hoffnungen erfüllen werden, wird die Zukunft
erweisen, keinesfalls werden aber die Aspirationen des Zentrunis in der Zukunft
geriuger werden. So lange Prinzregent Luitpold an, Leben ist, wird ein »ltra-
moutanes Parteiministerium kaum berufen werde», das weiß das Zentrum genau,
und klug geworden durch die Ereignisse unter König Ludwig II., wird es einen
förmlichen 'Ministersturz nicht mehr ins Werk setzen. Es hat auch keine Veran¬
lassung dazu und gewinnt auch so ständig an Terrain. Das Ministeriuni Crnils-
heim ist ein konservatives Geschäftsministeriuni, sucht allen Interessen der Bevölkerung
gerecht zu werden und ist gewiß nicht dem Vorwurf ausgesetzt, den Ansprüchen
der klerikalen Partei zu wenig entgegenzukommen. Die Zentrumspartei hat jetzt
den Vorzug, in der Regel sachlich alles zu erreichen, was sie will, trägt aber keine
Verantwortung dafür, die sie übernehmen müßte, wen» ein Ministerin»! ihrer
Partei am Nuder wäre. Einzelne der bayrischen Staatsniinister sind schon zwanzig
Jahre u»d darüber in ihrer Stellung; eine so lange Ministerthätigkeit sichert wohl
die Kontinuität in den einzelnen Gebiete« der Staatsverwaltung, kann aber zu¬
weilen Verhältnisse, die einer gesetzgeberischen Regelung bedürfen, in eine» ge¬
wisse» Beharrungszustaud bringe». In Bayer» wird die Einführung der all¬
gemeine» Einkommensteuer unerläßlich; die Einkommensverhältnisse der größern
Kommunen, deren Umlagen ständig steigen, können nur dann auf eine gesicherte
Grundlage gestellt werden. Erst nach Einführung der allgemeinen Einkommensteuer
für die ja in dem Miquelschen Gesetz ein Vorbild vorhanden ist, wird es möglich
sein, den Gemeinden Nealsteueru, wie die Grundsteuer, zu überweisen. Jetzt,
nach fast hundertjähriger Geltung, wird die Gesetzgebung über die Organisation der
Stenererhebnngsbehörden einer Änderung unterzogen und eine neue Organisation
der Rentämter geschaffen; aber auch hier muß sich die Negierung wesentliche Ab¬
striche gefallen lassen, wenn sie von der regierenden Partei, dem Zentrum, die Neu¬
organisation bewilligt erhalten will. Die Neuregelung des gesamten Beamtenwesens,
die Schaffung eines einheitlichen Beamtengesetzes, das den Unterschied zwischen prag¬
matischen und nicht pragmatischen Beamten beseitigt, und die Besserung der Ein¬
kommensverhältnisse der Beamten werden immer dringlicher; die Gehaltsverhält¬
nisse der bayrischen Beamten sind unzureichend, und namentlich in den großen
Städten bei den teuern Wohnnngs- und Lebensverhältnissen müssen sich die Be¬
amten den größten Einschränkungen unterwerfen. Man kann in dieser Richtung
in einzelnen Fällen direkt von einer Notlage reden, aber die schlechte Bezahlung
der Beamten scheint sich in Bayern allmählich zu einem Neservatrecht auszubilden.
Das Zentrum wird zu einer Verbesserung dieser Gehaltsverhältnisse nicht zu habe»
sein, zumal da ihm der Rückgang der Staatseinnahmen den formellen Einwand an
die Hand giebt.
Es ist überhaupt ein eignes Ding um die Entwicklung der parlamentarischen
Verhältnisse in der bayrischen Abgeordnetenkammer. Die Erledigung der Gesetzes¬
vorlagen, namentlich der finanziellen, geschieht vor allein mit Rücksicht darauf, ob
nicht eine Schädigung des platten Landes eintritt; dadurch werden Interessen¬
gegensätze vertieft, und wo solche noch nicht bestehn, unnötigerweise geschaffen.
Die Städte, die Träger der Hauptsteuerkraft, werden vom Zentrum nicht geliebt.
Von den 290 Millionen Mark, die in den letzten zehn Jahren in der Finanz-
verwaltung als Überschüsse erzielt wurden, ist ein wesentlicher Teil der Landwirt¬
schaft zu gute gekommen; mau kaun aber nicht sagen, daß sich die Landwirtschaft,
namentlich in Altbayern, den jetzigen wirtschaftlichen Verhältnissen anbequemt habe,
die eine größere Sparsamkeit erfordern. Die Art des Wirtschaftsbetriebes und
der Aufwand sind fast geblieben wie in der guten alten Zeit, wo der Bauer uoch mit
Kronenthalern statt rin Markstücken rechnen konnte. Man darf nur in altbay¬
rischen Städten und Märkten, insbesondre in Niederbayern, Nachfrage halten, welche
Summen jährlich von den einzelnen Bauernhöfen zum Bierbrauer und zum Konditor
wandern, dann wird man einräumen müssen, daß die Not der „notleidenden"
Landwirtschaft wenigstens in diesen Gegenden nicht so arg ist. Aber obgleich die
Staatsregierung für die Landwirtschaft das Geld bisher in sehr reichlichem Maße
zur Verfügung gestellt hat, hört das agrarische Begehren nicht auf. das sich be¬
sonders auf Nachlasse bei der Grundsteuer erstreckt. Diese agrarischen Interessen
und neben ihnen die konfessionellen, d. h. die Interessen der katholischen Kirche,
sind die Leitmotive für die Kammerverhandlungen, denen ein großer Zug fehlt.
Endlos ziehn sich die Verhandlungen dahin; die kleinsten und unbedeutendsten
Angelegenheiten werde» besprochen, und damit vollzieht sich langsam ein Übergriff
von der Legislative in die Exekutive. In Bayern könnte man entgegen der Ver¬
fassung, die gottlob keinen ausgeprägten Parlamentarismus wie in Italien oder
Frankreich keunt, eine Parlamentsrepublik erhalten, in der die einzelnen Referenten
kleine Parlamentsdiktatoren spielen könnten, wenn nicht die Reichsratskammer und
noch ein höherer Wille ein kräftiger Hemmschuh wären.
Leider kann die liberale Partei, die in Bayern Nationalliberale und Freisinnige
umfaßt, an diesen Verhältnissen wenig ändern, sie hat im Laufe der Jahre viele
Parlamentarisch geschulte Kräfte, z. B. die vorzüglichen Redner Schnuß und Fischer,
verloren; ihr Nachwuchs hat mit diesen Verlusten nicht gleichen Schritt gehalten,
und der redegewandte Bürgermeister von Bayreuth, Casselmcmn, vermag allein
nicht alle rednerischen Lasten der Partei zu tragen. Dagegen hat die Zentrums-
partei in den Abgeordneten Heim, Söldner, Pichler, Kohl, Gersteuberger, Sabatier
eine Reihe agitatorisch wirksamer Kräfte gewonnen, mag man anch über die einzelnen
Persönlichkeiten und die Art ihres Auftretens denken, wie man will, und daneben
baut das Zentrum seine Organisation im Lande immermehr aus. Die liberale
Partei hat demgegenüber in den letzten Jahren ebenfalls eine größere Rührigkeit
entfaltet, und die Gründung jnngliberaler Vereine ist ein wirksames Mittel, die
Jugend wieder zur politischen Thätigkeit heranzuziehn. Aber der Zentrumspartei
kommt noch ein andrer Umstand zu gute. Wahrend vor fünfzehn oder zwanzig Jahren
Anhänger der liberalen Partei in der Beamtenschaft noch stark vertreten waren
und anch in der Öffentlichkeit hervortraten, sind derartige Fälle öffentlichen Auf¬
tretens liberalgesinnter Beamten jetzt recht selten geworden. Man sagt ja, daß die
Negierung politisch thätige Beamte nicht gern sähe; das kann aber nicht ganz
richtig sein, denn den ultrcnnoutanen Beamten ist ihr manchmal recht kräftiges
politisches Auftreten bisher nicht verübelt worden. In diesem Landtage hat die
Zentrumspartei den Chef der Justizverwaltung befragt, ob er mit einem liberal¬
gesinnten Richter über die Gründung eines liberalen Vereins gesprochen habe, diese
Anfrage wäre aber sicher nicht gestellt worden, wenn es sich um einen ultramon-
tanen Wahlvereiu gehandelt hätte. In der bayrischen Beamtenschaft, namentlich
in der jüngern Generation, wächst dem Zentrum eine starke Anhängerschaft heran,
und der Klerikalismus ist überall, auch im gesellschaftlichen Leben, im Zunehmen
begriffen. Das beweist das Anwachsen der katholischen Studentenverbindungen; noch
vor zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren hatten diese wenig Zugang aus bessern
Kreisen, jetzt ist es anders geworden, und dabei mag vielleicht mancher Wechsel auf
die Zukunft gezogen werden.
Mit diesem Vorwärtsschreiten des Zentrums hält das Zunehmen konfessioneller
Gegensätze gleichen Schritt. Die klerikale Unduldsamkeit tritt immer mehr hervor,
der Ultramontanismus will seine Hand überall darinnen haben und der Kirche die
Herrschaft sichern. Wir erleben jetzt in Bayern einen umgekehrten Kulturkampf, nicht der
Staat ist im Augriff, sondern das Zentrum. Die Vorlage über die Schaffung günstigerer
Gehaltsverhältnisse für die Volksschullehrer sucht das Zentrum umzugestalten, um
der Kirche für alle Zeiten einen maßgebenden Einfluß auf die Schule zu sichern,
die Simnltanschule, die in einzelnen bayrischen Städten eingeführt ist, zu beseitigen
und daneben den Städten mehr Lasten aufzulegen als den Landgemeinden. Der
Kultusminister, bei dem von allen bayrischen Ministern am meisten klerikale
Neigungen hervortreten, ist den Wünschen des Zentrums sehr entgegengekommen,
in dieser Nachgiebigkeit ist aber, anscheinend durch einen höhern Willen, jetzt eine
Hemmung eingetreten. Liest man die Blätter der klerikalen Partei, dann muß
man sich erst daran zurückerinnern, daß Bayern ein paritätischer Staat ist, denn
die Empfindungen Andersgläubiger pflegen in der klerikalen Presse immer weniger
geschont zu werden. Wie ein kulturhistorisches Nichtmal ragt die Weindinger Teufels¬
austreibung hervor, bei der die religiösen Gefühle der Protestanten in Franken
schwer verletzt wurden. Die Stellung der katholischen Kirche in der Mischeheu-
frage ist bekannt. Als der Chef des bayrischen Gcneralstabes von Lobenhoffer
vor einiger Zeit starb, versagte ihm die katholische Geistlichkeit die kirchliche Be¬
erdigung, weil er in einer Mischehe gelebt hatte, und die Kinder in der Religion
der Fran erzogen waren. Eine solche Recherche über die religiösen Verhältnisse
in einer Mischehe kann auch anderweitig von Einfluß sein. Als der Staatsrechts¬
lehrer, Universitätsprofessor Dr. von Seydel, der getreue Eckart und Warner
im Streite gegen die Herrschaftsgclüste des Zentrums, starb, nannte man als
seinen Nachfolger einen bayrischen Beamten, dem Seydel die Neuherausgabe seines
Staatsrechts übertragen hatte; man sagte, daß Seydel diesen in der staatsrechtlichen
Litteratur wohl bekannten Beamten gern als seinen Nachfolger gesehen hätte. Dieser
Staatsbeamte wurde jedoch nicht berufen. Das führende klerikale Blatt deutete
dann an, welche Gründe für die Nichtberufuug maßgebend gewesen seien, und
dabei soll auch der Umstand, daß der Beamte in einer Mischehe lebt, eine Rolle
gespielt haben. Neulich wurde ein katholischer Geistlicher in eine Krankenanstalt
zu einem Schwerkranken gerufen. Er verlangte, daß sich die Protestantischen
Krankenschwestern entfernen sollten, später mußte er sich dann entschuldigen; einem
nicht klerikalen Abgeordneten wurde wegen seiner politischen Richtung die Aufnahme
seines Sohnes in ein öffentliches von Klerikern geleitetes Erziehungspensionat ver¬
weigert — das siud nur einzelne Erscheinungen.
Solche religiöse Unduldsamkeit zeigt sich auch in der Konfcssionsschnüffelei,
die die regierende Partei, das Zentrum, neuerdings im Landtag an den Tag
legt. Dieses Forsche» nach der Konfession der Staatsbeamten begann mit einem
Antrage wegen der Anstellung israelitischer Staatsdienstbewerber im Justizstaats-
dienste, und die Staatsregierung legte darauf eine Statistik über die im Justizstaats-
dieuste angestellten Jsraeliten vor. Man mag über die Anstellung israelitischer Be¬
werber denken, wie man will — in Bayern nimmt weder die innere Verwaltung noch
die Finnuzverwaltung jüdische Bewerber, uur die Justizverwaltung ist das Aufnahme-
rescrvotr —, jedenfalls haben die jüdischen Staatsdienstbewerber die gesetzliche
Gleichberechtigung für sich. Aber die Vorlage derartiger Statistiker kann Konse¬
quenzen ziehn. Jetzt schon, wird von dem Kultusreferenten in der Abgeordneten¬
kammer die Vorlegung einer Statistik über die Konfession der Universitätslehrer
verlangt, und das Zentrum mochte, wie es scheint, protestantische norddeutsche
Universitätsprofessoren fernhalten. Wie lange wird es dauern, dann verlangt das
Zentrum eine Statistik, wie viel protestantische Richter und Beamte in den katho¬
lischen Provinzen Bayerns, d. h. in Altbayern amtieren. Aber gerade aus den prote-
stantischen Teilen des Landes kommen viele tüchtige Staatsbeamte, und man braucht
kein Lobredner Frankens zu sein, wenn man behauptet, daß dort das geistige Leben
rühriger sei als in einzelnen Teilen Altbaycrns. So viel man hört, soll übrigens
auch jetzt schon in der Verwaltung ein »traquistisches System durchgeführt sein,
und sollen an die Spitze von Bezirksämtern mit überwiegend katholischer Bevölkerung
nur katholische Verwaltungsbeamte gesetzt werden. Ich habe vorhin erwähnt, daß
die herrschende Partei in der bayrische» Abgeordnetenkammer, das Zentrum, die
Neigung hat, in die Exekutive, in die ausschließlichen Rechte der Krone, über¬
zugreifen. Zu diesen .Kronrechten gehört aber meines Erachtens auch die An¬
stellung der Staatsbeamten, auf die eine Partei staatsrechtlich keinen Einfluß üben
kann. Ein xriueixiis obsta, ist hier immer besser als ein Nachgeben, denn bekanntlich
wächst der Appetit beim Speisen, und das Zentrum wird sich uicht mit dem gebotnen
Finger begnügen, sondern die ganze Hand verlangen. Das alles sind konfessionelle
und staatsrechtliche Ein- und Ausblicke, die nicht jedermann erfreuen werden.
Mau wird fragen, warum ich gerade in den Grenzboten diese „Partikulari¬
stischen" Sachen vortrage, aber die Grenzboten sind immer des Reiches getreue
Freunde gewesen. Kurz nach den bayrischen Landtagswahlen im Jahre 1899
erschien im Wiener Vaterland ein wahrscheinlich aus bayrischen Zentrumskreisen
dorthin abgelagerter Artikel, daß Bayern, wie auch der Plan des Zentrums¬
führers Windthorst gewesen sei, die katholische Vormacht in Deutschland sein müsse.
Offiziell haben sich zwar die bayrischen Ultramontanen mit dem Verhältnisse
Bayerns zum Deutschen Reich abgefunden — Pailleron spricht in seinem Lustspiel
„Die Welt, in der man sich langweilt" von einer angesäuerten Liebe: so möchte
ich die Zuneigung unsrer Ultramontane» zum Deutschen Reiche diagnostizieren; für
die Beziehungen Bayerns zum Deutschen Reiche aber wird es immerhin von Ein¬
fluß sein, wenn das Zentrum unumschränkt in Bayern herrschen wird. Eine
Lösung des staatsrechtlichen Verhältnisses ist selbstverständlich ausgeschlossen, aber
Velleitäten und partikularistische Neigungen können sich zeigen, denn man darf nie
vergessen, daß das Zentrum eine „Söldnertruppe" im Dienste des Vatikans ist,
und dieser liebt das Deutsche Reich nicht.
Die Kathcderphilosophen sind Hartmann bisher
nicht gerecht geworden. Sie pflegen ihn als den Philosophen des Unbewußten ab¬
zufertigen und nehmen von seinen Einzelforschungen, die sein Hauptverdienst aus¬
machen, wenig oder gar nicht Notiz. (Die Grenzboten haben über alles berichtet,
was er seit 1892 herausgegeben hat.) Das wird von jetzt ab anders werden.
Sein begeisterter Jünger Dr. Arthur Drews hat eine Kathedra bestiegen — er
ist außerordentlicher Professor an der technischen Hochschule zu Karlsruhe — und
nur dem verehrten Meister zum sechzigsten Geburtstage (23. Februar 1902) ein
Werk gewidmet, das unmöglich totgeschwiegen werden kann: Eduard von Hart¬
manns philosophisches System im Grundriß. Mit einer biographischen Ein¬
leitung und dem Bilde E. v. Hartmanns. (Heidelberg, Carl Winters Universitäts¬
buchhandlung, 1902. XXII und 847 S. Großoktav.) Der Philosoph von Fach mag
sagen, er habe nicht Zeit, sämtliche Bücher und Broschüren aller seiner lebenden
Fachgenossen zu lese», aber wenn er ein Werk ungelesen ließe, das den Inhalt
sämtlicher Leistungen eines doch zweifellos bedeutenden Philosophen kurz zusammen¬
faßt, so wäre das eine Pflichtversäumnis, für die es keine Entschuldigung gäbe.
Und wird einmal die Lehre Hartmanns uuter den Studierenden bekannt, so leitet
sie — darin pflichten wir Drews bei — eine neue Periode der Philosophie ein.
Nur glauben wir, daß diese neue Periode etwas anders aussehen wird, als er sie
sich denkt. Nicht in demi, worin Drews die Bedeutung des großen Philosophen
sieht, vermögen wir sie zu finden.
Drews sagt, die moderne Philosophie sei bis ans Hartmann geblieben, wozu sie
ihr Begründer Cartesius mit seinem eoZito erxo sum gemacht habe: Bewnßtsetns-
philosophie. Indem diese Philosophie das Sein mit dem Denken identifizierte, habe
sie zuletzt sich selbst aufheben, die Möglichkeit jeder Metaphysik leugnen, die Wissen¬
schaft auf das für das menschliche Bewußtsein Erfahrbare beschränken müssen. Das
Denken sei aber nicht Substanz, nichts schöpferisches, sondern spiegle nur das
Sein, das in ihm zur Erscheinung komme. Das Sein, das substantielle, das
Schöpferische liege außerhalb des Bewußtseins und sei selbst unbewußt. Das halten
schon Leibniz, Kant, Schelling und Schopenhauer ausgesprochen, und der zuletzt
genannte habe richtig im Willen das Schöpferische erkannt, nur aber das Verhältnis
des Willens zum Intellekt falsch bestimmt. Hartmann habe das Verhältnis beider
Ureigenschaften des Absoluten zu einander richtig aufgefaßt und den Gegensatz von
Panthelismus und Pcmlogismns im Pcmpneumatismus aufgehoben. Er habe
ferner erkannt, daß es keineswegs zum Wesen der Wissenschaft gehöre, Gewißheit
zu gewähren. Auch die Nnturwisseuschaft, sofern sie mehr sein wolle als Beschrei¬
bung der Erscheinungen und der Reihenfolge von Verändrungen, müsse sich in
Beziehung auf die Ursachen in jedem einzelnen Falle mit der wahrscheinlichsten
Hypothese begnügen. Demnach sei sie ganz in derselben Lage wie die Metaphysik,
und dürfe also diese nicht darum für unwissenschaftlich erklärt werden, weil sie keine
Gewißheit gewähre. (Wir würden das lieber so ausdrücken: Gewißheit gewähren
nur die beiden Formwissenschaften: Logik und Mathematik. Alle Realwissenschaften,
anch und ganz besonders die Naturwissenschaften, werden Metaphysik in dem Augen¬
blick, wo sie über die bloße Beschreibung hinausgehn und sich rin der Aufsuchung
der Ursachen befassen.) Mit diesen beiden Leistungen hat Hartmann den Grund
gelegt, auf dem die Philosophie der Zukunft fortbauen kaun.
Zunächst erscheint es uns zweifelhaft, ob Cartesius wirklich für den einseitigen
Nationalismus vou Philosophen wie Hegel verantwortlich gemacht werden darf.
Es ist wahr, er hat den Einwurf Gassendis, man könne ebensogut sagen: Ich gehe
spazieren, also bin ich, mit der Bemerkung zurückgewiesen: Keiner meiner Hand¬
lungen bin ich so gewiß wie meines Denkens; alles andre kauu ich hinwegdeuken,
nur nicht das Denken selbst, also bin ich wesentlich ein denkendes Wesen, Geist.
Aber es ist die Frage, ob er nicht zugestimmt hätte, wenn Gassendi der Wider¬
legung der Skepsis die Form gegeben hätte: Ich reagiere auf eine Ohrfeige, also
bin ich. Cartesius wollte mit dem Wust aufräume«, den die Scholastik angehäuft
hatte, grub in die Tiefe, um das von keiner Skepsis erschütterliche Fundament zu
suchen, auf dein ein neuer, haltbarer Bau des Wissens aufgerichtet werden könne,
und fand als einzige unbezweifelbare Thatsache die Gewißheit vom eignen Dasein.
Nun giebt es aber nichts, was diese Gewißheit sicherer gewährte als ein Hieb
oder eine Ohrfeige. Man versehe dem Skeptiker eine, sofort wird er auffahren
und sie zurückgeben, und in diesem Augenblick wird er seiner eignen Existenz und
der seines Gegners, dessen Wange er kräftig fühlt, unbedingt gewiß sein, wird sich
als Subjekt, die Außenwelt als Objekt erfaßt und so den Grund zur Physik und
Metaphysik gelegt habe». Was uus also die Gewißheit des eigne» Daseins ver¬
schafft, das ist nicht sowohl das Denken als die Empfindung. Aber da Empfindung
ohne Bewußtsein nicht möglich, jedes Bewußtsein mit Vorstellungen verknüpft ist,
so darf man sich nicht wundern, daß ein Mann, dem das Denken Berufsarbeit
war, über der sich ihm fortwährend aufdrängenden Jntellektseite die Empfindungs¬
seite übersah. Etwas Geistiges ist ja auch das Empfinden; Empfinden, Wollei,,
Begehren, Denken sind nur verschiedne Offenbarungen, Selbstwahrnehmungen des¬
selben geistigen Wesens, und Cnrtesins hatte also ganz Recht, wenn er sagte: Ich
bin meiner selbst gewiß, und ich bin meiner gewiß als eines geistigen Wesens;
welche Seite dieses Wesens jedem im Augenblick gegenwärtig ist, darauf kommt für
die Hauptsache nichts um.
Dann aber gilt Hartmanns von Drews rekapitulierte Beweisführung gegen
die Bewußtseinsphilosophie nur unter der Voraussetzung, die ja bei manchem Jung-
hegelianer zutrifft, daß der Philosoph sein eignes kleines Ich für dos Absolute hält.
Daß der Mensch mit diesem seinem kleinen Ich das Seiende nicht einmal wissend
umspannen, geschweige denn begreifen oder gar schaffen kann, das steht ja für jeden
nicht Wahnsinnigen fest. Jeder von uns ist sich bewußt, daß er sich nicht selbst
gemacht hat, daß er nicht weiß, wie er geworden ist, wie es zugeht, daß er denkt,
empfindet, seine Muskeln in Bewegung setzt, daß er nach denselben Gesetzen denkt
wie seine Nebenmenschen und sich darum mit ihnen verständigen kann. Daraus hat
der denkende Mensch von jeher gefolgert, daß er sein Dasein einem andern Wesen
verdanken müsse, das ihn an Macht und Intelligenz unendlich überragt, und mit
dieser Hypothese treibt er berechtigte Metaphysik, gerade so wie der Physiker, der
annimmt, daß unsrer Wärmeempfindnng eine außerhalb unsers Leibes liegende Ur¬
sache zu Grunde liegen müsse, die er uns — ohne sie jemals gesehen zu haben —
als eine besondre Art Molekularbewegung beschreibt. Berechtigte Metaphysik ist
es auch noch, wenn wir behaupten, das UrWesen müsse so beschaffen sein, daß es
die Keime aller Erscheinungen enthält; da sich in dieser Welt Intellekt, Willen,
Produktivität finden, so müsse das UrWesen Intellekt, Willen und Prvduktionslrnst
haben und zwar in dem zur Hervorbringung dieser ganzen Welt ausreichenden
Maße. Unberechtigte Metaphysik aber ist es, wenn wir die Beschaffenheit dieses
hypothetischen Wesens mit dem Anspruch beschreiben, jede von unsrer Beschreibung
abweichende für falsch erklären zu dürfen. Soweit gilt die von Kant gezogne
Grenze unzweifelhaft, und darum ist es unwissenschaftlich, wenn Hartmann und
Drews apodiktisch behaupten, das UrWesen, dessen unser eignes Bewußtsein schaffende
Thätigkeit uns unbewußt bleibt, sei nu und für sich selbst unbewußt. Hier giebt
es nicht mehr Gewißheit, sondern, wie ja die beiden Philosophen selbst hervor¬
heben, nur Wahrscheinlichkeiten (deren eine übrigens durch den religiösen Glauben
zur Gewißheit erhoben werden kann). Und wir behaupten nun, daß das bewußte
Absolute eine größere Wahrscheinlichkeit habe als das unbewußte. Ein Wesen,
das weder wahrnimmt noch wahrgenommen wird — und ein solches wäre das
unbewußte Absolute vor der Weltschöpfung —, ein solches Wesen wäre das
reine Nichts, und ans Nichts wird nichts, am wenigsten eine ganze Welt. Zudem
widerlegt Hartmann sich selbst. Er erklärt den Entschluß der Gottheit, ihren
Ideengehalt schaffend zu verwirklichen, aus ihrer Unseligkeit. Nnseligkeit wäre nicht
Unseligkcit, wenn sie nicht empfunden würde, Empfindung aber giebt es nicht ohne
Bewußtsein. Das hat er denn selbst gefühlt und dann später gesagt, das Absolute
sei nicht sowohl unbewußt als überbewußt. Wenn er damit meint, daß wir uns
von dem Innenleben Gottes so wenig eine Vorstellung machen können wie von
der Art seines Wirkens nach außen, so stimmen wir ihm vollständig bei: ich kann
von Gottes Wesen so wenig eine Vorstellung haben wie die Mücke, die ich zwischen
zwei Fingern zerdrücke, von meinem. Alles, was wir von Gott aussagen, ist nur
Analogie und Bild, aber Unbewußtheit ist sicherlich die denkbar schlechteste göttliche
Analogie zu unserm Bewußtsein.
Also nicht in diesen Phantasien über das.Unbewußte liegt Hnrtmanns epoche¬
machende Bedeutung, sondern — abgesehen von seinen zahllosen höchst wertvollen
Einzelforschuugen ans allen philosophischen Gebieten, namentlich auf dem natur¬
philosophischen, erkenntnistheoretischen und ästhetische» — darin, daß er das Lebens¬
werk Lotzes vollendet hat. Lotze hat den Panpneumatismus bewiesen, d. h. daß es
außer dem Geiste nichts giebt in der Welt, er hat auch die Möglichkeit der Ein¬
wirkung der Einzelwesen aufeinander durch das erklärt, was Hartmann Telephon¬
anschluß im Absoluten nennt, und er hat die Undenkbarkeit einer nicht teleologischen
Kausalität dargethan. Besonders das letzte hat Hartmnnn in seiner Kritik des
Darwinismus und sonst noch weit gründlicher vollbracht, sodnß alle Büchnerei und
Häckelci für die Wissenschaft abgethan ist. Und wenn nun die Philosophen der
Zukunft das zwecksetzende Absolute nicht mit Hartmann unbewußt, sondern mit Lotze
und uus bewußt denken, so — wird Drews seufzen, mau habe nun sogar anch
Hnrtmauu dazu mißbraucht, das Bewußtsein und die Persönlichkeit Gottes zu be¬
weisen (S. 76). Den Theismus felsenfest und unerschütterlich begründet zu haben,
das wird Hartmanns ewiger Ruhm bleiben, und um dieses unschätzbaren Verdienstes
willen werden ihm die Theologen die Phantasie von einem unseligen Gott, den wir
Menschlein zu erlösen hätten, gern verzeihen. Diese Phantasie ist ja nur aus
Hartmanns pessimistischer Grundstimmung entsprungen, die ihn zur Aufstellung einer
falschen Glücksbilanz verleitet hat. Selbstverständlich wäre ein Gott, der mit Be¬
wußtsein eine unselige Welt schüfe, nichts andres als der Teufel. Nicht bloß sehr
viel tröstlicher, sondern auch sehr viel wahrscheinlicher als Hartmanns Weltschöpfungs¬
theorie ist die des Latoelrisinus Rom-urus: Socius poro ulls, luit causa, ciuao
illum aä opus er<za>tioni8 impöllsrst, nisi ut rsbus, Huas ad ipso <zMotg.g ossont,
doiutatviu 8As.M imM'tiröt'Ur. Ah-in vor naturf,, ixss. xor so dea,t,isAma,, nullius
rei mali^eus ost.
Scheiden wir das Unbewußte und den Pessimismus aus — Hartmann und
Drews werden gegen die Möglichkeit einer solchen Ausscheidung lebhaft protestieren,
aber wir finden sie nun einmal möglich —, so bleibt ein Gednnkenbau steh«, dessen
gnuze Fülle, Schönheit und Großartigkeit uns erst die meisterhafte Darstellung
des Jüngers erschlossen hat, da wir bei der sich über einen Zeitraum von fünf¬
undzwanzig Jahren verteilenden Lektüre der einzelnen Schriften Hartmanns den
Zusammenhang verloren hatten. Andern wird es ebenso ergehn, und die vielen,
die ihn bisher überhaupt noch nicht beachtet hatten, werden ihn jetzt studieren.
Hartmann wird auf die Tagesordnung kommen, und das macht es uns zur Pflicht,
uns zu gelegner Zeit noch einmal auf den einzelnen Gebieten, die er bearbeitet
hat, namentlich auf dem der Religionsphilosophie und der Ethik, mit ihm ausein¬
anderzusetzen.
„Freiheit ist Selbstbeherrschung"
or wenig Wochen hat das badische Land, und mit ihm alles,
was im Reiche nationalgesinnt ist, das seltne Fest eines funfzig¬
jährigen Regierungsjubilüums in einmütiger Freude gefeiert. Denn
Friedrich von Baden gehört nicht seinem Staate allein an,
sondern der ganzen Nation. Einer der wenigen noch lebenden
deutschen Fürsten, die König Wilhelm zum Kaiser loren, hat er wie kein
zweiter die nationale Einheit immer über alles andre gesetzt; er hat niemals
die Frage so gestellt: Inwiefern vertrüge sich eine festere Einheit der Nation
mit den Sonderinteressen meines Staats und meines Hanfes? sondern immer
so: Was ist notwendig, um dieses unentbehrliche Maß von Einheit zu schaffen?
Er hat niemals die Miene schmerzlichen Verzichts angenommen, wenn es galt,
einzclstaatliche Hoheitsrechte, die vor allein doch die seinigen waren, an daS
Reich abzutreten, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers sein muß, sondert, er
hat mit freudiger Genugthuung immer daran gearbeitet, die Reichsgewalt
kraftvoll zu gestalten. Für ihn fielen badisches und deutsches Interesse immer
in eins zusammen, denn er wußte, daß die Existenz der Einzelstaaten uur im
Reiche gesichert ist, und daß das Danaergeschenk europäischer Sonverünitüt für
sie kein Segen war, sondern ein Fluch, weil es sie verleitete, große Politik
zu treiben, ohne die Macht dazu zu haben. Wäre auch mir eine Mehrzahl
deutscher Fürsten so gesinnt gewesen wie er, so wäre uns 1866 zwar schwer¬
lich der Kampf mit Österreich, wohl aber der Bürgerkrieg erspart geblieben.
Dieses Verdienst Friedrichs von Baden ist ein ganz persönliches; seine
deutsche Politik wurde ihm weder durch eine feste Tradition, die dieser jüngste
der deutscheu Mittelstaaten gar nicht haben konnte, noch durch die oft jäh
wechselnde Stimmung seines Volks, noch durch die Lage seines Landes vorge¬
schrieben. Wenn ein deutscher Mittelstaat für eine rheinbündische Politik eine
Entschuldigung gehabt hätte, so wäre es Baden gewesen, das an der langen
offnen Greuze gegen Frankreich lag und noch jahrzehntelang in seinem Be-
stände Von bayrischer Begehrlichkeit bedroht war; keiner hat standhafter solche
Versuchungen zurückgewiesen als Großherzog Friedrich. Von seinen nächsten
Vorgängern konnte ihm der Großvater Karl Friedrich, der erste Großherzog,
nur für das innere Walten vorbildlich sein, und er ist es geworden; dessen
Nachfolger Karl (1811 bis 1818) und Ludwig (1818 bis 1830) neigten mehr
zu Österreich, und noch unter dem ersten Hochberg Leopold, dem Vater
Friedrichs (1830 bis 1852), hielt der Münster vou Blittersdorff Baden in
dieser Richtung fest, sodaß das Land erst 1835 und mir widerstrebend dein
Zollverein beitrat. Noch Friedrich selbst, geboren 9. September 1826, wurde
mit seinem ältern Bruder Ludwig zum ersten militärischen Unterricht 1842
bis 1843 nach Wien geschickt. Erst 1843 wurde Blittersdorff durch den Liberalen
I. B. Beck ersetzt, und Prinz Friedrich erhielt seine weitere akademische Aus¬
bildung in Heidelberg unter Ludwig Hüusser 1843 bis 1845, später 1847 bis
1848 in Bonn vor allem unter Christoph Dahlmann, zugleich mit Albert von
Sachsen und Friedrich Karl von Preußen.
Das Sturmjahr 1848/49 drängte Baden näher an die norddeutsche
Großmacht, an Preußen herau. Im Stäbe des Generals von Wrangel machte
Prinz Friedrich den so unrühmlich verlaufenden Sommerfeldzug gegen Däne¬
mark 1848 einige Wochen mit, und als im Mai 1849, obwohl Baden die
Frankfurter Reichsverfassung bereitwillig auerkannt hatte, die Sinn- und ruch¬
lose republikanische Erhebung begann, die längst versetzten Truppen meuterten
und der Großherzog mit seiner ganzen Familie flüchten mußte, da wurde Prinz
Friedrich nach Sanssouci zu König Friedrich Wilhelm IV. gesandt, um die
preußische Hilfe zu erbitten, und er leitete die Verhandlungen über die sie
sichernden Abmachungen ein. Ein kurzer Feldzug unter dem Prinzen von
Preußen warf die Rebellen zu Boden, und Baden trat der preußischen Union,
dem engern Bundesstaate bei. Als die kläglich unentschlossene lind unklare
Politik Friedrich Wilhelms IV. diese Bestrebungen zur Unfruchtbarkeit ver¬
urteilte, und die Union zerbröckelte, schließlich die kurhessische Verfassungsfrage
beinahe den Bruch zwischen Preußen und Österreich herbeiführte, und sich im
Oktober 1850 die Monarchen von Österreich, Bayern und Württemberg kriegs¬
lustig in Bregenz versammelten, da mußte sich Baden, ohne feste Stütze an
Preußen, wohl oder übel mit ihnen zu stellen suchen, und Prinz Friedrich
übernahm? die heikle Aufgabe, seinen Vater in Bregenz zu vertreten. Als
Gast des Kaisers Franz Joseph machte er dann 1851 die österreichischen
Herbstmanöver in Oberitalien mit, besuchte Venedig und kehrte über Wien
in die Heimat zurück.^)
Es geschah schneller, als ursprünglich beabsichtigt war, denn die schwere
Erkrankung des Vaters im November rief ihn heim, und der Tod des
Großherzogs am 2. April 1852 legte die ganze Last der Regierung auf
ihn, denu sein älterer Bruder Ludwig war von unheilbarer Gemütskrnnkheit
befallen (1' 1858), Der junge Prinzregcnt übernahm das Herrscheramt unter
sehr schwierigen Umständen. Noch zitterte im Lande die Aufregung nach, erst
vor kurzem waren die preußischen Besatzungen abgezogen, und die in der
Rheinprovinz neufvrmierten badischen Regimenter in die Heimat zurückgekehrt
(Herbst 1851), und noch hing der Kriegszustand über dem Lande. Es war
eine der ersten wichtigern Regierungshandlungen des Prinzen, daß er ihn
vom 1. September 1852 an außer Kraft setzte. Nach außen blieb zunächst
nichts andres übrig, als die Förderung eines leidlichen Einvernehmens
zwischen den beiden Großmächten und die möglichste Annäherung an Preußen.
Darum erneuerte Baden (4. April 1853) bereitwillig den Zollverein, erlaubte
1857 der preußischen Armee den wegen des Neuenburger Handels geplanten
Durchmarsch nach der Schweiz, und der Herzeusbund, den der nunmehrige
Großherzog (seit 5. September 1856) mit Luise von Preußen, der einzigen
Tochter des Prinzen Wilhelm, am 20. September 1856 schloß, erhielt auch
eine gewisse politische Bedeutung. Erschwert wurde ihm freilich diese An¬
näherung einerseits durch die Schroffheit, mit der seit den, August 1851 Otto
vou Bismarck als Vnndcstagsgesandter eine rein preußische Interessenpolitik
vertrat, andrerseits durch das badische Ministerium Stengel-Mehseubug selbst,
das mehr zu Osterreich neigte. Es suchte deshalb 1859, übrigens im Ein¬
verständnis mit dem Großherzog und mit der Volksstimmung in ganz Süd¬
deutschland, Preußen für Osterreich in Bewegung zu setzen, weil man seinen
Kampf für feine Fremdherrschaft in Oberitalien als eine nationale Angelegen¬
heit ansah, und fiel erst (2. April 1860), als der Landtag das von ihm am
28. Juni 1859 mit Rom abgeschlossene Konkordat verworfen hatte.
Mit dem neuen liberalen Kabinett Stahel-Lamey, in dem im Mai 1861
der Freiherr Franz von Roggenbach das Auswärtige, Karl Mathy, schon seit
Ende 1862 im badischen Staatsdienst, zu Anfang 1864 die Finanzen übernahm,
lenkte der Großherzog klar und fest in die Bahnen eiues deutschen Bundes¬
staats nickcr Preußens Leitung ein, und die Energie, mit der sein Schwieger¬
vater, seit 7. Oktober 1858 Regent, seit 2. Januar 1861 König, die Selb¬
ständigkeit seiner Politik wie ihre deutsch-nationale Aufgabe erfaßte, erweckten
jetzt Hoffnungen auf ein günstiges Ergebnis. Freilich glaubte man ein solches
noch mit „moralischen Eroberungen" und durch friedliche Vereinbarungen er¬
reichen zu können, denn von der Bedeutung der Macht in großen politischen
Fragen hatten die süddeutschen Staatsmänner so selten eine rechte Vorstellung
wie der ganze deutsche Liberalismus dieser Tage, und sie unterschätzten die
Stärke der Gegensätze. Aber immerhin war ein festes Ziel gesteckt; von den
impotenten Versuchen einer deutschen Trias, die nur Ohnmacht zu Ohnmacht
gefügt Hütte, hat Friedrich niemals etwas wissen wollen. So stellte er ans
dein Fürstentnge in Baden-Baden, wo Prinz Wilhelm von Preußen im Juni
1860 Napoleon III. empfing, gemeinsam mit seinem Schwager Ernst von
Koburg-Gotha und Karl Alexander von Weimar, ein nationales Programm
wenigstens in den Umrissen auf: Schutz- und Trutzbündnis aller deutschen
Fürsten unter Führung Preußens mit Osterreich unter Garantie aller seiner
Besitzungen, größere Machtstellung Preußens im Bunde und Berufung eines
deutschen Parlaments. Im Oktober 1861 gewann Friedrich dafür den König
Wilhelm in Ostende, aber der Beitritt zu diesem engern Bunde sollte noch
frei sein. Wenigstens das wurde damit erreicht, daß die deutsche Frage in
Fluß kam. Das preußische Projekt wurde zwar in identischen Noten von den
meisten Mittelstaaten (außer Sachse») mit Entrüstung abgelehnt (Februar 1862),
aber dasselbe Schicksal hatten auch Beusts trauriges Schattenbild einer Bundes,-
reform mit abwechselndem Vorsitz der beiden Großmächte und das österreichische
Delegiertenprojekt (22. Januar 1863). Ju der That boten alle beide einen Stein
statt des Brots.
Da trat nun höchst störend der preußische „Konflikt" dazwischen, denn
er brachte Preußen bei der ganz überwiegend liberalen öffentlichen Meinung
um alle Sympathien. Ihm gegenüber stand Großherzog Friedrich ungefähr
so wie seine Schwäger, der Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen und
der Herzog Ernst von Koburg; denn alle drei waren von den: liberalen Grund¬
gedanken der Zeit beherrscht und beklagten in dem .Konflikt zugleich die
Schwächung Preußens in der deutschen Frage. Der badische Bundestags¬
gesandte Robert von Mohl führte im Dezember 1862 in einer Denkschrift aus,
daß Baden mit diesem Preußen ebensowenig gehn könne wie mit Österreich,
also bei einem Zusammenstoß zwischen beiden neutral bleiben und auch die
übrigen Mittelstaaten zu derselben Haltung bestimmen müsse. Zu einem
kriegerischen Konflikt kam es damals nun zwar nicht, wohl aber wurde die
Kluft breit aufgerissen, als Kaiser Franz Joseph im August 1863 ganz über¬
raschend die deutschen Fürsten nach Frankfurt a. M. entbot, um hier mit
einem Rucke die Bundesreform im österreichisch-mittelstnatlichen Sinne zur
dauernden Majorisierung Preußens durchzusetzen. Als König Wilhelm in
Baden-Baden bestimmt abgelehnt hatte — man weiß, wie hart Vismarck
damals mit den ihm entgegenwirkenden Einflüssen rang —, trat Großherzog
Friedrich klar und entschlossen an die Spitze der Opposition und stimmte in
der Schlußsitzung am 1. September mit nur fünf Genossen gegen den öster¬
reichischen Entwurf und eine Mehrheit von vierundzwanzig Stimmen. Ju
einer Denkschrift legte er dem ihm persönlich befreundeten Kaiser dar, daß nnr
der Bundesstaat das nationale Bedürfnis befriedigen könne, und wußte dann
n!» nächsten Tage ihn davon zu überzeugen, daß es so, wie er vorgeschlagen
habe, überhaupt nicht gehe. Thatsächlich gab dabei der Kaiser im Grunde
seinen eignen Entwurf, deu er gar nicht selbst veranlaßt habe, preis und erklärte
ziemlich offen., es sei ihm einerlei, wie sich das übrige Deutschland konstituiere,
einen Rückhalt um Österreich werde es doch immer suchen müssen. Wieder
war ein in falscher Richtung laufender Versuch zur Bundesreform, diesesmal
wesentlich vom Großherzog Friedrich, abgewehrt und dargethan, daß eine solche
ohne und gegen Preußen unmöglich sei, aber etwas Positives war auch jetzt
uicht erreicht.
Als nun die Schleswig-holsteinische Frage am Horizont aufstieg, glaubte
der Großherzog wie damals alle Welt, sie durch die Anerkennung des Augnsten-
bnrgischen Erbanspruchs im nationalen Sinne lösen zu können. Schon am
24. April 1863 hatte sich Roggenbach in diesem Sinne gegenüber der zweiten ba¬
dischen Kammer erklärt, im August desselben Jahres erhielt Mohl in Frankfurt die
Weisung, vorkommenden Falls die Vertretung Friedrichs (VIII.) als Herzogs
von Holstein am Bundestage zu übernehmen. Nach dem Tode König Fried¬
richs VII. von Dänemark (15. November) geschah das wirklich; Baden setzte wenig¬
stens die Suspension der holsteinischen Stimme durch und erkannte zuerst und
allein Friedrich (VIII.) an, freilich in der Erwartung, daß er mehr Entschlossen¬
heit und Unternehmungslust entwickeln werde, als er wirklich gezeigt hat. So
stand Baden in dieser Frage geradezu an der Spitze der mittelstaatlichcn
Politik; es stimmte deshalb am 7. Dezember in Frankfurt auch nicht für den
sofortigen Vollzug der Vnndesexekntion gegen Christian IX., den es ja als
Herzog von Schleswig-Holstein gar nicht anerkannte, sondern für die Okkupation
Holsteins im Namen des Augnstenbnrgers, blieb aber in der Minderheit gegen
die beiden von Bismarck ebenso vorsichtig wie energisch geführten Großmächte.
Daß die volkstümliche Politik in dieser Frage wahrscheinlich einen europäischen
Konflikt herbeigeführt hätte, wollte man damals nirgends sehen. Deshalb
wurden nun wieder Preußen und Österreich am 12. Januar 1864 von den
Mittel- und Kleinstaaten überstimmt, als sie die Okkupation anch Schleswigs
als Faustpfandes für die Erfüllung ihrer Forderung auf Wiederherstellung
der Personalunion beantragt hatten, und wieder stand Baden gegen sie.
Um so empfindlicher traf den Großherzog ihre Erklärung am 14. Januar,
daß sie nunmehr als europäische Großmächte allein, ohne den Bund die Sache
in die Hand nehmen würden. Schneidend wurde dem träumende», debattierenden
und räsonnierenden Deutschland die bittre Lehre erteilt, daß Machtfragen nur
durch die Macht gelöst werden und nicht dnrch Reden, und daß das ganze
Mittel- und kleinstaatliche Deutschland ohnmächtig sei, sobald Preußen und Öster¬
reich einig waren. In einer nationalen Frage allerersten Ranges wurde es zur
Thateulosigkeit verurteilt, weil es diese Wahrheit verkannt und eine europäische
Frage durch Bnudestagsabstimmungen hatte entscheiden wollen. Die Versuche
Badens, nunmehr mit den Triasstaaten die Vnndesrefvrm wieder in die Hand
zu nehmen, und um sie volkstümlich zu machen, ein Parlament zunächst ans
den Mittel- und Kleinstanten zu berufen, scheiterten an deren natürlicher
Uneinigkeit und an der Angst der meisten Regierungen vor einer großen Volks¬
vertretung. Inzwischen fielen die Entscheidungen in Schleswig, und der Wiener
Friede vom 30. Oktober 1864 übergab die Herzogtümer den beiden siegreichen
Großmächten.
Friedrich von Baden ließ sich durch diese schweren Erfahrungen Wohl
belehren, aber in seinen patriotischen Bestrebungen nicht beirren. Er war des¬
halb grundsätzlich für die sogenannten Februarbedingungen, die Friedrich (VIII.)
kurzsichtig verwarf, denn er sah in ihnen eine Vorbereitung für das, was
ihm selbst als Kern jeder ernsthaften Bundesreform erschien, die Vereinigung
der diplomatischen und der militärischen Leitung ganz Deutschlands in einer
Hand; aber daß dieses Ziel auf friedlichem Wege erreicht werden könne, das
hoffte er jetzt nicht mehr. Auch Noggenbach verzweifelte daran; als der
Vertrag von Gastein im August 1865 den Konflikt nur noch notdürftig ver¬
hütet und die Ohnmacht der Mittelstaaten nochmals enthüllt hatte, nahm er
im Oktober 1865 seinen Abschied.
Welche Stellung sollte aber uun Baden einnehmen, wenn es zu einem
Wassergange kam? Mit Preußen zu gehn war schon wegen der geographischen
Lage kaum möglich und stieß auf die sich täglich verstärkende populäre Ab¬
neigung gegen die dortige „reaktionäre" Regierung, die allen Lieblingsmcinuugeu
und Wünschen des Liberalismus ins Gesicht schlug. Noch viel weniger meinte
der Großherzog sich an Osterreich anschließen zu können, obwohl Noggenbachs
Nachfolger Edelsheim, bisher Gesandter in Wien, diese Möglichkeit schon ins
Auge faßte. Auf die Triasplüne einzugehn, deren praktische Erfolglosigkeit
nunmehr vor Augen lag, hatte Friedrich von jeher verschmäht, und die
Möglichkeit, die militärische Leitung Süddeutschlands an Bayern zu über¬
tragen, die im Frühjahr 1866 unter den Kombinationen Bismarcks auftauchte,
machte ihn doppelt bedenklich. Als sich nun die Beziehungen der Großmächte
seit dem Mürz 1866 verschärften, Österreich sich den Mittelstaateu wieder
näherte und Preußen am 9. April seinen Antrag auf Berufung eines deutschen
Parlaments zur Beratung der Bundesreform einbrachte, den die Regierungen
mit Schrecken aufnahmen, die vollendete nationalpolitische Unfähigkeit des deut¬
schen Liberalismus mißtrauisch zurückwies und nur die zweite badische Kammer
warm begrüßte, so blieb nichts übrig als die bewaffnete Neutralität. Für
eine solche mit Vereinigung der badischen Division bei Rastatt trat der
Großherzog selbst entschieden ein, aber nur Mathy unterstützte ihn, die übrigen
Minister, Stahel, Lamcy und Edelsheim, hielten schon den Anschluß an Öster¬
reich für unvermeidlich. In der That wäre die Neutralität für Baden nur
dann möglich gewesen, wenn sich dazu auch die übrigen Mittelständen oder
wenigstens die süddeutschen Hütten entschließen können; aber die Besprechungen
in Augsburg (22. April) und Bamberg (14. Mai) verliefen auch in dieser
Beziehung ergebnislos; die Mittelstaaten schickten sich'an, für das elende
Bundesrecht, für ihre eigne ungeschmälerte Souveränität und für Österreichs
Oberherrschaft den Bürgerkrieg zu beginnen, und die verblendete öffentliche
Meinung, die stürmisch die Bundesreform gefordert hatte, als sie noch in
nebelhafter Ferne lag, stimmte ihnen eifrig zu. Sogar der badische Landtag
genehmigte am 28. Mai einstimmig die „für eine gemeinsame nationale Politik
der süddeutschen Staaten" geforderten Summen, ohne daß doch jemand zu
sagen gewußt hätte, worin deun eigentlich diese Politik bestehn sollte.
Großherzog Friedrich geriet also in eine geradezu verzweifelte Lage. Weder
seiner Minister noch seiner Stände noch seines von Mtrcmwntancn und
Demokraten versetzten Volks noch mich nur seiner Truppen sicher, dazu von
der sehr begründeten Besorgnis erfüllt, daß für den Fall eines Sieges
Österreich und Bayern ein ihnen feindliches oder auch nur neutrales Baden
einfach teilen, also vernichten würden, machte er noch im letzten Augenblick,
als Österreich am 1. Juni die Schleswig-holsteinische Sache dem Bundestage
überwies und damit den Bruch mit Preußen herbeiführte, persönliche An¬
strengungen, um das Äußerste oder wenigstens die Parteinahme der Mittel -
Staaten für Österreich zu verhindern. Am 2. Juni traf er in Pillnitz beim
König Johann von Sachsen ein und suchte ihn zu bestimmen, Österreich zur
Zurückziehung seines Antrags vom 1. Juni zu bewegen. Der König lehnte
das ab, und Beust erschien dem Großherzog als „der wahre Schürer des
Kriegsfeners," als „ein vollkommen unzurechnungsfähiger Mensch." Denn
wie wenig kannte-er doch Preußen, wenn er damals sagte: „Sieger bleibt,
wer zuletzt Geld übrig hat, und Preußen bekommt von seinem Landtage keins."
Bon der sittlichen Kraft, von der Energie der Staatsgesinnung und des
Patriotismus, die in Preußens Königtum, Volk und Heer trotz des „Konflikts"
lebten, hatte der sächsische Münster keine Ahnung. Und solche „Staatsmänner"
leiteten damals die Geschicke Deutschlands! Mit dem bedrückenden Gefühl,
„rein nichts erreicht zu haben," reiste der Großherzog am 3. Juni wieder ab.
Unterwegs in Frankfurt riet er noch Snmwer, dem Berater Friedrichs (VIII.),
dringend, die Febrnarbedingungcn anzunehmen, also den Schleswig-holsteinischen
Streitfall womöglich aus der Welt zu schaffen, und da dieser zustimmte (6. Juni),
sandte der Großherzog mit dieser Nachricht und mit der Bitte, die Bundes-
reform möglichst zu beschleunigen, den Professor Heinrich Gelzer als seinen
Vertrauensmann nach Berlin. Auch das war umsonst. Der Augusteuburger
selbst that auch jetzt das Verkehrte, er verließ schließlich mit der österreichischen
Brigade Kalik Holstein, als die Preußen seit dem 7. Juni dort einmarschierten,
und ging ins mittelstaatliche, also ins feindliche Lager. Und als am 9. Juni
Preußen seinen Bundcsreformcntwurf am Bundestage einbrachte, der in 1
den Ausschluß Österreichs bestimmte, antwortete dieses am 11. Juni mit dem
bundeswidrigen Gegenanträge, die außerprenßischeu Buudcskoutingente zu
mobilisieren. Sechs Stunden rang am 13. der Großherzog, nur von Mathy
unterstützt, mit seinen Ministern und setzte wirklich durch, daß der badische
Bnndestagsgcsandte dahin instruiert wurde, sich der Abstimmung über den
österreichischen Antrag zu enthalten. Aber am 14. Juni entschied der Bundes¬
tag mit neun gegen sechs Stimmen für Österreich, also für den Bürgerkrieg,
denn nach einer preußischen Mitteilung vom 12. Juni wußte man, daß die
Preußische Kriegserklärung nun auf dem Fuße folgen werde. Im letzten
Augenblick erschien König Wilhelms Flügeladjutant von Werber in Karlsruhe,
um dem Großherzog zu sagen, daß der König, da Preußen nicht in der Lage
sei, Baden militärisch zu decken, vollkommen verstehe, wie unvermeidlich Badens
Anschluß an die Gegner sei; im Auftrage Bismarcks fügte Werber noch hinzu,
die bewaffnete Neutralität sei vielleicht doch uoch möglich, wenn der Gro߬
herzog sie uuter den Schutz Frankreichs stelle, das dazu in der That sehr gern
bereit gewesen wäre. Doch Friedrich erklärte rund heraus: „Sie werden be-
greifen, daß ich das nicht kann." Am 16. Juni früh meldete der Telegraph,
die Preußen seien in Sachsen eingerückt, und Sachsen habe daraufhin die
Hilfe des Bundes angerufen. Da eilten die Minister aufs Schloß, und
„der Großherzog ergab sich."
Dieses wochenlange Ringen um die Durchführung seiner persönlichen
politischen Überzeugung hat etwas Heroisches und zugleich etwas Tragisches.
Verlassen von allen und gedrängt von allen, ohne jede Möglichkeit, eine Ne¬
gierung nach seinem Sinne zu bilden, wurde der Großherzog durch das
greuliche Wirrsal der deutschen Dinge endlich gezwungen, gegen seine Über¬
zeugung, im Widerspruch mit allem, was er seit zehn Jahren erstrebt hatte,
für das längst unbrauchbare Bundesrecht das Schwert zu ziehn, gegen den
Staat zu ziehn, von dem allein er eine Wiedergeburt Deutschlands erwartete;
konstitutionelle Rücksichten, von denen man wohl geredet hat, haben ihn nicht
bestimmt und konnten ihn gar nicht bestimmen. Er empfand die Notlage auch
nach der Entscheidung aufs tiefste; als Mathy mit Jolly seine Entlassung
nahm, um Edelsheim vollends das Feld zu räumen, und sich am 1. Juli von
seinem Herrn verabschiedete, da sagte ihm dieser wehmütig: „Sie haben es
gut, Sie können gehn, ich muß bleiben."
Ja er mußte bleiben, er mußte weiter erleben, daß seine Truppen beim
achten Bundesarmeekorps unter der unfähigen Führung des Prinzen Alexander
von Hessen in den kläglichen Mainfeldzug verwickelt wurden. Als in Böhmen
am 3. Juli die Entscheidung schon gefallen war, und Waffenstillstandsver¬
handlungen schon begonnen hatten, also die Fortsetzung des Kampfes in Süd¬
deutschland zwecklos geworden war, sandte er Edelsheim nach München, um
auf den raschen. Abschluß eines gemeinsamen Waffenstillstandes zu dringen.
Aber die Verhandlungen (19. bis 21. Juli) in München blieben vergeblich,
und noch vom 23. bis zum 25. Juli standen die Badner auf heimischem Boden
gegen die siegreichen Preußen im Feuer und mußten ihr Blut verspritzen für
eine schon Verlorne und aufgegebne Sache. In denselben Tagen, am
23. Juli, entließ der Großherzog ungnädig Edelsheim, am 26. auch Stahel
und Lauch, am 27. bildete der treue Mathy mit Jollh und Freydorf sein
Ministerium, am 29. wurden die Truppen heimberufen. Auch die Volks¬
stimmung schlug um; schon seit dem 21. forderte sie in zahlreichen Adressen
die Beendigung des Krieges ebenso stürmisch wie vorher den Krieg — ein
schwankendes Rohr im Winde —, und am 1. August wurden in Heidelberg
und Mannheim die einrückenden Preußen als Freunde begrüßt. Daß der Friedens¬
schluß vom 17. August dem badischen Lande eine Kriegsentschädigung von
sechs Millionen Gulden auferlegte, war ganz in der Ordnung; mit Recht
bemerkte Bismarck seinem König, sie werde nicht vom Großherzog bezahlt,
sondern vom Volke, und das sei der schuldige Teil.
Welche schmerzliche Enttäuschung war es nun für den Großherzog, daß
die französische Einmischung die Ausdehnung des neuen Bundes unter der
Führung Preußens auf Süddeutschland verhinderte, und für dessen Staaten
ein besondres Bündnis in Aussicht genommen wurde! Nur die Fortdauer
des Zollvereins und das (bis 1867 geheime) Schlitz- und Trutzbündnis ver-
banden jetzt den Süden mit dem Norden. Fortan faßte die badische Politik
zwei Ziele ins Auge: ein positives, die möglichste Annäherung an den Norden,
und ein negatives, die Vcrhindrung des Südlmndes, der den Genossen doch
keinen Schutz gewähren konnte und die Verbindung mit dem Norden nur er¬
schwert hätte. Was zur Verbesserung des Wehrwesens dienen konnte, das
förderte der Großherzog; er war bei den Militärkonferenzen in Stuttgart, die
im Februar 1867 über eine gemeinsame Annäherung an das preußische
Muster beriete», ebenso vertreten wie im Dezember desselben Jahres bei
den Münchner Besprechungen über die Verwaltung der süddeutschen Festungen
im engen Zusammenhang mit dem Verteidigungssysteme ganz Deutschlands.
Aber was darüber hinausging, lehnte er ab, und in der That wurden von
Bayern aus zu einem süddeutschen Bunde, den Österreich und Frankreich be¬
flissen empfahlen, nur schwache Anläufe gemacht. Über den Vundesentwnrf
des Fürsten Hohenlohe vom November 1867 kam es nicht einmal zu Ver¬
handlungen, und den spätern bayrisch-württembergischen Vorschlag, eine ständige
Militürkommission mit ausgedehnten Befugnissen über die Festungen einzusetzen,
wies der Großherzog im Juli 1868 zurück „als den Anfang zur Bildung eines
Südbundes oder zur Befestigung der Mainlinie." Um so eifriger betrieb er
alles, was Baden in engere Berbindung mit dem Norddeutschen Bunde setzen
konnte. Das Zoll- und Wehrbündnis wurde im Herbst 1867 vom Landtage
ohne Schwierigkeiten angenommen, das Heer wurde auf Grund der allgemeinen
Wehrpflicht völlig nach preußischem Muster ungeordnet und konnte schon im
September 1867 dein König Wilhelm vorgeführt werden. Die Leitung über¬
nahm am 23. Februar 1868 der bisherige preußische Militärbevollmächtigte
General von Beyer als Kriegsminister, im April 1869 als Oberbefehlshaber;
die bübischer Kadetten wurden in preußischen Kadettenschulen ausgebildet, die
preußische Militärstrafjustiz und endlich die militärische Freizügigkeit zwischen
Baden und dem Norddeutschen Bunde eingeführt, kurz alles so geordnet, daß
die badischen Truppen 1870 in allem und jedem als eine der norddeutschen
Armee ebenbürtige Division in die Front rücken konnten. Eine förmliche
Militürkonvention lehnte Bismarck freilich ebenso ab, wie im November 1867
die von Mnthy beantragte Aufnahme Badens in den Nordbund, und der im
Februar 1870 von E. Laster im norddeutschen Reichstage gegebnen neuen
Anregung stand die badische Regierung fern. Nirgends mehr als in Baden
empfand man den schweren Druck, den Frankreich noch immer auf Deutschland
ausübte, denn im Widerstreben Frankreichs lag der letzte Grund für die Ver¬
zögerung der deutscheu Einheit. Er war freilich nur deshalb so wirksam,
weil die in Württemberg und Bayern herrschenden Parteien die nationale
Einheit noch immer nicht wollten.
Deshalb wurde der jähe Ausbruch des Krieges vou 1870 trotz der
schweren Gefahr, der das Land zunächst ausgesetzt schien, in Baden als eine
Erlösung empfunden, und mit fester Entschlossenheit, ohne sich um das an¬
fängliche Schwanken in Stuttgart und München zu kümmern, handelte die
Regierung. Schon am Nachmittag des 15. Juli wurde die Mobilisierung an¬
geordnet, in der Nacht des 22. Juli die Kehler Brücke gesprengt, und schon
am nächsten Tage stand die badische Division kriegsfertig um Rastatt ver¬
sammelt. Erst die Schlachten von Weißenburg und Wörth machten aller
Gefahr ein Ende, und der Großherzog eilte am 11. August ins Lager vor
Straßbnrg, So wurde ihm die Genugthuung, am 30. September mit General
von Werber über Schutt und Trümmer einzuziehen in die „wunderschöne
Stadt," die fast zwei Jahrhunderte lang als eine feindliche Ausfallspforte an
der offnen Grenze Süddeutschlands gelegen hatte. Aber seine Hauptthütigkeit
war nicht auf die kriegerischen Ereignisse gerichtet, sondern ans ihre Verwertung
für die Vollendung der uatiounleu Einheit. Die Kaiseridee, auf die er den
höchsten Wert legte, so gut wie Kronprinz Friedrich, hatte er schon im März 1870
mit Bismarck besprochen. Unmittelbar nach Sedan, am 3. September, schlug
eine badische Denkschrift (von Jolly) dem Bundeskanzler den Eintritt der süd¬
deutschen Staaten in den Norddeutschen Bund, die Zentralisierung der diplo¬
matischen Vertretung und des Heereswcsens, die Erneuerung des Kaisertums
und die Erwerbung Elsaß-Lothringens entweder als eines Neichslandes oder
einer preußischen Provinz vor; die damals anftnucheuden bayrischen Vorschläge,
die badische Pfalz an Bayern zu geben und dafür das Elsaß mit Baden zu
vereinigen, wies der Großherzog stolz und „geradezu mit Abscheu" von sich,
und Bismarck lehnte sie rundweg ab. Da er von Reims ans in einer Note
vom 12. September die Initiative zu den weitern Verhandlungen den süd¬
deutschen Regierungen zuschob, so stellte Baden am 3. Oktober den amtlichen
Antrag auf Eintritt in den Norddeutschen Bund und sandte seine Unterhändler
nach Versailles, wo sie am 23. Oktober eintrafen. Wegen der Kaiserkrone
schrieb der Großherzog am 31. Oktober selbständig an König Ludwig II. von
Bayern, ohne allerdings zunächst eine Antwort zu erhalten; am 5. November
traf er persönlich in Versailles ein, wo er nach dem Zeugnisse des Kronprinzen
„wie ein guter Genius" wirkte. In seiner Anwesenheit wurde denn auch am
15. November der Bündnisvertrag, am 25. die Militärkonvention unterzeichnet.
Um dieselbe Zeit sandte er den Staatsrat Heinrich Gelzer mit einem vertrau-
lichen Briefe nach München, um den König zu einer persönlichen Zusammen¬
kunft oder zur Reise nach Versailles zu bewegen. Das gelang nun zwar
nicht, aber das Angebot der Kaiserkrone von dort aus kam dann doch zu¬
stande, uur daß die Glorie, die damals Ludwig II. umstrahlte, längst erloschen
ist; sie hätte von jeher dem Großherzog Friedrich gebührt. „Wir verdanken
das wesentlich dem Großherzog von Baden, der unausgesetzt thätig gewesen ist,"
schrieb der Kronprinz am 3. Dezember nach der Überreichung des „Kaiscrbriefs"
in sein Tagebuch.
Noch aber blieb der Abschluß: die Form des Kaisertitels und die Kaiser¬
proklamation. Den Wortlaut der Proklamation entwarf der Großherzog mit
dem Kronprinzen schon am 28. Dezember, und da die Reichsverfassung mit
dem 1- Januar 1871 in Kraft treten sollte, so wäre dies an sich auch der
gebotne Termin für die Verkündigung des Kaisertitcls gewesen. Aber König
Wilhelm wollte davon nichts hören, bevor nicht alle Einzellandtage die Ver¬
träge genehmigt hätten, und damit zögerte der bayrische Landtag noch. Darum
mußte sich der Großhevzog bei dem Festmahle am 1. Januar in seinem Trink-
Spruch auf den König noch mit der Wendung auf das „Oberhaupt des deutschen
Kaiserreichs" begnügen. Als nun trotzdem der alte Herr in die Proklamation
am 18. Januar gewilligt hatte, da kam es uoch zu einem harten Kampfe
über die keineswegs gleichgiltige Form des Kaisertitels. König Wilhelm selbst
wollte „Kaiser von Deutschland" heißen, und das war auch der Wille aller
in Versailles versammelten deutschen Fürsten, was der König natürlich wußte.
Dagegen beharrte Bismarck auf dem „Deutschen Kaiser," weil die bayrischen
Unterhändler, vielleicht nicht einmal im Auftrage ihres Königs, das wünschten.
Darüber kam es noch am 17. zu einer erregten Auseinandersetzung. König
Wilhelm bestand auf seinem Willen und ließ noch am frühen Morgen des 18.
dem Großherzog sagen, es bleibe beim „Kaiser von Deutschland," obwohl
Bismarck dagegen sei. In peinlichster Lage benachrichtigte der Großherzog
davon den Kanzler unmittelbar vor der Proklamation; dieser war „ganz
außer sich vor Ärger" und überließ es dem Ermessen Friedrichs, zu thun, was
der schwierigen Situation entspreche. Als dieser nun den König auf die
Differenz hinwies, erhielt er die unmutige Antwort: „Dn kannst das machen,
wie dn willst." So brachte er mit kluger Wendung das Hoch schlichtweg auf
„Kaiser Wilhelm" aus (nach einer persönlichen Aufzeichnung des Großherzogs
bei Lorenz 44 ff.). Es war wohl der Höhepunkt seines politischen Lebens.
Das Ziel seiner langen, mühsamen und aufopferungsvollen Arbeit war ruhm¬
voll erreicht.
Wie er seit der Reichsgründung in dem Fürftenrate, der für das große
Publikum unsichtbar den Kaiser umgiebt, thätig gewesen ist, entzieht sich noch
genauerer Kenntnis. Mit dem Gange der innern Reichspolitik war er nicht
immer einverstanden, am wenigsten mit der gewaltsamen und planlosen Art,
mit der selbst uach Falls Klage der Kulturkampf geführt wurde. Aber er
trat doch vermittelnd ein, als der Reichskanzler im April 1877 die Entlassung
aus allen seinen Ämtern forderte, und wiederholte das, freilich vergeblich, im
März 1890. Er gab 1888 die Anregung zu der imposanten Kundgebung,
mit der die deutschen Reichsfürsten bei der Eröffnung des Reichstages am
L5. Juni den jungen Kaiser umringten; er schenkte der Kriegsmarine so warmes
Interesse, daß ihm der Kaiser dafür 1898 seineu besondern Dank aussprach
und ihn auch sonst mannigfach ehrte; er trat, namentlich als Protektor der
badischen Kriegervereiuc (seit 1880), bei jeder Gelegenheit öffentlich für das
nationale Interesse ein, auch hier die Forderung strenger Einordnung in das
Ganze und persönlicher Freiheit verbindend.
Will man die historische Stellung des Großherzogs Friedrich bezeichnen,
so wird man etwa sagen dürfen: er ist für Baden und in mancher Beziehung
anch für das Reich das geworden, was sein Schwager, der Kronprinz und
Kaiser Friedrich, in viel weiteren Kreise hätte werden können, der Vertreter
der Generation, die unter der Herrschaft der liberalen Idee angewachsen war
und auf dem Throne Preußens und deS Reichs nicht zur Geltung gelangt ist.
Er vertritt den Liberalismus, der seine Aufgabe in der Ausbildung einer
freiheitlichen, auf der freien Mitwirkung eines freien Volkes beruhenden
Staatsordnung sah, aber er verband damit die Einsicht, daß der Staat vor
allem Macht, also seine Selbstbehauptung seine höchste Pflicht ist, und daß
diese unendlich viel höher steht als die Erfüllung des einen oder des andern
liberalen Parteiwunsches. Daher der große nationale Zug in seiner deutschen
Politik, daher im Lande die Richtung auf eine wohlwollende, umfassende, sorg¬
fältige Pflege der Volkswohlfahrt. So wird er auch in die Zukunft als ein
Musterbild modernen deutschen Fürstentums hinüberleuchten.
W
Mun Jahre 1550 gründeten die Jesuiten eine Hochschule in Rom,
für die Gregor XIII. Boncompagni (1572 bis 1585) einen ge¬
waltigen Palazzo baute, der noch heute mit dem alten Namen
Collegium Romanum genannt wird. Von diesem Papst erhielt
I die Hochschule den Namen Gregorianische Universität. Ich darf
als bekannt voraussetzen, daß an dieser Bildungsanstalt zahlreiche Männer
gewirkt haben, deren Namen für alle Zeiten mit dem von ihnen betriebnen
Wissensgebiete unlöslich verbunden bleiben; der bekanntesten einer ist ?. Scachi,
dessen Studien zur Sonnenphysik und andern Problemen ein Merkstein in der
astronomischen Wissenschaft sind.
Die Universität mit ihren Vorschulen konnte sich ungestört entwickeln bis
zum Wintersemester 1870/71. Unmittelbar nachdem die Italiener durch die
Bresche der Poren Pia am 20. September 1870 in Rom eingezogen waren,
wurde das Gymnasium der Jesuiten geschlossen, und die philosophischen und
die theologischen Vorlesungen mußten in privater Weise gehalten werden. Im
Wintersemester 1873/74 wurden die Jesuiten aus dem Collegio Romano Ver¬
trieben, und sie siedelten dann in den naheliegenden Palazzo Borromeo über,
wo sie die Philosophie und die Theologie weiter lehrten. In diesem Palazzo
wohnte das deutsch-ungarische Kolleg, bekannter unter dem. Namen Germanieum,
sodaß Kolleg und Universität unter einem Dache weilten. Daher kommt es,
daß auch heute noch viele Menschen glauben, beide Begriffe deckten sich voll¬
ständig, obschon es sich um zwei völlig getrennte Einrichtungen handelt. Als
im Jahre 1880 das Germanieum auszog und sich im frühern Hotel Costanzi
einrichtete, wurde der ganze Palazzo Borromev für die Zwecke der Universität
in Benutzung genommen. Eine solche Scheidung war auch schon wegen des
unerträglich gewordnen Raummangels notwendig geworden. Wenn man be¬
denkt, daß 187Z/74 die Gesamtzahl der Studenten 202 und 1886 schon 570
betrug, so begreift man, daß Kolleg und Universität nicht mehr unter einem
Dache leben konnten. Von 1886 bis 1902 hat sich uun die Zahl der
Studenten wiederum verdoppelt, indem sie von 570 auf 1020 anwuchs.
Nachdem Pius IX. im Lauf des Schuljahres 1870/77 deu bestehenden
beiden Fakultäten für Philosophie und Theologie die für das kanonische Recht
angegliedert hatte, konnten die Jesuiten in diesen drei Fächern die sämtlichen
akademischen Grade verleihen. Der philosophisch-theologische Unterricht zerfällt
in zwei Abteilungen, nämlich in den kleinen und in den großen Kurs. Nur
die Hörer des großen können zu den akademischen Würden aufsteigen, während
die kleine Theologie für solche eingerichtet ist, die entweder schneller fertig werden
wollen oder für die spekulative Theologie eine geringere Begabung zeigen.
Der Lehrkörper hat einen alljährlich zu erwählenden Rektor an der Spitze,
dem ein auf Lebenszeit bestellter General-Studienpräfekt und ein stellvertretender
Präfekt zur Seite stehn. In der theologischen Fakultät giebt es zwölf Pro¬
fessoren, in der kanonistischcn drei und in der philosophischen neun Professoren.
Die Einrichtung von außerordentlichen Professoren und Privatdozenten ist hier
nubeknunt. Es ist selbstverständlich, daß sämtliche Lehrer Jesuiten sind.
Die Professoren der Theologie haben folgende Lehraufträge: 1. Bibel-
Wissenschaft und orientalische Sprachen; 2. scholastische Theologie für die ersten
zwei Semester, in doppelter Besetzung: 3. scholastische Theologie für das dritte
bis achte Semester, in doppelter Besetzung; 4. kleine Theologie in doppelter
Besetzung; 5. Moraltheologie; 6. Kirchengeschichte; 7. Hebräisch; 8. christliche
Archäologie und 9. geistliche Beredsamkeit. Auch der Nichttheologe vermag aus
den mitgeteilten Lehraufträgen zu ersehen, daß das Hauptgewicht auf der
dogmatischen Theologie beruht, so zwar, daß sich nur die Moral und die Bibel¬
wissenschaft einigermaßen zur Geltung bringen können.
Die Dogmatik wird in dem großen vierjährigen Kurs der Theologie täglich
zwei Stunden lang vorgetragen, je eine des Morgens und des Nachmittags.
Ins erste Jahr fallen Heuer die Traktate 1)s llso Hrx> et 1'rino und of
KöliZiong <ze IZoolvsiii, und in die drei folgenden Jahre fallen der Reihe nach
die Traktate vo Virtutibus mensis, ve koooato, vo Lsorameiitis 1^ve»iteotig,v,
IZxtrönms llnotionis, Oräinis, Natrimonii. Diese Stoffverteilung für das
laufende Studienjahr ergiebt die Bewältigung eines passenden Abschnitts der
Dogmatik; zu bemerken ist nun dabei, daß die Studenten des erste» Jahres
gesonderte Vorlesungen haben, während der zweite, der dritte und der vierte
Jahrgang in der Dogmatik immer zusammen unterrichtet wird. In der Mvral-
theotogic, die durch zwei Jahre täglich eine Stunde gelehrt wird, sind die
Theologen beider Jahrgänge vereinigt. Die Biowissenschaft wird auch in
demselben Zeitraume in vier Wochenstunden absolviert. Die Kirchengeschichte
ist ein ganz verlassenes Stiefkind; im laufenden Schuljahre wird über aus¬
gewählte Fragen der alten Kirchengeschichte gelesen. In zweijährigem Kurs
M wöchentlich vier halben Stunden wird dieses wichtige Fach erledigt. Die
hebräische Sprache wird im ersten Jahre in zwei Wochenstunden, und die Insti¬
tutionen des kanonischen Rechts werden im dritten Jahre in fünf Wochen-
stunden studiert. In eine Übersicht gebracht stellt sich uns das vierjährige
theologische Studium der Gregoriana dar, wie folgt:
Fakultativ ist der Besuch der Vorlesungen über orientalische Sprachen
(zwei Wochenstunden) und über christliche Archäologie und geistliche Beredsam-
den (je eine Wochenstllndc). Im laufenden Studienjahre wird Aramäisch, über
die historischen Märtyrerkrypten und den zweiten Teil der Homiletik gelesen.
In den letztgenannten drei Fächern wird beim Doktorexamen nicht geprüft.
Es dürfte wohl bekannt sein, daß fast in allen Lehrmistalten Italiens
der ganze Donnerstag an Stelle der Mittwochs- und Samstagsuachmittage
frei ist. Die höhern geistliche» Lehranstalten betrachten sämtlich den Donners¬
tag auch als aufs ito^äernivus. Das Studienjahr der Gregoriana beginnt
nun am 5. November und endigt am 31. Juli. Der ganze Monat Juli ist
jedoch für die Prüfungen vorbehalten, sodaß die Vorlesungen mit Ende Juni
schließen. In den übrigbleibenden acht Monaten giebt es nun plus minus
130 eigentliche Vorlesungstage, nachdem man die Sonn- und Feiertage, die
Weihnachts-, Karnevals- und Osterferien abgerechnet hat. Übertrügt man nun
die Durchschnittszahl von 130 Arbeitstagen für je ein Studienjahr auf die
obige Aufstellung, so ergeben sich für den vierjährigen theologischen Kurs der
Gregoriana 1040 Vorlesungen über Dogmcitik, 260 über Moral, 216 über
Bibelwisfcnschaft, 88 über Kirchengeschichte, 44 über Hebräisch und 110 über
Institutionen des Kirchenrechts.
An den deutschen theologischen Fakultäten der Universitäten werden Vor¬
lesungen gehalten über Dogmatik, Moral, sämtliche Fächer der Bibelwissen¬
schaft, Kirchengeschichte, orientalische Sprachen, Kirchenrecht, Pastoraltheologie,
Patristik, Dogmengeschichte, Pädagogik, Kunstgeschichte, Apologetik, Homiletik,
soziale Fragen und manche andern Dinge, die sich bei der großem Beweglich¬
keit der von Semester zu Semester verschiednen Vorlesungsverzeichnisse nicht
alle aufzählen lassen. Namentlich die öffentlichen Vorlesungen von ein bis
zwei Wochenstunden lassen eine große Zahl von Fragen in die Bildung unsrer
jungen Theologen hineinscheinen, die nicht mit dem engnmschriebuen theo¬
logischen Kurs zusammenfallen. Die Möglichkeit, die Vorlesungen von Nicht-
thevlogen belegen zu können, wovon ausgiebig Gebrauch gemacht wird,
namentlich für die geschichtlichen Disziplinen, erweitert den Gesichtskreis der
jungen Leute ungemein. An der Gregoriana ist eine ähnliche Möglichkeit
nicht geboten. Ein Wechsel in einzelnen Vorlesungen tritt nie ein, sodaß das
Vorlesungsverzeichnis von Jahr zu Jahr dasselbe starre Bild bietet. Die
Gesamtzahl der uichtdogmntischen Vorlesnngsstunden steht um mehr als 300
hinter der der dogmatischen Vorlesungen zurück, 718:1040, woraus sich die
einseitige dogmatische Ausbildung der Studenten von selbst ergiebt. Der fast
völlige Mangel der historischen Fächer der Theologie — die dilettcmtenhafte
Eklektik des Kirchenhistorikerö Professor Maechi kann wirklich nicht ernst ge¬
nommen werden — läßt darum die Ausbildung der Studenten als mit bedauer¬
lichen Mängeln behaftet erscheinen. Eine vollständige theologische Ausbildung,
wie sie unsern Zeitverhältnissen und der aufgewandten Zeit entspräche, wird
an der Gregoriaua nicht geboten.
Die kirchenrechtliche Fakultät ist mit zwei deutschen und einem italienischen
Professor besetzt. Nach zweijährigem Studium, das sich auf zwei tägliche
Vorlesungen erstreckt, kann man zum Dr. juris og-nonioi promoviert werde».
Der italienische Kanonist de Luca hat sich seit einigen Monaten auf das
unliebsamste bemerkbar gemacht dadurch, daß er seine Vorlesungen in Buchform
hat erscheinen lassen und darin die gesamten kanonistischen Anschnnnngen des
Mittelalters als noch rechtsbeständig und zur Anwendung verpflichtend be¬
zeichnet. Das Bedauern des Verfassers erstreckte sich nur darauf, daß man
heilte nicht mehr die genügenden Machtmittel habe, den Staat anzuhalten,
einen von der Kirche verurteilten verstockten Ketzer zu verbrennen, und ähnliche
Dinge. Zur Ehre der beiden deutschen Professoren derselben Fakultät sei es
gesagt, das; sie sich natürlich auf eine derartige hysterische Behandlung des
Kirchenrechts nicht einlassen, vielmehr in wissenschaftlicher Weise nach der
Legalordnung — unter Ausschluß eines Systems des Kirchenrechts — ihr
Fach vertreten. Wenn jüngst ein Jesuit in der litterarischen Beilage zur
Kölnischen Volkszeitung das unbequeme Buch des ?. de Luca abgeschüttelt
hat, so wäre die Kritik doppelt wertvoll gewesen, wenn der Verfasser auch
seinen Namen darunter gesetzt hätte. Denn ebenso gilt wie der thörichte
?. Giammaria Sanna Svlaro L. -l. mit seinem vollen Namen gegen Ulysse
Chevalier und damit gegen die Bollandisten 8. die dessen Buch in der
wärmsten Weise gelobt und als abschließend bezeichnet hatten, loszieht und
sich so eine in der historischen Kritik selten dagewesene Blamage holt, ebenso
gut hätte in diesem Fall der Kritiker des de Lncaschen Buches dessen Preis-
gebung nnr nützen können, wenn er sich zur Unterzeichnung des Aufsatzes
hätte bereit finden lassen. In solchen Fällen nützen anonyme Kritiken gar
nichts, und das Buch wird, wie die Presse zeigt, nach wie vor den Jesuiten
im allgemeinen aufs Schuldkonto geschrieben, bis sich die deutsche Provinz
etwa entschließt, es mit Namensunterschrift ans das energischste abzulehnen.
Da es in diesem Zusammenhange nicht von besondrer Bedeutung ist, die
Philosophische Fakultät — die nach dem Muster früherer Zeiten noch mit
Physik, Chemie, Mathematik usw. belastet ist — des nähern zu betrachten, so
Null ich gleich zu den allgemeinen Bemerkungen übergehn.
Im laufenden Schuljahre wird die Universität besucht von 342 Philo¬
sophen, 590 Theologen und 94 Juristen. Mit ganz verschwindenden Aus¬
nahmen — höchstens 30 im ganzen — gehören die Studenten den zahlreichen
Orden und Korporationen an, wohnen also in ihren Körperteil oder den
einzelnen Erziehungsanstalten und Kollegien, deren Zahl in Rom sehr groß
ist. Sieht man von der Akademie der adlichen Kleriker ub, deren Stellung
durchaus eigentümlich ist, und deren Mitglieder sich ihre theologische Bildung
in jeder beliebigen theologischen Anstalt Roms holen können, so verteilen sich
die jetzt an der Gregoriana studierenden Theologen, wie folgt:
Die vorstehend aufgezählten Theologen folgen dem längern Kurs; die
übrigen gehören zur „kleinen Theologie."
Wenn die aus fremden Ländern stammenden Studenten der Gregoriana,
in die Heimat zurückgekehrt, samt und sonders Professoren der Theologie und
der Philosophie werden konnten, so Hütte schließlich die überwiegende einseitige
dogmatische Ausbildung unter Vernachlässigung der historischen und der prak¬
tischen Theologie nicht so viel zu bedeuten. Da das aber nicht der Fall sein kann,
so muß, so weit nicht innerhalb der Kollegien durch private Vorlesungen für
die Zöglinge diesem Mangel abgeholfen wird, eine mühsamere Antodidaktik an
die Stelle treten, die aber nur in seltnen Fällen einen systematischen Unter¬
richt innerhalb des Lehrplans ersetzen kann. Es dürfte demnach wohl zu deu
dringlichsten Aufgaben der Oberleitung der gregorianischen Universität ge¬
rechnet werden, erstens die kirchenrechtliche Fakultät durch Unschädlichmachung
des ?. de Luca zu sanieren, zweitens um die Einordnung einiger fehlenden
Fächer in den theologischen Lehrplan heranzutreten und den Betrieb der Kirchen-
geschichte von Grund aus zu reformieren, drittens in praktischen Kursen An¬
leitung zu selbständiger wissenschaftlicher Arbeit auf allen Gebieten der Theo¬
logie zu geben, und viertens endlich dem System des Kirchenrechts eine gewisse
Stellung im Unterricht einzuräumen.
Gegenüber den vielfachen Anfeindungen, die die Gregvriana in der letzten
Zeit wegen des ebenso unwissenschaftlichen wie thörichten Buches de Luens
auszuhalten hatte, mit Rücksicht auf das Unheil, das solche begriffsstutziger
tirchenrechtlichen Auffassungen in, den Köpfen der jungen Zuhörer anrichten,
unter Erwägung des überaus schlechten Eindrucks, den das Vorhandensein
eines so zurückgebliebnen Professors in der juristischen Fakultät bei den Re¬
gierungen verursachen muß, sollten die maßgebenden Behörden der vor acht
Jahren geschehenen Reform des Studiums der Universität eine zweite Reform
folgen lassen, um die Hochschule in möglichster Eile auf eine den modernen
Anforderungen entsprechende Höhe zu bringen. Es kann den Professoren doch
gewiß nicht gleichgültig sein, wenn die Regierungen den an der Gregoriann aus¬
gebildeten jungen Geistlichen die Übernahme von Seelsorge- oder andern Stellen
erschweren. Es ist darum ein wohlgemeinter Rat, der in den namhaft gemachten
vier Punkten ausgesprochen wird.
Die Gerechtigkeit verlangt allerdings anzuerkennen, daß der Zuhörerkreis
des ?. de Luca klein ist, indem die juristische Fakultät nur 94 Zuhörer
hat, von denen nur zwei Germaniker sind, und nur einer aus Deutschland
stammt. Die Institutionen des kanonischen Rechts und das öffentliche Kirchen¬
recht, die in den Studienkreis der Theologen fallen, werden von ?. Bieder¬
lack, einem bei uns rühmlichst bekannten und geschätzten Kcmonisten, gelesen,
sodaß de Luca nichts mit den Theologen zu thun hat. Weiterhin ist es eine
seltne Ausnahme, daß Germaniker nach dein siebenjährigen philosophisch-theo¬
logischen Kurs noch zwei weitere Jahre opfern, um das kanonische Recht zu
studieren. Wenn demnach unsre Landsleute für diese Frage außer Gefecht
gesetzt sind, so besteht doch ein sachliches Interesse, daß eine wissenschaftliche
Anstalt von so großer Vergangenheit nicht so minderwertige Professoren in
ihrem Lehrkörper duldet, wie deren gegenwärtig zum mindesten vier vorhanden
sind. Der Ausdruck ,,minderwertig" soll in dem Sinne verstanden werden, daß er
sich ausschließlich auf die mangelhaften wissenschaftlichen Leistungen bezieht.
Meine Informationen über diesen Punkt fließen ans einer durchaus einwand¬
freien Quelle, die nach jeder Richtung hin in der Lage ist, die gesamten Ver-
Hältnisse zu überschauen und zu beurteilen. Es müßte mit der größten Freude
begrüßt werden, wenn die Leitung der Gregoriana die objektive Berechtigung
der erhobnen Einwände anerkennen und möglichst rasch Wandel schaffen wollte.
Ob dabei nicht auch eine Änderung des Prüfungsmodus für die akademischen
Grade, namentlich für die schriftlichen Arbeiten, ins Auge zu fassen wäre,
will ich heute des nähern nicht untersuchen. Sicher ist auch, daß die rein
syllogistische Form der mündlichen Prüfung eine gewisse Einseitigkeit naturnot-
wendig im Gefolge haben muß, wodurch die allgemeine Bewertung der an der
Gregvriana erworbnen akademischen Ehren nicht sonderlich gehoben wird.
er diese Figur des sitzenden gerade von vorn betrachtet, wie
wir es zuerst gethan haben, und wie es die Ausstellung gewiß
zunächst und vielleicht auch zuletzt wieder erfordert, der bemerkt
auf der rotbraunen Marmvrscholle ganz vorn noch einen Block
aus grauschwarzem, weißgeädertem Stein. Durch keine irgendwie
bekannte Form ruft er eine Gegenstaudsvorstellung in uns wach. Erst wenn
wir gewahr werden, daß eine Vogelkralle seitlich daraus hervorsieht, versuchen
wir das Gesieder zu erkennen und finden auch den Kopf, der sich seitwärts
abbiegt mit seinem krummen Schnabel, aber nur unvollständig heraushebt, bis
wir ergänzende Blicke in schräger Richtung zu Hilfe nehmen. Gehn wir
etwas herum, so sehen wir: es ist ein Adler, der sich an den Rand der Fels¬
platte klammert. Und von der einen Seite ist er wunderbar beobachtet, in
seiner Eigentümlichkeit und seinem augenblicklichen Ausdruck mit großartiger
Treue wiedergegeben. Scheu blickt er, blinzelnden Auges meint man, wie
geblendet empor. Die Flügel breiten sich vom Körper, aber nicht zum Fluge,
sondern nur so weit, als rührten auch sie senkrecht an deu Boden, wohl eher,
als senkten sie sich der eignen Schwere folgend nach vollbrachter Fahrt durch
die Lüfte, doch ist anch der Moment der Landung nicht deutlich.
Die Federn sträuben sich um Leibe und bauschen sich zu dicker Fülle um
den Hals; die vorgestreckten Krallen greifen seitwärts entlang, wie zu gleitender
Bewegung des Körpers, als ob das Tier zusammenschaudernd zurückwiche
und sich uicht getraue gerade hinzusitzen. Das bestätigt auch der Anblick vom
Rücken her, der allerdings zugleich eine ganz andre merkwürdige Erscheinung
darbietet: hier wirkt das Federkleid des Adlers wie ein Mantel, als ob sich unter
ihm keine Vogelglieder souderu die Arme eines Menschen bewegte», eines
kauernden geschmeidigen Voltigeurs in dieser übergehängten Verkleidung, deren
schimmernde, glänzende Oberfläche doch die andersartigen Formen durch¬
scheinen läßt. Gern vermeiden wir diesen gaukelnden Schein und halten uns
lieber an den Eindruck von der andern Seite her: da genießen wir ein frap-
pentes Augenblicksbild; aber wir werden auch das Gefühl nicht los, als sei
es in der Gefangenschaft beobachtet, als gehöre zur Situation der Schatteu¬
raum eines Käfigs, mit der Rückwand als Deckung. So scheint der mächtige Vogel
vor dem Anblick eines Ncchctretenden auf dem Rückzug in die dunkle Ecke.
Hierher gesetzt auf die Marmorschwelle tritt er in eine ähnliche Abhängig¬
keit von dem Sitzenden auf dem Thron, und wir fragen: Wie kommt er an
diese Stelle? was ist die Meinung des Künstlers bei dieser unerwarteten
Nachbarschaft? Mit der Wirklichkeitsrechnung, die uns das Festhalten an
der erhaltnen Totenmaske Beethovens und die Spuren der Erschlaffung und
Vergänglichkeit an dem nackten Leibe so unentrinnbar aufgenötigt hat, kommen
wir angesichts des Adlers, der über den Zusammenstoß mit dem entkleideten
Bergsteiger da sichtlich überrascht ist, doch zu nichts als Ungereimtheiten,
die wir gern ohne weiteres abthun würden. In ganz andre Vorstellungen
entführt uns der geflügelte Gast.
Wer durch die Nacktheit des Thronenden und die klassische Draperie
veranlaßt sich auch hier in der klassischen Tradition nach einer Antwort um¬
sieht, verfüllt ohne weiteres auf den Adler des Zeus. Indes, gerade diesen
Begleiter des Donnerers, den wir wohl als Träger seiner Blitze oder als
Entführer Gcinymeds zu sehen gewohnt sind, erblicken wir mit Verwundrung
und Zweifel hier neben einer ganz andern Person. Meint der Vogel, sein
Herr sei auf den alten Hochsitz zurückgekehrt, sodaß auch er wieder zur Stelle
sein müsse, des Winkes gewärtig? Und findet er auf dem verlassenen Thron
des Herrschers nun einen Epigonen, dem dieser Sitz zu groß ist? Das kluge
Tier kann doch diesen Usurpator nicht mit dem Götterkönig verwechseln.
Auch der gutmütigste Philolog würde nur eine Ähnlichkeit mit dem lahmen
Vulkan zugeben und die Konjektur wagen, daß er soeben den ehernen Stuhl
geschmiedet und im Stolze seiner Vollendung wenigstens einmal darauf zu
hocken versucht, dabei aber verdrossen genug dreinschaut, weil er doch nicht
darin zu thronen versteht. Und der Adler, was will dann sein scheues, fast
erschrecktes Gebaren und der seitwärts gewandte Blick? Vor wein würde
sich der Adler des Zeus zusammenkauern? Oder ist es nur der Ausdruck
ganz andrer Begutachtung des majestätischen Eindringlings, der sich mit über¬
geschlagnen Beinen aber geballten Fäusten, also in unverkennbarem Arbeiter¬
pathos an so erhabner Stätte sehen läßt? Wir würden dem Adler nachfühlen:
ein etwas verblüffendes Schauspiel, gleich gut, ob es Vulkan sei, der wenigstens
die Blitze schmiedete, oder gar ein ganz modernes Menschenkind, das vom Reich
Kronions nichts mehr erlebt hat.
Wem aber so sein klassisches Latein ausgeht, versucht es vielleicht mit
dem klösterlichen des Mittelalters. Da sitzt der Adler als Träger der In¬
spiration zu den Füßen des Evangelisten Johannes. Und suchen wir nach
einem Beispiel, das dem modernen Bedürfnis nach innerer Verwandtschaft
zweier so heterogener Wesen am ehesten entspräche, noch ohne aus dem
Vorstellungskreis der christlichen Kunst herauszutreten, so ist es gewiß nicht
ungerecht, an Ghibertis Seher auf Palaos an den Vronzethüren in Florenz
zu erinnern. Auch da sitzt die hagere, feinknochige Gestalt des langbärtigen
Greises wie hingegossen in fließender Gewandung auf dem weiten Gestühl;
die Glieder strecken sich, wie durchschauert von den Offenbarungen des Geistes,
lang aus, und drunten hockt, klein nur, aber in klarer Entfaltung aller
charakteristischen Teile das apokalyptische Tier, sichtlich durchbebt von dem
nämlichen Strom des Empfindens.
Davon kann bei Klingers Adler wohl nicht die Rede sein, wenn wir
den Sitzenden wenigstens nach seinem Kopf als Beethoven anerkennen. Dieser
Vogel weicht wie eingeschüchtert vor etwas zurück, was sein Blick erspäht.
Und hier giebt es nichts so Imponierendes zu schauen; wir können nur an einen
gefangnen Adler denken, der — wer weiß wie — hierhergeraten, sich so
benehmen mochte. Oder soll dieses Wegschieben des Körpers, wie die Neigung
des Kopfes zur Seite, der Ausdruck von Ehrfurcht sein und etwa Huldigung
nach Menschenart bedeuten? Dann muß er mehr erkennen als selbst die schärfsten
Adleraugen, muß das Körperliche durchdringen mit seinein Blick und Geister
sehen, Gedanken lesen auch da noch, wo keine Gebärde des Aufschwungs,
kein verklärtes Mienen spiel den Strom der Tone wenigstens annähernd Ver¬
sinnlicht. Wir gestehn dem modernen Bildner gern das Recht zu. weder die
Tradition des klassischen Altertums noch die des kirchlichen Mittelalters als
bindend mehr anzunehmen. Aber wenn er doch hineingreift in die symbolische
Formensprache, die uns geläufig ist, muß er wissen, was er thut, zumal da, wo
er allzu nahe ein fcstgewordne Assoziationen streift. Will er für den Geistes¬
heroen, der noch lebendig genug zu uns gehört, ein Attribut aus jenen über¬
lieferten Schätzen wählen, dann muß er auch die volle Schöpferkraft einsetzen,
den alten hergebrachten Sinn des Zeichens zu überwinden und einen neuen über¬
zeugend genug um die Stelle setzen. Diesem Adler Klingers ist die nötige
Durcharbeitung für die Rolle im ganzen nicht angediehen — wahrscheinlich
nur dem Block zuliebe, dem köstlichen farbigen Material. Es ist außerdem
ein Adler aus der Gefangenschaft, nicht der kühne Durchsegler der Lüfte, der
auf schwindelnder Höhe lautend durch die Anwesenheit eines fremden Gastes
überrascht wird, oder im kreisenden Flug sich senkend vor der Hoheit des
Geistes in diesem Erdensohn erstaunt. Es ist nicht das stolze Ebenbild der
Begeisterung, dem Goethes Dichterauge bewundernd folgt. Er paßt eben¬
sowenig in die Region der geistig Adlichen, wie der Hammerschmied, dessen
Schädel uns an Beethoven erinnert, bis wir beschämt von dieser Verwechslung
zurückkommen.
Wer aber dein Antlitz des Sitzenden ins Auge zu schauen und das
Rätsel in seinen Zügen zu lösen trachtet, der erkennt, wie schon gesagt worden
ist, in der vorgeschrielmen Vorderansicht den Gegenstand zu seinen Füßen
gar nicht als Adler, sondern sieht nur den grau und weiß gesprenkelten Stein,
der wie ein Nepoussoir am vordern Rande der Bühne wirkt, indem er unsre
Augen veranlaßt, von hier aus die Tiefe des ganzen Bildwerks zu vollziehn,
das sich so wie in einen Kasten einordnet, von der bronzefarbnen Stuhllehne
hinten abgeschlossen.
Die unvollständige Erkennbarkeit der dargestellten Gegenstände bei gerader
Vorderansicht beweist schon, daß das Ganze nicht etwa als Ticfrelief für diesen
einen Standpunkt ausschließlich gedacht ist. Das Werk fordert als rund-
Plastisches die Mitwirkung des uniwandelnden Betrachters, wenigstens noch
von beiden Seiten her, um auch den Adler und sein Verhalten zu der Haupt¬
figur zu erfassen.*)
Die Aussicht, die wir rechts herum schreitend gewinnen, entwickelt sich
jedoch keineswegs befriedigend und bleibt auch, wenn die seltsame Rückseite
des Adlers, aus der ein Froschmensch Hervorsicht, glücklich überwunden ist,
d. h. in voller Breite, störend besonders durch zwei Umstände. Einmal erwecken
die geballten Fäuste, die hintereinander auf dem übergeschlagnen Schenkel ruhen,
von hier aus am stärksten den Schein, als solle wirklich ein Druck auf die
Beinmuskulatur dargestellt werden — ein Motiv, das in diesem Falle doch
wohl nur als unbewußtes Arbeiten mit den Gliedmaßen, d. h, in einem für
den großen Komponisten immer unwürdigen Sinn ausgelegt werden könnte.
Und zweitens stößt der Engelkopf am Rande des Stuhlrückens, eben der Neu¬
gierige mit erhabner Hand, zu weit vor, in den Umriß des Beethovenkopfes
hinein, deu Nur frei und ungehindert verfolgen wollen, um seine ganze Aus-
drucksfnhigkeit zu ermessen.
Am glücklichsten entfaltet sich die Seitenansicht zur Linken des Beschauers,
sodaß man versuchen möchte, sie in ihrer ganzen Breite als die Hauptnusicht
anzunehmen und die rechts dafür aufzuopfern. Nur der stark abfallende Umriß
widerspricht auch diesem Bemühen, dem ganzen Werk seine günstigste Seite
abzugewinnen. Gerade hier ist der Eindruck der Bewegung nach vorwärts
am stärksten, sodaß die Illusion entsteht, als süße der nackte Mann nach an¬
tikischer Art nicht sowohl auf einem Thron als vielmehr auf einem Triumph¬
wagen, der vor unsern Augen weitergezogen würde, und unsre Phantasie
fordert im Vollzug dieser Linienbewegung dann natürlich statt des hemmenden
Adlers ein stolzes Gespann, von Löwen etwa oder Panthern davor, und zur
Ergänzung der Höhe drüben vielleicht gar einen Genius als Leiter auf ihrem
Nacken. Damit soll diese Weiterbildung ins Land der Fabel und Shmbolik
hinüber keineswegs als Verbesserung empfohlen sein; denn man würde den
nämlichen Einwand erheben, wie gegen den Adler. Es bliebe ein Widerspruch
gegen die realistische Durchführung des Porträts, nur mit dem Unterschied,
daß sich das Gewicht der idealen Auffassung so fühlbar verstärkte, daß sie dann
vielleicht die Phantasie mit fortzureißen vermöchte, wie es der gebückte Adler
nicht vermag. Ein Flügelroß im Joche würde freilich dem mühsam grübelnden,
mit seinen Fäusten ringenden Tondichter am genausten entsprechen; denn es
würde auch bei dem kräftigsten Flügelschlag in der Gabel dieses Fuhrwerks
seine Mühe haben: so schwer ist der Großvaterstuhl aus Bronze, trotz aller
Bewegung seines Umrisses und seiner tektonischen Bestandteile geraten.
Die Verbindung dieses Thrones mit der vorgeschobnen Marmorplatte be¬
lehrt uns vollends, daß die Illusion der Bewegung uns nur in die Irre
führt. Das Ganze will nicht nur von vorn und von beiden Seiten betrachtet
sein, sondern auch ganz im Rücken des Sitzenden selber, von der vierten Seite,
wo die Hauptfigur völlig verschwindet. Wenn man bei der Vorderansicht
meinen konnte, hier hinten liege sozusagen die tote Wand, wie in einer neu¬
tralen Nische, und die dunkle Bronzefarbe der Stuhllehne solle eben nur die
Schattenfolie für die helle Figur geben und begrenze sich deshalb oben über
dem Scheitel mit dem dekorativen Reliefstreifen, worin die vier Eugel-
köpfe sitzen, gleichwie mit einer Art Aureole — so wird man beim Herum-
wandern eben wieder eines Bessern belehrt. Wir müssen auch die Rückseite zu
Rate ziehn, so respektwidrig der Aufenthalt dort gegen den Alten im Lehn¬
stuhl sein mag. Und wir verweilen recht lange; denn es giebt viel dort zu
sehen und viel zu bewundern. Sogar ein Zuviel ist ausgegossen: in bildnerischen
Randglossen oben auf dem First, dessen lagernde, kriechende Figürchen mit all
ihrem Reiz nur ebenso stören und ablenken, wie die Grillen und Seitensprünge
des Zeichners ans dem Rand einer Radierung, ja bei den gänzlich verschiednen
Bedingungen der Betrachtung nur noch weniger am Platze sind als jene.
Wir handeln also im Interesse der Hauptsache, wenn wir ganz von ihnen ab¬
sehen, mich dann, wenn sie uns die geistreichsten Beziehungen zu Werken des
großen Komponisten, Ergüsse intimster Anregung des Bildners aus musikalischein
Genießen her zu vertrauen hätten. Aber wer kann an den Außenseiten des Sessels
vorübergehn? Beide Armlehnen sind mit Reliefs gefüllt, die zu dem Herrlichsten
und Reifsteil gehören, was Klinger gelungen ist. Und die Rückwand ist ein
großes Bronzegemülde, dessen Inhalt für das Verständnis der Hauptfigur und
die Bedeutung des ganzen Denkmals zu Ehren der Musik vielleicht noch wich¬
tiger ist als der Adler.
Nur schade, eben deshalb, daß wir bei der gesuchten Aufklärung über
sein Wesen den Beethoven selber dann ganz aus dem Auge verlieren. Dieser
Umstand, der doch nur aus der Wahl des Stück Möbels entspringt, nötigt
den kritischen Betrachter, dem das Wohl der Denkmalsplastik am Herzen liegt,
sich über diese Wahl erst Rechenschaft zu geben, bevor er sich deu Bildern
hingiebt.
Zwei Möglichkeiten kommen vor allem in Betracht, den Sitz für eine
rnndplastische Figur zu gestalten. Die eine, und zwar die spezifisch statuarische,
wählt den Sessel möglichst unscheinbar und unselbständig; nur das Notwendigste
an solchem Sitzapparat wird gegeben, um der thronenden Person selbst ihre
ganze Bedeutung und Unabhängigkeit zu lassen. Dem echten Bildhauer kommt
es nur auf den menschlichen Körper an; seinen organischen Zusammenhang
nach allen Seiten des möglichen Anblicks hin Kar zu entfalten, das ist ihm
die vornehmste Rücksicht; auch wo der Beschauer wirklich nnr den Rücken des
Sitzenden übersehen kann, wird der statuarische Künstler noch die Lage der
Körperteile so sichtbar zu geben versuchen, daß wir dem wohlbekannten Schema
des organischen Menschenleibes vom Scheitel bis an die Sohlen zu folgen
vermögen. Fast möchte man sagen, ein runder Drehsessel sei die günstigste
Sitzgelegenheit für diesen Zweck. Da liegen die unvergleichlichen Vorzüge der
sölig, «zurulis, des Faltstuhls, ohne Rücklehne, jedenfalls ohne geschlossene Rück¬
wand. Auf solchem Herrschersitz spricht nur die Gestalt des Fürsten in ihrer
plastischen Entfaltung und ihrer freien Isolierung ringsum. Durch nichts be¬
hindert und bedingt, erhebt sie sich über dem Niveau der Menge. Freilich
gehört dazu die eigne Majestät der Person, die ihre Hoheit und Haltung auch
im Sitzen bewahrt.
Wo diese königliche Statur, um Haupteslänge die Mannen überragend,
nicht vorhanden oder nicht am Platze ist, muß statt solcher rein statuarischen
Rechnung eine andre eintreten. Dann wird der Eindruck der Majestät, der
überlegnen Bedeutung eines geheiligten Prinzips nicht mehr durch die Gestalt
des Fürsten allein, sondern durch das Symbol seiner Herrschaft, dnrch den
Hochsitz als solchen hergestellt werden können. Die Architektur oder mindestens
die Tektonik wird zur Hilfe gerufen und baut den Thron. Und sobald nicht
mehr ein tabernakelartiger Baldachin nur als Überbau über dem Sessel auch
den freien Durchblick von der Rückseite erlaubt, sondern ein Marmorthron oder
ein gezimmertes Gestühl mit geschlossenem Giebelstück hinten gewählt wird, so
beschränkt sich auch die Ansicht auf die drei vorder» Seiten, und das Ganze
rückt, mehr oder weniger unter Bedingungen der Neliefanschauung, gegen die
tote Wand eines Hintergrunds. Das heißt, die Bedingungen des Bildwerks
bewegen sich von der Freiplastik, der statuarischen Kunst, durch die Stufen der
Reliefkunst hinüber zu deuen der Malerei, d. h. auf den einen fest vorgeschriebnen
Standpunkt für die Betrachtung — eines genullten Bildes.
Der Körper des Thronenden teilt seine Bedeutung mit dem Gestühl, dem
Gehäuse, das ihn beherbergt. Das ist schon eine ganz andre Rechnung, und
sie führt notwendig weiter zur Entwicklung und Betonung des Zusammenhangs
mit den Nachbarkörpcrn, die auf allen Seiten mit ins Auge fallen. Zu diesem
Opfer an Selbständigkeit hat sich Max Klinger entschlossen. Sein Beethoven
ist nur die Hauptfigur in einer Gruppe, die sich aus mehreren Körpern zu¬
sammenschiebt, wie die des Farncsischcn Stieres. Dadurch aber, daß einen der
Hauptbestandteile eben der Thron mit seiner hohen Rückwand ausmacht, ist
die Anschauung der Gruppe selbst auf drei Seiten reduziert, die vierte Seite
ist die tote Stelle, der Hintergrund aller Bildanschauungen des herumwan¬
delnden Betrachters. Was ihm hinterrücks noch geboten wird, wo er den
Helden nicht mehr sieht, bleibt ein Anhängsel, das aus der Einheit des
Ganzen als Werk der Freiskulptur — herausfällt und unverkennbar, als
ob es gar nicht anders sein könnte, in den Anschauungskreis der Neliefplastik,
ja des Malerischen überhaupt hineingleitet. Das ist ein charakteristisches Kenn¬
zeichen der modernen Kuttstbestrebungen, das der Mehrzahl gar nicht zum
Bewußtsein kommt.
Die Neigung zum Malerischen kündigt sich schon in der ungeformten
Marmorschollc an, die so gelassen zu sein scheint, wie die Natur sie bot. Die
nämliche Vorliebe spricht sich auch in der Gesamtform des Thrones aus, wie
in allen Einzelformen, die zum Schmucke daran befestigt sind. Kaum irgendwo
kann von Struktur im tektonischen Sinne geredet werden. Der Eindruck
eines aus eigner Kraft gewachsenen Gebildes überwiegt die Abgrenzung der
gewohnten festen Bestandteile, der Stützen und der Flächen, die alle Regel-
müßigkeit und Bestimmtheit eines Gefüges, wie Steinmetz oder Zimmermann
es in ihrem Material und ihrer Technik zu liefern pflegen, so weit es gehn
mag, verschmähen. Das Ganze bleibt noch sozusagen im Zustande der Be¬
wegung; daher der Anklang wenigstens an die Gefühlsweise des Barocks,
dessen strengerer Stil allerdings von viel ausgesprochnerm plastischem Drange
beseelt ist; daher, besonders von den Seiten her, die Verwandtschaft mit einem
Wagensitz oder Schlitten, von der wir schon gesprochen haben. Die Palmen-
stümmc an den Ecken der Rückwand mit ihren emporgestreckten Wedeln, aus
denen die Engelköpfe herauswachsen, oder den gebognen Zweigen, die der
Schwingung der Armlehnen folgen, verstärken den Schein des vegetativen
Lebens, des Schwankenden in momentaner Spannung, die ein Windhauch
beugen oder zerknicken kann.
Keine Frage, daß uns dieses luftige, wandelbare Wesen durchaus male¬
rischer Elemente vortrefflich in die Traumwelt der Phantasie hinüberleitet,
deren Schöpfungen daraus hervorblühen wie die Elfengesichter unsrer Mürchen-
poesie aus Blättern und Blumenkelchen. Und wieder haben die geistigen
Mächte der Vergangenheit bei der Geburt des neuen Kunstwerks ihr altbewährtes
Zauberlied gesungen. Die mosaische Sage vom Simdenfall des ersten Menschen¬
paares giebt das Thema für das wundervolle Relief der einen Seite, wo
nnter dem fruchtreichen Baum der Erkenntnis Adam und Eva in intimster
Zwiesprache dastehn und flüsternd nur, im Blick der Augen, die sich begegnen,
über dem verbotnen Apfel einander den dunkeln Wunsch ihres Herzens ver¬
trauen. Auf der andern Seite denken wir zunächst an dasselbe Paar in einem
andern Moment an gleicher Stelle des Paradieses. Auch hier ein Fruchtbaum,
nach dessen Zweigen der nackte Mann seine Hand ausstreckt, und ein nacktes
jugendschönes Weib, das knieend die Reize ihres Leibes entfaltet, als höbe
sie bequemer nur eine abgefallne Frucht vom Boden auf. Doch schöpft sie,
wie wir uns belehren, mit einem Gefäß aus dem Wasser. Und die Mythen des
klassischen Altertums wissen ja wohl von der vergeblichen Arbeit der Danaiden zu
erzählen, und die Erinnerung an sie lockt auch das andre Bild der Tantalus¬
qualen aus den Schatten der Unterwelt herauf. Zu deu edelsten Leistungen
moderner Neliefknnst gesellen sich beide, Nur würden fast von klassischer Reinheit
reden, wenn einzelne Teile, ein halb bedecktes Antlitz, ein schnell verjüngter
Arm uns nicht verrieten, wie malerische Anschauung hineinfließt — freilich
auf dem Grunde dieser beweglichen Spannung der gegebnen Fläche durchaus
entsprechend.
Nur die große Darstellung auf der Rückwand des Stuhles nennen wir
kurzweg ein Bronzegemälde, so ebenbürtig den Seitenreliefs sich auch die
Figuren des Vordergrundes herausrunden: zwei obere Drittel gehn ganz in
die Fläche und erlauschen einen weitreichenden Schauplatz mit der Sonne
hinten am Horizont. Hier unten wieder klassische Mythologie, dort oben die
Lehre des Christentums — auf einem Bilde. Aber reiner sich scheidend eben
durch diese Abstufung der plastischen und der rein malerischen Anschauungs¬
weise, klarer in ihrem Gegensatz als „Christus im Olymp." Fast statuarisch
unabhängig erscheint die nackte Gestalt Aphroditens auf der Muschel, die ein
Wcllenhaupt mit seinem Tritoncnantlitz davonträgt — freilich nicht die
schaumgeborne Venus Anndyomeue, die einst im Triumph ans der Meerflut
cmporgetaucht ist, sondern abgewandt, mit erhabnen Arm, am Ende ihres Sieges¬
laufes unter der Souue. Ihre Begleiterin, die Nixe, dreht sich noch einmal um
und ruft, auf dem Rückzug, mit gellender Stimme gewiß, gegen den Felsen,
der hinter ihnen aufsteigt. In heftiger Gebärde kündet, wie in zeternder
Leidenschaft, ein Mann auf dem Vorsprung der Steinwand den beiden
Fliehenden das Schicksal, das sie aus dieser Welt verbannt. Er gehört in
seiner nicht eben vornehmen Laufbewegung und der heftigen Gestikulation
schon einem andern Geschlecht, in der fließenden Gewandung schon zum Bilde
darüber. Trotz der Durchsichtigkeit seiner Kleider muß es ein Apostel des Ge¬
kreuzigten sein. Denn droben auf dem Felsen ist die Stätte des Hochgerichts,
da ragen die Kreuze der Schacher und des schuldlosen, der sich opfert, und
die Seinen trauern in ihrem Schmerz, Ist es Sonnenaufgang einer neuen
oder Sonnenuntergang einer alten Welt? Beide in einem Gemälde vereint
entführen uns flugs in das wundersame Land der Romantik, wo die urewigen
Gegensätze bei einander wohnen. Die Sündhaftigkeit des Fleisches nach semi¬
tischem Glauben triumphiert, und Frau Venus räumt das Feld und schwindet
dahin, um höchstens im Hörselberg noch eine sichere Zufluchtsstätte zu finden,
wo ihre Verehrer — und dazu gehört doch die moderne Generation zweifel¬
los trotz aller Orgien der Häßlichkeit — sie suchen mögen und sich ersüttigen
bis zum Überdruß, der sie gewöhnlich erst den Nachtgestalten der Verzweiflung
in die Arme treibt. Also eine Umkehrung dessen, was uns Kliugers Christus
im Olymp zu veranschaulichen gewagt hatte. Wir folgen einem denkenden
Künstler gern in der Malerei, oder erst recht in graphischer Kunst, auch ohne
Bedenken in ungelöste Probleme, auch auf die Gefahr hin, in Wogendrcmg
und Wellengischt auf der ewig rinnenden Flut der Gedanken das Steuerruder
der Gestaltungskraft seinen Händen entgleiten zu sehen und die klaren Bilder
der Form aus den Augen zu verlieren. Hier aber an einem Denkmal aus
festem Material erhebt sich ein Mahnruf gegen solche Traumgebilde. Und
wenn wir unter jenen Marmorzügen vorn eben Beethoven erkennen sollen
und keinen andern, so fragen wir: Was berechtigt gerade diese Mythen der
Vergangenheit, hier an seinem Hochsitz zu erscheinen?
So wird gewiß mancher von den musikalischen Verehrer,? unsers großen
Komponisten forschen; und im Bemühen, einen motivierten Zusammenhang
mit den Schöpfungen des Helden, dem doch das Denkmal gewidmet ist, zu
entdecken, mag er sich in die Willkürlichkeiten unsrer Programm-Musik verwickelt
glauben. Geben die Meisterwerke Beethovens eine Unterlage für solchen Vor¬
stellungslauf, und charakterisiert die Veranschaulichung gerade dieser Gegensätze
seine Individualität, im Unterschied von andern Musikern? Oder sind solche
Erläuterungen der Geistesthaten Beethovens doch zu allgemeine Andeutungen
der geistigen Atmosphäre überhaupt, vielleicht nichts andres als Klingersche
Phantasien über Kompositionen, die unser aller Eigentum geworden sind?
Wenn in der Folge der lebende Künstler, der soeben diese Huldigung an
Beethoven geschaffen hat, zurücktritt hinter seinem Werke, so wird man in
diesen Reliefbildern immer nur Allegorien auf das allgemeine Ringen zwischen
klassischer Überlieferung und romantischem Bestreben, zwischen heidnischer und
christlicher Weltanschauung vielleicht erkennen. Sollten wir mehr darin sehen,
das sich auf Beethovens Stellung in der Geschichte seiner Kunst oder auf
charakteristische Eigentümlichkeiten seiner Meisterwerke bezöge, so würden wir
nach einem weitern Ausweis dieser Ansichten verlangen, d. h. wieder einen
Kommentar nötig haben, der sie uns annehmbar machte in all ihrer Sub¬
jektivität. Da liegen die Fährlichiciten all solcher Gedankenmalerci.
Bei einem statuarischen Denkmal vollends wollen wir von philosophischer
Betrachtung bei Gelegenheit des Gefeierten und noch so tiefsinnigen Hirn¬
gespinsten der Poeten nichts wissen, sondern rechnen mit der sinnlichen An-
schanung, die der Bildhauer ganz verkörpert hat, allein. Daraufhin habe»
wir noch einen Einwand gegen diese Zuthat auf den Rückseiten zu erheben-
Sie mochten am Sockel der Gruppe ringsum ihre Stelle finden, falls dieser
nicht auch, der bunten Mnrmvrscholle vor dein Thron gemäß, als roh-
gelassener Felsblock gedacht werden soll. In der festen Umrahmung eines
tektonischen Aufbaues vermögen wir unbeirrt solche Begleiterscheinungen auf¬
zunehmen, weil sich dann ihr Bereich bestimmt und fühlbar genug aussondert,
und jede Verschmelzung mit der Hauptvorstellung des Bildwerks selber aus¬
geschlossen bleibt. Dort mögen sie zur Vorbereitung des Verständnisses oder
zur Vertiefung des Sinnes beitragen gleichwie ein begleitendes Wort im Laufe
der Betrachtung. Oder, wer hätte nicht gern eine ganze Reihe von solchen
Tafeln ein den Wänden eines Heiligtums, in dessen Mitte dieser Beethoven
thronen mag. Um so lieber, wenn bei gehöriger Ausbreitung und Verteilung
des mannigfaltigen Stoffes, den Beethovens unvergängliche Meisterstücke bieten,
die Zusammenjochung heterogener Dinge in demselben Bilde vermieden würde,
sei es auch zu Ehren der Klarheit und Harmonie des Meisters selber und
nicht nur zu Gunsten eines echten, völlig mit sich selbst übereinstimmenden Stils
der Neliefkunst.
So aber, um der Rückseite des Thrones, werdeu diese Bronzereliess ent
weder zu rein dekorativen Bestandteilen degradiert, die der Beschauer des Denk¬
mals um so weniger eines Blickes zu würdigen brauchte, je eifriger und nach¬
haltiger er sich in die Gestalt Beethovens selbst vertieft. Oder, wenn es ihm
nicht gelingt, festzuhalten, was die Einzelfigur für sich zu sagen weiß, wenn
er unstät herumgetrieben wird, von einem Standpunkt zum andern, so drängt
sich diese Bilderseite gerade an dem Punkt ein, wo eine Zusammenfassung
aller Ansichten im Sinne einer Gesamteinheit erfolgen sollte. Dieser Teil des
Ganzen bewirkt unfehlbar, daß alle übrigen wieder auseinandergehn; denn
nun bietet sich von keiner Seite her ein vollständiger und erschöpfender Anblick
der ganzen bildnerischen Schöpfung dar.
Das Ganze ist weder als Statue noch als Bild einheitlich gedacht,
sondern die Stücke müssen nacheinander abgelesen werden und können, da kein
gemeinsames überall sichtbar gegenwärtiges Bindeglied vorhanden ist, nicht zur
Synthesis in der Anschauung gelangen. An der kritischen Stelle werden Nur
in das unsichtbare Reich der rein geistigen Vorstellungen hinübergelockt und
können nur noch in der poetischen Phantasie ein Surrogat für die gesuchte
Einheit finden. Ohne Zweifel find es die Gewöhnungen der Malerei und be¬
sonders der graphischen Kunst, wie deren cyklische Komposition, die dem Künstler
hier gefährlich geworden sind. Je unverkennbarer er neuerdings auf das eminent
Plastische hinaus will, desto mehr kommt es darauf an, diese psychologische
Peripetie in der Konzeption des Ganzen aufzuweisen. Es ist gewiß im Sinne
des denkenden Künstlers, wenn wir es aussprechen, auch wenn es im Kreise
der Kunstfreunde für verboten gilt, einem Bildner sozusagen in sein eigenstes
Handwerk hineinzureden. Jeder wahre Künstler weiß, daß gerade in diesen
geheimsten Wendungen des schöpferischen Prozesses die Selbstbeobachtung oft
im Stiche läßt, die im Vollzug, der Hände Werk, ganz uns technische Dinge
konzentriert wird. Im Grunde handelt es sich dabei gar nicht um ein aus¬
schließliches Handwerk, sondern um unser gemeinsames Seelenleben, vielleicht
gar um eine Schwäche, eine Krankheit unsrer Zeit, bei deren Diagnose und
Heilung jeder Arzt willkommen sein sollte.
Erinnern wir uns mir an jene Stelle, wo die Engelköpfe in die Sphäre
des Tondichters hineinragen. Durch sie gerade wurden wir schon früher zu
der Frage geführt, wie weit harmonische Farbenwirkung erreicht sei, und ob
die Beleuchtung in diesem Wiener Ausstellungsraum vielleicht dem Zusammen-
gehn zu einheitlichem Gesamteindruck hinderlich sei. Daß diese Frage sich auf¬
warf, sagte schon, daß die Einheit des Ganzen nur von einem ausgesprochen
malerischen Standpunkt aus gesucht werden könne. Wir kamen dort zu einer
verneinenden Antwort, und vermögen auch jetzt nur, sie angesichts der ganzen
Rückseite zu wiederholen: diese an sich dunkel gefärbten Reliefbilder verlangen,
um uns ihre formalen Schönheiten, geschweige denn ihren geistigen Inhalt zu
enthüllen, gutes Licht, Beleuchtung von der hintern Seite her, wo wir im
Interesse der Gesamtanfnahme des Übrigen einen Schatteuraum voraussetzten.
Schon dieses Bedürfnis nach einem Hintergründe oder Schattendunkel
schließt, wenigstens für die drei Hauptcinsichtcn des Bildwerks, die andre Mög¬
lichkeit aus, zu deren Annahme uns die vierte veranlassen könnte: daß es für
die Aufstellung unter freiem Himmel gearbeitet sei. Dafür ist auch der Ma߬
stab des Ganzen zu klein, und die Zusammensetzung ans verschiednen Material
gewiß uicht geeignet. Die Kostbarkeit der Stoffe, wie die ungetrübte Erhaltung
ihrer Farbeneffekte verlangt die Aufstellung in einem Innenraum ebenso be¬
stimmt, wie die Größe, in der die Gruppe gedacht ist.
Sollen wir nicht im Sinne des Gegebnen diesen Innenraum auszudenken
versuchen? Gewiß dürfte er so kahl und öde nicht sein, wie die Badehalle
mit ihren leise plätschernden Vassius voll böcklinblauen Wassers, die uns so
vollständig irre gemacht hatte, als wir eintraten. Die farbige Schöpfung
Klingers, in der Mitte eines Festsaales, eines Foyers im Theater oder im
Konzcrthnus aufgestellt, verlangt auch eine farbige, der üppigen Pracht und
gewollten Abstufung seines Materials entsprechende Dekoration der ganzen
Umgebung. Farbige Marmorsäulen mit vergoldeten Bronzekapitülen, mit
Nronzereliefs in der warmen, glänzenden Inkrustation der Wände und prunk¬
volle Vorhänge von Sammet und Seide dazwischen, die zu dem Dreiklang
der durchleuchtenden Farben des Denkmals, dem violetten Rotbraun des
Sockels, dein goldigen Gelb des Gewandes und dem Grünblau der Pfauenaugen
am Randstreifen als Folie und Vorbereitung gestimmt sind. Der Mosaikschimmer
in den Räumen spätrömischer Kaiserzeit verspräche das harmonische Milieu.
Dann erst wüchse das .Kleinod wie natürlich aus der Mitte einer solchen Farben¬
schöpfung auf, deren Reflexe sogar das Weiß des nackten Marmorkörpers be¬
leben und den Kopf, der jetzt so empfindlich der Vermittlung entbehrt, mit
einem Abglanz des Goldes um die Stirn in sich aufnehmen würden.
Aber die Verehrer Beethovens würden sich, soweit sie wenigstens zur ältern
Generation gehören, ohne Zweifel befremdet fühlen, eben durch die üppige Polh-
chromie und den halbbarbarischen Materialstil dieses Saales. Ist das unser Beet¬
hoven? fragen sie. Würde er selbst mahl am ersten solche orientalische Huldigung
verschmähen? Freilich, mit dieser durch und dnrch „malerischen Behandlung" des
Bildwerks würden auch die innern Widersprüche der Auffassung und der Durch¬
führung des selbstgewählten Borwurfs kaum beseitigt werden; denn diese liegen
auf dem Gebiete des Geistes, des Denkens ebenso wie des Taktes, im geheimnis¬
vollen Schoß des Gefühls, d. h. der Seelenharmonic. So, wie das Werk da¬
steht, bezeugt es nur, wie schwer auch ein geistig hochstehender Künstler, vielleicht
gerade dieser erst recht, zu einer einheitlichen Ausgleichung seiner Denkweise
wie seiner Formensprache gelangt. Motive ganz verschiedner Darstellungskreise
und Jdeenzüge, nicht nur der Kunstgattungen, sondern auch der Weltanschauungen
sogar laufen hier unvermittelt durcheinander. Klassizismus und Romantik haben
an der Wiege dieses Werkes gesessen und sich nacheinander den Vorrang streitig
gemacht, ohne daß es dem Künstler — im Lauf eines Jahrzehnts der Arbeit —
gelungen wäre, diese widerstreitenden Prinzipien mit der unbefangnen Freiheit
des eignen Wollens zu bewältigen und eine moderne Schöpfung, ganz andrer
Sinnesart vielleicht, aber jedenfalls ans einem Gusse Hinznsteilen.
Ein solches Werk wie dieser Beethoven Klingcrs bedeutet in meinen Augen
noch keine abschließende, ausgereifte, mit sich selbst übereinstimmende Lösung des
Problems, sondern es zeigt für den kundigen Beobachter, deutlicher als mancher
glücklich gelungne Einzelwurf, alle Symptome eines Übergangs, der hoffentlich
doch die Zeit der Reife, die Nur alle ersehnen, herausführen wird.
nhrcnd man in der Rheinprovinz und in Süddentschlnnd die Nach¬
forschung nach römischen Altertümern schon seit längerer Zeit mit
Eifer und Erfolg betrieben hatte, war in Westfalen lange Zeit
die Thätigkeit auf diesem Felde zurückgeblieben. Und doch konnte
mau mit Sicherheit erwarten, daß die'Römer auch hier zahlreiche
Spuren ihrer Wirksamkeit hinterlassen haben müßten, und daß
namentlich an den Ufern der Lippe, in einer Richtung, die sie oft genug gezogen
waren, in einem Gebiete, das sie mehr als ein halbes Jahrhundert lang besetzt
gehalten hatten, Denkmäler ihrer kriegerischen und ihrer friedlichen Schöpfungen
nachgewiesen werden könnten. Schon die Funde mancher römischen Münzen,
Waffen und andrer Geräte, die man hier und da zufällig aufgelesen hatte, und
über die sogar im Münsterscheu Museum zum Teil die Kataloge Auskunft
gaben, forderten sicherlich dazu ans, endlich einmal systematische Nachgrabungen
vorzunehmen, und dies um so mehr, als schon im Jahre 1838 der Oberst¬
leutnant Schmidt im Großen Generalstabe ein römisches Kastell auf dem Anna-
bcrge bei Haltern aufgefunden und eingehend beschrieben hatte. Gleichwohl
geschah in den Untersuchungen jahrzehntelang so gut wie nichts.
Von neuem wurde das Interesse für diese Wissenschaft erst wieder rege,
als mit Unterstützung des Knltusministerinms im Jahre 1878 die Lvkalunter-
suchungen des Hauptmanns Hölzermann ans dessen Nachlaß veröffentlicht
wurden. Hölzermann ging wie Schmidt von dem sehr richtigen Gedanken aus,
daß die Römer, um ihre'Eroberungszüge bis ins Innere Deutschlands aus¬
zudehnen, die Straßen an den Ufern der Lippe entlang mit einer Kette von
Befestigungen gesichert haben müßten. Auch bezeichnete er einige der noch
sichtbaren Wege und Verschanzungen als solche Nömerwerke, ohne indessen den
Anspruch zu erheben, damit zu einem endgiltigen Abschlüsse gelangt zu sein.
Dieses Endergebnis konnte ja anch um so weniger schon damals gewonnen
sein, als es dem sonst so verdienstvollen Forscher leider nicht möglich gewesen
war, mit dem Spaten daS ursprüngliche Profil der Wallgrüben festzustellen
und eine planmäßige Nachsuchung nach Kleiualtertümcru vorzunehmen. Wirklich
haben denn auch, nachdem vor kurzem durch die Westfälische Altertumskommissiou
die Arbeit wieder aufgenommen worden war, wenigstens zwei der einst von
Hölzcrmann als römisch bezeichneten Anlagen, die Burg auf den Hüuenknäppen
bei Dolberg sowie die Bumannsburg den frühern Anspruch wieder fallen lassen
müssen. Sie haben sich als Anlagen karvlinyischer Befestigungskunst heraus¬
gestellt.
Ein völliger Umschwung aber kam erst in die Untersuchung, als man
dazu überging, die Stelle wieder zu durchforschen, in der einst Schmidt das
Vorhandensein eines römischen Kastells nachgewiesen hatte. In der That war
es ein glücklicher Gedanke der Westfälischen Ältertumskommission, die sich im
Jahre 1896 unter der Leitung des Professors Fink in Münster gebildet hatte,
hier den Spaten anzusetzen. Die Untersuchung wurde dem Direktor des Kestner-
museums in Hannover, Schuchhardt, übertragen, der soeben durch die Auffindung
von etwa einem halben Dutzend angeblich römischer Kastelle in den Gegenden
der Hase und am Deister in den Ruf eines findigen Archäologen gekommen
war. Da ihm überdies mit Martin Trautwein ein in der Aufdeckung von
Limeswerkeu wohlcrfahrner Vorarbeiter an die Hand gegeben wurde, so lies;
sich wohl erwarten, daß bei den reichlich zur Verfügung gestellten Mitteln die
Aufgabe, jene noch von Schmidt gesehenen Verschanzungen wieder aufzufinden,
wohl gelingen werde.
Dennoch waren die ersten Tnstungen Schuchhardts im Sommer 1899
recht planlos und deshalb ergebnislos. Hier und dort gezogne Versuchsgräben
zum Teil von 79 Metern Länge, bald zu weit nach außen, bald zu weit nach
innen, ergaben zwar einzelne römische Scherben und bewiesen, was man vorher
wußte, daß der Boden klassisch war, ließe» aber keine Spur von einer Be¬
festigung erkennen. Erst nach andauernden Versuchen gelang es, auf der Nord-
Westseite — in einer Länge von 72 Metern und einer Tiefe durchschnittlich von
1^ Meter — im gewachsenen Mergelboden die Spitzen des gesuchten Lager-
grnbens zu erkennen, und Schuchhardt konnte noch im Herbst desselben Jahres
auf dem Bremer Philologentage mit Befriedigung verkündigen, daß rechts vom
Niederrhein ein „entschieden römisches Kastell in den letzten Monaten seinen
Kopf aus der Erde gestreckt" habe.
Dennoch wollten auch die nächsten Untersuchungen Schuchhardts lauge
Zeit nicht vorwärts kommen, wofür er als Ursache den Umstand angab, daß
in frühern Jahren der Boden allzusehr durchwühlt worden sei. In Wirklichkeit
waren die falschen Voraussetzungen Schuchhardts an dem Mißerfolge schuld.
Anstatt nämlich die Mitteilungen Schmidts, der deu Umfang des Lagerplatzes
auf 1380 Schritt, das ist, nach Schuchhardts eignen Schützungen, auf ungefähr
105V Meter angegeben hatte, seinen Berechnungen zu Grunde zu legen, ver¬
kürzte er willkürlich die Walllünge auf weniger'als 700 Meter. Auch konnte
er trotz der entgegenstehenden Angabe» Schmidts lange Zeit dein Gedanken
nicht entsagen, daß die Gestalt des Lagerplatzes ein möglichst regelrechtes Viereck
mit natürlich geraden Linien gebildet haben müsse. Denn für die Form der
römischen Erobefestigungen waren damals die Funde an dem Limes noch ver¬
bindlich, und Wälle mit ein- und ausbiegenden Linien, wie sie doch kurz vorher
von dem Verfasser dieses Aufsatzes bei dem Lager des Habichtswaldes, übrigens
mich schon bei deu Cäsarlagern in Gallien vor Jahren nachgewiesen worden
waren, galten damals noch in manchen Kreisen für „absolut unrömisch." Man
braucht sich uur die in dem ersten Bande der Mitteilungen der Westfälischen
Altertumskommission gezeichnete Gestalt des Lagers als saubres Paralleltrapez
anzusehen, wenn mau erkennen will, wie trotz der Direktiven Schmidts Herr
Schuchhardt völlig in die Irre ging. Dann wieder erschien in seinen Zeich¬
nungen eine Art Dreieck, wie er den Gegenstand nannte, oder besser eine
Figur in regelrechter Herzform, bis endlich nach langem Suchen der nunmehr
bekannt gemachte Riß gewonnen wurde, für den dann freilich die von Schmidt
bemerkten vier Seiten eine von dem ursprünglichen Schuchhardtschen Plane
ganz verschiedne Lage angenommen haben. Ja man kann nunmehr nur uoch
uneigentlich von einem Vrereck, freilich noch viel weniger von einem Dreieck,
eher noch von einem Siebeneck sprechen. Am richtigsten bezeichnet man den
Lngcrumfaug als eine sehr ungleichmäßige Figur mit teils einbiegenden Seiten
und teils ausschweifenden Ecken. Dagegen bestätigt sich, das; die Länge des
Walles mit 1050 Metern von Schmidt völlig richtig ausgemessen worden war.
Auch die Feststellung der Grnbenprofile brachte manche Überraschung. Zu¬
nächst zeigte sich, daß die Anschauungen, die man früher über die Breite und die
Tiefe der Kastellgräben hatte, auf übertriebnen Vorstellungen beruhten. Als der
Verfasser dieses Aufsatzes bei Mehrholz wie bei Iburg Lagergräbcn von 3 bis
Metern Breite lind einem Meter Tiefe auffand, meinte man, diese Gräben
wegen ihrer geringen Dimensionen als unrömisch zurückweisen zu müssen, und
erst recht die des Habichtswaldes, die bei gleicher Breite durchschnittlich nur
die halbe Tiefe zeigten, obwohl uns Taeitus doch berichtet, daß die Gruben
des zweiten Vnruslagers im Teutoburger Walde auffallend flach gewesen seien.
Nun fand aber auch Schuchhardt überall nur schwache Grcibcnspuren in dem ge¬
wachsenen Boden vor, und erst mit Hinznrechnling der auf diesem liegenden
Kulturerde kam er zu eiuer durchschnittlichen Breite von 4 Metern und einer
Tiefe von 1^ Meter. Bei geringerer Tiefe, meinte er, würde „gar kein nor¬
maler römischer Graben zu konstruieren" sein. Wenn also der Einschnitt in
den Boden auf der Nordseite des Lagers teilweise nur eine obere Breite von
3 Metern kund weniger) und eine Gesamtticfe zum Teil von uur 0,90 Meter
aufzuweisen hat, so folgert er daraus, daß hier „die Oberfläche seit römischer
Zeit durch Abplnggen verloren haben" müsse. Erscheint diese Annahme von
vornherein als willkürlich, so wird sie hinfällig durch folgende Erwägung.
Auf Seite 178 der „Mitteilungen der Westfälischen Ältertumskominission"
Bd. II giebt uns Schuchhardt mit der Abbildung von Stich 15 eine Zeichnung,
die in mancher Hinsicht höchst belehrend ist. Hier hatte sich nämlich unter einer
schwachen Humusdecke der Wall in einer Breite von 4,30 Metern und einer
Höhe von 1^/2 Meter noch erhalten. Denn der Wallkörper „bestand aus
Hellem, lockerm Sande und setzte von dem benachbarten schmutzigen deutlich
ab." Da also das Erdreich beiderseits aus Sand bestand, so ist die Annahme,
daß der Inhalt des Walles vielleicht im Lauf der Zeiten durch andres Erd¬
reich hinabgespült sei, gänzlich ausgeschlossen, und dies um so mehr, als „am
Fuß der innern Abdachung" in Spuren „von Rasen- oder Heideplaggen" der
alte Belag des Erdaufwurfs noch wiederzuerkennen war. Bor dem Walle
wurde ein Graben von 1,65 Meter Breite und 0,85 Meter Tiefe vom innern
Grabcnmnde ab gemessen, oder von 0,50 Meter Tiefe, verglichen mit dem
äußern Grabenrande — soviel senkt sich der Boden nach außen —, im ge¬
wachsenen Erdreich festgestellt. Nach der Annahme Schnchhardts freilich wäre
mit Hinzurechnung des Kulturbodens der Graben 5 Meter breit und 1,80 Meter
tief gewesen.
Nun liegt aber, wie mau uach Schuchhardt erwarten müßte, der gefundne
Wallkörper mit seinem weißen Sande keineswegs auf dem „schmutzigen" Knltnr-
lande, sondern unmittelbar auf der gewachsenen Erde. Es geht also gar nicht
an, die Tiefe und die Breite des Grabens bis zur gegenwärtigen Höhe des
Bodens hinauf zu messen, sondern der ursprüngliche Graben findet mit 1,65 Meter
Breite und 0,67 Meter Tiefe — ich lege den Höhendurchschnitt der Grnben-
rcinder der Messung zu Grunde - in dem gewachsenen Erdreich seine natür¬
liche Begrenzung. Hieraus folgt nun aber weiter, daß die Annahme, es müßte
überall bei der Feststellung des Grcibenprosils bis zur gegenwärtigen Höhe des
Erdreichs gemessen werden, ans einer irrtümlichen Voraussetzung beruht. Mit
größerer Wahrscheinlichkeit muß vielmehr die Tiefe und die Breite der Gräben
auf derselben Linie, in der der Schnitt 15 gezogen wurde, und so auch wohl
an andern Stellen diesem Verhältnis entsprechend als bedeutend geringer an¬
genommen werden. Der Unterschied zwischen der einstigen und der jetzigen
Höhe der Bodenfläche muß dann wohl auf Abschwemmung aus dem Innern des
Lagerplatzes nach dem tiefer liegenden Rande hin, wo sich die Masse vor dem
Walle staute, zurückgeführt werden. Das entspricht auch den Beobachtungen,
die man ein dein Orte der später bei Haltern entdeckten Kastelle, wo ebenfalls
bedeutende Abschwcmmuugeu seit den Römerzeiten nachgewiesen sind, gemacht
hat. Auch wird diese Annahme dnrch den Umstand noch bestätigt, daß der
Kulturboden im Innern des Lagerplatzes durchschnittlich nur halb so tief wie
an den niedriger liegenden Rändern ist. Ist das Verhältnis aber so, dann
ist es anch ganz unstatthaft, sich mit dem Auskunftsmittel zu begnügen, daß das
Grabenprofil im Norden des Kastells durch „Abplaggen" seit den Römerzeiten
eine Reduktion erfahren habe. Vielmehr hat der Graben hier mit seiner Breite
von 1^/» Meter und seiner Tiefe von einem Meter ganz oder annähernd die ur¬
sprüngliche Form bewahrt, weil hier bei dein geringen Abfall eine Abschwemmung
des Erdreichs wenig oder gar nicht vorgekommen ist. Vielleicht mochte hier
anch der Waldbestand eine derartige Veränderung des Bodens von alters her
verhindert haben.
Man sieht hieraus abermals: die Vorstellung von den mächtigen Festungs¬
gräben, die die Römer überall vor ihren Wällen aufgehoben haben sollen,
muß in den Köpfen mancher unsrer Archäologen erst gründlich vernichtet werden,
wenn sie zu einer vernünftigem Erkenntnis der Verhältnisse gelangen wollen.
Die Gräben waren bei den Befestigungen der Römer gar nicht das hauptsäch¬
lichste Mittel der Verteidigung — denn sie fehlten hiu und wieder völlig —,
sondern die Wälle mit ihren wohlgeübten und wvhlnuSgerüsteten Soldaten.
War das aber der Fall bei einem Kastell, wofür wir ohne Zweifel die Be¬
festigung auf dem Annaberge halten müssen, so wird doch auch wohl nichts
dagegen einzuwenden sein, wenn man bei Mehrholz oder Iburg römische
Lagergräben von drei Metern Breite und einem Meter Tiefe, jn im Habichtswalde
von noch geringerer Tiefe aufgefunden hat.
Eine andre Thatsache können wir aus den Veröffentlichungen Schuchhardts
lernen, nämlich daß das Profil der Grube» an den verschiednen Stellen eines
Lagers unter Umstünden höchst ungleich war. So kommen hier Gruben vor,
bei denen das Verhältnis der Tiefe zur Breite verhältnismäßig groß ist. Andre
Stellen weisen dagegen eine flache Form anf. Das Profil von Schnitt 8 des
ersten Bandes der ^Mitteilungen der Wests. A.-K." S. 73, den Schuchhardt
freilich in dem zweiten Bande nicht wiederholt hat, unterscheidet sich kaum von
dem Profil des Grabens unterhalb der Eisenschmelze des Lagers in dem
Habichtswalde, wie es hier in dem Diluvium deutlich nachgewiesen werden
konnte. Wieviel aber von der Kulturerde hinzuzunehmen Schuchhardt berechtigt
ist — im Habichtswalde läßt sie sich auf 17 bis 20 Centimeter berechnen —,
bleibt völlig zweifelhaft. Auch bei Schnitt 1 erreicht die Gegenböschung nur
eine Höhe von 14 Centimetern. Bei Schnitt 12 ist gnr keine Gegenböschnng vor¬
handen, Eigentümlichkeiten, wie sie auch im .Habichtswalde stellenweise bei
Stcilabfcillen beobachtet worden sind. Ja sogar muldenförmige Aushöhlungen
statt der Grabenspitzen, wie bei Schnitt 13, 35, 36 und 37, fehlen strecken¬
weise nicht.
Schnchhardt hat auf Seite 182 der „Mitteilungen" auch eine Rekonstruk¬
tion des Walles vorgenommen. Bei der Ungewißheit indessen, wieviel von der
Kulturerde, die heute den gewachsenen Boden bedeckt, bei Schnitt 36-i abzurechnen
ist, kann ein derartiger Versuch natürlich anf Wahrscheinlichkeit keinen Anspruch
machen. So ist denn auch nicht abzusehen, wie lang die auf etwa 4^/g Meter
geschätzte Palissade in Wirklichkeit gewesen ist. Ebenso erscheint die Annahme
einer Berne bei Gruben von so geringer Tiefe unbegründet. Sonderbarer¬
weise hat Schnchhardt, der anfangs die Berne ilnmittelbar vor der Palissaden¬
reihe annahm, dann aber auf eine Vorstellung des Oberstleutnants Dahin diese
etwas weiter nach dem Graben hin zurückzog, wie die auf seiner Zeichnung
vorgenommne Korrektur noch jetzt erkennen läßt, in dem Kulturboden zweimal
eine verschiedne Fortsetzung der innern Grabenschräge vorgenommen. Beidemal
bilde» diese Fortsetzungen aber mit der Böschung des gewachsenen VodenS
keine geraden Flächen. Ein solches Verfahren zu Gunsten vorgefaßter Mei¬
nungen erscheint denn doch recht willkürlich oder unstatthaft. War vielmehr die
Zeichnung der Böschung im gewachsenen Boden richtig, so mußte ihre Fort¬
setzung und die Verlängerung als Wallböschung — unter Annahme eines tiefern
Standes der ursprünglichen Oberfläche — ungefähr vor der Palissade endigen.
Wir werden also richtiger anzunehmen haben, daß der Wall ohne Herstellung
einer Berne aufgeschüttet war.
Schuchhardt hat auch die Spuren zweier hölzerner Thore sowie einer
Anzahl hölzerner Türme in dein nördlichen Abschnitte des Lagerwalles nach¬
gewiesen. Auf eine Besprechung dieser Gegenstände, über die nur im Augen¬
blicke der Grabungen ein richtiges Urteil gewonnen werden konnte, müssen
wir jedoch verzichten.
Ein zweiter Aufsatz Schuchhardts in dem zweiten Bande der westfälischen
„Mitteilungen" beschäftigt sich mit der Frage nach der Lage des Kastells Aliso.
Er meint: Als man zuerst die Grabungeu auf dem Ännabergc in Angriff
nahm, dachten wir noch nicht an die Alisofrage. Erst in dem Bericht, den Cvnze
am 8. März 1900 der Berliner Königlichen Akademie der Wissenschaften vor¬
legte, so behauptet er, „durften wir aussprechen, daß man mit der Wahrschein¬
lichkeit zu rechnen habe, daß diese Stätte Aliso sei," oder, lvie es ivohl richtiger
heißen muß, daß dem vou ihm wiedemusgegrabnen Kastell auf dem Annaberge
„sicherlich" dieser Name zukomme. So hatte er sich nämlich schon früher aus¬
gedrückt. Das Geständnis, das Schuchhardt hier ablegt, muß freilich überraschen.
Denn wenn die Gründe, die er «us der Lage Hnlterns entnimmt, wirklich für
die Verlegung Alisos an diesen Ort entscheidend sein sollen, so hätte man er¬
warten dürfen, daß sie auch vor dem Beginn der Ausgrabungen auf dem
Annaberge erwogen worden wären. Im andern Falle regt sich der begründete
Verdacht, daß die strategischen Auseinandersetzungen, die er nunmehr vorträgt,
erst eine Folge der Einbildung gewesen seien, die berühmte Festung wirklich
aufgefunden zu haben. In der That sind denn auch die Gründe, die er für
die Gleichstellung Halterus mit Aliso anführt, wenig überzeugend.
Allerdings müssen wir ihm darin Recht geben, daß Aliso nicht bei Eisen ge¬
legen haben kann. Aber was er Stichhaltiges gegen die Annahme dieser Befestigung
an der obern Lippe geltend macht, ist doch nicht neu, sondern findet sich schon
in den Schriften des Verfassers dieses Aufsatzes. Insbesondre hat der Haupt¬
grund, daß Germaniens im Jahre 16 unmöglich erst bis in die Nähe von
Paoerbvrn vorgerückt sein kann, um dann kurz darauf den weiten Weg durch
die Nordsee, die Eins hinauf und weiter nach der Weser zurückzulegen, schon
in diesen Schriften seine genügende Würdigung gefunden. Aber Schuchhardt
täuscht sich, wenn er meint, daß nach der Beseitigung Eisens mir noch Haltern
übrig bleibe. Vielmehr steht doch die Sache so, daß sich gegen diesen Ort noch
immer recht ernste Gründe erheben, daß aber gegen die Versetzung Alisos nach
dem Zusammenfluß der Asse mit der Lippe, d. h. nach Hamm, auch nicht ein
schlagendes Nrgnment bis heute vorgetragen worden ist.
Andre Gründe, die Schuchhardt anführt, sind belanglos oder irrig. So
wenn er die Nachricht des Vellejus, daß Tiberius an den Quellen der Lippe
zuerst ein Winterlager aufgeschlagen habe, gegen die Annahme Alisos bei Eisen
geltend machen will, während doch diese Nachricht bekanntlich nnr erst durch
eine neuere Konjunktur gewonnen worden ist. Ebenso ist es ganz nnzulüssig, das
von Florus II, 30, 24 erzählte Ereignis mit den Kämpfen des Jahres 11 v. Chr.
in Zusammenhang zu bringen. In diesem Jahre lagen ja die Ehalten mit
den Sigambrern im Krieg. Unmöglich können diese beiden Völker also während
desselben Feldzugs gegen die Römer zusammengestanden haben. Dazu kommt,
daß uach der Mittettnng des Florus die bei ihm genannten Völker nach förm¬
licher Verabredung handelten und den Kampf gegen die Römer gemeinsam selbst
damit begannen, daß sie zwanzig Centurionen, die also bei ihnen irgendwo im
Quartier gelegen haben müssen^ töteten. Das läßt sich mit den Ereignissen
des Jahres 11 doch nicht zusammenreimen. Es fallen damit auch die Folge¬
rungen, die Schuchhardt an eine solche Kombination geknüpft hat.
Übrigens ist es auch durchaus nicht nötig, anzunehmen, daß das Kastell
Aliso noch während des Feldzugs im Jahre 11 aufgebaut worden sei. Ja
der Zusatz, daß der römische Feldherr noch ein andres Kastell im Chatteu-
lande angelegt habe, spricht eigentlich dcigcgeu. Wer weiß demnach, was für
Operationen vorangegangen sind, die zu der Errichtung der Lippefestnng
führten? Jedenfalls steht fest, daß sie nicht, wie das Kastell im Chattenlande,
nahe beim Rheine gelegen hat; und die Wichtigkeit, die sie als ein nicht bloß
gegen die Sigambrer, sondern überhaupt gegen die Völker zwischen Rhein und
Weser angelegtes Bollwerk von den Zeiten des Drusus bis Germaniens be¬
hauptet hat, ist eher ein Beweis dafür, daß es an der mittlern Lippe, und
zwar bei Hamm gelegen hat, von wo ans nicht bloß auf dem Wege über
Paderborn und in der Richtung nach Höxter, sondern auch über Bielefeld nach
Nehme die Weser auf geradem' Wege zu erreichen war.
Der Grund endlich, daß man die Entfernung Alisos von dem Teuto-
burger Walde „ziemlich weit" annehmen müsse, weil man sonst nicht erklären
könne, wie dort die Katastrophe so furchtbar geworden sei, ist der allerschwüchste.
Mit Recht hat Delbrück hiergegen vorgebracht, daß wenn die Trümmer des
Varianischen Heeres von Detmold — dorthin verlegt Schnchhardt die Teuto-
burger Schlacht — bis Haltern hatten laufen können, sie auch noch etwas
weiter bis zum Rhein gekommen wären. Höchstens müßten die Gelehrten, die
an die Flucht Varianischer Soldaten oder gar von Weibern und Kindern nach
dein Kastell bei Haltern glauben, aus dieser Ausicht folgern, daß die Schlacht
im Teutoburger Walde nicht bei Detmold, sondern bei dem nnr halb so weit
entfernten Stift Leeden gewesen sei. Aber die ganze Kombination, die Schuch¬
hardt hier vorgetragen hat, richt leider nur auf schwachen Füßen, dn es nach
unsern Quellen durchaus zweifelhaft ist, ob irgend ein Soldat vom Teuto¬
burger Walde, wie man behauptet, mich Aliso flüchtete.
Ebenso ist die Ausführung Schnchhardts, daß das bei Tacitus (Annalen II, 7)
zuerst genannte Kastell durchaus Aliso habe sein müssen, unrichtig. Warum
soll Germaniens nicht mit sechs Legionen zum Entsatz einer andern Befestigung
ausgezogen sein, wenn diese von so zahlreichen Truppen der Feinde belagert
wurde, daß das Aufgebot eines solchen Heeres nötig war? Mußte man nicht
befürchten, daß much Aliso angegriffen werden würde, wenn das erstgenannte
Kastell fiele? Ein vernünftiger Feldherr wartet nicht erst, bis der Haupt¬
punkt in Gefahr gerät, sondern tritt dem Feinde gegenüber, sobald dieser, wie
es hier der Fall war, zur Offensive übergeht. Außerdem beabsichtigte Ger¬
maniens mit seinem Zuge um der Lippe hin gewiß auch eine Demonstration,
nnr die Deutschen über seine eigentlichen Kriegspläne zu tauschen, und schon
aus diesem Grunde möchte man geneigt sein, das Vorgehn des Feldherrn
nicht auf einen Spaziergang von zwei knappen Tagemürschcn zu beschränken.
Daß eine größere Menge Truppen außerdem auch uoch der Erdarbeiten wegen
nötig war, steht mit einer solchen Annahme nicht im Widerspruch. Die
sonstigen Schwierigkeiten, von denen Schuchhardt bei der Erklärung der ge¬
nannten Tacitnsstelle redet, ergeben sich nicht aus der Annahme verschiedner
Kastelle an der Lippe, sondern find von ihm nur eingebildet, wie auch die Be¬
hauptung, es habe bis zum Jahre 9 n. Chr. außer Aliso kein eigentliches
Kastell an der Lippe gegeben, nicht bloß unbegründet ist, sondern sogar hin¬
fällig wird durch die Erwägung, daß bekanntermaßen neuerdings bei Haltern
zwei verschiedne, mehrere Kilometer voneinander entfernte römische Kastelle
wirklich ausgegraben worden sind.
Für die Änsetzuug Alisvs bei Haltern macht Schuchhardt ferner geltend,
es Hütten im Gegensatz zu den Drususkastellen am Rhein, die „an Thvnwaren
fast durchaus gallisches Fabrikat liefern," wo also nur „die übliche Besatzung
von Anxiliaren sich befand," in Haltern „Legionen gelagert"; denn „im großen
untern Lager von Haltern" herrsche umgekehrt wie dort „die italische sigillata."
Mit dieser Ansicht kann man nun freilich schon die Nachricht des Zvnaras, nach
der im Jahre 9 n. Chr. gerade durch die vielen Bogenschützen das Kastell Aliso
wirksam verteidigt wurde, schwer vereinigen. Aber abgesehen hiervon ist die
Behauptung Schuchhardts über das Borkommen der italischen sigillata irrig.
Er geht nämlich von der Voraussetzung aus, daß die Walle des „großen
untern Lagers" die Fundstätten dieser Ware eingeschlossen hätten. Dies ist
aber keineswegs der Fall. Vielmehr sind die Sigillatascherben gerade außer¬
halb des untern Kastells ganz oder vorzugsweise angetroffen worden, während
innerhalb das einfache Kochgeschirr herrscht. In' der von ihm für das
eigentliche Aliso in Anspruch genommnen Befestigung auf dem Annaberge hat
sich desgleichen erst nach langem Suchen ein einziger Sigillatarest gefunden.
Ans den Thonwaren kann man demnach auf Aliso gar keinen Schluß ziehn.
Schuchhardt meint sodann, Haltern habe „eine seltne Gelegenheit zum
Brückenschlagen" geboten. Aber der Übergang über den Fluß hat, soweit unsre
Nachrichten reichen, immer am Zusammenfluß der Stever mit der Lippe statt¬
gefunden, der 2^/2 Kilometer von dem Aliso^ Schuchhardts abliegt, und dieses
war denn doch wohl ungeeignet, jenen Übergang zu schützen, und wenn
Schnchhardt hinzusetzt, es hätten im Gegensatz zu Haltern auch an dem Anna¬
berge „die nahe zusammentretender Hohen" eine „seltne Gelegenheit zum
Brückenschlagen" geboten, so ist das ganz unrichtig. Denn „hier" sperren
eben auf dem nördlichen Ufer die steilen Abhänge des Berges die natürliche
Fortsetzung des Weges, und einen solchen Punkt wählt man nicht für eine
Überbrückung. Jedermann erkennt vielmehr, daß der gegebne Übergang bei
Haltern war, wo sich der Verkehr auf dem nördlichen Ufer, wie noch heute,
strahlenförmig entwickeln konnte, was bei dem Annaberge umgekehrt nicht
möglich ist.
Einen wettern Grund führt Schuchhardt zu Gunsten Halterns an, nämlich
daß die Lippe nur bis dorthin schiffbar gewesen sei. Ja der Archivrat Ilgen
hat einen eignen Aufsatz in dem zweiten Bande der Mitteilungen der West¬
fälischen Altertnmskommission geschrieben, aus dem gefolgert werden soll, daß
die Schissbarkeit der Lippe im Mittel alter, also auch zur Römerzeit, nicht
über Haltern hinaufgereicht habe. Es ist indessen schon von Delbrück das
Unzulängliche dieser Folgerung erörtert worden. Weder beweist der Umstand,
daß die Jesuiten von Münster im Jahre 1597 zu ihrem Kirchban die „44 Reiß
Ziegelsteine," die sie von Wesel kommen ließen, in Haltern auf die Achse luden,
etwas für eine solche Ansicht, weil Haltern für Münster der natürliche Hafen
ist, und jeder andre Ort an diesem Flusse weiter oberhalb mindestens etwa
denselben Abstand ausweist, noch kann man aus dem Umstände, daß die Mönche
von Korveh sich ihren Wein vom Rhein zu Wagen holen ließen, irgend etwas
gegen die Schissbarkeit der Lippe folgern, weil es wohl zu versteh» ist, daß
die Herren des Stifts infolge der vielfachen Plackereien, denen sie bei der Be¬
nutzung des Wasserwegs ausgesetzt gewesen wären, die Benutzung eigner Ge¬
spanne vorgezogen haben. Es ließen ja anch die münsterischen Statthalter
im Sommer 1587 ihren Wein von Mülheim über Lumer zu Lande nach
Münster bringen, obgleich, wie zugegeben wird, bis Haltern der Wasserweg
benutzt werden konnte.
Daß der Verkehr auf der Lippe im Mibtelalter durch Zollstätten und
Mühlenwehre an vielen Stellen erschwert oder gar verhindert wurde, spricht
nicht gegen die Benutzung dieses Flusses dnrch die Römer. Zwar führt Ilgen
um, es habe eine Untersuchung preußischer Ingenieure in den Jahren 1735
und 1738 ergeben, daß auf der Strecke von Wesel bis Hamm nicht weniger
als einundfünfzig Sandbänke und drei Steinklippen gewesen wären. Aber von
diesen einundfiiufzig Sandbänken fallen allein fünfzehn auf den Abschnitt von
Rhein bis Crudenburg, auf den von dort bis Dörfler vierzehn, während die
übrigen zweiundzwanzig der Strecke von diesem Ort bis Vogelsang bei Assen
angehörten. Fast alle lagen also zwischen der Mündung der Lippe in den
Rhein und Haltern, während oberhalb von Vogelsang bis Hamm solcher Bänke
gar nicht gedacht wird. Wie kann man unter diesen Umständen behaupten,
daß die Lippe wohl bis Haltern, aber nicht darüber hinaus schiffbar gewesen
sei? Nun wird uns aber berichtet, daß der Fluß an den Stellen der Sand¬
bänke sowohl wie der Steinklippen auch bei niedrigem Wasserstande immer
uoch mehr als anderthalb Fuß Tiefe aufgewiesen Hütte. Wenn dieser Wasser¬
stand also zwischen Wesel und Haltern den Verkehr keineswegs unmöglich
machte, so wird es auch zwischen Haltern und Hamm nicht wohl der Fall ge¬
wesen sei».
Ja daß die Lippe bis Hamm im Mittelalter wenigstens für schiffbar galt,
muß aus der Absicht der Stadt Soest geschlossen werden, im Jahre 1486 mit
Benutzung des Soestbachcs und der Asse einen Strom von Soest bis Hamm
anzulegen, der Schiffe von zehn bis zwölf Lasten tragen könne, und alsdann
weiterhin die Lippe stromabwärts zu benutzen. Man konnte sich jedoch mit
den Mühlenbesitzern nicht einigen, und nnr ans diesem Grunde unterblieb das
Unternehmen. Für eine Benutzung der Lippe zur Römerzeit weit den Strom
hinauf spricht auch die Mitteilung des Oberstleutnants Schmidt, die lautet:
„In gleicher Art sind die vielen römischen Altertümer, welche bei Schiffbar-
machung der Lippe bis zur Mündung der Glenne aufwärts gefunden wurden,
fast gänzlich verschwunden, dahin gehören mehrere gut erhaltne Amphoren
oder irdene Weinkrüge von bis 3 Fuß Höhe. Die Römer, welche die
Lippe bis zur Mündung der Glenne beschifften, scheinen diese Weinkrüge, nach¬
dem sie geleert waren, über Bord geworfen zu haben" (Mitteilungen der West¬
fälischen Altcrtumskommissiou, S. l>2 f.). Die Behauptung, die Lippe sei zur
Römerzeit nur bis Haltern schiffbar gewesen, muß demnach zurückgewiesen
werden. Sie konnte vielmehr bis Hamm unter allen Umständen für den Trans¬
port des Heeres benutzt werden.
Als fernern Grund führt Schuchhardt an, das Annabergkastell liege
nach drei Seiten „sturmfrei." Darum sei „die Lage für Aliso Ah Brücken¬
kopf und Proviantplatz wie geschaffen" gewesen. Aber der Prvviantplatz lag
2 Kilometer weit entfernt und auf der feindlichen Seite. Dann war das
Kastell ganz ungeeignet, militärisch diesen Platz zu decken. Weiter soll Haltern
insofern ein geeigneter Ort gewesen sein, als sich hier die vom Rhein kommenden
Straßen gabelten, „indem der eine Arm uach Osten die Lippe aufwärts, der
andre nach Nordosten über Münster an die mittlere Ems und so unter Ver¬
meidung des Gebirges an die Weser" führe. Ja, Schuchhardt meint, diese
letzte Linie müsse für die Römerkriege vielleicht ebensosehr in Betracht ge¬
zogen werden wie die an der Lippe. Eine solche Anschauung ist völlig un¬
verständlich. Von Haltern aus führt wohl der Weg über Münster nach dem
Passe von Iburg. Keinem Menschen aber füllt es ein, sich mit Umgehung
des Gebirges, also über Rheine und Brmnsche, von Haltern zur Weser zu
begeben. Dabei muß es auffallen, daß Schuchhardt über die Straße von
Haltern auf dem linken Ufer der Lippe in südöstlicher Richtung völlig schweigt.
In der That verringert es denn auch die strategische Bedeutung Halterns, daß
es in dieser Richtung an einer natürlichen Verbindung völlig fehlt. Und doch
wäre es hierauf vor allen Dingen angekommen. Denn Drusus soll Aliso
im Jahre it angelegt Habeid, um „sich el» für allemal den Lippe-Übergang
zu sichern und den Weg ins Sigambrerland offen zu halten." Dieses Voll
aber wohnte südlich von der Lippe.
Schuchhardt hebt an verschiednen Stellen die außerordentliche Festigkeit
der Anlage ans dem Annaberge hervor. Wir haben aber schon gesehen, daß
die Tiefe und die Breite der Gräben um ein Gehöriges zu reduzieren sind. Die
Errichtung hölzerner Thore und Türme war aber nichts ungewöhnliches und
kam z. B. auch bei den Lagern Cäsars in Gallien nicht selten vor. Auch
spricht die geringe Zahl von Kleinfundcn nicht dafür, daß der Platz längere
Zeit belegt gewesen ist. Es mußte darum auch von Anfang an Verwundrung
erregen, daß man nach dem Bekanntwerden der Auffindungen auf dem Anna-
berge sofort überall in die Welt hinausrief, es sei „sicherlich" das Kastell
Aliso aufgefunden worden. Auch die Funde römischer Altertümer, die man
2 Kilometer östlich von diesem Berge in Menge antraf, und auf die I)r. Conrads
in Haltern zuerst aufmerksam gemacht hat, konnten zu Gunsten Alisos auf dem
Annabcrge nichts beweisen, obwohl Schuchhardt sie als Überreste einer bürger¬
lichen Niederlassung, die durch das uach rückwärts liegende Kastell gedeckt sein
sollte, ohne weiteres in Anspruch nahm. Desgleichen erwiesen sich die An¬
lagen an den Ufern der Lippe, wohin man alsbald Aliso wiederum verlegte,
als ein befestigter Hafenplatz mit Getreidemagazinen.
Anders wurde der Stand der Dinge jedoch, als man bei weiterer Unter¬
suchung die Entdeckung machte, daß nördlich von jenem Hafenplatz ein weiteres
Kastell' vorhanden sei.' Jetzt richtete sich die Aufmerksamkeit der Forscherwclt
sofort ans diese Stelle. Der Apotheker Meder aus Haltern fand neben der
alten Weseler Straße doppelte Spitzgräbcn, und Schuchhardt berechnete schon
den Umfang dieses neuen Lagerplatzes auf 700 : 750 Metern. Ja, diese Be¬
festigungen sollten nunmehr auch die Stätten mit den vielen römischen Klein-
altertnmern, den Terra Sigillataschcrben usw. eingeschlossen haben, oder diese
sollten durch Abschwemmung an ihren jetzigen Fundort hinabgetrieben sein.
Bei dem großen Umfange der Befestigungen, meinte Schnchhardt, sei „an dem
Namen Aliso nun nicht mehr zu zweifeln." Früher war freilich ein Flächen¬
inhalt von noch nicht 4 Hektaren für Aliso angemessen gewesen, jetzt aber sollte
gerade wegen des großen Umfangs der gefundnen Anlage, die mehr als
52 Hektare einschloß, die berühmte Festung sicher dort gelegen haben.
Aber man hatte sich auch diesesmal wiederum verrechnet. Die Gräben
neben der Weseler Straße, die Schuchhardt, Ritterling, Kvepp u. a. für römisch
ausgegeben hatten, erwiesen sich bei näherer Besichtigung teils als spitze, teils
als muldenartige Vertiefungen, die der Entnahme von Sand für die Aufschüttung
des Straßendmnmö ihre Entstehung zu verdanken hatten. Dagegen fanden
sich die Gräben eines wirklichen Kastells erst einige Meter hinter jenen tief
im Boden. Nur die Fortsetzungen der zuerst verfehlte,: Linien, wie sie in den
Mitteilungen der Westfälischen Altertnmskominissivn II, Seite 101 in den
Stichen 12 und 13 gezeichnet worden sind, hatte man richtig aufgefunden.
Dagegen gehören die von Schuchhardt gezeichneten Stiche 2 bis 10 den an¬
fangs nachgegangn«! Truggebilden an, und es erscheint als eine Ironie des
Schicksals, daß sich derselbe Forscher, der die von mir gefundnen römischen
Lagergräben als „Banernwälle" auszugeben pflegt, in den Zeichnungen der
Stiche 2 bis 10 ein bleibendes Denkmal seiner Urteilsunfähigkeit gestiftet hat.
Jetzt zeigte sich anch, daß die Vorstellungen von dem nngebrochnen Kastell
völlig übertrieben waren. Das richtige Verhältnis ist erst von dem Oberst-
leutnant Dahin im Sommer 1901 gewonnen worden. Hiernach giebt es
nördlich von der Hafenanlnge zwei Kastelle, ein größeres und ein kleineres,
die beide durch zwei Spitzgräben umschlossen waren. Das größere ist das
"leere und bildet ein Rechteck von 490 : 380 Metern seitenlange.' Später wurde
dieses von einem kleinern Kastell überbaut, das auf der Ostseite um 70 Meter
kürzer wurde, sich im übrigen aber mit dem Umfange des ältern Kastells
wiigerinaßen deckt.
Daß auch diese neuste Auffindung wieder trotz des verjüngten Maßes als
dus Kastell Aliso ausgegeben wurde, verstand sich ganz von selbst. Und in
der That sind einige' der Bedenken, die man gegen die Gleichstellung des
Kastells auf dein Aiinabergc mit der berühmten Festung oder auch gegen „das
i^vße Heerlager" auf dein offnen Felde geltend machen konnte, nunmehr hin¬
fällig geworden. Dennoch möchten wir Bedenken tragen, auch die von Dahin
gefundnen Anlagen für Aliso auszugeben. Denn wenn die Festung, wie wir nach
Cassius Dio annehmen müssen, gegen die Sigmnbrer und Cherusker angelegt
ist, so darf man sie doch nicht so nahe am Rheine suchen. Auch vermissen wir
bei Haltern eine bequeme Wegeverbindnng auf dem linken Ufer in südöstlicher
Richtung. Endlich dürfen wir erwarten, daß Aliso seiner Bestimmung gemäß
von Drusus nicht auf dem nördlichen, sondern vielmehr auf dem südlichen
Ufer der Lippe errichtet wurde. Im Gegensatz hierzu scheinen aber die Be¬
festigungen bei Haltern mehr der Unterstützung von Operationen gegen die
nördlich vou dem Flusse wohnenden Völker, also vor allein gegen die Bruktcrer
gegolten zu haben; denn in dieser Richtung lnnfen die Wege, die vou dem
Orte ausgehn. Daß es ferner unbegreiflich erscheinen muß, wenn der römische
Feldherr Asprcnas nach der Schlacht im Teutoburger Walde nicht einmal einem
zwei knappe Tagemarsche vom Rhein entfernten Lagerplatze Hilfe brachte, ferner,
daß es unglaublich klingt, wenn die Aliso belagernden Deutschen — unter
der Voraussetzung, daß es bei Haltern lag — auf das Gerücht von der An¬
näherung eines großen Heeres unter Tiberius nicht den Platz mit allen ihren
Truppen verlassen haben sollten, ist an andrer Stelle durch den Verfasser
dieses Aufsatzes schou genügend hervorgehoben worden.
Hierzu kommt aber noch die Wahrnehmung, daß nach den Mitteilungen
Dahns S. 227 das ältere Kastell nur kurze Zeit belegt gewesen ist, was
aus der geringen Anzahl der dort gefundnen Kleinaltertümer geschlossen
werden muß, während für das jüngere Kastell eine „opulente Ausstattung und
längere Besetzungsdauer" festgestellt wurde. Freilich macht man gerade die
doppelte Anlage für die Überzeugung geltend, daß Aliso dort gelegen habe.
Das ältere Kastell soll dann von Drusus im Jahre 11 v. Chr. hergerichtet
worden sein. Hernach aber soll es im Jahre 9 n. Chr. von den Deutschen
zerstört und erst wieder im Jahre 16 n. Chr. von Germaniens hergestellt worden
sein. Wann es zum zweitenmal aufgegeben wurde, weiß man freilich nicht
zu sagen. Nun gehören nach Ritterling die Sigillatagefüße von Haltern
lediglich der Zeit des Kaisers Augustus nu und reichen höchstens bis in die
ersten Jahre des Tiberius. Ja von den dort gefundnen Münzen, die zum
Teil republikanisch sind, zum Teil aus der augusteischen Periode stammen,
zeigt keine einzige ein nachaugusteischcs Gepräge. Soll das Kastell jedoch
in seinem ältern Bestände zwanzig Jahre lang erhalten, und — wie man auf
Grund der Altertümer urteilt — die Befestigung nach ihrer Wiederherstellung
nur kurze Zeit gedauert haben, so tritt die Annahme, daß Aliso dort gelegen
habe, mit den Beobachtungen Dahns in einen Widerspruch. Wäre diese Ansicht
richtig, so müßte gerade das ältere .Kastell die meisten Funde liefern, und das
ist nicht der Fall. Die Kleinfunde wollen also zu der Annahme, daß in den
Befestigungen bei Haltern das Kastell Aliso aufgefunden sei, in keiner Hinsicht
passen.
Nun ist aber die Annahme, daß Aliso im Jahre 9 n. Chr. von den
Deutschen eingenommen worden sei, ganz unbegründet. Das hat der Verfasser
schon in seinen „Kriegszügen des Germaniens" S. 304 ff. und sonst hinlänglich
erwiesen. Umgekehrt aber heißt es, daß mit Ausnahme dieses Kastells alle
festen Plätze rechts vom Rheine nach der Schlacht im Teutoburger Walde von
den Feinden erobert wurden. Aus dem Umstände also, daß wir hier zwei
nacheinander errichtete Befestigungen vor uns haben, ist für Aliso gar kein
Schluß gewonnen. Eher ließe sich das Gegenteil behaupten, und es steht vor¬
läufig wenigsteus nichts im Wege, daß wir, wie bisher, Aliso an der Stelle
der heutigen Stadt Herrn vermuten, die ja allen geschichtlichen Bedingungen
entspricht, und wo der Name des Flusses Asse ebenso an Aliso anklingt, wie
in Frankreich der Name Oha an Alesia. Daß bis jetzt an dieser Stelle noch
keine Spitzgräben und römische Kleinaltertümer in der Erde aufgefunden wurden,
ist bei dem Umstände, daß die Kastellfläche durch die Stadt bedeckt ist, doch
gewiß erklärlich.
Jedenfalls ist durch die jüngsten Ausgrabungen der Annaberg bei Haltern
endgiltig für Aliso abgethan. Aber es ist erstaunlich, wie Schnchhardt den
„berühmten Namen" durchaus für seine Auffindungen retten möchte. Er be¬
richtet selbst, daß er in Haltern oft gefragt werde, welches denn eigentlich Aliso
sei, „das Kastell auf dem Annaberge oder das große untere Lager." Denn die
Bewohner dieser Stadt gehen anscheinend von dem richtigen Gedanken aus,
daß doch unmöglich die berühmte Festung an zwei verschiednen Stellen zugleich
gelegen haben könne. Doch diese Logik gilt für Schuchhardt nicht. Er meint:
„Die Antwort muß meines Trachtens lauten: keins vou beiden." Das eigentliche
Aliso war nach ihm vielmehr „eine germanische Ansiedlung," die er sich an der
Stelle der heutigen Stadt Haltern denkt, und nach der dann die Römer alles,
was sie an Festungswerken in der Gegend bauten, mit demselben Namen be¬
zeichneten. Hiergegen ist jedoch zu bemerken, daß über die Kenntnis eines
Flusses Aliso'(Elison), an dem die Römer nach Cassius Dio das Kastell er¬
bauten, und nach dem sie es doch anch benannten, unser Wissen wohl nicht
hinausgeht. Daß es dort schon vorher einen germanischen Ort namens Aliso
gegeben habe, ist eine willkürliche, ja unwahrscheinliche Behauptung.
Nach der Vorstellung Schnchhardts ist der „Annaberg das Kastell, die
Citadelle geblieben, das Winter und Sommer gehalten wurde, wahrend die
untern Anlagen dem Aufmarsch und der Verproviantierung dienten." Ergebt
dabei von der verkehrten Annahme aus, daß die untern Anlagen aus einem
großen Heerlager bestanden Hütten. Es hat sich aber herausgestellt, daß unten
ebenso wie oben ein richtiges Kastell gelegen hat, und da bleibt es denn dabei,
daß diese beiden Festungen durch keine Jnterpretationskunst je in einen einzigen
Gegenstand verwandelt werden können. Taeitus spricht in den Annalen II, 7
ausdrücklich nur von einem einzigen Kastell Aliso, und daran können wir nichts
ändern.
Auch die Vorstellung, es könnte etwa auf dem Annaberge zuerst Aliso
augelegt, nachher aber nach der Herstellung des untern Kastells zu dessen
Gunsten aufgegeben worden sein — ans den umgekehrten Gedanken ist billiger¬
weise noch niemand bisher verfallen —, würde uns nicht weiter führen. Diese
Ansicht Schnchhardts von der ursprünglichen Anlegung Alisvs auf dem Anna¬
berge hat zur Voraussetzung, daß sich die alten Ortsnamen, etwa wie neuerdings
die bei den westfälischen Bauernschaften, über einen weiten Raum erstreckten. Das
ist aber durchaus irrig. Die alten Ortsnamen sind bei uns zu Lande immer
genaue Benennungen für beschränkte Räume, seien es Höfe oder Hügel oder
andre örtliche Gegenstände. Erst Gründe der bequemern Verwaltung oder poli¬
tische Vergewaltigungen konnten schließlich dazu führen, mehrere Gehöfte, Dörfer
oder Städte unter einem Ortsnamen zu vereinigen. Dein Altertume war so
etwas gänzlich fremd. Daß eine Ansiedlung, die mehr als 2^ Kilometer
von einer andern entfernt liegt und von dieser durch ein Thal geschieden ist,
ja sich durch eine isolierte Lage von der übrigen Landschaft deutlich abhebt,
mit derselben Bezeichnung wie die andre benannt sein könnte, kurzum, daß
der Annaberg, der noch heute seinen eignen Namen trägt, ebenso geheißen haben
könnte, wie der Ort am Zusammenfluß der Stever mit der Lippe, ist einfach
ganz undenkbar.
Die Ausgrabungen bei Haltern haben selbstverständlich einen großen Wert.
Festgestellt ist einmal, daß auf dem Annabcrge ein römisches Kastell gestanden
hat, über dessen Ursprung, Zweck und Namen freilich nichts bekannt ist, das
aber doch wohl angelegt war, nur zeitweilig die Position bei Haltern gegen
feindliche Überraschungen von dem im Nordwesten liegenden Waldgebirge her
zu sichern. Jedenfalls bietet die Beschaffenheit der Anlage wichtige Merkmale
für das Befestigungsverfahreu aus den Zeiten des Augustus und zerstört ver-
schiedne Vorurteile, von denen man sich bisher oftmals hatte leiten lassen.
Ferner ist an dem nördlichen Lippenfer zwischen dem Annaberge und dem Ort
Haltern eine Hnfenanlage mit einem bedeutenden Getreidemngazin nachgewiesen
worden. Die Beurteilung dieser Bauten hat freilich manche Stadien durch¬
laufen, weil sich hier ein'solches Gewirre von Erdarbeiten herausgestellt hat,
daß es noch jetzt schwer ist, sich darin zurechtzufinden, obwohl Professor Koepp
aus Münster, dem zunächst die Bearbeitung dieses Gegenstands oblag, sich
mit unendlichem Fleiß und mit großer Sorgfalt seiner Arbeit unterzogen hat.
Soviel steht jedoch fest, daß dieser Platz mit einem Pfahlgraben befestigt
worden war. Doch hat der Umfang der Befestigung einstweilen noch nicht
nachgewiesen werden können. schroff stehn sich die Urteile über den mächtigen
Graben zum Teil von 7 Metern Breite und 2^/z Metern Tiefe, der neben
dem alten Flußbette der Lippe — das jetzige findet sich weiter südlich —
ein Dreieck von 170 Quadratmetern einschließt, noch jetzt gegenüber. Daß der
Platz als Korumagazin oder wenigstens als Stapelplatz für eingeliefertes Ge¬
treide diente, scheint durch die Menge verkohlter Weizen- und andrer Getreide-
körner, die sich in der Erde vorgefunden haben, erwiesen zu sein. Während
indessen Koepp die Anlage des breiten Grabens durch deu Zweck der Trockeu-
legung und der Sicherung gegen Feuersgefahr erklären mochte, hält Professor
Lveschcke an seiner gleich im Anfang ausgesprochnen Meinung, nach der die
ursprüngliche Anlage eine „Erdschauze, wie sie in frührömischcr Zeit in allen
Formen und Größen sich finden," in einem besondern Aufsatz der Mitteilungen
der Westfälischen Altertumskommission II, Seite 217 ff. fest. Dahin endlich
dentet in einem Nachtrag Seite 225 ff. die Erdvertiefungen als Kellerrünme.
So bieten die Funde, wie man sieht, noch manche Gelegenheit zu Kontro¬
versen.
Weiter ist nördlich von diesen Anlagen eine militärische Befestigung mit
zwei aufeinanderfolgenden Zeitstufeu nachgewiesen worden, und um diese dreht
sich nunmehr die Frage nach der Lage des Kastells Aliso. Denn daß, wenn
die genannte Befestigung überhaupt bei Haltern gelegen hat, nur die untern
Erdwerke uoch in Betracht zu ziehn sind, liegt auf der Hand. Aber es sind
außerhalb der beschriebnen Verschanzungen noch weitere Römerspuren nach¬
gewiesen worden. So sind westlich neben dem beschriebnen Dreieck die Grund¬
lagen eines größern Gebäudes gefunden, das anfangs als eine Militärkaserne
ausgegeben wurde, ohne daß sich jedoch diese Auslegung bestätigt Hütte.
Es müssen aber anch weiter landeinwärts zwischen den von Dahin fest¬
gestellten Erdkastellen und dem Annabergc, wegen der dort gefundnen römischen
Kleiualtertümer, noch Ansiedlungen gewesen sein, und die Deutung, die unter
der Voraussetzung, daß auf dem Anuaberge das einzige Kastell gelegen habe,
unmöglich scheinen mußte, gewinnt nach Feststellung der Anlage auf der öst¬
lichen, d. i. deu Feinden zugekehrten Seite nunmehr eine bessere Begründung.
Weitere Nachforschungen werden hoffentlich hierüber Auskunft geben.
Endlich ist im Herbst des Jahres 1901 noch von Professor Koepp unweit
der Stevermünduug ein „kleines, unregelmäßiges Erdwerk, das sich mit seiner
hinten offnen Seite an das alte Lippebett anlehnt," aufgefunden worden. Doch
steht über den Ursprung wie deu Zweck der Anlage noch nichts fest.
Der größte Wert liegt jedenfalls in der Menge der Kleinaltertümer,
die bei Haltern aus dem Boden hervorgezogen worden sind. Sie geben
schon ein stattliches Museum, und durch die schönen Abbildungen, die im
zweiten Bande der „Mitteilungen" vorliegen, hat sich die Westfälische Altcr-
tninskommission ein großes Verdienst erworben. Auch sind die Funde durch
den Museumsdirektor Ritterling, wie das nicht anders zu erwarten war,
mit sachkundiger Sicherheit — die freilich Irrtümer im einzelnen nicht aus¬
zuschließen braucht — erläutert wordeu. Gerade der Umstand, daß wir es
hier sicher mit einem zusammengehörenden Schatz zu thun haben, daß mit
wenigen Ausnahmen alle zusammengebrachten Gegenstände der Periode des
Augustus und des Tiberius, allerhöchstens aber noch den Zeiten bis auf
Claudius angehören, giebt dieser Sammlung einen richtigen Maßstab auch für
die Beurteilung andrer Auffindungen römischer Herkunft.
Man kann sich deswegen anch nicht wundern, wenn man auf Grund der
hier gewonnenen Erfahrungen hofft, die etwa in Norddeutschlnud uoch vor-
saubren römischen Befestigungen, sogar die Feldlager aus den Römerkriegen
nunmehr sicher zu bestimmen. Diese Hoffnung dürfte sich indessen schwerlich
erfüllen. Denn zwischen Kastellen, die jahrzehntelang besetzt gehalten wurden,
und einfachen Nachtlagern ist doch ein großer Unterschied. ° Daß die römischen
Heere in größerer Menge Terra Sigillatngefäße auf ihren Zügen mitgenommen
hätten, ist bis jetzt durch nichts wahrscheinlich gemacht. Im Gegenteil haben
die Untersuchungen in Haltern erwiesen, daß Gefäße dieser Gattung nicht
einmal zu dem eigentlichen Inventar der stehenden Besatzungen gehörten.
Aber auch die Vorstellung, als wenn jeder römische Soldat an seiner Trag¬
stange einen Kochtopf mitgeschleppt habe, und als wenn dann in jedem Nacht¬
lager einige Dutzend dieser Gegenstände in zerbrochnen Zustande liegen ge¬
lassen worden wären, ist zu unverständig, als daß man damit rechnen könnte.
Ebenso kann ein Verlust von Waffenstücken in einem römischen Feldlager
immer doch nur ausnahmsweise vorgekommen sein. Und so wird es doch im
besten Falle immer mir ein Zufall sein, wenn an solchen Plätzen römische
Kleinaltcrtüiner wieder aufgefunden werden. Man wird sich vielmehr mich in
der Zukunft bescheiden müssen und seine Freude haben dürfen, wenn es gelingt,
in Spitzgräben oder andern Merkmalen römischer Befestigungskunst die Stätten
wieder aufzufinden, an denen einst die römischen Heere lagerten. Diese Arbeit
braucht man aber nicht lediglich der Zukunft mehr zu überlassen. Sie ist viel¬
mehr an den wichtigsten Punkten schon mit Erfolg begonnen worden.
"
Auch werden die „strategischen Hypothesen, über die sich Philippi in
seiner Vorbemerkung zu den „Mitteilungen" so geringschätzig äußert, nach wie
vor nicht zu entbehren sein. Sind wir doch auch dnrch die Ausgrabungen,
die bei Haltern vorgenommen wurden, über diese nicht einen Schritt hinaus¬
gekommen. Denn uach wie vor sind es strategische Erwägungen, die uus von
der Identität der dort gefundnen Befestigungen mit Aliso überzeugen sollen.
Endlich wird man bei allen weitern Untersuchungen nach wie vor die Auto¬
rität der schriftstellerischen Quellen gelten lassen müssen, und eine richtige
philologische Auslegung wird auch auf diesem Wissensfelde der Anfang aller
Weisheit bleiben.
ur bitten, noch ein paar nachträgliche Bemerkungen zu der inzwischen
ohne Aufregungen glücklich verlaufncn Räubergeschichte des Herrn von
Gerlach und seiner Studenten machen zu dürfen. Er war mit seiner
Räuberbande auch in Leipzig aufgetreten, und ein Lokalblatt begann
seine Besprechung des Ereignisses mit den Worten: „Nun sah wenig¬
stens Klein-Paris »jene« Vorstellung von Schillers Räubern in Szene
gehn, die für die Theaterbesucher an der Seine geplant war und durch die über
Gebühr vorsichtige und ängstliche Presse hintertrieben wurde."
Es könnte den, der Haare zu spalten gewohnt ist, vielleicht wunder nehme»,
wie es möglich gewesen ist, daß das Leipziger Publikum eine Vorstellung hat in
Szene gehn sehen, die dnrch die Presse hintertrieben worden war — ich sehe
wieder viele, die nicht da sind, hatte der Professor gesagt —, aber das soll uns
nicht aufhalten. Man weiß, was gemeint ist: das Leipziger Publikum hat den
Kunstgenuß gehabt, der ursprünglich den Parisern bestimmt war und ihnen, wenn
sie nicht nach Utrecht oder Antwerpen gewallfahrtet sind, infolge veränderter
Pläne nun fürs erste versagt gewesen ist.
Wir modernen Europäer erfreuen uns an den Theaterkritikern wie die Orlen-
taten an den Tänzerinnen. Wie die Moslim zu phlegmatisch und zu vornehm
sind, als daß sie selbst das Tanzbein schwingen sollten, so lassen wir uns von den
Kritikern die Mühe abnehmen, selbst über Theaterdinge ein Urteil zu fällen, und
entnehmen es out auel air^ unsrer Leib- und Magenzeituug. Und ebensowenig wie
der mit gekreuzten Beinen dasitzende Pascha an den Wendungen und Windungen
der sich in zu weiten Pumphosen und zu kurzen Westchen für ihn abmühenden
goldmünzenklirrenden Fatmes mäkelt oder sich gar aufrafft, um in einem oavalier
soul zu zeigen, wie man es anders und mehr nach seinem Geschmack machen könne,
ebensowenig kommt es uns auf Stühlen sitzenden Westeuropäer» bei, gegen die
sich unter der Doppclrubrik „Litteratur und Theater" formenden Artikel der hier
wirkenden Nessvrtchefs mit feindlicher Lanze vorzugehn.
Einverstanden braucht man deshalb mit dem, was man liest, nicht immer zu
sein, und wir sind z, B. vor einiger Zeit einer Charakteristik der Franeillvnrolle
begegnet, die nicht blos; Dumas Ms, von dem die Skizze zur Rolle kam, sondern
auch Madame Barthel, die die Rolle geschaffen hat, auf dem Flecke umgebracht hätte,
aber man schweigt sich über solche Dinge aus, da man den Eindruck hat, daß man die
Hohenpriester der Kritik doch nicht bekehren würde, und daß es morgen doch Vor¬
mittag, Mittag und Abend geben wird, wenn sich auch ein Teil der dem Kunst¬
kritiker anhängenden Gemeinde kein genügend schillerndes Bild von Madame de
Niverolle macheu sollte.
Etwas andres ist es, wenn der Kunstkritiker, sans erior ^aro, auf das
politische Gebiet übergeht und da mit demselben Avplomb, der ihm in Kunstsachen
so wohl ansteht, fertige Urteile in geschmackvoll abgerundeter Form wie Blumen
aus einem Körbchen vor sich hinstreut. Es giebt vielseitige Menschen. Leonardo
da Vinci war ein solcher: aber einige Vorsicht ist, wenn man solche Vielseitigkeit
um sich zu entdecken glaubt, in der Regel doch anzuraten. Monsieur de Wyzewa,
der bekannte Literaturkritiker, der auch für den Temps schreibt, und der neben
feinem litterarischem Geschmack auch die rechte Slawenzunge hat, die mit jeder
Sprache der Welt fertig wird, hatte neben diesem ganz ungewöhnlichen Sprach¬
talent auch noch ein Auge für Malerei bei sich zu entdecken geglaubt, und das
führte, da er diese Begabung für einen ks.it aociuis ansah, zu etwas, was uns
tief geschmerzt hat, semel-, unsere- und des Temps wegen. Eine seiner ersten
Leistungen auf diesem neuen Felde war nämlich, daß er die Sixtinische Madonna
1. für unecht, 2. für stark übermalt und 3. was die Farbe anbelangt, für einen
Ausbund von Geschmacklosigkeit erklärte. Was das Erstaunlichste bei der Sache
ist, der Temps druckte, was Monsieur de Wyzewa geschrieben hatte, Wort für
Wort ab, und wer das Unglaubliche nicht glauben will, kann, wenn es ihm Ver¬
gnügen macht, die Rutschpartie im Temps nachlesen.
So etwas macht einen doch großen Lichtern gegenüber bedenklich und ver¬
anlaßt einen, sich in Monsieur de Wyzewas Falle mit einem Lichtchen an den
heiligen Crispinus zu wenden, damit der dafür sorge, daß der Schuster bei seinem
Leisten bleibe, und an unsre verehrten Theaterkritiker die Frage zu richten: Woher
haben Sie Ihre politische Weisheit? Solange es sich um innere und äußere Be¬
gabung von Schauspielern und Schauspielerinnen handelt, sind wir um den Finger
zu wickeln, weil das das Fach unsers verehrten Rezensenten ist; wenn er aber
außerdem zu wittern behauptet, wie nahe mau mit der ca,pa, des sich als Statisten¬
muster ausstellenden deutschen Mnsensohues an den Pariser Stier herangehn könne,
ohne daß der den Kopf zwischen die Beine nimmt und mit wild in der Luft
peitschendem Schweife durch die Arena stürmt, so liegt die Frage nahe: Hochver¬
ehrter Herr, in welcher Quadrille haben Sie gelernt?
Mit andern Worten, woher weiß unser Kritiker, daß die Presse, die Herrn
von Gerlach und seinen Freunden abgeraten hat, ihren Thespiskarren nach Paris
zu instradiereu, wie er sich auszudrücken beliebt, „über Gebühr vorsichtig und
ängstlich" war? Auf welche Weise hat er die Gesinnung und die Stimmung der
Pariser Kreise keimen gelernt, ans deren Haltung es bei einem öffentlichen An¬
treten deutscher Studenten in Paris ankam? Hat er zur Zeit der Schnäbele-
Affaire, des Boulanger-Nnmmels, der Zarenbesnche und der Renner Verhandlungen
in Paris gelebt? Wenn von den wenigen Deutschland wohlwollenden Mitgliedern
der Soeivtü as I>rv88v auch uur eines oder auch nur einer der zur deutschen
Botschaft gehörigen Diplomaten dieses Gerlachsche Unternehmen als unbedenklich be¬
zeichnet und uicht vielmehr unumwunden eingeräumt haben sollte, daß es im Gegen¬
teil außerordentlich brenzlig und von einer über die Grenzen der zunächst betei¬
ligten Kreise hinausgehenden Tragweite sei, so würde uns das sehr wundern, denn
wir keimen das Gelände, um das es sich handelt, genau und wissen, wie die Art von
Pulsader, vor denen es der Presse und vielleicht auch uoch andern Autoritäten graute,
in Szene gesetzt wird.
Wir erinnern uus, die ärgerliche» Ausrufe eines jungen Thnnichtgnts mit an¬
gehört zu haben, der sich einem Freunde gegenüber darüber beklagte, daß man
nicht an zwei Orten zu gleicher Zeit sein könne. Wenn er die vinFt 8on8 nicht
im Stich lassen wolle, die er vom Komitee bekomme, damit er den General
(Boulanger war natürlich gemeint), der um 7 Uhr im Faubourg speise, neben dessen
Wagen herlaufend, heulend, johlend und vivs 1o Ksuvral brüllend eskortiere, so
versäume er die um dieselbe Zeit zwischen Marguerite und Niui um den Besitz
des laugen Viktor stattfindende Messerschlacht.
Solche Strolche giebt es in Paris zu Tausenden: sie sind unter sachverständiger
Leitung, und ihre Mobilisierung ist nicht zeitraubend. Für einen Pulses kann man,
wenn man ein paar tausend Franken drcmwenden will, fünfhundert solcher Kerle,
wenn nötig, für den nächsten Abend haben.
Die Sache macht sich ganz von allein. Ein paar Herren von der Presse sind
der Ansicht, man dürfe es nicht zulassen, daß sich die Deutschen wieder so in Paris
aufspielten und sogar Theatervorstellungen gäben. Ein ordentliches Denkzeichen müsse
man ihnen geben, daß sie nicht wiederkämen, und damit zugleich auch der Regierung
einen Zinken stechen, daß sie nicht glaube, Sedan sei vergessen. Ein kleiner Krawall
in und vor dem Theater werde ganz die gewünschte Wirkung haben. Mit dieser
lnminösen Idee steigt einer von den Herren, der z. B. in der russischen Botschaft
den Beamten persönlich kennt, der mit den all'aire« iug.vorurbls8 zu thun hat, die
betreffende Hintertreppe hinan und legt das Pläuchen vor. Wenn die Sache höhern
Orts einleuchtet und mit dem, was man gerade vor hat, stimmt, so wird das benötigte
Sümmchen gezahlt, die Sache läuft wie verabredet von Stapel, und wenn zwei
Tage später der russische Botschafter mit dem deutschen diniert, so versichert er
diesem, pu'it Le. I'üwrsdoui'g' on S8t trof sunu^ü as es qui sse Ki-rivü, ein'avec oss
äiicdlvL <Zs l'-rrisisus on no xsut Mruüs tiop fers 8ur 8S8 g-aräs8 se «zus es8 ^ours8
ALN8 lui-sisnt xvut-vers misux lÄit, ni'attouäi'k An wowent xlu8 Proxies.
Einen jungen Menschen, der für den Pester Hirlap schrieb, und einige andre
aus den Donaufürstentümern haben wir die Thatsache wohlgefällig erörtern hören,
daß in Paris kein andrer Pulses so billig und mit so bombensichrer Aussicht auf
Erfolg herzustellen sei, als ein gegen Deutschland gerichteter. I)lo8 es ca.8 Wut Is
morals K8t ä'aseorä, ,ju8ein'aux 8srgot8 «Mi 8ont eoutsnk.
Wir bitten unsre verehrten Kunstkritiker, sich da, wo man solche Dinge kennt,
zu erkundigen und zu fragen, ob wir die Sache brenzliger darstellen, als sie in der
That ist. Der französischen Regierung verursacht ein solcher Krawall keine Verlegenheit,
denn sie greift ein, wenn die Sache lange genug gedauert hat, und mit schönen
Redensarten und der Versicherung, daß man die Schuldigen, die den fideler Sergots
natürlich sämtlich zwischen den Beinen durchgelaufen sind, unnachsichtlich strafen
werde, wird sofort ein Heftpflaster aufgelegt. Nur die deutsche Regierung und die
deutsche Botschaft haben alle Unannehmlichkeiten von dem, was geschehen ist: den
Affront, die witzigen Bemerkungen der Presse und der Diplomatie, und das Ver¬
gnügen, da wieder anzufangen, wo sie vor Jahren mit dem künstlichen Heilver¬
fahren angelangt waren.
Also auch wenn Herr von Gerlach und dessen Freunde die Haltung des von
der Presse immer von neuem gegen Deutschland aufgestachelter französischen Volks
mit weniger bitterm Gefühle empfanden als wir, oder wenn sie der Kunst und
der Mimophilie zuliebe jede Empfindlichkeit über vergangne Dinge in die Tasche
zu stecken bereit waren, so waren doch alle warnenden Stimmen, die zu ihrem
Ohr gedrungen sind, um so berechtigter, als es sich auf der einen Seite um die
Möglichkeit ernster Komplikationen, und auf der andern nicht um Sein und Nicht¬
sein, sondern um die Förderung eines Kunstsports handelte.
Wir sagen das nicht in wegwerfenden Sinne: jeder Sport hat in unsern
Angen seine Berechtigung, und mit Kunst und höhern Interessen ist der Theater-
spvrt offenbar mehr »erquickt und verwandt als die meisten andern. Wir haben
zwar Nervs Vorliebe für öffentliche Schaustellung und das um den Betfall der
Menge buhlende Lächeln des mit dem kaiserlichen Purpur Bekleidete» nie recht
begreifen können, auch sind uns schauspielerische Versuche im kleinern gewähltem
Kreise, von denen ja auch Goethe ein großer Freund war, für jemand, der seinem
Herkommen und seiner Erziehung nach einer besondern Klasse angehört, immer
als das Richtigere und Befriedigendere erschienen. Aber das sind eben Ansichts¬
sachen, und wir können uus denken, daß solche Anschauungen für „rückständig"
gelten. Nur dürfte es sich, so sehr man auch für die Mimophilie, deren Be¬
rechtigung und deren Reize eintreten mag, kaum lohnen, ihretwegen die Gefahr
internationaler Komplikationen aufzusuchen. Vielleicht würde sich auch unser
Kunstkritiker, wenn er ein paar Jahre in Frankreich, und zwar nicht in einer der
deutschen oder österreichischen Kolonien, sondern inmitten ganz französischer Um¬
gebung zubrächte, zu unserm Urteile bekehren und rin uns der Ansicht sein, daß
die Presse sehr klug und verständig gehandelt hat, indem sie von dem schon halb
und halb nnternommnen Wagnisse abriet, und daß Herr von Gerlach und seine
Freunde sich ebenso klug und verständig gezeigt haben, indem sie ihre ursprüng¬
lichen Absichten änderten.
er Teil von Holzweißig, der neu entstanden war und das Dorf in
der Richtung auf Heiurichshall verlängert hatte, hieß im Volksmunde
Neu-Kamerun. Hier standen Reihen von neuen Häusern gleichen Aus¬
sehens, in denen Arbeiterwohnungen waren. Die Wege ließen viel zu
wünschen übrig, sie waren kaum mehr als festgetretner Ackerboden.
Hier und da hatte man ein Stück Land mit Pfahl und Draht ein¬
gezäunt und den kümmerlichen Versuch eines Gartens gemacht. Auf die Pfähle hängte
man Töpfe und auf die Drähte buutkarrierte Betten. In Löchern und Gräben
sammelte sich der aus den Häusern fließende Spülicht, und das Seifenwnsser bildete
schwarzgrüne Tümpel, an denen sich große schwarzgrüne Fliegen gütlich thaten.
Diese Tümpel verursachten einen Armeleutegeruch, gegen den der Duft der bäuerlichen
Düngerhaufen wahrhaft vornehm ist. Alles war mit Staub bedeckt, und überall
hinter den Häusern begann das dürre, staubige Feld.
Auf der Hauptstraße von Neu-Kamerun standen, während Katzen und Kinder
den weitern Umkreis belebten, drei Frauen. Die alte Krügern, die ihren Korb
vor sich ans die Erde gestellt hatte, die Rothkamm, eine junge hübsche Frau, die
ihr Kindchen, um es einzuschläfern, auf dem Arme tanzen ließ und dazu Bisch! disch!
sang, und die Husarenweidlingen, die in der eine» Hand eine Medizinflasche und
in der andern eine Schüssel mit Sirup hielt. Alle drei waren im Hausanzuge,
das heißt im Unterrocke, und trugen Nachtjacken und Schlappschuhe. Alle drei
hatten offenbar zu thun, aber die günstige Gelegenheit, sich eine Aussprache zu
gönnen, durfte uicht vorübergehn, um so weniger, als die Medtzinflasche der
Husarenweidlingen interessante Erörterungen in Aussicht stellte.
Und das ist auch nicht recht, sagte die Weitungen mit weinerlicher Stimme,
daß sie meinen Mann ans die Straße setzen mit seinem kranken Beine, wo er sich
doch im Schachte kaput gearbeitet hat.
Dafür muß aber doch die Knappschaft aufkommen, meinte die Krügern.
Das habe ich auch gesagt, erwiderte die Weitungen. Mein Mann war ja
aber uoch gar nicht in der Knappschaft drin. Und wie soll er nun mit seinem kranken
Beine Arbeit kriegen und in eine Krankenkasse kommen?
Da muß aber doch das Werk für aufkommen, meinte die Krügern.
Ja, sagten sie, das wäre erst hinterher gekommen. Und warum sich mein
Mann nicht gleich gemeldet hätte. Und alles bloß darum, weil er mit bei der
Deputation gewesen ist.
Da hätte sich aber Ihr Mann nicht auf die Deputation schicken lassen sollen.
Mein Mann thut so was nicht, sagte die Rothkamm und „bischte" ihr Kind zur
Bekräftigung so nachdrücklich, daß es zu schreien anfing.
Das habe ich ja auch gesagt, fuhr die Weitungen fort, aber die Mannsen
sind ja jetzt rein dumm mit ihrer Macherei, und nun sitzen wir da mit den Kindern
und wissen uicht, wo wir das Brot hernehmen sollen. Und was kostet nicht der
Doktor!
Und die Medizin, fügte die Krügern hinzu.
Ja, die Medizin! Kosten thut sie viel, aber helfen thut sie nicht, erwiderte
die Weitungen.
Nich in die Düte, sagte ein Mann, der hinzugetreten war. Er trug einen
schwarzen Anzug, eilte Stahlbrille, einen Cylinderhut, der schon viel Ungemach
ertragen hatte, einen Stock mit einer Hornkngel in der Hand und einen Schweins¬
lederband ansehnlicher Größe uuter dem Arme. — Nich in die Düte, sagte der
Mann — denn worum? weil die Doktors sich mit dem kleinen Mann keine
Mühe geben. Wo ick dat wissen muß. Und weil die gute Medizin an die
Reichen kommt, und die schlechte an die Armen, weil sie die teure Medizin nicht
bezahlen können.
Die Frauen sahen sich verwundert an. — Ja das ist wahr, sagte die Krügern.
Wie meine Emma voriges Jahr die Bleichsucht hatte, da sagte Doktor Duttmüller,
die teuerste Medizin könne er nicht verschreiben, aber er wolle ihr was geben, was
auch hilft. Aber geholfen hat es nicht.
Det sag ick jn, fuhr der Mann fort. Diese Doktors un Apothekers müßte
man verkloppen, bis et Öl jiebt. Jn'n Rooch hängen müßte man die janze
Bande. Dat sag ick. Hier! Wo ick Doktor Duttmüllern sein Vater bin und mir
als Naturheilkünstler defendit habe.
Sie? sagte die Rothkamm, Sie sind ja doch der Kümmelmüller.
Ach wat, Kümmelmüller, erwiderte der Alte unwillig- Ick bin Alois Dutt¬
müller „sen." — Senn sprach er es aus —, wo ick jetzt wieder aus meinem aller¬
höchsten Alibi rausjetreten bin. Und wenn ick meinen Louis habe Doktor werden
lassen, dann werde ick't woll selber wissen, wat eil Doktor is. Un ick kann dat
noch ville schöner als 'n Doktor. Hier! wo ick dem alten Schäfer Matthias sein
Buch für viel Geld gekauft habe, wo allens drin steht, von der sauern Gärung
rechtsseitig und linksseitig, und von den Pvrusseu und dein Krankheitsstoff, und wie
der Krankheitsstoff ansjetrieben werden muß, wovon die Doktors und die Apothekers
keinen Schimmer von einer blassen Ahnung haben.
Die Krügern stieß die Weitungen an: Weitungen, lassen Sie doch den Man»
einmal Ihrem Manne sein Bein untersuchen. Hilft es nichts, so Schädels nichts.
Hilfts nichts, so Schädels nichts, fügte die Rothknmm hinzu. Bisch! disch!
Die Weitungen war es zufrieden, und so setzte sich der Zug in Bewegung.
Voraus die Weitungen mit der Medizinflasche und der Sirupschüssel, dann der
Naturdoktor, der die Kugel seines Stockes nachdenklich unter die Nase hielt, dann
die Krügern mit ihrem Korbe, die Rothkamm mit ihrem Kinde, das durchaus
nicht schlafen wollte, und zuletzt, was an Kindern und Katzen vorhanden war. Das
Haus war bald erreicht; die Weitungen und der Naturdoktor traten ein, und die
andern drängten sich in der Thür, um zu sehen, wo das hinauswollte.
Husareuweidling saß am Kochofen in einem Lehnstuhl und hatte das dick ein¬
gewickelte Bein auf einen Stuhl gelegt. Es war eine schauerliche Luft in der Stube.
Auf dem Tische, unterm Feuster stand in Pfützen von Kaffee Kaffeekanne und
-Tasse, eine Flasche Arnika, ein Topf Brustthee und eine Büchse mit Salbe, die
nach Jodoform roch. Und alles war dicht mit Fliegen besetzt.
Edeward, sagte die Weitungen, der Mann, was der alte Dnttmüller ist, will
einmal dein Bein besehen.
Weidling murrte etwas in sich hinein, ließ es aber geschehen, daß das Bein
aus endlosen Wickeln frei gemacht wurde. Duttmüller hatte sich, ohne d'en Hut ab¬
zunehmen, auf einen Stuhl gesetzt und sah, den Kugelstock unter der Nase, tiefsinnig
zu. Als die Bewicklung beseitigt war, war an dem kranken Beine nichts zu sehen,
als daß es vom Knie abwärts stark geschwollen war. Duttmüller roch daran, nickte
wie über die Bestätigung einer wohlbegründeten Annahme und sagte: Saure Gärung.
— Darauf griff er mit derber Hand das Knie an. — An! rief Weitling. Hier¬
auf verfuhr Duttmüller ebenso mit den Knöcheln. — An, Donnerwetter! rief
Weidling.
Das hat weh gethan, sagte Duttmüller.
Den Deibel auch, erwiderte Weitling.
Dat macht nichts, dat muß weh thun. Wo es die Spannung der Dünste von
wegen der sauern Gärung ist. Hier! rechts gehts runter, und dann links wieder
rauf. Zuerst hats Knie weh gethan, und dann der Fuß.
Nein, wandte die Weitungen ein, erst hats im Knöchel gesessen, und dann
ini Knie.
Halten Sie Ihre jeehrte Fntterluke, Weitungen, sagte unwillig Duttmüller
senior, die rechtsseitige saure Gärung geht von oben nach unten, und die linke von
unten nach oben. Also hat et zuerst ins Knie jesessen und ist saurer Krankheitsstoff,
der ausjetrieben werden muß. Wo ick dat allens weiß, wo es im Schäfer Matthias
seinem Buche steht. Hier!
Die Frau fügte sich der höhern Weisheit und fragte nur bescheiden, was
denn nun anzufangen sei, um den Krankheitsstoff auszutreiben. Duttmüller fühlte
sich durch die Frage etwas in Verlegenheit gesetzt, ließ sich aber nichts merken,
sondern untersuchte, während die Fliegen in Scharen aufflogen, die auf dem Tische
stehenden Medikamente. — Was haben Sie denn hier? fragte er, die Salbe in die
Hand nehmend und daran riechend.
Das ist Salbe, die der Herr Doktor verschrieben hat, sagte die Weitungen,
eingeschüchtert und gleichsam entschuldigend.
Dat is man bloß Fett und Stiukstoff, det verschmiert die Porusse und treibt den
Krankheitsstoff in den Leib hinein. Det können Sie dem Apotheker wiederjeben.
Und dat hier? Ar —- ar — ? —
Das ist Arnika, sagte die Weitungen.
Duttmüller hatte die Aufschrift durch die Brille nicht lesen können, da die Brille
für seine Augen nicht paßte. Jetzt nahm er die Flasche in die Hand, öffnete sie
und roch daran. Es roch nach Schnaps, was ihm Vertrauen zu dem Medikament
einflößte. — Dieser Arnika is jut, sagte er. Jeben Sie Ihrem Manne davon
früh eine halbe Bulle und abends eine halbe Bulle.
Das ist aber doch nur zum Einreiben, sagte die Weitungen.
Schweigen Sie still, erwiderte Duttmüller, was außen angeschmiert wird, treibt
den Krankheitsstoff in den Körper, und was innen eingegeben wird, treibt ihn heraus.
Hier! Wo det allens in dem alten Schäfer Matthias seinem Buche steht.
Bei dieser Verordnung blieb es. Duttmüller rüstete sich zum Aufbruche,
die Corona polterte die Treppe hinab, und Weidling bekam seinen Arnikaschnaps
eingeschüttet. Als er die erste halbe Bulle getrunken hatte, rollte er mit den
Auge», kriegte Zufälle und verweigerte die Annahme einer fernern Dosis. Es
half ihm aber nichts; auch die andre Hälfte wurde ihm beigebracht. Jetzt wurde
er blau im Gesicht, vergaß Angstschweiß und war nahe am Tode. Die Weitungen
kriegte Angst, aber die Nachbarinnen, die sich edel, hilfreich und gut erwiesen
hatten, rühmten die Medizin. Die greife die Krankheit ordentlich an und sei viel
besser als dem Doktor seine Tropfen. Und nach drei Tagen war Geschwulst und
Schmerz verschwunden, und in acht Tagen war Weidling gesund und konnte auf
die Arbeit gehn. Er besann sich kurz, kehrte zu Happich reumütig zurück, und
Happich nahm ihn mit Freuden wieder auf.
Diese Kur brachte dem Wunderdoktor großen Ruhm ein. Er nahm die Lob¬
sprüche mit dem Selbstbewußtsein entgegen, zu den: ihn sein Erfolg berechtigte. —
Machen wir, sagte er. Hier! wo allens im Buche steht von wejen die saure Gärung
und det jnnze Register. — Die Frauen brachten ihre Kinder, und Dnttmüller hatte
es gleich heraus, daß ihr Leiden saure Gärung war, rechtsseitige von oben nach
unten, oder linksseitige von unten nach oben, und füllte Seifenwasser in die
Kinder hinein, um die Porusse zu reinigen, und ließ sie schwitzen, um den Krank¬
heitsstoff auszutreiben — und hatte Erfolg. Mit dem Erfolge wuchs aber
die Kühnheit, und bald gestaltete sich ihm in seinem schöpferischen Gehirn eine
neue Theorie, die in dem Satze zusammengefaßt wurde: Äußere Mittel müssen
innerlich gegeben werden.
So folgte der alte Duttmüller den Spuren seines Sohnes Louis. Wo dieser
Hin! ja! sagte, vorsichtig mit salichlsauerm Natron anfing und dann allmählich die
Reihe der Mittel durchprobierte, die nach Gebrauch und Übung für den betreffenden
Fall in Betracht kamen, da that Dnttmüller-Senn, wie er sich nannte, einen tiefen
Blick in die Natur, gab äußere Mittel innerlich, öffnete die Porusse mit Seifen¬
wasser — und hatte Erfolg, oder die Leute bildeten es sich ein, Erfolg zu spüren.
Wenn sie von Duttmüllers Latwerge« Beschwerden hatten, so fühlten sie es ordentlich,
wie die Medizin die Krankheit angriff, rechtsseitig oder linksseitig. Und wenn
Duttmüller-Senn seine Sache erklärte und auf die rechte oder linke saure Gärung
brachte, so verstanden sie das viel besser als Dnttmüllers junior gelehrte Aus¬
einandersetzungen mit den unverständlichen lateinischen Namen. Wenn aber vor¬
sichtige Leute, die um einmal auf die Krankenkasse und auf Doktor Duttmüller
als Krnnkenkassenarzt angewiesen waren, Bedenken trugen, sich dem alten Duttmüller
anzuvertrauen, so sagte dieser: Mein Sohn Louis ist eine Schafsnase, wo der
nicht einmal weiß, was Zentraljeerung is, und wo der weiter nichts kann, als
die Leute beschmusen und hernach blechen lassen, daß et ihnen windelweich int
Jemüte wird. Und was dat vierte Gebot ist, da hat er keinen Schimmer von, denn
sonst würde er nicht so jnietschig sein und seinem Vater sein väterliches Erbteil vor¬
enthalten. Hier, wo ick jetzt fünfundsechzig Jahre alt bin und mein Altenteil bean¬
spruchen kann. Und wo ick doch dem alten Schäfer Matthias fein Medizinbuch habe,
Wo alles drin steht, und wo ick doch Weitungen, dem kein Doktor helfen konnte,
in drei Tagen uf de Beene gebracht habe.
Das letzte Argument zog am meisten, ferner auch das, daß Duttmüller-Senn
keine Bezahlung forderte, sondern nahm, was man ihm heimlich in die Hand
drückte. Dnttmüller-Senn machte die tollsten Sachen, besonders in den Zeiten
seines Quartalsuffs. Er begnügte sich nicht mit der Kundschaft der kleinen Leute,
er drang auch in die Häuser der Großen. Er ließ sich von Heinrich Quarg in
Asseborn konsultieren und führte die Altersbeschwerden der alten Klausewitzen in
Klein-Siebendorf zu deren großer Erleichterung ans saure Zentralgärnng zurück
und behandelte sie mit innerlich gegebnen Hirschtalg und Bleiwasser.
Und Doktor Duttmüller merkte nichts davon. Die Kleinen hielten gegen den
Kassenarzt zusammen wie Pech, und den Großen machte es Vergnügen, den Doktor
zu hintergehn und sich klüger zu dünken als er. Und so erlitt er Einbuße an Ein¬
kommen, viel mehr aber noch an Ansehen. Denn bisher hatte sein Wort allein ge¬
golten, niemand hatte gewagt, an der Unfehlbarkeit seiner Diagnosen zu zweifeln.
Nun kam zu seineu Monologen eine kritische Stimme, man wurde mißtrauisch und
fing um selbst zu kritisieren und dem Doktor alles in Rechnung zu stellen, was er
verfehlt oder auch nicht verfehlt hatte. Dazu beklagte mau sich über seine hohen
Honorare, daß er zuviel rede und zu oft wiederkomme, wen» man ihn gar nicht
mehr haben wollte. Und mau erinnerte sich des alten Blume, der zwar sehr grob
war, aber nicht so ein Gerede machte, nie mehr versprach, als er halten konnte,
und deu Apotheker nicht unnötig in Nahrung setzte. Und so geschah es, was seit
Jahren nicht erlebt worden war, daß Doktor Blumes alter Dvktorwagen wieder
in Hvlzweißig gesehen wurde. Doktor Dnttmüller ärgerte sich darüber furchtbar
und nannte das Verfahren Blumes Maugel an Kollegialität, ohne zu bedenken,
daß er Blume aus Hvlzweißig und manchem andern Orte verdrängt hatte, ohne
danach zu fragen, ob es ihm gefalle oder nicht. Er fing an, an dem wissen¬
schaftlichen Verständnis der Jetztzeit zu zweifeln, wenn man ihn. den wissenschaftlichen,
jüngern Arzt verließ und zu dem alten Hansmitteldoktor zurückkehrte.
Damit konnte er es freilich nicht ändern, daß die alte Krügern eines Tages
nach Rvdesheim ging und Doktor Blume himmelhoch bat, er möchte doch nach
Hvlzweißig kommen und mich ihrer Tochter, die Näherin und von schwacher
Konstitution war, sehen. Sie sei so dämpfig und huste und habe Schmerzen im
Rucke». Doktor Blume kam denn auch nächsten Tages und hatte es mit dem
ersten Blicke heraus, daß er eine vernachlässigte Rippenfellentzündung vor sich habe.
Die Patientin war offenbar gänzlich verwahrlost und falsch behandelt worden. Es
war eine weit vorgeschrittne Vereiterung zu konstatieren.
Krügern, ich bitte Sie um Gottes willen, sagte er, wer hat denn Ihre Tochter
behandelt?
Die Krügern wollte erst nicht mit der Sprache heraus, und dann nannte sie
Duttmüllern.
Wer? der Doktor Duttmüller? Unmöglich! Das Empyem hätte jeder Student
feststellen können. Hat er denn geklopft? Hier auf die Brust und auf den Rücken?
Nee, geklopft hat er nicht.
Hat er denn die Temperatur gemessen? Eine Prvbepunktion gemacht.
Nee, gemessen hat er nichts.
Hin! — hin! hin!
Und daun ist es meiner Tochter immer so übel. Scheu Sie, da kommt es
schou wieder. — Die Patientin erbrach sich und brachte eine grüne, schleimige
Masse heraus. Es sah aus wie Galle. Doktor Blume untersuchte den Stoff,
schüttelte den Kopf und schrie dann: Aber Menschenkinder, das ist ja grüne Seife!
Ja, Herr Doktor, das wird wohl grüne Seife sein, sagte die Krügern.
Dnttmüller sagte, daß das gut für die saure Gärung wäre.
Wer? Duttmüller? Krügern, Sie ist verrückt. Doktor Louis Duttmüller soll
Ihrer Tochter grüne Seife eingegeben haben?
Nee, der nicht, sondern der andre, was der Alte ist, zu dem sie Kümmelmüller
sagen. Er heißt aber Duttmüller und ist Naturdoktor und sagt, daß er Doktor
Duttmüllern sein Vater ist.
Und von so einem Esel läßt sie alte Gans ihrer Tochter grüne Seife in den
Hals stecken, statt zu einem Arzte zu schicke»? Ist sie denn ganz des Teufels?
Weiß sie denn auch, daß hier die höchste Gefahr ist? Ihre Tochter muß sogleich
operiert werden.
Da fing die Kranke an zu schreien: Ach nein! ach nein! nicht schneiden, ich
habe den Tod, wenn ich geschnitten werden soll.
Deu hat sie, wenn nicht geschnitten wird, auch. Sie steckt ja voll von Eiter.
Und wenn der nicht herauskommt, so kriegt sie Auszehrung.
Aber es war nichts zu machen. Beide Frauen wehrten sich aufs äußerste
gegen die Operation. Doktor Blume wurde böse und sagte, sie möchte sich kurieren
lassen, von wem sie wollte, er ließe sich nicht für den Narren halten. Damit
ging er ab. Kaum hatte er die Thür geschlossen, so lief die Krügern ihm nach. —
Herr Doktor, Herr Doktor, rief sie, wenn meine Tochter die Auszehrung kriegt,
dann wird doch nicht etwa was zurückbleiben?
Dein Doktor Blume versagte die Antwort. Ruch einigen tiefen Atemzügen fügte
er: Krügern, sie ist so dumm, daß es den lieben Gott über sie jammern muß.
Doktor Blume blieb mitten auf der Straße breitbeinig stehn und betrachtete
angelegentlich die Krücke seines Stockes. Dann faßte er einen Entschluß und stiefelte
eifrig zum Hause des Doktor Duttmüller. Doktor Duttmüller war nicht anwesend,
er war auf dem Fronhofe, mußte aber gleich zurückkommen. Aber die Frau Doktor
war zu Hause. Doktor Blume trat ein, Alice kam ihm mit großer Herzlichkeit
entgegen und reichte ihm beide Hände zum Gruße: Lieber Herr Doktor, ich freue
mich, Sie nach langer Zeit endlich einmal wieder zu sehen.
Ich auch, Frau Cvllegn, erwiderte Blume, es ist jammerschade, daß so alte
Freunde, wie wir beide, so selten zusammenkommen.
Ja, warum eigentlich?
Weil wir Doktoren alte Neidhämmel sind, sagte er, Spinnen sind wir. Jede
sitzt in ihrem Neste und sucht Fliegen zu fangen, und wenn wir uns einmal zu nahe
kommen, so geht es auf Leben und Tod, und einer beißt den andern weg.
Sie scherzen, Herr Doktor. Es Ware schlimm, wenn es so wäre. Nein, da
habe ich eine höhere Meinung von dem hohen und uneigennützigen Beruf eines
Arztes. Sagen Sie, giebt es etwas schöneres als Wissenschaft haben und mit ihr
allen Menschen helfen können, deu Reichen wie deu Armen?
Das war einmal, Frau Collega, das war einmal. Früher, als man beim
Doktorwerden die drei Finger hochhob und schwur, jedermann, wer es anch sei,
und anch ohne Geld mit seiner Kunst zu dienen. Damals waren wir noble Leute.
Aber heute stehn wir unter dem Gewerbegesetze und sind Geschäftsleute geworden
wie andre auch. Der Bauer verkauft sein Korn, und wir verkaufen unsre Weis¬
heit, die — Gott sei es geklagt — oft nicht das Geld wert ist, das dafür ge¬
zahlt wird.
Alice schüttelte lächelnd mit dem Kopfe und sagte: Als ob ich Sie nicht besser
kennte. Sie kehren alle Borsten heraus, aber darunter sitzt ein lieber, guter Mensch,
der weder Handwerker uoch Geschäftsmann ist. Als ob ich nicht wüßte, daß Sie
eben jetzt etwas ans dem Herzen haben, was mit Ihrem Vorteil nichts zu thun hat,
sondern mit dem Wohl eines Mitmenschen.
Doktor Blume machte Hin! hin!, konnte es aber nicht leugnen, daß so etwas
ähnliches in der That vorliege. Und so kam die Rede auf die alte Krügeru und
ihre kranke Tochter und auf andre notleidende Persönlichkeiten. Dabei beobachtete
Doktor Blume Alice, die ihm gegenübersaß, und fand, daß sie blaß aussah, eigentlich
wenn mau so sagen darf — mehr innerlich als äußerlich blaß. Da hinten
hinterm Auge wars nicht richtig, da drückte eine Last oder zehrte ein Schmerz.
Doktor Blume pflegte nicht lange Umstände zu machen, sondern deutlich aus¬
zusprechen, was er dachte. — Wissen Sie auch, Frau Collega, sagte er, daß Sie
wir ganz und gar nicht gefallen? — Jetzt fühlte er doch, daß das einer Dame
gegenüber einigermaßen grob sei, und fuhr fort: Sie müssen einem alten Kerl, wie
wir, eine wohlgemeinte Grobheit nicht übel nehmen. Ich meine Ihr Befinden.
O, erwiderte Alice, ich befinde mich sehr wohl, nur fehlt gar nichts. Aber
sie sagte es zu lebhaft und absichtlich, als daß es Blume geglaubt hätte. Blume
War trotz seiner Grobheit zu zartfühlend, als daß er weiter geforscht hätte, und so
wandte sich das Gespräch gleichgiltigen wissenschaftlichen Dingen zu. Dann fragte
Alice unvermittelt: Sagen Sie, Herr Doktor, giebt es eine Vererbung von Cha¬
raktereigenschaften?
Ganz gewiß, antwortete Doktor Blume.
Ich meine, fuhr Alice fort, eine Vererbung innerhalb ganzer Stände.
Sie meinen zum Beispiel den Adel? sagte Blume.
Ja, auch den Adel. Natürlich glaube ich uicht, daß die Adlichen aus anderen
Stoffe geformt seien als andre Menschen. Nein wirklich, ich glaube nicht, daß ein
Mensch darum von edler Gesinnung sein müsse, weil er aus einem edeln Hanse
stammt. Wenn aber in einem solchen Hause eine edle Gesinnung Fnmilientraditivn
ist, wird es dann nicht zuletzt ein Familienbesitz, der sich forterbt? Sehen Sie. Herr
Doktor, ich meine, ein strengeres Pflichtbewußtsein, ein feineres Gefühl für das Schick¬
liche, natürlicher Takt, ein stärkeres Rechtsbewußtsein, turn das nicht durch Übung
von Geschlecht zu Geschlecht zu dem Besitztum dieses oder jenes Standes werden?
Hin! eine etwas schwierige Frage.
Ich meine also zum Beispiel den Ehrbegriff des Offiziers, den Pflichtbegriff
des Beamten, die Lebensanschauung des Geistlichen. Ich habe darüber viel nach¬
gedacht. Mit Darwin würde es stimmen. Ich gehöre nicht zu den Materialisten, ich
kann mich Ma dem schönen Vorurteil, daß wir eine Seele haben, nicht trennen. Aber
auch dann würde es stimmen. Wenn es eine körperliche Erbschaft giebt, muß es
auch eine geistige geben, da doch der Geist in Abhängigkeit vom Körper steht.
Ganz gewiß, Frau Collega.
Nicht wahr, Sie geben mir recht? fuhr Alice fort. Dann darf man aber auch den
einzelnen Menschen als solchen nicht beurteilen, man muß ihn betrachten als Glied
seines Standes. Man muß nachsichtig sein gegen solche, die in sogenannte höhere
Stände einrücken und die Vorurteile oder Mängel ihres Standes mitbringen. Sie
sind nun einmal nicht anders gestaltet, sie können nicht anders. So wenig man
der Arbeiterin ihre unschön gebildete Hand vorwerfen kann, so wenig einem Menschen
niedern Standes, wenn er die seinein Stande eigentümlichen Anschauungen beibehält.
Erst in der Zukunft, im nächsten Geschlecht gleicht sich das aus. Neulich klagte der
alte Herr Pastor über seine jungen Amtsbruder, sie seien von unten herein gerückt
und verschlechterten den Stand. Ich widersprach, aber er hatte doch Recht, nur daß
man sich nicht beklagen darf.
Doktor Blume fing an zu versteh«. Denn mit den Mediziner» war es
ebenso, und bei Duttmüller traf es auch zu. Die arme Frau fühlte den Mangel
und suchte nach Gründen, ihn zu entschuldigen.
Ich sagte vorhin, entgegnete Doktor Blume, daß Sie mir nicht gefallen, jetzt
will ich Ihnen sagen, woran es fehlt. Sie tifteln zu viel. Als normale Frau
müssen Sie mehr reden und weniger denken. Beschäftigen Sie sich doch mit Ihrer
Wirtschaft.
Wenn ich das könnte!
Ja, warum denn nicht? Aha! Da ist die alte Duttmüllern, die hat wahr¬
scheinlich das Departement an sich gerissen und läßt Sie an nichts heran.
Alice nickte.
Man muß die Intelligenz dieser alten Weiber wirklich bewundern! Na
warten Sie, ich will Ihnen meine Fran schicken, die hat ein gottgesegnetes Mund¬
werk. Die soll Sie auf andre Gedanken bringen. Im Ernst geredet, Frauen
müssen sich aussprechen können, sonst bekommen sie geistige Indigestionen.
Hier kam Doktor Dnttmüller zurück. Als er seiue Frau Visavis von Doktor
Blume sah, machte er ein etwas verdutztes Gesicht. Er war ja dem Doktor Blume
nicht feind, aber er ging ihm aus dem Wege. Er fürchtete seinen scharfen Blick
und fein deutliches Wort. Der Verkehr zwischen den beiden Doktorhäusern in Nodes-
heini und in Holzweißig war nicht über einige notwendige Formen hinausgekommen.
Doktor Blume hatte mit dem Herrn Kollegen ein Wort zu sprechen, wozu
sich beide ins Sprechzimmer begaben. Es gab eine lange Auseinandersetzung.
Man hörte Doktor Duttmüller im Zimmer uncherstampfen. Als Doktor Blume ge¬
gangen war, folgte eine erregte Auseinandersetzung von Louis Duttmüller mit
seiner Mutter. Was er ihr mitgeteilt hat, ist nicht gehört worden, Wohl aber,
daß die Duttmüllern fuchswild war und mehrmals ausrief: Anzeigen mußt du
den Lump, ins Zuchthaus mußt du ihn bringen, den Luribmns miserabeln. Worauf
Doktor Duttmüller wieder erregt auf und ab lief, ohne jedoch zu einem Entschluß
kommen zu können.
Nach einiger Zeit erhob sich im Dorfe ein großer Lärm. Die alte Krügern
lief von Haus zu Haus, rang die Hände und schrie, so laut sie konnte. Man
redete in den Häusern, man blieb auf der Gasse stehn und tuschelte, ein Gefühl
noch nicht dagewesener Entrüstung verbreitete sich durch das ganze Dorf. Die
Tochter der Krügern war gestorben, und zwar in der Klinik von Professor Emden,
nachdem sie Dnttmüller behandelt und darauf zu Emden gebracht hatte. Nun
wollte der Professor Emden für Operation und Pflege 315 Mark haben, und da das
die Krügern nicht bezahlen konnte, die Leiche nicht eher herausgeben, ehe nicht das
Geld bezahlt sei. Die Krügern bebte vor Grauen und schrie, als wenn sie selber
in die Leichenknmmer eingesperrt werden sollte, und die alten und die jungen
Weiber hatten eine abergläubische Furcht und hielten, wenn sie unter sich waren,
mit ihrem Urteile über Professor Emden nicht zurück: Es sei eine Sünde und
eine Schande, einem armen Menschen das christliche Begräbnis zu verweigern.
Aber die Doktors glaubten selber um nichts und wüßten weiter nichts, als aus
den Kranken soviel Geld hernusznpressen, als nur möglich sei. Und es sei das
beste, sich mit dem Doktor gar nicht einzulassen. Aber wenn einmal einer käme,
der es mit dem armen Menschen gut meine, und der nicht daraus aus sei, den
Apotheker reich zu machen, der werde gleich weggebissen. Und wenn die Krügeru
nicht den jungen Dnttmüller raugelassen hätte, dann lebte ihre Tochter heute noch.
Das half freilich der alten Krügern nichts, und wer weiß, was geschehen
wäre, wenn nicht der alte Herr Pastor von der Sache gehört hätte. Der Herr
Pastor war ein hoher Siebziger und kam wenig aus seinem Pfarrhause heraus,
weil seine alten Beine den Dienst versagten. Als er aber die Not der Krügern
hörte, holte er mit zitternden Händen seinen schwarzen Rock ans dem Kleider¬
schranke, zog mühsam seine Stiefel an, bewaffnete sich mit einem Bogen Papier
und Bleistift und ging aus, um die 315 Mark zu sammeln. Es gelang ihm über
Erwarten leicht. Die Bauern, die sonst sehr zurückhaltend mit ihren Geldern
waren, gaben reichlich, und überall, wo man gab, wurden Professor Emden und
die Mediziner überhaupt in scharfe Kritik genommen.
Kleeberger, sagte der Herr Pastor zu seinem Kircheurendanten, fahren Sie doch
heute nachmittag in die Stadt und bringen Sie dem Professor Emden seiue 315 Mark.
Ich werde den Deibel thun, Herr Pastor, sagte Kleeberger.
Aber Kleeberger! sagte die Frau Pastorin.
Was? so ein Sündengeld dafür, daß er die Krügern totkuriert hat und für
die Paar Tage in der Klinik? Mehr als die Hälfte kriegt er nicht, und das
andre geben wir der alten Krügern zum Begräbnisse, und daß sie ein paar Thäler
in der Hand hat.
Und so geschah es. Professor Emden mußte mit der Hälste zufrieden sein,
und die arme Näherin wurde begraben mit einem Pomp und einer Beteiligung
der Gemeinde, als wenn sie fürs Vaterland gestorben sei. Und im ganzen Dorfe
herrschte große Zufriedenheit.
Weniger war dies der Fall im Hause vou Doktor Duttmüller. Duttmüller
war in der allerschlechtesten Laune, und er gab sich auch keine Mühe, sie zu ver¬
bergen. Die alte Duttmüllern wetterleuchtete im Hause herum. Alice hätte sich
gern mit einer ansehnliche» Gabe den Gebern angereiht, aber sie getraute sich
nicht. Sie konnte sich nicht verbergen, daß die Sammlung nicht allein gegen Pro¬
fessur Emden gerichtet war, sondern auch gegen ihren Mann, der die Kranke zu
Emden gebracht hatte, und dann hätte sie durch ihre Gabe gegen ihren Mann Partei
genommen. So steckte sie wenigstens heimlich Ellen ein Geldstück zu.
Es war, als wenn es Duttmüller geahnt hätte, denn um wandte sich seine
schlechte Laune auch gegen Alice. Als am Abend die Familie Duttmüller und
Ellen, die zu Besuch anwesend war, beim Thee saßen, verhielt sich Duttmüller, der
eifriger als sonst aß, stillschweigend, als er sich aber gesättigt hatte, und das Ge¬
spräch das Ereignis des Tages streifte, sagte er: Diese Bettelei ist ein Skandal.
Daß mir keiner von euch etwas dazu giebt.
Damit kommst du zu spät, Schwager, ich habe bereits zehn Mark dazu gespendet.
Wenn dn dein Geld wegwerfen willst, sagte Duttmüller, so kaun ich das nicht
hindern. Der alte Schleicher von Pastor hätte auch etwas besseres thun können,
"is im Dorfe herumznbctteln.
Höre einmal, Schwager, sagte Ellen, ein alter Schleicher ist der Pastor nicht, sondern
em guter alter Herr, vou dem andre Leute manches lernen könnten, z. B. Güte und
Uneigennützigkeit. Die Sammlung halte ich allerdings für einen Fehler. Ich hätte an
Stelle der Krügern geantwortet: Hier, Herr Professor, haben Sie meine Tochter,
behalten Sie sie. Dann war er blamiert. Aber die Alte war ja ganz außer sich!
Louis blickte etwas unsicher um sich. Er begriff, daß das eine unangenehme
Wendung der Sache gewesen wäre. — Ach was, sagte er, das thun die Leute
nicht, dazu haben sie zu viel —
Pietät, willst du sagen, fiel Ellen ein. Das ist richtig. Und das benutzt ihr
praktischen Mediziner und dreht den Leuten einen Strick daraus.
Wer hätte es denn sonst bezahlen sollen? fragte Louis.
Du, bester Schwager, du hast die Emma zu Emden gebracht, obwohl du weißt,
daß die arme alte Frau nichts hat.
Fällt mir gar nicht ein. Laß sie doch ihr Haus verkaufen.
Aber Louis! Wer weiß, wieviel von dem Häuschen ihr gehört? Und du weißt doch,
was es für einen armen Menschen auf dem Lande bedeutet, sein Häuschen zu verlieren.
Damit ward sie doch heimatlos. Und ins Armenhaus ziehn — lieber sterben.
Ist mir ganz egal. Wer den Arzt braucht, muß auch den Arzt zahlen. Na
wartet, die Gesellschaft soll mir blechen, daß ihr die Augen übergeht.
Die alte Duttmüllern billigte diesen Grundsatz ihres Louis mit Genugthuung
und fügte hinzu: Wer ist an der ganzen Bescherung schuld? Der Ganner, dein
Vater, Louis. Wenn du den Menschen jetzt nicht vor den Staatsanwalt bringst,
so thue ich es, so wahr ich die alte Dnttmüllern bin.
Alice hörte dem mit großen, starren Angen zu, sah bleich aus und sagte kein
Wort. Ellen aber rief: Pfui Kuckuck, ihr seid mir eine schöne Gesellschaft, nahm
ihren Hut und ging ab.
Nachdem
die Presse schon hier und da die Möglichkeit eines Eintritts der sächsischen Eisen¬
bahnen in die preußisch-hessische Eiseubahngemeinschaft erörtert hat (vgl. Grenz-
boten 1901, Ur. 24), ist die Frage am 9. Mai auch in der zweiten Kammer des
sächsischen Landtags zur Sprache gekommen. Denn der Bericht der Deputation
über die finanziellen Ergebnisse der sächsischen Staatseisenbahnverwaltuug, wie er
in dieser Sitzung erstattet wurde, giebt allerdings kein erfreuliches Bild. Die
Eisenbahnschuld, also das in den Eisenbahnen steckende Anlagekapital, ist binnen
zwei Jahren, von Ende 1898 bis Ende 1900, von 603237 550 Mark auf
696589650 Mark, also um rund 93 Millionen Mark gewachsen und erfordert
an Verzinsung und Tilgung für 1902/3 28908470 Mark. Dem steht aber ein
Betriebsüberschuß nur noch von 31811420 Mark gegenüber, sodaß der reine
Überschuß nur 2902950 Mark beträgt gegen 10406 547 Mark für 1900/1.
Dieser Überschuß ist der geringste seit 1859. Die Rente von den Eisenbahnen war
schon 1899 auf 3,7 Prozent gesunken, während sie in Preußen damals 7,3 Prozent
betrug. Dieser Rückgang wird nicht nur durch deu schlechte» Geschäftsgang, sondern
auch durch die zahlreiche» Neu- und Erweiternugsbcmtcn veranlaßt; jedenfalls hat
die Gesamtlänge der Linien, die Zuschüsse brauchen, gegen 1899 um 447,8 Kilo¬
meter zugenommen. Die Hauptgründe liegen aber tiefer. Die sächsische Verwaltung
ist die kostspieligste in Deutschland. Von den Gesamtausgaben fielen in Sachsen
auf persönliche Ausgaben (Beamte) 52,57 Prozent, in Bayern 49,45 Prozent, in
Preußen und Hessen 48,42 Prozent, denn die Zahl der Beamten, Diener und
Arbeiter betrug auf 1 Kilometer Bahnlänge durchschnittlich in Sachsen 14,69, in
Bayern 8,21, in Preußen und Hessen 11,51; namentlich sind die Kosten der
allgemeinen Verwaltung in Sachsen außerordentlich hoch, was zum Teil auf die
geringe Selbständigkeit der einzelnen Beamten zurückgeführt wird. Sodann ist der
Durchgangsverkehr durch Sachsen zu einem großen Teile auf die preußischen Kon-
kurrenzliuien übergegangen. Ein guter Teil des nordsüddeutschen Verkehrs nimmt
jetzt seinen Weg an Leipzig vorbei über Halle — Erfurt — Ritschenhausen oder
Halle—Großheringen—Probstzella, und parallel zu der westöstlichen sächsischen Linie
Leipzig—Dresden—Görlitz läuft die preußische Linie Leipzig—Eilenburg—Torgau—
Falkenberg-Kohlfurt. ja' die preußische Verwaltung leitet Gütertransporte auch
dann über ihre Linien, wenn der Weg an sich länger ist.
Was nun da von der Deputation und in der Kammer zur Abhilfe vorge¬
schlagen wurde, das will alles nicht Viel sagen, es macht im Gegenteil den Eindruck
bittrer Verlegenheit. Die Deputation empfahl im Sinne von § 42 der Reichs¬
verfassung auf Abstellung des Befahrens von Umwegen im Güterverkehr mit allen
Mitteln, vor allem durch Verhandlungen mit Preußen, hinzuwirken. Der Vize-
Präsident der zweiten Kammer, der Konservative Opitz aus Treuen, wünschte Ersparnisse
durch bescheidnere Bauten, Einschränkung in der Zahl der Züge, Verringerung der
Beamten, gab aber selbst zu, daß dabei höchstens 2 bis 3 Millionen herausspringen
würden und hielt deshalb sogar eine Erhöhung der Tarife für möglich. Auch der
Finanzminister Dr. Unger nahm solche Ersparnisse in Aussicht, bezeichnete aber ein
einseitiges Vorgehn in der Tarifsache mit Recht als „völlig undenkbar," bestritt
zugleich entschieden, daß zwischen Preußen und Sachsen ein ..Eisenbahnkrieg" bestehe
und nahm die preußische Verwaltung gegen den in der That etwas bedenklichen
Vorwurf des „unlautern Wettbewerbs" energisch in Schutz, wenn er auch die That¬
sache einer Konkurrenz als eine natürliche Folge der Verhältnisse zugab. An ein
Reichscisenbahngesetz sei „augenblicklich nicht zu denken." Von einem Eintritt in
die preußisch-hessische Gemeinschaft wollte weder er noch der Wortführer der die
Kammer bekanntlich völlig beherrschenden Konservativen etwas wissen. Beide stimmten
darin überein, daß der Eintritt keineswegs die von mancher Seite erhofften günstigen
finanziellen Folgen haben werde; der Abgeordnete hob vor allem die politischen
Folgen, die Gefahren einer Erweiterung der Reichskompetenz und einer Einengung
der Landtagstompetenz hervor; das sei eine „Mediatisicrung" Sachsens, die nicht
geringer sei als die von 186V; ja er wagte die Behauptung, wer „um feiles
Geld" Ansehen und Einfluß seines (sächsischen) Vaterlandes aufgebe, könne nicht für
einen guten Patrioten gelten. Mit weniger Pathos beteuerte der Minister, „daß
die sächsische Regierung zu keiner Zeit daran gedacht habe, sich ihres Eisenbahn¬
besitzes in der einen oder der andern Form zu entäußern," und er fügte hinzu-
..Ein Staat von der Bedeutung, die Sachsen für sich beanspruchen darf, wird sich,
so lange er nicht selbst an der Berechtigung seiner Existenz zweifelt, schon im
politische» Interesse niemals zu einer solchen Maßnahme versteh»." Übrigens gab
er zu, daß sich die Regierung in der letzten Zeit theoretisch mit der Frage befaßt
habe. Von dem Referenten, dem Natioualliberalen Kellner, und von einem andern
uationalliberalen Redner, Dr. Vogel, wurde der Gedanke des Eintritts nicht von der
Hand gewiesen, aber Vogel bezeichnete den gegenwärtigen Zeitpunkt wegen der
'"edrigen Eisenbahnrcnte als ungeeignet.
Zunächst verwahren wir uns muss nachdrücklichste dagegen, daß die sächsische
^"terlnndsliebe von der Ansicht darüber abhängig gemacht werde, was dem sächsischen
^scnbahnwesen und den sächsischen Finanzen frommt. Was „gut sächsisch" sei, das
^ zuweilen recht zweifelhaft gewesen, und nicht immer sind die Leute die beste»
Achsen gewesen, die sich selbst dafür hielten und alle andern, die nicht ihrer
Meinung waren, des Mangels an Patriotismus beschuldigten. Das ist eine Art
^" Versuch zur Terrorisieruug der öffentlichen Meinung, den wir entschieden zurück¬
weisen, viel entschiedner, als es leider in der Kammer geschehn ist. Was ist das
""es für eine politische Einsicht, die von einer „Mediatisicrung" Sachsens 1866
als von einer offenbar bedauerlichen Sache redet und gar nicht daran denkt, daß
die Krone Sachse» für diese „Mediatisierung" durch einen Einfluß auf die Reichs-
"ngelegenheiten entschädigt worden ist, wie sie ih» zu keiner frühern Zeit jemals
ausgeübt hat. ganz abgesehen davon, daß die sogenannte Souveränität der deutschen
-'-'"edel- und Kleinstaaten nur sechzig Jahre bestanden hat und niemals etwas
andres gewesen ist als ein verwirrender Schein. Es handelt sich zunächst um
eine Finanzfrage, demnach allerdings um „schnödes Geld," aber um das Geld der
sächsischen Steuerzahler; es handelt sich einfach um die Frage: Ist der sächsische
Staat imstande, die Selbständigkeit seiner Eisenbahnverwaltung finanziell ohne un-
verhältnismäßige Opfer auch künftig zu behaupten, oder ist er es nicht? Wir
wissen nicht, ob er es sein wird. Es ist ja möglich, daß sich, wenn man im Ban
unrentabler Linien etwas „zurückhaltender" verfährt als bisher, wenn man die
Verwaltungskosten verringert, auch nicht mehr alle zuweilen sehr naiven lokalen
Wünsche befriedigt, und wenn der Geschäftsgang wieder besser wird, die Ein¬
nahmen wieder heben und die Ausgaben verringern. Aber einen festen Anhalt
dafür giebt es nicht. Ist er es aber nicht, nun dann würde es die Pflicht der
Regierung sein, in neue Bahnen einzulenken, denn regieren heißt voraussehen.
Fassen wir nun doch das Schreckensgespenst des Eintritts in eine größere
Eisenbahngemeinschaft etwas näher ins Ange! Zunächst ist doch anch jetzt die
sächsische Eisenbahnverwaltung so wenig ganz „unabhängig" wie die irgend eines
andern Mittelstaats; sie muß in Fahrplänen und Tarifen fortwährend Rücksichten
auf die Nachbarn, vor allem auf Preußen, nehmen, ohne doch irgendwelchen ent¬
sprechenden Einfluß auf dessen Leitung ausüben zu können. Nach wenig Wochen
mußten sich z. B. alle Mittelstaaten der in Preußen verfügten Giltigkeitsdauer der
Tagesbillets auf 45 Tage einfach unterwerfen, ohne daß auch nur Verhandlungen
stattgefunden hätten. Sodann und vor allein: die preußisch-hessische Eisenbcchn-
gemeinschaft ist eine Betriebs- und Finanzgemeinschnft, keine Besitzgemeiuschaft, der
hessische Staat ist vielmehr im Besitz seiner Eisenbahnen geblieben. Auch ist der
Betrieb gar nicht schlechtweg auf die preußische Verwaltung übergegangen, es besteht
vielmehr eine gemeinsame preußisch-hessische Eiscnbahndirektion in Mainz neben der
preußischen in Frankfurt a. M., beide stehn unter einem gemeinsamen Bezirks¬
eisenbahnrat, und überdies ist Hessen sowohl im preußischen Ministerium für öffent¬
liche Arbeiten als im preußischen Eisenbahnrat vertreten, hat also vollkommen Ge¬
legenheit, seine Interessen zu wahren. Von den gemeinsamen Einnahmen bezieht
es keineswegs eine feste Rente, sondern einen festen Prozentsatz (^/^,), es nimmt
also an den gemeinsamen Gewinnen und Verlusten entsprechend teil, die sich doch
offenbar bei einem so kolossalen Netz (gegen 32000 Kilometer) eher ausgleichen
als bei einem viel kleinern; jedenfalls bezieht es schon jetzt eine gegen früher be¬
trächtlich erhöhte Eiseubahnrente (7 Prozent).
Denken wir uns nun Sachsen in dieselbe Lage versetzt, so würde es sein Eigen¬
tumsrecht an seinen Staatsbahnen behalten wie bisher; es würden nur ein oder
auch zwei gemeinsame Eisenbahndirektionen in Dresden und Leipzig nnter einem ge¬
meinsamen Eisenbahnrat zu errichten sein, und Sachsen würde seine Vertretung in
Berlin haben, also auf den Gesamtbetrieb Einfluß gewinnen, der ihm jetzt völlig
fehlt, und an dein Gewinn auch der preußischen Konlurrenzlinien einen Anteil haben,
die jetzt auf seine Eiseubahnrente drücken, und seine eignen Eisenbahnverbindungen
wesentlich verbessern, die jetzt für Leipzig, die größte Stadt des Landes, nach ver-
schiednen Richtungen hin geradezu skandalös sind, weit die preußische Verwaltung
auf Leipzig keine Rücksicht zu nehmen braucht. Da Sachsen ein musterhaft ver¬
waltetes Eisenbahnnetz von etwa 3000 Kilometern besitzt, würde es unzweifelhaft
wesentlich günstigere Bedingungen erlangen können, als das um so viel kleinere
Hessen. Es wäre z. B. wohl möglich, daß es sich das Anstellungsrecht für die
Beamten in Sachsen vorbehielte. Und wenn nicht alle seine Linien Aufnahme finden
sollten, so ist nicht abzusehen, warum nicht auch in Sachsen die Bezirke Neben-
und Kleinbahnen übernehmen könnten, die freilich viel billiger gebant und verwaltet
werden müßten als bisher. Solche tief eingreifende Fragen werden nur durch die
sorgfältigste» Erwägungen entschieden, nicht dnrch erregte Deklamationen. Wenn ein
(eingesandter) Artikel der Leipziger Zeitung vom 9. Maid. I. sagt, „wir würden
dann nicht mehr Herr im eignen Hanse sein," so ist das eine bestechende, aber in¬
haltslose Phrase. Kein deutscher Staat ist heute mehr ganz „Herr im eignen
Hause," sie sind alle von der Reichsgewalt in bald größerm, bald geringerm
Maße abhängig, sie haben auch über Posten und Telegraphen meist nicht mehr
zu verfügen, sie haben die Kriegshohcit aufgegeben und stehn alle auf weiten Ge¬
bieten unter der Reichsgesetzgebung, und wir preisen diese Entwicklung, denn darin
eben besteht die praktische deutsche Einheit, nicht in patriotischen Festreden und
Flaggenhissen. Historisch betrachtet steht es doch so: in frühern Jahrhunderten sind
die Einzelstaaten auf Kosten der Reichsgewalt und des Reichsbesitzes groß ge¬
worden, weil sie die damaligen Stnntscmfgaben besser zu lösen vermochten als die
eine Zentralgewalt; heute nimmt das Reich in dieser oder jener Form den Einzel¬
staaten das ab, was nur eine große umfassende Zentralgewalt leisten kann, und
dahin gehört auch das Verkehrswesen, das offenbar das Sondertum immer weniger
verträgt. Ja wir sollten meinen, es läge geradezu im Interesse der eisenbahn¬
besitzenden Mittelstaaten, möglichst rasch zu einer gesamtdeutschen Eisenbahngemein¬
schaft zu kommen, denn je mehr ihrer beitreten, desto mehr kann ihr Einfluß auf
Preußen zur Geltung gebracht werden. Jetzt steht die Partie sehr ungleich:
Sachsen braucht Preußen, aber Preußen braucht Sachsen für seine Eisenbahnen
nicht; es tuum ganz ruhig warten, wie es beim Zollverein gewartet hat. Deshalb
scheint uns der wahre sächsische Patriotismus nicht darin zu bestehn, unhaltbare
Zustände zu verlängern, sondern vielmehr darin, sie in möglichst günstiger Weise
Man wird es wohl in der Ordnung
gefunden haben, daß ich mich damit begnügt habe, meine Meinung zu sagen, ohne
wich weiter darum zu kümmern, welchen Widerhall meine Äußerungen gefunden
haben. Scheffelzitate hätten ja zur Verfügung gestanden, aber für die Sache war
es überflüssig. Was man mir Persönlich anhängt, läßt mich kalt; daß ich einen
Autor nicht unpersönlich behandeln konnte, der seinen Namen groß über seinen
Aufsatz setzt, liegt auf der Hand: er ist verantwortlich für das, was er sagt, und
wenn er persönliche Geschmncklosigkeiteu zu seinen sachlichen fügt, so brauche ich
nicht darauf zu reagieren.
Dagegen darf ich wohl hier einen Brief abdrucken, deu mir ein lieber Freund,
der selbst ein Künstler ist, und zwar, wie sich gleich zeigen wird, nichts weniger
als ein rückständiger, geschrieben hat. Er lautet:
Armer Hans Grunow! Du hast es ordentlich bekommen, lieber alter Jch-
thhosaurus. Das Fischblütige in dir hat dir einen argen Streich gespielt, oder
wars gar das warme Blut? Du hättest es so machen müssen, wie wir das früher
hielten, du hättest gar nicht merken sollen, daß da welche sind, die Geschenke be¬
kritteln zu müssen glauben. Geschenke sollen Freude machen. Wir freuten uns
damals immer, wenn uns etwas Liebes erwiesen wurde — wars nicht so? —,
und bedankten uns fröhlich, auch Wenns uus innerlich vielleicht nicht einmal so
ganz nach unsern Wünschen ausgefallen zu sein schien. Aber das Persönliche, das
schätzten und achteten wir doch in jeder gern gegebnen Gabe. Weißt du noch,
wie du das Geld damals nicht annahmst, wofür du dir ein Geschenk kaufen solltest,
^ etwas, was dir Freude mache, und wie dn es beleidigt zurückwiesest und der
^ente sagtest, das wäre ja dann kein Geschenk! Ein Geschenk sei doch etwas
usgedcichtes, schön für den Zweck Ausgednchtes, etwas, worüber man hin und her
Iwmliert habe, bis man das Rechte getroffen zu haben glaube. Wars nicht so?
Siehst du, Hans, das ging mir viles so durch deu Sinn, als ich deinen Streit
""t Kommt Lange in Tübingen las.
Ihr habt doch beide das Geschenk mit erhalten — also freut euch doch!
^>cum auch uns, als Berlinern, das Geschenk eigentlich noch mehr Freude machen
wußte, weil wirs hier haben.
s-streitet man nun schon aufs heftigste über die Hohenzollernallee, und dabei
11 < ^ ""^ "icht einmal ganz fertig. Es bereitet mir immer das größte ästhetische
Unbehagen, wenn ich so etwas mit anhören muß. Und ganz besonders bei den
^erluie^ ^ die sind darin unausstehlich, geradezu herausgesagt. Liebster, du
Mutest einmal die Vorschläge mit anhören müssen, die schon während des Entstehns
der Siegesnllee gemacht wurden. Jeder wollte die Sache so machen, wies ihm
gefiele, und — jedenfalls besser. Der wollte Bronzefignren, jener farbigen Marmor;
dieser wünschte die Gruppen im ganzen Tiergarten verteilt zu sehen — wie das
sein Onkel in seinem Park gehalten habe —, und der wiederum wollte überhaupt
eine ganz andre Idee ausgeführt wissen, z. B. Standbilder, sagen wir mal der
bedeutendsten Musiker und Dichter. Kurzum, das Geschenk, das noch gar nicht da
stand, wurde bekrittelt und benörgelt. Ein solches Unternehmen könne nicht in so
kurzer Zeit ausgeführt werden, dazu gehörten Menschenalter. Nur die allererste»
Künstler hätten beteiligt sein dürfe«, man hätte uns nur dafür Vorschläge machen
lassen sollen. Also man wollte ein Skulptureumuseum etwa geschaffen sehen, woran
die „Größten" mitgeholfen hätten. — Ja, wer sind nun die Größten? Wer
urteilt darüber als Zeitgenosse? Der Kunstästhetiker etwa? Und wie viele bleiben
denn so um die Jahrhundertwende herum übrig, wenn alles durchgesiebt worden ist?
Und wie viele, wenn ein weiteres Jahrhundert darüber vergangen ist — wie wenige
davon, will ich sagen —, wird sich die Kunstgeschichte herausgesucht haben, um sie
als die Größten zu bezeichnen?
Wenn der Kaiser auf die Notwendigkeit hinweist, daß das ästhetische Aus¬
geglichensein Vorbedingung sei für höchste Kunst, und die Antike als vorbildlich
hinstellt, so reiht er sich damit ein in die Zahl der künstlerisch und ästhetisch ge¬
bildeten, feinfühligen Kunstfreunde. Nicht das, daß man als Künstler seine Zeit
schildert und an den Kunstbestrebungen innigen Anteil nimmt, macht den Künstler,
sondern daß man künstlerisch sein Zeitbild wiederzugeben imstande ist. Für den
Kaiser existiert darum auch die neue Richtung nicht als solche, sondern nur das,
was sie an guter Kunst zeitigt. Und ich glaube, da haben auch andre feinfühlige
Menschen die eigentümliche Entdeckung gemacht, daß die Handvoll genialer Künstler,
die „Eignen," die die „Jungen" immer an die Spitze ihrer Phalanx stellen, die
besten der „Alten" sind. Konrad Lange führt einen Teil davon selber mit Namen
auf: Böcklin. Leiht, Thoma, Abbe, Menzel, Graf Kalkreuth — das sind alles
Künstler, die nicht an den Rockschößen andrer hängen, die auch nicht in „moderner
Richtung" etwas schaffen, sondern das sind eben Künstler von Gottes Gnaden, die
mit irgend einer „Richtung" gar nichts zu thun haben. Wenn ich Herrn Professor
Lauge richtig verstehe, so meint er, hier sei eine Art Clique vorhanden, die an
der Ausführung beteiligt gewesen sei, und es sei sehr bedauerlich, daß von der
andern Clique, der Langischen, keiner herangezogen worden sei. Hier erzählt man
sich nun aber, es seien „hervorragend tüchtige" Bildhauer berufen worden, die
Idee des Herrschers auszuführen. Man hat sich wohl nicht getraut, die von der
Kunstästhetik festgestellten „allerersten Nummern" von Künstlern zu wählen, weil
es sich schon öfter gezeigt hatte, daß gerade diese Abgötter schon nach fünf Jahren
etwa wieder von ihrem Ptedestal heruntergeholt worden waren. Und man hat da
den Ausweg gefunden, einfach bewährte, zu den Tüchtigsten gezählte Künstler zur
Ausführung zu nehmen. Sicher ist sicher! Die sind noch nicht als die genialen
Nettsten verschrieen, wenn es auch immerhin sein kann, daß einige davon später
einmal noch zu diesem Ruhm kommen werden.
Es galt die Idee, eine Ahnengalerie zu schaffen, Herrscherdenkmäler in einer
ganz bestimmten Form, architektonisch aneinandergereiht, die als Ganzes betrachtet
auch durch die Anzahl selber dekorativ wirken sollte. Noch läßt sich diese Wirkung
nicht ganz übersehen, denn es fehlen die Verbindungsglieder zwischen den einzelnen
Gruppen — entweder lebendige Hecken, oder noch besser auch von Marmor aus¬
geführte niedrige Balustraden, die dünn dem Beschauer den einheitlichen archi¬
tektonischen Eindruck der ganzen Siegesstraße geben.
Wäre diese Wirkung zu erzielen möglich geiveseu, wenn nur die Standbilder
des Großen Kurfürsten, Friedrichs des Großen und Wilhelms I. errichtet worden
wären, die Konrad Lange in seinen, Artikel „Freiheit der Kunst" als „die Hohen-
zollern bezeichnet, die sich durch ihre Thaten in der Geschichte ein Denkmal gesetzt
hätten, das dauernder sei als Marmor oder Erz"? Das hätte ja so sein können,
und sicher gab es auch Ausführende, die diese Aufgaben glänzend hätten lösen
könne»; aber - - das ist Langes Idee, und die andre Idee war doch nun einmal
die, die Hohenzollerncchnen in ihrer genealogischen Folge darzustellen und mit der
Anzahl und der architektonischen Anordnung zu wirken. Langes Idee bleibt ja
trotzdem noch immer ausführbar, ohne mit dieser irgendwie zu konkurrieren.
Liebster Hans, du siehst jetzt, daß ich selber mit hineingerate und das Geschenk
bekrittle. Und ich wollte doch ganz zuerst das sagen, was mir ein Besuch von
außerhalb — einfache, brave Leute aus dem Bürgerstande — bei der Besichtigung
der Allee nahelegte: „Die Sache wird aber ganz pompös! Das ist ja gar nicht
so scheußlich, wie die Zeitungen geschrieben hatten, nein, das sieht ja ganz prächtig
aus, diese Niesenallee! Herrgott, sich so was auszudenken! Und muß das ein
Geld gekostet bilden, das auszuführen! Und das hat euch der Kaiser ganz einfach
geschenkt? Donnerwetter, eigentlich famos! Na, da seid ihr wohl sehr, sehr dankbar
für so ein wirklich königliches Geschenk?"
Also: dankbar, ein wenig dankbar hätten wir sein sollen!
Wir sind ja doch auch dankbar für alles, was uns die Kunst bringt, auch die
„Neue." Die schönen Wandschmuckblätter, die Lithographien, von denen Professor
Lange spricht, sind, wenigstens etliche davon, geradezu eine Freude für deu Kunst¬
verständigen, der die geschickte Benutzung des Materials zu schätzen weiß, und zu
schätzen weiß, wie ungemein geschickt mit geringen Mitteln feiutonige Farben-
Wirkungen erzielt worden sind. Ein Fehler ist nur, daß sie erziehend für Kinder
kein und einen Wandschmuck für Schulen abgeben sollen. Das ist eine absolut ver¬
fehlte Sache. Dafür sind sie überhaupt nicht gedacht. Fragt einmal eure Kinder,
^ um irgend ein Beispiel zu nehmen —, wie sie sich eine Burg vorstellen? Da
wird das Kind antworten: Eine Burg? die liegt ganz oben auf einem hohen
Berg, lauter Himmel drum herum. Mau muß den'Kopf ganz in die Höhe halten,
wenn man sie sehen will. — Eine Burg aber, die im Thal liegt und von einem
hohen Standpunkt ans gesehen wird, also so, daß sie scheinbar unter dem Beschauer
liegt — die ist für das Kind keine Burg. Nein, für unsre Kinder wollen wir
denn doch lieber bei Ludwig Richter oder H. Vogel in Plauen oder andern ähn¬
lichen Künstlern bleiben, die zunächst an das Kindesempfinden denken, nicht daran,
ein technisch vorzügliches Kunsti.upromptu zu schaffen, um damit die Kinder zu
Kunstblätter- und Skizzcnsammlern in verschiednen Techniken zu erziehn. Dazu
müssen sie erwachsen sein und erst etwas Knnstästhetik studiert habe». Erst müssen
unsre Kinder beten lernen — das Gegenteil kommt leider später schon viel zu
schnell ganz von selber.
Und noch eins: Konrad Lange meint in seinem Essens, der Monarch, der im
ganzen ein moderner Mensch sei, wolle die Kunst auf dem Standpunkt etwa
festhalten, den die Nachzügler des Klassizismus um die Mitte des vorigen Jahr¬
hunderts einnahmen. — Ich glaube nun. daß sich der Verfasser da mit seiner An-
""sine täuscht. Der Kaiser hat öfter bewiese», wie gleichgiltig es ihm sei, ob
Mucmd einer bestimmten Richtung angehöre. Als der Ankauf des Bogenspnnners
vn E. M. Geyger geschah, hat der Kaiser sicher nicht gedacht, einer oder der
> ern Partei damit zu dienen, sondern einfach die Freude an dem Kunstwerk ist""sur bestimmend gewesen.
M ?^ giebt ja. Gott sei Dank, immer noch eine beträchtliche Anzahl von
Werk - ästhetisches Gefühl eben jederzeit bei der Beurteilung von Knnst-
wie ^ "'^spricht, ohne daß sie sich dabei mit den Anschauungen einer Periode,
sind d^ ^^b^' Cornelius und andern, einverstanden erklären müßten. Es
tot ^ ^ Entwicklung der Denkmalkonkurrenzen mit hohem Interesse Ver¬
den, die z. B. Ledercrs Entwurf für das Bismnrckdenkmal in Hamburg für das
AiiV^" tüchtigen Talents halten, die aber wiederum aus ihren veralteten
Nil!?""""g^" heraus meinen, man müsse einen Bismarck nicht in die Rolle und
wi f!"'^ ^"!^ Roland stecken, um originell und abweichend vom Herkömmlichen zu
sei^'" -> Meru Herren glauben sogar, daß ein Bismarckdenkmal nur dann
im Zweck im höchsten Sinne erfülle, wenn der Bismarck nicht in einer Ver-
stv,""?"6 ^g,chM ^ ^ Beschauer mit der Nase auf eiuen Vergleich
ve, sondern wenn es ein einfaches und herrliches Kunstwerk sei, von dem spätere
Generationen, wenn sie wieder einmal einen solchen Mann im Denkmal darzustellen
hatten, sagten: Der muß so wie unser Bismarck gemacht werden, so groß, so
mächtig, so herrlich. Die Rolandsmaske ist Spekulation, keine Kunst. Und dann:
Gewiß, der Platz ist gut gewählt für ein Wahrzeichen, das bis weit hinein in die
Lande gesehen werden kann und soll. Aber nach der „veralteten" Kunstanschauung ist
es eben eher ein Platz für eine riesenhafte dekorative Ausschmückung, die mächtig
wirken soll, wie etwa die Pyramiden in der Wüste, nicht aber ein Platz für ein
intimes Kunstwerk, wie es die Jungen ja doch immer schaffen wollen. Die Alten,
die Altmodischen stellen sich ein Bismarckdenkmnl so wuchtig und dabei so fein
innerlich vor, wie das, was ihm Theodor Fontane in seinem Gedicht errichtet hat:
Nicht darum, weil etwas vom Althergebrachten abweicht, ist ein Denkmal schon
ein Kunstwerk, auch nicht, weil es dem Ästhetiker der neuen Kunstrichtung in den
Kram paßt, sondern einfach, weil es schön und wahrhaftig ist. Bis zu der Zeit, wo
uns ein gütiges Geschick einen neuen Goethe oder Shakespeare schenken wird, müßt ihr
euch schon mit der Entdeckung eurer Götzen beschäftigen; kommen die aber einmal,
diese neuen Großen, nun, dann seid ihr ja die ersten, die ta,du!g. rasa machen.
Jawohl Götzen! Klinger hat seinen Beethoven auch in eine Maske gezwängt.
Aber das gefällt euch, da wißt ihr doch gleich, daß er den alten Gott aus der
Zeit der fröhlichen, sonnigen Schönheitsideale gemeint hat, in dessen Form er unsern
gottähnlichen Musiker hat gießen wollen.
Auch hier dieselbe Sache.
Wenn wir Beethovens Denkmal ansähen, müßten wir fühlen können: Ja, das
ist er, der Große, der Mächtige, den die Gottheit geküßt hat. Ehrfurcht müßten
wir fühlen. Anbetende Freude.
Und wie wirkt Klingers falscher Zeus? Abgesehen schon einmal von der de¬
kadenten Verwendung flimmernden, verschiednen Materials, das so aussieht, als ob
das Kunstwerk dem niedern Volke in einer katholischen Kirche vorgezeigt werden
solle — was ist das für ein weichlicher, nackter Körper, der so absolut nicht den
Anschauungen über die markige Schönheit des Körpers eines Zeus entspricht.
Dieser Mann darf nicht so nackt dasitzen, nicht entblößt, das ist das bessere Wort
dafür. Er hält das gar nicht ans. Und das soll Beethoven sein, das will uns
Klinger glauben machen? Und ferner, wie ungemütlich wirkt auch die Idee, daß
der Marmorkvrper sich nnter dem farbigen Stein, aus dem das Gewand gemeißelt
ist, gar nicht befinden könne, sondern aufgesetzt sein müsse. Bei einer dekorativen
Figur, vielleicht aus Marmor, die stellenweise mit einem Gewand, etwa aus Bronze,
bekleidet ist, wirkt das natürlich ganz anders, organisch, wenn auch immerhin nur
ganz dekorativ. Ebenso ist es ästhetisch falsch, daß ans der Rückseite des Thron-
sessels — der übrigens dem Unglücklichen die größten Schmerzen bereiten würde, wenn
er gezwungen wäre, aufrecht oder gar angelehnt darin zu sitzen — allerhand Re¬
liefs angebracht find, die man nie zu sehen bekäme, wenn das Schaustück, so wie
es, ohne Wirkung der Rückenansicht, komponiert ist, zweckentsprechend durch eine
Wand von hinten gedeckt würde.
Siehst du, mein Lieber, es ist peinlich und unbequem, wenn man aus diesen
häßlichen, veralteten, ästhetischen Ansichten nicht heraus kann. Aber du weißt ja,
wie schwer es ist. Besser wärs für uns, wenn wir dankbar alles hinnehmen und
uns daran freuen könnten. Die Erziehung zur Kunst ist nnter Umständen ein
Fluch. Vorsicht! Auf daß es unsern Kindern nicht später einmal so gehe wie
Dein getreuer Eckart.
lie grundlegenden Neuschöpfungen im Staatsleben verletzen
Sonderinteressen eines Teiles der Bevölkerung. Um auffällige
Harten zu vermeiden, pflegt man dann zunächst Einschränkungen
und Abschwächungen zuzulassen, in der zuversichtlichen Hoffnung,
sie später bei gelegner Zeit los zu werden. Aber oft findet sich
nachher die Beamtenschaft mit dem einmal Eingeführten so gut ab, daß sie
das, was eigentlich nur ein Übergang sein sollte, mit Lust und Liebe ver¬
teidigt, weil sie von dein unter ihrer BewnßtseinSsphäre wirksamen Widerwillen
gegen Neuerungen geleitet wird.
Solche betriebstörende Ruinen finden sich nun anch in unsrer sonst so
vortrefflichen Wehrverfassung. Einige davon will ich aufweisen, damit vielleicht
ein einflußreicher Leser zum allgemeinen Besten ihre Niederlegung anbahnt.
Manchem der sich mit dem Gedanken beruhigt hat, daß bei uns eme
allgemeine Wehrpflicht herrsche, und sich deshalb mit der Sache nicht näher
befaßt hat. wird es unglaublich vorkommen, daß bei uns noch heutzutage das
Los darüber entscheidet. ob ein Militärpflichtiger dienen soll. Denn es wurde
ja niemand einfallen, die allgemeine Schulpflicht so aufzufassen, daß die
Kinder, je nachdem sie eine höhere oder niedrigere Losnummer zögen, in die
Schule gebracht würden oder schulfrei blieben, sondern die Schule wird eben
vergrößert, bis alle Schüler Platz haben. Bei der Wehrpflicht ist es leider
noch anders.
So lange jeder Kanton in Preußen mir eine bestimmte Zahl von Rekruten
aufzubringen hatte beugte die Lösung persönlichen Willkürlich leiten vor. Mit
grundsätzlichen Einführung der allgemeinen Wehrpflicht hätte sie eigentlich
fallen müssen Aber 1807 war das Land nicht imstande, auf einmal alte
wehrfähigen Jünglinge einzustellen. Bei dem zunächst herrschenden Krümper-
Wcm erschien es anch gleichgiltig. in welcher Reihenfolge die Krümper heran¬
gezogen wurden. und es blieb also bei der Losung. Nach den Freiheitskriegen
aber war die Erschöpfung so groß, daß man den neuen Grundsatz der allge-
meinen Wehrpflicht nicht gleich in allen Folgerungen durchsetzen zu können
glaubte. Die durch das Los bestimmten Überzähligen wurden als eine Art
Landwehrrekruten angesehen, und man begnügte sich mit der Aussicht, daß im
Kriege ja doch alle Wehrfähigen in Anspruch genommen werden würden. Die
Gleichheit aller vor dem Gesetz war damals noch nicht so in Fleisch und Blut
übergegangen, daß man die Ungerechtigkeit des Losungswesens im allgemeinen
tief empfand, obwohl es auch zu jener Zeit schon bei manchem Kopfschütteln
verursachte, wenn in derselben Gemeinde schwächlichere Leute, die gerade noch
die Militärtauglichkeitsgrenze erreichten, und deren Arbeitskräfte für ihre Fa¬
milien, wenn auch nicht gesetzlich notwendig, doch sehr wünschenswert waren,
dienen mußten, während sich viele kräftige, in jeder Hinsicht abkömmliche Leute
für den Friedensdienst freilosten.
Nach der Reorganisation von 1860 wurde die Sache weniger auffüllig, weil
nnn wieder fast alle Diensttauglichen eingestellt und durch Dispositionsbeur¬
laubungen im dritten Dienstjahre der nötige Raum in der Armee geschaffen
wurde. Ebenso wurde nach den Feldzügen von 1866 und 1870/71 dnrch Ncu-
formationen und später durch die probeweise eingeführte zweijährige Dienstzeit
die Zahl der Freigelosten vermindert. Jetzt darf man aber wohl die zweijährige
Dienstzeit als endgiltig eingeführt betrachten, und es giebt nun kein andres Mittel
mehr, die jährlich stark wachsende Masse der Überzähligen abzustoßen, als die
Losung, und die ganze Ungerechtigkeit, daß man durch einen reinen Glücks-
zufnll der wichtigsten Bürgerpflicht ledig gesprochen wird, tritt immer schreiender
zu Tage und erregt vielfach berechtigte Mißstimmung gegen den Eckpfeiler unsers
Staates, unser Heer.
Diese Mißstimmung wird aber noch verstärkt durch die Art und Weise,
wie die Losnummer, die alle regelmäßig Auszühebenden eines Jahrgangs bei
der Musterung vor den Lokalbehörden ziehen, wirksam wird.
Nach Maßgabe der auf die Musterung gegründeten Ersatzverteiluug durch
das Kriegsministerium und das Armeekorps macht sich nämlich der Brigade¬
kommandeur für seine Aushebungsbezirke — Kreise — «ach der Zahl der vor¬
ermittelten tauglichen Militärpflichtiger eine Ersntzverteilnug im voraus zurecht.
Aber bei der wirklichen Aushebung pflegt sich das Bild oft stark zu verschieben;
die Zahl der Militürtanglichen steigt häusig oder füllt gegen den Voranschlag,
und es kommt deshalb immer vor, daß in einem Brigadebczirk jemand mit
einer verhältnismäßig niedrigern Losnummer nicht eingestellt wird, der in
einem andern dienen muß, mag auch von allen Behörden noch so sorgfältig
und gleichmäßig gearbeitet worden sein. Das ist aber noch nicht das schlimmste
Übel, sondern die größte Ungerechtigkeit tritt dadurch ein, daß jeder Bezirk
eine bestimmte Zahl Mannschaften für jede der verschiednen Waffengattungen
aufbringen muß. Wenn nun für Garde, Kürassiere, Fußartillerie, Pioniere,
Verkehrstruppen, Handwerker und Marine nicht genug nach Körperlichkeit
und Beruf geeignete Personen gefunden werden, so müssen auch die Besitzer
der allerhöchsten Losnummern mit herangezogen werden, und die an sie ge¬
knüpften Erwartungen und Vorausberechnuugeu sind getäuscht.
Für die Nichtspezialisten, d. h. für die Infanterie, die übrige Kavallerie,
Feldartillerie und den Train der Linie giebt es andre unvorhergesehene Klippen.
Für sie wird in jedem Bezirk eine gemeinschaftliche Abschlnßnnmmer festgesetzt.
Jenseits davon stehn die für das laufende Jahr thatsächlich Freigelosten. Dies¬
seits stehn aber auch noch eine Anzahl Militärtauglicher, die vorläufig nicht
eingestellt werden, weil man bei der Bestimmung für die einzelnen Waffen
nicht zugleich die Losnummern genau berücksichtigen kann. Sind z. B. zu¬
fällig die Feldartillerietauglichcn bei der Vormusternng in den Besitz hoher
Losnummern gekommen, und hat deshalb der letzte ausgeholme Feldartillenst
eine vorgerückte Nummer, so wird die gemeinschaftliche Abschlußnummer auch
eine hohe sein, und von den zur Infanterie und Kavallerie bestimmten wird
ein Teil fiir das laufende Jahr überschüssig sein und nicht eingestellt werden
tonnen. Diese Leute werden aber um nicht dauernd als Überzählige betrachtet,
sondern wie die zu Spczialwaffen notierten, die auch eine Losnummer vor
der Abschlnßnummcr haben, für das nächste Jahr vorgemerkt und in diesem
dann in erster Reihe eingestellt.
So haben nun alle diese Leute zuerst Aussicht gehabt, Überzählige zu
werden, dann aber werden sie ein Jahr später eingestellt und demzufolge auch
ein Jahr später ihrem Lebensberuf zurückgegeben, kommen also oft ein Jahr
in ihrer Laufbahn zurück. Noch schlimmer kann es aber den wirklich Über¬
zähligen eines Jahrgangs ergehn, denn sie können schließlich noch im dritten
Militärpflichtjahr zum aktiven Dienst herangezogen werden. Auch beim Ver¬
zieh» aus einem in den andern Bezirk muß es zu Unbilligkeiten kommen, denn
wenn auch eine sorgfältige Proportionsrechnnng angestellt wird, damit das
Verhältnis zwischen der Losnummer des Verzognen und der höchsten Los¬
nummer oder Abschlußnummer im neuen Bezirk so gestaltet wird wie im alten,
so werden doch die Tauglichkeitsprozente der Militärpflichtiger in verschiednen
Bezirken verschieden sein, und es kann sogar in einem Bezirk auf Überzählige
früherer Jahre zurückgegriffen werden müsse», während im andern dies gnr nicht
einmal in Frage kommt. Durch alle solche mit der Losung verbundnen Zu¬
fälligkeiten wird die allgemeine Wehrpflicht durchlöchert und dem Verständnis
des Volkes in einen Nebel gerückt, der zu Mißdeutungen gar zu leicht Ver¬
anlassung giebt.
Man wird nur nun einwenden, um allen unliebsamen Zufällen zu ent¬
minen, brauche der Militärpflichtige ja nur zu erklären, daß er im laufenden
I"hre eingestellt werden wolle und — wie die Wehrordnung selbst sagt —
die Vorteile der Losung verzichte, dann käme er ja an die Spitze seiner
L"hresklasse. Aber ist es wohl billig, jemand zuzumuten, freiwillig auf Vor¬
teile zu verzichten, die niemand vor Abschluß der Aushebung in seinem Bezirk
genau abzuschätzen vermag?
Die Gerechtigkeit verlangt vielmehr klipp und klar die Abschaffung der Losung
ebensowohl, als die Rücksicht auf das möglichste Selbstbestimmungsrecht des
Einzelnen sie wünschenswert macht. Denn wenn jeder weiß, daß er, sofern
er nnlitärtnuglich und abkömmlich ist, unweigerlich im Herbst seines zwanzigsten
Lebensjahres eingestellt wird, so richtet er sich eben von langer Hand her
darauf ein. Bei gehöriger Belehrung durch Schule und Gemeinde wird er dann
auch viel öfter die Musterung und die Aushebung nicht abwarten, sondern
freiwillig bei einem Truppenteil eintreten. Dies bedeutet aber für das Heer
eine entschiedne moralische Stärkung, denn jeder liebt die Truppe, die er sich
selbst erwählt; er wünscht, daß seine Söhne später dort auch eintreten sollen,
und so bildet sich ein ideales Band zwischen Familie und Truppe, das oft
für die Führung des Einzelnen von wirksamen Einfluß wird. Deshalb sollte
man übrigens auch bei der Musterung durch die lokalen Behörden schon jeden
angeben lassen, zu welcher Waffengattung er sich wünscht, und danach die
Ersatzverteilttng einrichten, denn die Neigung zur Kavallerie oder zur Marine
ist in den Brigadebezirkcn keineswegs auch nur annähernd gleich.
Um jedoch ans die Losung zurückzukommen, so wäre nur noch nachzu¬
weisen, daß es ein der Willkür ebenso entrücktes und dabei gerechtes Mittel
gäbe, die Zahl der Militärtauglichen auf die festgesetzte Etatsstürke herab zu
bringen.
Abgesehen davon, daß das deutsche Volk, das jährlich über zwei Milliarden
für Bier und Tabak ausgiebt, auch wohl die Mittel hat, allen seinen uach
den gegenwärtigen Bestimmungen militärtauglichen Söhnen ausnahmslos die
für Körper, Geist und Charakter heilsame Heeresschule zu gewähren, hat nun
die Militärverwaltung dieses Mittel in dem unbestrittnen Rechte, auf dem
Verordnungswege die Grenzen der Tauglichkeit für den aktiven Militärdienst
festzusetzen.
Diese Sache ist nicht so schwer, wie sie aussieht, denn die Statistik giebt
sichere Anhalte, und bei der stetigen jährlichen Bevölkerungszunahme um fast drei¬
viertel Millionen wird man nie genötigt sein, eine Verschärfung der Ansprüche
an die Militärtauglichkeit wieder fallen zu lassen. So würde man z. B. die
Freigelvsten der letzten Jahre haben einstellen können, wenn man sich nicht mit
halber normaler Sehschärfe auf einem Auge begnügte, sondern mindestens drei¬
viertel derselben auf einem Auge gefordert Hütte. Welcher Nutzen überdies
allen Waffen, insbesondre aber der Infanterie, daraus erwachsen wäre, wenn
sie nicht mehr mit Kurzsichtigen zu rechnen hätte, bedarf keiner Erörterung.
Ebenso könnte allmählich den Offizieren und den Ärzten viel Mühe und Arbeit
erspart werden, wenn auch die mit geringer Bruchanlage oder die mit den
mittlern Graden der unausgebildeten Plattfüßigkeit und mit Nichtungsfehlern
der Beine behafteten nicht zum ccktiveu Dienst, sondern zur Ersatzreserve über¬
wiesen würden.
Auf ein paar Tausende genau kann das Ministerium allerdings nicht
die voraussichtliche Zahl der Militürtauglichen vorausberechnen, aber um die
bewilligten Verpflegungstage für Mannschaften doch voll auszunutzen und
nicht zu überschreiten, hat es auch noch die Möglichkeit, nach Eingang der
genauen Aushebungsergcbnisse den Tag der Rekruteneinstellung festzusetzen.
Ob nämlich diese bei den Fußtruppen etwa um 5. oder 18. oder am 25. Ok¬
tober erfolgt, ist für die Ausbildung nicht von wesentlicher Bedeutuug, aber
rechnerisch setzt es eine große Zahl von Verpflegungstagen zu oder läßt solche
ersparen. Wenn hierdurch in einzelnen Jahren die Stärke der Kompagnien
nach der Nekruteneinstellung etwas zunehmen sollte, so ist das unbedenklich,
da ja Bewaffnung und Bekleidung überall bis zur Kriegsstärke vorhanden,
und alle Truppen an zeitweilige Überschreitungen des Friedensetats durch die
Übungen der Reserve und der Landwehr bei ihnen gewöhnt sind.
Es kann also ernstlich keine besondern Schwierigkeiten bereiten, die un¬
gerechte und demoralisierende Lösung, wie es auch in Frankreich durch den
Gesetzentwurf Rollard vorbereitet ist, abzuschaffen und durch die wirkliche all¬
gemeine Wehrpflicht der Militärtauglichsten zu ersetzen, vielmehr würden alle
Musteruugs- und Aushebungsarbeiten dadurch ganz wesentlich vereinfacht
werden,
Mit der allgemeinen gleichen Wehrpflicht ist ferner nicht zu vereinbaren
der „Einjährig-Freiwillige." denn er erweckt den Anschein, als wenn der
Reiche, der seinen Söhnen eine gute Erziehung geben lassen kann, sie nur
halb so lange dem Heere zu übergeben brauche als der Arme; für das
Empfinden des Volkes bedeutet das aber eine Ungerechtigkeit. Im wesent¬
lichen liegt die Sache freilich vielfach anders, aber dann sollte man sie auch
anders benennen und ausgestalten.
Als alle Staatsbürger zum Dienst mit den Waffen aufgerufen wurden,
erschien es zunächst erwünscht, die Abneigung der bisher bevorrechteten Stände
zu überwinden, und die Erwägung war nicht abzuweisen, daß die wissenschaft¬
lichen und die künstlerischen Studien leiden würden, wenn ihre Jünger gerade
in der Zeit, die eine fortlaufende Einarbeitung erheischt, drei Jahre ununter¬
brochen Soldat sein müßten.
So wurde denn allen, die eine höhere Schulbildung aufwiesen, eine ge¬
wisse Wahl der Zeit gewährt, während der sie ihre Dienstpflicht erledigen
wollten, und die Dienstzeit selbst wurde auf ein Jahr verringert. Als eine
Art ausgleichender Gerechtigkeit wurde ihnen dafür die Verpflichtung auferlegt,
selbst ihren Lebensunterhalt während des Dienstes zu bestreiten. Man sah
aber bald ein, daß man diese voraussichtlich führenden Geister des Volkes
auch im Kriege als Führer nicht würde entbehren können, und vermehrte
deshalb ihre militärische Ausbildung durch immer mehr steigende nachträgliche
Wiederholungsknrse der Reserve- und Laudwehroffiziere.
Nun steht die Sache augenblicklich so: der zu den Fußtruppen regelmäßig
Eingezogne dient im Durchschnitt hintereinander ein Jahr elf Monate, denn
die aktive Dienstzeit endet Mitte September nach Schluß des Manövers, und
die Rekruteneinstcllung findet erst Mitte Oktober statt, und in der Regel
^ird er nachher nur wenige Tage zu einer Reserve- oder Landwchrübung
einberufen. Der Einjährig-Freiwillige dagegen hat nach seinem vollen ersten
Dienstjahre mindestens noch zwei achtwöchige Übungen durchzumachen, ehe
er Reserveoffizier wird, hat als solcher drei achtwöchige Übungen abzuleisten
"ut muß sich, wenn er länger bei der Reserve eines Truppenteils bleiben will,
noch zu vielen weitern Übungen zur Verfügung stellen. Dann muß er im
Landwehrverhältuis mindestens dieselben Übungen erledigen wie alle Land¬
wehrleute, falls er aber höhere Dienstgrade erwerben will, wiederum achtwöchige
Übungen bei einem Linientruppenteil ableisten. So dient der Reserveoffizier
mindestens ein Jahr elf Monate aktiv, in der Regel mehr als zwei Jahre
und häusig mehr als drei Jahre. Er ist also thatsächlich gar kein Einjährig-
Freiwilliger.
Die einzigen, die in Wirklichkeit eine Verringerung der aktiven Dienstzeit
erzielen, sind solche Einjährig-Freiwilligen, die nicht Reserveoffiziere werden.
Es sind dies meistenteils Leute, die nur eben das vorgeschriebne Mindestmaß
an Schulbildung erreicht haben und entweder schon vor ihrem Diensteintritt
in das praktische Leben als Landwirte, Kaufleute, Gewerbtreibende, Techniker,
Subalternbeamte oder tgi. übergetreten sind oder sogleich nach erledigter ein¬
jähriger Dienstzeit übertreten wollen. Hierzu kommen dann noch die, die
zwar einem wissenschaftlichen oder künstlerischen Berufe treu bleiben wollen,
aber sich wegen auffälliger Mängel an den wesentlichen militärischen Anlagen
nicht zu Reserveoffizieren befähigt gezeigt haben.
Diese Einjährigen üben nur zwei, gewöhnlich nur einmal acht Wochen
in der Reserve, aber gerade sie in der Länge der Dienstzeit günstiger zu stellen,
als die diensteifrigen Reserveoffiziere oder auch als den gewöhnlichen Dienst¬
pflichtigen, liegt wahrlich kein Grund vor, vielmehr erscheint eine solche Prämie
auf die aure-g, mocliooriws eine ganz ungerechte Vergünstigung, für die keinerlei
staatliches Nebeninteresse spricht.
Ohne wie die neue französische Wehrgesetzvorlage das Kind mit dem Bade
auszuschütten und jede Ausnahme von der fortlaufenden zweijährigen Dienstzeit
auszuschließen, konnte nun hier der Gerechtigkeit voll Ausdruck gegeben und
doch billige Rücksicht auf besondre Umstände genommen werden.
Wer ein bestimmtes Maß von Bildung nachweist, kann das Recht be¬
halten, seine zweijährige Dienstzeit nach seiner Wahl bis zum vierundzwanzigsten
und mit besondrer Genehmigung der Ersatzbehörden bis zum siebenundzwan¬
zigsten Lebensjahre hinauszuschieben; es ist auch angängig, daß er nach ein¬
jähriger Dienstzeit zunächst entlassen wird, aber er muß verpflichtet bleibett,
demnächst in der Reserve mindestens vierzig Wochen und, falls er in der Re¬
serve nicht achtundvierzig Wochen gedient hat, in der Landwehr noch mindestens
acht Wochen zu dienen, sodaß die Länge seiner aktiven Dienstzeit der des für
zweijährigen Dienst Ausgehobncn gleichkommt. Dafür, daß er die Wahl des
Zeitpunkts seines ersten Dienstjahres sowie der spätern Fortsetzungen seiner
Dienstzeit frei hat und damit dem Staat eine gewisse Mehrlast aufbürdet,
hat er durch Selbstunterhalt während des ersten Dienstjahres einen Ausgleich
zu bieten. Ärzte, Apotheker usw. können nach wie vor ihrem Beruf ent¬
sprechend im Heere verwandt werden, auch dürfen die, die im Ausland eine
feste Anstellung nachweise,?, gewissermaßen als Pioniere für die deutsche Welt¬
machtstellung vom Dienst über ein Jahr befreit werden; derartige außerge¬
wöhnliche Ausnahmen lassen sich wohl rechtfertigen: aber der Allgemeinbegriff,
wie der an sich schon nicht logisch gebildete Name „einjähriger Freiwilliger"
muß geändert werden, etwa in „geprüfter Freiwilliger," wenn man nichts
bessres findet. Die schwarzweiße Schnur kann als Zeichen der „Prüfung"
bleiben, und für das erste Dienstjahr würde überhaupt in der Praxis kein
großer Unterschied eintreten.
Dieser würde sich erst für die weitere Dienstzeit bemerklich machen, denn
von denen, die das Examen der Reserveoffiziere nicht bestanden haben, würden
wohl viele, insbesondre solche Männer, die in das Erwerbsleben übertreten,
möglichst bald den größten Teil ihrer weitern Dienstverpflichtung sofort zu
erledigen wünschen, damit sie später nicht öfter längere Zeit aus ihren Ge¬
schäftsbetrieben herausgerissen werden. Sie werden jedoch nun sicher den
größten Eifer entfalten, recht rasch den Unteroffiziergrad wenigstens zu er¬
reichen, und in ihnen würde, wenn sie als Unteroffizieraspiranten sachgemäß
erzogen und angelernt würden, wahrscheinlich vielfach die Neigung erwachen,
statt des immerhin unsichern Erwerbslebens in der Uuteroffizierlaufbahn zu
bleiben und sich den Zivilversorgungsschein zu verdienen. So könnte hieraus
ein besonders guter Ersatz für die Unteroffizierkorps erwachsen, der sich später
auch in den Verwaltungsbehörden vorteilhaft bemerkbar machen würde.
Nun giebt es gegenwärtig ferner eine nicht geringe Anzahl Leute, die
wohl die Befähigung zu Reserveoffizieren oder doch wenigstens zu Offizier¬
stellvertretern haben würden, deren Väter oder sonstige Unterhalter ihnen aber
vorreden: „Wir brauchen dich im Geschäft, als Reserveoffizier löstest du uns zu
viel Geld und wirst durch die vielen Reserveübnngen uns immer wieder ent¬
zogen." Wüßten aber diese Väter, daß ihre Söhne doch nicht um das zweite
Dienstjahr herumkämen, so würden sie in der Mehrzahl den Ehrgeiz haben
und auch in ihren Söhnen wach halten, Reserveoffiziere zu werden. Es würden
dann damit eine nicht unbedeutende Zahl zu Reserveoffizieren oder doch zu
Offizierstellvertretern geeignete Kräfte verfügbar werden, die jetzt im Kriege als
mehr oder minder Mißvergnügte, weil sich deplaziert Dünkende, in der Masse
der Reservisten nicht günstig wirken.
Alle aber, die sich wissenschaftlichen oder künstlerischen Berufen zuwenden
'vollen, würden wie bisher alljährlich Sommerferien zu militärischen Dienst¬
leistungen benutzen, indessen, sofern sie im ersten Jahre das Ncserveoffizier-
examen nicht haben erreichen können, nun umsomehr Fleiß und Eifer bethätigen,
um dieses Ziel noch nachträglich zu erreichen, oder doch wenigstens Dienst als
Vizefeldwcbel oder Unteroffizier zu thun. Die Reserveoffiziere aber würden
um so freudiger ihre Stelle ausfüllen, wenn sie sähen, daß alle übrigen, die
mit ihnen „geprüfte Freiwillige" waren, in der Zeitdauer ihres aktiven Dienstes
nichts vor ihnen voraus haben. Eins freilich müßte dann noch gesetzlich
festgelegt werden, nämlich daß nicht nur alleu „geprüften Freiwilligen" sondern
überhaupt allen, die ihre zweijährige Dienstpflicht erfüllt haben, in allen
Staats- und Gemeindebeamtcnstelleu diese zwei Jahre sowohl für das Aufrücken
höhere Gehaltsklassen, wie zur spätern Pensionierung als Dienstzeit in
Anrechnung gebracht werden, sodaß sie einen wohlverdienten Vorzug vor den
Militärutttauglicheu genießen, denen Zeit, Mühe und Geldaufwendungen im Mi¬
litärdienst erspart worden sind. Dann würde weder dem Staat ein Nachteil er¬
wachsen durch die ausnahmslose zweijährige Dienstpflicht, noch hätten die Klassen,
jetzt das zweifelhafte Privilegium des Einjährig-Freiwilligentums genießen,
einen gerechten Grund zur Beschwerde. Vor allen Dingen aber würde in weiten
Schichten der Bevölkerung das immer mehr steigende Mißtrauen beseitigt
werden, daß dem Begüterten auch im Militärwesen unverdiente Erleichterungen
zu teil würden."
Ein wesentlicher Teil der Heeresvcrfassung ist die Sicherstellung eines
tüchtigen Unteroffizierkorps. Bei uns, wie in allen übrigen Armeen, ist diese
Frage aber noch nicht in durchweg befriedigender Weise gelöst.
Die Anwartschaft ans spätere Anstellung im Zivildienst enthebt zwar den
Unteroffizier bei uns der dringendsten Sorge um seine Zukunft, aber leider läßt
es sich hierbei, trotz aller Mühwaltung um die nachträgliche Vervollkommnung
des Schulwissens der Unteroffiziere, nicht vermeiden, daß in der Regel nur die
Leute auskömmliche und befriedigende Stellungen im Staats- oder Gemeinde¬
dienst erhalten, die von vornherein eine bessere Schulbildung genossen und
auch während ihrer Militärlaufbahn im Schriftwesen Beschäftigung gefunden
haben. Dagegen müssen sich oft solche Unteroffiziere, die eine geringe Schul¬
bildung haben, und ganz besonders solche, die aus der ackerbautreibenden Be¬
völkerung hervorgegangen sind, mit Posten als Wärter, Boten, Hausdiener,
Pförtner oder den untersten Stellen in der Post-, Eisenbahn- und Steuer¬
verwaltung begnügen, die gering bezahlt sind und dem sich seines Wertes
bewußten treuen, eifrigen und thatkräftigen Vizefeldwebel oder Vizewachtmeister
wie eine Erniedrigung erscheinen, sodaß sie vielfach nie mehr zu einer rechten
Lebensfreudigkeit kommen.
Das beste Mittel, diesem Übelstand abzuhelfen, wäre es nun, den vom
Lande stammenden Unteroffizieren den Ankauf eines Landguts zu ermöglichen.
Man wird hier zunächst einwenden, daß, wer zwölf Jahre in der Stadt
gelebt habe, nicht mehr Landbau treiben könne und wolle.
Was die einfachen landwirtschaftlichen Hantierungen betrifft, so glaube
ich aber, daß man diese, wenn man sie bis zum zwanzigsten Jahre geübt hat,
wohl nie wieder vergißt. Für den Betrieb der Wirtschaft könnten sehr wohl
dreimonatige Kurse an Landwirtschnftsschulen nachhelfen, die den Unteroffizieren
gewissermaßen als Probedicnstleistungen angerechnet würden, wie das ja für
alle Berufsneuaulernuug statthaft ist, oder wie die sogenannte gesetzlich vom
Unteroffizier zu fordernde dreimonatige Urlaubszeit zum Nachsuchen einer
Zivilstelle.
Die Lust zur Landwirtschaft ist allerdings bei einem größern Teile der
Unteroffiziere zurückgedrängt, weil sie sich in der Stadt mit Nühterinnen,
Ladenmädchen, Töchtern von kleinen Beamten und Gewerbetreibenden ver¬
heiratet oder verlobt haben, aber man findet doch auch jetzt schon manchen
Unteroffizier, dem die Aussicht, selbständiger Grundbesitzer werden zu können,
lockender erscheint, als eine Boten- oder Hausdicnerstelle oder die Beschäftigung
im untern Eisenbahn- oder Steuerdienst. Wenn nur erst einmal der Licht¬
blick für einen Ackerknecht oder Tagelöhner eröffnet wäre, daß er dnrch vor¬
wurfsfreie zwölfjährige Dienstzeit ein Gutsbesitzer werden könne, so würde er,
nachdem er die Unteroffizierlausbahn erwählt hätte, bei den gelegentlichen
Beurlaubungen in die Heimat Bekanntschaft mit einer tüchtigen Vanerntvchter
suchen, die er dereinst als Bäuerin in den eignen Besitz einführen könnte.
Würden um aber dem Staat die Vorteile, mehr brauchbare Unteroffiziere
zu gewinnen, die Zahl der Beamtenstellenanwärter zu vermindern und den
erwünschten Rückstrom von der Stadt aufs Land zu befördern, nicht zu teuer
kommen? Ich glaube doch nicht. Der Unteroffizier hat zunächst als Anzahlung
seine Dieustprämie vou 1000 Mark, und er wird allmählich die Restkaufs¬
summe ratenweise sehr wohl abzahlen können, da ihm meist eine nicht unbe¬
deutende Jnvalidenpension zusteht, und auch die Zulage für Nichtbenutzung
des Zivilversorgungsscheins bewilligt werden könnte. Wie viele Besitzer
von Bauerngütern, deren Güter fast bis zur Höhe des Wertes mit Hypo¬
theken belastet sind, müssen Eltern, Brüder und Schwestern neben den eignen
Kindern ernähren, und leben doch mit Behagen und fühlen sich als selbständige
Männer?
Wenn um aber auch wirklich deu Unteroffizieren etwas günstigere Be¬
dingungen als den bisherigen Ansiedlungsgutstanfern geboten werden müßten,
so erhielte man dafür einen Stamm von Kolonisten, wie mau sich ihn kaum
besser denken und über deu man in jeder Hinsicht frei verfügen könnte.
Die gegenwärtige Ansiedlung unter den polnisch redenden Preußen liefert
doch nicht ganz die erhofften Erfolge, denn sie muß in der Art ihrer Ein¬
führung als eine Ausnahmemaßregel erscheinen und ruft eine bittere Reaktion
wach; andrerseits aber wird eine Stärkung reichstreuer Gesinnung dadurch
gehindert, daß den Ansiedlern die Wahl des Ansiedln»gsorts frei gelassen
werden muß, und daß man deshalb auf die zweckmäßige Zusammensetzung der
neuen Gemeinden nicht genügend einzuwirken vermag. Wenn die aus dem
preußischen Ansiedlungsfonds noch verfügbaren Gelder und Liegenschaften da¬
gegen dem Kriegsministerium überwiesen und durch eine Rcichscmleihe ver¬
hältnismäßig verstärkt würden, so könnte das Kriegsministerium den Ankauf
des Grund und Bodens nicht nur nach finanziellen, sondern auch nach politischen
Rücksichten vornehmen, ohne eine besondre provinzielle Erregung hervorzurufen.
Denn es giebt noch manche andern Gegenden, in denen eine Besiedlung mit
deutschen Unterosfizierkolonisten möglich und äußerst wünschenswert ist.
So nimmt in Lothringen die ackerbautreibende Bevölkerung stetig ab.
Man findet in vielen Dörfern Häuser, die gänzlich leer stehn und verfallen,
weil die Besitzer verstorben sind, die Erben selber Häuser besitze», und kein
Mensch da ist' der mich nur die geringste Miete bezahlen möchte. Nicht mir
Nachen, die sich ihrer schwer zu beseitigenden Kaltgründigkeit wegen am besten
zum Waldbetrieb eignen, sondern auch Ackerboden, im ganzen über 53000 Hektar,
liegen in Lothringen öde. Für Geld und gute Worte sind keine Arbeiter zu
fuiden. Der Grund hierfür liegt aber nur zu einem sehr geringen Teil an
^ner Abwandruug nach Frankreich, vielmehr hauptsächlich am Zweikindersustcm
und an einer geringen Regsamkeit des Lothringers, der sparsam lebt und
ängstlich jedes Wagnis neuer Produktionsweisen oder genossenschaftlichen Zu¬
sammenschlusses scheut. Für größere Ländereien ist fast nie ein Käufer zu finden,
U"d für Güter über 50 Hektare ist meist nur ein sehr geringer Pachtschilling
S" erhalten. Solcher Güter giebt es um in Lothringen über 900, und etwa
560 davon gehören Ausländern, die die Pacht in Frankreich verzehren, nur
selten auf ihre Schlösser und Farmer kommen und gern verkaufen möchten,
wenn sie nur einen annehmbaren Preis geboten bekämen.
Merkwürdigerweise fallen gerade auf deu westlichsten, französisch redenden
Teil Lothringens über 30 Prozent dieser Art Großgrundbesitz, der volkswirt¬
schaftlich wie im nationaldeutschen Interesse nur Mißstände bietet. Wenn
man hier zugreifen könnte und deutsche Unteroffizierkolonistendörfer — natürlich
mit deutschen Pfarren — anlegte und die Kolonisten zu Molkerei-, Dampf¬
pflug-, Hack-, Mäh-, Heuweude- u.tgi. Maschine», sowie zu Konsum- und
Viehzuchtgenosseuschaften verpflichtete, dabei den Waldboden wieder aufforstete,
den Wiesenbau durch Düngung und Ausnützung der vielen zur Bewässerung
geeigneten Wasserläufe höbe und durch folgerichtige Wegeanlagen dem Acker-
futterbau Vorschub leistete, so würde man nicht nur der vielfach veralteten
Landwirtschaft Lothringens neue Triebkraft verleihen, sondern auch deu kleinen
Verlust an der Sprachgrenze, der seit dein zehnten Jahrhundert hier einge¬
treten ist, rasch wieder wett machen. Ludwig XIV. hat hier selbst den Weg
gewiesen. Lediglich dn, wo er an der verödeten Hauptwegestrecke der Heere
im Dreißigjährigen und den endlosen lothringischen Kriegen Bauern aus der
Picardie und aus der Champagne in geschlossenen Dörfern ansiedelte, ist die
französische Kultur vorgedrungen. Ähnliches wäre jetzt viel leichter zu erreichen,
wo die Verkchrsverbesserungcu, die vielen Staatsbeamten, die Schule und die
allgemeine Wehrpflicht noch ganz anders zur Ausbreitung der Staatssprache
mitwirken. Man muß nur mit einem Schlage ganze Dörfer neu gründen,
die an den großen Garnisonen Metz, Mörchingen, Dieuze, Saarburg ihren
natürlichen Rückhalt finden und bald Kristallisationspunkte für weitere freiwillige
deutsche Zuwandrungen werden würden.
An allen Grenzmarken aber, wo man die Unteroffiziere ansiedeln würde,
könnte diesen Neugründungen eine Art Rückgrat dadurch gegeben werden, daß
man auch Offizieren , die Interesse und Kenntnisse für Landwirtschaftsbetrieb
haben, die ihnen durch Mangel an Barmitteln verschlossene Möglichkeit, sich
anzukaufen, dadurch gewährte, daß ihnen ein Teil der verdienten Pension zur
Abzahlung auf ein größeres Landgut in Anrechnung gebracht würde. Aus
den Kindern der Unterossizierkolonisten, die im väterlichen Betriebe nicht voll
beschäftigt werden könnten, würde für sie allmählich ein Stamm von Arbeitern
heranwachsen, der natürlich durch Seßhaftmachung in selbsteignen Haus und
Garten gewonnen und festgehalten werden müßte. Dann würden sich auch
aus den starken Grenzgarnisonen immer einzelne Leute finden, die bei der
Entlassung zur Reserve uicht anstünden, sofort in der Nähe Arbeit zu nehmen,
die bessere Lebensbedingungen verspräche als das heimische Tagelöhnertum.
Auch eine solche Offizieransiedlnng wäre aber in jeder Hinsicht ein großer
Segen, denn viele pensionierten Offiziere sehnen sich nach standesgemäßer Arbeit.
Wenn sich einzelne von ihnen später auf dem angewiesenen Landgute doch uicht
zu behaupten verstünden, so könnte ihnen der Rücktritt in die reine Geldpcnsion
ja immer offen gehalten werden, sodaß weder sie noch der Staat einen Nachteil
hätten. Auch dürfte wohl erwogen werden, ob solchen Offizieren nicht beim Beginn
ihrer Pensionierung statt des sofortigen Eintritts zunächst ein einjähriger Urlaub
mit Gehalt bewilligt werden könnte, sodaß sie in der Lage wären, sich zu¬
vörderst wieder in den landwirtschaftlichen Beruf einzuarbeiten. Doch ist dies
mir eine sich bei der Unteroffizieransiedlung von selbst ergebende Nebenfrage;
die Hauptsache bleibt, daß gutgedienten Unteroffizieren, die aus der Dorf¬
bevölkerung hervorgegangen sind, die Möglichkeit einer Körper, Herz und Geist
befriedigenden Thätigkeit eröffnet wird, und sie, die noch im allerkräftigsten
Mannesalter stehn, nicht allein darauf angewiesen bleiben, in Beschäftigungen
als Boten, Wärter, Hausdiener, Pförtner, Aufseher, Schließer, Wächter u. tgi.
zu verkümmern, in denen sie weder ihre körperliche Rüstigkeit noch ihre sittliche
Thatkraft zur Geltung zu bringen vermögen.
Man mache nnr einmal einen Anfang mit der Unteroffizieransiedlung,
und man wird sehen, wie von Jahr zu Jahr die Lust zu dieser Art Zivil¬
versorgung zunehmen, und welcher Segen daraus in politischer wie in volks¬
ir hatten eine starke Flotte nötig, und es wurde, weil der
Reichstag die Gelder nicht bewilligen wollte, der Vorschlag ge¬
macht, das deutsche Kapital solle sich in diesem Falle einmal selbst'
besteuern. Noch klingt dem Patrioten das Hohngelächter in den
Ohren, das sein guter Wille wach rief, und den Schaden
fühlt er auch noch in seiner Tasche. Außer der starken Flotte, die setzt von
den Volksvertretern bewilligt, aber noch lange nicht fertig ist, bedürfen
wir, wie der Hungrige des Brots, ausreichender Kolonien, um dahin den
Überschuß unsrer Bevölkerung absetzen zu können. Das, was wir an über¬
seeischen Besitzungen haben, genügt für den Zweck nicht; trotzdem ist es
immerhin etwas, woran sich im stetigen Wechsel der Dinge andres, was besser
lst, anschließen kann. An dieser Stelle möge nochmals eindringlich wiederholt
werden, was schon einmal anderswo gesagt worden ist: zu den vielen Ver¬
schrobenheiten, die uns in unserm obersten Parlament zu einem unerträglichen
Ohrenschmaus hergerichtet werden, gehört auch das Thema von der Wertlosig-
keit unsers Kolonialbesitzes. Unsre Besitzungen in Südafrika taugten zu nichts
und verschlängen ungeheure Summen. Anstatt von Jahr zu Jahr neue Millionen
ni diesen unersättlichen Schlund zu werfen, sollte unsre Regierung sie lieber
den Meistbietenden verknusen; auch mit dem geringsten Preise würde sie
immer noch ein gutes Geschäft machen- Das ist dieselbe kurzsichtige Politik,
die um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts veranlaßte, daß der reiche
holländische Besitz in Brasilien an die Portugiesen zurückfiel. Immerhin mag
das zugegeben werden, daß, von Samoa abgesehen, kaum in einer unsrer An-
Siedlungen deutsche Arbeit auf die Kosten kommt; aber es ist die Frage, ob
für das Deutsche Reich dieser Standpunkt der Betrachtung auch nur vorzugs¬
weise, geschweige denn allein maßgebend sein darf. Das deutsche Volk kann
warten, bis auch für diesen Teil seiner Arbeit der entsprechende Lohn abfällt,
aber womit es nicht zögern durfte, das war, endlich einmal in den weiten
Räumen der Welt, die bis dahin seinem Machtanspruch verschlossen waren,
festen Fuß zu fassen. In Kamerun herrscht Sumpf, Fieber und Hitze, Süd¬
ostafrika reizt uur zum Plantagenbau, und im Westen hält die Trockenheit
den Siedler ab, aber wenn alle diese Übelstünde noch schlimmer wären, als
sie in Wirklichkeit sind, so durfte sich doch die Negierung dem Rufe nicht ver¬
sagen, der aus der Mitte des Volkes an sie erging, und mußte die Hand auf
diese wie auf andre Landstriche im fernen Meere legen. Das Gerede im
Reichstag über die in den Staatshaushalt für die Schutzgebiete eingesetzten
Summen wird die Regierung noch lange Jahre anhören müssen, ohne auf
sonderliche Ertrüge hinweisen zu können, aber ebenso lange und noch länger
reicht sie mit dem Hinweis darauf aus, daß wir mit dem von der Linken so
verächtlich behandelten Besitz die Hände in dem Spiel der draußen um die
Herrschaft ringenden Mächte haben und von ihm aus ein entscheidendes Wort
mit drein reden dürfen. Die Strandbatterien an unsern Hafeneingüngen
donnern so laut und schießen so scharf wie nur irgend eine auf der Welt, aber
eindringlicher als ihr dumpfes Pathos tönt die helle Schlachtmusik des kleinen
Iltis vor Tatu, der den Völkern das Recht unsrer kolonialen Bestrebungen
bewies und ihm Raum verschaffte.
Der kleine Iltis und seine gepanzerten Genossen sind die lebendige Fort¬
setzung unsrer Hafenbefestigungen, wie die hölzernen Mauern des delphischen
Orakels die Verlängerung der Mauern des Pirüus waren, und vermitteln mit
starker Überreduugskraft die Meinung, die Volk und Negierung von Deutsch¬
land von unserm Recht im Auslande haben. Denn auch an das deutsche Volk
ergeht die Mahnung, daß wir fruchtbar sein sollen und uns mehren und alle
mit der Schürfe des Schwertes treffen, die uns daran hindern wollen. Die
Welt sei vergeben, heißt es, und an dieser Thatsache sei nicht zu rütteln. Ja,
deutsche Kraft soll auch darau nicht rütteln, aber es ist auch eine Wahrheit,
an der nur die Thorheit zu rütteln wcigt, daß es kein Beharren in unsrer
Erscheinungswelt giebt.
Auch das Paradies war einmal allein Anschein nach in festem Besitz, und
schon lange sitzen die Menschen daneben. Seit dieser Zeit ist das, was man
die Welt nennt, in ewiger, bald ruhigerer, bald sich überstürzender Bewegung,
und keinen Augenblick kaun man sagen, wohin einmal der Besitz fallen wird,
der gegenwärtig noch sicher in starker Hand zu ruhen scheint. Gerade die
Tage unsrer nächsten Gegenwart belehren uns darüber mit einer Deutlichkeit,
die nicht bloß an die Augen und die Ohren, sondern ans innerste Leben geht.
Es vergeht fast kein Tag, wo nicht irgendwo Reibungen und Händel statt¬
finden, die groß oder klein weittragende Wirkungen haben können. Die Karte
des Erdkreises ist einer ewigen Revision unterworfen, die immer mit mehr oder
weniger Gewaltthätigkeit verbunden ist: ein ununterbrochner, ewig bewegter
Strom, der sich durch die Zeit wälzt. Glaubt ein Staat, sich in der Sehn¬
sucht friedlichen Genießens an seine Ufer setzen zu können und nur das Material
für seine stille Beschaulichkeit aus seinem Gedränge heraufholen zu dürfen?
Was bei einer solchen Ruhebedürftigkeit herauskommt, dcwou giebt uns das
Schicksal der Niederlande ein trauriges Beispiel.
Früher mußte das deutsche Volk infolge seiner politischen Schwäche allen
Umgestaltungen, die in der Nähe und in der Ferne auf dem Erdboden von
den Gewalt habenden Machten beliebt wurden, zuschauen, ohne mit der Wimper
zu zucken. Das ist nun mit der Zeit sehr anders geworden, unsre Regierung
weiß sich in den Wirbeln des Stromes zu behaupten. Eine glänzende Probe
hat sie davon in den chinesischen Wirren gegeben. Wenn irgend eine andre
der beteiligten Nationen mit einem ähnlichen Ergebnis aus Ostasien zurück¬
gekehrt wäre, so brauchte man nicht einmal nach Frankreich zu gehn, um die
freudige Erregung eines ganzen Volkes zu erfahren. In Deutschland hat man
es erlebt, daß die Hälfte der am politischen Leben teilnehmenden Menschen
mißmutig und tadelsüchtig, zum Teil grimmig beiseite stand. Vor der Aus¬
führung der Expedition wurden der Regierung Schwierigkeiten aller Art be¬
reitet; wo Steine zu finden waren, da warf man sie ihr ganz gewiß in den
Weg, und als der Krieg zu Ende war, da hagelte es von Anschuldigungen
und Verleumdungen der gemeinsten Art.
Mangel an politischer und nationaler Schulung, der niederschlagend wäre,
wenn man nicht wüßte, daß er die natürliche Folge einer trostlosen Vergangen¬
heit ist, und daß er sich geben wird, wie Kinderkrankheiten mit dem Wachsen
des Körpers zurücktreten. Aber betrübend bleibt es doch, daß man jetzt, wo
es die Kraft hat, dem deutschen Volke einreden möchte, daß die Not, die einst¬
mals lähmend und schmachvoll auf ihm lag, eigentlich eine Tugend gewesen
sei, und daß man ihm mit dieser zahmen Betrachtung die starken Hände binden
will. Sonderbare Zumutung, die sich anläßt, als wenn man von dem stolzen
Rassepferde die Dienste des Esels in der Tretmühle verlangen wollte. Ein
zum Herrschen gebornes Volk läßt sich auf die Dauer die Hände nicht binden.
Wozu wurden ihm denn die sieghaften Eigenschaften des Körpers und des
Geistes zuteil, als sie zu gebrauche» auf der Erde und sich den Raum zu
schaffen, den es zum Leben nötig hat?
Raum zu schaffen, nicht mit dem Rechte wilder Eroberung, sondern mit
dem Rechte des Klugen und Starken, der seine Mittel bereit hält, um, wenn
dle Verwicklung kommt, sie dahin zu werfen, wo sein Vorteil liegt. In China
)"ben wir zunächst nur moralischen Gewinn gemacht, aber dergleichen inkom¬
mensurable Werte finden in der Regel später doch ihre reale Anerkennung,
-^as vor den Takuforts auf dem Iltis an Mannszucht, Mut und Kriegskunst
^ Tage gefördert worden ist, bildet eine Einheit, die durch die Anzahl unsrer
Küegsschifse mehr als vervielfältigt wird. Das weiß man überall in der Welt
^uz genau, und nur danach werden sich die Mächte richten, wenn Deutschland
>euie Stimme in den Beratungen der Weltkongresse erhebt, von denen man
nicht mehr ausschließen kann. Wenn auch in veränderter Form, wieder¬
holt sich doch alles einmal in der Welt: dem Großen Kurfürsten Hütte in
den Verhandlungen des Westfälischen Friedens seine Diplomatie allein wenig
geholfen.
In aller Erinnerung ist es, wie Deutschland endlich in den ruhigen Besitz
der Samoainseln gekommen ist. Der unselige Krieg, in den England durch
den Widerstand der Buren verwickelt wurde, hat dessen Diplomatie in der
Behandlung dieser so wichtigen Kolonialfrage geschmeidige, aber alle ihre süd¬
afrikanischen Bedrängnisse würden diese Macht gegen die deutschen Wünsche
nicht willfähriger gemacht haben, wenn die deutsche Flotte nur noch ein Spiel¬
zeug in britischen Augen gewesen wäre. Seitdem hat der Krieg in den Buren-
republikcn seinen wie immer gearteten Fortgang genommen. Ob Orss-ehr Lrit-um
durch die Erfahrungen, die es hiermit gemacht hat und alle Tage weiter
macht, noch traktcibler für die Ansprüche seiner Konkurrenten geworden ist.
darüber auch nur Vermutungen aufzustellen, dürfte wenig am Platze sein, aber
was man sagen darf, ist, daß Deutschland, wie auch immer die Entscheidung
in Südafrika fallen mag, nnr Vorteil von dem schließlichen Friedenstraktat
haben kann.
Nicht bloß den allgemeinen, den alle Welt von der Herstellung der Ruhe
und der Ordnung in dem vielgeprüften Lande haben wird, sondern den des
Nachbarn, ans dessen Wünsche der Sieger, mag er sein, wer er will, Rücksicht
nehmen muß. Es ist auch müßig zu fragen, nach welcher Richtung hin diese
Wünsche liegen, und in welcher Weise sie verwirklicht werden könnten. Das
findet sich beim Friedensschluß oder schon bei den Vorarbeiten dazu. Darauf
kommt es an, daß der Sieger, wenn er sich in dem verödeten Lande einzu¬
richten hat, der Dienste eines guten Nachbarn bedarf, auf dessen Wohlwollen
er sich unbedingt verlassen kann. Wie auch die Transaktionen beschaffen sein
mögen, die auf dieses Wohlwollen abzielen, sie werden immer von dem aus¬
gehn, dem es um den guten Willen zu thun ist.
In der Capriviperiode siud wir in der Abschließung unsrer Handelsver¬
träge von der ganzen Welt übers Ohr gehauen worden, und England hat
seinen ganz besonders guten Handel mit Sansibar gemacht. Aber seit jener
Zeit sind wir zu den bewährten Grundsätzen des ersten Kanzlers zurückgekehrt,
und es wird wieder ganze Arbeit in der Politik gemacht. Die frische, kräftige
nationale Luft, die in diesen Tagen vom Regiernngstische her zum Unterschied
von der frühern weichlich anschmieglichen internationalen die Debatten über den
Zolltarif belebte, ist der genaue Gradmesser für die Höhe, mit der unsre über¬
seeischen und kolonialen Interessen dem Ausland gegenüber angesetzt werden.
Die alö ut ÜL8-Politik ist in deu letzten Jahren gelegentlich verächtlich gemacht
worden, und doch besagt sie nichts andres als die Wahrheit des Satzes, daß alle
Politik auf Kompromissen beruht. Freilich muß es auch drusig mit ebensoviel
Energie wie Ruhe heißen: Gieb erst, damit auch ich imstande bin, zu geben.
Das Verhältnis der Reziprozität ist in den politischen Geschäften von
außerordentlichem Belang, und wohl dem Staate, der in der Lage ist, auch
an auswärtigen Besitz die Fäden seiner Unterhandlungen anknüpfen zu können.
Nachdem schon während des achtzehnten Jahrhunderts alles aus sich selber
ergiebige Laud Außereuropas verteilt war, ist in gegenwärtiger Zeitlnge nicht
die Frage zuerst zu stellen, welchen Wert im Vergleich mit andern eine Kolonie
hat, sondern ob sie überhaupt einen hat. Im besondern für Deutschland kommt
es darauf an, auch außerhalb seines eigentlichen nationalen Körpers einige Ge¬
biete sein eigen zu nennen, von denen aus es auf seinem Wege den Fuß
weiter setzen kann. Die ihm vorgeschriebne Marschroute von da ans fortsetzen
zu können, sei es mit Kohlenstationen, oder mit Kabellegungen, oder mit
Grundlagen zu gelegentlichen Verhandlungen, das ist der Punkt, der aus
allem andern Erwägungsmaterial zuerst ins Auge springen muß.
Daß das Kapital seine Werte uicht zu Anlagen hergiebt, die keinen
ciugenblicklichen Gewinn versprechen, ist eine alte Geschichte und nicht in
Deutschland erst wieder nen geworden. Aber je mehr die Regierung auch bei
uns, im Lande der Geistesritterschaft, mit dieser Thatsache zu rechnen hat,
um so mehr sollte sie darauf bedacht sein, sich von ihr unabhängig zu machen.
Was kann sie thun? In der Journalistik wird lange schon darüber hin und
her gestritten, wie die Ausgaben des Reichs für die Kolonien zu vermindern,
die Einnahmen zu vermehren seien; dabei tönt die ewige Klage durch, daß
die deutsche Verwaltung zu viele Kosten verursache. Mag sich nun die Negie¬
rung an diesen Auseinandersetzungen, die „praktische Politik" sein sollen
aber der erste Napoleon würde sie ideologisch nennen —, so viel beteiligen,
wie sie Zeit dazu hat. Vor allem möge sie mit Ernst weiter bemüht sein,
die Nullen an dem jedes Jahr gähnenden Defizit im Kolonialhanshnlt zu
mindern, im übrigen aber das Ding nicht tragisch zu nehmen.
Nur keine schwächliche Haltung den Geldmächten gegenüber. Die Not¬
wendigkeit der Fortführung des Lebens ist zwingender als irgend eine andre
Rücksicht, die man zu nehmen hat. Es bedarf durchaus keines Napoleonischen
Verfahrens, womit die Abzugsrohren an die Reservoirs des Reichtums gelegt
werden; die Erfahrungen, die wir an den Wirkungen der Miquelschen Finanz-
Politik gemacht haben, reichen auch aus. Ob man eine Reichssteuergesetzgebuug
vorzieht, oder ob man lieber im Einzelverfahren der Bundesstnaten vorgehn
will, jedenfalls sollte das Bestreben unsrer Staatsgewalt dahin gehn, ein
Neichssammelbecken herzustellen, das, je nach der volkswirtschaftlichen Lage
hoher oder niedriger gehalten, den im Augenblick drängenden Bedürfnissen ge¬
recht zu werden vermöchte. Wäre es nicht möglich, mit einer beweglichen,
nur im Maximum festgelegten Steucrqnote vorzugehn und damit dem Reichtum
^e Regel vorzuschreiben, wonach er zum Dank für den zu seiner Ansammlung
gewährten Schutz dem Staate den entsprechenden Tribut bezahlte?
Daß das Kapital in seinen Verpflichtungen gegen das Ganze bei uns
"och immer im Rückstände ist, ist eine Wahrheit, die nur den Inhabern noch
uicht einleuchten will. Die mittlern Einkommen, nämlich die der Beamten
und derer, die mit ihnen dieselbe Lebensstufe behaupten, werden vom Stcuer-
üesetz mit einer Sicherheit und Wucht getroffen, daß auch nicht ein Hülmchen
nebenbei emporkommen kann. Dagegen werden auf den Höhen viele Weizen¬
felder reif, die ohne jegliche Zehntung bleiben. Hier fließt eine starke Quelle
Unzufriedenheit und des Zwiespalts in den Niederungen, den die Sozial¬
demokratie ins nationale Leben hineinträgt.
Daß hierin eine größere Gefahr für Deutschland liege, als jeder andre
europäische Staat zu bekämpfen hat, wie mau uns einreden möchte, ist nicht
der Fall. Noch sind unsre staatlichen Institutionen mehr als stark genug, die
von unten aufdringenden Gärstoffe unter Druck zu halten. Aber auf der
untern Seite genügt unsre mit Recht vielgerühmte soziale Gesetzgebung allein
auch nicht. Überhaupt muß das beherzigt werden, daß im Volke weniger das
ihm selbst bewiesene Mitleid wirkt, als die möglichste Überzeugung von der
gleichmäßigen Verteilung des auf allen liegenden Druckes. Auch hier sollte
unsre Heereseinrichtung für das bürgerliche Leben vorbildlich sein. Wohl weiß
der gemeine Mann, daß nicht alle mächtig sein können und gebieten, aber um
so größer ist auch sein Gefühl für den Gerechtigkeitssinn, der verhütet, daß
der von der Natur gewollte Unterschied noch von der Willkür unnötig ver¬
schärft werde.
Da das Geld als solches, wo es in seinen Funktionen des weitern Er¬
werbs thätig ist, mitleidlos ist wie die zu Thal gehende Lawine, die alles mit
sich nimmt, was aus ihrem Wege liegt, so ist es nicht anders als natürlich,
daß der Mensch, der vorzugsweise mit ihm zu thun hat, auch hart wird. Für
gewöhnlich tritt die herrschende Sittlichkeit und die Religion ein, aber die
Hauptsache muß der Staat machen, er muß verhindern, daß die Härte zu einer
Obstruktion wird, die sein Gefüge von innen heraus sprengt. Die Erfahrungen
aller Zeiten weisen mit einer so überraschenden Übereinstimmung auf die Gründe
des Verfalls der Staaten hin, daß den Historiker das Staunen über die Ein¬
heitlichkeit aller Menschennatur überkommt. An das Schicksal Athens und
Karthagos soll hier nur erinnert werden. Die Thränen, die der jüngere Scipio
auf den Trümmern der von ihm eroberten Punierstadt weinte, waren eine be¬
redte, wenn auch stumme Anklage gegen die Sünden seiner Standesgenossen,
die einmal die römische Republik in die verdiente Vernichtung hinabziehn
würden. Nur wenig Jahrzehnte nach diesem Ereignis durfte der Numidier-
fürst Jugurtha die Thaten seiner wilden Grausamkeit höhnisch mit den Worten
begleiten, daß in Rom alles, anch die Gerechtigkeit, käuflich sei. War deun
nicht trotz Brutus und Cato schon lange in dieser Stadt das Geld der Wert¬
messer der Dinge?
Es ist über die Gründe, die die große französische Revolution zur Folge
gehabt haben, viel geschrieben worden, aber alles, was man davon dem sichern
Verbleib der Bibliotheken überantwortet hat, ist nichts als die Begleit- oder
Folgeerscheinung der entsetzlichen Härte, womit der Geiz der Geistlichkeit und
der Aristokratie das übrige Volk in Frankreich in der Unterdrückung hielt.
Die Geister des Umsturzes sind immer wach, aber wenn man glaubt, sie durch
immer höher aufgetürmte Berge am Ausbrechen hindern zu können, so ist das
eine Meinung, die sich genau nach dem Maß der gemachten Anstrengungen
rächt. Typhoeus und Enceladus sind pathologische Erscheinungen, die im
Völkerleben zu Tage treten, wie der Vesuv und der Ätna an der Erdrinde
emporragen. Mau muß sie mit milden Mitteln und sanfter Hand und vor
allem mit der Anerkennung ihrer Berechtigung in der Natur behandeln.
In dem Augenblick, wo dieses niedergeschrieben wurde, machte eine große
Rede Lord Noseberys in England von sich sprechen: er soll da der kommende
Mann sein. Nach dem, was von dieser Auslassung verlauter, mögen aller¬
dings die Friedensfreunde Grund haben, allerhand Hoffnungen daran zu
knüpfen, aber im übrigen darf bis jetzt mit Recht gezweifelt werden, ob auch
seine Kraft imstande ist, dem jahrhundertelangen Gang der Dinge in England
zu gebieten. Bei unsern Stammesgenossen jenseits des Kanals handelt es
sich nicht um die Beendigung eines Kriegs, wie es etwa die des Jugnrthi-
nischen in Rom war, nicht um irgend welche Maßregeln im landläufigen libe¬
ralen oder konservativen Sinne, sondern um ein grnndstürzendes Eingreifen,
das den Staat auf die ganz andre Basis stellt.
Der Lord Londonderry soll Rosebery den geheimnisvollen Mann genannt
haben, und das ließe auf das Vorhandensein großer Möglichkeiten schließen,
doch das muß vorerst noch außerhalb aller Diskussion bleiben. Ist er bloß
ein Cicero, dann bleibt er besser auf seinem Tuskulnm, hat er aber das Zeug
von einem Cäsar in sich, dann sind doch auch die Schwierigkeiten so groß, daß
in ihrer BewAtiguug auch eine cäsarische Kraft versagen würde. Von diesem
Herrschergenius soll mau nur die reformatorische Seite ins Auge fassen. Mit
welchen Mitteln aber würde Lord Rosebery, ohne Usurpator zu sein — und
die Rolle ist nicht möglich —, die Axt an die Wurzel des Übels legen, das
sich nun einmal so tief in den englischen Vvlksleib eingefressen hat? Man
mag sagen, was man will, England leidet an der Hypertrophie des Geldes,
die wie die Hydropsie von den edelsten Teilen aus den ganzen Leib lahmt.
Nur die stärksten Mittel einer rücksichtslosen Selbstzucht würde» die Kraft haben,
dem Fortschreiten des Siechtums zu steuern.
Dazu gehören vor allem andern die Einfüyruug der allgemeinen Wehr¬
pflicht und die von Grund aus ansehende Änderung seiner Kolonialpolitik.
Wie die Einrichtungen des englischen Heeresdienstes von der Selbstsucht des
Reichtums herrühren, so beruht die britische Kolonialverwaltung teils auf dem¬
selben Egoismus, teils auf dem harten Vorgehn eines nur sich achtenden
Imperialismus. Die Engländer thun sich viel ans ihren Liberalismus zu
gute, der unter ihnen das Licht der Welt erblickt haben soll, und unter dessen
Devise sie noch immer an der Spitze der Zivilisation marschieren. Mag das
Wort immerhin einmal eine Wahrheit gewesen sein, wiewohl auch hierzu viel
Ansagt werden kaun, so ist es doch augenblicklich zur inhaltlosen Phrase und
abstrakten Formel geworden. Ein melodisch abgestimmtes Schellengeläute, von
dem sich nur solche Leute fangen lassen, deuen das selbständige Denken ab¬
geht, und die glauben, liberal bedeute die Freiheit, von allem Vorhandnen
soviel zu nehmen, wie nur eben angeht, und bloß das wegzugeben, was mit
Recht nicht zurückgehalten werden kann. Das Wort Liberalismus ist das
gwße Fangnetz, das die herrschende Kaste in England über die ganze Breite
des Stromes wirft, um darin festzuhalten, was Leben hat, und ihm nur
das Dasein zu lassen, das bloß der Reflex, nicht der warme Abglanz ihres
eignen ist.
Es sei uns ferne, ungerechtfertigten Anschuldigungen Raum zu geben,
auch wollen wir keine moralischen Anklagen erheben. Was die Engländer im
Lande der Buren thun zu müssen glauben, haben sie allein zu verantworten,
und wenn sie behaupten, ihre Behandlung der Iren sei nichts andres, als was
den Polen, den Dünen nud den Elsaß-Lothringern in Deutschland widerfahre,
so liegt es ihnen ob, den Beweis dafür zu bringen. Was uns angeht, so
sollen uns nur die Kolonien beschäftigen, die von allen als die sichersten
Appertinenzien des britischen Kaiserreichs bezeichnet werden. In Kanada,
Australien und im Kaplande ist eine zahlreiche englische Bevölkerung, die das
Land durch Ackerbau und Viehzucht, durch Handwerk und Gewerbe aller Art,
also durch die vornehmste Bethätigung aller menschlichen Arbeit, auch in ihrem
eigentlichsten wirklichen Besitz hat. Von diesen Bevölkerungen wird niemand
behaupten, daß sie nicht nationalenglisch vom Wirbel bis zur Zehe seien. Das
heißt, und mit der Einschränkung beginnt die Beweisführung, sie sind die
Söhne ihrer Väter in der Weise, daß sie denselben Unabhängigkeitssinn in
die Ferne getragen haben, der sich auch einmal gegen die alte Heimat wenden
kann. Hierfür ist der Freiheitskampf der Nordamerikaner das schlagende Bei¬
spiel. Wenn von ihm gesprochen wird, sollte man nicht bloß an die vom
Mutterland ausgehende Unterdrückung, sondern auch an die Geneigtheit zur
Loslösung in den Kolonien denken. Stolze Liebe zur Freiheit und Selb¬
ständigkeit ist eine der schönsten Eigenschaften, deren sich die Menschen rühmen,
aber sie muß durch ein ebenso starkes Gefühl der Zugehörigkeit zu einem
Staatsganzen im Gleichgewicht gehalten werden. Der Brite rühmt sich, stolzer
auf seinen Namen zu sein, als irgend ein andrer Stantsunterthcm, aber diese
Gesinnung ist sehr individueller Natur und mehr die Wirkung von Zufällig¬
keiten, als das Ergebnis einer planmäßigen Erziehung durch den Staat.
Das vivis IZ.onianu8 8nur macht sich auf den Lippen eines Engländers
sehr volltönend und findet wie vieles andre, was er thut, leicht gläubige und
bewundernde Anerkennung besonders unter den Deutschen. Aber wer genauer
zusieht, findet bald, daß kaum irgend ein Angehöriger der großen National¬
staaten der Welt weniger zu dem stolzen Ausspruch berechtigt ist als die selbst¬
bewußten Söhne Großbritanniens. Das Antlitz des rönnschen Bürgers, be¬
sonders in den besten Zeiten der Republik, aber auch später wieder unter den
Kaisern, trug ein doppeltes Gepräge. Er war nicht bloß der bürgerliche An¬
gehörige eines Staates, der in der Fremde die Siedlung anlegte, um hier
seinem Gewinn nachzugehn, sondern auch der Soldat, der mit seiner Justs,
das iinvöriulu lioinMnin in das neugewonnene Land trug und dieses dadurch
unauflöslich mit dem Zentrum verknüpfte; deshalb unzertrennlich verband,
weil in jedem einzelnen römischen Bürger, mochte er in Afrika wohnen oder
in den Grenzstrichen Germaniens, beide Seiten des Staatswesens verkörpert
waren, die Ordnung des friedlichen Erwerbs und die Ordnung des kriegerischen
Schutzes. In dein Hause jedes Römers lag neben dem Werkzeug, das er in
seinem persönlichen Interesse handhabte, die Waffe, die er zum Besten des
Ganzen dem Feinde entgegenstreckte. Der Römer, den sich der Engländer gern
als sein Muster denkt, war nicht stolz auf das eine oder das andre, sondern
auf die Vereinigung beider; nur sie verlieh ihm die Rechte, deren er sich den
Fremden gegenüber rühmte, und auf die er sich vor dem Vergewaltigen berief.
Der Einzelne ließ sich diese Einheit, die er in sich lebendig fühlte, nicht zer¬
reißen, und wenn er im Leben noch so tief heruntergekommen war, und was
den Einzelnen hob, das beseelte das Ganze. Wie konnte wohl eine Provinz
daran denken, sich von ihrem Zentrum los zu machen, von dem Zentrum,
das ihr Leben gab, und zu dem sie Blut zurückführte? Die Fabel des Menenius
Agrippa von der Zusammengehörigkeit des Leibes und der Glieder, die aus
der ersten Zeit der Republik stammt, gilt erst recht von den letzten Tagen
des Kaisertums. Als Rom und Italien von den Barbaren unter die Füße
getreten war, hatte das Leben in der Provinz eine Zeit lang noch seinen
Fortgang.
Was hat England dieser von unten nach oben aufstrebenden staatlichen
Einheit entgegen zu stellen? Wenn man es bei Licht besieht, gerade das
Gegenteil. Was bei den Römern durch ein weises Jneincmdersein die Stärke
des Staates ausmachte, das fällt im englischen Gemeinwesen gleich auf seiner
ersten Stufe auseinander und hat seine Schwäche zur Folge. Der englische
Bürger ist kein Soldat, und der Soldat kein Bürger. Der Kolonist, der von
Großbritannien auszieht, kennt zwar mich den Gebrauch der Waffen, aber er
hat ihn nicht im Dienste eines gemeinsamen Vaterlands geübt. Vor der ser¬
vianischen Verfassung trugen die Plebejer die Lanze und das Schwert als
Hörige ihrer Schutzherren, aber der Urheber jener weisen Gesetzgebung stellte
die früher unterdrückten als gleichberechtigt neben die Vollbürger in die Reihen
der Legion ein und bahnte damit die Verschmelzung der bis dahin getrennten
Volksteile an, die zur Eroberung der Welt führte.
Dagegen haben die Engländer in der entscheidenden Zeit, wo das Mittel-
alter endgiltig Abschied nahm, aus Furcht vor ihren absolutistisch gesinnten
Fürsten in einem starken Volksheere nur das Mittel zur Unterdrückung ihrer
bürgerlichen Freiheiten und ihres selbstsüchtigen Wohlbehagens gesehen. Dazu
kam die Sicherheit ihrer insularen Lage, und so übersahen sie ganz, welchen
Wert der Dienst in einem starken Heere für die Erziehung zu nationaler Ge¬
sinnung im Volke hat. Zu einer nationalen Gesinnung, die nicht ihr Wesen
in unberechtigter Überhebung hat, sondern in besonnener Abschätzung der zu
Gebote stehenden Kräfte. Dieser Geist stolzen Selbstbewußtseins verteidigt
den heimatlichen Herd mit Festigkeit und trägt mit Mut sein heiliges Feuer
M ferne Lande.
Häufig ist der Nachteil, der auf die Schuld einer Unterlassung zurückzu¬
führen ist, von nachhaltigerm Gewicht, als der Vorteil, den eine Großthat
einbrachte. Denn die Folgen dieser müssen schwinden, wenn die Kraft nach¬
läßt, die sie ins Leben rief, während jene der Unterlassung immer größere
Kreise ziehn. Was den Engländern mit ihren nordamerikanischen Kolonien
widerfahren ist, können sie auch an Australien und Kanada erleben. Die Be¬
völkerung dieser Länder besteht mit Nichten aus Kolonisten im Sinne des
vivis Il.01ng.un8. Dazu fehlt ihr die hohe sittliche Weihe, die der Einzelne
damit erhält, daß er durch Gesetz gezwungen ist, mit seinem Blut und Leben
für das Bestehn des Ganzen einzutreten. Der Kapengländer und seine
Stammesgenossen in andern Kontinenten führen wohl ihren Besitz und ihre
Lebensgewohnheit, wohl das englische Gesetz und die englische Sitte, aber nicht
das illixea-iuin weiter, dessen Schutz einem Söldnerheer anvertraut ist.
Wer aber sollte die Wahrung und Erhaltung der in der Fremde nen
entfachten Lebensglnt übernehmen? Tommy Aelius, der sein Blut dazu her¬
giebt, kaun es ebensowenig wie der englische Bürger, der mit seinem Gelde an
der Gründung beteiligt ist. Auch beide in der Vereinzelung sind dazu nicht
imstande, wenigstens nicht in dem höchsten Sinne, den die Notwendigkeit der
Kulturverbreituug durch die Räume der Welt damit verbindet. Erst wenn die
Verschmelzung beider eingetreten ist, wenn Tommy Aelius nicht bloß mehr für
Sold dient, und wenn der britische Staatsbürger stolz darauf geworden ist,
den Waffenrock des vaterländischen Kriegers zu tragen, dann mag man in
England sagen, daß der britische Imperialismus von demselbe Geiste getragen
werde, der einstmals im Altertum deu römische« beseelte.
In Wahrheit, hier zeigt sich dem betrachtenden Blick eine Refvrmthütig-
keit, die ganz ungewöhnliche Kräfte erfordert. Daß Nosebery sie zum Heile
seines Landes zu entfalten imstande wäre, darf billigerweise bezweifelt werden,
da die ihm entgegenwirkenden Tendenzen zur Zeit noch zu mächtig sind. Es
ist nicht anzunehmen, daß der Egoismus des modernen Kapitals in England
willfähriger zu Zugeständnissen sei, als das des anoisu rvsiins vor hundert-
zwanzig Jahren in Frankreich. Andrerseits aber wird seine Obstruktiv» zu
demselben negativen Ergebnis führen, das die Selbstsucht der führenden Klaffen
überall sonst zu aller Zeit hatte. Der Burenkrieg mag uoch einmal mit den
gewohnten Mitteln zu einem mehr oder weniger guten Ende geführt werden,
aber auf die Dauer kann England seine Weltstellung damit nicht behaupten.
Die Engländer möchten für die Ungelegenheiten, oder besser gesagt für
die Not, in der sie stecken, gern andre verantwortlich machen, und ganz be¬
sondre Lust haben sie, dem mächtig aufstrebenden Deutschen Reiche die Schuld
in die Schuhe zu schieben. Was brauchte auch der deutsche Michel, der in
seineir Haufschuhen auf seinem Gutshof eine leidliche Figur spielte, plötzlich
nach Siebenmeilenstiefeln zu greifen und damit durch die Welt stürmen zu
wollen? Der Ochs braucht doch kein Sattelzeug, und wenn er sichs dennoch
auf den Rücken legt, so reißt es ihm herunter, damit er sich auf seine wahre
Natur besinnen lernt. In der englischen Presse sind seit Jahren Stimmen
genug lant geworden, die dies verlangten und unsrer jungen Flotte den Garaus
zu macheu rieten. Das klingt gefährlich, ist es aber nicht, und glücklicher¬
weise haben wir als Volk alle Ursache, uns dadurch nicht beunruhigen zu
lassen. Es ist natürlich, daß ein tiefes Mißbehagen durch die englische Nation
geht, und ebenso menschlich ist es, daß ihre Journalistik, vielleicht auch höher
stehende Leute, diesen Unmut an andern, denen es verhältnismäßig besser geht,
auslassen.
Die englischen Angelegenheiten sind nicht mehr danach angethan, uns in
eine unersprießliche Erregung zu jagen; gewöhnen wir uns vielmehr, sie als
ein Ding zu betrachten, woraus viel gelernt werden kann. Vor allem, daß
die Wehr- und Angriffskraft eines Staats, ohne die es im Völkerleben nun
einmal nicht geht, immer gleichmäßig angespannt sein muß. Unter der Fels-
rung Preußens hat Deutschland, solange es nach seiner nationalen Erhebung
für seine kontinentalen Interessen zu sorgen hatte, diesen Grundsatz mit einem
Erfolg in Anwendung gebracht, der es ans der letzten in die erste Stelle
nnter den europäischen Mächten gebracht hat. Seitdem ist es, dem Zuge
seiner großen Ströme folgend, mit seiner Handels- und Kriegsflotte mitten in
die Weltpolitik getreten, deren Kreise bis dahin nur von England und Frank¬
reich, von Rußland und Nordamerika gezogen wurden.
Während dies geschah, ist im deutschen Reichstage zwei Jahrzehnte lang
darüber hin und her geredet worden, daß das Reich infolge seiner kontinen¬
talen Lage und des Vorsprungs, den nun einmal die Weltmächte vor ihm
hätten, niemals daran denken dürfe, aus den Grenzen einer Seemacht zweiten
Ranges hinauszutreten. Als ob das ein Axiom gewesen wäre, und als ob
darüber nicht die Notwendigkeiten des realen Daseins entschieden, die den
Staat so gut anf die Wellen des Meeres begleiten, wie sie sein Handeln auf
dem festen Boden des Landes bestimmen. Glücklicherweise ist der Doktri¬
narismus, der ni der Erörterung solcher Theorien sein Behagen hat, in diesem
Falle überwunden, aber es wäre ein Wunder, wenn er, an dem einen Punkte
geschlagen, sich nicht an einer andern Stelle wieder festsetzte und seine graue
Redekraft entfaltete.
Ja, und hat er nicht in Wirklichkeit schon seine Vorbereitungen dazu ge¬
troffen? Als nach heißem Bemühen darum die Schlachtflotte endlich bewilligt
wurde, sind doch die Auslnndschiffe gestrichen worden. Ohne Abstreichen geht
es nun einmal in Deutschland nicht, und doch haben wir diese Schiffe nötig
wie der Reiter den Sattel, wenn er festsitzen soll. Für jeden unbefangen
denkenden Menschen find die Ereignisse des chinesischen Kriegs, um vou allem
andern zu schweigen, von einer Beweiskraft, wie sie schlagender nicht gebracht
werden kann. Angesichts dessen, was in der Welt geschieht, und was jeden
Augenblick eintreten kann, wäre nichts verständiger, als eine von allen natio¬
nalen Parteien des Reichstags unterstützte Jnterpellation an die Negierung,
ob sie nicht den Bau der Schlachtschiffe beschleunigen und den der für das
Ausland bestimmten nunmehr in Vorschlag bringen wolle.
Die Nachrichten ans den Ereignissen der Vergangenheit schallen an unser
Ohr, und die Not der Gegenwart sitzt uns im Nacken. Drohen nicht auch
aus der Zukunft die Gefahren, die von der Verschlampung unsers Magens
herrühren? Die bleichen Gesichter aller der holländischen Admiräle, die ihr
Herzblut umsonst fürs Vaterland strömen ließen, reden eine Sprache, die
unser tiefstes Innere aufstört. Die Niederländer besaßen, wie sie es jetzt noch
one haben, das Mündungsgebiet des Rheins, das mit seinen vielen großen
und kleinen Buchten der Ausgangspunkt einer Macht wurde, die ein Jahr¬
hundert lang zu Wasser und zu Lande nur von sich die Gesetze hernahm. Die
Grundlage zu einer gleichen Entwicklung bieten auch die Ausflüsse der Eins,
der Weser und der Elbe. Von jeher hat an ihnen ein Geschlecht gewohnt,
das dem Drange der Wogen zu gebieten, ihre Tragkraft zu benutzen verstand.
Von den zwischen ihnen liegenden Gestaden fuhren im Ausgang des Alter¬
tums die Angeln und die Sachsen aus und eroberten Britannien.
Es ist nicht möglich, daß mit dieser Kolonisation alle Seetüchtigkeit von
den deutschen Küsten an die von England übergesiedelt sei. Dieselben Ur¬
sachen haben immer und überall dieselben Wirkungen: das beweist auch die
Geschichte der deutschen Nordsee. Andrerseits ist es eine Thorheit, zu glauben,
daß eine vorgelagerte Insel von vornherein vor dem Festlande, zu dem sie
gehört, den Vorzug habe. Man hat nie davon vernommen, daß die Britannier
in der Vorzeit durch Aus- und Einfuhr den Verkehr Germaniens mit der
Außenwelt vermittelt hätten. Mag einer die Sache betrachten, von welcher
Seite er will, überall stößt ihm die Wahrheit ins Gesicht, daß es eine der
größern Verkehrtheiten des deutschen Volkes gewesen ist, den starken Finger¬
zeigen, die ihm die Natur seines Landes, die Abdachung seines Bodens gab,
nicht gefolgt zu sein.
Wem die Schuld daran beizumessen ist, darüber soll es hier still sein,
aber wundern darf man sich immer noch, daß nicht einmal die Leistungen der
Hansa eine Änderung in den trüben Gang der deutscheu Dinge haben bringen
können. Spät ist in Deutschland die Erkenntnis von seiner günstigen Lage
am Meere aufgegangen, aber je größer noch immer der Abstand ist, der es
von den vorauseilenden Weltmächten trennt, um so nachdrücklicher sollte mit
seiner Regierung das Volk bemüht sein, das früher Versäumte nachzuholen.
Oder will man uns immer noch einreden, daß das unmöglich sei? Es giebt
keine trübseligere, unhistorischere Auffassung als die, daß der einmal im Völker¬
leben verpaßte Augenblick für immerdar verloren sei. Dagegen ist es trost¬
reich, zu wissen, daß in jeder wahrhaften Nation der unversiegliche Born
ewiger Verjüngung quillt. Nicht einmal das von den smarten Jankees so un¬
säglich verachtete Spanien braucht sich endgiltig in die Niederwerfung zu finden,
die die stolzen „Vollstrecker des Schicksals" über seine Weltstellung verhängt
haben. Und Deutschland?
Der Weg des neuen Deutschen Reichs geht steil aufwärts und ist von
mancherlei Gefahren umlagert. Aber wenn auch die ganze Welt an seinen
Grenzen von Waffen starrt, so dürfen sich doch gerade seine Angehörigen am
allerwenigsten durch dergleichen schrecken lassen. Was in Waffen starren heißt,
davon hat es in drei Landkriegen genügende Proben abgelegt, und auch zur
See hat es Gelegenheit gehabt, einen Stachel hervorzukehren, der den Feind
mit tödlicher Sicherheit traf. Nur Feigheit und Bosheit oder eine unglaubliche
historische Verbohrtheit kann diesem kriegerischen Volke den Rat geben, sich mit
dem Hut in der Hand vor dem Vorsprung zu verbeugen, den die großen Mächte
einmal haben, und sich im übrigen demütig ans ihrem Wege zu halten. England
baut Schiffe und Frankreich, nicht minder Nußland und Nordamerika, und
von seiten ihrer Mittel steht nichts im Wege, daß sie diesem Panzerbau jeden
beliebigen Umfang geben. Himmel, so mögen sie rüsten, so viel sie wollen:
kann denn das eine andre Wirkung haben, als daß wir es ihnen gleich thun
und sie womöglich zu überbieten suchen?
Sie zu überbieten, und wenn wir noch so arm wären. Aber wir sind
nicht arm, wenigstens nicht an den Mitteln, mit denen man gepanzerte Mauern
baut, um der Gefahr überall zu begegnen, wo sie ans Vaterland herandrängt.
Vielleicht wäre es sogar gut, wenn wir ärmer an Silber und Gold, dafür
aber um so reicher an Liebe und Entsagung, an Hingebung und Treue wären.
Moralische Tugenden gedeihen nicht besonders, wo angeschwollne Lebern und
verfettete Herzen die Thätigkeit und die Spannkraft des natürlichen Organismus
lähmen. Wenn nun der Staat mit seinen Anordnungen dieser Verseuchung
all seinen Gliedmaßen möglichst entgegentritt, so verfolgt er damit nicht etwa
den moralischen Selbstzweck, sondern er will damit nur verhindern, daß die
Sicherheit seines eignen Gedeihens gefährdet werde.
Es war einmal ein allgemein für richtig gehaltner nntionalökonomischer
Grundsatz, und noch jetzt hat er seinen Spuk auf der großen Heerstraße des
Lebens, daß alle Ausgaben für Soldaten wie für jedwede Heeres- und Ver-
teidigungseinrichtung unproduktiv seien. Im Bereich aller Wissenschaft läßt
sich kaum ein mechanischeres Verfahren denken. Abgesehen davon, daß kein
Thaler für eine Kompagnie Soldaten ausgegeben wird, der nicht an irgend
einem Platze niederfiele und neue Werte ins Leben riefe, läßt die Theorie von
der Unproduktivität die sogenannten Imponderabilien außer acht. Daß diese
sich nicht direkt in Geld umsetzen lassen, liegt schon in dem Worte, aber einmal
und irgendwo verdichten sie sich doch, und dann schlagen sie als Werte nieder,
die sehr realer Natur sind. Was hat man nicht alles gegen die preußische
Armeereorganisatiou im Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts
geltend gemacht, und doch hat sie nicht bloß Deutschlands machtvolle politische
Stellung, sondern auch dessen wirtschaftlichen Aufschwung zur Folge gehabt.
Auch England kann mit seinem südafrikanischen Kriege, wenn auch nur nach
der negativen Seite, als Beispiel dienen. Hätte sich diese Macht wie Deutsch¬
land die nationale Erziehung im allgemeinen Heerdienste auferlegt, so würde
sie den Streit mit den Buren entweder nicht angefangen und dadurch die
Milliarden gespart haben, oder es wäre in ebensoviel Monaten damit fertig
geworden, wie es jetzt Jahre damit zubringt, seine unzulänglichen Waffen zu
schwingen.
Damit der Mensch gesund bleibe, thut er gut, den Reichtum mit seinen
Genüssen nicht Herr über sich werden zu lassen; nicht anders ist es mit dem
Staate. Auch er hat, um seinen sichern Weg gehn zu können, starke, sehnige
und elastische Gliedmaßen nötig, die nicht gedeihn wollen, wenn, wie einstmals
in Holland und jetzt in England, die Fettablagerungen des Kapitalismus auf
ihnen ruhn und das Atmen erschweren. Die deutsche Regierung weiß, wo sie
bei uns das Geld haben kann, um starken Bedürfnissen Befriedigung zu ver¬
schaffen. Schon an sich ist es gefährlich, übermäßigem Reichtum zu freien
Spielraum zu lassen, aber wir haben Kolonien und eine starke Flotte nötig.
Wahrhaftig Grund genug, mit der Sorge und den Ausgaben für diese der
Überwucheruna des Kapitals nach Kräften vorzubeugen.
^'^
!ein Jahr, wo nicht einige nicht versetzte Schüler der höher»
Schulen Selbstmord verüben. In diesem Jahre haben sich nicht
weniger als drei solcher Schüler in Posen erschossen oder zu er¬
schießen versucht. Mir ist noch ein vierter Fall aus der Provinz
I Sachsen, der nicht durch die Zeitungen gegangen ist, bekannt.
So schrecklich nun anch für die Eltern solche Vorkommnisse sind, so können
sie doch unser Mitgefühl nicht in vollem Maße beanspruchen. Es liegt
doch auch viel eignes Verschulden und eine frevelnde Dnmmejungeuhaftigkeit
vor, die im Trotz oder in der Feigheit das Leben wegwirft, wie ein Ding,
dessen Wert man nicht begriffen hat. Viel mehr verdienen unser Mitgefühl
die armen Jungen, von denen man nichts erfährt, die ihre ganze schöne
Jugend opfern, die sich mühsam von Klasse zu Klasse schleppen, die in der
Schule, weil sie nichts leisten, mit Verachtung als Last angesehen werden,
und die zu Haus bittern Vorwürfen, als wenn sie Verlorne Söhne wären, be¬
gegnen, denen jedes Extemporale schlecht Wetter zur Folge hat, denen jedes
Weihnachtsfest vergällt und verdorben wird, denen die Osterversetzung ein Tag
ist, dem man mit Zittern und Zagen entgegensieht, die von der Schulzeit
her für ihr ganzes Leben eine Erinnerung behalten, die wie ein Alp auf ihnen
liegt, und die vielleicht dazu noch ruinierte Nerven und einen stechen Körper
davontragen.
Die Zahl derer, die unter der Schule zu leiden haben, ist nicht gering, und
es sind sowohl Schüler als mich Eltern. Man kann nicht bestreiten, daß eine
empfindliche Spannung zwischen Schule und Haus eingetreten ist. Das Haus
betrachtet die Schule als eine Plage, und die Schule beklagt sich über schlechtes
Schülermaterial und unverständige Eltern. Die Überbürdungsfrage steht seit
Jahren auf der Tagesordnung. Daß die Schüler überbürdet seien, wird auf
der einen Seite ebenso bestimmt behauptet, wie es auf der andern Seite be¬
stritten wird. Was liegt nun diesem unzweifelhaft vorhandnen Notstände zu
Grunde? Wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, daß unsre Schüler körper¬
lich und geistig weniger leistungsfähig sind als frühere Geschlechter, aber auch
die Frage stellen: Setzen unsre Lehrpläne nicht vielleicht einen Normalschüler
voraus, den es gar nicht giebt?
Über die Schwachbegabten auf den höhern Schulen hat Herr Dr. osa.
Benda in Berlin kürzlich im Berliner Verein für Schulgesnndheitspflege")
einen allsgezeichneten Vortrag gehalten, worin er von der Beobachtung aus¬
geht, daß ebenso die Klagen über Überbürdung der Jugend wie die Klagen
der Schulmänner über Mmigelhaftigkeit der Leistungen zunehmen. Er kommt
zu dem Schlüsse, daß die heutigen Lehrplänc nicht genügend Rücksicht nehmen
auf die thatsächlich vorhandne Fähigkeit der großen Mehrzahl der Schüler,
und findet den Grund der Mehrbelastung in der Verquickung von humanistischer
und renler Bildung. Die Menge des Stoffes kann von dem Schüler nicht
bewältigt werden. Wieviel Erwachsenen ist es gegeben (wir folgen in dem
Nachfolgenden dem Gedankengange des genannten Herrn), in verschieden
Wissenszweigen etwas zu leisten? Von den Schülern der höhern Lehranstalten
wird ein gleichmäßiges Wissen ans den verschiedensten Gebieten verlangt; jeder
muß, ob er dazu befähigt ist oder nicht, mathematische Probleme lösen,
grammatische Feinheiten studieren, geschichtlich und philosophisch denken, natur¬
wissenschaftlich beobachten, usw., er soll eine ungeheure Fülle von Detail¬
kenntnissen aus den verschiedensten Gebieten in sein Gedächtnis aufnehmen.
Nur durch Nachhilfeunterricht, durch Aufbietung aller Kräfte, durch seelische
Reizmittel kann der Durchschnittsschüler dieses Ziel erreichen. Sehr zu be-
achten ist die außerordentliche Verbreitung des Nachhilfeunterrichts. In drei
Gymnasien im Westen und Südwesten Berlins haben etwa 90 Prozent der Schüler
dauernd oder vorübergehend Nachhilfeunterricht, und dies dürfte durchschnittlich
der Prozentsatz aller höhern Schulen sein. Auf einem der genannten Gym¬
nasien erklärt der Lehrer seinen Schülern ganz offen, daß ohne Nachhilfe das
Pensum überhaupt nicht erreicht werden könne.
In der That, damit ist der Beweis geliefert, daß das Gymnasium un¬
billiges verlangt, daß es, statt Lehranstalt zu sein, zur Examinicranstalt wird
und an die Stelle des harten Mannes im Evangelinm tritt, der erntet, wo er
nicht gesät hat.
Und trotz aller Nachhilfe und alles Druckes erreichen 40 Prozent der Schüler
der preußischen höhern Lehranstalten nicht einmal das Einjührigenzeugnis.
Um das Schnlziel zu erreichen, müssen eine besonders gute Begabung, zumal
was das Gedächtnis anbelangt, besonders gute Gesundheit und gute häusliche
Verhältnisse zusammenwirken. Nur dem Hochbegabten lind vor allem dem
vielseitig Gebildeten gelingt es, sein Ziel ohne sichtbare Anstrengung und
scheinbar ohne Schaden zu erreichen. Doch ist zu bedeuken, daß ungewöhnlich
begabte Schüler häufig von schwacher Konstitution sind. Es ist eine bemerkens¬
werte Thatsache, daß Musterschüler im spütcru Leben häufig nicht halten, was
^ Abgangszeugnis zu versprechen schien. Sie sinken auf das Niveau der
Mittelmäßigkeit zurück, sie siud all ihren Nerven geschädigt, sie lassen erkennen,
^"s> was die Schule lehrt, und das Leben verlangt, zweierlei Dinge sind,
und daß einer ein gutes Abiturientenexamen machen, aber doch für den spätern
^crus ein wenig begabter Mensch sein kann. Am wenigsten an ihrer Ge¬
sundheit geschädigt werden die Schiller, die die glückliche Gabe haben, sich durch¬
zuschwindeln.
Sehen wir uns nur einmal den Durchschnittsschnlcr um, der den an ihn
gestellten Ansprüchen nicht auf normale Weise genügen kann. Dn ist der
individuell begabte, der in der Schule wenig leistet, aber vielleicht eine praktisch
besonders gut angelegte Natur ist, der später im Handel oder Gewerbe hervor¬
ragen wird. Da sind ferner die, die nur für eins der Fächer glänzend begabt
sind, philologisch gut begabt und in der Mathematik unbrauchbar oder umgekehrt,
eine nicht seltne Erscheinung, da gleichmäßige Begabung eben nicht die Regel ist.
Oder es ist eine einseitige Begabung vorhanden für einen der Schule fern¬
liegenden Gegenstand, z. B. eine künstlerische Anlage. Hier kann die Leistung in
der Schule im umgekehrten Verhältnis zum Talent stehn. Auch giebt es eine
Kategorie von Schülern, die, hoch- und vielseitig begabt, sich in der Schule
doch nicht über die Stufe der Mittelmäßigkeit zu erheben vermögen, weil sich
die Besonderheit ihres Geistes dem mechanischen Schulbetrieb nicht anzupassen
vermag. Hier wäre Bismarck zu nennen. Hieran schließen sich Schüler, die
wegen später Entwicklung als unbegabt erscheinen. Als glänzendste Beispiele
sind Pestalozzi, Alexander von Humboldt und Darwin zu nennen. Endlich
kommt die körperliche Unzulänglichkeit in Frage. Bei den außerordentlichen
Ansprüchen, die die höhern Schicken an den Organismus stellen, ist ein Ver¬
sagen seiner Kräfte nur zu häufig. Der Prozentsatz der kränklichen ist ganz
bedeutend, er beträgt teilweise 40 Prozent und darüber.
Der Schule gegenüber verhalten sich alle diese gleich den wirklich Unbe¬
gabten und bieten dem Unterrichtenden dieselbe Schwierigkeit wie jene. Wenn
nun dennoch ein Lehrziel erreicht werden soll, das einen gut und vielseitig
begabten Schicker voraussetzt, so muß die Arbeitskraft in einer Weise in Anspruch
genommen werden, die die Gesundheit schädigt. normalerweise haben die
Schüler der obern Klassen außer dem fünf- bis siebeustündigen Unterricht noch
eine häusliche Arbeitszeit von drei bis vier Stunden. Dazu kommen nun
noch die Nachhilfestunden, und so kommt ganz abgesehen von den Examenzeiten
eine tägliche Arbeitszeit von zehn bis zwölf Stunden zustande. Diese Arbeits¬
zeit vermehrt sich nun noch bei deu Schwachen in dem Maße des Mangels
ihrer Begabung. Und dazu kommt noch die seelische Depression, die die fort¬
währenden Mißerfolge, die Krünknngen des Ehrftthls, die trübe häusliche
Atmosphäre, mit der unverständige Eltern ein solches Kind umgeben, vor
allein aber das niederdrückende Gefühl der eignen Unzulänglichkeit hinzu.
Compnyre sagt: Wir haben keine Ahnung davon, wieviel Zorn und Angst den
Thränen eines Kindes zu Grunde liegen, wie viel Jammer und Verzweiflung
sein schweigsames Verhalten bisweilen einschließt.
Benda verlangt vom Staudpunkte der Hygiene eine energische Herab¬
setzung der Lehrziele. Dann würde mit einem Schlage eine große Anzahl der
jetzt als schwachbegabt Bezeichneten zu Normalschülern aufrücken. Freilich ver¬
hehlt er sich nicht, daß in absehbarer Zeit an eine durchgreifende Entlastung
schwerlich gedacht werden kann. Im Gegenteil werden sich die Ansprüche immer
weiter' steigern. Einer Erleichterung stehn Hindernisse sozialer und schul¬
technischer Art im Wege, die Zähigkeit des Bestehenden, die Furcht, durch
Herabsetzung der Lehrziele einen Massenandrang zu dem gelehrten Berufe zu
veranlassen, wie auch der friedliche Wettstreit der Nationen.
Bendn hat ganz gewiß Recht mit der Aufzeigung der Übelstände, ob
auch mit der Forderung der Herabsetzung der Lehrzicle, wenn darunter eine
allgemeine Verminderung des Lehrstoffs gemeint ist, darüber ließe sich streiten.
Offenbar herrscht in gewissen Schnlkreisen eine falsche Fiskalitüt und die
Meinung, als ob es die Aufgabe der Schule sei, den Staat vor zu vielen
Anwärtern auf seiue Stellen zu schützen, wozu nach Bedarf die Examcn-
schraube angezogen oder nachgelassen wird. Manche Direktoren halten es für
ihre Aufgabe, ihre Gymnasien zu entvölkern und hinauszuwerfen, was irgend
hinausgeworfen werden kann. Es ist schon gesagt worden, daß bei einer
so starken Durchsiebnng keineswegs das beste Schülermaterial übrig bleibt,
daß vielmehr gerade unter den einseitig begabten Schülern solche zu finden
find, die später besonders Tüchtiges leisten würden, wenn man sie nicht
beseitigte, und daß unter den Eins-eins-Schülern viele anzutreffen sind, die
Material in Menge zu schlucken vermögen, es aber später nie zur Selbständig¬
keit bringen. Wir halten es für ungerecht, die Examenschraubc je nach dem
Bedarf, also aus einem fremden, mit der Sache nicht zusammenhängenden
Grunde anzuziehn — auch beim Fachexamen des Juristen oder Theologen,
ganz besouders aber beim Abiturienten- und Versetznngsexnmen. Wer ist
denn der Staat, wenn nicht der Inbegriff der Bürgerschaft? Der Staat hat
nicht das Recht, nach seinein Bedarf auszusieben und es den Ausgesiebten
unmöglich zu macheu, auf eigne Hand etwas zu werden. Auch die wirklich
nicht vollwertigen Schüler dürfen nicht als wertloses Material angesehen
werden. Es steckt in ihnen ein gutes Teil geistigen und materiellen National¬
vermögens, ein gutes Teil schwerer Leistung von Eltern, die, wie der Beamte,
ihren Söhnen nichts weiter als eine Schulbildung hinterlassen können. Der
Staat darf auch nicht müßig zuschauen, wenn durch zu hohe Anforderungen,
die von der Schule gestellt werden, das Geschlecht, das berufen ist, später des
Staates Ausgabe ans die Schultern zu nehmen, an seiner geistigen Kraft ge¬
schädigt wird.
Man entgegnet uns: Es werden ja aber thatsächlich keine höhern An¬
forderungen gestellt als vor vierzig Jahren. Das ist zuzugeben, wenn man
das berücksichtigt, was im Lehrplan steht. Aber wie wird es heute verlangt,
und wie wurde es damals verlangt? Man war sonst mit einer Leistung zu¬
frieden, in der sich manche ungültige Münze befand. Es gab damals Fächer,
in denen man sich ausruhn konnte, Lehrer, die nicht in Betracht kamen. Man
schwindelte sich durch. Wir, die wir damals zusammen auf dem Gymnasium
waren, haben uns fast alle durchgeschwindelt. Und die es nicht thaten, die
standen zwar bei dem Herrn Direktor, aber nicht bei ihren Mitschülern in
Achtung. Und das will auch etwas sagen. Jedermann weiß, daß man bei
einem Examen uicht alles wissen kann, was gefragt werden kann. Man muß
eben Glück haben. Ein Examen wird ohne Steigerung der Anforderungen ganz
bedeutend erschwert, wenn man erzwingt, daß es bar nud richtig geleistet
werde. Eine Schnllast wird ganz bedeutend vergrößert, wenn jedes Fach
gleichberechtigt neben das andre tritt. Die Last, die jetzt unsre Schüler
drückt, besteht darin, daß alles bar und richtig geleistet werden soll. Man
reglementiert zu viel, es geht zu sehr nach der Schablone. Der Schematismus,
bei dem die ganze Erziehungskunst darauf hinauslief, aus den Fehlern der
Extemporalien die Mittelwerte herauszuziehn, war in den letzten Jahren
geradezu unerträglich geworden. Es muß anerkannt werden, daß dies durch die
neue Versetzungsordnuug in Preußen besser geworden ist oder mindestens besser
werden soll. Aber es muß noch viel mehr in der Richtung geschehn, daß
man den Schüler nicht als Material, sondern als lebendigen und individuell
gestalteten Menschen ansieht; man muß sich darauf besinnen, daß der Schüler
nicht für die Schule da ist, soudern die Schule für den Schüler. Was heute
der gestrenge Herr Schulrat als Lotterei ansehen würde, das war einst der
eigentümliche Vorzug des ältern Gymnasiums, das erlaubte einst, den Schüler
als Einzelperson zu behandeln und zu beurteilen. Wir alle haben den einen
oder den andern unsrer Lehrer in dankbarer Erinnerung; das waren aber
nicht Leute, die reglementierten und schematisierten. Wir meinen also, es
ist nicht so sehr nötig, die Lehrpläne zu beschränken, als sie verständig zu
benutzen.
ittenberg kann nicht wie Torgau auf eine vor der deutschen Ein-
wcmdrung liegende Geschichte zurückschallen. Es ist vielmehr, wie
schon der Name (Wittenberg---Weißenberg) zeigt, eine Gründung
niederdeutscher Bürger lind Bauern. Sturmfluten, wie sie schließlich
um das Jahr 1200 zum Einbruch der Nordsee in den ursprünglich
binnenländischen Zuvdersee führten, und andre Nöte bewirken
seit der Mitte des zwölften Jahrhunderts eine stärkere Einwandrnng aus
den Niederlanden, dem alten Gebiete der Friesen und der salischen Franken,
ins lnitteldeutsche Binnenland, wo diese „Fläininge" von den Askaniern
lind dem Erzbischof Wichmann von Magdeburg gern aufgenommen und in
den durch die Slawenkriege verödeten Landstrichen zwischen der untern
Mulde, Elbe und Schwarzen Elster als Kolonisten angesiedelt werden. Deshalb
heißt z. B. der von Wittenberg über Jüterbogk nach Dahme lind Schlieben
zu streichende Höhenzug noch heute der „Flliming." Die Niederländer, in
unaufhörlichen Kämpfen mit dem Ungestüm des landverschlingenden Meeres
geübt, Meister im Deichbau und in der Handhabung der Wasserwage, waren
die rechten Ansiedler für diese Gegenden, wo es auch wieder den Kampf mit
dem Wasser aufzunehmen galt; nur war dieser Kampf in demselben Maße
gefahrloser und erfolgreicher, wie die genannten Flüsse sanfter sind als die
Nordsee. In den Orten, die sie gründeten, schufen sie sich, so gut es ging,
ein Abbild der Heimat, und wie sich später die holländischen und die englischen
Einwandrer in Nordamerika ein Neu-Amsterdam (1614), ein Plymouth (1620),
ein Portsmouth und ein Dover (1633) erbauten, so benannten auch die nieder¬
ländischen Kolonisten der Elbgegenden ihre bescheidnen Städte und Dörfer
mit heimischen Namen: dem flämischen Brügge entspricht das Städtlein
Brück, dem stolzen Gent das magdeburgische Genthin, dem uralte» Doornik
(Tournay) das schlichte Dornau, dem niederrheinischen Kemerich die Propstei
Kemerik (später Kemberg) bei Wittenberg, der heutigen Residenz s'Gravenhage
(Haag) das sächsische Gräfcnhainichen.
Die erste sichere urkundliche Erwähnung Wittcnbergs füllt ins Jahr 1180;
das ist das Jahr, wo Bernhard von Askauien nach der Achtung Heinrichs
des Löwen mit Sachsen, in Wahrheit nur mit dem Kurkreise belehnt wurde.
Doch ist damals Wittenberg schwerlich schon Residenz gewesen, denn Bernhard
wurde bei seinen Vorfahren in Ballenstädt, sein Nachfolger Albert I. (1212 bis
1260) im brandenburgischen Kloster Lehnin bestattet. Erst dessen Witwe Helena,
die schon bei Lebzeiten ihres Mannes (etwa 1248) das Franziskanerkloster zu
Wittenberg gestiftet hatte, erbaute dort zwischen 1260 und 1273 die Franzis¬
kanerkirche als ausschließliche Begräbnisstätte ihres Hauses. Von ihrem Tode
(1273) an bis zum Aussterben der sächsischen Askanier sind 27 Glieder der
Familie in der Wittenberger Franziskanerkirche beigesetzt worden. Aber diese
ehrwürdige Begräbnisstätte hat ein merkwürdiges Schicksal erfahren: 1521
wurde das Kloster aufgelöst; 1544 wurde die Kirche, als die ersten Wolken
des drohenden Schmalkaldischen Krieges über den Horizont heraufstiegen, auf
Befehl des Kurfürsten Johann Friedrich in ein Proviantmngazin umgewandelt,
wobei mit den Gräbern und Grabsteinen der Askanier in der rücksichtslosesten
Weise verfahren wurde. Glücklicherweise rettete Melnuchthou wenigstens den
Stein der Kurfürstin Kunigunde (1' 1333) in die Schloßkirche und schrieb die In¬
schriften der andern ab, die sein Schüler Balthasar Mentzius 1604 veröffentlichte.
Später wurde die Kirche in die Zeughanskaserne umgewandelt, und in dieser
haben die unter der Leitung des Regi'ernngsrats von Hirschfeld 1883 veranstal¬
teten Nachgrabungen zur Aufdeckung aller 27 Askauiergräber geführt, deren
Särge am 13. November 1883 endlich in der Schloßkirche'wieder'eine geweihte
Ruhestatt gefunden haben. Aus der langen Reihe der (Manischen Fürstlich¬
keiten, die in Wittenberg residiert haben, hebe ich hier nur eine einzige hervor
wegen der merkwürdigen Schicksale, die sie erduldete: Siliola (Cäcilie), die
Gemahlin des Kurfürsten Wenzel (1370 bis 1402), eine Tochter des kriegs-
gewnltcgeu italischen Neichsviknrs Francesco Carrara von Padua. Wie -mag
wohl die reizlose Klemstadt an der Elbe mit den Schindel- und strohgedeckten
Bürgerhäusern, wie mag die düstere Burg der Askanier mit ihren/ rauhen
Sitten diese hochgebildete Italienerin angemutet haben, die das schou vom
Zauber der Renaissance berührte Hofleben in Padua gekostet und die Freund¬
schaft eines Petrarca genossen hatte! Und doch kehrte sie auch uach dem Tode
ihres Gemahls nicht in die sonnige Heimat zurück, sondern harrte bis zu ihrem
um Jahre 1429 erfolgten Tode auf ihrem schlichten Leibgedinge zu Zahncr
bei Wittenberg aus. Sie hätte allerdings daheim Schlimmes mit ansehen
"Nissen, denn ihr ganzes Geschlecht wurde 1406 von dem mit den Venetianern
Verbündeten Maria Visconti von Mailand ausgetilgt: ihr Vater und ihre
beiden Brüder wurden zuerst als Gefangne in einen engen Käfig gesperrt
und dann erdrosselt. Aber auch in Deutschland war ihr'wenig Freude be-
Meden: sie mußte auch hier den Untergang ihrer Nachkommenschaft mit er¬
eben. Ihr Sohn, der glanzliebende, aber in ewige Händel verstrickte Rudolf 111.
1402 bis 1419), verlor im Jahre 1406 seine drei Söhne; der älteste, Rudolf,
starb eines natürlichen Todes; die beiden jüngern, Wenzel und Sigismund,
Wurden vom einstürzenden Turme des Schwcinitzer Schlosses erschlagen. Und
Mes Rudolfs III. jüngerer Bruder. Albrecht III. (1419 bis 1422), starb vor
Schreck über das furchtbare Lochauer Brandunglück (s. 1902. I, S. 372), ohne
einen männlichen Erben zu hinterlassen. So mußte die greise Siliola mit
Ansehen, wie im Jahre 1423 die Kur und das Gebiet von ^achseu-Witten-
berg an den Wettiner Friedrich den streitbaren überging. Das sächsisch-
"flämische Haus hatte von vornherein darunter gelitten, daß seinen hohen Titeln
und Verpflichtungen für das Reich die bescheidne Macht, die es wirklich
ausübte, nicht entsprach. So hatte es auch die fürstlichen Rechte und Ein¬
künfte in vollkommner Zerrüttung hinterlassen: Albrecht III. hatte den be¬
zeichnenden Beinamen „der Arme" geführt, sein Hofstaat soll zuletzt nur aus
vier Dienern bestanden haben, und in welchem Zustande die askanischen
Schlösser waren, das beweisen die oben erwähnten Vorkommnisse in Schweinitz
und Lochan.
Eine neue Zeit für das unter solchen Verhältnissen auch etwas vernach¬
lässigte Wittenberg brach an, als am 26. August 1486 Friedrich der Weise
die Regierung des sächsischen Kurstaats antrat, einer der bedeutendsten und
liebenswürdigsten Fürsten seiner Zeit, unter dessen besonnener und charakter¬
voller Negierung Sachsen gar bald als das lebendig schlagende Herz des Reichs
erscheinen sollte. Von seiner Liebenswürdigkeit hat uns Spalatin manchen
schönen Zug aufbewahrt; er war, obwohl Junggeselle, ein großer Freund der
Kinder, erfreute sich gern an ihrem Spiel und ließ, wenn er durch einen Ort
kam, durch seinen Wagenknecht Thomas süßen Med und Semmeln unter sie
verteilen; die Kinder würden sich, meinte er, später gern seiner erinnern und
sagen: „Es zog einsten ein Herzog zu Sachsen vorüber und ließ uns Kindern
allen geben." Bezüglich der Auffassung seiner fürstlichen Stellung stand
Friedrich der Weise zwischen zwei Zeitaltern. Er erkannte die Schäden der
Lehnsverfassung sehr genau und hatte den Mut, zu Nutz und Frommen seiner
Unterthanen an den kirchlichen und weltlichen Zuständen seines Landes Kritik
zu üben und offenbare Mißbräuche abzustellen. Andrerseits kann er nicht als
ein überzeugter Sohn der Renaissance gelten, dazu stand er zu fest und zu fromm
beim alten Glauben — aber der Flügelschlag der neuen Zeit hatte ihn, als
er beim Magister Kemmerlein in Grimma die alten römischen Schriftsteller
studierte, doch insoweit gestreift, daß er den Wert der klassischen Bildung ahnte
und außer den alten Fakultätsstudien auch ihr an einer neugegründeten Uni¬
versität eine Stätte bereiten wollte. Bezeichnend für den Geist, der ihn be¬
seelte, ist es, daß er als Regent Cieeros Bücher „über die Gesetze" studierte,
und als er da eines Tages in seiner Schreibstube zu Lochau auf deu Satz
(HI, 14, 1) stieß: ^s« enim, willum muni ost xLvviu-L xrineipLL, Huiriuc>ug.rQ
est nikA'muni b.vo per Sö ipsum, nutum,, <ZMnturn illucl, cMoä xorinnlti iuri-
t>g.or«zö vrinvipnm, cixsi«kund, beschäftigte ihn dieser Gedanke so sehr, daß er
ihn in einen deutschen Reim umwandelte und folgendes an die Wand seines
Arbeitszimmers schrieb:
Dieser Maun trat gar bald zu der Stadt Wittenberg in ein engeres Ver¬
hältnis; er hat ihr den Stempel seines eignen Wesens aufgedrückt und die
eigentliche klassische Zeit der Stadt, in der sich die Augen der ganzen Welt
auf sie richteten, ans das glücklichste eingeleitet. Wichtige Vanten veränderten
zunächst den äußern Charakter der Stadt: eine stattliche eichnc Elbbrücke, ein
gewaltiges Schloß, zu dem die Trümmer der Askcmierbnrg mit verwandt
wurden, und eine prächtige Schloßkirche, die, im Jahre 1499 vollendet, an Stelle
der von Rudolf I. etwa 1353 errichteten Stiftskirche aller Heiligen trat. Das
Schloß trug, soweit man nach den noch vorhnndnen Resten — Garnisou-
lazarett und Jufanteriekaserue — urteilen kann, weit weniger Heiterkeit zur
Schau als das Torgauer; es scheint vielmehr, wie manche italienische Schlösser
aus dieser Zeit, etwas Festungsartiges an sich gehabt zu haben. Die Schlo߬
kirche zeigte in ihrer ursprünglichen Gestalt, die uns durch einen Holzschnitt
Lukas Crcmachs bekannt ist, eine merkwürdige Mischung des ausklingenden
gotischen Stils mit dem anhebenden der Renaissance; namentlich offenbaren
der große Erker an der Turmseile des Daches und der gewaltige runde Turin
mit seiner spitzgiebligeu Bekrönung ganz und gar die neue Weise des an¬
brechenden sechzehnten Jahrhunderts. Das Innere der Kirche barg, ein Beweis
des frommen Sinnes ihres Erbauers, 5005 Reliquien, die alljährlich am
Montag nach Misericvrdias Domini an neunzehn Altären gezeigt wurden.
Das schönste Geschenk, das Friedrich der Weise seiner neuen Residenz
Wittenberg gemacht hat, ist die Universität. Der Gedanke, in seinen Landen
eine Universität zu gründen, lag dem für alles edle Wissen eingenommnen
Kurfürsten nahe, da'die Universität Leipzig durch die Teilung der wettinischcn
Lande im Jahre 1485 um die Albertiner gekommen war. Nun schien aber
das wissenschaftliche Bedürfnis seiner thüringischen Besitzungen dnrch das
mächtig aufstrebende kurmaiuzische Erfurt, das der plcißenlündisch-vogtländischen
Unter durch Leipzig befriedigt zu sein; so kam er darauf, die Universität in
dem bisher etwas vernachlässigten Kurkreise einzurichten. Es kam hinzu, daß
er die wildreichen Kiefern- und Eicheuforsten dieser Landschaft besonders liebte
und deshalb nicht nur in Wittenberg selbst, soudern auch in den benachbarten
Jagdschlösseru, in Schweinitz, Lochau u. a. gern residierte, sodaß er auch persön¬
lich von den Gelehrten der Universität Nutzen zu ziehn hoffte. Überhaupt
ist jn Wittenberg die erste landesherrliche Universität Deutschlands gewesen,
wahrend die frühern Universitäten kirchliche Institutionen waren, bei deren
Einrichtung der Papst das entscheidende Wort gesprochen hatte. Als Friedrich
der Weise 1502 mit der Gründung der Universität Wittenberg umging, wandte
er sich zunächst an den Kaiser Maximilian und rief sie im Einverständnis mit
diesem ins Leben; erst 1507 wurde die Bestätigung des Papstes nachgeholt.
Schon in der ünßern Gestaltung weicht die Wittenberger Universität von den
altern ab. Die Bildung politischer Korporationen, der sogenannten Nationen,
ist verboten; das ganze akademische Lehren und Leben wird unter die „Diktatur"
von vier Reformatoren gestellt, die dem Landesherrn verantwortlich sind; als
der eigentliche Zweck der ganzen Stiftung erscheint ausdrücklich das Wohl des
Staates; in schwierigen Fragen und Verhältnissen will der Kurfürst mit seinem
Adel und den umwohnenden Stämmen zur Universität wie zu einem Orakel
seine Zuflucht nehmen, damit es ihm so mit Gottes Hilfe gelinge, die Unter¬
thanen zu regiere», zu fördern und jedem sein Recht zukommen zu lassen.
Daß es dem Kurfürsten dabei besonders auf die juristische Fakultät an¬
kam, ist klar, und in der That waren die ersten bedeutenden Lehrer, die der
Rogen Pflanzung einigen Ruf verschafften, Juristen: Hierouhmus Schursf, der
bekannte Freund Luthers, der Nürnberger Christoph Scheurl. der im Jahre
^08 im Auftrage des Kurfürsten die Statuten der Universität entwarf, und
Henning Göte, der letzte Propst der Stiftskirche, „der Monarch auf dem Ge¬
biete des Rechts." Der neue Humanismus war vou Wittenberg keineswegs
ausgeschlossen, aber währeud er anderwärts, z. B. in Erfurt, ohne Zaum und
oügel dem alten kanonischen Recht lind der Scholastik zu Leibe ging, wurde
^ bei der engen Verbindung der Universität Wittenberg mit dem Hofe durch
den Kurfürsten in straffer Zucht gehalten und zeigte deswegen einen aus¬
gesprochen höfischen Charakter, der auf das geistige Leben der Studenten¬
schaft zunächst nur geringen Einfluß ausübte. So wird uns z. B. in einem
U>11 gedruckten, etwa 1000 Hexameter laugen Gedichte des xost-z. wirsaws
Aeorgius Sibutns ausführlich geschildert, wie Kurfürst Friedrich und sein Bruder
Avhann im Herbst 15l0 mit einem großen Gefolge von Rittern und edeln
Manen in Wittenberg ankommen. Der Marktplatz wird zum Turnier her-
gerichtet, die Gäste werden in den Bürgerhäusern einquartiert, am Abend findet
im Schlosse Bankett und Tanz statt. Der zweite Festtag beginnt mit einem
Aktus in der Schloßkirche, wobei der Vertraute des Kurfürsten, Martin Pvllich
von Mcllerstadt, die Predigt hält; daran schließen sich zwei Doktorpromotionen
und das Tedeum; mittags beginnt das Turnier, abends ist wieder Bankett
im Schlosse. Am dritten Tage wird das Fest mit neuen Promotionen und
mit einem Turnier beschlossen. Man erkennt aus diesem Festprogramm die
enge Verbindung der Universität mit dem Landesfürsten, den, als er sie stiftete,
wohl vor allem der Gedanke beschäftigte, sich Räte und Staatsbeamte heran¬
zubilden; ähnliche Erwägungen haben später den Herzog Moritz zur Gründung
der drei Fürstenschuleu veranlaßt. Die stete Kontrolle der Universität durch
den Landesfürsten erwies sich in mancher Hinsicht als nützlich und förderlich,
andrerseits aber war sie auch eine bedenkliche Schranke für die Bewegungs¬
freiheit der Hochschule.
Hier ist man versucht zu fragen, warum denn gerade Wittenberg der Aus¬
gangspunkt der deutschen Reformation wurde. Bot denn die Universität
oder die Stadt Luther ein besonders geeignetes oder besonders vorbereitetes
Feld für sein Wirken? Das ist mit der Universität gewiß nicht der Fall;
man kaun höchstens darauf hinweisen, daß der scholastische Geist, der anderswo,
z. B. in Leipzig, jeden gesunden Fortschritt hemmte, in der jungen Universität
Wittenberg, die ja schon in einer Zeit der Vorboten der großen geistigen
Revolution gegründet war, doch nicht so fest Wurzel schlagen konnte; aber
von einer besondern Bedeutung oder Vertiefung der theologischen Studien vor
Luther ist auch in Wittenberg keine Rede. Ebensowenig läßt sich etwa den
Wittenberger Bürgern irgend welches mystische Wesen oder eine tiefere religiöse
Empfindung als den andern Deutschen dieser Zeit nachrühmen. An der Süd-
ostecke der zweitürmigen Stadtkirche findet sich, angeblich aus dem Jahre 1304,
ein alter Stein eingemauert, auf dem eine Sau mit vollen Eutern abgebildet
ist, an denen einige Männer saugen; darunter steht geschrieben: Uabini
8vKöMlmmpir0rg.8 (eine hebräische Verballhornung des Namens Jehovah).
Mögen nun die Männer Juden darstellen oder, wie man neuerdings auch
meint, entartete Mönche, die an den Brüsten der Fleischeslust liegen — jeden¬
falls tritt hier dieselbe Spottsucht zu Tage, die ich in einem frühern Aufsatze
als eine Eigentümlichkeit der „misnopotamischen" Gesellschaft hervorgehoben
habe (s. 1902, I, S. 91).
Auch das niederländische Blut, das in den Adern der ältern Witten¬
berger Familien rollte, ist eher einem praktisch-nüchternen Sinne als religiöser
Begeisterung hold; freilich trieb es auch zum Selbstbewußtsein und zur Un¬
abhängigkeit, und deshalb wurden vielleicht die kirchlichen Lasten hier härter
empfunden als anderswo. Und wenn sich die Wittenberger 1522 unter dein
.Einflüsse Karlstadts am Bildersturme beteiligten, so war auch da weniger
Schwarmgeisterei als nüchterne Berechnung bei der Einziehung des Kirchen¬
guts im Spiele. Das beweist die in diesem Jahre (1522) gedruckte „löbliche
Ordnung der fürstlichen Stadt Wittenberg," die fast lauter finanzielle Be¬
stimmungen zu Gunsten des „gemeinen Kastens" und andre volkswirtschaft¬
lich zu billigende Maßregeln gegen die Besteuruug des Volks durch die alte
Kirche enthalten. Luther vereinigte sich also mit den Wittenberger« ver¬
hältnismäßig leicht in der Negation und dem Abbruch der alten kirchlichen
Einrichtungen, für deu Aufbau seines neuen Glaubens aber und seiner neuen
Kirche fand er hier das Feld nicht besser bereitet als anderswo. Das Beste
und Größte dazu hat eben auch an der Universität und in der Stadt Witten¬
berg Luthers reine und bedeutende Persönlichkeit gewirkt. Erst mit den
Hammerschlägen des 31. Oktobers 1517 beginnt die große Zeit Wittenbergs;
Luther erst hat dem etwas einseitig territvrialstaatlichen Geschöpfe des Kur¬
fürsten den Geist wahrer Universalität eingehaucht; er erst hat in Wittenberg
den Jungbrunnen der reliqiös-geistig-sittlichen Erneuerung Deutschlands er¬
schlossen: aus seiner ausgeschlagnen Bibel und aus der Fülle seiner Flug¬
schriften rauschte der Strom innigster Erquickung und erhebendster Begeistrung
durch die wundersamen Lante der neugebornen Muttersprache in die Herzen
der Deutschen, an dem Bilde seiner Mannheit und Glaubenskraft erwuchs em
neues Geschlecht opfermutiger Männer, an der Milde und Freundlichkeit
seines Hausstandes formte sich das neue Ideal der christlichen Familie.
Besonders nach Luthers Heimkehr von der Wartburg (1522), rend nach¬
dem auch die Universität durch Friedrichs Nachfolger, seinen als Charakter
noch bedeutendem Bruder Johann den Beständiger (1525 bis 1532) eme
gewisse Reorganisation erfahren hatte, schwoll der Ruf Wittenbergs als der
Heimstätte eines neuen religiös-humanistischen Geistes lawinenartig an; wie
bis vor kurzer Zeit die italienischen Universitäten Padua und Bologna das
Hauptziel der wandernden Jünger der Wissenschaft gewesen waren, so strömten
jetzt Hunderte und Tausende und zwar nicht nur Deutsche, sondern auch Aus¬
länder uach Wittenberg, Es kamen nach Luthers Ausspruche „Reußen und
Preußen, Holländer und Enqellender, Dänemarker und Schweden, Böhmen,
Polen, .^ungern, Wenden und Winden, Walen und Franzosen, Spanier und
Gräten" ° — auch Shakespeare läßt seinen Prinzen Hamlet in Wittenberg
studieren. Schon im Jahre 1505 hatte der junge Christoph Scheurl (s, oben
S. 487) beim Rektoratswechsel in Bologna als Syndikus der dortigen
Universität mit vollen Tönen das Lob Friedrichs des Weisen, der „unter den
Fürsten der gebildetste und uuter deu Gebildeten ein Fürst sei," gesungen,
der in Wittenberg „den Wissenschaften ein Asyl" geschaffen und diese Stadt
„aus eiuer Ziegclftadt zur Marmorstadt gewandelt habe." Wie sehr
mag ihn dann die Wirklichkeit enttäuscht haben, als er 1507, vom Kurfürsten
berufen, Wittenberg mit Augen sah. Denn „es war Wittenberg bis daher
eine arme, unansehnliche Stadt, mit kleinen, alten, niedrigen, hölzernen Häuf¬
lein, einem alten Dorfe ähnlicher als einer Stadt." Nun aber, als Luther
der Hohe seines Wirkens zustrebte, veränderte sich schnell der ganze Charakter
Wittenbergs: die Häuser und Straßen schössen gewaltig heraus, und trotzdem
war schwer Quartier zu bekommen. Auch der bessere Teil der Bürgerschaft
erwies sich der großen Zeit und ihren Aufgaben gewachsen. Auf dem Markt
erhob sich seit' 1523 das stattliche, an der Hauptfront mit vier schönen
Giebeln gezierte Rathaus, ein Bau. bei dem der neue Stil der Renaissance
schon völlig über die Gotik gesiegt hat. Die reichgeschmückte Vorhalle mit
dem Balkon, an dem manche symbolische Figur und mancher schöne Spruch
angebracht ist. stammt sogar erst aus dem Jahre 1573. deshalb trügt er die
Wappen des Kurfürsten Änqnst und seiner Gemahlin Anna.'
^ Der edelste Typus desdamaligen Wittenberger Bürgers ist ohne Zweifel
^utas Kranach (so genannt nach seinem Geburtsorte Kronach in Franken).
°er 1504 als Hofmaler Friedrichs des Weisen nach Wittenberg kam, 1520
mich die Apotheke mit dein Privilegium zum „süßen Weinschank" kaufte, em ver¬
trauter Freund Luthers. 1537 Bürgermeister und auch seinem Kurfürsten Johann
Kiedrich so zugethan, daß er mit ihm die Gefangenschaft teilte und wie dieser in
-Weimar starb. 'Noch steht sein stattliches Wohnhaus mit seinem Wappen, einer ge¬
kugelten Schlange, und zwei Gedenktafeln geschmückt an der Ecke der Eid- und der
^chloßstmße. Das Wittenberger Leben zeigte aber natürlich auch Schattenseiten,
^chou ehe Luther zu Einfluß gekommen war. hatte sich der öfters erwähnte Jurist
^lMrl, der zuvor nenn Jahre in Italien gelebt hatte, dnrch eine gewisse ur¬
wüchsige Viergemütlichkeit, die er bei der Wittenberger Bürgerschaft aber auch
W Universitätskreisen vorfand, abgestoßen gefühlt; er verordnete deshalb als
Ne lor 1507. „daß den Studenten der Besuch der Wirtshäuser des Trinkens
Über schlechthin untersagt sein solle." Dieser Satz fand auch in die
Statuten Aufnahme; ferner sollte jeder Nenankommeude gefragt werden, ob
er auch wirklich Studierens halber gekommen sei. Deshalb entstand damals
die Studentenregel: „Willst du dich Vergnügen, geh sonstwohin, willst du
studieren, so geh nach Wittenberg."
Aber je mehr die Zahl der Studenten wuchs, um so mehr wuchs auch
unter ihnen die Zahl der unreinen Geister, denen das Evangelium und die
Wissenschaft Nebensache war; sie hießen in Wittenberg „Speckstudenten," weil
sie sich lieber in der „Specke," einem Lustwäldchen beim Dorfe Lopez, herum¬
trieben, als die Collegia besuchten; liederliche Dirnen erschienen in ihrem
Gefolge. Vergebens bittet Luther seinen „Bruder Studium, sich still, züchtig
und ehrlich zu halten, des warten, warum sie hergesandt und mit schweren
Kosten von den Ihren erhalten werden, daß sie Kunst und Tugend lernen,
weil die Zeit da ist, und solche feine Prüzeptoren da sind," vergebens wendet
er sich in Predigt und Ermahnung an den Rat und die Bürgerschaft, das;
sie der einreihenden Liederlichkeit steuern. Es geschah nichts Durchgreifendes,
weil zahlreiche Bürger am Bruder Studio um so besser ihr Schäfchen scheren
konnten, je mehr dieser in Saus und Braus dahinlebte. Allerhand amtlicher
Verdruß, namentlich mit den „garstigen Juristen" der Universität kam hinzu,
sodaß Luther im Jahre 1545, als er überdies durch körperliche Leiden arg
mitgenommen war, zu dem Entschlüsse kam, Wittenberg den Rücken zu kehren.
Am 28. Juli dieses Jahres schrieb er von Zeitz aus an seine Frau: „Ich
wollts gerne so machen, daß ich nicht müßte wieder geu Wittenberg kommen.
Mein Herz ist erkaltet, daß ich nicht gern da bin; wollt auch, daß Du ver¬
kauftest Garten und Hufe, Haus und Hof. . . Und wäre Dein Bestes, daß
Du Dich gen Zulsdorf setzest, weil ich noch lebe. . . Will also umher¬
schweifen und eher das Bettelbrot essen, ehe ich meine arm alte letzte Tage
mit dem unordigen Wesen zu Wittenberg martern und beunruhigen will mit
Verlust meiner sauern und teuern Arbeit." Dieser Brief, den Frau Käthe
alsbald den Freunden zeigte, und der in Abschrift anch an den Kurfürsten
uach Torgau geschickt wurde, machte tiefen Eindruck. Eine Abordnung des
akademischen Senats und des Rats wurde zu Luther nach Merseburg geschickt
und versprach gründliche Abändrung aller der Unsitten, über die sich Luther
beschwert hatte: „das verthunliche Wesen" bei Hochzeiten und Kindtaufen,
das leichtfertige Treiben auf den Tanzböden, die unzüchtige Kleidung der
Jungfrauen, das nächtliche Geschrei und Toben auf deu Straßen sollte auf¬
hören; auch der kurfürstliche Leibarzt Ratzeberger kam im Auftrage seines Herrn,
den erzürnten Reformator zu beschwichtigen, und so kehrte denn Luther zur
Freude aller Beteiligten nach Wittenberg zurück und blieb in gutem Ein¬
vernehmen mit der Stadt und den Bürgern, bis ihn im folgenden Jahre
zu Eisleben der Tod heimholte.
Nach seinem Tode kamen schwere Zeiten über die Stadt. Der Kurfürst
Johann Friedrich hatte sie durch Befestigungsbauten aller Art zu seinem
Hauptbollwerk umgeschaffen, um nötigenfalls den Angriff des Kaisers hinter
ihren Mauern zu besteh» — aber noch ehe er auf dem Rückzüge aus
Moritzens Gebiet Wittenberg erreichte, wurde sein Heer auf der Lochaner
Heide zersprengt, und er selbst gefangen. Statt seiner erschienen mit der
Schreckenskunde der verwundete Kurprinz und einige Hundert Reiter, wenig
Tage später der Kaiser. Als er im Westen der Stadt dein Dorfe Blcsern
gegenüber, wo noch jetzt ein Ackerstück das Kaiscrlager heißt, am Bistritzerbach
sein Zelt aufschlagen ließ, soll er erstaunt über die Stärke der vor ihm
liegenden Festung geäußert haben: „Hütten wir den Vogel nicht, das Nest
würden wir schwerlich bekommen" — und in der That, er wäre uicht im¬
stande gewesen, die Stadt einzunehmen, aber durch das über Johann
Friedrich verhängte Todesurteil erschreckte er die tapfere Kurfürstin Sibylle
so sehr, daß Wittenberg am 15. Mai 1547 kapitulierte. Nun ritt Karl mit
König Ferdinand durch die Straßen bis an die Marienkirche, entblößte dort
vor dem an der Ostseite angebrachten Kruzifix, das er erstaunt betrachtete, sein
Haupt und ordnete trotz der Hetzreden seiner Beichtiger an, daß der evangelische
Gottesdienst zunächst nicht gestört werde. Was man sonst von seinem Aufenthalt
in Wittenberg erzählt, namentlich die berühmte Szene in der Schloßkirche am
Grabe des Erzketzers, läßt sich schlechterdings nicht als geschichtlich erweisen.
Die Stadt Wittenberg kam, da sie vertragsmäßig nur vou deutschen
Söldnern be clzt wurde, verhältnismäßig glimpflich weg. Auch im Dreißig¬
jährigen Kriege erging es Wittenberg nicht am schlimmsten. Wahrend des
Nordischen Krieges sah es am 21. Februar 1707 den trotzigen Helden
Karl XII in seinen Mauern, der als eifriger Protestant Luthers Gedächtnis
zu verehren kam, am 14. Oktober 1712 den von der Hochzeit seines Sohnes
Alexei aus Torgau kommenden Peter den Großen: er war auch in Luthers
Stube und begehrte die kostbarste Reliquie dieses Raumes, Luthers Trinkglas,
mitzunehmen:'als es ihm verwehrt wurde, regte sich in ihm der Asiat, und
er ließ es fallen, sodaß es in Stücke zersprang. Im siebenjährigen Kriege
litt die Stadt furchtbar durch ein Bombardement der Österreicher (13. Ok¬
tober 1760). Nach dem Hubertnsburger Frieden sollte sie aufhören. Festung
zu sein. Ein sächsischer Topograph schreibt von Wittenbcrgs Festungswerken
im Jnhre 1802: „Der breite tiefe Wassergraben hat sich größtenteils durch
Vermehrung des Schlammes zugcfüllt und ist seit zehn Jahren an mehreren
Stellen der Nordseite ausgefüllt, vererbpachtct und in Gärten verwandelt, die
Basteien sind eingerissen, und der hohe Wall ist seit 1768 mit Frucht- und
Maulbeerbäumen bepflanzt worden."
Aber Napoleon befahl schon 1806. die wichtige Stadt aufs neue zu
befestige». Später wünschte er sie zu einem Waffenplatz ersten Ranges
umzugestalten; zum Glück für die Altertümer der Stadt trat Torgau für
Wittenberg ein. Doch hat Wittenberg die Schrecken des Krieges von 1813
und 1814 ganz in demselben Maße ' erfahren wie Torgau. Nachdem noch
am 15. August 1813, am Napolconstcige, in der Stadtkirche das Lslvum
tuo Mxolvcmöin mit begleitenden Trommelwirbel und folgendem Vivs
l'öinxsrizur erklungen war, wurde Wittenberg im September von Bülow von
Dennewitz belagert und sechs Tage lang vergeblich bombardiert. Erst die
dritte Belagerung und Beschießung führte zum Ziel: in der Nacht vom 12.
zum 13. Januar 1814 wurde Wittenberg, nicht viel mehr als ein rauchender,
blut- und leichmbedeckter Trümmerhaufen, vou den Preußen unter Geueral
von Dobschütz erstürmt. Das Elend der Stadt in dieser Zeit war so groß,
daß für ihre Wiederherstellung in ganz Deutschland, ja sogar in Schottland Geld
gesammelt wurde. Auch die Universität war auf das härteste betroffen: in den
Pfarrakten des Dorfes Merschwitz bei Meißen fand ich eine Notiz, wonach die
Wittenberger Universitätsbibliothek während der Kriegsgrenel des Jahres 1813
auf Kähne verladen nach Dresden gebracht werden sollte; doch waren die Kähne
von Kosaken angehalten und zum Passieren der Elbe verwandt worden, sodaßvie kostbaren Bücher gelandet und einstweilen in Seußlitz untergebracht wurden.
^ Die preußische Herrschaft brachte der Stadt zunächst einen empfindlichen
^erlust: die Verlegung der Universität und ihre Vereinigung mit der Hallischen
(1815). Doch vernarbten allmählich die Wunden des Kriegs, und während
Teil der deutschen akademischen Jugend am 31. Oktober 1817 die Farce
sogeucinuteu Wartburgfestes beging, weilte Friedrich Wilhelm III. mit
mehreren Prinzen in Wittenberg, stiftete die notdürftig erneuerte Schloßkirche
euiem Predigerseminar und legte auf dein Markte den Grundstein zu Schadows
^utherdeukmal. Weit großartiger und nachhaltiger waren die Luthertage des
Wahres 1883 und die Feier des 31. Oktober 1892. wo die prachtvoll erneuerte
Schloßkirche vom Kaiser Wilhelm II. persönlich geweiht wurde.
Heute ist Wittenberg eine Stadt, der weder eine besondre geschäftliche
noch eine besondre geistige Regsamkeit nachgerühmt wird. Sogar die Theater-
direktoren sind mit Wittenberg unzufrieden; ich leis kürzlich in der Zeitung,
daß sie in ihren Kreisen den Ruf eines „Erbbegräbnisses" genieße, das heißt
eines Ortes, an dem jede wandernde Schauspielergesellschaft aus Mangel an
Teilnahme zu Grunde gehn müsse. Auf solche Rederei ist nicht viel zu geben,
und mag man auch gegen das moderne Wittenberg sagen, was man wolle, eins
steht doch fest: es giebt in Mitteldeutschland kaum eine Stadt, die wegen ihrer
Erinnerungen eher einen Besuch verdiente als Wittenberg. Und hat auch der
Eisenbahnverkehr und die Fabrikthätigkeit das Ansehen der Vorstädte sehr ver¬
ändert, der Marktplatz von Wittenberg und die ihn umgebenden Straßen
haben sich ihren geschichtlichen Charakter und ihre besondre Weihe getreulich
bewahrt. Auch die Anlagen der Stadt, die sich ringsumher an Stelle der
alten Befestigungen erheben, haben ihren besondern Reiz, namentlich in den
lauen Nächten des Lenzes: da tönen dort aus Hecken und Baumkronen ohne
Unterlaß die süß klagenden Weisen der Nachtigallen, die in großer Anzahl in
den Wittenberger Stadtanlagen nisten. Das kommt von der Fülle des Wassers
und des Buschwerks in und um Wittenberg.
Wie das klassische Athen an den Ufern des Kephissos und Ilissos lag,
so ist auch Eid-Athen, Wittenberg, von zwei Wasserlüufen, der frischen und
der faulen Bach, durchflossen. Dazu kommen die die Stadt umgebenden
Gräben und sumpfigen Wiesen, ein Gelände, wie es die Nachtigall besonders
gern hat. So haben sicherlich auch schon zu Luthers Zeit in Wittenberg die
Nachtigallen geschlagen, und darum gewinnt Hans Sachsens herrlicher Weckruf
an die Deutschen: r rc - r ^ ^ >"^
noch einen besondern, wenn auch schwerlich vom Dichter beabsichtigten Sinn.
Luther selbst war ja ein großer Freund der Vögel und duldete nicht gern,
daß ihnen ein Leid geschah. Wer kennt nicht den sinnigen und humorvollen
Brief, den er 1534 im Namen der „Drosseln, Amseln, Finken, Hänflinge,
Stieglitze samt andern fromme», erbarm Vögel, so diesen Herbst über Witten¬
berg reisen sollen," an seinen Famulus Wolfgang Sieberg richtete, der den
armen Tieren auf einem bei der Stadt angelegten Vogelherd nachstellen sollte.
Seine Schützlinge danken ihm seine Fürsorge noch heute; denn nirgends wohl
tönt in Wittenberg im Frühling ein lieblicherer und lauterer Vogelschall,
als um Luthers Wohnhaus, das an der Südwestecke der Stadt, in unmittel¬
barer Nähe des Wallgrabens und der dahinter stehenden gewaltigen Baum¬
wipfel liegt. Machen wir uns nun dorthin auf, die denkwürdigste Stätte, die
Wittenberg hat, zu besuchen.(Schluß folgt»
«kehrend die Zahl der Deutschen, die nach Rom, Florenz und sogar
nach Siena und Perugia fahren, um den Winter im wärmern
Süden, in Pensionen oder Privatquartieren zuzubringen, beständig
zunimmt, stößt der Gedanke an einen Sommeraufenthalt in Italien
bei Deutschen noch meist auf ein tiefeiugewurzeltes Mißtrauen. Die
! Befürchtung, uuter unerträglicher Hitze leiden zu müssen oder keinen
Komfort zu finden, schreckt die meisten ab, auch nur den Versuch zu machen, die
Sommermonate in einem Lande zu verleben, dessen Schönheiten ihnen in andern
Jahreszeiten so vertraut geworden sind, Ist diese Abneigung berechtigt? Nachdem ich
den vorige» Sommer bis zur Mitte des Augusts an verschiednen Punkten Italiens
verbracht habe, mochte ich es verneinen, und möchte jedem, der aus seinem Winter-
aufenthalt einigermaßen mit dem italienischen Klima und Leben vertraut ist, raten,
seine Kenntnis von Land und Leuten durch einen Sommernufenthalt in Italien zu
erweitern.
Zum italienischen Sommer kann man bekanntlich schon den Mai rechnen.
Aber das Winterleben streckt seine Ausläufer in Bezug auf Berufsthätigkeit und
sogar in der Geselligkeit und dem Fremdenleben noch weit in den Mai hinaus.
Im Mai tritt nu die Mitglieder der vou jeher größten deutschen Kolonie in Italien,
an die deutscheu Bewohner und Besucher Roms, die Frage uach Sommerstaudorten
in der nächsten Nähe der Stadt heran. Die Siebenhügelstadt ist in ihrer herrlichen
Umgebung vou der Natur so verschwenderisch bedacht wie wohl keine andre
Hauptstadt der Welt. Welche andre Großstadt kann ans zwei Gebirge von so
wunderbarer Schönheit wie das Albaner- und das Sabinergebirge, auf den Meeres¬
strand Latinas als auf einen vor ihren Thoren liegenden Besitz hinweisen? Es
läßt sich nicht behaupte», daß sich das moderne Rom dieses Göttergeschenks würdig
erzeigte. Es ist vorläufig wenig geschehn, die Stadt mit dem guten Badestrände
vou Anzio Nettuno Civitavecchia, Palo, Ladispvli eng zu verbinden, mit der Gegend
südlich von Ostici, mit den es-hestu Romain des Albanergebirges, mit den herrlichen,
mir persönlich noch mehr ans Herz gewachsnen, weil ursprünglichem Stätten des
Sabinergebirges. Es ist noch wenig geschehen, an diesen Punkten Fremden einen
einigermaßen komfvrtabeln Sommeraufenthalt zu ermöglichen, der der' sonstigen
billige» Lebensführung in Italien entspräche. Ein Beispiel für viele. In Anzio
Nettuno, einem Orte mit feinsandigem Strande und kräftigem Wellenschlag, pitto¬
resken Hafenlebeu und geschichtlichen Erinnerungen, der als Villeggiatur des Kar¬
dinals Älbani schon Winckelmanns Entzücken war, gab es bis vor wenig Jahren
zwei Hotels und Pensionen, von denen das einfachere und billigere aber gut ge¬
führte allen berechtigten Ansprüchen an einen Familicnaufenthalt genügte. Aber es
gelang dem Nebenbuhler, dem sogenannten «raunt Höwl, die nicht sehr kapital¬
kräftige Konkurrenz zu beseitigen, und seitdem schreibt es als das einzige Hotel in
dem zur Badezeit überfüllten großen Hauptseebadeort der nahen Residenz seine
Gesetze und Preise vor. Nicht viel besser liegt die Sache in Frascati, etwas besser
in Tivoli, das aber mit seiner schönen, jedoch schattenlosen Umgebung für einen
längern Aufenthalt weniger in Frage kommt. Wieviel Projekte sind nicht jchou
gemacht worden, diese und andre Übelstände zu bessern, die Bahnverbindungen zu
beschleunigen und zu verbilligen, im Sabinergebirge auf dem Pratoue, am Abhang
des Monte Gennaro, im Albnnergebirge ans dem Monte Cavo Höhenkurorte zu
gründen, den Strand bei Ostia wie zu deu Zeiten des Plinius mit Badeeinrich-
lnngen und Villen zu kränzen usw. Aber ihre Ausführung hat mit der Ver¬
waltung des italienischen Eisenbahnwesens, mit der Energielosigkeit der Behörden
und des Publikums, die über dem öffentlichen Leben Roms wie eine Wolke liegt,
mit der Sucht nach zerfasernder und zerstörender Kritik der Presse zu kämpfen.
So thut jeder, der den Sommer in der nähern Umgebung Roms hinbringen muß
"der will, gut, sich in Orten wie Albano, Castel Gandvlfo,' Arieeici, Rocca ti Papa
em eignes Heim mit eigner Küche zu gründen, was für die Hausfrau natürlich
eine Einbuße an Erholung bedeutet und für den nicht ständigen Bewohner Roms
uianche Schwierigkeit bietet — und dort zu leben nach der Art, wie es Goethes
Freund Rat Neiffenstein und Humboldt thaten, und wie es in der Italienische»
^else, in den Erinnerungen von Karoline von Humboldt, von Ludwig Richter
"ud unzähligen andern geschildert wird. Vielleicht wird auch SuVtaco in die
'^else dieser Orte treten, nachdem es durch die neue Zweigbahn Mandela —Subiaco
w Eisenbahnverbindung mit Rom gesetzt ist.
en ^" ^ Energie und Schaffenskraft ist Mittel- und Norditalien wie auf andern
Gebieten so mich auf dem der Förderung vou Sommerfrischen der Hauptstadt und
Süditalien überlegen. Von Seebädern hat Viareggio schnell eine ausschlaggebende
Bedeutung nicht nur für Toskana erlangt, an dessen Küste nördlich von Pisa es
liegt, sondern für ganz Italien und dessen Fremdenpublikum. Der Ort, dessen
Anfänge im Schatten der meerbeherrschenden Republiken Lucca, Pisa und Genua ge¬
wachsen sind, die um seinen Besitz erbitterte Kampfe führten, ist jetzt eine „reinlich
artige" Stadt von etwa 16000 Einwohnern. Das edle Stein- und Marmor¬
material des nahen Gebirges hat eine gewisse Eleganz der Bauart der zwei¬
stöckigen Häuser erlaubt, in denen fast überall Badegäste Aufnahme finden können.
Größere und kleinere Hotels sind ebenfalls in Menge vorhanden, sodciß für jeden
Geschmack und sür jede Börse gesorgt ist. Die Langweiligkeit der schnurgeraden,
sich rechtwinklig schneidenden Straßen und der regelmäßigen Plätze wird durch
Limonen- und Oleandcrbäume gemildert, die gerade zum Beginn der Badezeit ihre
roten Blütenbüschel entfalten. Aber in dieser steinernen Stadt lebt der Badegast
eigentlich mir nachts und während der Mahlzeiten. Für das Badeleben und die
Stunden des Genießens und der Erholung ist die hölzerne Stadt da, die am
Strande und teilweise über den Wellen des Mittelländischen Meeres aufgebaut ist
oder sich zu Beginn der Badezeit aufbaut, und die dem sichtbar jedes Jahr weiter
zurückweichenden Meere, oder richtiger dem vordringenden Strande, dem Neuland
der Anspülungen der aus dem Gebirge kommenden Flüsse, folgen muß. Hier er¬
heben sich zunächst großartige Badeetablissemeuts mit den kühnsten mythologischen
und symbolischen Benennungen, und sie umschließen An- und Auskleidezellen, Re¬
staurants, Tnnzsäle, Orchesterpodien und Aussichtsterrassen. Daneben sind Sominer-
theater, Gelaterien und Sorbetterien, Modemagazine und photographische Ateliers,
Kinematographen und Verkaufsbuden aller Art entstanden. Dazwischen schieben sich
einfachere Strandhäuschen, die Residenzen einzelner Familien, eine Metamorphose
unsers nordischen Strandkorbs ins großartige. Der etwa einen halben Meter über
dem Sande erbaute, dem Meere möglichst nnhegerückte Bau enthält zwei Räume
mit einem Vorplatz. Auf diesem empfängt man Freunde, und hier sitzt man bei
gutem Wetter; der eine der geschlossenen Räume ist Wohu- und Eßzimmer bei
schlechtem Wetter, der andre dient der Badetoilette. Ein Herren-, Damen- und
Kinderbad, Bademeister und Badefrau, Badevorschrifteu, Badetaxe usw. — alle
diese Einrichtungen unsers strenger denkenden Vaterlandes sind hier nicht zu finden.
Männlein, Weiblein und Kinder baden gemeinsam in mehr oder weniger eleganten,
jedenfalls durchaus dezenten Badeanzügen, liegen gemeinsam nach dem Bade ein-
gegraben im wärmenden Sande, vertilgen gemeinsam wie überall und bei allen
Gelegenheiten in Italien unglaubliche Mengen von Süßigkeiten, flirten, scherzen
und tollen gemeinsam, und so mag für das italienische Badeleben in Viareggio der
italienische Ausspruch wohl seiue Berechtigung haben: „Viareggio ist das Paradies
der Kinder, das Fegefeuer der Frauen, die Hölle der Ehemänner."
Wer dieses „mondäne" Leben der gesellschaftlichen Kolonien von Florenz,
Livorno, Lucca, Pisa usw. nicht mitmachen, wer auch die höhern Preise der großen
Badeetablissements uicht zahlen will, erwirbt sich sein hölzernes Heim am stillern
nördlichen Teil des Strandes nach der Z?iuotu, eonmiurlo zu und wird da bei
mehr Ruhe und Stille des Bndestrandes auch auf seine Rechnung kommen. Dieser
große städtische Pinienwnld, dem nach Süden zu ein gleicher im Besitz der ältesten
Tochter von Don Carlos, der Erzherzogin Leopold Salvator, entspricht, ist im
waldarmen Italien ein wertvoller Besitz. Ich habe schöne Stunden unter diesen
Pinienkronen verlebt, unter denen Unterholz jeder Art lustig und üppig empvr-
wuchert, worin Singvögel ungestört von dem Knallen dilettantischer Schützen ihr
Lied ertönen lassen, und wo sogar ganz wie bei uns im deutschen Walde ein
Häschen seinen Unterschlupf findet. Überhaupt kann man sich hier ohne große
Mühe in deutschen Kiefernhvchwald hineinträumen, denn die Pinie entwickelt sich,
wenn sie ihre Krone neben ihren Schwestern nicht frei entfalten kann, fast ganz
wie unsre Kiefer, und in den entferntem Teilen des Waldes ist mau sicher, aus
deutschen Träumereien nicht durch italienische Laute, italienische Spaziergänger auf¬
geschreckt zu werden. Denn uuter den heutigen Bewohnern des Landes, dessen
Naturschönheit Petrarca gewissermaßen zuerst entdeckte und dichterisch zum Aus¬
druck brachte, ist nur selten jemand zu finden, der für Naturgenuß das Opfer eines
längern Spaziergnngs, eines Ausflugs zu bringen geneigt wäre.
Vielleicht werden die Bestrebungen des Club Alpino, des Touring Club und
andrer italienischer Sportvereine nach einigen Generationen eine höhere Wert¬
schätzung des mit körperlichen Leistungen errnugnen Naturgenusses bewirkt haben.
Vorläufig ist, mit Ausnahme etwa der an Österreich und die Schweiz angrenzenden
Alpenregionen, bei Vornehm und Gering, bei Alt und Jung noch ein ungeheucheltes
Erstaunen zu finden, wenn jemand, der es nicht nötig hat, längere Strecken zu Fuß
zurücklegt, anstatt irgend ein künstliches Fortbewegungsmittel zu benutzen. Solche
Beobachtungen überraschen den naturfrohen und wanderlustigen Deutschen immer
wieder, namentlich in schönen Umgebungen von Bädern und Sommerfrischen.
Viareggio hat nicht nur in unmittelbarer Nahe seine beiden Pinienwälder,
es hat auch eine weitere Umgebung von mannigfaltiger Schönheit. Im Norden
und im Osten begrenzen den Horizont die charakteristisch geformten, scharf gezackten
Gipfel der apuauischeu Alpen, nu denen ausgedehnte Marmorbrüche in der Sonne
wie Firnschnee leuchten, nach Regen wie herabstürzende Gießbäche. Nach Süden
zeichnen sich vom tiefblauen Himmel die sanftern begrünten Linien der Pisaner-
Berge ab. Und überall öffnen sich lachende Thäler mit freundlichen und behäbigen
Dörfern, mit Landsitzen, Kirchen und Kapellen, die von üppiger Vegetation um¬
geben, von Oliven, Edelkastanien, Steineichen umbuscht sind. Herrliche Aussichten
über die Gebirge, das Meer mit den wie Spielzeug aussehenden Jnselchen bei
La Spezia und Livorno, über die von den Kanälen der Reisfelder durchschnittne
Anschweinmungsebne des Serchio kaun man mit wenig Stunden Wanderns und
Steigens erreichen, und in dieser Ebne fehlt auch nicht der Binnensee, der malerische
Lcigo Mnssacinccoli, an dessen Ufer sich der große Schiffbauer Orlando aus Livorno,
der Majvlikafnbrikant Ginori aus Florenz und der Komponist der „Boheme"
Puccini ihre Villen erbaut haben. Stndteperlen und Schatzkammern der Kunst
der Renaissance wie Lucca und Visa kann man von Viareggio aus in einem
Tagesausflüge genießen, und wer auch das moderne Italien kennen und schätzen
lernen will, kann mit dem selben Zeitaufwand Livorno und La Spezia be¬
suchen. Aber darauf darf man nicht rechnen, daß man von Landeseinwohnern
oder Badegästen über Weg und Steg, Fahrgelegenheit oder Wohnung Auskunft
erhält. Reisen, Ausflüge und gar Fußreisen rechnet man in Italien zu den
Lebensmühen, denen man um liebsten ausweicht. Man geht überhaupt nicht in die
Sommerfrische, um dort Natur und ein der Natur näher gerücktes Leben zu ge¬
nießen, sondern lediglich, um der ärgsten Hitze der im Flach- und Binnenlande
hegenden Städte zu entfliehn, um im Schutz der kühlern Temperatur des Meeres-
strnudes oder des Gebirges das nach unsern deutschen Begriffen recht öde gesell-
ichnftliche Leben des Winters fortzusetzen. Zu deu Grundbedingungen der italie¬
nischen Sonnnerfrische gehört der Tanzsaal, wo jeden Abend getanzt wird, und in
°>»er großen Sommerfrische des obern Valtellinthals, in S. Catarina, fand ich
dus Tanzen von 9 bis ^12 am Abend sogar ans der gedruckten Hausordnung
"or. Die Berichterstattung der Zeitungen versäumt auch nicht, genan wie sie es
^ ihrer oberflächliche» Weise bei Theater- oder Musikaufführungen thut, gewissenhaft
"ne Anwesenden von irgendwelcher Bedeutung aufzuzählen, die die Sommerfrische
""t ihrer Gegenwart verschönen. Auch in Viareggio sorgen die Badeetablissements
Sö^r ^""Am, aber unser einfaches, gut geführtes und preiswertes Hotel Bretagne
ouch bis Ende Juni von der Tanzscuche verschont, wie denn überhaupt die rechte
und eigentliche italienische Stagione des Sommers erst mit dein Juli beginnt und
u» allgemeinen Anfang September schon wieder endet. An dieser Beschränkung
er Sommerfreudeu in Italien mag wohl oft, um mit Reuter zu sprechen, die
„allgemeine Povertt," der schmale Geldbeutel vieler Familienväter schuld sein. Ein
italienisches Wortspiel behauptet wenigstens, um ins Gebirge gehn zu können, müßten
viele Italiener erst den monts cU pie-ta, (zu deutsch das Pfandhans) erklettern.
Obgleich wir schon mehreremal und jedesmal monatelang in Italien gewesen
waren, wurde es uns doch Anfang Juli etwas zu heiß am Meeresstrnnde. Auf
dem Sommerprogramm stand sowieso ein Höhenaufenthalt ini Apennin, und eine
freundliche italienische Empfehlung wies uns an eine Stätte, die einer deutschen
Auffassung von Sommerfrische, deutschem Hunger nach Wald und reiner Luft, nach
Leben in der Natur so entsprach, wie es in Deutschland nicht besser hätte geschehen
können. Auf herrlichem Vahnwege, der an Lucca vorbei die westlichen Abhänge
des Apennins von Pistoia erklettert, denn in noch herrlicherer vierstündiger Wagen¬
fahrt, die an den eleganten, von Heine litterarisch verewigten Lagni all luneeÄ vorbei
und im Thal der Lima aufwärts führt, gelangen wir nach dem Hauptort des
Thales, S. Marcello-Pistoiese und dann — weshalb sollte ich den uns lieb ge-
wordnen Erdenwinkel nicht ganz genau bezeichnen — nach Limestre und zur Villa
Margherita. In dem breiten Thal der Limestre, die sich bei dem malerisch liegenden
nahen Mamminno in die Lima ergießt, unmittelbar um rauschenden Wasser steht
das freundliche Haus mit den grünen Fensterläden, versteckt in Laubwerk aller
Art und gesichert gegen den Lärm der Außenwelt, deun der Weg führt nur zu
ihm, keiner an ihm vorüber. Die wenigen kunstlosen Gartenanlagen, die es um¬
geben, und der Tennisplatz leiten sofort in Waldungen von Edelkastanien über.
Dieser herrliche Baum, der eben seine weißen Leuchterblüten anzuzünden beginnt,
giebt der zweiten Höhenzone des pistoiesischen Apennin, in der wir auf einer Hohe
von 630 Metern sind, den Charakter. Während in der untern Zone der Ölbaum
der herrschende Baum ist und mit dem Weinstock zusammen den Hauptreichtum
der untern Thalstufe ausmacht, während in den obern von etwa 890 Metern ab
bis zu den bis 2000 Metern ansteigenden Berghäuptern nur Eiche und Tanne
den Kältegraden und Winden des apenninischen Winters Trotz bieten, ist unsre
mittlere Zone auf weite Strecken mit dem grünen Gewand der Kastanienwaldunge»
bekleidet. Die Natur des Baumes, aber auch seine Kultur durch den Menschen,
das Streben nach Frucht- und Holzgewinnnng schreiben vor, daß in diesen grünen
Räumen die einzelnen Bäume nicht zu gedrängt stehn; dadurch wird das Auf¬
wachse» von Unterholz, die Bildung eiues fast ununterbrochnem Nasenteppichs,
einer reichen und interessanten Flora begünstigt. Die Behandlung der Kastanie
durch deu Menschen macht auch deu an sich schon malerischen Wuchs des Baumes
uoch herrlicher und oft geradezu bizarr, sodaß er dem Maler und seinem modernen
Nachfolger, dem Liebhaberphotographcn, prächtige Vorwürfe liefert.
Und wie herrlich wandert es sich in dieser Kastanienwaldung in der köstlichen
Ungebundenheit und Freiheit, die dem Fußwandrer in Italien beschieden ist. Hier
ist nicht „das laute Schreien und Singen im Walde" verboten, hier bekümmert
sich kein Mensch darum, ob man „außerhalb der gebahnten Wege" seineu botanischen,
geologische» oder sonstigen Sonderueigungen nachgeht. Man kann auch, wenn mau
durchaus will, „Feuer im Walde anmachen": höchstens wird sich der Köhler, der
hier überall Kastanienäste und -Zweige zu Holzkohle umwandelt, darüber wundern,
daß man in seinen anstrengenden Beruf zu pfuschen scheint. Hier begrüßt einen
keine Tafel der löblichen Forstbehörde: „Dieser Weg ist verboten" mit der ent¬
sprechenden liebenswürdige!? Strafandrohung. Im Gegenteil, man suche sich
uur selbst eiuen Weg, das ist in vielen Fällen nicht nur ratsam, sondern mich
nötig, denn gebahnte Wege giebts nicht allzuviel, und die durch den Gebrauch
geschaffnen täuschen oft und lassen den Wandrer ratlos im Stich, nachdem sie ihn
zum nächsten Kohlenmeiler in ein dichtes Gebüsch und an eine steile Gebirgshalde
geführt haben.
Hier, an einem an Thälern und Schluchten, Bächen und Wildwasserbetten
überreichen Gelände, das bald das Entzücken, bald die Verzweiflung des italienischen
Offiziers und Topographen hervorrufe» muß, lernt der moderne, durch Wegweiser
und Spezialkarten, durch farbige Steine und sonstige Orientierungskrücken ver¬
wöhnte Kulturmensch wieder einmal auf eignen Füßen stehn und gehn. Denn die
einzige vorhandne, vom Militär-Geographischen Institut 1881 aufgenommne Karte
der Gegend im Maßstab von 1 : 25000 kann beim besten Willen diesem Gelände nur
sehr unvollkommen gerecht werden. Die Schwierigkeit, ihre einzelnen Blätter oder
andre vernünftige Karten zu erwerben, ist in Italien nicht unbedeutend. Es gelang
mir z. B. weder in La Svezia eine brauchbare Karte seiner Umgebung, noch dort,
oder in Lucca oder in Viareggio oder gar in S. Mcircello eine Karte der viel¬
besuchten Bilde- und Kurortgegeud von S. Marcello zu erhalten. Man riet mir freund¬
lich, um Hoepli in Mailand zu schreiben, oder noch besser, selbst nach Florenz zu reisen.
Dagegen fand ich in der Villa Margherita eine praktische kleine Übersichtskarte
der Umgebung mit Zeitangaben von achtundzwanzig empfehlenswerten Partien zu
Fuß und zu Wagen, ebenso an der Wand eine übrigens recht preiswerte Taxe der
Fahrt zur nächsten sechs Kilometer entfernten Bahnstation Pracchia und aller sonstigen
in Betracht kommenden Wagenfahrten. Dergleichen Praktische Einrichtungen über¬
raschen in einer italienischen Pension. Allerdings ist die Villa auch keine rein
italienische Pension. Die Gattin des Inhabers ist eine Engländerin, und wenn
sich auch die Verpflegung vernünftigerweise dem Klima und den Grundsätzen der
guten und leicht bekömmlichen italienischen Küche anpaßt, so ist die Pension sonst
doch auf englische Art eingerichtet. Und auch hier bewahrheitete es sich, daß unsre
Vettern jenseits des Kanals für die Unterkunft in Italien schätzenswerte Pioniere
der Reinlichkeit, des Komforts und zuverlässiger geschäftlicher Einrichtungen sind.
Es war unter diesen Umständen nicht überraschend, daß unter den Besuchern,
die die Villa während unsers Aufenthalts bevölkerten, Italiener dauernd in der
Minderheit, Engländer zusammen mit Deutschen und Amerikanern in der Mehrzahl
waren. Ich habe das nicht bedauert. Denn so sehr ich viele liebenswürdige Eigen¬
schaften des Jtalieners schätze, so ist mir als Pensionsgenosse und Zimmernachbar
der rücksichtsvollere und ruhigere Engländer lieber. Denn der Italiener erwartet
allerdings auch von dir keine Rücksicht, aber er denkt ebensowenig daran, daß es seinen
Zimmernachbar belästigen könnte, wenn er nachts um zwölf Uhr pfeifend und
singend zu Bett geht, wie er nichts dabei findet, wenn sich seine Kinder laut und
geräuschvoll auf Korridore« und Treppen herumtreiben; die uns in Italien so oft
sympathisch berührende individuelle Freiheit der Lebensführung hat eben auch ihre
Schattenseiten. Wenn ich von rücksichtsvollen und ruhigen Engländern sprach, so
versteht sich von selbst, daß es sich in der Villa Margherita um feingebildete An¬
gehörige der obern Stände handelt, die das Ihrige thaten, das in Deutschland
weitverbreitete Vorurteil gegen reisende Engländer dnrch zwar zurückhaltendes aber
seines Benehmen abzuschwächen.
Da von Fußwandrungen und Partien die Rede war, so muß auch die Frage
beantwortet werden, ob denn die Wärmeverhältnisse des italienischen Sommers
Wiese körperlichen Anstrengungen erlauben. Daß ich allein und mit Damen ini
Schutz der Kastcmieuwipfel aber auch außerhalb zwischen Colazione und Prcmzo
Anndrnngen bis zur Höhe von 1100 und 1400 Metern (Monte Nappo und
^>tradone) gemacht habe, ohne allzusehr von der Hitze zu leide», ist eine Sache für
Reh. Wichtiger erscheinen einige Zahlen über die klimatischen Verhältnisse des ge-
Wniten Apenninengebiets mit seinen zahllosen für Sommerfrischen und Kurorte be-
nezten und geeigneten Punkten. Ich entnehme sie dem auf Anregung des Club
^pwo herausgegebnen Guida della Montagna Pistoiese von G. Tigri (Pistoia.
T
da
Landes a^lpvgr. Nicolai), der leider seit 1892 keine neue Ausgabe erlebt hat: auch
°"»ri spricht sich das geringe Interesse des Jtalieners für die Kenntnis des eignen
Diese am hundertteiligen Thermometer und für Pistoia gemachten Angaben müssen
für die Umgebung von S. Marcello für die höchsten Wärmegrade iwch eingeschränkt
werden. Jedenfalls haben wir in Limestre im Juli und August während der Zeit
der im Freien gerauchten Abendzigarette um 8^/^ den Sommerüberzieher fast regel¬
mäßig als eine schätzenswerte Einrichtung anerkannt; diese vom Nordwestwind ge¬
brachte Abkühlung ist natürlich von wohlthätigem Einfluß auf die Gesamttemperatur.
Wem es aber doch in Limestre zu warm sein sollte, der suche in dem
200 Meter höher liegenden Bergfleckeu Gavincma Unterkunft, oder er unternehme
die außerordentlich genußreiche Bergfahrt nach Bvscolungv oder Abetone, dem weit¬
ausgedehnte, uralte Tannenwälder ^dises) den Namen gegeben haben. Auf der
Höhe von 1365 Metern, also reichlich 200 Meter über der Brvckenhöhe, ist es
über den Verdacht zu heißer Temperatur wohl erhaben. Hier sind wir in wirk¬
licher Hochgebirgsnatur, Gipfel wie der Cimone, der Como alle Seale, das charak¬
teristisch geformte und benannte Libro aperto, die fast die Höhe von 2000 Metern
erreichen, begrenzen nicht mehr den Blick wie auf der mittlern Thalstufe, sie lenken
ihn aufwärts und locken zum Vordringen zu ihrer majestätischen Einsamkeit. Auch
die Bauart des Ortes entspricht dem Hochgebirge. An der prächtigen und technisch
bewundrungswürdigen Via Ximeuiana, der Schöpfung des Ingenieurs Ximenes
in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, reihen sich die Häuser und
Gehöfte in weiten Abständen aneinander, sodaß der Ort etwa Z Kilometer laug
ist. Nur um das alte Dorfkirchlein und den Serrabassapaß, den zweithöchsten
von ganz Italien, wo der Blick über die heroischen Landschaftsformen des Ostab¬
hanges der Apenninen nach Modena schweift, haben sich die menschlichen Ansied-
lungen mehr zusammengeschlossen, hier stehn Hotels und Pensionen, die teuer sein
müssen, weil sie mit großen Trausportschwierigkeiten zu kämpfen haben. Getrennt
aber wird ein Nachbar vom andern durch die an die Straße herantretenden Tannen¬
wälder, die zusammen 3405 Hektar umfassen, und in denen ehrwürdige Bänme
bis zum Alter von 400 Jahren und 40 Metern Höhe stehn. Die Quellen der
Limazuflüsse umspielen ihre Wurzeln und haben Thäler und Schluchten und Durch¬
blicke geschaffen, die in ihrer Großartigkeit die Erinnerung an Landschaften von
Ruysdael und Salvator Rosa wachrufen.
Genug der denkbaren Rückerinnerung an die Schönheiten des Apennins von
Pistoia! Sonst steigt am Ende in dem Leser der schwarze Verdacht auf, ich sei
heimlicher Teilhaber einer großen Hotelgesellschaft, die ihn zu Nutz und Frommen
ihrer Aktien dem internationalen Verkehr erschließen möchte! Und das wäre doch
durchaus uicht in meinem Sinne! Ich möchte dem Apennin noch lange seiue tau¬
frische Ursprünglichkeit erhalte» sehen. Solcher Verdacht würde aber auch das von
mir erstrebte bescheidne Verdienst verdunkeln, dem deutschen Landsmann einen vielleicht
willkommenen Wink gegeben zu haben, wohin er in der heißen Zeit seine Schritte
lenkt in dem
bot pa«z»s
(Al' vVxoonwll Mrts g'l on'porco v l',/VH»z,
Im Anschluß an diesen bekannten Ausspruch Petrarcas nur noch wenig
Worte über italienische Sommerfrischen in deu Alpen. Sie sind zahlreich wie die
plätschernden Gebirgswässer: vom schmutzigen Gebirgsdörfchen Ponte ti Leguo im
Valcamouicathcil (Oglio), wo ich ein Bataillon Alpiui in ihrer anstrengenden
militärischen Sommerfrische aufsuchte, bis zum großartigen, eine Kolonie von Mai¬
ländern bergenden Stabilimento S. Catarina im obern Veltlin (Adda), ueben dein
die braven Alpini nach anstrengendem Gebirgsmarsch biwakierten, und bis zu den
eleganten und teuern Kurorten des Val d'Aosta, die von den Mitgliedern des
Königshauses bevorzugt werden, überall ist man darauf eingerichtet, der Flucht
aus den heißen Städten der Poebene, der Lombardei und Piemonts hilfreich ent-
gegenzukommen. Aber wer erst so weit nordwärts gelangt ist, der strebt wohl
mich noch weiter und Ländern deutscher Zunge zu. Mit der Schweiz ernsthaft in
Wettbewerb zu treten, wird dem italienischen Alpengebiet trotz aller seiner Schön¬
nerkanntermaßen aß man in Brcmufels in der Harmonie am besten.
Wenn darüber noch irgend ein Zweifel hätte bestehn können, so wurde
er durch die Thatsache beseitigt, daß Direktor Wenzel in der Harmonie
verkehrte. Dort sollte natürlich auch das längst geplante Zweckessen
der Aktionäre von Heinrichshall abgehalten werden, obwohl manche
der ländlichen Teilnehmer ebensogern in die Blaue Forelle gegangen
wären, wo man freilich weniger gut aß, wo mau aber Wirt und Oberkellner kannte.
Aber der Direktor hatte die Harmonie bestimmt und hatte es so einzurichten gewußt,
dnß er, von einer Reise zurückkehrend, an dem Essen teilnehmen konnte.
Das Festmahl war vorüber. Der Direktor hatte wieder einmal den liebens¬
würdigen Schwerenöter gespielt, hatte jedem mit besondrer Wärme die Hand ge¬
schüttelt, hatte Reden gehalten, Sekt auffahren lassen und unter der Hand einen
ganzen Haufen Heinrichshaller Kuxe verkauft. Daß es seine eignen Kuxe gewesen
waren, sagte er freilich nicht.
Die einheimischen Herren hatten sich schon empfohlen, und die auswärtigen
mußten daran denken, aufzubrechen, denn jedes Ding mußte doch einmal ein Ende
haben. In der Mitte des Saales stand Fritze Poplitz. Er spielte den Baron und
bemühte sich Leutnantstöne in seine Sprache zu bringen, ließ den „Herrn" Ober¬
kellner kommen und gab ihm eine Mark Trinkgeld. Darauf begehrte er nach seinem
Wagen — es war eigentlich August Quargs Wagen — und fragte entrüstet,
warum der verfluchte Kerl von Hausknecht noch nicht vorgefahren sei. August
^uarg aus Asseborn bemühte sich, es Fritze Pvplitzen gleich oder womöglich über
thun, gab dem Herrn Oberkellner zwei Mark und nannte den Hausknecht einen
Heuochsen. Und Vetter Klaus drückte sich scheu um den Oberkellner herum, gab
ni" "leises und sah zu, ob er uicht von jemand mitgenommen werden könnte.
A"" sagte nämlich „Vetter Klaus," nicht „Herr Klaus," denn man rechnete Vetter
'Aauh nicht für voll, obwohl er angesehene Verwandte und ein nusehuliches Gut
Mte Denn es gelang Vetter Klaus zu schlecht, aus dem Stande der Bauern in
M der Ökonomen auszurücken. Er trug zu höchst unpassenden Gelegenheiten seinen
"um Kittel, er war gar zu dämlich und hatte der Jauchepumpe noch uicht eud-
guug entsagt.
Endlich war ein Wagen voll Aktionäre beisammen, „Herr" Fritze Poplitz,
»Herr" August Quarg, „Herr" Andreas Piepenpahl und „Vetter" Klaus. Na denn
jus! sagte August Quarg. Man fuhr los, und vou weitem besehen sah es
»"nz nobel aus. Solange man über das nicht tadelfreie Pflaster von Braunfels
uwpelte, war man zum Schweigen verurteilt, als man aber die Holzweißiger
in? hatte, und der Wagen, weil es bergauf ging, Schritt fahren
"Me, kam man dazu, die Ereignisse des Tages zu besprechen. Man war äußerst
befriedigt. Es hatte zwar einen ganzen Haufen Geld gekostet, aber schön wars
doch! Das Essen — großartig, der Wein — nnr fein, und der Cham¬
pagner — tadellos. Nur auf der Hochzeit bei Breitenbachs in Altum, wo der
Hoftraiteur mit zwei Möbelwagen auf der Eisenbahn angekommen war und gleich
zehn Kellner mitgebracht hatte, war es noch feiner gewesen. Karl Emmrich, der
Wirt, war aber auch ein solider Mann, umgänglich und aufmerksam. Übrigens hatte
er auch ein hübsches Vermögen von seiner Frau, die eine Cousine von der
Schwestertochter der alten Klausewitzen in Klein-Siebendorf war. Man mußte
doch das alles loben, um zu zeigen, daß man es zu beurteilen verstand.
Aber das Zeug in derbrannen Terrine konnte ich nicht essen, sagte August Quarg.
Menschenkind, erwiderte Fritze Poplitz, das war ja Gänseleberpastete. Er
hatte aber auch nichts davon gegessen.
Ja ja, meinte Andreas Piepenpahl, das war ja alles ganz schön, aber satt
bin ich nicht geworden. So ein rechter schöner Hammelbraten mit Zwiebeln, wie
ihn meine Frau macht, ist mir lieber wie das Zeug, wo man nicht weiß, was es ist.
Oder ein Hasenbraten mit saurer Sahne, meinte Qnarg.
Oder Schmorwurst, fügte Vetter Klaus hinzu.
Dunnerkiel, rief August Quarg, Vetter Klaus, Ihr blutet ja.
Vetter Klaus war nicht erschrocken, sondern sah nur nach der Seite, wo er
bluten sollte, und machte ein unglaublich dummes Gesicht. Piepenpahl, der neben
Vetter Klaus saß, rückte zur Seite, aber schon war es zu spät, auf seinem schönen
femmelfarbnen Überzieher war ein großer roter Fleck zu sehen, und aus Vetter
Klausens Seitentasche kam es heraus. Wenn schon Blut dicker ist als Wasser, so
ist es doch nicht so dick wie diese Flüssigkeit. Und wenn Vetter Klaus allerdings
nicht zu den Heißblütlern gehörte, so konnte man doch nicht annehmen, daß sein
Blut so kalt sei, wie dieses rote Naß. Jetzt nahm sein Schafsgesicht einen Schein
von Verschmitztheit an, und er sagte: I wo! Blut ist es nicht, sondern schaltet).
Aber Menschenkind, rief Fritze Poplitz, wie kommt denn das in Eure Tasche?
Ich konnte das Zeug nicht essen, sagte Vetter Klaus geheimnißvoll. Da könnt
ihr mir geben, was ihr wollt, sowas kann ich nicht essen. Und stehn lassen konnte
ich es doch auch nicht. Das hätte doch Herr Emmrich übel genommen. Da habe
ich es in die Tasche gelöffelt.
Jetzt erhob sich ein großes Gelächter. Man hatte zuviel Sekt getrunken, als
daß man die Sache hätte tragisch nehmen können, und auch Herr Piepenpahl lachte
trotz seines verdorbnen Überziehers mit. Darauf fabrizierte man Dauerwitze auf
Vetter Klaus und Piepenpahl und seinen Martin und den schaltet) in der Tasche,
bis man am Böhnhardt anlangte. Während der Wagen langsam den Berg empor
kroch, wurde man müde und starrte gleichgilttg in die Dämmrung, die schon an¬
gebrochen war. Als man aber die Höhe überschritten hatte und in dem sich
öffnenden Thale Heinrichshall liegen sah, wurde man aufmerksam. Was war denn
das? Was war denn anders, als man es zu sehen gewohnt war? Anscheinend
nichts, und doch machte der Anblick einen befremdenden Eindruck. Die elektrischen
Lampen des Werkes brannten nicht. Das Werk lag dunkel da, die Räder auf
dem Förderturm drehten sich nicht, nur die Maschine der Wasserpnmpe puffte träge
ihre weißen Wolken in die dämmrige Luft. Als die Herren Aktionäre in ihrem
Wagen an dem Werke vorbeifuhren, sahen sie, daß das Thor geschlossen war. Ein
Haufe von Menschen, Männer, Weiber und anch Kinder standen davor. Arbeiter,
mit Kober und Flasche ausgerüstet, standen am Bahnübergange der Straße und
schienen zweifelhaft zu sein, ob sie weitergehn oder umkehren sollten. Man par-
lamentierte herüber und hinüber und drohte mit den Stöcken. Als Fritze Poplitz
und Genossen vorüberfuhren, erhob sich ein höllisches Gejohle. Die Pferde scheuten
und gingen davon. Die Jungens warfen Steine hinter dem Wagen her, und die
Alten schimpften: Mistbauern! Räuberbande! Menschenschinder, die Haut müßte mau
solchen Kerls abziehen. Na wartet, wir stecken euch die Scheunen auch noch an.
Duunerkiel, sagte August Quarg, was ist denn hier los?
Was wird denn los sein, erwiderte Fritze Poplih, die Schächters streiken.
Hin! Das ist aber schlecht für unsre Dividende, meinte Piepenpahl.
Ja das ist sehr schlecht, setzte Vetter Klaus hinzu. Jetzt haben wir uns alle
zusammen abphotographieren lassen, hernach können wir uns alle zusammen ab¬
malen lassen.
So schlimm wirds nicht, sagte Fritze Poplitz. Jetzt streiken sie, und in vier
Wochen kriechen sie wieder zu Kreuze. Kinderkrankheiten, sagt der Direktor, und
es kommt überall vor.
Aber die Dividende wird wohl flöten gehn, meinte Piepenpahl.
Wenn wir nur unsre Dividende nicht schon verfuttert bilden, sagte Vetter Klaus
kleinlaut.
Vetter Klaus, entgegnete Fritze Poplitz, seid doch nicht so ein Angsthase!
In Holzweißig wurde Station gemacht, noch manches Glas Bier getrunken
und eine lauge Erörterung über den Streik angestellt. Aber klarer wurde die
Sache dadurch nicht, obgleich Kantor Mötefind alles zur Diskussion beitrug, was
sein Konversationslexikon darüber zu sagen hatte, und obgleich sich der dicke
Schulze einmal über das andremal auf das Bein schlug und rief: Kinder, Kinder,
thut mir die einzige Liebe! Was soll das uoch werden? Die Schächters und
der Direktor und die Schandarmen und das Schießen! Kinder, Kinder, wer
hatte das gedacht. Nun sitzen wir aber richtig in . . . Blick auf den Herrn
Kantor —
In der Bredulje, sagte der Herr Kantor.
Der Aufstand war also ausgebrochen, und zwar schneller, als man gedacht
hatte, und von einer Stelle aus, die niemand ins Ange gefaßt hatte. Im Sieben-
dorfer Kaliwerke waren die Verhältnisse zwischen den Arbeitern und der Direktion
schon seit längerer Zeit gespannt gewesen. Eines Tages brach dann der Aufstand
los. Die Arbeiter hatten sich nicht bei Kleinigkeiten, wie Lohnerhöhung, aufgehalten,
sondern die Einrichtung eines Arbeitsnachweises gefordert. Das will sagen, die
Direktion sollte zugestehn. daß nicht sie die Arbeiter einzustellen und zu entlassen
habe, sondern daß dies ein Recht der Arbeiter sein solle. Das bedeutete natürlich
die Expropriation des Werkes und den Übergang der Leitung von der Direktion
auf die Arbeitergenossenschaft. Das konnte sich natürlich kein Unternehmer gefallen
lassen. Von da war der Aufstand nach Heinrichshall hiuübergcsprungeu, so wie
die Flamme eines brennenden Hauses auf das Dach eines andern Hauses überspringt.
Brennstoff war jn in Heinrichshall genug vorhanden. Und anch hier stellte man
die Forderung des Arbeitsnachweises.
Der Direktor war auf Reisen, als die Arbeiterdeputation kam, um ihre For¬
derung vorzutragen. Sie mußte sich also an Wandrer wenden.
Sagt einmal, Leute, erwiderte Wandrer, habt ihr euch denn klar gemacht, was
ihr eigentlich fordert?
Hier trat der Wortführer der Deputation vor, ein fremder eben cmgekommner
Agitator und Parteimensch, und sagte: Sie haben nicht nötig, dem Arbeiter klar
Zu machen, was er will, oder was er fordern darf oder nicht. Der Arbeiter ist
würdig, er hat ans seiner Seite das Menschenrecht und die Wissenschaft, er läßt
1>es mit billigen Worten nicht mehr abspeisen.
Wandrer sah den Redner verwundert an und sagte: Ja, wer sind Sie denn
Ngentlich?
Ich bin Arbeiteranwalt, antwortete dieser, Deputierter der Zentral-Gewerk-
ichafts-Genossenschaft.
So? Aber Arbeiter sind Sie nicht. Ich habe mit meinen Arbeitern zu
verhandeln, nicht mit fremden Anwälten und Deputierten.
Sie werden sich aber doch gefallen lassen müssen, mit mir zu verhandeln,
>"gte der Deputierte. Jeder Staatsbürger hat das Recht, sich seinen Anwalt zu
nehmen. „Ihre" Arbeiter haben mich zu ihrem Anwalt gewählt, also müssen Sie
durch mich mit ihnen verhandeln.
Ist das so? fragte Wandrer die Arbeiter.
Ja ja, das ist so, erwiderten diese.
Nun, Leute, fuhr Wandrer fort, wenn das so ist, dann geht in Gottes Namen
wieder nach Hause. Wenn ihr etwas von uns wollt, dann kommt selbst und schickt
nicht fremde Leute. Mit Agitatoren und Parteigrößen verhandle ich nicht. Adieu.
Die Arbeiter zogen ab, nicht wenig verdutzt darüber, daß die Verhandlungen
schon bei der Vorfrage gescheitert waren. Wandrer rief ihnen nach: Erinnert euch,
daß ihr zu vierzehntägiger Kündigung verpflichtet seid. Breche ihr euern Kontrakt,
so verliert ihr alle Rechte.
Die Leute murmelten etwas und gingen ab.
Beim nächsten Schichtwechsel fuhr nur die Hälfte der Bergleute an, und die
Fabrikarbeiter blieben ganz ans. Die Streitenden trieben sich auf deu Wegen, die
zum Werke führten, herum, belagerten das Thor und ließen die Leute, die zur
Arbeit gehn wollten, nicht durch. Hier und da war es schon zu kleinen Prüge¬
leien gekommen. Man mußte aber erwarten, daß sich die Gemüter schnell erhitzen
würden, und daß es zu ernstern Ausschreitungen kommen werde.
Der Direktor war in seinem Wagen nicht weit hinter Fritze Poplitz und Ge¬
nossen hergefahren, doch hatte sich, als er sich dem Werke näherte, insoweit die
Lage geändert, als sich auf der Straße oberhalb des Werkes ein Haufe Menschen
aufgestellt hatte und den Durchgang hinderte. Die Leute erkannten des Direktors
Wagen schon von weitem und schrieen: Der Direktor, der Direktor! Schlagt den
Hund tot. Dabei schwenkten sie ihre Knüppel. Der Direktor wurde leichenblaß. —
Fahr zu, Johann! rief er. — Johann hätte mitten in den Menschenhaufen hinein
fahren müssen und zögerte. Der Direktor riß ihm die Zügel aus der Hand,
schlug auf die Pferde ein, stieß ein Paar Menschen über den Haufen und jagte in
vollem Rennen davon. Es erhob sich ein Wutgeschrei, und man lief die Knüppel
schwingend dem Wagen nach. Der Direktor hatte erwartet deu Weg frei und das
Thor offen zu finden, aber noch ehe er das Werk erreichte, trat ihm ein andrer
Haufe entgegen, während die Verfolger hinter ihm herkamen. Man siel den
Pferden in die Zügel, der Wagen stand. Na warte, du Hund, riefen die Arbeiter,
jetzt haben wir dich. Aber es war mehr auf Unfug, als auf einen ernsten Angriff
abgesehen. — Zieht doch dem Kerl das Fell ab, rief einer aus dem Haufen, und
ein andrer: Taucht ihn doch einmal dort in das Wasserloch, daß er auch einmal
erfährt, wie Wasser schmeckt.
Der Direktor zitterte um ganzen Leibe, zog seinen Revolver, schoß in die
Luft, sprang aus dem Wagen über den Graben in die Büsche und eilte so behende
den Berghang hinauf, wie man es feinen kurzen Beinen und seinem kurzen Atem
niemals zugetraut hätte.
Die Arbeiter schimpften und lachten durcheinander, trieben Johann seinen
Lacklederhut über die Nase, spannten die Pferde aus, jagten sie fort und warfen
den Wagen in den Chausseegraben. Der Direktor stürzte, ohne Hut und mit
zerrissenen Kleidern aus dem Walde herauskommend, und nachdem er über den
Gartenzaun gestiegen war, durch die Hinterpforte in sein Haus, eilte die Treppe
hinauf und durch alle Zimmer bis in das letzte, wo er auf das Pianino kletterte
und atemlos, die Beine an den Leib gezogen, so wie er auf seinem Bureausessel zu
sitzen Pflegte, sitzen blieb und geistesabwesend wie eine Pagode mit dem Kopfe nickte.
Lydia hatte das Schlagen der Thüren gehört und trat ein. Um Gottes
willen, Vater, rief sie entsetzt, was machst du da?
Haut abziehen, Haut abziehen! lallte der Direktor, Schwefelbande verdammte,
soll mir nicht die Haut abziehen. Äh!
Lydia floh zum Zimmer hinaus und rief mit gellenden Tönen nach Johann.
Johann kam eben an mit einer blutigen Schramme auf der Nase, die ihm der ein-
getriebne Hut verursacht hatte. Lydia führte ihn in das letzte Zimmer, das ge¬
samte weibliche Personal folgte nach. Als der Direktor die blutige Nase sah, zog
er die Beine noch höher empor und schrie, mit dem Finger auf Johann zeigend:
Seht ihr, seht ihr, den haben sie schon geschunden. Äh!
Johann sah, was zu thun war, und wollte versuchen, den Herrn vom Pianino
herunter zu holen. — Geht mir vom Leibe, schrie der Direktor, wehrte sich mit
Händen und Füßen und fing an, seine Angreifer zu bombardieren mit allem, was er
erreichen konnte. Der Pianinoleuchter flog in das Bild von Hermann und Dorothea,
und Richard Wagner in den Kronleuchter.
Vater, rief Lydia unter Thränen, Vater, höre doch!
Spinne, erwiderte dieser, Giftkröte! und schnitt ihr ein Gesicht, das lächerlich
gewesen wäre, wenn die Sache nur nicht so ernst gewesen wäre. Darauf flog
Mozart durch die Scheiben zum Feuster hinaus.
Sollen wir nicht Herrn Wandrer rufen? fragte eins der Mädchen.
Ja ja, ruft ihn, er soll schnell kommen.
Wandrer kam, so schnell es möglich war. Inzwischen hatte sich der Direktor
etwas beruhigt. Er nickte nur noch mechanisch mit dem Kopfe.
Direktor, sagte Wandrer mit freundlicher und bestimmter Stimme, schämen
Sie sich. Was macheu Sie da oben? Kommen Sie herab.
Der Direktor schien halb aufzuwachen, sah sich mit verschwimmenden Augen
um und erwiderte: Wandrer, ich wollte, ich hätte Ihre gesunden Knochen, aber
meine Knochen sind von Stearin.
Unsinn! Gleich kommen Sie herab.
Da der Direktor keine Anstalt machte, so sprang Wandrer zu und faßte den
Direktor bei den Armen, während Johann seine Beine erwischte. Sie zogen ihn
von seinem Sitze auf dem Pianino herab und trugen ihn in sein Schlafzimmer ins
Bett. Der Direktor strampelte mit Händen und Füßen, als wenn er schon am
Spieße stäke: Jetzt, jetzt gehts los, jetzt werde ich geschlachtet. Äh! — Es half ihm
nichts. Man zog ihn aus und deckte ihn zu. Aber zwei Mann waren nötig, ihn
im Bett festzuhalten, bis er gänzlich erschöpft war und ruhig wurde. Ob das
psycho-medizinisch richtig war, muß eine offne Frage bleiben. Man verstand es
nicht besser und that, was man für recht hielt. Aber noch lange, ehe hier Ruhe
eintrat, erschien ein Bote, der Wandrer suchte »ut ausrichtete: Herr Wandrer, Sie
möchten gleich hinunter kommen, die Schächters wollten das Thor stürmen.
Nein, Herr Wandrer, rief Lydia, die ganz außer sich war, gehn Sie nicht
fort, bleiben Sie hier, ich fürchte mich.
Ich muß, Frnnlein Lydia.
Nein, ich lasse Sie nicht fort. Sie müssen hier bleiben. Lydia umklammerte
den Arm Wandrers und hielt ihn fest.
Wandrer führte Lydia zum Sofa und setzte sich neben sie. — Seien Sie
verständig, Fräulein Lydia, sagte er. Wenn es jetzt im Hause brennte, und man
^efe mich, würden Sie dann sagen: Nein, bleiben Sie hier. Da unten brennt
^s. Sobald die Gefahr vorüber ist, komme ich wieder.
Ehe Wandrer zum untern Teile des Hofes eilte, von dem her der Lärm
erklang, trat er in den Maschinenraum und ließ die Dynamomaschine angehn.
sogleich leuchteten einige der elektrischen Lampen auf. Unter dem Regendache vor der
Thür des Förderhnuses war Drillhose mit ein Paar Leuten um ein Feuer beschäftigt.
Was machen Sie hier, Drillhose? rief Wandrer; kommen Sie mit.
Bin gleich fertig, erwiderte Drillhose, werde gleich kommen.
Wandrer eilte zum Thore des Hofes. Das eiserne Gitterthor war geschlossen.
Hier stand Rothkamm und erklärte zum zweiundzwanzigsten male, daß er niemand
aufmache, und daß sie sich nach Hause scheren möchten, wenn sie nicht arbeiten
wollten. Worauf ihn die draußen einen ehrlosen Hund nannten und ihm einen
Buckel voll Prügel in Aussicht stellten, wenn er sich draußen sehen ließe. Hier
war also keine Gefahr vorhanden. Aber der Ausgang des Schienenweges war
nur mit einem Lattenthore verschlossen. Und hier drängte eine aufgeregte Menge
von außen, während Rummel und ein paar Beamte und Bergleute bemüht waren,
das Thor geschlossen zu halten. Eine Anzahl von Arbeitern und Bergleuten
stand unbeteiligt dabei, wie die Schmaltiere, wenn sich die Hirsche raufen. >—
Heran hier, rief Wandrer. Aber die Leute betrachteten sich gleichsam als Kampf¬
preis und hatten keine Lust, Partei zu ergreifen. Als Wandrer einen von ihnen
beim Kragen faßte, drückte ihm dieser einen Gummischlauch in die Hand und
verschwand im Dunkeln. Diese Waffe war Wandrer willkommen, denn obgleich er
einen Konstablerstock in der Tasche trug, eine Art Totschläger, wie ihn die Londoner
Polizisten führen, so war ihm der schwere und biegsame Schlauch lieber. Man
konnte damit derb zuschlagen, ohne den Gegner arg zu verletzen.
Gerade als Wandrer an dem Lattenthor ankam, gab dasselbe dem Andrange
nach und ging in Stücken. Die Verteidiger wichen zurück, und die Menge drängte
herein. — Hier kommt niemand herein, rief Wandrer mit Heller Kampfesstimme
und ließ seinen Schlauch auf die Köpfe und Schultern der Hereindrängenden sausen.
Das hatte man nicht erwartet. Man schrie, drohte und wich zurück. Wandrer,
gefolgt von den Steigern und Beamten, drängte, wuchtige Streiche austeilend, nach
und befand sich einem Menschen gegenüber, den er noch nie gesehen hatte. Er
sah in ein gelbes Gesicht, wutfunkelnde Augen und ein blinkendes, zum Stoße
erhabnes Messer. Wandrer suchte sich zu decken, aber sein Gummischlauch war
uicht dazu geeignet. Schon erwog er, ob er den Menschen unterrennen und um¬
fassen sollte, was freilich eine gefährliche Sache gewesen wäre, als an seiner Seite
eine Flamme aufleuchtete, und eine Fackel dem Menschen unter die Nase fuhr, und
Drillhose mit seinen schmerzlichsten Tönen rief: Da riech dran, du Meuchelmörder! —
Zugleich erschienen noch einige Fackeln, vor denen sich die Angreifenden eiligst zurück¬
zogen. Ein paar Menschen, die über die Planke steigen wollten, wurden wieder
hinausgeräuchert. Die Unentschiednen gewannen Mut, griffen zu und rühmten sich
hernach ihrer Heldenthaten. Und so war der Angriff glücklich abgeschlagen.
Wandrer wandte sich aufatmend zu Drillhose, reichte ihm die Hand und sagte:
Das haben Sie gut gemacht, Drillhose. Das werde ich Ihnen gedenken.
Drillhvse strahlte und erbat sich die Erlaubnis, an der Stelle des zertrüm¬
merten Thores aus seinen Materialien eine Barrikade zu errichten. Diese Erlaubnis
erhielt er natürlich, und sogleich machte er sich mit Feuereifer und Sachverständnis
an die Arbeit. Alle Hände griffen zu, und es währte nicht lange, so war der
Schaden ausgebessert. Es wurden Posten aufgestellt, an alle vier Ecken des Werkes
stellte Drillhose einen seiner Leute mit einer Trompete auf. Das wäre nicht nötig
gewesen. Es fiel ein sanfter Regen, und der hat sich in aufgeregten Zeiten schon
immer als ein ausgezeichnetes Beschwichtigungsmittel bewährt.
Die nächsten Tage vergingen eintönig und trübe. Es war, als wenn nichts
gewesen wäre, und doch fühlte man sich keinen Augenblick sicher. Der Nest der
Arbeiter, der sich nicht am Aufstande beteiligt hatte, wurde immer kleiner. Es
gehörte auch etwas dazu, sich jedesmal, wenn es zur Arbeit ging, durchschlagen
oder durch eine Gasse schmähender und drohender Genossen durchdrängen zu
müssen. Ein einzelner Mann kam überhaupt uicht durch. Überall ans den Zu¬
gangswegen standen Streikposten. Wandrer sah ein, daß das nicht so fortgehn
konnte. Er machte den Arbeitern den Vorschlag, sich auf dem Werke einzuquar¬
tieren, richtete die Lagerräume zu Wohnräumen ein, ließ in der Kantine für die
Arbeiter kochen und sorgte für große Vorräte von Lebensmitteln. Einzelne nahmen
es mit Dank an, andre, besonders die Hausbesitzer in Holzwcißig, trugen Bedenken,
ihre Häuser ohne Aufsicht zu lasse». — Aber Leute, sagte Wandrer, seht ihr denn nicht
ein, daß eure Häuser hier verteidigt werden müssen? Wenn das Werk Schaden
leidet und seine Arbeiter entlassen muß, dann stehn eure Hänser leer, und ihr seid
ruiniert. — Ja ja, sagten die Hausbesitzer, das ist so. Aber einige gingen doch davon.
Rummel, sagte Wandrer zu dem Obersteiger, ist denn der Zugang zur toten
Strecke vermauert?
Nein, Herr Wandrer, erwiderte Rummel, der Herr Direktor wollte es nicht
haben. Es müßten jetzt alle Stellen in Angriff genommen werden.
Wandrer unterdrückte einen Ausruf des Unwillens und sagte: Dann lassen
Sie die tote Strecke gleich schließe».
Wir haben keine Maurer, Herr Wandrer.
So versetzen Sie den Zugang mit Holz. Aber beeilen Sie sich, bitte.
Wandrer wandte sich ab und seufzte. Er erkannte den Ernst der Lage und
die Schwere der Verantwortung, die auf ihn fiel. Er hatte das Unheil kommen
sehen, er hatte gewarnt, aber immer mir vergeblich. Nun, wo es zur Entscheidung
kam, spannte der Direktor aus, und er mußte eintreten und sür die Fehler auf¬
kommen, die andre gemacht hatten, und die Verantwortung übernehmen für ein
Werk, das einen Wert von Millionen darstellte, und für das Wohl von Hunderten
von Arbeitern, deren Existenz mit der des Werkes verbunden war. Zürnen konnte
er dem Direktor nicht. Der arme Mann war schwer genug bestraft. Er lag mit
fieberglänzenden Augen apathisch in seinem Bette wie einer, der mit dem Leben
abgeschlossen hat, sich aber vor dem Gnadenstöße, der ihm den Garaus machen soll,
fürchtet. Da nun kein andrer da war, so mußte freilich er die Last auf sich
nehmen. Er erinnerte sich in Ägypten gesehen zu haben, wie die Kamele, wenn
sie beladen werden, erbärmlich stöhnen und beißen, aber wenn sie erst auf die
Beine gebracht sind, unverdrossen ihre Last tragen. Er verglich sich im stillen
mit einem solchen Kamele, lachte und stellte sich auf die Beine, das heißt griff
frisch z« und ließ sich von des Gedankens Blässe nicht weiter ankränkeln.
Nach gemessener Zeit, das heißt keineswegs eilig, kam Herr Doktor Duttmüller,
um nach dem Patienten zu sehen. Es war dem Doktor Dnttmüller höchst unbehaglich
zu Mute. Unruhe und außerordentliche Ereignisse konnte er durchaus nicht leiden.
Früh auf die Praxis, dann ordentlich essen, abends in das Hauptbuch eintragen,
was man verdient hatte, und alle Vierteljahre die Rechnungen ausschreiben, das
war ihm das liebste. Er war sich dessen bewußt, daß er die Honorarschranbe
etwas kräftig ungezogen habe, und daß seine Krankenkasscnpatienteu immer
erst dann drangekommen waren, wenn die zahlenden Patienten besorgt worden
waren. Er merkte wohl, daß das Volk ihm nicht besonders günstig gesinnt war.
Daraus hatte er sich solange nichts gemacht, als er die Macht auf seiner Seite
wußte. Jetzt änderte sich die Lage; man sah, daß die Arbeiter ihren eiguen
Willen und eigne Kraft hatten. Und was daraus alles noch werden konnte, wer
mochte das wissen? Und so hatte er vor den Ohren seiner Frau, seiner
Mutter und seiner Schwägerin eben erst mit großer innerer Überzeugung den Satz
vertreten, daß der Arzt über den Parteien stehn müsse. Der Arzt dürfe weder
sozial noch konservativ sein, sondern den Konservativen ein Konservativer und den
Sozialen ein Sozialer. — Jawohl, hatte Ellen dazu gesagt, um von den Konser¬
vativen konservatives und von den Sozialen soziales Geld zu verdienen, ein rühm¬
licher und praktischer Stnndpuukt. — Und nun tum dieser unglückselige Direktor.
Und nun mußte er die Ära seines neuen Standpunkts damit einleiten, daß er
hinaus aufs Werk fuhr und in das Haus des verhaßtesten Mannes der Gegend
trat. Das war ihm sehr fatal, ließ sich aber nicht ändern, ebensowenig, daß er
sehen mußte, wie sein Vater auf offner Straße einem Kreise von Arbeitern medi¬
zinische Vorlesungen hielt, und daß diese Arbeiter hinter ihm, dem Manne der
Wissenschaft, her spotteten.
- Doktor Duttmüller besichtigte den Kranken mit dem gebührenden Ernste, ließ
sich Bericht erstatten, sagte: Hin ja! zählte den Pulsschlag, was sich der Kranke
Sühneklappernd gefallen ließ, und äußerte sich dahin, daß der Zustand in Verbindung
unt Hysterie und Herzverfettung eine nervös-maniakalische Schwache darstelle, falls
nicht das vorhandne Fieber den Beginn einer Hirnhautentzündung indiziere. Lydia
hatte mit angstvollen Blicken dem Verdikte der Wissenschaft zugehört, hatte sich aber
daraus nicht bestimmt vernehmen können. Im Grunde genommen der Doktor
auch nicht. Nun hatte er die Gewohnheit, wenn er im unklaren über einen Zu¬
stand war, den Kranken zu perkutieren, wobei jedenfalls Zeit gewonnen wurde.
Aber der Kranke ließ sich nicht an deu Leib kommen. Jetzt gehts los, schrie
er, jetzt gehts los! und strampelte mit den Beinen. Und als ihm das Thermo¬
meter unter den Arm gesteckt werden sollte, hielt er es für ein Messer und fing
an zu wüten. Es war nichts zu machen. Da nun jedenfalls etwas verordnet
werden mußte, so verordnete Duttmüller salicylsaures Natron, diesesmal in Ver¬
bindung mit Chinin und Himbecrsirup. Darauf wurde ein Bote in die Apotheke
geschickt, und als dieser außer Atem mit seinem salicylsauern Natron wieder ange-
kommen war, und man dem Patienten seine Medizin mit vieler Mühe beigebracht
hatte, konnte man sich bei dem Bewußtsein beruhigen, daß alles geschehen sei, was
die ärztliche Kunst vermochte.
Wandrer brachte Louis Duttmüllcr zu seinem Wagen zurück. Beim Abschied
betrachtete Louis seine schöne Hosenfalte und sagte: Ich verstehe nicht, Wandrer,
warum habt ihr es eigentlich zum Streik kommen lassen? Davon hat doch kein
Mensch etwas.
Unzweifelhaft richtig, erwiderte Wandrer, davon hat kein Mensch etwas.
Könntet ihr denn nicht den Leuten entgegenkommen? Man liest es ja überall,
daß den sozialen Forderungen ein berechtigter Kern innewohnt. Es ist doch den
Leuten nicht zu verdenken, wenn sie ihre soziale Lage verbessern wollen, und da
müssen denn doch die Besitzenden nachgeben.
Du zum Beispiel, sagte Wandrer, gieb du doch nach, praktiziere du doch
gratis. Nein, alter Freund, du bist zwar ein gelehrtes Haus, aber das sind Dinge,
die verstehst du nicht. Adieu. Hier ist übrigens noch ein Brief, deu du Fräulein
Ellen mitbringen möchtest. Duttmüller nahm den Brief und empfahl sich etwas ver¬
stimmt. Wie kam dieser Wandrer dazu, zu behaupten, er verstehe nichts von der
sozialen Frage, von der doch jeder etwas versteht?
Eine halbe Stunde später trat Ellen in das Zimmer ihres Vaters. Sie hatte
Lydias Brief geöffnet in der Hand. Lydia schrieb: Ellen! Frage nicht, was ge¬
schehen ist. Ich kann es nicht sagen. Aber es ist furchtbar. Mein armer Vater! Ich
bin völlig gebrochen, ich kann nicht mehr. Ellen, komm und hilf. — Lydia.
Ellen setzte sich hinter ihres Vaters Lehnstuhl auf einen Sessel, strich ihm leise
über die spärlichen weißen Haare und sagte: Pa, hör mal zu.
Pa, der beschäftigt war, dicke Rauchwolken aus seiner Pfeife aufsteigen zu
lassen, ließ die Pfeife sinken und sagte: Was denn, Schnncki?
Ich muß sogleich nach Heinrichshall.
Geh nicht hin, Schnucki. Dort ist der Teufel los. Die Kerls sind ja ganz
rabiat. Nächstens fangen sie an zu schießen, und mich solls wundern, ob sie nicht
die Bude anstecken.
Das kann schon sein, aber ich muß doch hiu. Der Direktor ist übergeschnappt,
und Lydia ruft um Hilfe.
So? Da willst du wohl den Direktor kurieren?
Du bist ein ganz alter schlechter Pa. Kurieren mag ihn Louis. Aber es muß
jemand dort die Zügel in die Hand nehmen, denn Lydia scheint mir auch schon ein
bischen übergeschnappt zu sein. Du weißt doch, daß ich vou Beruf Tante bin, und
Tanten müssen kommen, wenn man sie ruft.
An deiner Stelle, sagte Pa, würde ich mich fürchten, Schnucki.
Fürchten? Aber Pa! Die Tochter eines alten Soldaten wird sich doch nicht
fürchten!
Und wie willst du denn überhaupt hinkommen?
Ich fresse mich durch wie Schwefelsäure, wie Klapphoru sagt. Ein paar
Tage wirds wohl dauern, bis ich wieder komme. Adieu, alter Pa. — Sie
streichelte ihm die weißen Haare. — Sei hübsch artig und begehe keine jugendlichen
Thorheiten. — Und damit schlüpfte sie zur Thür hinaus. Darauf kehrte sie noch¬
mals zurück, steckte den Kopf durch die Thür und sagte: Adieu, alter Pa, auf
Wiedersehen.
Bei Mama faßte sich Ellen kürzer. Adieu, Mama, sagte sie, ich muß ein paar
Tage zu Lydia uach Heinrichshall. Rosa wird mir die Tasche tragen. — Mama
war damit beschäftigt, sich Alices Kopf über eine wichtige Wirtschaftsangelegenheit
zu zerbrechen. Sie hörte zerstreut zu und winkte nur flüchtig mit der Lorgnette
Gewährung. Rosa aber hatte es sich ausdrücklich ausgebeten, Ellen zu begleiten
und ihr die Tasche zu tragen, was für eine perfekte Köchin nicht wenig bedeutete.
Bald darauf verließen Ellen und Rosa den Fronhof, Ellen voraus, deu
Sonnenschirm in der Hand, Rosa hinter ihr her, mit geröteten Wangen nach Kognak
duftend und mit schwärmerischen Blicken. Hinter dem Thore stand ein Bergmann,
eine verwegne breitschultrige Gestalt, einen Knüppel in der Hand. Als Rosa
vorüberging, nickte sie ihm gnädig zu, und er schloß sich als dritter dem Zuge an.
Ellen kam an mancher Gruppe finster blickender Bergleute vorüber, erhielt aber
überall auf ihren freundlichen Gruß eine halb verlegne freundliche Antwort, als
dächten die Leute: Wir müßten dich eigentlich auch zu den Feinden rechnen, aber
weil du so ein saubres Mädel bist, soll einmal nicht gerechnet werden. Wenn aber
hinter ihr Rosa stolz angesegelt kam, verzogen sich die Mienen zu einem freundlichen
Grinsen, und mancher riskierte ein derbes Scherzwort. Sobald aber das Scherz¬
wort etwas zweideutig wurde, rückte der bewußte Bergmann heran und machte mit
seinem Knüppel unzweideutige Bewegungen.
So kam man ungefährdet bis an das Thor des Werkes. Hier sah es äußerst
kriegerisch aus. In die Wand des Pförtnerhäuschens waren Schießscharten ge¬
brochen. Die nach außen gehenden Fenster waren verrammelt, das eiserne Gitter¬
thor hatte eine Ausfüllung vou dicken Planken erhalten. Über die Planken schaute
Drillhose mit grimmiger Miene.
Gnädiges Fräulein, rief er ganz entsetzt und in seinen kläglichsten Tönen, was
wollen Sie denn hier?
Machen Sie nur auf, erwiderte Ellen, ich bin hier nötig.
Bald darauf trat Ellen wohlgemut in des Direktors Wohnung, wo gerade
Wandrer beschäftigt war, die höchst aufgeregte Lydia zu beruhigen, und sagte mit
heiterm Tone: Da bin ich. Aber im stillen — es war lächerlich, so etwas zu
fühlen, aber es war doch so — fühlte sie eine Regung von Eifersucht. Was
hatte Onkel Felix mit Lydia zu thun? Lydia warf sich leidenschaftlich an den
Heils vou Elleu und brach in einen Strom von Thränen aus. Mein Vater, mein
"rmer Vater, rief sie.
Ellen tröstete, wie sie konnte. — Was wird denn sein? sagte sie. Dein Vater
sich überanstrengt, da streiken die Nerven und machen Dummheiten ans eigne
Rechnung. Nicht wahr, Onkel Felix?
Jawohl, Tante Ellen.
Na also. Das kommt heutzutage in den besten Familien vor. Man bringt
°en Patienten ein paar Monate uach Blankenburg, und dann ist alles wieder gut.
^icht wahr, Onkel Felix?
Jawohl. Tante Ellen.
Siehst du. Wer nicht schon seinen Nervenchoc gehabt hat, darf eigentlich
heutzutage gcir nicht mitreden. Mama hat ihren Nervenchoc alle Jahre zweimal
und ist doch eine sehr kluge Frau. Nicht wahr, Onkel Felix?
Unzweifelhaft. Tante Ellen.
Ellen blieb bis auf weiteres da, steckte Lydia ins Bett und richtete sich häus-
uh ein, sah überall nach, wo es not that, organisierte die große Küche in der
Kantine und pflegte den Direktor. Die Bergleute sahen ihr, wenn sie über den
»abrikhof eilte, um hier in der Kantine Anordnungen zu treffen und dort Vorräte
abzunehmen, schmunzelnd nach. Und Onkel Felix auch.
Wandrer hatte natürlich sogleich an die Gesellschaft berichtet. Darauf kam
ein Mitglied des Aufsichtsrates an, Herr Wolfsohu, den wir schon kennen. Herr
Wolfsohn hatte es sehr eilig. Er machte ein sehr wichtiges Gesicht, billigte
alles, was geschehen war, und überließ alles, was geschehen mußte, der Einsicht
Wandrers, äußerte sich wenig respektvoll über den Direktor und fuhr vor Abend
wieder fort, gleich als wenn die Krankheit Wenzels ansteckend wäre.
Auch hatte der Herr Amtsvorsteher an den Herrn Landrat berichtet, den Tumult
in Heinrichshall in lebhaften Farben geschildert und weitere Ausschreitungen in Aussicht
gestellt. Darauf verfügte der Herr Landrat sogleich das Erforderliche, wies den Wacht¬
meister Kratzenstein, der sonst alle Dienstage und Freitage nach Holzweißig zu
kommen Pflegte, an, täglich nach Holzweißig und Siebendorf zu reiten und ihm
jeden Abend Rapport zu bringen. Wachtmeister Kratzenstein traf also täglich um
zehn Uhr in Holzweißig ein, woselbst er zunächst auf Kosten des Schulzen früh¬
stückte. Darauf beriet er die Straßen und Wege zwischen Holzweißig, Heiurichshall
und Siebendorf, verhinderte Volksauflaufe, schnäuzte harmlose Menschenkinder an
und ging gefährlichen Kumpanen klüglich aus dem Wege. Darauf wandte er sich
nach Heiurichshall, frühstückte in der Kantine abermals bis in den Nachmittag hinein,
ritt dann nach Siebendorf, wo er seine dienstliche Thätigkeit in gleicher Weise fort¬
setzte. Vor Dunkelwerden war er wieder in Braunfels bei Muttern, was für ihn
und seinen steifen Gaul sehr vorteilhaft war. Um acht Uhr hatte der Herr Land¬
rat seinen Rapport, der am andern Morgen von dem Herrn Kreissekretnr gelesen
wurde, und um neun Uhr lag Wachtmeister Kratzenstein in den Federn, mit dem
Bewußtsein, seine Schuldigkeit als Stütze des Staates voll und ganz gethan zu
haben. Es gab Leute, die meinten, es wäre die Aufgabe der Polizeiorgane ge¬
wesen, die Arbeitswilligen, die das jedenfalls berechtigte Verlangen hatten, nicht
müßig herum zu stehn, sondern für Frau und Kinder Brot zu verdienen, gegen
Zwang und Gewaltthat zu schützen; aber davon stand nichts in Kratzensteins In¬
struktion. Sein Gemüt war nur auf Landfriedensbruch, Hausfriedeusbruch, Sach¬
beschädigung und den groben Unfugsparagraphen gerichtet. Und so blieben die
Streikposten ruhig stehn, und es gab Schmähreden und Schlägerei, wenn die Ar¬
beiter, die aller Verhetzung zum Trotz die Arbeit nicht niedergelegt hatten, vor¬
über kamen.
Als der Herr Wachtmeister zum drittenmal erschien, brachte er in seiner Dienst¬
tasche eine Requisition des Herrn Staatsanwalts mit, durch die der Amtsvorsteher
in Asseborn veranlaßt wurde, einen gewissen Alois Duttmüller zu vernehmen, gegen
den die Anzeige vorlag, durch Kurpfuscherei den Tod eines Menschen verursacht zu
haben. Der Herr Wachtmeister, der den Brief unverschlossen überbrachte und ihn
natürlich gelesen hatte, beschloß eine Voruntersuchung anzustellen. Er trat also
mit besondern? Ernste bei Schwersenz ein. So hatten sich die Zeiten geändert, die
Optimalen mußten sich mit den kleinen Räumen bei Schwersenz begnügen, während
das Hauptquartier der Sozialdemokraten bei Hnppich aufgeschlagen war. Der Herr
Wachtmeister ließ sich zum Frühstück nieder und brachte die Rede mit inquisitorischer
Feinheit auf Alois Duttmüller. Wo der sich aufhalte?
Duttmüller? Da sitzt er ja drin.
Der Wachtmeister beendete den ersten Teil seines Frühstücks, dann zog er
seine weißen Lederhandschuhe wieder an, erhob sich, erschien als Hüter des Gesetzes
in der Thür und winkte. Dieses Winken galt Alois Dnttmüller. Aller Augen waren
auf Dnttmüller gerichtet. Aber dieser, der in dem schon vorgeschrittueu Anfange
seines Quartalssnffes stand, ließ sich nichts anfechten, sondern trank ruhig weiter.
Jetzt schritt der Wachtmeister auf ihn zu, legte die Hand schwer auf seine
Schulter und sagte: Wie heißen Sie?
Dnttmüller, der in seinem Leben reiche Erfahrungen mit Gendarmen gesammelt
hatte und sich von dem grünen Rocke nicht imponieren ließ, schüttelte die Hand
ab und sagte: Nann! Wild will denn dieser Kolkrabe von mir?
Wie Sie heißen? — Um seinen Worten Nachdruck zu geben, schüttelte der
Wachtmeister den Delinquenten an der Schulter.
Ick habe nich jestohlen und ooch nich jebettelt, also bitte ick mir aus, dat Sie
mir anständig befummeln, wenn Sie mit mir reden. Versteh» Sie? Hier, wo ick
der Mann von die Wissenschaft bin.
Wie Sie heißen, will ich wissen.
Wenn Ihnen so viel daran liegt, dann lassen Sie sich doch meinen Doofschcin
aus Köpenick kommen. Übrigens heiße ick Alois Duttmüller.
Sie sind angezeigt, daß Sie Kurpfuscherei getrieben haben sollen.
'
Angezeigt? Als wie late? Dat s ne Jemeinheit, is et. Kurpfuscherei? Ick
mochte wohl wissen, wer doller pfusche, die Doktors oder ick. Hier, wo ick dem
alten Schafer Matthias sein Buch habe, wo alles drin steht von der sauern Gärung
und deu Porussen.
Haben Sie eine gewisse Emma Krüger behandelt?
Hab ick, und nur ausjezeichnet behandelt.
Sie sollen den Tod dieses Mädchens verursacht haben.
I, wo werde ick denu? Solange, als ick ihr behandelt habe, jing et jroß-
artig; als sie aber in die Klauen von diese Doktors jefcilleu is, da war et natürlich
Trallarum.
Sie gestehn also zu, daß der Inhalt der Anzeige auf Wahrheit beruht.
'
Anzeije? Wer hat mir denn cmjezcigt? Dat s eine Jemeinheit, is et. Dieser
Denunziant kann nur der Doktor, mein saubrer Louis gewesen sein, denn der
gönnt seinem alten Vater nicht einmal ein Stückchen Brot, oder die Karnallje,
meine Alte. — Alois Duttmüller erhob sich, nahm eine hochtragische Haltung an
und rief: Wer hat mir denunziert, ick muß et wissen, Herr Oberstwachtmeister,
hier, wo ick in meine heiligsten Jefühle blamiert bin.
Der Wachtmeister hätte am liebsten geantwortet: Schweigen Sie, ich verhafte
Sie im Namen des Gesetzes, hätte die Handschellen vorgezogen und den Übelthäter
vor den Augen des erschrocknen Publikums abgeführt, aber er durfte das nicht.
Er hatte ja nur eine Voruntersuchung angestellt und durfte dem Herr» Amtsvor¬
steher uicht vorgreifen. Und so nahm er aus seiner Tasche, die von einem Haufen
Signalements und Steckbriefen überfloß, das betreffende Schreiben und las: Auf
die Anzeige der verwitweten Duttmüller — und so weiter. Dn hören Sie es ja.
Ick habe et jewußt, erwiderte Duttmüller mit dumpfem Grollen, keine andre
"is diese Karnnllje war sowas kompafel. Und wat? Verwitwete nennt sie sich?
Als ob ick nich ihr eheleiblicher Ehejatte wäre? Verwitwete Duttmüllern! Meine
Herren, lebe ick, oder lebe ick nich? Herr Oberstwachtmeister, dat is Urkundenfälschung
und wird mit zehn Jahren Zuchthaus oder verhältnismäßigen Gefängnis bestraft.
Und wenn et Jerechtigkeit in der Welt jiebt, dann müssen Sie jetzt hinjehn und ihr
verarretieren. Und jriißeu Sie ihr von mir und sagen Sie ihr, eine halbpfündige
Dhnamitpatrone unter ihren Stuhl legen und dann losgeschossen, das wäre das
jcsündeste für ihr.
Damit stülpte er seinen Cylinderhut auf deu Kopf, daß der Hut zu den vor-
handnen noch einige neue Knicke bekam, ergriff den Kugelstock und sein Buch und
schwankte hinaus. — Laufen Sie nicht davon, Duttmüller, rief ihm der Wacht¬
meister nach, nur kriegen Sie doch. Ihre Sache kann Ihnen ganz gut drei Jahre
einbringen: Fahrlässige Tötung unter Vorspieglung falscher Thatsachen.
Alois Duttmüller, empört bis in das Tiefste seines Herzens, sowohl über die
Schlechtigkeit seiner Gattin im besondern, als auch über die Schlechtigkeit der Welt
wi allgemeinen, daß er für die Wohlthat, die er der Menschheit als Natnrdoltor
erwies,' drei Jahre brummen solle, begab sich wankenden Schrittes zu Happich.
Hier wurde er trinkend bis zum Abend in einer Gruppe vou Schachteru gesehen,
die als gewaltthätig bekannt waren. Am nächsten Morgen fand das Dienstmädchen
eine Dhnamitpatrone. deren Zündschnur erloschen war, vor der Thür von Louis
Duttmüllers Wohnung. Sie erschrak furchtbar. Auf ihr Geschrei versammelte sich
d"s ganze Haus. Duttmüller war ganz konsterniert. Sollte die Verwilderung
der Arbeiter schon soweit gegangen sein, daß man selbst die Wissenschaft nicht mehr
als unverletzlich ansah? — Da kannst du dich drauf verlassen, sagte die alte Dutt¬
müllern, das ist niemand anders als der Luribams gewesen!
Sie konnte wohl Recht haben. Alois Duttmüller aber war von diesem Tage
an verschwunden.
Dr. Wilhelm Breitenbach hat in einem Vortrage kurz
und klar dargestellt, was von Linne angefangen jeder einzelne Gelehrte zum Aufbau der
Wissenschaft der Biologie beigetragen hat. Der Vortrag ist unter dem Titel: Die
Biologie im neunzehnten Jahrhundert als zweites Heft der vom Verfasser im
eignen Verlag (Odenkirchen, 1901) herausgegebnen dnrwimstischen Vortrüge und
Abhandlungen erschienen. — Im ersten Heft dieser von Haeckel laut seinem vor¬
gedruckten Briefe sehr beifällig aufgenommnen Sammlung stellt Professor Dr. L. Plate
nnter dem Titel: Die Abstammungslehre (mit 8 Abbildungen) zusammen, was
die Paläontologie, die „Unmöglichkeit einer Artdefinitivn" jsollte es wirklich
unmöglich sein, das Agnus Iwwo saxisns von den „übrigen Tieren" zu unter¬
scheiden?^, die Embryologie, die vergleichende Anatomie, die Physiologie und die
Geographie an Beweismaterial für die Descendenzlehre liefern. — Beiden übrigens
brauchbaren Schriftchen ist vorzuwerfen, daß sie die seit einigen Jahren im Darwinismus
eingetretue Krisis nicht erwähnen. In diese läßt uns der Würzburger Professor
or. Remigins Stölzle sehen, dessen Werk über Karl Ernst von Baer wir seiner¬
zeit angezeigt haben, in dem Buche: A. von Köllikers Stellung zur De¬
scendenzlehre. Ein Beitrag zur Geschichte moderner Naturphilosophie. (Münster i. W.,
Aschendorff, 1901.) Der Anakan Kölliker bekennt sich zwar mit der überwiegenden
Mehrheit der heutigen Naturforscher zur Entwicklungslehre, lehnt aber die Ansicht
Darwins ab, daß sich die Arten durch Anpassung an äußere Verhältnisse in unmerk-
lichen kontinuierlichen Veränderungen gebildet haben. Er nimmt eine innere Ursache
an, die nach einem Plane auf dem Wege sprunghafter Veränderungen die ver-
schiednen Arten erzeugt. Er lehnt anch Weismanns Theorie ab und bestreitet be¬
sonders, daß es von den vergänglichen Körperzellen verschleime „unsterbliche" Keim¬
zellen gebe, in denen Weismann bekanntlich die Träger der Vererbung sieht.
Kölliker erklärt übrigens Nußbaum für den eigentlichen Vater dieser Theorie. Ein
andrer Biolog, O. Hartwig, meint sogar, Theorien wie die Weismannsche von der
Kontinuität des Keimplasmas bedeuteten eigentlich den Verzicht auf Erklärung.
Stölzle seinerseits schreibt: die Welt und das Leben ohne Gott erklären wollen,
das heiße die Welt aus nichts stellen und auf Erklärung verzichten. Er stimmt
Carl Jentsch bei, der in der Schrift „Sozialauslese" gesagt hat, die anhaltende
Beschäftigung mit Einzelheiten schwache die Fähigkeit, den Zusammenhang der Dinge
im großen wahrzunehmen. Stölzle erinnert daran, daß das Schopenhauer etwas
unhöflicher ausgedrückt hat. Da er die Stellen, auf die er hinweist (Ausgabe von
Grisebach 11. 207 und 111, 182). nicht abdrückt, wollen wir es thun. „Wir sehen
heutzutage die Schale der Natur auf das genauste durchforscht, die Intestina der
Intestinalwürmer und das Ungeziefer des Ungeziefers haarklein gelaunt: kommt
aber einer, wie z. B. ich, und redet vom Kern der Natur, so höre» sie nicht hin,
denken eben, es gehöre nicht zur Sache und klauben an ihren Schalen weiter.
Jene überaus mikroskopischen und mikrologischen Naturforscher findet man sich ver¬
sucht, die Topfgucker der Natur zu nennen. . . . Gewissen Herren vom Tiegel und
der Retorte muß beigebracht werden, daß bloße Chemie wohl zum Apotheker, aber
nicht zum Philosophen befähigt." — Wenn der Kirchenhistoriker Friedrich Nippold
ein Kollegiales Sendschreiben an Ernst Haeckel richtet (Berlin, C. A.
Schwetschke u. Sohn, 1901) und einen Abdruck seiner Antrittsrede vom 10. Mai 1884
über die Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode auf die Religionsgeschichte
beigiebt, so erwartet man, er werde dem Kollegen sagen: dn hast nicht bloß in
deiner Kritik der christlichen Religion, sondern sogar in deinem eignen Fach gegen
die naturwissenschaftliche Methode gesündigt. Dem befreundeten Kollegen so grob
zu kommen, hat er jedoch nicht übers Herz gebracht. Immerhin aber sagt er ihm
ziemlich derb, daß er sich leichtgläubig von unkritischen Autoritäten hat hineinlegen
lassen, und ermahnt ihn, in Zukunft seine Waffen nicht gegen das Christentum,
sondern bloß gegen die Obskuranten zu kehren, die das Christentum mißbrauchen.
Vielleicht trägt es einiges dazu bei, ein
besonnenes Urteil über die Frauenbewegung zu erleichtern, wenn wir auf den Unter¬
schied zwischen den zwei Fragen aufmerksam machen: Sollen auch Bciuerujuugen
studieren? Sollen alle Bnuernjungen studieren? Fest steht, daß viele Frauen zu
Berufsthätigkeiten verschiedner Art Lust haben, und daß einzelne für gewisse Berufs¬
thätigkeiten hervorragend befähigt sind. Fest steht ferner, daß viele Frauen ge¬
zwungen sind, sich ihr Brot zu verdienen. Fest steht endlich, daß der Beruf der
Mutter und Hauswirtin die meisten der Frauen, die so glücklich sind, Kinder und
einen eignen Haushalt zu bekommen, nur einige Jahre vollständig in Anspruch
nimmt, und daß es kein idealer Zustand ist, wenn sie die größere Hälfte ihres Lebens
ihre Zeit in geschäftigem Müßiggang totschlagen. Die Bauernfrauen haben zu alleu
Zeiten die Frage in der Weise gelöst, daß sie sich mit dem Manne in die Berufs¬
arbeit teilen, was in den meisten übrigen Berufen leider nicht möglich ist. Die
durch ihre Agitation für den Schutz arbeitender Frauen bekannte Helene Simon
und die weniger bekannte Adele Gerhard haben (bei Georg Reimer in Berlin 1901)
ein Buch über die große Streitfrage herausgegeben: Mutterschaft und geistige
Arbeit. Eine psychologische und soziologische Studie auf Grundlage einer inter¬
nationalen Erhebung mit Berücksichtigung der geschichtlichen Entwicklung. Das Buch
hat viel Arbeit gekostet und bezeugt gründliches Wissen. Dazu ist es ein höchst
interessantes und unterhaltendes Buch, denn es besteht zum größten Teil aus Hunderten
von biographischen Skizzen und Bekenntnissen bedeutender Frauen der Vergangen¬
heit und der Gegenwart. Wir wollen diesen Schatz nicht plündern; wer von unsern
Leserinnen sich daran erfreuen und Belehrung daraus schöpfen null, mag sich das
Werk kaufen. Nur das eine müssen wir mitteilen, daß die den Grenzbotenlesern
bekannte Magdalene Thoresen zu den Frauen gehört, die die glücklichste Lösung
des Konflikts zwischen der Mutterpflicht und der durch die Himmelsgabe des Genies
auferlegten Pflicht gefunden haben, indem sie den Beruf, zu dem ihr Talent sie
drängt, erst auszuüben anfangen, nachdem ihre Kinder herangewachsen sind. Die
Verfasserinnen schließen, wie schon der Titel meldet, die körperliche Arbeit von ihren
Untersuchungen aus und zeigen an den mitgeteilten Beispielen, in welchem Grade
und in welcher besondern Weise jeder der den Frauen zugänglichen künstlerischen,
wissenschaftlichen und Bcamtenberufe mit ihrem Mutterberufe vereinbar ist oder in
Konflikt gerät. Die unvermeidlichen, oft tragisch verlaufenden Konflikte werden weder
geleugnet noch abgeschwächt, es wird vielmehr der Grundsatz aufgestellt: die Unter¬
drückung des Schaffenstriebes würde eine nicht minder unbillige Beeinträchtigung
Frau bedeuten als die Verkümmerung ihres Geschlechtslebens und würde zudem
die Allgemeinheit schädigen; wenn ein unersetzlicher Kulturwert in Frage kommt,
lo ist für die Berufsarbeit zu entscheiden, mag auch der Mutterberuf darunter
leiden. Das ist z. B. der Fall, wenn die Frau eine Schauspielerin oder Sängerin
^'n hervorragender Begabung ist. obgleich sich gerade der Beruf der Schauspielerin
u»d der Sängerin mit der Erfüllung der Mutterpflichten schlechter verträgt als
leder andre. (Nämlich der der Opcrnsängerin; bei der Konzertsängerin hat der
Miitterberuf weit weniger zu leiden.) Man wird diesem Grundsatze beistimmen
können, aber wohl fragen dürfen, ob gerade beim Schauspiel unersetzliche Kultnr-
werte in Frage kommen Das unersetzliche Gut, das dem Primaner sein Schiller,
de>" gereiften Manne sein Goethe oder sein Shakespeare beschert, wird durch den
Besuch von Aufführungen seiner liebsten Stücke eher vermindert als vermehrt, der
Kulturwert vieler moderner Schriftsteller aber, die man freilich nur im Theater
kennen lernen kann, weil sie kein vernünftiger Mensch liest, ist schon damit genau
genug abgeschätzt. — Wir zeigen bei der Gelegenheit noch ein Broschürchen an, das
von den körperlich arbeitenden Frauen handelt: Die Erwerbsthätigkeit der
Frau in der Industrie und ihre sozialhygienische Bedeutung von Dr. M. Epstein,
praktischem Arzt in München (im Verlngsinstitut für Sozinlwisfenschafteu des
Dr. Eduard Schnapper in Frankfurt a. M. 1901 erschienen). Epstein kommt zu
dem Ergebnis: die Fabrikarbeit darf den verheirateten Frnueu nicht verboten werden.
Das Verbot würde teils die Zahl der wilden Ehen vermehren, teils die Not der
ärmern Familien steigern, teils die Frauen in die ökonomisch weniger wertvolle
Hausindustrie treiben, in keinem dieser Fälle aber die Kinderpflege verbessern. Die
noch vorkommenden Übelstände sind also nur durch weitern Ausbau der Schntz-
gesetzgebnng zu bekämpfen. „Für den Hygieniker handelt es sich nicht darum, die
Frau von der industriellen Beschäftigung auszuschließen, sondern vielmehr darum,
derartige hygienische und ökonomische Bedingungen zu schaffen, daß das Wohl der
Kinder gewahrt und die Arbeit dem Manne wie der Frau aus einer Last zu
einer Lust wird."
Wissen Sie, wie einer Ente zu
Mute ist, der das Wasser über den Rücken perlt? Nein? Nun, dann lassen Sie
sich vou dem „berühmten" englischen Arzte I)r. A. Haig, dessen „epochemachende"
Theorie über das Prinzip der Collämie jeder Gebildete kennen müßte, belehren,
daß sich besagte Ente unendlich wohl fühlt. Und damit wir armen Menschen nicht
hinter dem unvernünftigen Vieh zurückzubleiben brauchen, wurde Dr. Haig in diese
Welt voll Kummer, Elend und geistiger Depression gesandt. „Befreit den Blut¬
kreislauf des Gehirns von der Collämie, ruft Haig aus, sodaß der Blutdruck
vermindert, der Puls beschleunigt und die Harnabsondrung vermehrt werden, dann
ändert sich der Geisteszustand wie durch Znuberschlag, Gedanken blitzen auf, das
Gedächtnis umfaßt alles, nichts wird vergessen, Geistes- und Körperanstrengung
ist ein Vergnügen, der Kampf ums Dasein ein Ruhm, alles Gute, das Unmögliche
sogar, hält man für erreichbar, Mißgeschick gleitet ab, wie das Wasser über den
Rücken einer Ente (Wohlgefühl). Bis zu diesem schrecklichen Grade sind wir die
Sklaven des Gehirnkreislaufs."
Wer möchte dem l)r. Haig angesichts dieser Worte den Ruhm abstreiten, der
Prophet eines wahrhaft goldnen Zeitalters zu sein? Und, beim hohen ZeusI er
machts billig. Ganze 2 Mark 50 Pfennige kostet sein Buch, das er in Gemein¬
schaft mit einem gewissen I)r. P. E. Levy (bitte beachten Sie den Accent) fabriziert
hat, und das den schönen Titel trägt „Wie erlange ich geistige Frische?" Dieses
Buch soll nach den Angaben der würdigen Nachfolger eines Paracelsus und
Eisenbart eine vollständige Anleitung sein zur Überwindung geistiger Trägheit und
Energielosigkeit, Schwächegefühl im Kopfe, Verworrenheit, Vergeßlichkeit, Zerstreut¬
heit, Niedergeschlagenheit, Ängstlichkeit, Überreiztheit, rascher Ermüdung, Furcht vor
Geisteskrankheit (!), wie überhaupt jeder geistigen und seelischen Depression.
In der That, man muß schon etwas reichlich „schwach im Kopfe" sein, wenn
man nicht wenigstens ahnen soll, daß der Übermensch im Kommen ist. Die alten
Jndier glaubten von ihren Göttern, sie vergossen keinen Schweiß und zuckten nicht
mit den Wimpern. Nach der Methode Haig-Levy kanns jeder Examenskandidat
leichtlich mit den indischen Göttern aufnehmen. Der Übermensch ist keine blasse
Phantasmagorie mehr, und der alte Theaterdirektor Schikaneder behält Recht:
Mann und Weib und Weib und Mann
Reichen an die Götter an.
Bitte, es kostet nur 2.50 Mark!
or einigen Jahren berichtete ich in diesen Blättern unter dem
Titel „Das italienische Heer und der Dreibund" über einen
Abschluß langjähriger Irrungen und Wirrungen in der Organi¬
sation der italienischen Armee, über das sogenannte Pellouxsche
Heeresgesetz vom Jahre 1897, das dem Heere des uns Ver¬
bündeten Staates die ersehnte feste Grundlage für seine Weiterentwicklung
geben sollte und thatsächlich gegeben hat. Seitdem ist des italienischen Heeres
in diesen Blättern wenig gedacht worden. Und das ist nnr natürlich. Denn
die Wehrkraftsfragen Italiens können an und für sich einen weitern deutscheu
Leserkreis nicht so interessieren, wie etwa die Frankreichs oder Rußlands.
Das italienische Heer wird Wohl kaum jemals vorbildlich für uus auftreten,
namentlich nicht in kriegstechnischen Fragen, die heute und für die nächste
Zukunft entscheidend sein werden; es wird in dieser Beziehung, wie z. B. jetzt
in der Feldgeschützfrage, vernünftigerweise die Ergebnisse und Maßnahmen der
größern Militärmächte abwarten und sich zu nutze machen. Uns interessiert das
italienische Heer militärisch nur als ein Machtmittel des Dreibundes. Sollte
Italien einmal aus diesem Bündnisverhältnis ausscheiden, so bliebe nur das inter¬
national-politische Interesse an der Frage, ob wir uus sein Heer als das eines
"ut Frankreich verbündeten Staates zu denken haben oder als das eines Staates,
sich, ohne Bündnispolitik zu treiben, auf die Defensive beschränkt. Eine un-
"nttelbare militärische Berührung mit dem durch die Schweiz von uns getrennten
Staate erscheint auch in diesen beiden Fällen durchaus unwahrscheinlich.
Legt man gewissen, neuerdings wieder an die Oberfläche tretenden Strö¬
mungen ini italienischen Heeresleben Gewicht bei, so würde der zweite der
^ben berührten Fälle, Ausgestaltung seines Heeres zum Werkzeug eines reine
Defensivpolitik treibenden Staates, in den Bereich der Möglichkeit gerückt
I^n. Vor mir liegt ein Buch tVLssroito usi tgmxi uuovi (Roma, Enrico
^oghera, 1901. 364 S.), das mit Liebe und Hingebung eine solche be¬
schränkter» Aufgaben angepaßte Organisation aufstellt und bis ins einzelne
Ichndert. Das Buch kommt damit Strömungen nicht nur bei den linksradikalen
Parteien, bei Republikanern und Sozialisten, sondern auch bei den Mitgliedern
Zentrums und der Rechten des Parlaments entgegen. Aus dein Parlament
heraus ist auch das einen durchaus militärischen Charakter bewahrende Werk ent-
standen. Sein Verfasser ist Parlamentarier und aktiver Offizier, was ja nach einer
übrigens vielfach beklagten gesetzlichen Bestimmung in Italien möglich ist. Graf
Fortunato Marazziwcir zuerst italienischer Seekadett, trat dann bei dem Ausbruch
des Krieges von 1870 in die französische Armee ein und machte in ihr den Feld¬
zug mit. Im Jahre 1873 trat er wieder in das italienische Heer ein, und
gegenwärtig ist er Kommandeur des in Rom garnisonierenden Infanterieregi¬
ments Ur. 93. Wichtiger erscheint, daß er seit einer Reihe von Jahren par¬
lamentarischer Berichterstatter für alle militärischen Gesetzentwürfe ist; seine
Berichte werden innerhalb und außerhalb der Kammer sehr gewürdigt, und er
übt auf die Entwicklung des Heeres einen entscheidenden Einfluß aus. Ob er
im Lauf der Jahre auch für die entscheidenden Stellungen der militärischen
Hierarchie in Frage kommen wird, ist schwer zu sagen. Jedenfalls kann ihm,
der auch mit selbständigen geschichtlichen und militärischen Werken hervorgetreten
ist, im vollsten Umfange das Recht zugesprochen werden, über militärische
Fragen seines Heimatlandes ein Urteil abzugeben, das auf Beachtung Anrecht
hat; er darf es unternehmen, seinen italienischen Kammerkollegen, denen das
Buch gewidmet ist, belehrend und aufrüttelnd gegenüberzutreten. Die Gleich-
giltigkeit und der Mangel an Kenntnissen in militärischen Dingen ist wohl
in keiner Volksvertretung so groß wie in der italienischen Kammer, und es
ist nur zu wünschen, daß der öde Kleinkram der Tagespolitik den Onorevoli
einmal Zeit lasse, sich xro se oontrg, mit den Fragen zu beschäftigen, die Graf
Marcizzi beleuchtet und zwar immer von demselben Standpunkt aus.
Dieser Standpunkt ist die Forderung, daß das italienische Heer lediglich
als Werkzeug der Defensive organisiert und ausgebildet werden müsse. Italien
hat nach Marcizzi in den Alpen eine natürliche Verteidigungslinie allerersten
Ranges. Sache der militärischen Kunst und der Heeresverfassnng sei es,
dieses natürliche Hindernis zu einem unüberwindlichen zu machen, zunächst durch
eine Linie starker Alpenforts und durch die uach Zahl und Ausrüstung ver¬
stärkte Alpentruppe (Alpenjäger, Gebirgsartillerie usw.). Eine zweite Linie
von Forts am Ausgang der Alpenthäler in die Poebne müßte ausgesuchten
Truppen (Bersaglieri usw.) übergeben werden; ein Heer endlich von etwa 500000
Mann erster Linie, ohne Truppen zweiter Linie, Reserven und Landwehr, da¬
hinter habe die Aufgabe, in der Ebne die eine einzige, entscheidende, zu Sieg
oder Unterjochung führende Schlacht zu schlagen. „Reserven, ruft Marcizzi,
Entscheidungen hintereinander? Weitere Verteidigungslinien? I>svvs masss?
Das ist alles unnütze Rhetorik, veralteter Klassizismus. Unsre Avantgarde
soll in den Alpen stehn, alle Kraft der Verteidigung soll in diese eine Linie
gelegt werden. Und danach? Danach nur der entscheidende Sieg, der den
Gegner rettungslos vernichtet, oder der Zusammenbruch unsers Vaterlandes,
das dann in die Sklaverei zurückfüllt! Diese schreckliche und sich rasch ab¬
spielende Tragödie ist das einzige, womit wir rechnen müssen. Mögen die
Italiener sich das klar machen!"
Vielleicht wäre es angezeigt, wenn sich die italienischen Leser Marazzis
zunächst über folgende Fragen klar würden: Bleibt ein sich militärisch und
politisch vollkommen isolierendes Italien, das von seinen 32 Millionen Ein¬
wohnern nur etwa 600000 Mann zum Waffendienst heranzieht, das sich feierlich
der Einwirkung auf die Geschicke Europas und der Welt begiebt, das organi¬
satorisch darauf verzichtet, sei es zur Behauptung seiner Ansprüche, sei es zur
Ausnutzung seines Sieges auch nur einen Mann über die Grenzen des zu
einer großen Festung gewordnen Landes zu senden, bleibt ein solches Land
militärisch, bleibt es politisch, volkswirtschaftlich, handelspolitisch eine Gro߬
macht? Oder sinkt es nicht notwendigerweise zu der Rolle von Spanien und
Griechenland hinab? Will die überwiegende Mehrheit des italienischen Volkes
diesen Bruch mit den bisherigen Anschauungen und Hoffnungen auf eine das
Ringen vieler Generationen um die Unabhängigkeit belohnende Zukunft, mit
stolzen Traditionen und ruhmreicher Geschichte? Darf man annehmen, daß
das Haus Savoyen jemals für eine solche Politik die Führerrolle übernehmen
würde? Ist nicht auch rein militärisch die bloße Verteidigung als Organisations¬
und Erziehungsgrundsatz immer der Verderb von Heeren gewesen, ist der Zu¬
sammenbruch der defensiven Grundsätze des Lagers von Chälons 1870, des zähen
aber passiven türkischen Heeres 1877 nicht noch in frischem Gedächtnis? Der
Leser wird sich diese Fragen allein beantworten müssen, denn Marazzi kann als
Antwort darauf nur die mit Starrheit verfochtne Behauptung anführen, daß die
Schlachten der Zukunft infolge der Vervollkommnung der Feuerwaffen und der
Kriegstechnik so mörderisch sein würden, daß nur mit einer großen Entscheidungs¬
schlacht zu rechnen sei. Die oben angeführten Kriege scheinen aber nicht gerade für
seine Behauptung zu sprechen, und auch frühere Perioden großer technischer Um¬
wälzungen haben niemals auch nur ein annähernd radikales Ergebnis gezeitigt.
In aller Kürze sei erwähnt, daß Graf Marazzi nicht etwa eine Aus¬
gleichung für die außerordentlich geringe militärische Anspannung des Landes
durch eine längere Dienstzeit des einzelnen Mannes fordert. Im Gegenteil,
er gedenkt mit einer Zeit von fünfzehn Monaten auszukommen. Wirklich
militärisch ausgenutzt könnten von dieser Zeit eigentlich nur die von ihm ver¬
langten 45 Tage der größern Übungen werden: dann nämlich sollen die
Kompagnien durch Einberufungen auf 200 Mann gebracht werden, sonst sollen
sie nur 50 Mann stark sein! Man sieht, es handelt sich um Abändrungs-
gedcmken, die weit über die Vermindrungsvorschläge des frühern Kriegsministers
Ricotti hinausgehn, und die durch das Pellouxsche Heeresgesetz abgethan er¬
schienen. Der parlamentarische Berichterstatter und Regimentskommandeur
nähert sich mit seinen Reformabsichten bedenklich denen seiner Kammerkollcgen
des äußersten linken Flügels, der Sozialisten. Und ob dort derselbe Patriotismus,
derselbe Enthusiasmus für eine wenn auch kleine, so doch innerlich gefestigte,
"uf nationaler und monarchischer Grundlage ruhende Armee herrscht, der
zweifellos Marazzi die Feder geführt hat, ist doch sehr die Frage. Die Hal¬
tung der Partei in der Kammer, die stete Begeiferung des Heeres und des
Offizierstandes durch die ihr nahestehende Presse spricht für das Gegenteil.
Ein Buch, das wie das Marazzische für kommende Zeiten geschrieben ist,
muß natürlich von Ideen ausgehn, die über die Gegenwart hinaus allen An¬
forderungen genüge zu leisten bestimmt sind; es darf nicht die gegenwärtigen
politischen Verhältnisse, die Gruppierung der Mächte von heute zum Aus¬
gangspunkt nehmen. Man kann also vollkommen damit einverstanden sein,
daß ebensowenig der Dreibund wie der Zweibund für den Verfasser vorhanden
ist. Um so weniger erscheint es logisch, politisch klug und militärisch takt¬
voll, bei der Erwägung der verschiednen Möglichkeiten eines Angriffs auf
das defensive Italien vor allem mit Deutschland zu rechnen. Unglaublich,
aber wahr; in dem die „politischen Grenzen Italiens" behandelnden Artikel
schreibt der Verfasser S. 49 folgendermaßen: „Von den drei Staaten, die uns
umgeben, ist Deutschland der stärkste, und von dieser Seite droht uns für die
Zukunft die meiste Gefahr." Der Gedanke wird damit begründet, daß Deutsch¬
land, im Osten und im Westen durch zwei Kolosse, Frankreich und Rußland,
eingeengt, für das Ansdehnungsbestreben seines Handels und seiner Industrie
einen Ausweg suchen müsse. Die nordische Seeküste mit ihren Gefahren sei
dafür ungeeignet, „im Süden aber liegt ein Reich, das unter dem Rammklotz des
Nationalitätenftreits zerbröckelt, und weiter winkt dort das leuchtende Mittelmeer!
In diesem Mittelmeer besitzt England Malta, Deutschland möchte gern etwas
Besseres darin haben." Zwei Gedanken treten diesen Ausführungen Marazzis
zur Seite: das Streben Deutschlands nach dem Mittelmeer sei nicht der einzige
Grund zu einem politischen Kampf (clissiclio) mit ihm, und: Deutschlands
Anspruch auf das Mittelmeer würde andre Nationen um Italiens Seite führen.
Frankreich dürfe viel von ihm erhoffen, aber namentlich müsse Italien jeder¬
zeit auf ein gutes Verhältnis mit der Schweiz hinarbeiten.
Man sieht, der „veraltete" Dreibundsgedanke wird hier von einem Soldaten
und Parlamentarier nicht nur außer Rechnung gestellt — dagegen könnte man
ja auch bei einer rein theoretischen Besprechung militärischer Organisatious-
frageu nichts einwenden —, es wird vielmehr gegen ihn mit erfrischender
Deutlichkeit Stellung genommen; der Gefährlichkeit des gegenwärtigen Bundes¬
genossen wird die Bündnisfähigkeit andrer Nationen gegenüber gestellt. Bisher
haben die Deutschen, die sich mit dem heutigen Italien und seineu militärischen
Verhältnissen beschäftigen, in der Wertschätzung der deutschen Waffenbrüder¬
schaft und des Dreibundes durch die Kameraden des italienischen Heeres eine
starke Stütze dieser politischen Einrichtung gesehen, die stärkste vielleicht nächst
der Vertragstreue des Hauses Savoyen. In dieser Auffassung soll uns auch
die befremdende Beleuchtung der internationalen Stellung Italiens durch den
Grafen Marazzi uicht irre machen; denn es bleibt zu hoffen, daß solche An¬
schauungen allein in der Atmosphäre von Monte Citorio gedeihen, wo ja
glücklicherweise nur wenig Soldaten sitzen, und daß sie in der frischern Luft
der Armee keinen Boden finden und dort verkümmern. Vor kurzer Zeit war
gemäß einer in Deutschland mit Beifall begrüßten Maßregel des italienischen
Kriegsministeriums eine größere Zahl italienischer Offiziere zur Erlernung der
deutschen Sprache nach Deutschland beurlaubt. Vielleicht nimmt der Herr
Verfasser des lZssreito nei uno'öl tsinxi einmal Gelegenheit, die jetzt nach Italien
zurückgekehrten Kameraden über ihre in Deutschland empfangner Eindrücke
zu befragen. Ich glaube, er wird in ihren Berichten keine Befürchtung eines
deutschen Vorstoßes auf Trieft oder Venedig finden, ebensowenig wie bei uns
die Möglichkeit, Tripolis zu besetzen, erwogen wird.
Auch dieses Gespenst nämlich scheint in militärischen Kreisen Italiens um-
zugehn. Und so wenig die in Buchform niedergelegten Ausführungen eines dem
italienischen Zentrum angehörenden Abgeordneten und Regimentskommandeurs
unbeachtet bleiben dürfen, ebensowenig darf die mündliche Äußerung eines aktiven
hohen Seeoffiziers mit Stillschweigen übergangen werden, der Deutschland
Absichten auf Tripolis unterschiebt. Admiral Candiani hat auf der Rückreise
von China, wo italienische und deutsche Truppen in treuer Waffenbrüder¬
schaft Schulter an Schulter gefochten haben, mit seinem Geschwader die Kolonie
Eritrea berührt, und nach seiner Rückkehr nach Italien über die Möglichkeit be¬
fragt, ob man mit den eingebornen Truppen der Kolonie Tripolis erobern könne,
hat er nach der offiziösen „Tribuna" geantwortet: „Tripolis müßte längst in
in unsern Händen sein. Wenn wir noch kurze Zeit warten, wird es deutsch sein.
Ich würde nicht einen Augenblick warten, es zu besetze», aus Furcht zu spät zu
kommen." Die Erklärungen des Admirals sind, obgleich sie nach andern rein
militärischen Beziehungen viel Interessantes boten, von den beiden italienischen
Militärzeitungen ignoriert worden. Man darf darin wohl den Wunsch sehen,
eine unangenehme Sache möglichst aus der Welt zu schaffen. In entsprechender
Weise ist die antideutsche Strömung, die aus dem Marazzischen Buch spricht,
in den Besprechungen durch die vom Kriegsministerium unterstützte ülvistg,
Wliww (Heft 10. 1901) mit dem Mantel der Liebe zugedeckt. Der Freund
des italienischen Offizierkorps, der von Stimmungen und Strömungen in ihm
ein Bild entwerfen will, kann das nicht, so gern er es thäte. Wohl aber kann
er, nachdem er Grundgedanken und Ausgangspunkt des Buches bekämpft hat,
hier einfließen lassen und um so unumwundner aussprechen, daß es ein frisch
und oft mit hinreißender Wärme geschriebnes Buch ist. Man lese z. B. die
Kapitel „Die Alpen" und „Die Alpenverteidigung"! Bergluft weht uns daraus
entgegen, und jeder Kenner der bei uns noch so wenig gewürdigten italienischen
Alpen wird bei dem Lesen dieser Seiten Erinnerungsfreuden feiern, wird mit
Marazzi das Lob der braven Gebirgsbewohner singen, die ein so wundervolles
Soldatenmaterial für die Grenzwacht Italiens im Norden, die Alpini, abgeben,
und wird die Strömung im italienischen Offizierkorps, die eine bessere Aus¬
nutzung dieses Menschenmatcricils und der von der Natur Italien gegebnen
Schutzmauer der Alpen verlangt, als berechtigt anerkennen. Sie darf nur
nicht wie bei Marazzi zu einer einseitigen Auffassung der Gesamtlage, zu
dem Aufbau einer Taktik führen, die nur den Angriff auf die Alpen, ihre
Verteidigung und die Entscheidungsschlacht im Pothal kennt.
Die unleugbar große Gefahr eines überwältigenden Angriffs auf Italien
von der See aus wird von Marazzi uur sehr kurz und obenhin behandelt.
Und doch beschäftigen sich die Militärlitteratur Italiens und im Anschluß daran
die öffentliche Meinung neuerdings sehr lebhaft mit der Frage des Zusammen¬
wirkens von sseer und Flotte gegenüber Angriffen auf die Küsten Italiens
und seiner Inseln. Die Küstenentwicklung des Staates betrügt 6020 Kilometer
gegenüber 1580 Kilometern Landgrenzen. Von diesen 6020 Kilometern fallen
3120 auf die Westküste und Sardinien, 1000 auf Sizilien und 700 auf die
Südküste. Die beiden zuletztgenannten Küstengelände erscheinen neuerdings
durch den Ausbau von Biserta mindestens ebenso bedroht wie die Westküste
bisher durch Toulon und Korsika. Überhaupt kommt für einen Angriff von der
See aus natürlich vor allem Frankreich in Betracht. (Oder sieht Graf Marazzi
vielleicht auch schon im Mittelmeer die feindliche deutsche Flagge auftauchen?)
Daß diese Gefahr und die vielfachen Anfordrungen, die sie der Landarmee
aufbürdet, in einem sich mit der Zukunft beschäftigenden Buch nur oberflächlich
behandelt werden, daß sogar vor ihrer Überschätzung gewarnt wird, rechtfertigt
die Annahme, daß der Verfasser noch bewußt oder unbewußt von einer Schwäche
des Wohlwollens für die Nation beherrscht wird, in deren Reihen er 1870
gegen uns gefochten hat. Von Schwäche des Wohlwollens muß gesprochen
werden, weil die Größe der Gefahr in militärischen Kreisen Italiens, nicht
etwa nur in denen der Marine, fast durchgehends anerkannt wird. Mit der
Aufrollung und Betonung dieser Gefahr steht und fällt z. B. die I^SM nao^is
iwliana, der italienische Flottenverein, dem auch zahlreiche Offiziere des Land¬
heeres angehören. Ganz wie seine Vorbilder, der englische und der deutsche
Verein, will auch er in seinem wogenumrauschten Vaterlande das allgemeine
Verständnis für die Bedeutung des Meeres und einer starken Flotte für ein
modernes Volk, für dessen Politik, Handel und Industrie erwecken. Bei der
Apathie aber, der er in weiten Kreisen Italiens begegnet, muß er die trägen
Geister vor allem durch den Hinweis auf die Gefahr einer Beschießung von
Genua, Livorno, Neapel, Palermo usw. aufrütteln, auch auf die Gefahr einer
Einschließung dieser Häfen von der See aus, die für die Versorgung Italiens mit
allem Lebensbedarf von so entscheidender Wichtigkeit sind. Die damit zusammen¬
hängende durchaus berechtigte Betonung der Notwendigkeit einer starken Flotte ist
nicht ohne Einwirkung auf die Geltung und Entwicklung des Landheeres.
In Italien stellt man in vielen Kreisen des Volks und der Volksver¬
tretung nicht wie bei uns die Forderung auf: „Neben dem starken Heer eine
stärkere Flotte als bisher," sondern man rechnet folgendermaßen: „Für die
nationale Wehrkraft steht uns eine bestimmte Summe, etwa 300 Millionen
Lire, zur Verfügung. Uns thut eine stärkere Flotte not! Gut! Nehmen
wir also dem Landheer etwas und legen es der Flotte zu!" Mag solche
Rechnung aber vielleicht auch nur die der radikal denkenden Flottenschwärmer
sein, die von der I,6M rmvals offiziös und offiziell verleugnet werden, so wird
doch die andre Anschauung kaum irgendwo bekämpft, daß wenn der zunehmende
Volkswohlstand wie gegenwärtig für die nächsten Jahre eine Erhöhung der mili¬
tärischen Ausgaben erlauben sollte, solche nnr der Flotte zu gute kommen, daß
das Heer jedenfalls daran nicht teilnehmen dürfe. Und mögen auch einmalige
große Erfordernisse an den Heereshaushalt herantreten, die, wie jetzt die Neube¬
waffnung der Feldartillerie, in jeder Beziehung als „außerordentliche" bezeichnet
werden müssen, von einer Erhöhung des Haushalts, von einer Bewilligung
besondrer Kredite für das Heer kann keine Rede sein! Hu'ein 86 äskrouills!
Aber auch über die Art und Weise, wie man sich mit Mehrausgaben inner¬
halb des feierlichst auf 239 Millionen Lire festgelegten Haushalts abfinden
soll, bestimmt eine starke Strömung der öffentlichen und der parlamentarischen
Meinung. Sie nimmt in erregter Weise die Partei der jungen italienischen
Industrie, der italienischen Arbeiterbevölkerung, und schreibt vor: „Was das
Heer und die Flotte bedarf, muß durch nationale Arbeit, wenn irgend möglich
auch aus inländischen Material hergestellt werden!" Ausnahmen wie die Her¬
stellung einiger Torpedos in Elbing, der Ankauf eines Militärballons in
Augsburg bestätigen die Regel, daß diese Strömung in Italien jetzt die ent-
scheidende ist. Noch neuerdings hat sie bei der eben erwähnten Bewaffnung
der Feldartillerie einen vollkommnen Sieg errungen: die neuen Geschütze sollten
uach Material und Arbeit durchaus italienisch sein, und sie sind es auch
wirklich. Ob die auferlegte Beschränkung in der Auswahl der Modelle der
Neuschöpfung der italienischen Feldartillerie zum Segen gereicht hat, das kann
erst der Ernst des Krieges und der Geschichte lehren. Hier kam es darauf
an, zu zeigen, daß auch für die militärische Technik Strömungen in Italien
herrschen, die außerhalb des militärischen Organismus liegen und im Grunde
seine Bewegungsfreiheit beschränkend)
er preußische Gesetzentwurf über die Vorbildung zur juristischen
Laufbahn hat wieder einmal die Aufmerksamkeit weiterer Kreise
auf eine Frage gelenkt, die in immer größerm Umfang und in
immer empfindlicherer Weise eine „brennende" zu werden verspricht.
Wer die Tageszeitungen wie die juristische Fachlitteratur des
ätzten Jahrzehnts mit kritischem Auge verfolgt hat, der weiß, daß sich in seinem
Laufe in immer steigendem Maße ein Gefühl der Unbehaglichkeit und Unzu¬
friedenheit in Bezug auf unsre Rechtspflege Bahn gebrochen und überHand
genommen hat, und zwar keineswegs nur in den Kreisen der grundsätzlichen
Opposition, sondern auch in denen der Eingeweihten, in denen man — soweit
Man hier überhaupt zum Nachdenken über diese Dinge Mut und Muße hat —
nur mühsam hinter einem ironisch-mitleidigen Augurenlächeln die schwere Sorge
^er gar den bittersten Skeptizismus verbergen kann.
Namentlich in den beiden letzten Jahren haben die deutsche Rechts¬
wege und ihre berufnen Trüger in Parlament und Presse, in öffentlichen Reden
""d in heimlichem Murren so mancherlei Vorwürfe und tadelnde Urteile an¬
hören müssen und haben ihnen bis auf die jüngste Zeit außer etlichen phrasen¬
haften Zurückweisungen, die um so inhaltsärmer waren, je pathetischer sie
Zangen, und um so weniger überzeugten, je höher die Stelle war, von der sie
Ausgingen, so wenig entgegenzusetzen gewußt, daß die Vorlegung des genannten
Gesetzentwurfs auch von denen mit Freuden begrüßt werden sollte, die mit
seinem Inhalte nicht einverstanden sein können. Denn in der vollendeten That¬
sache dieser Vorlegung wird man mit Recht das Eingeständnis der Regierung er¬
kennen dürfen, daß auch sie unsre Rechtspflege uicht auf der Höhe findet, auf der
sie stehn sollte, und man wird ferner, was mir das Wichtigste und Wertvollste
zu sein scheint, aus dem Versuch, den bestehenden Mängeln durch eine veränderte
Ausbildung der Jristen zu Leibe zu gehn, entnehmen dürfen, daß man an ma߬
gebender Stelle erkannt hat, wie wichtig es ist, bei der notwendig gewordnen
Reform vor allem die Frage aufzuwerfen, ob die Schuld an dem mangelhaften
Funktionieren des ganzen Justizapparats mehr dessen Fehlerhaftigkeit oderderdurch
mangelhafte Ausbildung oder durch andre Gründe bewirkten Ungeeignetheit der
Personen beizumessen ist, denen die Handhabung der Rechtspflege anvertraut ist.
Hierin liegt in der That meiner Ansicht nach des Pudels Kern: man
mag an unsrer Gesetzgebung, sowohl der materiellen wie der prozessualer.
mancherlei auszusetzen haben, so schlecht ist sie sicher nicht, daß man ihr den
wesentlichen Anteil an den vielen Mißstünden zuschreiben müßte, die überall,
fast auf jedem Gebiete der Rechtspflege hervorgetreten sind. Im Gegenteil ist
unsre Justizgesetzgebung trotz einiger Mängel, die namentlich aus strafrechtlichen
Gebiet recht groß sind, ein gewaltiges Werk, ein Segen für die Kultur, um
den uns jedes Volk, nicht zum wenigsten das vielgepriesene England, beneiden
dürfte. Aber dem köstlichsten Instrument wird ein Stümper nur Mißtöne zu
entlocken vermögen, während ein Kettner und Körner auch mit einem kläglichen
Kinderspielzeug die Hörer zu fesseln und zu erheben versteht.
Und wenn es nun auch eine mißliche Sache ist, an einem ganzen Stande
Kritik zu üben, und zumal an dem, dem das Schwert und die Wage der
Gerechtigkeit anvertraut sind, so dürfen wir uns dieser Aufgabe doch nicht
entziehn, wenn sie uns aus dem Wege der Erkenntnis zu fördern geeignet ist.
Sie soll aber an dieser Stelle in zwiefacher Hinsicht eingeschränkt werden:
einerseits werde ich es mir ersparen, auf Einzelfälle einzugehn und an ihnen
zu zeigen, daß der Mißerfolg nicht der Gesetzgebung sondern dein zur Last zu
legen ist, der zu ihrer Anwendung berufen war; ein solches Verfahren wäre
zu persönlicher Natur und darum wenig verlockend, auch zu wenig beweis¬
kräftig für daraus abgeleitete allgemeine Thesen. Und andrerseits werde ich
mich hüten, der Diagnose die Anpreisung eines Universalhcilmittels folgen zu
lassen; der Fall ist, wie ich fürchte, viel zu verwickelt, als daß von einem
solchen oder auch von einem Spezifikum, wie dem neuen Gesetz über die Aus¬
bildung der Juristen oder einer neuen Prüfungsordnung, die vollständige Hei¬
lung und Gesundung des Kranken zu erwarten wäre.
Wir wollen uns vielmehr auf eine Kritik des Thatsächlichen beschränken
und drei Fragen aufwerfen, deren Erörterung uns Gelegenheit geben wird,
den etwas spröden Stoff nach verschiednen Richtungen zu fassen und zu ge¬
stalten. Diese Fragen lauten: 1. Wer wird heutzutage Jurist? 2. Wie wird
er Jurist? 3. Was wird so ein Jurist?
Die erste Frage läßt sich ziemlich kurz dahin beantworten: Die juristische
Laufbahn erwählt, wer für eine andre kein Interesse hat und ihre ziemlich
lange „Berdienstlosigkeit" aushalten zu können glaubt.
Das klingt hart, ist aber durchaus richtig und erklärlich. Es wird ja doch
niemand im Ernst behaupten wollen, daß ein normal begabter Gymnasial-
abitnrient oder auch ein solcher, der sich vorteilhaft über die Norm erhebt,
irgend eine auch nnr annähernd richtige, wenn auch noch so blasse Vorstellung
von dem haben kann, was das Wesen der Rechtswissenschaft cmsmcicht. Man
könnte nun zwar mit einem Schein des Rechtes sagen, daß bei den meisten
jungen Menschen die Frage nach der Berufswahl überhaupt nicht formuliert
wird: „Was soll ich lernen oder arbeiten?" sondern: „Was soll ich werden?",
daß also nicht der Weg oder das Werkzeug, sondern das erstrebte Ziel, der
Erfolg, das Ausschlaggebende ist. Das läßt sich doch so allgemein nicht sagen!
Das Anziehende eines Berufszweigs kann zwiefach sein und entweder in dem
Gegenstand und der Art der Beschäftigung liegen, oder in dem äußern Erfolge,
mag sich dieser in glänzender Stellung, im Gelderwerb oder in andern Vor¬
zügen darstellen. Nun giebt es eine ganze Reihe von Berufen, in denen das
^ste fast ausschließlich das Motiv für die Berufswahl abgiebt. Wir würden
es nahezu als unehrenhaft empfinden, wenn jemand sich der Kunst nicht um
ihrer selbst willen, sondern etwa wegen der Ehren widmen wollte, die bedeu¬
tende künstlerische Erfolge zu begleiten pflegen. Wir würden verächtlich die
Achsel zucken, wenn uns jemand sagte, er wolle Medizin studieren und ein
tüchtiger Arzt werden, um sich durch recht hohe Honorare bereichern zu können,
oder wenn jemand sich der Theologie widmen wollte, um von recht vielen
Menschen ehrerbietig gegrüßt zu werden. Während wir beim Arbeiter als
selbstverständlich voraussetzen, daß er arbeitet um des Lohnes willen, und bei
den Angehörigen der technischen und Gewerbsberufe das Streben nach Gewinn
"icht nur als berechtigtes, sonder» geradezu als zum Erfolg unentbehrliches
Motiv ihrer Berufsarbeit auzusehen pflege», verlangen wir eben von jedem,
ber sich irgend einer Kunst oder Wissenschaft widmet, daß es die Kunst oder
die Wissenschaft selbst sei, die ihn anzieht, daß er ihrer Förderung sein Leben
weiht und in ihrer Bethätigung Freude und Befriedigung findet, die äußern
Erfolge aber als Nebensache betrachtet.
Einzig und allein die Rechtswissenschaft scheint hiervon eine Ausnahme
i>" macheu. Denn um für eine Kunst oder Wissenschaft eine solche Neigung
verspüren, daß man sich ihr allein um ihrer Ausübung willen widmet, muß
'wu sich irgend eine Vorstellung von ihr machen können. Woher soll aber der
Gymnasialabiturient eine Vorstellung von der Rechtswissenschaft haben? Etwa
MUl den zwei oder drei forensischen Reden Ciceros, die er wegen ihres klassischen
Lateins und ihrer rhetorische» Schönheiten pflichtgemäß in der Sekunda und
Prima but bewundern müsse»? Oder ans den paar löZs-z, die er im Unter¬
richt über römische Geschichte hat auswendig lernen müssen, um an ihnen für
die verschiednen Stadien des Gleichheitskainpfes zwischen Patriziern und Ple¬
bejern bestimmte Marksteine zu gewinnen? Oder nach den übrigen dürftigen
Brocke» lediglich staatsrechtliche» Inhalts, die sonst etwa im Geschichtsunter¬
richt hier und da aufgetaucht sind? Nein! — während der Abiturient für die
meisten andern Fächer akademischen Studiums wenigstens eine blasse Ahnung
Mui der Bedeutung des wissenschaftlichen Stoffs und der Art seiner wissenschnft-
lichen Behandlung mit auf den Weg erhält, hat ihm die Schule auch uicht den ge¬
ringsten Anhalt geboten, sich von der Jurisprudenz eine Vorstellung zu formen.
Und das Leben? Nun, wohl dem Jüngling, dem es erspart geblieben
ist, auf diesem Wege einen Einblick in die juristische Praxis zu gewinnen; er
wird seelisch dadurch nichts verloren haben.
Bleibt noch die Vermittlung einer solchen Vorstellung durch das Eltern¬
haus, wenn etwa der Vater oder der ältere Bruder Jurist ist. Das ist in
der That wohl der einzige Weg, der geeignet ist, einen annähernd richtigen
Begriff von dem, was den Jünger der Themis erwartet, dem vor die Berufs¬
wahl gestelltem Jüngling zu vermitteln. Ob er sehr häusig begnügen wird,
wo die Möglichkeit dazu gegeben wäre, bezweifle ich sehr; als Sohn eines
Juristen kaun ich versichern, daß ich in das Wesen der Berufsthätigkeit meines
Vaters erst einen Einblick erhalten habe, als ich schon etliche Semester hinter
mir hatte, und ich weiß von andern Juristensöhnen, daß es ihnen ganz genau
ebenso gegangen ist.
Man wird also nicht fehlgehn, wenn man behauptet, daß von den
Füchsen, die sich als srncliosi oris immatrikulieren lassen, bei weitem noch
nicht einer von hundert sich eine ähnliche Vorstellung von der Wissenschaft,
der er sich weiht, und der Berufsthätigkeit, die ihn erwartet, macheu kann,
wie etwa der junge Mathematiker, Philologe oder Mediziner es vermag. Es
kann darum bei der Berufswahl im Gegensatz zu allen andern akademischen
Berufszweigen das für die Jurisprudenz ausschlaggebende für gewöhnlich nicht
der Stoff des Studiums und der Berufsthätigkeit sein, und in dieser That¬
sache liegt, wie ich glaube, die gewichtigste und am schwersten zu beseitigende
Ursache für die — wir wollen nicht sagen „Minderwertigkeit," sondern nur —
Ungeeignetheit des Menschenmaterials, das die Maschine unsrer Rechtspflege
bedient.
Ein ungünstigeres Bild gewinnen wir, wenn wir nach dieser negativen
Feststellung, daß nicht die Art der Beschäftigung das Anziehende bei der Be¬
rufswahl der meisten Juristen, sein kann, die weitere Frage auswerfen, was
denn nun wohl in der Mehrzahl der Fülle von entscheidenden Einfluß ge¬
wesen ist. Denn die Antwort auf diese Frage wird bei einer beschämend
großen Mehrheit lauten müssen: Strebertum oder Indifferenz.
Konnte der Stoff an sich den vor die Berufswahl gestellten nnr äußerst
selten zum juristischen Studium locken, so ist es um so mehr der nach Absol¬
vierung der juristischen Vorbereitungszeit erreichbare Erfolg, der der edeln
Jurisprudenz die Jünger in die Arme treibt. Ja, der Erfolg, mag er nun
je nach Charakteranlagen und Fähigkeiten sich dem einen in dem glänzenden
Bilde eines hohen Justiz- oder Berwaltungsbecnuteu, dem andern in den
hohen Einnahmezahlen eines vielbeschäftigten Urwalds, oder dem dritten in
dem bescheidnen Idyll eines Amtsrichters in einem kleinen Städtchen vor die
Seele malen.
Deutscher Jüngling, wohin steht dein Sinn auf Erden?
„Vortragender Rat im Ministerium möcht ich werden!"
so begann ein „Berufswahl" überschriebues Spottgedicht, das kürzlich in einer
Berliner Zeitschrift erschien. Das sind die Streber vom reinsten Wasser, die
Leute, die es nach Glanz und Macht gelüstet, und denen die Laufbahn des
Juristen der geeignetste Weg zur Erreichung ihrer Ziele zu sein scheint. Sie
sind häufig selbst Juristensöhne, und sie rechnen, wenn „Papa es zu was
gebracht hat," nicht immer ganz mit Unrecht ans ein wenig Nachhilfe in der
Karriere durch etwas — ich möchte sagen: „kollegialen Nepotismus." Wir
werden ihnen später noch begegnen.
Bisweilen sind diese Streber aber auch durchaus Iwiniuss novi; als
solche nicht minder gefährlich, da sie in ihrem Bestreben, den beengenden Ver¬
hältnissen zu entgehn, oft in der Wahl ihrer Mittel recht skrupellos sind
und in dem thörichten Verlangen, ihre Herkunft vergessen zu machen, dienstlich
oft eine geradezu unsoziale Wirksamkeit entfalten. Auch von ihnen werden
wir später noch mehr hören.
Bei weitem größer als die Zahl der Streber ist aber die der In¬
differenten.
Es gab eine Zeit, wo jemand, der keinem Beruf eine besondre Neigung
entgegenbrachte und anch für keinen Beruf besonders bestimmt zu sein schien,
die Offizierlaufbahn einschlug, sofern er körperlich dazu geeignet schien und
die Verhältnisse es erlaubten. Die höher geschraubten Anforderungen und die
infolgedessen vielen allzunahe gelegte Wahrscheinlichkeit, an irgend einer Be-
fördrungsccke zu scheitern und also im besten Mannesalter kalt gestellt zu
werden, schreckt jetzt manchen von dieser Laufbahn zurück, der uun glaubt, als
Jurist ein „gutes Unterkommen" zu finden. Es ist sehr bitter, es nussprechcn
Zu müssen, aber es ist leider wahr und aus den oben dargelegten Gründen
fast selbstverständlich, daß man in keinem Beruf, der akademische Vorbildung
verlangt, auch nicht bei deu Theologen, so viel Leute trifft, die jedes höhern
geistigen Interesses und sogar des Interesses für ihre eigne Berufsthätigkeit
so vollständig ermangeln, wie bei den Juristen.
Es wäre um freilich unbillig. wollte man für die Berufswahl in allen
Fällen den Jüngling allein verantwortlich machen; einen guten Teil der Schuld
tragen die Eltern. Ist ihr Sinn mehr ans praktische Zwecke als auf ideale
Ziele gerichtet, oder sind sie berauscht durch glänzende Erfolge, seien es eigne
"der fremde, so wird ihre oft doch recht entscheidende Mitwirkung bei der Be¬
rufswahl gar manchen Sohn in eine Laufbahn hineinstoßen, in der ihm, statt
des erhofften, glänzenden Erfolges, vielleicht ein „bescheidnes Unterkommen"
zu teil wird, erkauft durch die beständige Höllenpein immer wachsender Unlust
an der Berufsthätigkeit.
Gehn wir um zu der zweiten Frage über, die uns beschäftigen soll,
und fragen nur: Wie, auf welchem Wege, werden nun die, die sich bei der
Berufswahl für die „Rechte" entschieden haben, Juristen?
Nun. der Weg ist ja nicht überall genan derselbe; es bestehn sowohl
für die Studienzeit, wie für die praktische Norbereitungszcit mancherlei Ver¬
schiedenheiten in den deutschen Landen, und es wird wohl noch lange dauern,
bis auch auf diesem Gebiete die „Einheitsmarke" erreicht ist. Es soll hier
auch weniger von dem Wege selbst die Rede sein, als vielmehr von der Art
und Weise, wie er begangen wird, und diese weist Verschiedenheiten auf, die
sich nicht nach den schwarz-weißen, weiß-grünen oder blau-weißen Grenzpfähle»,
sondern vielmehr nach den Gruppen der darauf Wandelnden abgrenzen lassen.
Freilich wird man diese Gruppen, die sich nach dem oben über die Gründe
der Berufswahl Gesagten ergeben, nicht allzuscharf voneinander absondern
dürfen. Es versteht sich von selbst, daß z, B. in der der Indifferenten mancher
ist, der mit der Zeit Interesse an seiner Wissenschaft und an seinem Beruf
gewinnt und die kleine Schar der ernsten Jünger vermehren hilft, die sich
aus bewußtem Interesse zur Sache der Themis geweiht haben. Es ist auch
klar, daß aus der Zahl der Streber mancher mit der Zeit müde und stumpf
wird und in der Gruppe der Indifferenten weitertrottet. Im ganzen wird
man aber sagen können, daß sich die Motive, die für die Berufswahl den
Ausschlag gegeben haben, sehr deutlich in der Art und Weise außer«., wie
die Studienzeit und die Ansbildungsperiode benutzt und verbracht werden,
und man wird immer beobachten können, daß die angemessene Verwertung der
juristischen Lehrzeit in demselben Verhältnis steht zu der Neigung, die der
angehende Jurist für seine Wissenschaft als solche, nicht für die Jurisprudenz,
soweit sie nur Mittel zum Zweck ist, empfindet. Daß dabei auch die Ver¬
schiedenheit der Charaktere und der äußern Umstände eine modifizierende
Wirkung ausübt, liegt auf der Hand.
Über die Art und Weise, wie viele Juristen ihr Studium betreiben, ist
schon so oft und von so berufner Seite geklagt worden, daß ich es mir ver¬
sagen darf, im einzelnen darauf einzugehn. Aus eigner mannigfacher Be¬
obachtung kann ich bestätigen, daß die Schilderungen, wie sie z. B. der ver¬
storbne Staatsminister von Bosse wiederholt als Grundlage ernster Mahnungen
hat in die «Öffentlichkeit gelangen lassen, durchaus der Wirklichkeit entsprechen.
Es ist Thatsache, daß durchschnittlich in keiner Fakultät so wenig studiert
wird — und auch zur Erreichung des äußern Studienzwecks, zum Bestehn
der Prüfungen, so wenig studiert zu werden braucht, wie in der juristischen;
es ist Thatsache, daß Leute, die vier Semester glatt verbummelt haben, nach
zwei Semestern Repetitor ins Rcferendarexamen steigen und es ganz gut be¬
stehn können; und es ist Thatsache, daß die Mehrzahl der in den letzten
zwanzig Jahren ins Amt getretner Juristen nicht viel mehr als diese eben
geschilderte Vorbildung genossen hat.
Nur die kleine Zahl derer, die entweder von vornherein der Rechts¬
wissenschaft Interesse entgegenbringen, oder die hinreichend offnen Sinn und
klare Fassungsgabe mit einer gewissen Dosis Idealismus verbinden, svdnß sie
den: für den Anfänger sicher etwas trocknen und abstrakten Stoff das wissen¬
schaftliche Interesse allmählich abgewinnen, wird die auf den Universitäten ge-
botne reiche Fülle von Gelegenheit zu wirklich wissenschaftlicher Ausbildung
benützen und verwerten wollen und können. Und wenn ein solcher auch ein¬
mal die Vorlesungen nicht ganz regelmäßig besucht, wenn er sich vielleicht ein
paar Semester mehr mit Nebenfächern, sei es Nationalökonomie, Philosophie
oder Geschichte, befaßt, als mit der Jurisprudenz, so wird ihm das vielleicht
viel nützen, sicher aber nichts schaden; die Auffassung, die er von seinem
Fachstudium hat, und das Bewußtsein, einer hohen und schönen Wissenschaft
zu dienen, lverden ihn immer wieder auf den rechten Weg zurückführen. Auch
er wird um Ende seiner Studienzeit vielleicht mit Erfolg ein Repetitor nehmen,
aber uicht, um sich auf diesem Wege erst den Wissensstoff anzueignen, den er
bis dahin scheu gemieden hat, sondern, um sich davon zu überzeugen, ob sein
Wissen gleichmäßig ist, ob er bei der Fülle interessanter Probleme nicht viel¬
leicht einige Stiefkinder gar zu kümmerlich behandelt hat, und um sich an die
Sonderart der Prnfungswcise, deu Stoff in konzise Fragen und Antworten
einzupressen, zu gewöhnen. Und er wird, wenn er das Examen bestanden
hat, wenn er hinaustritt ins praktische Leben und lernen soll, anzuwenden,
was er sich an Wissen und an juristischer Erkenntnis angeeignet hat, nicht
vergessen, daß er einer Wissenschaft sein Leben geweiht hat, einem edeln Baume
also, der lebt und wächst, und an dessen Zweigen immer neue Früchte der
Erkenntnis reifen, die er zu pflücken das Recht und die Pflicht hat.
Dementsprechend wird sich anch seine praktische Ausbildung und Thätig¬
keit gestalten. Ihm wird die Juristerei kein Handwerk sein, sondern eine
Kunst, die einen ganzen Mann, einen ernsten Willen und ein nie erlahmendes
Streben nach hohen Zielen von dem verlangt, der sich ihrem Dienste geweiht
hat. In diesem Sinne wird er zunächst die praktische Vorbereitungszeit auf¬
fassen und ausnützen. Er wird die verhältnismäßig bevorzugte gesellschaftliche
Stellung, die dem angehenden Juristen — wir wollen dahingestellt sein lassen,
»b mit Fug und Recht — eingeräumt zu werden pflegt, richtig zu würdigen
wissen und sich dadurch nicht zu thörichtem Hochmut und unsozialer Gesinnung
verleiten lassen; er wird die verhältnismäßig sehr große Menge an freier Zeit
und die günstige Gelegenheit, die ihm das Borbcreitnngsstadium bietet, einen
tiefern Blick in wirtschaftliche Verhältnisse und in Lebensgebiete hinein zu thun,
die ihm sonst fernliegen, nach Kräften benützen, sehr zum Vorteil spätem
selbständigen Wirkens; er wird sich neben der Vertiefung seiner wissenschaft¬
lichen Kenntnisse die besondre Art des juristischen Denkens zu eigen machen,
die ihn befähigt, ans dein vorliegenden praktischen Falle das juristisch Be¬
deutende herauszuschälen und den juristischen Begriffen und Normen anzu¬
passen; er wird sich auf diese Weise das sogenannte wcliowm erwerben, über
dessen mangelhafte Ausbildung die Berichte der preußischen Justizprnfungs-
konunissiou für das Assessorexamcn so häufig Klage führen; er wird für alles
Gute und Schöne offne Augen haben dürfen und nichts wahrhaft Menschliches
Wo sich sun zu halten brauchen, und er wird doch in angestrengter Arbeit
seine Kräfte stählen für die spätere selbständige Berufsarbeit, in die er hinein-
treten wird mit der Überzeugung, daß nicht das „Publikum" um seinetwillen,
sondern daß er um des Volks willen da ist, für das er eine überaus ver¬
antwortungsreiche, aber schöne Aufgabe zu erfüllen hat, welchen: Spezinlfach
der juristischen Thätigkeit er sich anch zuwenden mag.
Wenn aber der Sinn des Vorbereitnngsstadiums, das zwischen den beiden
gewöhnlich als Referendar- oder als Assessorexnmen bezeichneten Prüfungen
liegt, der ist, daß der angehende Jurist lernen soll, die wissenschaftliche Er¬
kenntnis, die er sich als Student zu eigen gemacht hat, ius praktische Leben
zu übertragen und berufsmäßig anzuwenden, was soll dann der thun, der
gar keine wissenschaftliche Erkenntnis, sondern einen mehr oder weniger großen
Haufen Wissensstoff mitbringt, noch dazu einen Wissensstoff, der in verhältnis¬
mäßig kurzer Zeit eingepaukt ist und deshalb ebenso hastig wieder vergessen wird,
soweit er nicht tagtäglich durch die praktische Anwendung wieder ius Gedächtnis
zurückgerufen wird, bis er endlich darin festsitzt? Kann es wunder nehmen,
wenn ein Referendar oder Rechtspraktikant mit solcher Vorbereitung die
Praxis „lernt," wie etwa ein Schusterlehrling sein Handwerk oder ein Küchen¬
junge sein Metier? Wer vou dieser Sorte „Themisjüngern" zu den Strebern
gehört, wird natürlich mit der Zeit dahin gelangen, einen äußerlich gut aus¬
sehenden „Stiefel" zu fabriziereil, aber er wird nie begreifen, wo in Wahr¬
heit den deutschen Mann, der sein Recht sucht, „der Schuh drückt"; er wird
mit der Zeit allerlei spitzfindige pikante Brühen anzurichten lernen, aber das
Volk, das die ihm eingebrockte Suppe aufessen muß, wird seufzen über die
Sudelküche, die ihnen solche „Gerichte" vorsetzt, statt seinem Rechtsgefühl nahr¬
hafte Kost zu biete».
Das sind harte Worte, ich weiß es; aber wer die Verhältnisse kennt und
den Mut der Aufrichtigkeit hat, wird, wenn auch schwerem Herzens, zugeben
müssen, daß sie für eine sehr große Anzahl der zur deutschen „Rechtspflege"
Berufnen bittre Wahrheit enthalten.
Wir sind damit unversehens in den dritten Abschnitt unsrer Untersuchung
gelaugt, nämlich zur Erörterung der Frage: „Was wird so ein Jurist?"
Nun, wie anderwärts heißt es auch hier: An ihren Früchten sollt ihr
sie erkennen. Aber ich will, wie ich schon gesagt habe, darauf verzichten, um
dieser Stelle much nur in flüchtiger Aufzählung die unendlich vielen Mißgriffe,
Fehlentscheidungen und Übelstände zu erwähnen, die seit Jahren die Auf¬
merksamkeit der Denkenden und sorgenden in immer steigendem Maße auf
sich gezogen haben. Der Kenner der Verhältnisse weiß ja, daß jeder etwa
der Öffentlichkeit bekannt gewordne Mißgriff eine Unzahl von Geschwistern
hat, die genau denselben Tadel verdienen und vielleicht an der Volksseele
noch mehr Schaden anrichten, als die berühmt gewordnen Fälle. An Stelle
einer solchen Betrachtung ziehe ich es vor, auf einige charakteristische Typen unter
den zur Ausübung der Rechtspflege berufnen Persönlichkeiten hinzuweisen.
Sehen wir uns zunächst ein paar Beispiele von Strebern an.
Was ist aus dem Juristeusöhncheu geworden, dem wir bei Beginn seiner
Laufbahn begegneten? Nun, vielleicht ist er schon „abgeschwenkt," wenn ihm
das Glück in Gestalt guter Konnexion hold war. Seit langer Zeit schon
gilt es ja als viel vornehmer, „zur Verwaltung" überzugehn, als bei der
„eigentlichen Juristerei" zu bleiben. Der läppische Witz von dem Oberlandes-
gerichtspräsideuteu, der in Größenwahn verfallen sein soll, weil ihm eines
Nachts träumte, er sei zum Negierungsreferendar ernannt worden, ist ja all¬
bekannt. Doch lassen wir das! An einem solchen Abgeschwenkten, dem es
nur darum zu thun ist, zur „Garde der Referendare," wie sich in Preußen
die der Verwaltung zu nennen belieben, zu kommen, hat die Verwaltung nichts
gewonnen, und die Rechtspflege nichts verloren. Vielleicht ist unser Freund
aber auch bei der Justiz geblieben. Seine Vorbildung, deren Etappen durch
die Worte: „Korps — Repetitor — Referendarexamen — I)r. ^ur. (Heiden
berg oder Jena) — Bälle — Skatspiel — Löwe der Saison — Verlobung —
Repetitor — Assessorexameu —" hinreichend gekennzeichnet sind, befähigt ihn
zu den höchsten Ehren stellen. Nehmen wir an, er ist zur Zeit bei der Staats¬
anwaltschaft, die ja bekanntlich für die höhern Justizstellen ein ganz unver¬
hältnismäßig hohes Kontingent liefert, Strebern also besonders günstige Aus¬
sichten bietet. sein dienstliches wie außerdienstliches Auftreten ist im äußersten
Maße schneidig. Daß er jederzeit der Ansicht seines Vorgesetzten ist, die er
vorzüglich zu erraten weiß, ist selbstverständlich. Die Menschheit zerfällt für
ihn in zwei große Gruppen: die „tadellose" Minorität, zu der in erster Reihe
er selbst und seine sämtlichen Spezialkollegcn. dann der Hof, die Minister und
andre sehr hohe Beamte, ferner das Offizierkorps und endlich die Angehörigen
der Polizei, vom Präsidenten bis zum Nachtwächter, gehören — und die
andre, die große Menge, die mtWg. psrclita der samt und sonders Verdächtigen,
unter denen die nachweisbar Schuldigen aufzuspüren seiue besondre Pflicht
ist. Die juristischen Kollegen, die weder der Staatsanwaltschaft noch dem
Justizministerium nngehörcu, sind für ihn schwer in einer dieser beiden Gruppen
unterzubringen und werden darum je nach ihrer Neigung, den Anträgen der
Staatsanwaltschaft bedingungslos stattzugeben, der einen oder der andern zu¬
gezählt. An der Schuld eines von ihm Angeklagten zu zweifeln, erscheint
ihm überhaupt Sakrileg. Sein Stolz ist die hohe Jnhresziffer seiner
J-'-Nummern^) und die große Zahl Jahren Zuchthaus und Gefängnis,
die er bei jeder Schwurgerichtsperiode „durchdrückt." Den Beinamen „der
Blutige," den ihm Richterkollcgen bisweilen um Biertisch zu kosten geben,
weist er mit vornehmer Ruhe, aber innerlich gehoben, ab. Verlassen wir ihn:
der Oberstaatsanwalt oder Landgcrichtspräsident ist ihm sicher; vielleicht wird
er anch Staatssekretär.
Sein weniger nach Macht und Ehren als nach materiellem Erfolge
lüsterner Strcberkollegc von niedrer Herkunft — seine Wiege, wenn er eine
solche gehabt hat, stand vielleicht im Ghetto eines sehr östlich gelegnen
Städtchens — hat sich frühzeitig der Rechtsanwaltschaft zugewandt, natürlich
in einer große» Stadt, denn nur dort „ist was zu machen." Anfangs geht
^ ihm recht nichtswürdig schlecht. Aber er ist skrupellos, er nimmt, was
kommt; und wenn ein aussichtsloser Prozeß verloren ist, so hat eben sein
Mandant die Kosten zu zahlen , die unerbittlich eingetrieben werden, so lange
noch etwas Pfändbares da ist. Gewöhnlich ist es die Verteidigung in einem
»Pikanten" oder „wackligen" Strafprozeß, die ihn auf die Höhe bringt. Sein
Name kommt in die Zeitungen. die Praxis wächst zusehends, und mit ihr
thun es die Extrnhonvrcire, die er sich nun. bevor er eine Sache in die Hand
nimmt, meist schou als Vorschuß zahlen, mindestens aber versprechen läßt.
Und mancher seiner Klienten hat allen Grund, ihm „ewige Dankbarkeit" zu
bewahren und zu beweisen. Arme Themis! Du hast freilich eine Binde vor
den Augen! Nun baue deinem Jünger eine Villa und verhilf seinen Töchtern
zu guten Partien!
Dem „Indifferenten" ist ein bescheidneres Los zu teil geworden. Und
wenn es sechs, acht Jahre dauern sollte — einmal ist ihm doch eine Amts-
richtcrstelle sicher. Vielleicht nicht, wie gehofft, in der großen Stadt, bei den
lieben Freunden und Verwandten, sondern irgendwo — dahinten. Nun, mau
giebt sich drein. Und jetzt kommt es nur darauf an, was unser Freund für
Neigungen hat, wenn er überhaupt welche hat. Die zur Berufsarbeit fehlt
ja von vornherein, aber — man richtet sich eben ein. Wozu hat man denn
einen alten erfahrnen Gerichtssetretür, der den „ganzen Krempel" ja eigentlich
viel besser kennt und es so gern hört, wenn man ihn — vielleicht etwas
antizipiert — „Herr Rat" nennt, ihm möglichst „freie Hand läßt" und ihm
bisweilen eine Zigarre anbietet? Urteile fällt man nicht gern, wegen der
„Gründe," die man dabei schriftlich fixieren und so eventuell dem kritischen
Blick der nächst höhern Instanz aussetzen muß; aber wozu, ist denn die köstliche
Einrichtung des Vergleichs in der Zivilprozeßordnung vorgesehen? Man redet
eben den Parteien so lange zu, hilft eventuell, damit sie „zur Vernunft kommen,"
durch öftere Vertagungen etwas nach, bis sie endlich mürbe werden und „sich
vergleichen lassen." Und die ganz Hartnäckigen — um, da haut mau eben
ein Urteil hiu. In Schöffensacheu ist die Urtcilsfälluug zwar nicht zu um-
gehn, indes — wozu hat mau denn den Amtsanwalt, an dessen Antrag mau
sich halten, und die beiden Schöffen, von denen man sich überstimme» lassen
kann? Wenn nur die langweiligen Vormnndschnfts- und Grundbnchsachen nicht
wären; wenn da ein Versehen vorkommt, kann man eventuell an der empfind¬
lichsten Körperstelle, um Geldbeutel, ganz unangenehm gefaßt werden; eine
Gefahr, die die hochverehrten Kollegen, die das Bürgerliche Gesetzbuch abge¬
faßt haben, durch die hübsche Fassung des § 839 Absatz 2 und 3 für alle
andern Zweige der richterlichen Berufsthätigkeit so gut wie ausgeschlossen haben.
Aber wenn die lästigen Amtsgeschüfte nun in möglichst kurzer Frist erledigt
wordeu sind, dann winkt dein Braven für den Rest des Tages die goldne
Freiheit. Herz, was liebst du? Deu Frühschoppen oder die Jagd? Den Skat
oder die Noseuzucht? Das Sofa oder die Musik? Oder dichtest du gnr? —
Mit der Zeit kann ja much der Ratstitel nicht ausbleiben; und vielleicht bringt
die Zukunft auch eine Versetzung mit sich! Vielleicht gar in die große Stadt,
von Aneiennitäts wegen! Was man da erst alles treiben kann! schwärmst du
für Kolonien? Hier ist der Vorsitz im Kolonialverein. Liebst du Musik? Dein
Streichquartett deiner Kollegen fehlt gerade noch der Cellist. Begeisterst dn
dich für Sprachreiniguug? Deine Untersuchungsgefangnen können ruhig ein
paar Wochen länger sitzen, schreibe nur dein „Frenidwörterbüchlein." Liebst du
Geselligkeit? Soeben hat der Kasinovorstand sein Amt niedergelegt, die Reihe
ist an dir. Ans, bethätige dich; oder, wenn du zu nichts Lust hast, so bleibe
zu Hause, ganz wie du willst; dem Amt läuft dir nicht weg — lerne dich
wiegen im Gefühl deiner Uuabsctzbarkeit! Lebwohl!
Und nun bliebe nur noch übrig, ein Bild des echten freien Jüngers der
Themis zu zeichnen, des Juristen much meinem Herzen. Aber ich werde das
nicht thun. Ich werde das nicht thun, weil ich hoffe, dnsz der Leser selbst
ein solcher ist oder einen solchen kennt; und um meines Vaterlandes und
meiner Volksgenossen willen wünsche ich, daß er nur solche kennte!
Wird nun der neue Gesetzentwurf über die Vorbildung der Juristen, falls
er Gesetz wird, zur Erfüllung dieses Wunsches beitragen? Ich befürchte das
Gegenteil. Die Verlängerung des Studiums ist ja ganz zweifellos mit Freuden
zu begrüßen, wenn sie einer Vertiefung der wissenschaftlichen Erkenntnis dienstbar
gemacht werden kann; die entsprechende Verkürzung der praktischen Ausbildungs-
zeit wird aber nur dann unschädlich bleiben können, wenn die Beschäftigung
der Referendare viel intensiver wird. Leider ist aber die ganze Tendenz des
Entwurfs nicht ans die Vertiefung wissenschaftlicher Erfassung des Rechtsstoffes,
sondern auf die Eintrichtcrung eines bestimmten Nvrmalmaßes von Kennt¬
nissen und handwerksmäßige Einübung gewisser juristischer Denkoperationen
gerichtet. Non deu mannigfachen Äußerungen der Universitätsjuristen scheint
mir die der Kieler Juristenfakultät dies am schärfsten hervorzuheben, wenn sie
gegen den Schluß ihrer Ausführungen sagt: „In der gesamten Neuordnung,
wie sie geplant ist, tritt eine Anschauung vou deu Aufgaben des Universitäts-
unterrichts und Studiums zu Tage, die zu der bisher allgemein geltenden,
für die übrigen Faknläteu nicht in Frage gestellten Auffassung in schneidendem
Widerspruch steht," und wenn sie weiterhin darauf hinweist, daß man durch
solche Vorschriften das Examen zum Selbstzweck, wissenschaftliche Forschung aber
fast unmöglich machen würde. Welcher Klasse von Themisjüngern mögen die
Verfasser dieses Entwurfs angehören? Das ist mir nicht zweifelhaft: würde
dieser Entwurf Gesetz, so würde man gerade den Leuten die Wege ebnen, die
Zwar in der Mehrzahl sind, aber der Rechtspflege nicht zur Zierde, dem Volke
"lebt zum Heile gereichen.
Und nun sei mir erlaubt, meine allzu trocknen Auseinandersetzungen mit
einem Gleichnis zu schließen:
Die Frage: Willst dn dich der Jurisprudenz widmen als einer hehren
Wissenschaft, oder ist sie dir nur Mittel zum Zweck; faßt du deinen Beruf
"is ein Hnudwerk auf oder als eine edle Kunst? giebt gewissermaßen deu
Grenzstein, wo sich die beiden Wege scheiden, auf denen die Gesamtheit meiner
Berufsgenossen wandelt; der eine breite, ach uur allzu breite Weg, bequem
gepflastert mit dicken Kommentaren, rechts und links wie eine norddeutsche
Pappelallee eingefaßt von den steifen Entscheidungen höchster Gerichtshöfe,
stach und eben, gerade und reizlos, aber so beqnem. ach so bequem; und der
andre Weg, der dornenvolle und steinige, der sich bald in scharfen Ecken,
bald in schöngeschlvungnen Windungen emporzieht, durch blumige Auen bald,
und bald vorüber an jähen Abgründen und überhängenden Felswänden, aber
"mener höher und höher, immer Heller und lichter, der Sonne zu — exvelsior!
Wir haben es gesehen: wer auf dem ersten Wege geht, dem fehlt es nicht an
Gesellschaft, rechts und links von ihm schlendern und gehn, rennen und fahren
die lieben Kollegen, je nach Temperament und geistigen und materiellen
Mitteln, die einen schneller, die andern langsamer, und wenn der Staub der
Landstraße, aufgescheucht durch die wimmelnden Tritte und flatternden Amts-
rohen, dein bebrillten Blicke auch von der Welt, die jenseits des Chaussee¬
grabens liegt, nicht viel enthüllt — was thuts, man ist desto mehr unter
sich; manches Wirtshaus mit schäumendem Biere lädt ein zur seßhaften Rast;
da fehlt es nie am dritten Mann zum Skat, und an Jnristenabendeu und
Juristen ballen ist auch kein Mangel. — Einsam dagegen wird oft seine Pfade
ziehn müssen, wer den andern Weg erwühlt, den schweren, steilen, mühsamen.
Ihn sicher zu gehn, bedarf es eines guten Mutes, eines tapfern Herzens
und eines Leitsterns aus lichter Höhe. Mancher der Weggenossen strauchelte
im Waldesdickicht der Zweifel, aus denen er vergeblich den Ausgnng suchte;
mancher andre irrte an gefährlicher Stelle ab und stand plötzlich an steiler
Martinswand, wo das Vorwärts Wahnwitz und das Rückwärts Unmöglich-
keit war! Und wohl ihm, wenn er seine Lage erkannte und nicht etwa in
trauriger Blindheit glaubte, das Ziel erreicht zu haben und sich seines er¬
habnen Standpunkts rühmen zu dürfen! Wieder manchem wurde der Weg
zu rauh und die Mühsal zu groß, oder es übermannte ihn auf halber Höhe
die Furcht, einsam verschmachte» zu müssen, und in großen Sprüngen eilte
er den Berg hinunter, und nun sitzt er unten an der breiten Landstraße beim
kühlenden Pschorr und spielt Schafkopf mit den Kollegen.
Drum sieh dich wohl vor, wenn du um Grenzstein stehst, wo die Wege
sich scheiden! Schreitest du aber auf dem rauhen Pfade rüstig empor mit
sicherm Fuße — wie weitet dir selbst sich die Brust, wie weitet sich deinem
Blick die Welt! Je höher du steigst, um so mehr überschaust du sie, und je
mehr du sie überschaust, um so mehr wirst du sie versteh», sie lieben. Am
Wege spendet manch sprudelnder Quell dir gesunden Trunk, aus dem ruhigen
Spiegel des Gebirgsees blinkt dein eignes Bild dir entgegen: schau dirs nur
recht an, in der einsamen Stille rings um dich her täusche dem Schlag deines
eignen Herzens — lernst du es recht verstehn, so wirst du auch deinen
Mitmenschen ins Herz schauen können! Und nun rüstig weiter, hinauf —
empor — empor zum Licht, zu den einsamen Höhen, uns denen die Pfade
aller Wissenschaften zusammenmünden, wo auch du in deiner Wissenschaft und
in deinem Beruf ihn findest, ihm gegenüberstehst, endlich — dem Unend¬
lichen — Gott. _
!le jede Diözese, so hat anch das Bistum Rom seine eignen Unter¬
richtsanstalten, die mit dem Diözesanseminnr äußerlich verbunden
^sind. Diese Schulen dienen zwar in der Hauptsache uur den
Zöglingen des römischen Seminars und denen des Pius-Seminars
!für die römische Kirchenprovinz, doch stehn sie anf Grund beson¬
dern Privilegs sedermann offen, der gewillt ist, sich den bestehenden Vorschriften
zu unterwerfen, und den Nachweis der für seine Studien notwendigen Vorbil-c^M
cHSH
trug zu erbringen vermag, Ist er Zögling eines der vielen Kollegien oder
Seminarien, so muß außerdem auch die Erlaubnis seines Rektors zum Besuche
der Vorlesungen vorliegen, wenn die Anstalt nicht schon sämtliche Alumnen in
diese Vorlesungen schickt.
Obschon die Untcrrichtsknrse weitaus die umfassendsten sind, die überhaupt
in Rom gelesen werden, hat die Anstalt doch nicht den Titel Universität, son¬
dern heißt vielmehr in ihrer amtlichen Benennung „Wissenschaftlich-litterarische
Unterrichtsanstalt des päpstlichen Römischen Seminars" oder mit einem kür¬
zern lateinischen Titel I^oasuin ?ontinoii Lsininm-ii Konnmi aä 8. ^.xolli-
imi'sin. Die Bezeichnung „zum heiligen Apollinar" rührt daher, daß die Kirche
des Seminars diesem Heiligen geweiht ist, deswegen ist es auch gäng und gäbe,
kurzer Hand zu sagen, daß jemand „in Sau Apollinare" studiert.
Die Leitung der gesamten Unterrichtsanstalten, die sich durchaus von dem
Seminar selbst und seiner Leitung unterscheiden, ruht in den Händen eines
Stndicuprüfekten, dem zwei Schulpräfekteu, ein Sekretär und ein Präfekt der
geistlichen Übungen, zur Seite steh».
Die Anstalten zerfallen, wie amtliche Angaben darthun, in die Hochschule,
das Lyceum, das Ober- und Uutergymuasium, die Gewerbeschule und die freie
Schule (mit fakultativen Unterrichtsgegenstäuden). Uns interessieren hier nnr
die höhern Unterrichtsgegenstände, die von den Mitgliedern eines theologischen
Kollegs, einer juristischen Fakultät, eines Kollegs für orientalische Philologie
und eines Kurses für scholastische Philosophie gelehrt werden. Nicht eingeordnet
sind die Vorlesungen über geistliche Beredsamkeit, christliche Archäologie und
Liturgik. Sämtliche Professoren sind Weltpriester oder Laien.
Den Bezeichnungen der einzelnen Abteilungen merkt man es an, daß
sich diese Hochschule aus kleinen Anfängen, die nnr Theologie und Philosophie
umfaßten," entwickelt hat, ohne jemals sachgemäß organisiert wordeu zu sein.
Es fand in den legten dreißig Jahren nur eine Angliedrung neuer Lehrstühle
statt, ohne einheitliche Zusammenfassung herbeizuführen. Denn sonst wäre es
unerklärlich, wie man von einem philosophischen Kurs, einem theologischen
und orientalischen Kolleg und einer juristischen Fakultät sprechen kann. Wenn
diese Hochschule einmal durch Erlaß eines Statuts organisiert werden sollte, so
würde sie um erster Stelle als die bedeutendste und bedeutsamste aller päpstlichen
Universitäten Roms bezeichnet werden müssen. Ein Vergleich mit der im vorigen
Aufsätze beschriebnen gregorianischen Universität wird das jedem Kundigen dar¬
thun. Einen Ansatz zurOrganisation der Fakultäten finden wir in der That¬
sache, daß das theologische Kolleg einen Dekan und einen Sekretär, die juristische
Fakultät einen Dekan hat. Bei den Philologen und Philosophen fallen aber
auch diese kleinen Ansätze weg.
Die Lehrgegenstände in den einzelnen Abteilungen sind fast ausnahmlos
je einem besondern Professor übertragen, sodaß es fast so viele Professoren wie
einzelne Lehranfträge giebt. Im theologischen Kolleg wird gelesen über Einleitung
W die Heilige Schrift,' Assyriologie und Ägyptologie, Dogmntik, Lehre von den
Sakramenten, Mvraltheologic, I^vel UnzoloZioi, Kirchengeschichte und hebräische
Sprache. Im Kurs der scholastischen Philosophie finden Vorlesungen statt über
Philosophie (von vier Professoren) und über fünf Nebenfächer, die nach unsrer
Schulordnung in die drei obern Klassen des Gymnasiums fallen. Die juristische
Fakultät zerfällt in zwei Abteilungen, eine für kanonisches und eine für Zivil-
recht. In den ersten Abteilungen liest je ein Professor über Institutionen des
kanonischen Rechts und öffentliches Kirchenrecht, und zwei Professoren erläutern
das kanonische Rechtsbuch. In der zivilrechtlichen Abteilung halten acht Pro¬
fessoren acht Vorlesungen, und zwar so, daß für Pandekten zwei Lehrer da sind,
und Handelsrecht sowie politische Ökonomie von einem Professor gelesen werden.
Die übrigen Fächer: Institutionen, Strafrecht, vergleichende Rechtsfvrschnng,
Zivil- und Kriminalanthropologie und Rechtsphilosophie haben je einen eignen
Dozenten. Im Kolleg für orientalische Philologie wirken sechs Professoren,
die Vorlesungen halten über griechische, arabische, armenische, syrische, koptische,
persische, äthiopische und die verschiednen slawischen Sprachen.
Akademische Grade werden erteilt in der Philosophie, der Theologie und
beiden Rechten. Nach zwei Semestern kann man Baeenlaureus, nach vier
Licentiat und nach sechs Semestern Doktor werden in der Philosophie und in
beiden Rechten; nach zwei Semestern kann man Baccalnnreus, nach sechs Liecntint
und uach acht Semestern Doktor der Theologie werden. Wer also den ganzen
Kurs durchmachen will, hat zehn Jahre — zwanzig Semester zu studieren. Für das
Studium der orientalischen Sprachen sind keine akademischen Grade vorgesehen.
Die Prüfungen für das Baeealaureat und das Licentiat sind nur mündlich
und dauern je eine Stunde; das Doktorexamen teilt sich dagegen in einen
schriftlichen und einen mündlichen Teil, mit der Maßgabe, daß wer im schrift¬
lichen durchfällt, zum mündlichen Examen überhaupt nicht zugelassen wird.
Dadurch, daß nur Weltpriester und Laicuprofessoren — die letzten in der
juristischen, der philologischen und der philosophischen Abteilung vertreten —
dort dozieren, ist die Disziplin nicht so schematisch wie an der gregorianischen
Universität. Die ängstliche Aufzählung der Schülerzahl, wie sie dort durch
eigens Beauftragte in jeder Stunde vorgenommen wird, ist in San Apollinare
auf eine gelegentliche Prüsenzmusternng reduziert. Ein gewisser gehobner Ton
im Verkehr zwischen Professoren und Studenten, die sich mich menschlich näher
treten, zeichnet San Apollinare vorteilhaft aus. Es ist unverkennbar, daß die
Übertragung eines Teils der Erziehungsmaximen für die Novizen der Jesuiten
auf die die Gregoriaua besuchenden Studenten eine so große Zurückhaltung
des Verkehrs der Studenten untereinander erzeugt, daß man vor lauter Dis¬
ziplin fast vergessen mochte, daß man es dort mit frischen jungen Leuten zu
thun hat. (Ma nwris.
Früher war die gregorianische Universität weit hervorragender als die
Hochschule von San Apollinare, während heute das Umgekehrte der Fall zu
sein scheint. Greifen wir einmal ein beliebiges Jahr, z. B. 1855, heraus; bei
einem Vergleich ergiebt sich da, daß die Jesuitenuuiversität fast ausschließlich
Berühmtheiten ersten Ranges hatte: Perrone als Studieupräfekt, Pasfaglia und
Schrader als Dogmatiker, Patrizi für Bibelwisseuschaft und Hebräisch, Balleriui
als Kirchenhistvrikcr, Tnrqnini für die Institutionen des kanonischen Rechts,
Franzelin für die Einleitung in die Bibelwissenschaft, Arabisch, Chaldäisch,
syrisch, Tougiorgi als Logiker und Metaphysiker, Scachi für Astronomie,
Marchi für Griechisch usw.; während bei San Apollinare uns nennen begegnen,
von denen auch nicht einer es zu einer relativen Unsterblichkeit gebracht hat.
Oder wer wüßte heute in der Theologie und Philosophie noch viel von den
Capalti, Urbcmi, Vcilletti, Arcangeli, Copa, Santori, Cardoni, Delicati und
andern?
Gegenwärtig scheint die Sache ziemlich umgekehrt zu sein. Wenn man
von einzelnen hervorragend oder gut besetzten Fächern an der Gregoriana ab¬
sieht, sind die übrigen leidlich, einige schlecht besetzt. In San Apollinare ist
zwar keine theologische Kraft, die an Billot heranreichte, und vielleicht much
kein Moralist von der südländischen Beweglichkeit an Körper und Geist wie
Vueeerom; jedoch ist das Gesamtergebnis und die Vielseitigkeit der Ausbildung
an dieser Hochschule besser als an jener Universität. Ganz besonders ist der
Umfang der juristischen Ausbildung und die große Möglichkeit der Erlernung der
verschiedensten orientalischen und slawischen Sprachen in San Apollinare ans
das lobendste anzuerkennen, und es muß im Auge behalten werden, daß eine
stattliche Zahl der Studenten von dem Gebotnen reichlich Gebrauch macht. Da
der Unterricht in der dogmatischen Theologie an San Apollinare nicht in der
Wohl zu eingehenden Weise gehandhabt wird, wie wir es im vorigen Aufsatz
für die Gregoriana haben feststellen müssen, so kann er auf audern Gebieten
">ehr in die Breite gehn, mehr Fächer umfassen und den heutigen Bedürfnissen
Wohl zweifellos besser entsprechen.
Es ist bekannt, daß nicht wenig Bischöfe in den verschiedensten Ländern,
die junge Leute in die zahlreichen nationalen Kollegien Roms zu ihrer philo¬
sophischen und theologischen Ausbildung senden, es sehr gern sehen möchten,
wenn der Lehrplan an deu römischen Hochschulen (Gregoriana^, San Apollinare,
Propaganda, Minerva usw.) etwas mehr ans die praktischen Bedürfnisse des
täglichen Lebens zugeschnitten würde, wenn die römischen Doktoren etwas mehr
Kenntnis von der 'historischen und der praktische.! Theologie mit nach Hause
brächten, wenn man ihnen die Beichtfnkultäten auch ohne ein besondres, in
der Heimat abzulegendes Examen anvertrauen könnte, wenn sie den gewaltigen
sozialen Problemen unsrer Tage während ihrer Studienzeit auch nur cunger-
"oben nahe getreten wären, wenn sie sich vielleicht etwas weniger dialektische
Schulung, dafür aber mehr Sinn und Verständnis für die Pastoralen Auf¬
gaben im großen wie im kleinen aneignen würden, und was dergleichen Dinge
Wehr sind.'
Es läßt sich nicht leugnen, daß der voowr RoinanuL in katholischen wie
nichtkatholischen Kreisen, soweit sie vorurteilslos und mit Sachkenntnis urteilen,
längst nicht so bewertet wird, wie ein an den deutschen und den österreichischen
Universitäten erworbnes Doktorat. Einmal spricht dabei mit die relative Un-
bedeutendheit der schriftlichen Prüfung und dann das beschränkte Prüfungs-
»ebiet im mündlichen Examen. Hier wäre dringend eine Ändrung geboten.
Und wenn man da eingriffe, so würde zum Vorteil des ganzen Studiums
der Lehrplan und die Lehrmethode in Mitleidenschaft gezogen werden. Neue
Zeiten verlangen neue Methoden; die Erweiterung des priesterlichen Arbeits-
selbes nach der sozialen und der apologetischen Seite erheischt umfassendere
Ausgestaltung des Studienganges und mehr systematischen Vortrag,
In Italien und Frankreich herrschen in weiten Kreisen noch Ansichten
über die priesterliche Bildung, über den Umfang des einem Priester not¬
wendigen und nützlichen Wissens, die sich mit den unsern — wenn man von
einzelnen besonders rückständigen Elementen absieht — glücklicherweise nicht
decken. Hand in Hand damit geht eine Auffassung, die für die Erziehung
der Kleriker das Heil mir in der vollständigsten Abschließung von der Welt
sieht. Auch während der Ferien strebt man danach, diese, wie es in Italien
geschieht, völlig unter Verschluß zu halten. Ob man dadurch nicht die schwersten
innern Kämpfe bei manchen heraufbeschwört, wenn man den jungen Priester
nach sieben- bis neunjähriger Abschließung dann auf einmal der Welt gegen¬
überstellt, will ich hier nicht untersuchen. Die Erörterung dieser Frage gehört
vor ein andres Forum und hat bestimmte Dinge zur Voraussetzung, die hier
nicht vorliegen.
Der Prozentsatz von deutschen Klerikern, die an Sau Apollinare ihre
Ausbildung erhalten, ist ganz verschwindend. Eigentlich mehr zufällig geraten
einige deutsche Kleriker dorthin, weil die geschlossenen Massen der jungen
Deutschen durchgängig im Germanitum und im Mutterhnuse der Salvntoriauer
zu suchen sind, und beide Ausdenken ihre Zöglinge in die Gregoriaua ent¬
senden.
Die jetzige Einrichtung der Hochschule, d. h. die Erteilung des Unter¬
richts durch den römischen Weltklerus, stammt aus dem Jahre 1824, während
das römische Seminar selbst im Jahre 1.565 gegründet worden ist. Es muß
anerkannt werden, daß sich die Unterrichtsnnstalt aus kleinen Anfängen zu
einer sehr großen Blüte entwickelt hat, zumal nachdem in der neusten Zeit
auf den sachgemäßen Ausbau der juristischen Fakutät so viel Sorgfalt ver¬
wandt worden ist. Hierbei muß zur Vorbeugung einer falschen Beurteilung
dieser Fakultät hervorgehoben werdem daß die Bedürfnisse der Geistlichen bei
dem Zivilrecht und dem Strafrecht und einzelnen sonstigen Materien der
Rechtswissenschaft ganz anders sind, als bei denen, die sich der praktischen
Rechtspflege oder der staatlichen Verwaltung widmen. Billig denkende Menschen,
die den Zweck der Fakultät im Ange behalten, werden darum bereitwillig an¬
erkennen, daß die Fakultät irgendwelche wesentlichen Mängel nicht aufzuweisen
hat. Für die, die uur im kanonischen Rechte promovieren wollen, ist eine
besondre Studienordnung vorgeschrieben. Auch bestehn für die Nichtitaliener,
die beider Rechte Doktor werden wollen, gewisse Erleichterungen im Besuch
einiger Vorlesungen. Das hat darin seinen Grund, daß diese Nichtitaliener
fast ausnahmelos schon Priester sind, wenn sie sich in die Fakultät einschreiben
lassen, und man von ihnen mit Recht voraussetzt, daß gewisse Materien
von ihnen bei ihrem theologischen Studium in der Heimat schon absolviert
worden sind.
»thers Wohnhaus ist bekanntlich das 1502 von Stanpitz in
spätgotischein Stil erbaute Schlafhnus tMrmitorinin) des Augn-
stinerklosters, das der Kurfürst bei der Auflösung des Konvents
Luther überließ, später (1532) ihm förmlich schenkte, und das
durch allerhnud Umbauten in ein großes Famitienhaus um-
—! gewandelt wurde, worin Luther zugleich auch seine Kollegien
as. Es lMe nicht viel gefehlt, so wäre dieses denkwürdige Haus von: Erd¬
boden vertilgt worden, denn nachdem es 1813 als französisches Lazarett ge¬
eilt hatte, überließ man es dem von Jahr zu Jahr fortschreitenden Verfall,
endlich Friedrich Wilhelm IV., durch den Minister Eichhorn von dem
uuwgen Zustande des Hauses unterrichtet, 1844 die Wiederherstellung be-
Mhl Sie geschah nach den Plänen Slüters in verschieden Abschnitten
1883. Jetzt nähert man sich dem stattlichen Hanse durch den mit Garten-
wtngen geschmückten Hof des Augusteums, das seinen Namen vom Kurfürsten
August führt und mit der Front 'in der Kollegienstraße steht.
Der erste Eindruck, den man von Luthers Behausung erhält, ist der
^I>er Ruhe und Abgeschiedenheit: hinter dem Hause und seinem Garten er-
^,x>? !uH einst die Stadtmauer und der Wall, davor war ein großer mit
^Man bepflanzter Platz — nirgends ein störender Nachbar, das Ganze ein
""Isischer Wohnsitz für einen, der'mit sich selbst zu Rate gehn, innere Kämpfe
°urch>mache>, in»ß° Das Gebäude selbst betritt man durch ein 1540 von
^Uebers Hausfrau gestiftetes schönes Portal mit der für die Lage des Hauses
lud seinen Insassen gleich gut passenden Inschrift: 1» silentio se sxs frit
wrtituäo msÄ. Das eigentliche Heiligtum des Hauses sind die drei Haupt-
'Muner des ersten Stockes: erstens Luthers Wohn- und Familienzimmer, die
^genannte Lutherstube, zweitens die daneben liegende Schlafkammer und
^nttens die nach dein Garten zu liegende Slud'ierstnbe, in der er seine
»wßten Stunden erlebt hat, „daraus ich den Papst gestnrmer," wo er aber
. und den Kummer der Enttäuschung und die Oualeu der Anfechtung und des
Zweifels getragen hat. Von diesen' drei Räumen ist nur der erste, die Lnther-
d>!^' 'h^' ursprüngliche» Einrichtung erhalten. Noch sind ein der Holz-
^ete die bunten Blumen und die heitern Engels köpfe erkennbar, die auch in
^uthers großes Dasein hineinleuchteten, noch stehn der große phrcnniden-
^"uge Kachelofen und der schwere Familientisch an seiner Stelle, und vor
w,i erquickt uns der doppelte mit Holzwerk umgebne Sitz am großen und
Fenster, ans dem er mit seiner Hausfrau den im Hofe' spielenden
ändern zuschaute.
Immerhin hat man den Eindruck, das Werk der Erhaltung sei hier viel
'co> begonnen worden, als daß wir einen lebendigen Begriff von der
>">lslichkeit des großen Reformators bekommen könnten. Man wird sogar
dieser Stätte daran erinnert, daß das Bild des größten Deutschen jähr-
hundertelang in den Herzen seiner eignen Landsleute verdunkelt war — und
man schämt sich dessen, daß dies möglich gewesen ist. Trotzdem sind mir die
dürftigen echten Trümmer der Lutherstube unendlich wertvoller als die ganze
übrige „Luthcrhalle," die die andern Zimmer des ersten Stockwerks und die
Aula umschließt. Gewiß ist diese ganze Schöpfung aus der edelsten Absicht
und dem löblichsten Wollen hervorgegangen, aber von der „stilvollen
Renovierung," die diesem Werke nachgerühmt wird, und von der Zurück¬
haltung, die der Geist der Vergangenheit dem Künstler auferlegen soll, habe
ich nichts gefunden. Das Ganze atmet die Flachheit und Plattheit der
mittlern Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts, Ich Hütte gewünscht,
daß zum mindesten das Schlafzimmer und das Studierzimmer Luthers, wo¬
möglich auch sein Hörsaal in einer an die ursprüngliche Bestimmung dieser
Räume erinnernden Weise wiederhergestellt worden wären; das Sammelsurium
vou Bildern, Büchern und andern Erinnerungen ans Luthers Zeit, das jetzt
dort an den Wänden und in Glaskasten untergebracht ist, ist hier schlechter¬
dings nicht am Platze, sondern gehört in ein Wittenberger Luther- oder
Altertumsmuseum.
Statt mich durch die Mannigfaltigkeit dieser an sich gewiß sehenswerten
Dinge zerstreuen zu lassen, wäre ich gern in den hinter dein Hause nach
dem Wall- und Stadtgraben zu liegenden Garten hinabgestiegen, wo Luther
nach des Tages Last und Mühe mit deu Amseln und Finken Zwiesprache
hielt oder die Seinen unter dein Wunder des knospenden Birnbaums ver¬
sammelte. Aber dieser war mir leider nicht zugänglich, obwohl ich meine
Führerin dringend bat, ihn besuchen zu dürfen. Ich mußte bei der Zurück¬
weisung, die ich dabei erfuhr, der barsche» Worte gedenken, mit denen der
Küster der Pfarrkirche uns hinderte, das berühmte Altarbild, eins der vor¬
züglichsten Werke Kranachs, zu betrachten, „damit nicht der Teppich beschmutzt
werde." Meiner Ansicht nach hat das deutsche Volk ein Recht darauf, daß
ihm der Zutritt zu deu Stätten, an denen Luther gelebt und gewirkt hat, in
jeder Weise erleichtert werde. Auch würde sich das Kuratorium der Luther¬
halle großen Dank verdienen, wenn es erstens den Hausgnrten Luthers zu¬
gänglich machen und möglichst so Herrichten lassen wollte, wie er zu Luthers
Zeit beschaffen war, und wenn es zweitens die Unterbringung der Sammlungen
der Lutherhalle an einem andern Ort ins Auge fassen und die dadurch frei
werdenden Zimmer im Sinne ihrer ehemaligen Verwendung Herrichten und
ausstatten wollte.
Wo man aber im Lutherhause auch gehn und stehn mag, überall wird
neben dem großen Gottesmann auch das Bild seines Weibes in unsrer Vor¬
stellung lebendig: der Katharina von Bora. Ich habe im Jnbiläumsjahre
ihrer Geburt ein Lebensbild von ihr in den Grenzboten — 1899, III, S. 16-1
bis 176 — veröffentlicht, und im Jahre darauf (1900) erschien über sie das
treffliche Buch von Thoma — deshalb gehe ich hier nicht auf diesen interessanten
Stoff ein. .Aber ich sehe mit Unmut, wie das Andenken an diese edle Frau
von ultrmnvntaner Seite immer wieder mit Schmutz beworfen wird; über ihr
Verhältnis zu Luther urteilen aber auch manche protestantischen Geschicht¬
schreiber mit auffallender Kühle. Wer, wie z. B. Kolbe, geneigt ist, ihren
Einfluß auf Luthers Entwicklung gering anzuschlagen, der sollte doch bedenken,
daß die menschliche Gesellschaft zur Hälfte aus Frauen besteht, und daß dem¬
nach ein Junggeselle nimmermehr der Reformator des christlichen Familien¬
lebens werden konnte. Erst durch seine Frau hat Luther die Natur des
Weibes entdeckt, erst durch die Ehe hat er auch von dem Wesen und dein
Wert des Kindes eine tiefere und richtigere Vorstellung erhalten; hier liegen
die Wurzeln seiner gesunden Pädagogik und Schulpolitik. Südlich ist auch
all der Segen, den das evangelische Pfarrhaus als Vorbild guter «sitte,
geläuterten Geschmacks, einsichtsvoller Wirtschaftlichkeit und edler Gastlichkeit
und Geselligkeit dem deutschen Volke gespendet hat, von den schlichten Räumen
des Lutherschen Familienhauses ausgegangen.
Der nächste Nachbar unter den Freunden Luthers war Melanchthon,
Sein Haus liegt auf derselben Seite der Kollegienstraße fünf Häuser weiter
nach dem Markte zu. Luther konnte, ohne die Straße zu betreten, aus seinem
Garten mittels einer Pforte und eines am Wallgraben hinlnnfeuden Weges in
Melanchthons Garten gelangen. Dort stehn noch an schattigem Ort der Secir¬
tisch, an dem Luther und Melanchthon oft disputiert haben sollen; nahe dabei,
an die Stadtmauer gelehnt, stehn die Neste eines Hörsanles, wo Melanchthon
seine Collegia gelesen hat. Das Haus Melanchthons, das Friedrich Wilhelm IV.
1846 angekauft und zur Amtswohnung des zweiten Lehrers der Lutherschule
bestimmt 'hat, ist dreistöckig und drei Fenster breit. Neben der Hausthür
",egt eine breite überbaute Einfahrt, sodaß im ersten Obergeschoß noch ein
viertes Fenster zur Front hinzukommt. Haus und Garten machen einen bei
weitem ursprünglichem Eindruck als das Lutherhaus: im Melanchthonhcms
glaubt man wirklich die Luft des sechzehnten Jahrhunderts zu atmen, nicht die
^ner „stilgerechten Renovierung," hier ist alles echt — sogar die Wappen und die
^amenszüge der Kostgänger Melanchthons, die sich nach Bubenart inschriftlich
in Stein und Holz verewigt haben, und uns stört keine Bildersammlung, keine
nuiseumsartige Anhäufung von Denkwürdigkeiten, wenn wir uns in die wohl-
^rhaltne, schön getäfelte Studierstube den Mann wieder hineindenken, dessen
"Daseinsgehüuse" sie einst war.
Philipp Melanchthon (geboren am 16. Februar 1497 zu Breiten in der
Ratz), der Neffe Reuchlins, eins der frühreifen Wunderkinder, kam nach
^»tttenberg in seltsamer Zeit. Die schier unendlich scheinende Geduld des
putschen Michels, der jahrhundertelang in Annalen und Spolien, in
-pallien- und Ablaßgeldern dein römischen Papste gefrondet hatte, war doch
^Mnal in die Brüche gegangen, und während in Rom die siegesgewisse Pracht
^r Marmorsäulen von Sankt Peter emporstieg, erschauerte die germanische
^»ete vor der dröhnenden Stimme des schlichten Augustiners, der seit dem
?1- Oktober 1517 seinen Protest gegen den Schacher mit der Gnade Gottes
alle Lande hinausrief. Es war ein Klang, der sich aus dem Sachsenlande
fortpflanzte über alle deutschen Gaue wie das Dröhnen der Sturmglocke, und
°er auch vor den Stufen Sankt Peters nicht Halt machte. Derselbe Mann,
solchen Sturm entfesselt hatte, saß vier Tage nach Melanchthons Ankunft
^' Wittenberg zu den Füßen des jungen Schwaben und lauschte seiner Antrittsv¬
orlesung „Über die Verbesserung der Jugenderziehung," mit der der künftige
p^övsptor elvrmMiaö sofort Zweck und Ziel seines Wirkens zu bezeichnen
wünschte.
^ Nicht ohne Bedenken sah Luther das noch halb knabenhafte „Männlein" das
atheder besteigen. Denn Melanchthon war damals erst einundzwanzig Jahre alt,
^ur o»u mittlerer Größe und schmächtiger Statur, mit etwas langem Halse
"Ad schmalen Schultern. Das blasse Gesicht zeigte die Spuren unausgesetzter
geistiger Anspannung; aber die Stirn war mächtig gewölbt, die Nase scharf
gebogen, der Mund fein geformt, und vor allem verriet es das geistvolle
Muer der großen blauen Augen, daß man es nicht mit einem gewöhnlichen Sterb-
Uchen zu 'thun habe. Als ihm nun Luther tief in die herrlichen Augen
ichante und dabei hörte, wie er mit warmer Begeisterung den Wert einer grund-
^hen philologischen und philosophischen Bildung der barbarischen Roheit der
oainaligen Geistlichen gegenüberstellte und schließlich die Jugend ermahnte, in
Wem Studium auf die Quellen zurückzugehn, also auch Christi Lehre aus dem
griechischen Urtexte der Paulinischen Briefe kennen zu lernen, da öffnete sich
Mu das Herz des vierzehn Jahre ältern or. Martinas, und so wurde gleich in
den ersten Wochen des Wittenberger Aufenthaltes zwischen ihm und Melanchthon
eine Freundschaft geschlossen, die beständig blieb bis in den Tod.
Luther scheute sich nicht, in aller Form der Schüler des jüngern Freundes
zu werden: er war sein eifrigster Hörer und füllte nun die Lücken seines Wissens
aus, die ihm bei seiner theologischen Bildung alten Stils notwendigerweise
anhafteten, namentlich lernte er von Melanchthon Griechisch und Hebräisch
und erlangte somit die Kenntnisse, die ihn nachmals zu seinem großen christ¬
lichen und nationalen Werke der deutschen Bibelübersetzung befähigten. So
wurde Melanchthon das Werkzeug, durch das der große deutsche Gottesmann
Luther die Errungenschaften des neuen, auf das Studium des Altertums
gegründeten Geisteslebens in sich aufnahm, und seine lautere und bescheidne
Natur hat sich niemals geweigert, dies offen zu bekennen: „Ich schäme mich
nicht — sagte er später in dem Rückblick ans die gemeinsame Arbeit der Bibel¬
verdeutschung — von meiner Auffassung zu weichen, wo es der Geist und das
Wissen dieses Grammatikers verlangt. Ich thue es oft und täglich wegen
des herrlichen Geschenkes, was Gott in dieses zerbrechliche Gefäß gegossen hat.
In Philippus verehre ich ein Werkzeug meines Gottes. Was ich verstehe
von den freien Künsten und von wahrer Weisheit verdanke ich meinem
Philippus."
Aber Luther war bei diesem Frenndschaftsbunde nicht bloß der Empfangende,
sondern auch der Gebende, und zwar in noch höherm Sinne als Magister
Philippus. Melanchthons Art war nicht starkwillig, sondern zaghaft und weich,
nicht tapfer im Angriff, sondern treu im Beharren, sein Empfinden war
ruhig und maßvoll, jedem leidenschaftlichen Ergüsse abgeneigt: gerade des¬
wegen war er nicht geschickt, die belebende und treibende Kraft der reformatorischen
Bewegung zu werden. Dazu bedürfte es des glaubensstarken, stürmischen
Luthers, in dem der alte tuwr t6uwuic;u8, die altdeutsche Kainpfeswut, in
einer neuen Form auferstand, dessen heiliger Zorn die Gewissen erschütterte,
und der durch die elementare Wucht seines Willens ganze Schichten des
Volkes mit sich fortzureißen vermochte. Bewundernd sah deswegen Melanchthon
um dem von Charakter und Kraft stärkern Freunde empor, er stand neben
ihm wie die der knorrichten Eiche verschwisterte sanftere Linde. Von Luther
empfängt er oft die Richtung des Willens und den Mut zu handeln, und
wenn er, des Waffenschmieds Sohn, dem Bergmannssohne die blanken Waffen
darreicht, die sein Heller und durchdringender Verstand zu schmieden weiß, so
hat doch der Bergmcmnssohu erst das' köstliche Metall dazu aus den Tiefen
geholt, und er verstand es, die fertige Waffe mutvoll zu führen. Ganz richtig
hat Luther selbst in einem Gleichnis sein Verhältnis zu dem jüngern Freunde
gezeichnet: „Ich bin dazu geboren, daß ich mit den Rotten und Teufeln muß
kriegen und zu Felde liegen, darum meine Bücher viel stürmisch und kriegerisch
sind; ich muß die Klötze und Stämme ausreuten und bin der große Wald¬
rechter, der Bahn brechen und zurichten muß; aber Jot. Philippus fährt säuberlich
und stille daher, bauet und pflanzet, säet und begießet mit Lust, nachdem
ihm Gott hat gegeben seine Gaben reichlich."
Luther und Melanchthon, ein köstliches Bild, ein so wunderbar ergreifendes
Doppelwesen, wie es nur selten in der Welt und aller Zeit vorkommt, und
deshalb auch in Erz und Stein, mit dem Pinsel des Malers und dem Griffel
des Kupferstechers so oft dargestellt, und doch bei der tiefgehenden Verschieden¬
heit beider Naturen eine so auffallende Gemeinschaft, daß wir in ihr, statt sie
menschlich zu erklären, ein offenbares Wunder der Vorsehung, ihr auserwähltes
Rüstzeug zur Ausbreitung des Evangeliums erkennen müssen.
Aber nicht nur die evangelische Kirche hat ans dem Freundesbuude
Luthers und Melanchthons Nutzen gezogen, sondern aus ihrer Gemeinschaft
erwuchs auch das neue Wittenberger Bildungs- und Erziehungsfnndament.
Es ist vor allem das Verdienst Melanchthons, daß er die innere Verwandt¬
schaft des griechischen Schönheits- und Menschlichkeitsideals, der x«/>.ox«/ttAttt,
und der Sittenlehre des Christentums erkannte und beides verband; Luther
hat dann den lebendigen Glauben hinzugefügt, und so entstand der bis heute
segensvoll wirkende Bund zwischen Humanismus und Christentum, zwischen
Schule und Kirche. Melanchthons Pädagogik geht aber keineswegs nur auf
die Aneignung der Form der klassischen Sprachen hinaus, sondern weit mehr
auf den Inhalt der antiken Litteratur, den er mit der Gegenwart in lebendige
Wechselbeziehung zu bringen wußte: um das ^sun8 Arg-nah, inöäioors und
KumilL der lateinischen Eloquenz anschaulich zu machen, verweist er auf den
Kunststil eines Dürer, Lukas Kranach und Mathias Birnbaum; neben den
alten Klassikern weist er auch der Mathematik, der Physik und der Geschichte
ihren Platz im Unterricht an. Er selbst hat Traktate über die zeitgenössische
Geschichte verfaßt und auch schou angefangen, die deutsche Vergangenheit nach
ihrer weltlichen Seite zu würdigen. Namentlich die Germania des Tacitus
erschien ihm als eine wichtige Quelle der Erkenntnis, und das schönste Zettguis
seines nationalen Empfindens ist wohl das lateinische Gedicht, das er dem
jungen Hans Luther in sein Exemplar des Tacitus hineinschrieb. Es lautet
in Oberhehs vortrefflicher Übersetzung:
In Melanchthons Hause steht aber nicht nur der Gelehrte vor unsrer
Seele, sondern auch der Familienvater. Daß Melanchthon überhaupt eine
Häuslichkeit hatte, war vor allem Luthers Verdienst. Als junger Professor
Pflegte Melanchthon zu sagen, heiraten sei zwar schön, aber nicht heiraten
noch schöner, weil man so mehr Zeit zum studiere» übrig behalte. Da
fand Luther schon im Jahre 1520, daß sich der Freund durch zuviel Arbeit
zu Grunde richten werde, wenn er nicht eine Gefährtin und Pflegerin er¬
halte. Halb widerwillig entschloß sich endlich Melanchthon um 25. November
1520, der zierlichen Tochter des Wittenberger Bürgermeisters, Katharina
Krapp, die Hand zum Ehebunde zu reichen. Ein lateinisches Distichon am
schwarzen Brette der Universität verkündete deu Studenten, daß ihr Pro¬
fessor an diesem Tage seine Vorlesung nicht abhalte. Die Einkünfte des
jungen Paares warm sehr bescheiden: hundert Gulden. Dafür aber hatte
Melanchthon in der Gestalt seines aus Heilbronn mitgebrachten Famulus
Johann Koch ein Faktotum, wie es die moderne Welt nicht mehr kennt:
dieser half als Schreiber und Nachschlager bei den gelehrten Arbeiten seines
Professors, als Privatsekretür bei der umfangreichen Korrespondenz, er las bei
der Morgenandacht den Bibelabschilitt vor, er kaufte auf dem Markte möglichst
billig für die Frau Professorin ein, später unterrichtete er die Kinder, korrigierte
die Druckbogen usw. Die Hausordnung war streng geregelt. Früh um 3 Uhr
trat der Famulus bei Melanchthon ein. Dann wurde gemeinsam geschafft
bis 7 Uhr. Danach kam Melanchthon zur Morqenandacht in die Familien-
stube, von 8 Uhr an las er Kolleg, vor dem Mittagessen aber, von 11 bis
12 Uhr ist er wieder in der Kinderstube. Es ist ein schöner Zug im Wesen
der beiden Reformatoren, daß sie gerade der Kinderwelt ein so großes Interesse
zuwenden und gerade dem kindlichen Wesen ihre Herzen erschließen: mitten
nnter den Stürmen des Augsburger Reichstags schrieb Luther von der Feste
Koburg den köstlichen, wie aus kindlicher Phantasie gebornen Brief an seinen
Sohn „Hänsichen"; und dem gelehrten Melanchthon blieb es unvergeßlich,
daß ihm einst sein Töchterchen Anna, als es ihn eines Morgens in seiner
Studierstube in Kummer und Thränen fand, diese sorgsam mit der Schürze
getrocknet hatte.
Mit Rührung stehn wir in der Stube, wo sich diese kleine Szene zu¬
getragen hat, mit Rührung betrachten wir aber auch die Bettstelle an der
Wand, wo Melanchthon, dessen Lebensabend vielfach durch theologisches Ge¬
zänk getrübt worden war, am 19. April 1560 sanft und gelind verschieden
ist. Auf seinem Schreibtische fand man danach einen Zettel, der uns zeigt,
mit welchen Gedanken er sich auf den Tod vorbereitete. Der Zettel trug die
Überschrift: Ursachen, warum man sich nicht vor dem Tode entsetzen soll. Dar¬
unter stand linker Hand: „Du wirst von Sünden los werden. Du wirst vom
Elend und von der Wut der Theologen befreit werden." Rechter Hand: „Du
wirst zum Licht kommen. Dn wirst Gott sehen. Du wirst den Sohn Gottes
schauen. Du wirst die wunderbaren Geheimnisse lernen, die du in diesem
Leben nicht verstehen konntest, warum wir geschaffen sind, welches die Ver¬
bindung der zwei Naturen in Christo sei."
Nachdem wir Luthers und Melcmchthons Behausung gesehen haben, führt
uns der Drang des Herzens zu ihren Gräbern, in die Schloßkirche. Wir
gehn dabei noch einmal über den schönen, mit Luthers und Melanchthons
Denkmälern geschmückten Markt, auf den die gedoppelten Türme der ehr¬
würdigen Stadtkirche herunterschauen, und erreichen durch die Schlvßstraße das
am Südostende der Stadt liegende Gotteshaus. Wir gehn an dem Portale
vorüber, an das Luther seine Thesen angeschlagen hat, aber es ist leider nicht
mehr die alte ehrwürdige Holzthür, die am 13. Oktober 1760 verbrannte,
sondern wir sehen an ihrer Stelle kostbare bronzene Thürflügel, die den Wort¬
laut der 95 Thesen in gotischer Schrift tragen, eine Stiftung Friedrich
Wilhelms IV. An das sehr lange und schmale Haus der Kirche lehnt sich
der gewaltige, die Umgebung und das ganze Stadtbild von Wittenberg
beherrschende Turm, 88 Meter hoch. Die jetzige Gestalt der Kirche ist das
Ergebnis der nach den Pinnen des Geheimen Oberbaurats Adler vvllzognen,
im Jahre 1892 abgeschlossenen Erneuerung. Dabei ist namentlich der Turm
wesentlich verändert worden. Der alte Stumpf wurde zunächst in Sandstein
bis zu 50 Metern Höhe ausgemauert. In dieser Höhe wurde ein Mosnikband
um das Gemäuer gelegt mit der weithin lesbaren Inschrift: „Ein feste Burg
ist unser Gott." Dann folgt eine gotische Galerie mit Wimpergen und Fialen,
darüber eine kupfergedeckte Kuppel und endlich eine mit hoher Spitze und
vergoldetem Kreuz bekrönte gotische Laterne. Ich kann diesen Turmbau trotz
der Schönheit mancher einzelner Bauglieder nicht schön finden; die reiche
Ornamentierung des obern Drittels stimmt nicht recht zu der Kahlheit der
untern Teile, außerdem widerspricht die runde Form des Turms und der
Kuppel dem Grundprinzip der Gotik. Weit mehr würde nur die Wieder¬
herstellung der ursprünglichen Form des Turmes gefallen haben, wie sie uns
Lukas Krauach überliefert hat.
Um so uneingeschränkter muß die großartige Erneuerung des Innern
gelobt werden. Das kunstvolle Netz des Gewölbes und die Pfeiler strahlen
in den frischen Farben einer geschmackvollen Bemalung, vor allem aber wird
die Wirkung des herrlichen Raumes erhöht durch die Glasmalerei der Fenster
und durch die ringsumher an den Pfeilern stehenden Säulen mit den Statuen
der Reformatoren. Freilich die Predigt, die ich zu hören bekam, entsprach
meinen Erwartungen nicht — es mag anch schwer sein, an dieser Stelle zu
predigen, wo sich der Hörer unwillkürlich einen Abglanz lutherscher Wärme
und lutherschen Geistes verspricht. Aber uach dem Gottesdienste, während der
Küster zahlreichen andern Fremden die Reliefplatten Friedrichs des Weisen
und Johanns des Beständiger von Peter und Hans Bischer in Nürnberg,
das interessante Grabmal des Juristen Henning Göte u. a. erklärte, gelang es
mir, in der Nähe der Kanzel sitzend ein stilles Feierstündlein an den einander
gegenüberliegenden Gräbern Luthers und Melcinchthons abzuhalten. Die
Herbstsonne schien durch die bunten Scheiben der riesigen Fenster und erfüllte
die Halle mit farbigen Lichtern, die auf den Bildsäulen und Grabplatten hin
und her liefen. Ich mußte daran denken, wie ich wenig Jahre zuvor in der
kalten Marmorpracht der Peterskirche zu Rom unter einer vieltausendköpfigen
Menge, durch die reich geschmückte Bischöfe und Kardinäle mit ihrem geistlichen
Gefolge ab- und zugingen, die große Lamentation des Karfreitags gehört und
vergebens versucht hatte, mich zur Andacht zu stimmen. Hier war mirs heimelig
und heimatlich, und alle die Eindrücke, die ich von Luther und seinem Kreise
und von den sächsischen Fürsten des sechzehnten Jahrhunderts auf meinen
kursächsischen Wanderungen in mich aufgenommen hatte, flössen hier an
geweihter Stätte zu der klaren Empfindung zusammen, daß das Resormations-
werk dieser Zeiten, in seinem weitesten Begriffe genommen, wie es einen neuen
Glauben und eine neue Bildung, eine neue Kirche und Schule, eine neue Kunst
und schließlich auch deu neuen Staat geschaffen hat, die größte Leistung ist,
auf die das deutsche Volk zurückschauen darf.
Aber dieser Rückblick von der Gegenwart in die Zeit der Reformation
führt nicht über eine zusammenhängende Fläche kontinuierlicher Entwicklung,
sondern auch an eine tiefe Schlucht, in der finstere Wasser rauschen, über die
nicht breite Brücken, sondern nur ein schmaler Steg zu den sonnenbestrahlten
Gefilden der Reformationszeit hinüberführt. Das frische, gemütstiefe, deutsche
Leben, das in Wittenberg und in den sächsischen Landen'unter Luthers und
Melanchthons Augen zu Tage getreten war, beginnt noch vor Ablauf des
sechzehnten Jahrhunderts in seinem Urquell und auch da, wohin es wachs¬
tumweckend gedrungen war, zu versiegen und stirbt in den ersten Jahr¬
zehnten des siebzehnten Jahrhunderts' vollends ab: statt des lebendigen
Glaubens stoßen wir ans ödes dogmatisches Gezänk und auf wüsten Aberglauben,
statt froher Wissenschaft finden wir toten Formelkram, statt der klaren, edeln
Prosa Luthers finden wir unerträglichen Schwulst und Sprachmengerei, statt
einer volkstümlichen deutschen Dichtung zopfige Gelehrtenpoesie nach fremden
Mustern, statt des absoluten Staats Rückfall in'das ständische Regiment. Woher
dieser lebentötende Rückschlag? Nicht die Gegenreformation, nicht der Dreißig¬
jährige Krieg haben ihn hervorgerufen, man muß eher sagen: die Gegen¬
reformation und der Dreißigjährige Krieg waren im deutschen Reiche nur dadurch
möglich, daß die evangelisch-libertistisch-nationale Bewegung im Sterben lag.
Wo liegen die letzten Gründe dieser Erscheinung?
Drei Ursachen — es giebt natürlich auch noch andre — stehn mir be¬
sonders klar vor der Seele: das Scheitern der großen Bauernbewegung, die
falsche Überspannung des humanistischen Bildungsprinzips und die schranken¬
lose Entfesselung des Teufels- und Dümoncnglaubens.
Luther war eines Bauern Sohn, und mit ihm waren es viele der besten und
größten Geister der Reformationszeit. Schon damals scheint das in mehreren
Generationen fortgesetzte Leben hinter den engen, dumpfen, pestverseuchten
Mauern der Städte der Entwicklung des Menschen nicht günstig gewesen zu
sein, dagegen war gegen Ende des fünfzehnten und zu Anfang des sechzehnten
Jahrhunderts der edelste und begabteste Nachwuchs der Nation aus dem auf-
strebenden Bauernstande hervorgegangen; dieser aber sank nach den Greueln
der Bauernkriege (1525) in weit schlimmere Unfreiheit, teilweise auch in Roheit
und Unwissenheit zurück. Der Zuzug emporstrebender Bauernsamilien nach
den Städten wurde durch die Erbuuterthänigkeit unter die Gutsherrschaft fast
verhindert, den begabten Söhnen des Bauernstandes war der Weg zur höhern
Bildung fast abgeschnitten.
Noch gefährlicher für die Zukunft der Nation war die falsche Überspannung
des humanistischen Bildungsprinzips. Das Studium der klassischen Sprachen
ist seiner ganzen Natur nach nur für eine geistige Aristokratie bestimmt, niemals
darf es zum Gegenstände der Volksbildung gemacht werden. Aber in der
frischen Freude über die wiedergewonnenen Schätze wollte man möglichst viele
daran teilnehmen lassen, überzog man das ganze Dasein mit einem antikisierenden
Firnis. Melanchthon selbst mit seinen etymologischen Spielereien, durch die
Urdeutsches für Griechisches ausgegeben wird — s. 1902, 1, S. 92 —, trägt
daran eine gewisse Schuld; aber er hat doch immer das nationale Wesen ueben
dem antiken' gepflegt und vor der rein formalen Bildung ihren Inhalt betont.
Als aber nicht nur in den größern Städten, sondern sogar in den kleinsten
Nestern die Lateinschulen cmporsproßten, als das Latein nicht etwa nur denen
beigebracht wurde, die sich auf Uuiversitütsstudieu vorbereiteten, sondern auch
dem „Gevatter Schneider und Handschuhmacher," als das Heer der daevaliturvi,
vÄirtorss, knall M^istri, rketorss usw. schließlich die ganze männliche Jugend
der Städte, stellenweise, z. B. in Nürnberg, sogar die weibliche zu drillen begann,
da war natürlich von einem Eindringen in den Geist des Altertums kaum noch
die Rede, nur die tote Form wurde eingebleut, und die Empfindung für
das Vaterläudischc ging zurück, dem deutschen Wesen wurden die Wurzeln
abgegraben. Die Afterweisheit der theologischen Haarspalter in der zweiten
Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts hängt aufs engste mit diesem Geiste zu¬
sammen. Und auch auf diesem Gebiete zeigt sich die Verwechslung von Wissen¬
schaft und Volksbildung — die öden Streitigkeiten über Kryptokalvinismus
und Flaeianismus werden durch deu blinden Fanatismus der Knnzelu und
Lehrstühle in die untersten Volksmnssen hineingetragen und zerrütten hier den
frommen Glauben und alle naive Lebensfreude.
Von dieser Beobachtung aus fällt ein eigentümliches Licht auf manche Er¬
scheinungen der Gegenwart. Auch unsre Zeit hat nnter einer falschen Anwendung
der humanistischen Bildung gelitten, insofern man deu Weg für zu viele Berufs-
arten durch die engen Pforten des humanistischen Gymnasiums hindurchzu-
zwängen suchte, und indem man das Latein auch um Schulanstalten betreibt,
in die es nicht gehört, z. B. an den Lehrerseminarien. Das fördert nur den
großen Bildungsnnschmasch, an dem unsre Zeit leidet. Für noch weit bedenk¬
licher aber halte ich die Hochschulkurse fürs Volk, in denen auch Arbeiter
für Latein und Griechisch interessiert werden sollen, ja in denen sogar die
schwierigsten theologischen Fragen über Christi Person u. tgi. von Universitäts¬
lehrern vor nicht wissenschaftlich Gebildeten erörtert werden. Die Wissenschaft
verliert dabei an Ansehen, und das Volk an Bescheidenheit: beides ist Wasser
auf die Mühle der Sozialdemokratie.
Die dritte Ursache des Rückgangs im sechzehnten und im siebzehnten Jahr¬
hundert war die schrankenlose Entfesselung des Teufels- und Dämonenglaubens.
Seitdem die alten Heidengötter vor dem siegenden Christentum zu Dämonen
herabgedrückt worden waren, liegt der Dämouenglcmbe den Deutschen tief im
Blute. Auch Luther war nicht frei davon, er hat zeitlebens mit dem Teufel ge-
rungen, doch behielt in seiner Seele der lichte Gottessohn immer über die Dä¬
monen, von denen er sich umringt fühlte, den Sieg. Verstärkt wurde der Dü-
mvnenglaube dieser Zeit noch durch die Bekanntschaft mit den Nenplatonikern,
die die Renaissance vermittelte, namentlich mit Plotin und seinen Nachfolgern.
Der Fromme rief Gott wider die bösen Geister an: aber es war auch ein um-
gekehrtes Verhältnis denkbar, dnß einer sich gegen Gott mit den bösen Geistern
Verbündete. Das that der geheimnisvolle Doktor Faust, von dem die 1587 in
Frankfurt gedruckte „Historia von v. Johann Fausten dem weitbeschreyten Zauberer
unnd Schwartzkünstler" berichtet. Dieses Buch, dessen Erzählungen sich größten¬
teils in und um Wittenberg abspielen, eröffnet uns einen interessanten Einblick in
die Entartung des Wittenberger Geistes, wie sie nach Luthers und nach Melcmch-
thons Tode zur Erscheinung kam. Gleich der erste Satz führt uns nach Wittenberg:
„Doktor Faustus ist eines Bauwern Sohn gewest, zu Rod (d. i. Roda) bey
Weinmar bürtig, der zu Wittenberg ein große Freundschafft gehabt, desgleichen
seine Eltern Gottselige uund Christliche Leut, ja sein Vetter, der zu Wittenberg
seßhasft, ein Bürger und wol Vermögens gewest, welcher v. Fausten aufferzogen
und gehalten wie sein Kind . . ließ ihn auch in die Schul gehen, Theologiam
zu studieren, Er aber ist von diesem Gottseligen Fürnemmen abgetretten und
Gottes Wort mißbraucht." Und wenn wir im zweiten Kapitel des Faustbuchs
(S. 185) lesen, wie Faust den Teufel beschwört in „einem dicken Waldt, wie
etliche auch sonst melden, der bey Wittenberg gelegen ist, der Spesser Waldt
genandt," so erkennen wir in dem entstellten Namen doch noch die oben (Ur. 22,
S. 490) geumiute „Specke," in der die unfleißigem und weltlich gesinnten Stu¬
denten ihr Wesen trieben. In Wittenberg zitiert Faust die Helena vor einer
großen Anzahl ihm anhängender Studenten, in Wittenberg führt er mit ihr sein
Sündenleben, und in einem Dorfe bei Wittenberg hat ihn schließlich der Teufel
umgebracht. Der Wittenberger Faust stellt den durch Legende und Phantasterei
vergrößerten schlimmsten Typus des Abfalls vom Geiste der Reformation dar.
Nur wenige werden ihm in feinen zum Antichrist führenden Spekulationen
gefolgt sein; doch wucherte der Aberglaube statt des Glaubens, die Dämonen¬
furcht statt der Gottesfurcht schon gegen das Ende des sechzehnten Jahrhunderts
allenthalben in den deutschen evangelischen Landen. Die fürchterlichen Hexen-
Prozesse waren die Folge davon; unschuldige alte Weiber wurden verdächtigt, sie
hätten mit dem Teufel Umgang gepflogen, und sie wurden so lange den Qualen
der gräßlichsten Marterwerkzeuge ausgesetzt, bis sie endlich gestanden. Der
Tod'in den Flammen des Scheiterhaufens unter den Augen einer schreienden
und johlenden Volksmenge erschien den armen Opfern als Erlösung. Die
Gefängnisse, Folterkammern und Nichtstädter dieser Zeit waren die Orte, wo
die unmenschliche Grausamkeit gelehrt wurde, die dann während des Dreißig¬
jährigen Kriegs Soldaten und Bauern wechselseitig aneinander übten.
Wir verweilen nicht bei diesen entsetzlichen Bildern, sondern fragen, wann
und von welcher Seite die Umkehr zum echten Wittenberger Geiste erfolgte. Da
wollen wir auf dein Gebiete der Religion vor allem die Pietisten und die Herrn-
huter nennen, auf dem Gebiete des Schönen Klopstock und nach ihm Goethe.
Obwohl Goethe nie in Wittenberg gewesen ist, so ist er doch ohne Zweifel
der größte Wittenberger Student. Denn keiner der großen deutschen Dichter
ist so bei Luther in die Schule gegangen wie er. An Luthers deutscher Bibel
und an Luthers Katechismus hat er seine Sprache gebildet; der Geist der
Wittenberger Nevolutiousjahre hat ans dem jungen Goethe den Götz von Ber-
lichingen hervorgelockt, aus dem alten den Faust. Die ganze Szenerie des ersten
Teils, Fausts Studierzimmer, der Spaziergang vor dem Thore, die Gretchen-
szcnen atmen Wittenberger Luft. Wichtiger als diese äußere Verknüpfung ist
die innere: als Faust am Abende des Ostertages im Studierzimmer fühlt, wie
die Nacht ^ ^^„aAiollem, h^lgem Grauen
In uns die bessre Seele weckt,
dn bricht er in die schönen, an Luthers Werk anknüpfenden Verse aus:
Wir sehnen uns nach Offenbarung,
Die nirgends würd'ger und schöner brennt
Als in dem Neuen Testament.
Mich drängts, den Grundtext aufzuschlagen,
Mit redlichem Gefühl einmal
Das heilige Original
In mein geliebtes Deutsch zu übertragen.
Freilich sein Doktor Faust wandelt dann Wege, die der fromme Luther nie
gutgeheißen Hütte; aber über den Faust des Volksbuchs und über die Auf¬
klärung des achtzehnten Jahrhunderts ist doch der Goethische Faust unendlich
hinausgehoben durch die immer wieder hervorbrechende Sehnsucht nach Thätig¬
keit im Dienste der Menschheit und nach Erlösung. Und wenn uns auch der
Schluß der Dichtung etwas katholisch anmutet — weil Goethe den läuternden
Einfluß des Weibes außer in Gretchen in der Himmelskönigin Maria symbo¬
lisieren zu müssen glaubte —, so reden doch die entscheidenden Worte, in denen
Fausts Rettung verkündet wird, nicht bloß von der Werkheiligkeit, sondern auch
von dem Hinzukommen der erbarmenden Liebe:
Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen;
Und hat an ihm die Liebe gar
Von oben teilgenommen.
Begegnet ihm die selge Schar
Mit herzlichem Willkommen.
Der evangelische Christ wird hier einen deutlichen Hinweis ans die er¬
lösende Macht des Glaubens vermissen. Und es ist wahr — so wenig Goethe
Atheist oder Pantheist war, sondern einer, „der sein religiöses Empfinden und
Handeln mit der Bibel in völliger Einstimmung wußte, dem die Gottheit die
ewige Liebe bedeutete," so gewiß war er auch kein gläubiger Christ im Sinne
Lntihers. Dieser Glaube lag wicht in seiner Zeit und in seinen Verhältnissen,
am wenigsten im Geiste der Romantik, die ihn in seinen höhern Lebensjahren
beherrschte. So hat er zwar „zeitlebens im Bannkreise der Lutherbibel ge¬
standen," aber sich bis zu Luthers Glaubenszuversicht durchzuringen blieb ihm
versagt.
Dagegen war dem größten Deutschen, der uach Goethe gelebt hat, Bismarck,
während seines Mannes- und Greisenalters auch der starke evangelische Glaube
der besten Wittenberger Zeit beschicken. Ja Bismarcks Selbstzeugnisse über
seine Stellung zur Religion zeigen sogar deutlich, daß die stärkste Wurzel seiner
Persönlichkeit und das Geheimnis seiner tiefsten Wirkung in seinem evangelischen
Glnubeu beruhte.
Als ihn die Berufung nach Frankfurt von der innig geliebten Frau und
den Kindern losreißt, schreibt er im Mui 1851: „Ich bin Gottes Soldat, und
wo er mich hinschickt, da muß ich gehn, und ich glaube, daß er mich schickt
und mein Leben zuschnitzt, wie er es braucht." Auch das folgende Jahr scheint
die ersehnte Vereinigung der Familie nicht zu bringen; da schreibt er an die
Gattin: „Ich habe das feste Vertrauen, daß der Herr unsre Gebete erhören
und uus nicht trennen wird.... Mir ist die glückliche Ehe und die Kiuder, die
mir Gott geschenkt hat, wie der Regenbogen, der mir die Bürgschaft der
Versöhnung nach der Sündflut von Verwilderung und Liebesmangel giebt, die
meine Seele in frühern Jahren bedeckte. ... Die Gnade Gottes wird meine
Seele nicht fahren lassen, die Er einmal angerührt hat, und das Band nicht
zerschneiden, an dem er mich vorzugsweise gehalten und geleitet hat auf dem
glatten Boden der Welt, in die ich' ohne mein Begehren gestellt bin."
Und im Jahre 1859 in trüber politischer Lage schreibt er: „Gott, der
Preußen und die Welt halten und zerschlagen kann, weiß, warum es so sein
muß, und wir wollen uns nicht verbittern gegen das Land, in welchem wir
geboren sind, und gegen die Obrigkeit, um deren Erleuchtung wir beten. Nach
dreißig Jahren, vielleicht viel früher, wird es uns eine geringe Sorge sein,
wie es um Preußen und Österreich steht, wenn nur Gottes Erbarmen und
Christi Verdienst unsern Seelen bleibt. Ich schlug mir gestern cibcud beliebig
die Schrift auf, um die Politik aus dein sorgenvollen Herzen los zu werden,
und stieß mit dem Auge zunächst auf den 5. Vers des 110. Psalms. Wie
Gott will, es ist ja alles doch nnr eine Zeitfrage, Völker und Menschen, Thor¬
heit und Weisheit, Krieg und Frieden, sie kommen und gehn wie Wasser¬
wogen, und das Meer bleibt. Was sind unsre Staaten und ihre Macht und
Ehre vor Gott anders als Ameisenhaufen und Bienenstöcke, die der Huf eines
Ochsen zertritt, oder das Geschick in Gestalt eines Honigbauern ereilt."
Diese Sätze könnten statt in dem Briefe eines preußischen Edelmanns auch
in eiuer der Predigten Luthers stehn — doch wir wollen nicht auf einen
schalen Vergleich des Wittenberger Doktors mit dem Schöuhäuser Deichhaupt-
mann hinauskommen, die beide zeitlebens „mit Rotten und Teufeln kriegen
und zu Felde liegen" mußten —, aber soviel muß gesagt werden, daß der
Staatsmann Bismarck nicht denkbar wäre ohne den evangelischen Christen in
ihm — das beste von dem, was Bismarck gesagt hat, und wie er es gesagt hat,
das ist doch schließlich Geist von Luthers Geist und Wort von Luthers Wort.
le Zeit der Jntelligenzblcitter spielt in der Geschichte des ältern
Zeitimgswesens eine bedeutende Rolle. Mehr als ein Jahrhundert
lang stand das Jntelligenzwesen in voller Blüte und nahm die
Stellung ein, die heute Annonce und Reklame haben. Freilich zeigt
es sich so sehr als ein echtes Kind des absolutistischen achtzehnten
Jahrhunderts, daß es bei dem ersten frischern Luftzuge der neuen
Zeit zerfiel, aber gerade deshalb ist seine Kenntnis für die Geschichte des achtzehnten
Jahrhunderts wertvoll.
Das Jntelligenzwesen tritt in zwei Formen auf: in dem Jntelligenzkontor
und dem Intelligenzblatt. Anfangs war das Kondor von dem Blatte getrennt,
späterhin finden wir sie immer vereinigt. Die Idee des Jntelligenzkontors stammt
aus Frankreich, von dem Vater Montaignes. In dem v'un äol-tutt as nos xoliogs
überschriebnen Kapitel seiner lZss^s erzählt Montaigne: „Mein seliger Vater . . .
sagte mir ehemals, daß er gern in den Städten eine Einrichtung verwirklicht ge¬
sehen hätte, wonach die Leute, die irgend eine Sache nötig hätten, an bestimmten
Stellen bei einem dazu bestellten Beamten eine entsprechende Eintragung machen
könnten, etwa in der folgenden Weise: Ich habe Perlen zu verkaufe». Ich suche
Perlen zu verkaufen. Der und der wünschen Gesellschaft zur Reise nach Paris.
Der und der suchen einen Bedienten mit den und den Eigenschaften, der und der
einen Lehrer, der und der einen Arbeiter; kurz, der eine dies, der andre das,
jeder nach seinem Bedarf." Obgleich diese Worte schon 1580 bekannt waren,
wurde das erste Jntelligenzkontor mit ausdrücklicher Berufung auf diese Stelle
Montaignes erst im Jahre 1631 durch den Pariser Arzt Theophraste Renaudot
in seinem lZnisau ä'^ärsssv gegründet. Anfangs sah Renaudot, dessen ganzes
Streben auf eine Besserung der Armenznstände hinausging, in seinem Lnisan
6'^<ZrsWs wie in dem gleichfalls von ihm ins Leben gerufnen Pfand- und Leih¬
haus nichts andres als ein Mittel, das Elend der Armen zu lindern. Nach seiner
^dee sollten vor allem die Armen und Arbeitslose» Gelegenheit haben, durch sein
Bureau Beschäftigung und Unterhalt zu finden. Aber diese Institution wuchs sich
sogleich bei ihrem Eintritt ins Leben in der von Montaigne angegebnen Richtung
ans, sodaß Halm (Raison ein (ki^va-coa.) von ihr schreiben konnte: Das Lurn^u
Ä'^ciresso war nicht, wie man vielfach angenommen hat, ein bloßes duroan as Meo-
mönt, e'«eg.it nu oklieo alö rkoseiANömsllts, ä'inkorwations, alö publieit«, oomwo it
n'su a jamai8 oxistv ä'<z,ut,rs8. Die Art, wie dieses Bureau verwaltet wurde, war
sehr einfach. Im Hause des Bureaus waren Listen ausgelegt, in die sich jeder ein¬
tragen konnte, der ein Anerbieten zu macheu hatte, oder irgend eine Sache oder
einen Dienst suchte. Fand der Eintragende alsdann eine andre Eintragung, die
seinem Wunsche entsprach, so wandte er sich an die betreffende Adresse.
In einem umfangreichen Inve-uta-irs nos aärs88os an Bureau alö r<zueoutro, on
ebiZ,our xout äcmnor et roesvoir Avis as toutss Iss nLeossitsü vt eommoclitW 6s
ig. vis ok 8ooist,S liuwaiuo veröffentlichte Renaudot auf 34 Quartseiten eine Übersicht
über alle Bedürfnisse, denen seine Erfindung zu gute kommen sollte. Renaudot
verwaltete sein Bureau auf Grund eines königlichen Privilegs, das ihn nicht nur
vor jeder Konkurrenz sicher stellte, sondern ihm auch die Befugnis gab, in allen
Orten, die ihm geeignet erschienen, solche Bureaus und Listen anzulegen. Ans
Grund dieses Brevets errichtete er zuucichst Filialen seines Bureaus in Paris, die
genau so organisiert waren wie das Hauptbureau. Die Benutzung der Bnrenus
war freiwillig, das dafür zu zahlende Geld war gering. In dein genannten Brevet
Ludwigs XIII. heißt es: „Eine Eintragung oder ein Auszug aus den genannten
Listen soll nicht mehr als drei Sons kosten, für die Armen aber gratis sein, und
niemand soll gezwungen sein, sich der Bureaus zu bedienen."
'
So glücklich die Idee des Luvog-u ä^al'Lsso auch zu sein schien, so hatte sie
doch einen großen Fehler, nämlich den der örtlichen Gebundenheit. Wer sich des
Bureaus bedienen wollte, der mußte persönlich den Gang dahin machen, die Listen
durchsehen oder seine Eintragung aufgeben, und war seine Eintragung erledigt, so
hatte er die Verpflichtung, die Löschung zu beantragen. Dieses Verfahren war
umständlich und erforderte viele Mühe und Zeit, und so sann Renaudot auf ein
Mittel, diese lokale Gebundenheit zu umgehn. Er fand dasselbe in den ?oui>to8
nu IZureau ä'^clressö, die im Jahre 1633 erschienen. Diese Blätter waren nichts
andres als die vervielfältigten Listen des Bureaus, die nunmehr wöchentlich jedem,
der sie haben wollte, gegen Entgelt zugestellt wurden. Dabei trat nun natürlich
das Bureau selbst in den Hintergrund nud sank bald zum bloßen Expeditionskontor
herab, während sich die I'ouiIIo8 unverändert in ihrem Wesen, wenn auch in
wechselndem äußerm Gewände, erhielten. Im achtzehnten Jahrhundert hatten sie
mehrfach mit Konknrreuzuuternehmungen zu kämpfen. So gründete im Jahre 1716
Dugone seine LMedos alö ?aris, ass xrovmeos se clos xa>s otrarixors, die sich trotz
des weit gefaßten Titels in der Hauptsache auf Paris allem beschränkten. Dieses
Unternehmen ging auf öffentliche Bekanntmachungen zurück, die schou damals in Paris
besonders gebräuchlich gewesen zu sein scheinen, nämlich auf die Maueranschläge,
die Dugone gesammelt in seinem Blatte abdrucken wollte. Daher der Name ^Mebes.
Das Dugonische Unternehmen, das sehr bald einging, wurde 1745 vou Boudet
wieder aufgenommen, der dann sein Blatt mit den sechs Jahre später gegründeten
?stiw8 ^Me1nz8 des Abbü Andere vereinigte und so den Grund legte zu den heutigen
in Paris weitverbreitete« ?odles8 ^M<mo8.
In England, das wir sonst als das eigentliche Land des freien, nicht besonders
organisierten Anzeigewesens kennen, scheint doch einmal der Versuch gemacht worden zu
sein, eine Art Lnioau ä'^ürosso oder ein Jntelligenzkontor zu errichten. Wenigstens
schreibt Robert Sanderson im Jahre 1735 zu London: Am 20. Dezember 1637 erteilte
der König dem John Jnnys ein Privileg für eine oklieo ok intollissonoo, auel ok
«ZutörillK t,lig NÄins8 ok g,it ma.stoi8, im8triZ88L8 auel 8vrvauis, »mal ok all Aooäs lost
Alla könnet ste. vniüin tlnz eiri«Z8 ok l/ouclou frei ^<Z8kmiu8tgr g,nel ibroo miles
al8will, lor torty vno ?«zg,r8. (Wir zitieren nach Johann Beckmann, Beyträge
zur Geschichte der Erfindungen, Band II, Leipzig. 1788.) Ist dieses Institut, was
aus obigem noch Ilinsk hervorgeht, wirklich ins Leben getreten, so kam es unmöglich
lange bestanden haben, denn es wird von keinem Engländer jemals erwähnt. Wahr¬
scheinlich ist es jedoch, daß es bei dem bloßen Plane des Jnnys blieb.
Das Charakteristische des Jntelligenzwesens, wie es in Dentschland auftritt, ist
der Umstand, daß es von vornherein als ein wichtiges wirtschaftspolitisches Mittel
angesehen wird. In Deutschland ist das Jntelligenzwesen ein Teil der Handels¬
politik. Den ersten Vorschlag, der in der Richtung des Jntelligenzwesens in der
deutschen Litteratur gemacht wird, finden wir bei Wilhelm Freyherrn von Schröder»
in seinem Buche „Fürstliche Schatz und Rent-Cammer," dessen erste Aufgabe im
Jahre 1686 erschien. Schröder wendet sich mit seinem Vorschlag an den Kaiser,
indem er sich nicht auf das Nenaudotsche Anm un ä'/Vciiesse, sondern auf das
Junyssche Unternehmen zu London beruft. Schröder erörtert zunächst die „zwey
general-vbstaeuln des Handels," nämlich „daß der Muster nicht alle Örter weiß
wo das zu knuffen ist, was er vonnöthen hat und zum andern der Verkäufer weiß
nicht, wo ein solcher Kauffmann steckt, welcher sowohl aus noth dieses zu kaufen
suchet, was er auch aus noth gerne verkauffen wolte, oder wo alle solche lente
seyn, die dergleichen fachen, welche er zu verkauffen hat, zu kaufen verlangen. Ich
finde aber, daß solches alles durch ein Universalremedium könne erlanget, und diese
vbstacnla aus dem Wege gerannnt werden: Nemlich daß ein generaler Marckt in
allen Jhro Kayferl. Majest. erblöndern continuirlich gehalten werde, nllwo ein jeder
ohne reisen oder boten schicken in einer viertelstnnd alles wissen könne, was in allen
diesen Ländern zu verkauffen, und wo ein jedes zu finden sey: Also daß, wenn er
etwas von nöthen hat, solches alldar ohne suchen finden könne; und hergegen
wiederum, wer etwas zu verkauffen bat, solches alldar auf einmal allen menschen
in allen erd-trübem feil bieten und vorlegen könne; und daß solcher marckt ohne
trcmsportntion der Waaren doch an allen örteru in den erd-läutern zugleich ge¬
halten werde, und jähr aus jähr ein continuire." Und sodann entwickelt er sein
„Project Eines freywilligen, ungezwungenen Jntelligentz wercks zur consolation der
trüber, ingrossirnng der Commercien, propagirnng der manufacturcn, und ver-
niehrnng Jhro Knyserl. Majest. einkommen, nützlich und dienlich erfunden."
Was die iinßere Art des Betriebs anlangt, so schlägt Schröder sie ähnlich
dor wie im Lnroan S'Mresss. Nur will Schröder außer den bloßen Eintraguugs-
listen noch zu Nnschlagstafeln greifen, und wo auch diese nicht ausreichen, schlägt auch
er wöchentliche Jntelligenzblcitter vor. Das Bemerkenswerteste an dem Schröderschen
Norschlag ist seine politische Auffassung. Er sieht einmal im Jntelligenzwesen einen
ökonomischen Vorteil für Handel und Industrie, dann auch eine neue Einnahme¬
quelle für den Staatsschatz.
Der Schrödersche Vorschlag hatte eine dauernde praktische Wirkung zunächst
nicht. Zwar soll schon zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts ein Fntelligenzkvntor
in Wien bestanden haben, doch wird berichtet, das; es „nicht ununterbrochen" ge¬
wesen sei. Auch Johann Jacob Moser in seinem Werke „Von der Landeshoheit
in Cameralsacheu" (Frankfurt und Leipzig, 1773, Band III) scheint von der Existenz
eines derartigen Kontors zu wissen. Doch ist die Sache sehr zweifelhaft. An
"ndrer Stelle nämlich (in seinen „Schwäbischen Nachrichten von ökonomischen
Sachen," Stuttgart. 1756) spricht Moser von einem Fragamt, das erst 1707 in
Wien im Anschluß an ein Versatzamt errichtet worden sei. Gewisses habe ich aber
"und hierüber nicht ermitteln können.
Wenn wir von dem Hamburger Unternehmen aus dem Jahre 1673 zunächst
absehen (wir werden nachher darauf zurückkommen), so beginnen die Jntelligenz-
kwitore in Deutschland mit dem Jahre Z721, wo das erste Dresdner Kondor er¬
öffnet wurde. Von da an geht die Entwicklung in aufsteigender Linie bis in das
erste Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts hinein, wo es seinen Höhepunkt er¬
reicht zu haben scheint. Im engen Anschluß an die Jntelligenzkontvre entwickeln
Wh in Dentschland die Jntclligenzblätter, doch besteht die Aufgabe der Intelligenz-
kontore nicht bloß in der Herausgabe der Blätter, sie sind im Gegenteil oft sehr
vielseitig. So heißt es in einem „Avertissement" des „Leipziger Intelligenz-Blattes
in Frag und Anzeigen vor Stadt und Landwirthe zum Besten des Nahrungsstandes,"
das im ersten Jahrgang von 1763 enthalten ist, unter anderm: „Man wird in
dem Comtoire selbst allerley neuersonnene nützliche Maschinen, Modelle, Risse und
dergleichen zu seiner Zeit unentgeldlich vorzeigen, dergleichen, wenn sie verlanget
würden, verfertigen lassen usw." Und über die Begründung des Dresdner Kontors
berichtet das Jubiläumsblatt des Dresdner Anzeigers vom 1. September 1880:
„Bald darauf (1721) errichtete Auktionator Grießbach mit des Rats Erlaubnis
in einem Gewölbe am Altmarkt in der Frau Hnusin Hause das sogenannte kleine
Adreßkointoir, welches zehnerlei Dinge besorgte usw." Welches diese zehnerlei Dinge
waren, ist freilich nicht gesagt, jedenfalls aber erhellt, daß die Jntelligenzkontore
nicht bloße Anzeigezeitungsexpeditionen waren. Deshalb nannte sich beispielsweise
auch dus Kurzböcksche Kondor in Wien (1770) „Comptoir der Künste, Wissenschaften
und Kommercien." Zenker (Geschichte der Wiener Journalistik) giebt von der
Thätigkeit eine vielleicht etwas zu moderne, aber im Kern doch gewiß richtige
Schilderung, wenn er sagt, daß es „eine Art Jnformations- und Kommissionsbureau
vorstellte; es übernahm wissenschaftliche und kommerzielle Aufträge, erteilte litterarische
Auskünfte, Aufschlüsse über neue Erfindungen, Instrumente, Modelle usw., gab die
Kurszettel der öffentlichen Papiere, Wechsel und Waren aus, führte ein Register der
Wiener Geschäftsfirmen, besaß eine Sammlung mathematischer, ökonomischer Gegen¬
stände und dergleichen."
Auch war das Jntelligenzkuntor zuweilen mit andern Einrichtungen, die dem
öffentlichen Wohle dienten, verbunden, wie z. B. in Vrünn, wo, wie Winckler
(Die periodische Presse Österreichs) berichtet, die „um das wirtschaftliche Wohl ihrer
Unterthauen stets besorgte Kaiserin Maria Theresia" eine Leihbank auf bewegliche
und unbewegliche Güter und 1751 in Verbindung damit ein „Frag- und Kund-
schaftsamt" errichtete.
Wollen wir die weitere Entwicklung des Jntelligenzwesens in Deutschland ver¬
folgen, so wenden wir uns den Jntelligenzblättern zu. Ganz wesentliche Dienste
kann uns dabei ein kleines Buch leisten, das im Jahre 1802 zu Weimar erschienen
ist: „Die JntelligeuzMtterkunde für den nicht unterrichteten Privatmann; enthaltend
eine Beispielsammlung der vorzüglichsten Jntelligenzarttkel, eine kurze Anweisung,
sie richtig abzufassen, und ein alphabetisches Verzeichnis der bekanntesten Jntelligenz-
expeditionen, welche Anzeigen zur öffentlichen Bekanntmachung annehmen." Ich
habe dieses Buch, das offenbar als ein geschäftliches Handbuch gedacht ist, dabei
aber sehr schätzbare historische Notizen enthält, nirgends zitiert gefunden. Ich fand
es zufällig in der Königlichen Bibliothek zu Dresden. Das Buch ist anonym er¬
schienen, doch trägt das Dresdner Exemplar ans der Innenseite des Umschlags den
handschriftlichen Vermerk: „Vom Verfasser Herrn Subconrectur Sttebnitz." Ge¬
widmet ist es Herrn von Schwarzkopf und dem Herausgeber des Gothaer Reichs-
anzeigers Hofrat Becker „als Pflegern und Erhaltern der deutschen Jntelligenz-
blätterkunde."
„Hamburg rühmt sich des frühesten Avertissementsblatts (1680 bis 1690),
schreibt Schwarzkopf (Über politische und gelehrte Zeitungen usw. in Frankfurt ni. M.),
in dem noch jetzt (im Jahre 1802) unter dem Namen der Wieringschen Zeitung
fortgehenden Relations-Courier." Diese Thatsache ist richtig, wenn auch die von
Schwarzkopf angegebne Jahreszahl 1680 offenbar falsch ist. Von Lappenberg
(Zur Geschichte der Buchdruckerkunst in Hamburg) und von Stieda (Die Anfänge
der periodischen Presse in Mecklenburg) wird das Anfangsjahr des Relationskuriers
in das Jahr 1673 gesetzt, ich selbst finde in einer Beschreibung Hamburgs aus
dem Jahre 1794 die Zahl 1674 als die maßgebende angeführt, vermag aber
natürlich nicht zu entscheiden, , welche von den beiden die richtige ist. Nach der
Schilderung nun, die Lappenberg von diesem Blatte gegeben hat, hat es den An-
schein, als ub der Relationskurier kein eigentliches Jutelligeuzunternehmen gewesen
sei, sondern sich aus einer politischen Zeitung allmählich mehr und mehr zu einem
Anzetgeblatt entwickelt habe. Das erste wirkliche Jntelligenznnternehmen scheine»
w Hamburg erst die „Wöchentlichen Hamburger Frag- und Anzeignngsnachrichten"
vom Jahre 1724 gewesen zu sein, die freilich schon seit 1711 in einem „Diarium,"
das wöchentlich über die Gebornen, Proklamierten und Verstorbnen berichtete, eine
Art Vorläufer gehabt zu haben scheinen. Im Jahre 1766 erhielten sie in den
»Hamburgischen Addreß-Comtoir-Nachrichten" ihre Fortsetzung. Beckmann berichtet,
daß in der Ankündigung des genannten Hamburger Blattes von 1724 erwähnt
sei, daß ähnliche Unternehmungen außer in London, Paris und Frankfurt auch
schon in Wien bestünden. Und zwar soll das Wiener Intelligenzblatt unter Karl VI.
entstanden sein. Danach müßte seine Gründung zwischen 1711 und 1724 fallen.
Zuverläßlich wird jedoch auch diese Angabe nicht sein. Verbürgt ist dagegen das
Intelligenzblatt des schon erwähnte» Grießbachischen Kontors zu Dresden vom
Jahre 1721. Einen Vorläufer, ähnlich dem Hamburger Diarium von 1711, scheint
auch dieses Blatt in einem Diarium viosäsuso gehabt zu haben, das auf An¬
rate» des Kommerzienrath Marperger der AuNonntor Crell im Jahre 1718 all¬
wöchentlich lateinisch und handschriftlich herausgab, und das „von vielen nützlichen
Dingen am Orte" berichtete. Das Grießbachische Unternehmen stockte sehr bald,
wurde dann aber im Jahre 1730 von Hilscher wieder aufgenommen und seitdem
ununterbrochen fortgeführt. Die zeitlich dann zunächst folgenden beiden Jntelligenz¬
blätter sind das von Frankfurt a. M. 1722 und von Hanau 1725.
Im Jahre 1727 begann die preußische Regierung ihren groß angelegten Plan
eines über die ganze Monarchie verzweigten Jntelligenzwesens auszuführen. Am
6- Januar 1727 erging an die Berliner Behörden die nachstehende Königliche
Kabinettsordre: „Nachdem wir in Gnaden resolviret, ein Jntclligentz Waral auf
dem Fuß — wie es in andern Haupt- und Handelsstädten von Europa ein¬
geführet — dem Publico zum besten einrichten und zu dem Ende wöchentliche
Frage und Auzeiguugsnachrichten zum Druck bringen zu lassen; als befehlen Wir
Euch hierdurch in Gnade», dieses löbliche Werck eures Ort mit zu befördern." So
erschien denn am „3. Februarii Anno 1727 Unter Sr. Königl. Majest. in Preußen usw.
Unsers allergnädigsten Königs und Herrn, allcrguddigster Approbation und auf
Dero specinlen Befehl" die erste Nummer der „Wöchentlichen Berlinischen Frag-
und Anzeigungs-Nachrichten." Noch in demselben Jahre entsteh», wie aus deu
Ankündigungen im ersten Jahrgang des Blattes hervorgeht, die Jntelligenzblätter
zu Duisburg, Minden, Magdeburg, Stettin und Königsberg, denen sich im Jahre
1729 das zu Halle anfügt.
Nach diesem so kräftigen Vorgehn des preußischen Staats in der Förderung
des Jntelligenzwesens breitet es sich auch im übrigen Deutschland sehr rasch aus.
Es erhielten ein Jntelligenzkontor nebst Intelligenzblatt die Städte: Weimar 1734.
Stuttgart 1736, Ansbach 1740, Breslau 1742, Augsburg 1744, Braunschweig
und Bremen 1745, Aurich 1747, Nürnberg 1748, Schwerin und Wismar 1749.
Im Jahre 1750 folgten Aachen, Gießen und Glückstadt, dann Gotha und Lübeck
1751. Rostock und Ulm 1752, Bamberg 1753, Göttingen 1755, Karlsruhe 1756,
Rinteln 1762. In das Jahr 1753 fällt die Gründung der Jntelligenzblätter in
Eisenach, Frankenhnnsen, Heilbronn, Meiningen und Leipzig. Danach folgen 1765
Arnstadt, 1766 Lemgo. München. Nordhausen und Osnabrück, 1767 Kempten,
Wetzlar und Worms, 1768 Rudolstadt, Neu-Strelitz und Wittenberg. Im nächsten
Jahrzehnt treten alsdann hinzu Darmstadt 1772, Altona und Dillingen 1773, Kiel
^776 und Hildesheim 1777. Alsdann Köthen 1781, Bunsen 1782, Erfurt 1784.
Strehlih und Dettum bei Wolfenbüttel 1786, Kasta und Holzminden 1787, Hom¬
burg 1789. Im letzten Jahrzehnt beginnen Jever 1791, Neuwied und Sonders¬
hausen 1795, Görlitz 1798, Bernburg, Camburg, Chemnitz und Eisenberg 1799.
Im Jahre 1795 erhält auch Schaumburg-Lippe ein Intelligenzblatt.
Dieses sind die Jntelligenzanstalten, deren Gründungsjahr bekannt ist. Dazu
treten noch eine Reihe von Orten, von denen nicht gennn bekannt ist, wann sie
Jntelligeuzblätter erhalten haben. Als solche werden im Jahre 1802 noch gegen
fünfzig angeführt. Bei einer Reihe von ihnen heißt es, das; sie Jntelligenzblätter
schon seit langer Zeit gehabt hätten. Jedenfalls sehen wir, wie es um die Wende
des vorigen Jahrhunderts kaum einen größern Ort gab, der nicht sein Intelligenz-
blatt gehabt hätte. Freilich sind die einzelnen Blätter wechselnden Schicksalen unter¬
worfen. Sie werden zeitweilig unterbrochen oder hören an manchen Orten ganz
auf. So hatte Rastatt ein Intelligenzblatt nur bis 1771. Jülich und Zweibrücken
hatten vor 1800 Jntelligenzblätter, danach aber nicht mehr. Das Weimarische
Blatt ging beim ersten Versuch mit der zweiunddreißigsten Nummer ein, wurde
dann aber sehr bald wieder ciufgcuommeu. Das Sondershäuser Intelligenzblatt
erlebte in sechs Jahren drei verschiedne Ansätze. Das Gießener Unternehmen setzte
beinahe zwanzig Jahre ans, und anch das zu Gotha erlebte verschiedne Wieder¬
aufnahmen. Der Gesamtentwicklnngsgang wird aber durch diese oft nur auf lokalen
Ursachen beruhenden Störungen nicht aufgehalten. Vielmehr sehen wir zu Ende
des Jahrhunderts eine erstaunliche Fülle selbständiger Jntelligenzwerke. Werfen
wir nunmehr einen weitern Blick auf das Wesen und den Inhalt der Jntelligenz¬
blätter.
„Jntelligenzblätter, sagt Buddeus (in Ersch und Grubers Enehklopädie, Ar¬
tikel Jntelligenzanstalt), enthalten solche Notizen, welche schleunig in einem gewissen
Kreise, z. B. Stadt, Land, Bezirk usw., zur öffentlichen Kenntnis .(Intelligenz)
kommen sollen. — Alle Gegenstände des Handels und Wandels, alle Notizen,
welche für den Kreis, dem das Blatt angehört, in merkantiler, industriöser, litte¬
rarischer, polizeilicher, rechtlicher, geselliger, das häusliche Leben, den täglichen Verkehr,
die Land- und Hauswirtschaft angehender Rücksicht interessant sind, eignen sich für
diese Blätter." In der Regel wird der Inhalt schon in den oft recht umfang-
reichen Titeln der Blätter zusammengefaßt. Das Frankfurter Unternehmen nannte
sich „Wöchentliche Franckfurter Frag- und Anzeigungs-Nachrichten, von allerhand in
und außerhalb der Stadt zu kauffen und zu verkauften, zu verkapselt und lehren
seyenden, auch verlohrnen, gefundenen und gestohlenen Sachen; Sodann Versöhnen,
welche Geld lehnen, oder anßleyhen wollen, Bedienungen oder Arbeit suchen, oder
zu vergeben haben usw." Die Berliner Nachrichten trugen fast wörtlich dieselbe
Anzeige am Kopfe, fügten aber noch hinzu: „Ingleichen denen Kopulierten, Ge-
bohrueu und Gestorbenen, wie auch ankommenden Fremden ?c. :c. nebst dem Markt¬
gängigen wöchentlichen Korn- und Woll-Preise :e." Die spätern Blätter tragen
etwas kürzere Titel, die aber immer noch charakteristisch genug siud, so das von
Görlitz: „Anzeiger oder allgemeines Intelligenzblatt zum Behufe der Justiz, der
Policey und der bürgerlichen Gewerbe in der Lausitz, wie auch zur öffentlichen
Unterhaltung der Leser über gemeinnützige Gegenstände aller Art." Der Inhalt
der Jntelligeuzblätter ist niemals durchaus gleichartig, sondern richtet sich nach den
wechselnden Bedürfnissen und Beschäftigungen ihres Leserkreises. In dein einen
wird auf irgend eine Art von Nachrichten mehr Wert gelegt als in einem andern.
Das Gießener Blatt bringt „insbesondere ökonomische Aufsätze, Policey- und andere
Verordnungen, Bekanntmachungen aus dem Privatleben nebst dem wöchentlichen
Preise der Lebensmittel." Das Meininger enthält „alle herrschaftlichen Verord¬
nungen und die Taxen der Lebensbedürfnisse, nämlich von alleu Früchten, vom
Brode und Semmeln, von Fleisch, Seife, Lichtern usw." Das Zeitzer Wochenblatt
nimmt „alle bürgerliche Local-Nachrichten ans und liefert außerdem die Wetter-
Anzeige«, die Getraide-, Victualien- und Fleischpreise." Die Lebensmittelpreise sind
fast durchgängig aufgenommen, ein Zeichen dafür, daß mau uicht nnr ein reines
Annoncenblatt mit den Jntelltgenzblättern bezweckte, sondern darin eine Wohlfahrts¬
anstalt zur Förderung der Volkswirtschaft sah, oder „zum Besten des Nahruugs-
stcmdes," wie es zumeist lautet. In den in, ersten Jahrgang des Berliner Jntelli-
genzblatts oft um den Fuß der Blätter gesetzten Ankündigungen der übrigen
Preußischen Jntelligenzblätter heißt es, daß darin „außer einen bey dein Dnyßbnrgischen
und Stettinischeu Zettel vorhandenen nützlichen Articul von Wechsel- und Speeies-
Cvnrs. welcher denen Kauffleuten, so Geld-Verkehrungen nach Holland und sonsten
haben, sehr zustatten kommt, die Bier-, Brodt- und Tabacks-Taxe, auch der Woll-
uud Getrcyde-Preiß, wovon in den Stettinischen der Werth des Getreides von
Weitzen. Roggen, Gersten, Maltz, Erbsen, Huber, Buchweitzen, Hopffen ?e.. wie
selbiger in allen Städten in Pommern, von Stettin bis Butan und Lauenburg,
bald steiget, bald fället, weiter der Preis; der fremden Frantz- und anderen Weine,
auch allerhand Materialisten-Waaren, ingleichen in dem Magdeburger das Steigen
und Fallen der Elbe, auch wie hoch beym Lachs-Fang selbiger von Wochen zu
Wochen Pfundweise aldort zu stehen, kommt, die Ankunft und Abfahrt der ein¬
heimischen und auswärtigen Schiffer nebst ihrer Fracht aber in den Stettiner und
Königsberger angezeiget werden/' So enthalten die Blätter jeweilig das, was für
ihren Leserkreis besonders zu wissen nötig ist. Darum wird im Jahre 1729 von
den Hallischen Zetteln hervorgehoben, dos; darin „nnßer denen gewöhnlichen Artieuln
verhandelt werden, was vor Edieta und neue Verfassungen im Herzogthum Magde¬
burg herauskommen, was vor Disputationen und Bücher von denen Professoren
und andern gelehrten Leuten verfertigt, Collegia gehalten, hohe Standespersonen
nnmatrieuliert, auch in der Handelsschafft Saltz-Schiffe abgefertiget."
In der Regel sind die Blätter in einzelne Rubriken geteilt, unter denen die
einzelnen Bekanntmachungen und Anzeigen verteilt werden. So enthält die aller¬
erste Nummer des Berliner Jntelligenzblatts folgende Abteilungen: I. Sachen zu
verkauffen, so beweg- als unbeweglich. 1. In Berlin; 2. Außerhalb der Stadt
SU verkauffen. II. Sachen zu kauffen. III. Sache» die zu veriuietheu. IV. Sachen
die verlohren worden. V. Sachen die gestohlen. VI. Persohnen die Geld lehnen
wollen. VII. Persohnen, so Bedienungen suchen. — Zu Berlin ankommende Frembde,
von 26. Jan. bis den 2. Febr. Copulierte und ehelich eingesegnete. Getanffte
Persohnen. Beerdigte Persohueu. Getreide-Preise. Woll-Preise.
Die Zahl der Rubriken vermehrt sich sehr bald, schwankt aber auch je nach
Bedarf. Gewöhnlich oder doch häufig genug führen die Blätter bei ihrer ersten
Ankündigung eine möglichst große Zahl solcher Rubriken auf, die sie alle zu berück¬
sichtigen gedenken. Sehr charakteristisch ist in dieser Hinficht die Ankündigung der
Schweriner „Mecklenburgischen Nachrichten, Fragen und Anzeigungen" vom 26. April
1749. Darin wird in Aussicht gestellt: I. Ein Artikel von Schwerin. „Dieser
wird enthalten, was sonst Zeitungs-Verfasser von ihren eigenen Höfen melden
dürfen, als: Reise, und Rückkunft der gnädigsten Landes-Herrschaften. Standes-
Erhvhnngen, und Avancemens im Civil- und Militär-Stande; Solennitäten und
Festins, die an den Höfen gehalten worden, Verordnungen, die der Landes-Herr
zum Beste» der Unterthanen ergehen läßt; Ankunft und Rückreise fremder Staudes-
Personm; Vacanzen, und Ersetzung geistlicher und weltlicher Bedienungen und
geinter in Städten und auf dem Laude usw." II. Intelligenz-Nachrichten. Unter
°>'sen werden dann nicht weniger als sechsundzwanzig Rubriken aufgeführt, die alle
berücksichtigt werden sollen. Daran soll sich anschließen ein „Anhang von gelehrten
SnclM.»
Von hoher Wichtigkeit sind allgemein die Verkehrsnnchrichten. Greifen wir
Beispiel hernns. Das Berliner Blatt vom 6. Juni 1729 enthält unter: „An¬
gekommene, abgehende und erwartete Schiffer" folgendes: „Vom 29. May biß den
J»n. sind nachfolgende Schiffer allhier angekommen; wann Ruck-Ladung vor
leidige vorhanden, kann solches bey dem Güter-Verwalter Hrn Huchen auf dem
K'vnigl. Packhvfe gemeldet werden: Joh. Caspar Zangemeister. von Hamburg, fähret
wieder zurück binnen 4 5, 6 Tagen usw."
Aus dem bisher über den Inhalt der Jntelligenzblätter gesagten geht hervor,
sie nicht etwa bloß geschäftliche Anzeigeblätter waren, sondern vor allem eine
Handhabe der Regierung und Verwaltung, nach besten Kräften das wirtschaftliche
Wohl der Unterthanen zu fördern. Das Jntelligeuzweseu galt als ein hervor¬
ragendes Werkzeug der Wirtschaftspolitik, das nun nun nach Möglichkeit auszubreiten
und auszubauen suchte.
So fing man in den spätern Jahren zunächst an, den bloßen Bekauntmachnugen
kleine Artikel und Aufsätze anzufügen, die nützliche Ratschläge für das tägliche Leben,
hauptsächlich für Haus- und Landwirtschaft, seltner sür Handel und Gewerbe, ent¬
hielten. Gegen Eude des achtzehnten Jahrhunderts aber ist fast kein Blatt, das
nicht diesen Teil seines Inhalts ganz besonders pflegte. Fast von allen wird uns
berichtet, daß „der Inhalt sehr oft mit zweckmäßigen Anwendungen auf das bürger¬
liche Leben und sonst mit gemeinnützigen Aufsätze» durchwebt" sei, wie es von dem
Leipziger Intelligenzblatt heißt, oder daß „sehr oft gemeinnützige Aufsätze, vorzüglich
wenn sie auf Ökonomie und Moral Bezug haben," in den Blättern enthalten sind.
Im Laufe der Zeit entwickelte,! sich diese kleinen Artikel oft zu größer» Aufsätzen,
immer unter Beibehaltung ihres Inhalts, und wurden dann oft unter dem Titel
„gelehrte Anzeigen" als gesonderte Beilage zu dem eigentlichen Intelligenzblatt
ausgegeben, so in Halle, in Braunschweig, in Hannover, in Minden, in Neu-
Strelitz usw.
Doch scheinen solche Aufsätze nicht immer bloß aus Gründen der Nützlichkeit
gebracht worden zu sein. Zu Beginn seiner Hnllischen „Gelehrten Anzeigen" führt
nämlich Johann Peter von Ludewig aus, daß die bloßen Jntelligenzanzeigen zu¬
meist sehr mager ausgesehen hätten, und es deshalb auch an Abnehmern dafür ge¬
fehlt hätte. Um ihnen nun mehr Abonnenten zu gewinnen und sie interessanter
zu gestalten „bin ich, sagt Ludewig, ans den Gebannten kommen: den Hallischen
Policey-Anzeigen auch allezeit eine gelehrte Anzeige wöchentlich voran zu setzen."
Ähnliche Erwägungen wie hier scheinen anch in Rostock vorgelegen zu haben, wo
einfach, wie es übrigens anch bald in Halle geschah, die Universität mittels herzog¬
lichen Neskripts vom 1. Juli 1750 beauftragt wurde, die nötigen „gelehrten An¬
zeigen" herbeizuschaffen. Über den Inhalt der „gelehrten Anzeigen" heißt es ein¬
mal: „Die Commercien, die Manufacturen, die Fabriken, die Handwerke, das
Brauwesen, der Gartenbau, die Landwirtschaft und andre Stadt- und Land-Nah-
rungs-Geschäfte müssen allein die Gegenstände solcher Abhandlungen seyn. Auch
medicinische Abhandlungen können in diesen Blättern gewisser Maßen Platz finden.
Denn, da die Policey bey allgemeinen und besonderen Fällen, welche für das Leben
und die Gesundheit der Menschen von schädlichen Folgen seyn können, die wirk¬
samsten Mittel zu deren Abwendung vorkehren muß, so findet sie durch die Jn-
telligenzblätter die bequemste Gelegenheit, solche Mittel allenthalben im Lande be¬
kannt zu machen." Schluß folgt)
^le Lage der Dinge in Holzweißig und zu Heiurichshall nahm sicht¬
lich an Spannung zu. Im Tanzsaale Happichs hatte sich ein
Agitationskomitee in Permanenz erklärt. Man hatte Tische zusammen¬
gerückt und ein Bureau gebaut, wo hinter Haufen von Papieren
— wo nur die Leute all das Papier her hatten! — irgendwelche
^irgendwoher gekommne Parteiangestellte schrieben. Vertrauensmänner
und andre Parteioffiziere gingen ab und zu, auch Lnutschs Preßtatareu hatten sich
hier häuslich niedergelassen und bauten Stimmungsberichte über den Aufstand. Hier
kamen die Arbeiter, die ja den lieben, langen Tag nichts zu thun hatten, zusammen,
standen müßig umher, ließen sich die außerordentlich günstigen Aussichten ihres Streiks
auseinandersetzen und sich darüber vertrösten, daß noch immer keine Streikgelder
angekommen waren. Es war sozusagen die Ausstandsbörse. Am Abend wurden
Volksversammlungen gehalten. Die alten schonen Parteiphrasen wurden unermüdlich
gedroschen, und die Arbeiter hörten gläubig zu. Sie mußten ja an ihre Sache
glauben, was sollte denn sonst aus ihnen werden? Man faßte also mit großer
Freudigkeit Beschlüsse über das Konlitionsrecht und die Solidarität der Arbeiter¬
interessen, wobei freilich nicht erörtert wurde, ob nicht doch vielleicht die Interessen
der Führer, die sich bei langem Aufstande recht lange von der Streikkrippe nähren
konnten, und die der Arbeiter, die darben mußten, und deren Wirtschaft und
Besitz zu Grunde ging, auseinander fielen. Man entrüstete sich über die ehrlose
Gesinnung der Streikbrecher, dieser unwürdigen Menschen, die den Namen eines
Arbeiters beschimpften, weil sie lieber arbeiten als müßiggehn wollten, und ver¬
sprach ihnen die Knochen zu zerbrechen, wo man sie nnr fände -- vorausgesetzt, daß
sie damit einverstanden waren.
Aber einig war man doch nicht. Wie überall, so fand sich auch hier eine
schärfere und eine mildere Tonart. Die mildere Tonart wurde von der Partei¬
leitung vertreten. Man erörterte die wissenschaftliche Seite des Streiks, warnte
bor Überstürzung und erwartete Erfolg nur von zäher Ausdauer. Die schärfere
Tonart, die ihren Boden besonders in Siebendorf hatte, drängte zur Propaganda
der That, zur Aktion, zur Selbsthilfe. Während nun der offizielle Redner in der
Volksversammlung seine Sprechrvlle ablaufen ließ, hielt in einem Winkel des Saales
ein Siebendorfer'Scharfer seinem Kreise eine Rede seines Geschmackes: Wissenschaft!
Quatsch! Die Sorte nennt alles Wissenschaft, was sie selber nicht versteht. Was
die reden, ist lauter Bimbam und hat nnr den Zweck, daß ihr hübsch artig seid, und
sie euch währenddessen die Butter vom Brot essen können. Denkt ihr denn wirtlich,
daß ihr die Geldsäcke aushungern könnt? Die können es allemal länger aushalten als
ihr. Und wenn ihr ein Vierteljahr hübsch gehungert habt, dann seid ihr zum Schlüsse
much uoch die Geleimten. Zufassen müßt ihr. Ihr müßt das Förderhaus in die Hand
kriegen. Dann fangen sie an zu hüpfen, wie der Vagabund, wenn ihn der Gendarm
"M Hosenboden erwischt hat. Wenn ihr das Förderhaus habt, denn könnt ihr
sagen: Na, uun kommt doch einmal her. Wenn ihr nicht ganz artig seid, so schießen
wir euch den Kram in die Luft, und dann seid ihr geleimt!
Unter den Zuhörern saß damals auch Alois Duttmüller. Der hörte tiefsinnig
SU und sagte: Et is nich zu jlooben, wat für ne Beweiskraft in ner Diamid-
pntrone liegt.
Das waren nnn zunächst nur Doktorfrageu. aber allmählich verbreitete sich
die Meinung, es sei nicht nötig, sich gegenseitig auszuhungern, man könne auch
zufassen und die ganze Geschichte im Hnndumdrehn entscheide». Wer dies freilich
SU unternehmen habe, blieb eine offne Frage. Jeder dachte an irgend einen andern,
der der gewiesene Mann sei, zuerst ius Feuer zu fassen, und auch die Führer
waren der Ansicht, daß der Offizier beim Angriffe hinter die Front gehöre.
Es war merkwürdig, wie sich das Aussehen der Arbeiterschaft änderte. Sie
schien eine ganz andre Bevölkerung zu sein als zuvor. Die ordentlichen Leute
zogen sich zurück, die Jugend und der Unverstand kamen oben auf. Und ans der
tiefsten Hefe des'Volkes stiegen unheimliche Gestalten auf, die weder zu den ordent¬
lichen noch zu den unordentlichen Arbeitern gehörten, Gesinde!, das allemal da
vorhanden ist, wo es gilt, Unheil anzustiften. Die Straßen des einst so friedlichen
Holzweißig waren unsicher geworden, und der Schutze rang die Hände und sagte:
Kinder, Kinder, ich bitte euch um Gottes willen, was will das noch werden! Man
ist ja seines Lebens nicht mehr sicher, und wenn die Frau in den Feldgarten gehn
will, muß man ihr ja eine Wache mitgeben.
Der Herr Landrat. durch die Rapporte Kratzeusteins über die bedrohliche Lage
unterrichtet, bereiste das Ausstandsgebiet in seinem Wagen, einen Gendarm vor dem
Wagen und einen hinter dem Wagen, Von dem landrätlichen Wagen aus war
um allerdings nichts besonders Bedrohliches zu bemerken. Der Herr Landrnt stieg
bei dem Herrn Oberstleutnant ab, küßte der gnädigen Frau die Hand und ver¬
sicherte ihr, daß für sie und den Fronhof absolut nichts zu befürchten sei. Die
gnädige Frau war aber doch sehr besorgt über Ellen, die noch immer in Heinrichs¬
hall war, über den Doktor Dnttmüller, dessen Beruf thu zwang, mit „diesen Leuten"
zu Verkehren, und ihre Melonen, die bei einem Aufruhr leicht zertreten werden
konnten. Und es sei ja schrecklich, daß man ohne Begleitung nicht einmal die Dorf¬
straße hinauf gehn könne. Ob es nicht möglich sei, eine Kompagnie Soldaten nach
Holzweißig zu legen. Das war nun freilich nicht möglich, aber der Herr Landrat
versprach, wenn es wirklich zu Ruhestörungen kommen sollte, einen Zug Husaren zu
senden. Der Herr Oberstleutnant möchte nur telegraphieren.
Auf dem Werke sah es überaus kriegerisch aus. Drillhose hatte den Mnsik-
dirigeutenstab niedergelegt und war Kriegsminister geworden, ja der Archimedes
des Werkes, der erfinderischen Geistes Verteidigungsbanten anlegte und Verteidigungs¬
maschinen ersann. Er hatte den Gewehrschrank des Direktors geplündert und alles
zusammengebracht, was an Knall- und Hauinstrumenten im Werke zu finden war.
Es war nicht gerade viel. Darauf machte er, von einigen Bergleuten begleitet, bei
Nacht und Nebel eine Expedition zum Försterhause und brachte von dort eine alte
riesige Scheibenbüchse, eine Reiterpistole und ein Jagdgewehr mit, das ganz schön
war, aber ebensoviel Feuer nach hinten wie nach vorn gab. Diese Gewehre wurden
unter die zuverlässigsten Leute in der Belegschaft verteilt. Die andern wurden
mit Brechstangen, Hämmern und Lanzen, deren Spitzen Drillhose eigenhändig
geschmiedet hatte, bewaffnet. Pulver und Blei gab es im Werke genug, woraus
Drillhose einen Überfluß von Patronen verfertigte. Damit noch nicht zufrieden,
baute er aus Snrdinenbüchsen, die er mit Draht umwickelte und mit Pulver und
Steinen füllte, Haudgranaten. — Nehmen Sie sich nur in acht, sagte Wandrer,
daß Ihre Knallerbsen Ihnen nicht selber an den Kopf fliegen. — Aber das
Meisterstück Drillhvses, auf das er sehr stolz war, war eine Wallbüchse, die er aus
einem Stück Stahlrohr und des jungen Wenzels Armbrust gebaut hatte. Diese
Wallbüchse hatte zwar kein Schloß, sondern mußte mit der Lunte abgebrannt werden,
auch war damit schwerlich viel zu treffen, aber man konnte mit Bestimmtheit an¬
nehmen, daß das Ding gewaltig knallen und somit einen großen moralischen Ein¬
druck machen werde.
Inzwischen verging ein Tag wie der andre. Täglich kam der Gendarm
Krntzenstein, band sein Pferd an die Barriere und setzte sich in der Kantine nieder,
uni sein drittes Frühstück in Empfang zu nehmen; täglich erschien Stüwel, der
Briefbote, um amtlich seine Briefschaften, nußermntlich allerlei Mordgeschichten ans
Holzweißig und Siebendorf auszukramen. Täglich stellte sich Rosa, eskortiert von
ihrem Bergmann ein, um sich nach Ellen zu erkundigen, Wandrer hatte schwere
Tage. Er kam Tag und Nacht nicht zur Ruhe, er hatte das Geschäft weiter zu
führen, die Kunden, die auf ihr Kali warten mußten, zu vertrösten und die Gesell¬
schaft, die täglich neue Besorgnisse hegte, zu beruhigen, die Arbeit, soweit von ihr
die Rede sein konnte, im Gange zu erhalten, für alles und jedes zu sorgen, den
Direktor zu besuchen, Lydia zu trösten und mit Ellen zu plaudern — nicht doch!
nicht zu plaudern, sondern mit ihr über die Führung der Geschäfte zu ver¬
handeln.
Es War am denkwürdigen achten September, als die zur Arbeit kommenden
Hausbesitzer aus Holzweißig die Nachricht mitbrachten, heute solle das Werk gestürmt
werden. In ganz Holzweißig sei es bekannt, und gestern abend sei es beschlossen
worden. Ju der That war am Abend vorher eine Arbeiterversammlung gewesen,
und es war zu ernsten Differenzen gekommen. Die Arbeiter waren unzufrieden,
weil die Streikgelder nur in ungenügenden Summen einkamen und sehr unregel¬
mäßig verteilt wurden. Wenn das so weitergehe, so wurde dem Ausschüsse vor-
gehalten, könne man dabei verhungern. Warum denn überhaupt der Streik ein
Paar Monate dauern müsse, man kd'nue es ja anch kürzer machen, wenn man nur
wolle. Der Ausschuß erwiderte, das verstehe man nicht, der Streik sei eine Kraft-
Probe, wobei der gewinne, der es am längsten aushalte. Ach was! wurde erwidert,
man müsse nur fest zufassen. Wenn man das Förderhaus stürme und besehe, dann
habe mau die Gesellschaft in der Hand. Aber die Führer seien Jammerlappen,
die kein Mark in den Knochen hätten. Man werde die Sache selber in die Hand
nehmen und nichts danach fragen, ob es den großen Ochsen um der Parteikrippe ge¬
falle oder uicht. Diese Rede hatte den Beifall eines großen Teils der Versammlung
gefunden, und zum Schluß waren die Unzufriednen demonstrativ davon gegangen,
woraus die Meinung entstanden war, das Werk sollte am nächsten Tage gestürmt
Werden.
Die Nachricht begegnete zuerst ungläubigem Staunen bei deu Beamten in
Heinrichshall. Dann aber kratzte sich Rummel den Kopf und sagte: Drillhose, es
sind ganz verfluchte Kerls. Die Kerls haben ganz recht: wenn sie den Förder¬
turm haben, daun haben sie uns bei der Kehle.
Das Förderhaus muß um jeden Preis gehalten werden, erwiderte Drillhose
mit Nachdruck.
Mau berichtete Wandrer, was man erfahren habe, und Wandrer bestimmte,
daß man sich auf die Verteidigung einrichten solle. Rummel rief seine Leute zu¬
sammen und fragte, wer bereit sei, wenn die Streikers das Werk angreifen würden,
das Werk und die eigne Existenz zu verteidigen. Alle waren bereit, aber es
waren nur ein paar Dutzend Mann. schadete nichts. Ein paar Mann können
dick gegen eine große Menge ausrichten, wenn sie Mut im Leibe und ein gutes
Gewissen haben. Das sagte Rummel den Bergleuten und ließ sie vor dem Förder-
hcmse antreten. Drillhose that seine Rüstkammer auf und bewaffnete den Landsturm
>"it Lanzen, Pistolen, Säbeln und Gewehren, und was sich sonst an Gerät fand.
Sehr imposant war die Truppe nicht. Sie erinnerte etwas an Falstaffs Infanterie.
Im Hintergrunde standen Ellen, Wandrer und Doktor Olbrich und sahen zu.
Ellen war bester Laune und freute sich über das stattliche Militär.
Lachen Sie nicht, Tante Ellen, sagte Wandrer, es sind doch brave Leute, und
wenn wir sie nicht hätten, was fingen wir dann an?
Sie haben ja Recht, Onkel Felix, aber lachen muß ich doch. Sehen Sie nur
den Herrn Räuberhauptmann Rummel, mit welcher Wichtigkeit er sich den Säbel
umschnallen läßt.
In, Rummel fühlte sich sehr gehoben. Nur daß gerade in diesem Augenblick
°'"e gewisse liebliche Stimme ans dem Fenster erklang: Rummel, Rummel! Du
Schafkopp, was machst du denn da?
Rummel hustete und bemühte sich, die Verbalinjurie zu überhören, und die
Leute im Glied grinsten vor Vergnügen. Aber jetzt kam Madame Rummel, ihre
beiden unglücklichen Kinder rechts und links am Schürzenzipfel mit sich führend,
"us der Hausthür herausgefegt, während sich der übrige Chorus, der nicht in der
Schule war, in der Ferne gruppierte. Da die beiden unglücklichen Kinder dieses
"Mi kein Wurstbrot im Munde hatten, war es ihnen möglich, ein Jmnmergebrüll
""szustoßen.
Rummel, rief die zärtliche Gattin in Herzensängsten, du Schafkopp, gleich legst
dn den Säbel weg. Ihr seid doch nicht etwa so dumm und wollt Krieg spielen?
Gleich gehst du uach Hause.
Geh du nach Hause, sagte Rummel mit Würde. Was wir hier machen, geht
dich gar nichts an.
So? Geht mich nichts an? Wenn sie dich aber aufspießen oder totschießen,
we>s wird dann aus mir? Dann sitze ich da mit den Kindern. Und ihr — wandte
s'e sich an die Mannschaft — seid auch Schafsköppe. Was habt ihr davon, wenn
ihr euch für andre Leute die Knochen zerbrecht?
Wilhelm, Leberecht, sagte Rummel, gebt einmal eure Spieße an eure Neben¬
männer und bringt mir einmal die Frau nach Hause. Die Genannten gaben ihre
Waffen ab und faßten Frau Rummel unter den Arm. — Was? schrie die Rummeln,
mit Gewalt? einer wehrlosen Frau mit Gewalt? Schämt ihr euch denn nicht? —
Sie schämten sich nicht, sondern brachten mit Vergnügen Frau Rummel, die ge¬
strenge Vorgesetzte ihres gestrengen Vorgesetzten, nach Haus. Und die unglücklichen
Kinder zogen heulend hinterher. Als Frau Rummel verschwunden und die Thür
geschlossen war, trat eine gewisse bange Stille ein. Was wird nun geschehn?
Aber es geschah nichts.
Leute, sagte Rummel, es ist eine gute Frau —
— Aber etwas schwer zu ertrage», fuhr der Chorus vergnüglich fort.
Nun hört einmal zu, rief Rummel, in das Fvrderhaus darf kein Streiker
hinein. Warum nicht? Das brauche ich euch nicht zu sagen. Wenn die den
Schacht beschädigen oder ruinieren, dann sitzen wir alle auf dem Pfropfen.
Stimmt, antwortete der Chorus.
Und was die Hetzer wollen, das ist bloß, recht viel Leute unglücklich machen.
Stimmt.
Schießt aber nicht ohne Not auf Menschen. Es sind doch eure Kameraden,
und sie haben doch auch Frau und Kinder. Erst wenn sie euch auf deu Leib Wollen,
dann wehrt euch eurer Haut.
Jawohl! So wirds gemacht.
Abtreten.
Aber die Kompagnie zögerte abzutreten. Einer stieß den andern mit dem
Ellbogen an, und zuletzt trat der rechte Flügelmann ans dem Gliede, wandte sich
an Wandrer und sagte: Herr Wandrer, Wenns erlaubt ist, ein Wort zu reden.
Jawohl, Winkelmann, sagte Wandrer, reden Sie nur.
Herr Wandrer, fuhr der Redner fort, wir wissen, daß wir uns auf Sie ver¬
lassen können, und daß Sie Ihr Wort halten. Geben Sie uns Ihr Wort, daß
Sie uns nicht verlassen wollen.
I, wo werde ich euch denn verlassen, entgegnete Wandrer. Ich sitze doch
gerade so in der Falle drin wie ihr.
Nein, Herr Wandrer, auch hernach, wenn das vorüber ist. Geben Sie uns
Ihr Wort, daß Sie uns nicht verlassen wollen.
Das gebe ich euch, erwiderte Wandrer und schüttelte dem Bergmnnne die
Hand. Heute schwören wir uns als gute Kameraden ein. Ein Lump, wer den
andern im Stiche läßt.
Ein Murmeln der Befriedigung erklang aus der Reihe der Krieger. Darauf
zerstreuten sie sich.
Drillhose als Kriegsminister hatte den Verteidigungsplan entworfen. Natürlich
war es nicht möglich, mit der kleinen Zahl von Verteidigern das ganze Werk zu
halten. Nur die Villa des Direktors und das Förderhaus konnten besetzt werden,
die Fabrik, der Lagerplatz und die Beamtenhäuser mußten vorkommenden Falls
preisgegeben werden. Zunächst freilich sollte die Planke an der westlichen Seite
des Werkes, von wo aus der Angriff zu erwarten war, gehalten werden. Die
Barrikade wurde verstärkt, es wurden Fässer an die Planke gerollt, von denen aus
man hinüber sehen und schießen konnte. Vor dem Eingange zum Schachte war
eine ordentliche Schanze aus Eisenbahnschwellen und Eisenplatten errichtet. Die
Brustwehr der Schanze war mit kunstvollen Schießscharten versehen. Hierzu kamen
noch zwei Außeuforts, rechts das Pförtnerhaus, an dem ober» Ende der Planke,
und gegenüber die Ecke des Hauses, wo Rummel wohnte. Diese Ecke enthielt
der Frau Rummel gute Stube. Das Pförtnerhaus war zum Blockhause umge¬
staltet und sah sehr kriegerisch aus, hier installierte sich Drillhose mit ein paar aus¬
gesuchten Mannschaften. Von Rummels guter Stube sollte der Steiger Hegelineier
und etliche Leute Besitz ergreifen und die Fenster und die Thür verrammeln. —
Na los, Bataillon Marsch, sagte Drillhose. Aber der Marsch kam nicht recht in
Gang; einer schob verlegen lachend den andern vor.
Ihr werdet euch doch nicht vor der Rummeln fürchten! meinte Drillhosc.
Fürchten? Das gerade nicht, erwiderten die Leute und drangen in das Haus
ein. Es war kein Mensch zu sehen, aber es roch nach Seife. Ans der Treppenstufe
saßen die unglücklichen Kinder, große Wnrstbrote in der Hand. Durch die geöffnete
Küchenthür sah man die Rnmmeln am Waschfasse beschäftigt. Die andern Kinder
waren in der Schule. Die Ruimnelu sagte zu den Eindringenden kein Wort, sie
sah sie mit'keinem Blicke um, sie nahm auch keine Notiz von dem Greuel der Ver¬
wüstung, den die Krieger anrichteten. Sie strafte das gesamte männliche Geschlecht
der Gegenwart mit Verachtung.
Wandrer hatte währenddessen die Besatzung für die Villa dorthin geführt
und Anordnungen getroffen, die Thüren zu verwahren und in die Fenster Matratze»
zu setzen. Dann suchte er den Direktor uns. Der Direktor saß teilnahmlos und
schlaff wie ein Federkissen in seiner Sofaecke und nickte mit dem Kopfe.
Guten Morgen, Herr Direktor, sagte Wandrer, wie haben Sie geschlafen?
Der Direktor antwortete nicht, rieb sich die Augen und bemühte sich, inner¬
lich aufzuwachen. — Wandrer, sagte er nach einer Weile, an Ihre Stelle würde
ich jetzt meine Kuxe verkaufe», es ist die höchste Zeit.
Jawohl, Herr Direktor, ich werde darau denken, erwiderte Wandrer; eigent¬
lich nur, um den Direktor zu beruhigen.
Ihre Kuxe verkaufen! wiederholte der Direktor, der anfing heftig zu werden
und sich aufzuregen. Wandrer, warum wollen Sie Ihre Kuxe nicht verkaufen?
Wollen Sie vielleicht selber Direktor werden?
Denke nicht dran.
Wollen Sie Ihre Kuxe verkaufen?
Ja, jadoch, ich werde sogleich zum Telephon gehn.
Versprechen Sie mirs!
Ich verspreche es Ihnen.
Der Direktor sank wieder in sich zusammen. Wandrer begab sich, da er es
nun einmal versprochen hatte, zum Telephon und ließ sich an Junker und Kompagnie
in Berlin anschließen. — Hier Wandrer. Heiurichshall, sprach er in das Telephon.
(Antwort ans dem Telephon: Hier Junker.) Herr Junker, ich habe vor einiger
Zeit bei Ihnen Heinrichshciller Kuxe hinterlegt, worauf Sie zehntausend Mark
vorgestreckt haben. (Jawohl.) Wollen Sie die Güte haben, die Stücke ohne Preis-
limitation sogleich verkaufen zu lassen. (Die Papiere sind kürzlich bereits abge¬
hoben worden.) Unmöglich! Von wem denn? (Ich will einmal fragen.---In,
es ist richtig, die Papiere sind von Herrn — —)
Hier trat Leitungsunterbrechung ein; die Leitung blieb anch bis ans weiteres ge¬
stört. Später hat sich'herausgestellt, daß mau - wahrscheinlich die streikenden Berg¬
leute - dicht bei Heinrichshall den Leitungsdraht herabgerissen und zerschnitten hatte.
Es that Wandrer leid, daß er wegen der Kuxe angefragt hatte. Er war nun
unruhig geworden. Wer konnte die Papiere abgehoben haben? York? Und zu
welchem Zwecke? Die Sache beschäftigte ihn. Weg damit. Er brauchte jetzt alle
seine Gedanken in Hcinrichshall.
Gleich darauf begegnete er Ellen. — Tante Ellen, sagte er, packen Sie ein
und gehn Sie nach Haus. Hier wird es ungemütlich.
Ellen lachte ihrem Onkel Felix ins Gesicht und erwiderte: Was Sie sich denken!
Ziehn Sie sich doch aus der Affaire.
Ich bin hier nötig.
Sehen Sie, ich anch.
Noch immer war nichts besondres zu sehen und zu hören. Aber der Brief¬
bote blieb aus, ebenso Rosa, ebenso Kratzenstein. Im Laufe des Nachmittags ver¬
sammelte sich ein Kranz von Zuschauern auf dem Göddeckeuberge und den sich ein-
schließenden Hügeln. Müßiges Volk trieb sich in der Nähe des Werkes herum,
junge, halbwüchsige Bengel und allerlei Gesindel. Gegen Abend nahm der Lärm
zu. Man war offenbar ungeduldig darüber, daß noch immer nichts geschah, und
fing an, sich die Zeit damit zu tiertreiben, daß man mit Steinen gegen die Planke
oder auch darüber hinweg warf. Drillhose hatte schon nach allen Seiten mit den
Augen gerollt und mit der Faust gedroht, aber ohne Erfolg. Von Zeit zu Zeit
wurde mit hellen Stimmen ein Hurra losgelassen, und dann gab es ein Bom¬
bardement und einen Sturm gegen die Planke. Das war nichts weiter als jugend¬
licher Unfug. Daran fanden aber auch Große Gefallen, die es nicht mir einem un¬
schädlichen Bombardement bewenden ließen, sondern zu Brecheisen und Beil griffen.
Aber immer noch machte die Sache den Eindruck eines ungeduldigen Theater¬
publikums, das, weil die Schauspieler ausbleiben, anfängt, selbst Komödie zu spielen.
Mit der Zeit stiegen immer mehr Menschen vom Zuschauerriug in die Arena
herab. Die hinten stehenden drängten die vorder» Reihen. Der Unfug nahm metho¬
dische Form an. Es fehlte nicht an aufsetzenden Reden.
Wieder ein Hurra und ein Hagelschauer von Steinen. Man horte, wie mit
Äxten und Hämmern gegen die Planke geschlagen wurde. Jetzt ließ Wandrer seine
mit Gewehren bewaffneten Leute auf die Fässer hinter der Planke treten. Er
selbst erstieg die Barrikade und schaute hinaus. Ein lautes, gellendes Geschrei
begrüßte ihn. — Vorwärts! Feste drauf! Haut ihm! hörte man rufen.
Arbeiter, rief Wandrer, ich warne euch. Nehmt euch in acht, wir schießen.
Wir auch, entgegnete ein Kerl, der das Gesicht verbunden trug, und schoß
seinen Revolver ans Wandrer ab. Die Kugel riß ihm den Hut vom Kopfe, ohne
ihn jedoch zu verletzen. Eine Anzahl von Schüssen, die von der Planke aus und
ans dem Pförtnerhause abgeschossen wurden, waren die Antwort. Einer dieser
Schüsse, der einen Hagel von Blei hoch über die Kopfe der Menge sandte, knallte
ganz gewaltig — wie eine kleine Kanone. Die Menge wich eiligst zurück. Als
man sah, daß niemand verletzt war, erhob sich ein Hohngeschrei. Aber man wagte
sich doch nicht wieder heran.
Da erhob sich aus dem Holzschuppen am linken Ende der Planke Rauch. Bald
folgte die Flamme nach, binnen kurzem standen die Schuppen des Lagerplatzes in
Hellem Brand. Ein Hurra begrüßte das Feuer. Die Volksmenge drängte dem Feuer
zu. Als auch die Planke vom Feuer ergriffen wurde und schnell nieder brannte, drängte
der Haufe herein und füllte den Materialienplntz. Jetzt war die Stellung nicht
mehr zu halten; die Verteidiger zogen sich in ihre Schanzen zurück. Die Menge,
durch ihren Erfolg mutig gemacht, ballte sich von neuem zusammen und schickte
sich an, mit Hurra den Fnbrilhvf zu stürmen. Sie erhielt von drei Stellen aus
Feuer. Vom Pförtnerhause her und aus Rummels guter Stube flogen mitten in
die Menge Handgranaten, die zwar niemand ernstlich beschädigten, aber gewaltig
knallten und einen heilsamen Schrecken vernrsnchten. Die Menge zog sich wieder
schleimig zurück und hielt sich in sichrer Entfernung.
Inzwischen war es dunkel geworden. Der Brand, der weiter um sich gegriffen
und die in der Nähe lagernden Holzstöße ergriffen hatte, ohne jedoch die Fabrik¬
gebäude ernstlich zu gefährden, beleuchtete den Schattplatz mit rotem Lichte. Hinter
der Schanze im Scheine der Flammen standen Rummel, Wandrer und seine Mann¬
schaft. Sie hielten die Gewehre schußrecht bereit und erwarteten den neuen An¬
griff. — Wenn sie jetzt wieder kommen, sagte Wandrer, so schießt scharf. Es hilft
nichts. — Aber sie kamen nicht. Neben Wandrer stand ein Bergmann, der trotz
des Feuerscheins merkwürdig blaß aussah.
Wenn sie uns jetzt kriegen, sagte er, mit den Kinnbacken zitternd, dann schlagen
sie uns tot wie die Ratten.
Schämen Sie sich, Winkelmann, erwiderte Wandrer, man läßt sich eben nicht
kriegen.
Der Lärm tobte weiter, aber auf den Fabrikhof wagte sich niemand. Da
klangen auch von der Villa des Direktors her Schüsse, Um die Verteidigung im
Gange zu erhalten, schoß man ab und zu ein Gewehr in die Luft oder warf eine
der Drillhosischen Knallerbsen aus.
Halt! wer da?
Es war Drillhose, der eine Schleichpatrouille führte, Drillhose erschien mit
rollenden Augen, gesträubtem Barte und einer unförmlich dick geschwollnen Backe.
Man fragte, ob er verletzt sei. Nein, er war nicht verletzt, seine Wallbüchse hatte
ihm nur eine kolossale Ohrfeige gegeben. Aber das schadete nichts, sie hatte doch
wundervoll geknallt.
Der Herr Oberstleutnant hatte einen schlimmen Tag, seitdem die Eberten die
Botschaft gebracht hatte — und das war gleich früh morgens gewesen —, heute
sollte das Werk gestürmt werden. Der Direktor sollte aus dem Förderturme auf¬
gehängt werden, der Förderturm sollte in den Schacht gestürzt und die Villa sollte
in die Luft geschossen werden, und allen Streikbrechern sollten die Knochen gebrochen
werden. Leider erfuhr die gnädige Frau von diesen Mordgeschichten, sodaß sie sich
auf das äußerste beunruhigte, Sie zog mit geschwungner Lorgnette ruhelos im
Hause umher, fragte jedermann, warum Ellen nicht nach Hause zurückkehre, machte
jedermann verantwortlich, erhob gegen jedermann Vorwürfe und verlangte, daß
sogleich an den Landrat wegen Militär telegraphiert würde, Egon suchte sie zu
beruhigen, was ihm aber umsoweniger gelang, als er selbst um seine Schnucki in
schwerer Sorge war.
Es mußte wirklich etwas an dem Gerede sein. Alle Welt steckte die Köpfe
zusammen, ja es wurde mit aller Bestimmtheit behauptet, nachmittag Glocke drei
gehe es los. Stüwel, der Postbote, war bei Happich in der Gaststube sitzen ge¬
blieben, ohne nach dem Werke hinauszugehn, und Kratzenstein, der Gendarm, war
dreimal im Trabe durchs Dorf geritten und hatte das Frühstück verschmäht, was
als ein schlimmes Zeichen angesehen werden mußte und ein großes Aufsehen er¬
regte. Am Nachmittag zog man zum Dorfe hinaus und auf den Göddeckenberg
bei Heinrichshall, als wenn Jahrmarkt wäre, Männer, Weiber und Kinder. Aller
Stunde» brachte die Eberten neue Schauermäreu. Die gnädige Frau war zu Dutt¬
müller gegangen, um dessen sachverständiges Urteil einzuholen. Es litt auch den
Oberstlentnannt nicht im Hause. Er setzte seine Militärmütze auf, rief Klapphorn,
bestieg mit dessen Hilfe seinen Rollstuhl und ließ sich auf den Weg fahren, der
»ach Heiurichshall führte. Am Ausgange des Dorfes standen ein paar alte Krieger.
Diese erzählten sich Kriegsgeschichten ans dem badischen Feldzuge 1848. Weiter
draußen hielt der Herr Gendarm; neben ihm stand der Herr Kantor, der redend
lebhaft mit den Armen telegraphierte, und einige Bauern. Aller Augen waren nach
Heinrichshall gerichtet. Zu sehen war nichts. Als der Herr Oberstleutnant an
Krntzenstein vorüber kam, machte dieser Front und grüßte dienstlich. — Kommen
Sie mit, Wachtmeister, sagte der Oberstleutnant. Kratzenstein schloß sich ihm an,
der Herr Kantor zog sich zurück. Neben Fritze Poplitzens Rübeubreite wurde Halt
gemacht. Die Stelle konnte als ein strategischer Punkt gelten. Von hier aus
übersah man die ganze Gegend, links den Göddeckenberg, hinter dem Siebendorf
^g, rechts den Böhnhardt und geradeaus im Thalausgange Heiurichshall. Man
sah den Kreis der Zuschauer auf den Höhen und unten vor der Planke des Fnbrik-
grnndstücks einen Hansen Menschen, Mau hörte das Gejohle und die Hurrah.
Jetzt fielen die ersten Schüsse.
Wachtmeister, sagte der Oberstleutnant im Genernlstone, reiten — Sie —
mal — da vor und sehen Sie zu, was die verdammten Kerls — da — machen.
Der Wachtmeister salutierte, nahm seine steife Liese zusammen und galoppierte
bis dahin, wo die Eisenbahn, links ans einem Einschnitte hervorkommend und rechts
einen Damm bildend, die Straße überschritt. Hier hatte mau aus Pflügen, Eggen
und Ackerwagen eine Barrikade gebaut. Hinter Damm und Einschnitt lagen
Menschen, die den Wachtmeister mit HohngeKhrei und einem Hagel von Steinen
empfingen. Dies nahm die alte Liese übel; sie kehrte um und brachte deu Herrn
Wachtmeister schneller auf den strategischen Punkt zurück, als es sich mit seiner
Würde vereinigte. Doch gelang es ihm, seinen Gaul vor dein Herrn Oberstleut¬
nant zu parieren und mit Haltung zu melden: Barrikade am Eisenbahnübergange.
Abschnitt ist besetzt. Man wirft mit Steinen. — Der Wachtmeister und sein Gaul
bluteten, der Wachtmeister aus einer Schramme an der Backe, der Gaul aus der
Nase; der Wachtmeister fühlte mit Hochgenuß das Blut über die Wange fließe»,
der Gaul schüttelte mit dem Kopfe.
Mau beobachtete vou dem strategischen Punkte aus den Fortgang der Dinge.
Es stieg Rauch aus den Materialienschuppen auf. Das Feuer griff um sich, die
Belagerer drangen in das Werk ein, das Schießen wurde lebhafter. Da riß der
Herr Oberstleutnant ein Blatt aus seinein Taschenbuche, schrieb: An den Herrn
Landrat in Brauufels. Revolte ausgebrochen. Heinrichshall brennt, bitte um
Militär — und reichte die Depesche mit einer Haltung, als habe er eine Brigade
hinter sich, dem Wachtmeister, sie zu besorgen. Der Wachtmeister salutierte und
trabte zurück. Auch der Oberstleutnant kehrte um und ritt — ach wenn er hätte
reiten könne»! — und ließ sich zu Meister Semmelmcmn fahren. Meister Semmel-
mcmn war Schuhmacher, in seinen Militärverhältuissen war er aber Trommler ge¬
wesen, und in seinen Kriegervereiusverhältuisseu war er es noch. Der Oberstleutnant
ließ Klapphoru nu das Fenster klopfen. Endlich schaute Meister Semmelmaun
heraus.
Guten Abend, Herr Oberstleutnant.
Schlagen Sie Generalmarsch. — Meister Semmelmcmn ließ das Kinn herab¬
sinken und schaute den Herrn Oberstleutnant verständnislos an. — Schlagen Sie
Generalmarsch, wiederholte dieser, fix, fix!
Meister Semmelmaun zog seinen Kopf vorsichtig zurück, während einige Knaben¬
stimmen in der Stube Hurra riefen: Hurra, jetzt gehts los. Nachdem sich Meister
Semmelmann noch durch einige Tassen Kaffee gestärkt und sein Abendbrot eingesteckt
hatte, schnallte er die Trommel um und zog, den Ge»eralmarsch schlagend, durchs
Dorf. Zugleich war der Herr Kantor auf den Turm: gestiegen und läutete die
Feuerglocke. Das verursachte einen große» Schrecke». Die Leute stürzten aus ihren
Thüren und fragten, bei wem es brenne, und ob die große Revolution ausgebrochen
sei. Der Herr Schulze stand auf seinem Hofe und jammerte: Kinder, Kinder, ich
bitte euch um Gottes Wille»! und schaute mißtrauisch nach seiner Scheune, als ob
dort im nächste» Augenblicke die Flamme herausschlage» müßte. Und sogar der
alte Herr Pastor trat im Schlnfrock heraus auf die Straße und erkundigte sich,
was los sei. Jetzt war es deutlich zu erkennen, über Heinrichshall leuchtete ein
roter Schein auf. Die Bevölkerung überfiel ein Grn»e». Vor der Schmiede —
der Schmied war Spritzenführer — debattierte man, ob die Spritze abfahren solle
oder nicht, ohne zu einer Entscheidung zu kommen.
Die Mobilisierung des Kriegervereins war fleißig von dem Herrn Oberst¬
leutnant geübt worden. Jedesmal hatte es ein Viertel Bier gegeben, und darum
war man auf das Signal mit Bereitwilligkeit gekommen. Diesesmal fehlten aber
verschiedne Krieger. Die einen waren unvermutet krank geworden, die andern
waren zum Zusehen hinaus nach Heiurichshall gezogen. Diesesmal gab es aber
auch kein Bier, und allen: Anschein nach wurde die Sache ernster als sonst. Endlich
war man so leidlich vollzählig und trat an in zwei Zügen. Der erste Zug war
mit alten Zündnadelgewehre» bewaffnet, die vom Kriegsminister den Kriegervereiuen
geschenkt waren in der Meinung, daß damit eine Art Vvlkswehr geschaffen werde,
ein Stamm der zuverlässigsten Elemente des Volkes, auf den sich der Staat in
Gefahr verlassen konnte. Der zweite Zug war mit allerlei Schießzeug vom Jagd¬
gewehr bis zum Tesching abwärts ausgerüstet. Die Disziplin trat in Thätigkeit..
Nur dem, der durchaus uoch einen Schnaps bei Schwersenz im Laden kaufen
mußte, wurde erlaubt, aus der Reihe zu treten.
Jetzt kam mich der Herr Oberstleutnant in seinem Rollstuhl angefahren. Er
hatte seinen Säbel umgeschnallt und seine Soldatenmütze aufgesetzt. In der Hand
hielt er ein Telegramm, dessen Inhalt war: Zug Husaren rückt eben nach Heinrichs¬
hall ab.
Der Herr Oberstleutnant warf im Geiste Alter, Lahmheit und Zivilstand ab;
er war wieder ganz Militär. Er fühlte sich, wie wenn er an der Spitze seines
Bataillons ins Manöver rückte, und es böte sich ihm Gelegenheit, durch schneidiges
und rechtzeitiges Eingreifen einer kombinierten Aktion zum Gelingen zu verhelfen.
Vor seinen Augen stand der Verlauf der Sache mit großer Deutlichkeit. Das
Manöver ist vorüber, der Feind geschlagen, der Herr General hält in Mitte der
versammelten Offiziere Kritik. Er hat die General- und die Spezialidee dargelegt
und stellt den Verlauf des Gefechtes in Worten dar. Darauf wendet er sich an
ihn, den Oberstleutnant, und sagt: Sie haben, Herr Oberstleutnant, erkannt, daß
die Nuckzugslinie der Gegner über Holzweißig gehn mußte. Sie haben die Nach¬
richt erhalten, daß die Kavallerie von Osten her angreifen werde, und haben sich
der Nückzngslinie des Feindes nach Westen bemächtigt. Sie haben im entscheidenden
Augenblick Ihr Bataillon eingesetzt und in schneidigen Anlaufe, tÄNwour dAttlwt,,
die rückseitige Befestigung weggenommen. Sie haben dadurch die Niederlage des
Gegners zu einer vollständigen gemacht. Ich gratuliere Ihnen zu dem Erfolge. —
Das war ja nnr ein Gedankenspiel, es handelte sich hier nicht um ein Manöver
mit nachfolgender Kritik. Hier ging es im Ernste zu. Aber auch hier mußte der
Erfolg der nämliche sein, und die Genugthuung die nämliche, auch wenn kein Halb¬
gott mit den breiten Streifen um der Hose sagt: Ich gratuliere Ihnen, Herr
Oberstleutnant.
War es denn aber nnr militärischer Eifer, der ihn trieb, sich an die Spitze
des Kriegervereins zu setzen? Der menschliche Denkapparat ist eingerichtet wie eine
Torte, die aus verschiednen Schichten aufgebaut ist. Die oberste Schicht trägt den
Zuckerguß, die Namen, Inschriften und Zierate, die untern Schichten geben "den
Geschmack. So war es auch bei dem Herrn Oberstleutnant. Oben war er ganz
Militär, aber darunter lagen die Sorgen des Vaters. Da hieß es: Schockschwerenot,
ich kann doch meine kleine Schnucki nicht in dem verdammten Wurstkessel sitzen
lassen. Das kann mir weiß Gott niemand zumuten.
Er ließ scharfe Patronen austeilen, was in manchen Mannes Jnnern eine
unangenehme Empfindung erregte, einen Druck auf die Magengegend, der ganz
fatal war.
Still 'stand'». In Sektionen rechts schwenkt Marsch!
Man wird nicht behaupten können, daß die Bewegung tadellos ausgeführt
wurde. Es war manch einer im Gliede, der mit sich noch nicht im reinen war,
"b es nicht besser sei. links schwenkt zu machen und zu Müttern umzukehren, als
mit scharfen Patronen in der Tasche einer Ungewissen Zukunft entgegen zu gehn.
Aber Reih und Glied üben eine merkwürdige Gewalt auf den Menschen ans.
Der Wachtmeister ritt voraus, um, wie es der Kavallerie zukommt, das Ge¬
lände aufzuklären, dann folgte das Gros, geführt von dem Herrn Oberstleutnant,
Ma Schluß kam ein freiwilliges Aufgebot vou Zuschauern. Ans dem strategischen
Punkte wurde Halt gemacht. Die militärische Lage war noch unverändert. Vor
dem dunkeln Hintergrunde des Waldes lag das Werk, vom Brande rot angestrahlt.
Einzelheiten waren, da es schon dunkelte, nicht mehr erkennbar, ab und zu ertönten
Schüsse, ja ganze Salven.
Der Herr Oberstleutnant hielt es für geboten, eine Anrede an seine Streit-
Macht zu halten. — Kameraden, sagte er, diese verfluchte Schwefelbande hat, was
ich schon lange vorausgesehen, und was ich auch dem Herrn Schulzen gesagt habe,
Rebellion gemacht, Rebellion gegen Seine Majestät, gegen Gesetz und Ordnung. Ihr
seht, welche Heldenthaten sie gethan haben. Das soll ihnen aber schlecht bekommen.
Die Kavallerie wird gleich von Braunfels her angreifen, wir von Westen her; und
da hauen wir sie in die Pfanne, daß sie das Donnerwetter kriegen sollen.
Mancher Mann war hier im stillen der Meinung, das; man es der Kavallerie
ganz gut hätte überlassen können, allein fertig zu werden, und daß kein Grund vor¬
handen sei, jemand aufzuhalten, der laufen wolle.
Kameraden, fuhr der Oberstleutnant fort, ich bin leider nur ein alter Krüppel.
Den Rest meiner Tage gäbe ich hin, wenn ich heute aufs Pferd steigen könnte.
Ich muß mich leider fahren lassen. Aber zu Hause bleiben, das konnte ich nicht.
Es freut mich, euch heute am Tage der Ehre mit Gott für König und Vaterland
ins Feuer führen zu köunen.
Der Rede folgte kein Hurra. Mau redete durcheinander, man stritt sich über
irgend etwas.
Ruhe im Gliede!
Da kam der Führer des zweiten Zuges und sagte: Herr Oberstleutnant, die
Leute meinen, es müßte doch anch eine Reserve bleiben. Bei allen Manövers wäre
immer eine Reserve geblieben.
Was? Der Herr Oberstleutnant hätte am liebsten gerufen: Haltet die Schnauzen,
oder ihr kommt wegen Insubordination auf Festung, aber hier herrschten ja keine
Militärverhältnisse. Man war ja auf den guten Willen der Leute angewiesen,
und wenn sie nicht wollten, war nichts zu machen. Überdem erwog er, daß der
zweite Zug mit seiner gemischten Bewaffnung nicht viel würde ausrichten können,
und so bestimmte er: Zweiter Zug bleibt in Reserve und hält Verbindung mit der
Avantgarde. Erster Zug Gewehr über! Vorwärts Marsch! Darüber freute sich
der zweite Zug. Hatte der erste Zug bei allen Begräbnissen den Vorzug gehabt,
mit seinen Gewehren vorauszugehn und übers Grab zu schießen, so konnte er ja
auch diesesmal deu Vorzug genießen, zuerst ins Feuer zu kommen.
Man war bis auf einige hundert Meter an den Eisenbahudamm herange¬
kommen. Mau konnte den Eisenbahueinschnitt und die Barrikade vor dem roten
Dampfe, der dahinter vorüberzog, deutlich erkennen. Dort ragten auch Waffen
über den Bahndamm weg. Oder waren es Zaunlatten? Dort waren anch Köpfe
zu sehen. Kvhlköpfe waren es nicht, denn sie bewegten sich. Jetzt nahte die Ent¬
scheidung.
Erster Zug marschiert auf. Marsch marsch!
Herr Oberstleutnant, da kommen wir aber in die Rüben.
Die Rüben soll der Teufel holen! Gewehr zur Attacke rechts. Der Trommler
soll schlagen.
Meister Semmelmann entschloß sich endlich, seine Trommel anzusetzen und
Sturmmarsch zu schlagen, und der Oberstleutnant stieß den Marsch mit seinen:
Krückstock auf dem Fußbrette seines Stuhls mit. Drumm-dumm! Drumm-dumm.
Von jenseit des Werkes hörte man das bekannte Reitersignal: Traab.
Marsch marsch, Hurra!
Hurra! brüllte Klapphorn und fuhr seinen Wagen mit dem Herrn Oberst¬
leutnant bis an die Barrikade heran. Er hat hernach erzählt, daß ihm die
Haare zu Berge gestanden hätten, aber es sei befohlen gewesen, und da sei er
losgefahren.
Aber keine Salve von Schüssen knallte ihnen entgegen, kein Steinhagel, kein
Geschrei, es war alles still geblieben. Und wo war deun der erste Zug? Der
war auch nicht da. Die tapfern Krieger waren in der Erwägung, daß Vorsicht
der bessere Teil der Tapferkeit sei, zurückgeblieben, hatten in einem günstig ge¬
legnen Graben Deckung genommen und hatten ihren Führer allein angreifen lassen.
Und über die Barrikade sahen zwei Köpfe, und eine bekannte weinerliche Kinder¬
stimme sagte: Guten Abend, meine Herren.
Guten Abend, Herr Drillhose, erwiderte Klapphorn.
Ach Sie sind es. Drillhose kletterte über die Barrikade.
Guten Abend, Herr Oberstleutnant.
Der Herr Oberstleutnant saß zusammengesunken, den Kopf auf die Brust ge¬
neigt, in seinem Stuhle und antwortete nicht.
Klapphorn, fragte Drillhose, was hat denn der Herr?
Er war tot. Eben noch hatte er kommandiert Marsch marsch Hurra! und
um war er tot, wie wenn ihn eine Kugel getroffen hätte. Aber eine Kugel war
es nicht gewesen, kein Schuß war während des Anlaufs gefallen, der Schlag mußte
ihn gerührt haben, und das war bei dem alten Manne, der schon einen Schlag¬
anfall gehabt hatte, und bei dieser Aufregung nichts wunderbares.
Man hörte den Hufschlag schnell näher kommender Pferde. Zwei Husaren,
die Lanze am Riemen, den Karabiner auf dem Schenkel, erschienen am Eisenbahn¬
übergange und kletterten mit ihren Pferden wie die Katzen über die Böschung und
durch den Graben. Es war die Spitze des von Braunfels kommenden Zuges
Reiterei. Man war nirgend auf Widerstand gestoßen. Einige Kerle, die sich in
der Nähe des Werks herumgetrieben hatten, hatten sich schleunigst verzogen. Hier nun
traf man auf den ersten Toten, und den hatte nicht einmal eine Kugel getroffen.
Der Sergeant ließ seinen Begleiter zurück und kehrte um, um zu melden.
Inzwischen tauchten die tapfern Mannen des Kriegervereins ans, einer nach
dem andern. Die Holzweißiger Spritze rasselte heran und blieb vor der Barrikade
halten. Vom Werke her kam man mit Fackeln. Wandrer und Ellen eilten herbei.
In weitem Bogen stand man um den Fahrstuhl des Oberstleutnants versammelt.
Hinter ihm stand Klapphvrn in dienstlicher Haltung, dicke Thränen liefen ihm über
die Backen. Der Herr Leutnant, der Führer des Zuges, war vom Pferde abge¬
stiegen und kam herbei.
Mnu erstattete ihm mit halblauten Worten Bericht. — Alter Herr! sagte
der Herr Leutnant, wahrhaftig kolossal schneidig. — Dann ging er sporen-
Arrenden Schrittes zu Ellen, die mit Wandrer neben dem Fahrstuhl stand, stellte
steh ordnungsmäßig vor und sagte — etwas verlegen: Gestatten gnädiges Fräulein,
daß ich meinen aufrichtigen Anteil ausspreche. Es ist wirklich ungemein, ganz un¬
gemein . . . Sergeant Klix, Sie begleiten den Herrn Oberstleutnant mit zwei Mann
nach dem Dorfe.
Ellen hatte lange stumm neben der Leiche ihres Vaters gestanden. Sie war
gefaßt. — Ich sollte nun, sagte sie leise, halb zu sich selbst, halb zu Wandrer, ich
sollte nun weinen und klagen, und ich kanns nicht! — Doch standen ihr die Thränen
im Auge. — Mir ist es, wie wenn Geburtstag wäre, Papas Geburtstag, und er
hätte geschenkt erhalten, was er sich sein Lebtag gewünscht hatte. Pa war ein
alter Soldat. Auf dem Schlachtfelde vor der Front zu fallen, das ist sein brennender
Wunsch gewesen. Und um ist ihm sein Wunsch erfüllt worden. Du lieber guter
Pät — Denn daß die Feinde, die er angriff, nicht da waren, das wußte er ja
nicht. Er glaubte sich im Kampfe auf Leben und Tod und ging dem Tode mutig
entgegen. Und wenn ihn wirklich eine Kugel getroffen hätte, er hätte es in auch
nicht anders empfinden können. Sehen Sie, Onkel Felix, das gönne ich meinem
Ueben, nider Pa.
Ja, Ellen, erwiderte Onkel Felix, was kann ein Mensch mehr verlangen, als
daß er den Tod stirbt, den er sich selbst gewünscht hat.
Darauf setzte sich der Zug in Bewegung, vor dem Fahrstuhl Meister Semmel-
n'ann mit der Trommel, hinter ihm Wandrer und Ellen. Er führte sie, und sie
lehnte sich vertrauensvoll auf seinen Arm. Dann ein langes Geleite von Leuten
mit und ohne Waffen. Und allen vorauf drei Husaren, deren Lanzenfähnchen wie
Fledermäuse vor dem ersterbenden Abendrot tanzten.
Die Geschichte erlaubt sich mitunter auch einmal einen Witz.
Während die Einfuhr des Jndigofarbstosfs mit der zunehmenden Benutzung des
neuentdeckten Seewegs uach Indien seinerzeit den gewinnbringenden Waidbau unsrer
heimischen Landwirtschaft allmählich vernichtete, ist gegenwärtig die chemische Industrie
Deutschlands ernstlich am Werke, durch Erzeugung von Indigo ans Abkömmlingen
des Steinkohlenteers auch dein Anbau der Indigopflanze in Südasien das Ende
zu bereiten. Die Industrie im Kampfe mit der Landwirtschaft, das ist ein leider
nur allzusehr gewohntes Bild. Daß aber die deutsche Industrie jene unermeßliche
alte Schädigung der deutschen Landwirtschaft durch den Seehandel nunmehr in ganz
gleicher Weise an die Urheber heimzahlt, ist doch ein wunderlicher Treppenwitz.
Weltgeschichte ist Weltgericht, lautet ein viel gebrauchtes Wort.
Der Anbau von Krapp in Südfrankreich wurde durch die Teerfarbenindnstrie,
deren Hauptsitz ja Deutschland ist, in den letzten dreißig Jnhreu gleichfalls zum Ver¬
schwinden gebracht. Während Frankreich am Anfang dieses Zeitraums jährlich noch
mindestens' um 24 Millionen Mark an Aliznrin als Krappfarbfloff ausführte, be¬
trägt die Jahresausfuhr Deutschlands, das über drei Viertel der gesamten Menge
des Alizarins im Weltverkehr als Teerfarbstoff erzeugt, am Ende des Zeitraums
17 Millionen Mark. Dies bedeutet eine mächtige Verschiebung im Welthandel zu
Gunsten Deutschlands. Ähnlich wird es Wohl beim Indigo verlaufen. — In jahre¬
langer stiller Laborntoriumsarbeit bildete die Badische Anilin- und Sodafabrik in
Ludwigshafen a. Rh. ein Verfahren aus, auf der Grundlage von Naphthalin, einem
Teerabkömmling, als Ausgangssloff dnrch verwickelte Umwandlungen denselben Indigo
fabrikmäßig herzustellen, der im Erzeugungslande Indien aus der Pflanze gewonnen
wird. Die Einrichtungen für diesen neuen Zweig der Thätigkeit dieses chemischen
Großbetriebs zu Ludwigshafen beanspruchten 18 Millionen Mark; nun ist jedoch
die Möglichkeit geschaffen, Indigo auch dann noch mit Gewinn herzustellen, wenn
sein Preis im Welthandel auf die tiefste, bisher erreichte Stufe sinkt. — Die Auf¬
findung von Wegen zum chemischen Ausbau des Jndigofnrbstoffs aus verfügbaren
Verbindungen verdankt jedoch die Industrie zunächst den grundlegenden Arbeiten des
Professors der Münchner Universität A. von Baeyer (1880 und folgende Jahre),
die letzten Schritte auf dem nunmehr eingeschlagnen Wege (1890) dem Züricher
Professor Heumann.
Die Wirkung der deutschen Herstellung von Teerindigo auf den Handel mit
Pflanzenindigo ist schon festgestellt. Die Ausfuhr Indiens ging von 9400 Tonnen
im Jahre 1895/96 ans 5500 Tonnen im Jahre 1899/1900 zurück. Während
Deutschland 1895 etwa 1800 Tonnen um 21^/.. Millionen Mark, 1896 noch
1970 Tonnen für 20"/., Millionen Mark einführte, betrug der Wert dieser Ein¬
fuhr 1898 nur noch 8^ Millionen Mark, der Ausfuhrwert von Teerindigo war
dagegen schon auf 7^ Millionen Mark gestiegen. Für das erste Halbjahr 1901 um¬
faßte die Einfuhr 441 Tonnen, die Ausfuhr 958 Tonnen. Der Gesamtwert des
erzeugten Indigos ist zur Zeit des hohen Preises auf 80 bis 100 Millionen Mark
geschätzt worden, nach dem Preisrückgang infolge des Wettbewerbs noch auf 50
bis 60 Millionen Mark. Der größte Teil dieser Summen wird im Laufe der
Jahre Wohl Deutschland zufallen, sowohl dadurch, daß sie im Inland bleiben, soweit
sie bisher an Indien bezahlt wurden, als auch insofern sie vom Auslande zu ent-
richten sind.
Die Tuche für Heer und Marine werden nicht mehr mit Pflanzenindigo,
sondern mit Teerindigo gefärbt. Da die Zusammensetzung der fabrikmäßig ge¬
wonnenen Farbe durchaus und jederzeit gleichmäßig ist, die des Pflanzenindigo
wechselt, so ist das Färben mit Teerindigo viel sicherer, reiner und immer gleich¬
artig, das Färbverfahren ist einfacher geworden, es bedarf nicht mehr langjähriger,
reicher Erfahrungen und einer aus solchen entspringenden hohen Geschicklichkeit.
soll wieder aus seinen Trümmern im alten
Glänze erstes». Ich meine, daß man hohe Befriedigung darüber empfinden sollte,
wenn die Ruine, die trotz ihrer landschaftlichen Schönheit ein steter Zeuge der
Machtlosigkeit Deutschlands zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts ist, verschwinden
würde I Es ist auffallend, daß sich so viele Stimmen gegen den geplanten Aufbau aus¬
sprechen. Jedermann, auch im Privatleben, sucht äußere Zeichen eiues ihm un¬
günstigen Zeitereignisses durch Wiederherstellung zerstörten Besitzes wieder zu
beseitigen. Niemand wird es einfallen, ein eingeäschertes Haus, einen vom Sturm
gebrochnen Wald in dem verwüstete» Zustande zu lassen, um das landschaftliche
Bild, das dadurch entstanden ist, zu erhalte«. Oberbaurat Schäfer in Karlsruhe hat
deshalb vollkommen Recht, wenn er sich gegen die Ansicht der Gegner wendet. Von
den von ihm angeführten Gründe», daß das Schloß gänzlich zerfalle» würde, wenn es
nicht jetzt hergestellt würde, ganz abgesehen, sollten wir uns doch namentlich des¬
halb z»in Wiederaufbau veranlaßt fühlen, weil dadurch ein Zeichen deutscher Ohn-
macht weggeschafft würde. Aber freilich, während andre Völker so schnell als
'»»glich Ruinen zu beseitigen suchen, die als sichtbare Zeichen ihrer Niederlagen
dastehn, betrachte» wir unsre Ruinen im Rheinthal, die wir fast ausnahmslos den
Franzosen verdanken, als ßio^t uttraeticm für die Reisenden, die im Sommer, den
Bädeker in der Hand, auf unsern Dampfern das Rhein-, das Mosel- und das
Neckarthal durchfahren. Da wäre es ja auch ein großer Fehler von Friedrich
Wilhelm IV. gewesen, dem man doch wahrlich Sinn für Romantik am wenigsten
absprechen kau», wenn er das 1689 von den Franzosen zerstörte Stolzenfels bei
Koblenz in den Jahren 1836 bis 1845 wiederherstellen ließ, wenn Prinz Friedrich
von Preußen von 1825 bis 1829 den Rheinstein wieder aufbaute. Ja, am Ende
giebt es Leute, die es bedauern, daß ma» den Kölner Dom unter Friedrich
Wilhelm IV. und Kaiser Wilhelm I. vollendet hat, und dabei der Domkran ge¬
schwunden ist, der ein Wahrzeichen von Köln war und sogar in schönen Romane»
eine Rolle spielt. Die Franzosen von heute wissen größtenteils gar nichts davon,
daß sie uns die schönen Ruinen an Rhein, Neckar und Mosel verschafft haben.
So war ein Pariser sehr verwundert, als er auf seiue Äußerung, er nehme uns
"N dem ganzen Kriege und Siege von 1870/71 nur übel, daß wir Elsaß-Lothringen
genommen hätte», die Antwort erhielt: Elsaß und Lothringen sei nicht von u»s
genommen, sonder» nur wiedergeholt worden, und die Ruinen, die er vor sich sahe
^ die Unterhaltung spielte sich im Rheinthal ab —, hätten sie, die Franzosen,
uns verschafft. Das war ihn, neu. Das Heidelberger Schloß ist ans ausdrücklichen
Befehl Ludwigs XIV. 1689 durch de» französische» General Melac, dann 1696
weiter durch Franzose» verwüstet worden und hat 1764 durch einen Blitzschlag
"bermnls gelitten. So ist „Deutschlands schönste und größte Rinne" entstanden.
A"es der schöne Dom zu Speier mit seineu Kaisergräbern wurde 1689 von den
Franzosen verwüstet. Nach seiner Wiederherstellung unterlag er 1794 einer aber¬
maligen Verwüstung, und erst 1846 bis 1858 wurde er völlig wiederhergestellt. Wenn
«wu sich jene Greuelthaten vor Augen hält, sollte man sich freuen, daß Deutsch¬
land in der Lage ist. die Zeiche» jener unglücklichen Zeit wcgznränme». In Köln
s"gte man in frühern Zeiten allgemein, wenn man die Ausführung eines Ver¬
sprechens als »»möglich charakterisieren wollte: „Ja, das geschieht, wenn der Dom
einmal fertig aufgebaut ist!" Und doch steht er da in seiner Pracht. Möge Oberbnurat
Schäfer in Karlsruhe mit dem Aufbau des Heidelberger Schlosses auch ebenso
Recht behalten! Man wird das wiederhergestellte Schloß dann gewiß auch schöner
fi
Dr. Wilhelm Bode ist von der litterarischen Agitation
deren letzte Erzeugnisse wir in. fünfte» Heft angezeigt haben, zum Versuch der Ver¬
wirklichung seiner Ideen fortgeschritten. Er hat eiuen Deutsche» Verei» für
Gasthausreform gegründet. der sich vier Ziele steckt. Erstens: Behörden. Ge-
meinten und Privatpersonen zur Reform der Schänkstätten zu bestimmen, die ihnen
gehören, oder auf die sie sonst Einfluß haben, etwa nach dem Beispiele, das die
gräflich Schaffgottschische Generaldirektion in Beuthen gegeben hat; sie hat sämtliche
Wirte der von ihr verpachteten Wirtshäuser veranlaßt, gegen eine angemessene Ent¬
schädigung den Schnapsverkauf an allen Sonn- und Feiertagen, sowie an den
Löhnuugs- und Vorschußtagen einzustellen. Was keine Partei, kein Minister und
kein Reichskanzler zu beantragen wagt, das setze ein wohlwollender Besitzer ganz
im stillen durch, sagt Bode in seinem Aufruf, den der Freiherr D. von Diergardt
und Nechtscmwcilt Dr. H. Eggers mit unterschrieben haben. Zweitens soll auf die
Einführung des Gothenburger Systems in den Gemeinden, sowie bei Kanal- und
Eisenbahnbauten hingewirkt, drittens sollen alkoholfreie Gesellschafts- und Erholungs¬
häuser gegründet, viertens Erholungsstätten geschaffen werden, in denen weder Speise
noch Trank genossen zu werden braucht: Versammlungshäuser, Musikhäuser, Studien¬
häuser, Lesehallen, Billardsäle, Kegelbahnen, Spielgärten, Bäder, Säulenhallen,
Schutzhütten gegen Sonne, Regen und Wind sowohl für Spaziergänger wie für
solche, die im Freien arbeiten müssen, dazu hübsche Trinkbrunnen auf öffentlichen
Plätzen und in den Promeuadenanlagen. Und da dem einen Reformfreunde mehr
dieses, dem andern mehr jenes von den vier Unternehmungen am Herzen liegt, so
gründet Bode für jedes eine besondre Sparkasse, die darauf wartet, durch Ge¬
schenke gefüllt zu werden. Als Vereinsbeitrag kann eine beliebige Summe entrichtet
werden, mindestens aber sind 5 Mark jährlich zu zahlen. Die Mitglieder be¬
kommen das Vereiusblatt „Gasthaus-Reform," das monatlich erscheint, gratis; im
Abonnement kostet es 2 Mark 40 Pfennige. Die ersten beiden Nummern bringen
u. a. Berichte über deutsche Gemeindehäuser — denn es giebt schon einige, die
Bodes Idee entsprechen — und über englische Mustergasthäuser mit Abbildungen.
Ein Gasthaus uach dem Gothenburger System hat der Freiherr vou Diergardt in
Suschenhammer (Kreis Großwartenberg in Schlesien) eingerichtet. Auch die Loggia
dei Lanzi in Florenz ist abgebildet und wird unter der Überschrift: „Ein Kunst¬
winkel statt der Kneipe" beschrieben. (Sie wird in der That bei Regenwetter vom
Volke als Zufluchtsort aufgesucht und ist dünn am Feiernbeud dicht gefüllt. Freilich
reicht sie für die große Stadt nicht aus, doch wird sie durch den Säulengang an
den Uffizien und die offne Halle des Mercato Vecchio ergänzt.) Wir wünschen
dem neuen Verein, der wirklich einem dringenden Bedürfnis abhilft, einen so starken
Mitgliederzufluß, daß er es fertig bringt, das ganze deutsche Volksleben in Be¬
ziehung auf Geselligkeit und Erholung umzugestalten. ^
Da sich die Grenzboten über die Anlage dieser auf ethnographisch-geographischer
Grundlage aufgebauten Weltgeschichte schon früher ausgesprochen und ihren prin¬
zipiell ablehnenden Standpunkt erläutert haben, so sehen wir hier und künftig
davon ab, die Folgen dieser Einteilung für die Darstellung geschichtlicher Zusammen¬
hänge nachzuweisen, sondern begnügen uns mit dem Bericht über die einzelnen Ab¬
schnitte. Wie nun da schon die erste Hälfte des dritten Bandes, die Geschichte
Westnsiens, als eine sehr verdienstliche und tüchtige Arbeit anerkannt werden konnte,
so gebührt diese Anerkennung in besonders hohem Maße der zweiten Hälfte, die
zum erstenmal eine zusammenhängende Geschichte Afrikas (von Heinrich Schurtz)
bis auf die Gegenwart herab giebt und dabei auch die erst ganz neuerdings er-
forschte Entwicklung der mittelafrikanischen Stämme darstellt (jedenfalls sehr mühsam
herausgearbeitete Stammtafeln für sie hat Helmolt selbst hinzugefügt). Daran
schließt sich eine Geschichte Ägyptens von Karl Niebuhr bis auf die Gegenwart
herab, die namentlich für die älteste Zeit viel neues bringt und unter andern: den
asiatischen Ursprung der altägyptischen Kultur vertritt. Der siebente und der (uoch
nicht erschienene) achte Band sollen zusammen ein Ganzes bilden und die Geschichte
Westeuropas, d. h. vornehmlich Deutschlands, Frankreichs und Englands schildern.
Der siebente Band zerfällt in fünf Abschnitte: die wirtschaftliche Ausdehnung West¬
europas seit den Kreuzzügen (von Richard Mayr), Renaissance. Reformation und
Gegenreformation (bis 1648, von Armin Tille), das abendländische Christentum
und seine Missionsthätigkeit seit der Reformation (von Wilhelm Walther), die soziale
Frage (von Georg Adler) und die Entstehung der Großmächte (bis 1763, von
Zwiedineck-Südeuhvrst). Hier, wo sich die Darstellung uns dein allerbekanntesten
und oft bearbeiteten Boden bewegt, treten ihre Eigentümlichkeiten nur ni der ab¬
gesonderten Behandlung der wirtschaftlichen Entwicklung und der (modernen) sozialen
Frage vor, Teile, die denn auch wohl die wertvollsten des Bandes ausmachen. Die
Ausstattung ist in Papier und Druck wie vor allem in den Bildern und Karten-
b
Aus genauer persönlicher Kenntnis heraus, mit feinstem Verständnis und
wärmster Sympnthie hat hier der langjährige Freund Treitschkes ein überaus an¬
ziehendes Lebens- und Charakterbild entworfen. Ohne bei Einzelheiten aufgehalten
SU werden erhält der Leser doch ein vollkommen klares Bild des unvergeßlichen
Mannes, bei dem der Historiker und der Patriot unzertrennlich verbunden waren,
der deshalb alles, was er schrieb, allerdings nicht mit der vielbewunderten Rankischen
Objektivität, aber mit seinem Kerzblut schrieb und deshalb deu Gestalten wie den
Dingen sein eignes Leben einzuhauchen wußte. Als Historiker ist er nicht ersetzt,
und einen so leidenschaftliche», bis zur Einseitigkeit schroffen Patriotismus scheint
die jüngere Generation gar nicht mehr begreifen zu Wurm. Hausrath hat ihn
begriffen, und wo er den Ansichten des Freundes nicht folgen kann, da spricht
er das zwar offen aus. aber er versteht sie zu erklären und zu würdigem Wahr¬
haft erschütternd ist es dabei, zu verfolgen, wie furchtbar schwer Treitschke innerlich
unter seiner Taubheit gelitten hat. die ihm den lebendigen, unmittelbaren Verkehr
>"it seiner Umgebnna. raubte und manches auch in seinem historisch-polie.schen Urteil
erklärt; nur ein vertrauter Freund konnte das wissen. So ist das Büchlein einer der
wertvollsten und anziehendsten Beiträge zu unsrer neuen biographischen Litteratur.
^ Anlage und Charakter des Werkes sind schon bei der Besprechung des ersten
Landes kurz gezeichnet worden. Der zweite Band behandelt das Mittelalter vom
Anfange des sechsten bis zum Anfange des sechzehnten Jahrhunderts (eigentümlicher¬
weise mit Einscllnß der spanischen und der portugiesischen Entdeckuugs- und Er-
°berungsfahrten) in der übliche» Einteilung in vier große Perioden und mit ziemlich
^'gehender Berücksichtigung der Kulturentwicklung, die jedoch hinter der p°wischen
beschichte zurücktritt Im dritten Baude wird der Zeitraum vom Ende des
Mittelalters bis zum Ausbruche der französischen Revolution als eine „Übergangs¬
zeit" zur eigeutlichen Neuzeit behandelt. Mit dieser A.iffassung können wir uns
'"ehe recht befreunden; sie thut der französischen Revolution, die doch nur die
»nderwärts schon verwirklichten Gedanken der „Aufklärung" des ftebzehiiten und
achtzehnten Jahrhunderts auch für Frankreich verwirkliche» wollte zu viel Ehre
"n und verkeimt die viel e»tscheidendere Bedeutung des Zusammenbruchs der Mittel-
elterlichen Weltanschauung und der auf sie begründeten Institutionen im sechzehnten
Jahrhundert. Der vierte Band führt die Erzählung bis zum Ende des neunzehnten
Jahrhunderts. Eine Reihe von meist guten Porträts und historischen Karten (in
sehr kleinem Maßstabe und von recht mäßigem Werte) ist beigegeben, und als
praktische Ergänzung eine für sich erschienene „Vergleichende (synchronistische) Über¬
Den altbewährten Monatsheften wird seit 1898 eine volkswirtschaftliche Chronik
beigegeben, die über alle Ereignisse des Monats auf wirtschaftlichem und sozialem
Gebiete berichtet. Die Chronik wird besonders paginiert und dann mit einem
Sachregister bereichert als selbständiges Buch herausgegeben. Der vorliegende Jahr¬
gang 1900 kostet 12 Mark. Die wirtschaftlichen Ereignisse jedes Monats sind
untergebracht in die Rubriken: 1. Landwirtschaft und verwandte Gewerbe, 2. In¬
dustrie, Handel und Verkehr, 3. Geld, Kredit, Währung, 4. Kleingewerbe, 5. Arbeiter¬
verhältnisse, 6. Finanzwesen, 7. Verschiednes. Wert und Nutzen einer solchen
Chronik brauchen wir nicht auseinanderzusetzen; für die Zuverlässigkeit der Angaben
und die Objektivität der Darstellung bürgen die Namen der Herausgeber.
Außer den Jahrcsübersichteu, die Mühlbrecht seit 1868 herausgiebt, hat er
nun auch einen Wegweiser zusammengestellt, der nur die wichtigste« der in jenen
33 Bänden angeführten Werke und Schriften enthält. Im vorliegenden zweiten
Bande des Wegweisers füllen die Büchertitel (mit Preisangabe) 528 Seiten groß
Oktav, wozu noch ein 121 Seiten umfassendes Register kommt. Die Bnchertitel
sind in 36 Haupt- und eilte große Menge Uuterrubrikeu geordnet, teils nach
Fächern, teils nach Ländern. In das Register ist jeder Titel dreimal aufgenommen:
„einmal mit dem Autornamen voran, dann nnter demi Schlagworte der Materie
und drittens unter dem Schlagworte des betreffenden Landes, der Provinz oder
der Stadt." So findet man: Mittelstein, Das hamburgische Gesetz betreffend Grund¬
eigentum und Hypotheken unter Mittelstein, Grundeigentum und Hamburg. Das
Werk wird also namentlich Fachschriftstellern gute Dienste leisten.
Über die Verwilderung der Arbeiterjugend wird alle Tage geschrieen und ge¬
schrieben, und darüber, wie man sie einfangen und zähmen könnte, zerbrechen sich
die Geistlichen, die Pädagogen und die Politiker unaufhörlich die Köpfe. Was
dabei herauskommt, das sind meistens ohnmächtige fromme Wünsche und Gemein¬
plätze. Aber das vorstehend genannte Schriftchen können wir mit gutem Gewissen
empfehlen. Es ist aus warmem Herzen und mit klarer Einsicht in die Thatsachen
geschrieben und enthält ausführbare Vorschläge, namentlich auch einen guten Unter¬
richtsplan für Fortbildungsschulen. Der Verfasser sagt ganz richtig, wenn in diesen
bloß das Pensum der Volksschule wiedergekäut werde, dann seien sie eine ganz
unnütze Plage für Lehrer und Schüler.
er sechzigjährige erinnert sich an die Materialisten, die in den
fünfziger Jahren in Deutschland rumorten, wo sie von dem Über¬
druß an philosophischen Träumen Gewinn zogen. Er sieht vor
sich die zerlesenen Hefte und Bogen von Ludwig Büchner und
Karl Vogt, die er als Scholar unter der Tischkante studierte:
.Kraft und Stoff," „Köhlerglaube und Wissenschaft"; aber mit Ekel denkt er
heute an die Seichtigkeit ihres Inhalts zurück, die schon von dem ungeschulten
Geiste empfunden oder vielmehr nur geahnt wurde, wenn er am Schluß weder
etwas Greifbares noch etwas Erhebendes daraus gewonnen hatte. Greif¬
bares hatte freilich auch das Studium Hegels nicht hinterlassen, aber wer
einmal die Weltidee in lichter Gedankcnferne wie Abendgold sich zur Welt
hatte entfalten sehen, dem blieb wenigstens der Gewinn eines unendlich er¬
weiterten Gesichtskreises; und unter allen Umständen hatte er mit einem der
fruchtbarsten Geister des Jahrhunderts Umgang gepflogen. Von jenen blieb da¬
gegen nur der Eindruck philosophischer Stümper. Ein Glück für den jungen
Leser, daß er in seinem Hunger nach naturwissenschaftlicher Lektüre mit Müllers
und Ales „Natur" und mit Noßmäßlers „Aus der Heimat" in Berührung
^in, populären Zeitschriften, die zwar ebenfalls materialistische Ideen ver¬
traten, aber doch viel mehr bestrebt waren, suchende Geister in die Schön¬
heit und Größe der Natur einzuweihen. Besonders Karl Müller und Otto
Ule waren begeisternde Freunde und Kenner der Natur. Ihnen verdanken
dicke die Einführung in die Naturbeobachtung, die bald alles Fragen um
Stoff und Kraft zum Verstummen brachte, den Reichtum und die Tiefe der
Schöpfung uns unmittelbar fühlbar machte. Dann kam Darwin, dessen erstes
Und größtes Werk „Die Entstehung der Arten" 1860 in Deutschland bekannt
wurde, wo es von den echten Naturforschern mit Dank und Aufmerksamkeit
aufgenommen wurde; sein Übersetzer G. H. Bronn in Heidelberg hatte selbst zu
den bedeutendsten Vorläufern der Entwicklungslehre gehört. Natürlich strudelte
aber neben dem mächtigen Strom wissenschaftlicher Anregung, der von ihm aus¬
ging, auch wieder ein trüber Gegen- und Nebenstrom sogenannter Popnlari-
sierungen, worin sich die Materialisten tummelten, die schon vorher das große
Wort geführt hatten. Darwin hatte für einsichtige Forscher eigentlich erst die
Aufgabe formuliert, an deren Losung man sich jetzt machen mußte; so ver¬
standen es ruhige Denker; ihre Stimme übertönte indessen weit der Lärm jener
Ausleger, die im Darwinismus hauptsächlich den Protest gegen die Schöpfungs¬
geschichte der Bibel sahen. Von ihnen wurde der vou Darwin mit richtigem
Gefühl zuerst gar nicht berührte „Affenmensch" mit Jnbel in den Vorder¬
grund gebracht. Für die andern gestalteten sich die Probleme der Enwicklungs-
lehre immer verwickelter und tiefer, je näher sie sie studierten, und mehr als
eine wissenschaftliche Reputation zerschellte an ihrer übereilten Deutung. Der
.Kampf ums Dasein verlor bald seinen Zauber. Nach einem Menschenalter
weiß man heute zahllose entwicklungsgeschichtliche Einzelthatsachen, aber von
dem Gaug der Entwicklung der Schöpfung weiß man nichts Sicherers, als
Darwin und seine Zeitgenossen gewußt hatten.
Dieselben Jahrzehnte, die den Materialismus eine Bedeutung in den
Naturwissenschaften gewinnen sahen, wie ihn die vorangegangnen philosophischen
nicht für möglich gehalten hätten, erlebten anch das Aufblühn der angewandten
Naturwissenschaften in der Technik, der Medizin und andern Künsten. Sicher¬
lich hat gerade dies wesentlich zur Überschätzung einer ganz unphilosophischen,
die Wissenschaft wie ein Handwerk einseitig und kurzsichtig behandelnden
Richtung in der Naturforschung beigetragen, und ebendarum hat es auch dein
Materialismus Gläubige in Menge zugeführt. Große Leistungen in der Chemie
und der Physik vor allem wurden ja von Naturforschern erzielt, die sich be¬
wußt ablehnend zu jeder Art von Philosophie verhielten. Es waren nicht
die Wortführer der materialistischen Richtung, denn diese sind samt und sonders
in wissenschaftlichen Leistungen unbedeutend oder mindestens unschöpferisch ge¬
wesen; aber die meisten von ihnen meinten, mit dem Materialismus auskommen
zu können, und hielten ihn jedenfalls für weniger irreleitend als die spekulative
Naturphilosophie, die thatsächlich die Naturwissenschaften in Deutschland bis
in die dreißiger Jahre gelähmt hatte.
Daß die meisten Zweige der Naturforschung zu dieser Zeit eine von
jenen Entwicklungen durchmachten, die reich an Problemen und verhältnismäßig
leicht erruugnen Lösungen sind, hatte bei billigen Denkern den Glauben
hervorgerufen, es werde nun immer so im Triumphe weiter und bestündig
aufwärts gehn. Zwar begannen schon um die Mitte des neunzehnten Jahr¬
hunderts einige Größen, zu denen man noch abgöttisch aufschaute, zu wanken.
Ich will nur die großen deutschen und französischen Geologen nennen, deren
Autorität für unangreifbar gegolten hatte. Was bleibt heute von den Ideen
L. von Buchs und Alexander von Humboldts übrig? Die Bedeutung der
Männer wird immer anerkannt, aber die Größe ihrer Irrtümer wird auch immer
deutlicher erkannt werden. Die ununterbrochne Fortentwicklung, die im Wesen
der Wissenschaft liegt, läßt es gar nicht anders zu, als daß die Mehrzahl der
Ergebnisse der Naturforschung aus provisorischen Bestimmungen besteht. Die
ganze Descendenztheorie mit dem Kampf ums Dasein und andern Tochter¬
hypothesen gehört zu den Lehren, die man für eine gewisse Zeit anerkennt,
sich vorbehaltend, Besseres an ihre Stelle zu setzen, wenn die Gelegenheit ge¬
kommen sein werde. Sogar die so oft wie eine letzte Erkenntnis hingestellte
Theorie der Entwicklung des Sonnensystems ans einem Urnebel, die fälschlich
unter Kants Namen geht, ist nur eine Meinung, die von manchen ernsten
Forschern nicht geteilt, wohl aber dem großen Publikum wie ein Dogma ver¬
kündigt wird. Nicht bloß Fechner hat gegen die „Nachtansicht" protestiert,
die Licht, Farbe und Ton und alles, was die Welt um uns reich und schön
macht, für Sinnestäuschung erklärt; es hat sogar alleu Anschein, als ob auf
die Herrschaft dieser Ansicht die Anerkennung der Wirklichkeit, wie sie vor
der naiven Menschenseele liegt, folgen werde. Und so sehen wir eine „all¬
gemein geteilte" Ansicht nach der andern hinabsinken und verlernen immer
mehr den Glauben an die Allgemein- und Ewiggiltigkcit angeblicher Natur¬
gesetze, die uus mit der Miene der Unfehlbarkeit vorgetragen, aber dann auch
unter Umständen ganz unbefangen wieder zurückgezogen werden. Die Natur¬
wissenschaften verdienen unser Vertrauen nur, wo sie uns Kunde geben auf
die Frage: Wie sind und verlaufen die Dinge? So lange sie beschreiben,
und zur Beschreibung gehört ja auch der Nachweis der Folge von Ursache
und Wirkung im Bereich unsrer Wahrnehmung, die wir Gesetz nennen, ver¬
dienen sie in der Regel Vertrauen, wiewohl es bekanntlich auch Leute giebt,
die nicht einmal genau berichten können, was sie gesehen oder gehört haben.
Niemand ist einstweilen gebunden, alles für wahr zu halten, was große
Astronomen auf dem Mars sehen! Wenn sie über die Grenzen der Beobachtung
hinausschweifen, wollen wir ihr Fürwahrhalten nur nach gründlicher philoso¬
phischer Prüfung hinnehmen oder — ablehnen. Jedenfalls werden wir uns nicht
mehr einreden lassen, die Naturwissenschaften hätten die Philosophie überflüssig
gemacht, weil sie für sich allein zur Beantwortung aller Fragen ausreichten, die
der Mensch vernünftigerweise aufwerfen könne. Nachdem wir die naturwissen¬
schaftliche Weltanschauung als eine Decke kennen gelernt haben, die zu kurz ist
und außerdem noch einige große Löcher hat, haben wir uns notgedrungen zur
Philosophie zurückgewandt,'die uus von vornherein mindestens durch dre Er¬
fahrungen und Prüfungen eines tausendjährigen Alters eine Gewähr giebt,
daß sie nicht mit jugendlicher Unvorsichtigkeit Erkenntnisse verheißt, die sie selbst
nicht hat und auch nicht verschaffen kann. Philosophie muß doch wenigstens in
dreitausend Jahren gelernt haben, was der Mensch wissen kann und was nicht;
und gerade darüber hat uns ja die Naturwissenschaft im unklaren gelassen,
da sie immer mehr versprach, als sie erfüllen konnte. Le.na n'ac geschah es
Wohl, aber was hilft mir der gute Glaube, wenn ich in der Sackgasse stecke?
Ich muß heraus. Aber mein Leben ist kurz, und noch kürzer ist die Reihe
der Jahre, in denen ich mich fröhlich und eifrig dem Geschäft des Denkens
widme. Es ist ein Jammer um jeden Tag, den ich in eiteln Bemühen
verliere.
Frage ich die besten Kenner der Natur und unsers Wissens von der
Natur, so finde ich im Kern aller ehrlichen Antworten immer wieder die Er-
terrenis, daß die Ausbreitung unsers Wissens über ungeheure Räume und
in unerhörte Zeiten nicht hindern kann, daß wir uns von einem engern
Horizont umschlossen fühlen als unsre Vorväter, die nichts von Sternenweiten
und Milliarden Jahren der Erdgeschichte wußten. Mit aller Erweiterung des
Wissens ist das Gebiet des Unbekannten, Ungcwußten und nie zu Wissenden
in noch viel stärkeren Maße gewachsen als das kleine gelobte Land des
Wissens. Wenn es im neunzehnten Jahrhundert Zeiten gab, wo uns die Ergeb¬
nisse der Wissenschaft dazu führten, daß wir ganz vergaßen, was darüber hinaus
an Unwißbarem liegt, so ist uns nachgebornen der Sinn für diese ungesehenen
Weiten noch stärker gewachsen als der Blick in die sinnliche Welt. Tief¬
sehende Geister hatten das schon zu einer Zeit kommen sehen, als das An¬
staunen der Sternenräume uoch mit der größten Naivität als ein Blick in die
Ewigkeit geschätzt und mit Ernst die Frage erörtert wurde, ob das „wirkliche"
Alter der Erde 20 oder 200 Millionen Jahre sei. In diesem Sinne sprach
sich schon Hegel in der Logik aus, deren kritische Glossen zu dem Jndiekniesinken
vor den Sternenweiten zu den geistvollen und tiefen Randbemerkungen ge¬
hören, die dem gewöhnlichen Leser über die Dumpfheit manchen Kapitels weg¬
helfen. Allerdings war ihm darin Schiller vorangegangen mit seinen herrlichen
Versen:
Schwatzet mir nicht soviel von Nebelflecken und Sonnen!
Ist die Natur nur groß, weil sie zu zählen euch giebt?
Euer Gegenstand ist der erhabenste freilich im Raume,
Aber, Freunde, im Reinen wohnt das Erhabene nicht.
Heute imponieren uns Milliarden Sterne, Jahre, Infusorien und andre
große Zahlenausdrücke uoch viel weniger, denn wir haben uns gewöhnt,
immer noch einmal darüber hinauszuschauen, wo wir immer wieder größere
Reihen und Mengen finden, und so in inümwru. Und wenn wir uus nun satt
geschaut und müde gedacht haben, stehn wir auf demselben schmalen Ufer der
Zeit wie vorher, und der Ozean der Ewigkeit dehnt sich in die Weite hinaus,
wohin nie, nie unser Blick dringen wird. Und so ist all unser Mühen um¬
sonst, uns aus dem Ringe herauszudenken, den die Schranken unsrer Natur
um uns ziehn. Daran ändern die größten Teleskope, die feinsten Mikroskope
und die kühnsten Hypothesen nichts. Wir können die Dinge außer uns
nicht einmal erkennen, wie sie sind, sondern nur wie sie uns erscheinen, und
wo wir uns hinwenden mögen, immer bleiben wir in unsrer Welt gefangen,
was wir dann allerdings mit einem Satze Kants tröstlich so ausdrücken können,
daß unser Verstand seine Gesetze nicht aus der Natur schöpft, sondern sie der
Natur vorschreibt. Das ist ungefähr so, wie wenn ein Kurzsichtiger sagt: Ich
schreibe der Natur vor, mir nur das Nächste zu zeigen, alle Fernen mir verhüllt
zu halten. Ich möchte statt dieses Satzes, der in Wirklichkeit keinen Trost
enthält, das Sichbescheiden gegenüber dem Unendlichen als den positiven
Gewinn dieser Blicke ins Leere und Dunkle bezeichnen. Es ist ja auch nur
ein Zurücktreten in die Grenzen meiner Zeitlichkeit, aber es bewahrt mich doch
davor, daß ich mein geistiges Leben in einem ewigen Kampf zwischen geistigem
Hoffen und Enttäuschtwcrden verbringe. Es liegt aber ein noch viel größerer
Gewinn darin, daß ich das gottsuchende Denken und Dichten nun mit andern
Augen betrachte. Darin liegt eben die Denknotwendigkeit der Wendung von
der Naturforschung zur Philosophie. Bedrängt, ja bedrückt von der Un¬
endlichkeit, in der unsre Sinnenwelt zu nichts zusammenstürzt, erkennen wir
die Nutzlosigkeit des Bemühens an, aus unsrer engkreisigen Erfahrung allein
heraus uns eine Weltanschauung aufzubauen. Je mehr aber unser großes
Ich zusammensinkt, um so mächtiger erhebt sich Gott. Dem Faust in uns
erscheint der Erdgeist.
Was wir im Raum und in der Zeit umfassen wollten, das ist nun alles
viel zu eng, daß wir darauf eine Gottesvorstellung aufbauen könnten, nach
der wir uns zurücksehnen. Wir müssen darüber hinaus. Zwar wäre die
Hoffnung vergebens, jenseits unsrer Zeitlichkeit gleichsam Entdeckungen zu
machen, die den Gesichtskreis hinaufrücken. Für jene Regionen giebt es keinen
Kolumbus und keinen Magalhäes. Im Grunde handelt es sich auch gar nicht
darum, Neues zu gewinnen, sondern viel eher könnte man diesem Streben über
die Grenzen der Zeitlichkeit hinaus deu Zweck setzen, Altes zu verlieren, abzu¬
streifen. Dazu zähle ich auch die Abneigung der Naturforscher, mit einem
geistigen Wesen zu rechnen, das über der Welt unsrer Sinne schwebt oder
sie durchdringt, was mir, beiläufig gesagt, kein Unterschied ist. Auch sie wird
abgestreift werden.
Es konnte zwar an sich keinen tiefen Eindruck machen, wenn die Natur¬
wissenschaft so lange Jahre nicht mehr gern Gott sagte. Es war eine Zunftsache
wie eine andre. Wir, die wir nicht verpflichtet sind, irgend eine allgemeine An¬
sicht, die die Naturwissenschaft uns vermittelt, unbesehen hinzunehmen, konnten
bei allem Respekt vor ihren Einzelergebnissen, allem Zweifel gegenüber ihren
allgemeinen Folgerungen Raum geben und haben das redlich gethan. Deswegen
sind wir nun auch nicht erstaunt, daß man beim Hereinfallen der ersten Strahlen
der Philosophie das große Wort Gott, das größte der Sprache, wieder ver¬
nimmt, gleich als wie ein Morgengebet nach langer Nacht das liebe Licht und
den. der es aussendet, zugleich begrüßt. Man sollte nicht glauben, daß em
besondrer Mut dazu gehöre, dieses Wort selbst in einer wissenschaftlichen Abhand¬
lung auszusprechen. Aber thatsächlich beging der. der es that, etwas Unzünftiges,
und noch heute stellt er sich außerhalb des großen Kreises der „Fachmänner."
Ganz allein steht er dort nicht mehr, aber groß ist die Gruppe auch nicht, zu
er sich gesellt.
^^
Doppelt achte ich darum den Mann. der. ein anerkannter Naturforscher,
uns sagt: Ich vermag mir die Natur nicht anders zu erklären, als indem ich
eine höchste Ursache oder eine Weltvernunft annehme. Gerade die Organismen
beweisen, daß hinter den Kulissen der sichtbaren Natur noch etwas wirkt,
das unsern Sinnen nicht zugänglich ist; gerade aus deu biologischen Arbeiten
Über diese Organismen muß es mit Notwendigkeit gefolgert werden. In den
Organismen wirkt der intelligente schöpferische Impuls vergleichbar einer von
der Sonne losgelösten Lichtwelle fort.*) Es hat ja Größere gegeben, die das-
selbe, wenn auch mit andern Worten gesagt haben, Goethe vor allem, der sich
des Problematischen hinter der Natur wohl bewußt war, das zu ergründen
die menschlichen Fähigkeiten nicht hinreichen, und der es mit unübertrefflicher
Klarheit aussprach: „Es giebt in der Natur ein Zugängliches und ein Un¬
zugängliches. Dieses unterscheide und bedenke man wohl und habe Respekt";
oder Karl Ernst von Baer, den man einen Aristoteles des neunzehnten Jahr¬
hunderts nennen mag, der aber — man verzeihe den Anachronismus — auch
seinen Kant studiert hatte, wie sein Ausspruch beweist: „Die Natur ist dem den¬
kenden Beobachter die fortgehende Offenbarung eines unerreichbaren Urgrundes.
Diesen Urgrund erkennt er nur im einzelnen seiner Wirksamkeiten. Ihn selbst
als Objekt zu fassen, findet er keine Möglichkeit"; diesem großen Schöpfer
der Wissenschaft von der Entwicklungsgeschichte der Tiere verdanken wir das
tiefe Wort Zielstrebigkeit, womit er aus der Bahn der zufälligen Gründe
der Entwicklung heranslenkte, die immer nur in Sackgassen führen wird.
Niemand, der in die Entwicklungsgange, sei es der Einzelwesen, die aus
dem El hervorgehn, oder der Verwandtschaftsreihen fossiler Tiere oder Pflanzen
tiefer hineingeschaut hat, wird zwar Zielstrebigkeit in jedem Entwicklungs¬
vorgang suchen. Die Natur ist auch in den Möglichkeiten der Erreichung
eines Zieles reich, und für das Leben ist nicht, wie für den Kristall, die
Gerade bezeichnend, sondern die Wellenlinie.
Es giebt ein Variieren der Pflanzen und der Tiere, das ein zielloses
Schwanken um den ruhenden Punkt der Eigenschaft einer Art ist, und es giebt
ein andres Variieren, das die Art in einer bestimmten Richtung weiter führt,
entweder vorwärts fortbildend oder rückwärts zurückbildcnd. Jenes bewirkt,
daß keine Rose, wenn auch von demselben Strauch derselben Art, der andern
gleicht, daß kein Blatt desselben Baumes dasselbe ist; dieses hat durch die
Variabilität der Größe und des Baues des Gehirns den Menschen zu seiner
Höhe heraufgeführt, so wie es einst das erste Flugvermögen der Saurier zu
dem wunderbaren Flugmechcmismns der Schwalbe fortbildete.
Die meisten Entwicklungslehrer der Generation, die jetzt heranaltert, sind
vor dieser Vorstellung einer auf ein gesetztes Ziel strebenden Entwicklung wie
vor einem verderbendrohenden Abgrund znrückgeschent. Aber die Thatsachen sind
so stark, daß man mit Zuversicht behaupten kann: ihr scheuet vor dem Wort,
die Sache lebt in euern Gedanken. Gewiß ist es so mit Weismann, der ja
früher sehr viel zur Einsicht in den äußern Mechanismus der embryonalen
Entwicklung der Tiere beigetragen hat und späterhin durch Aufstellungen, die
mit Recht angefochten worden sind, vielleicht zu noch größern Fortschritten
wenigstens angeregt hat. Sogar er bekennt (in seiner Schrift „Über die mecha¬
nische Auffassung der Natur"), daß er sich die Welt „unmöglich als das Werk
eines Zufalls, vielmehr nur als das Resultat eines planmäßig gerichteten
großartigen Entwicklungsprozesses denken könne." Wenn um solche Denker
die zwecksetzende Kraft, die sie nicht leugnen können, an den „Anfang der
Dinge" verlegen, zerfällt ihnen die ganze Natur in zwei Abschnitte: in den
Anfang mit dem Eingreifen der zielstrebigen oder zwecksetzendcn Kraft, und in
den Ablauf der Notwendigkeit, die daraus hervorgeht. Ist ein solcher Anfang
denkbar? Und kann man sich eine Macht denken, die einen solchen Grund
legt, ohne sich um den Aufbau zu kümmern, der darauf errichtet wird? Ich
glaube, daß hier der ganz berechtigte Wunsch, die unserm Erkennen zugäng¬
lichen Prozesse der Natur einfach mechanisch aufzufassen, über sein Ziel hinaus¬
schießt. Wenn wir uus einmal den Schöpferwillen an den Anfang setzen,
'vollen wir ihn auch uicht aus dem Fortgang ausschließen. Damit ist ja nicht
gesagt, daß wir bei jedem Problem, dessen Lösung nicht leicht gelingt, kinder¬
gleich an sein Eingreifen appellieren. Davor wird und muß uns wissenschaftliche
Denkdisziplin bewahren.
Die Naturforscher, die so thun, als ob es gar keine Schranken des Er-
kennens gebe, als ob sie eigentlich bald alles selbst machen könnten, beweisen
eben damit, wie wenig weit ihr Blick reicht. Dn jammern sie über die, die einen
Zweck und ein Ziel in der Schöpfung sehen wollen, als ob sie ihnen den Weg
verbauten, der ja doch für alle plötzlich an finstern Abgrund'der Ewigkeit ab¬
wiche. Eine zweckthütigc Kraft, sagt Weismnnn, unter die Entwicklungsursachen
aufzunehmen, wird dem Naturforscher niemals gestattet sein, weil er damit^ die
Voraussetzung seines Forschens preisgäbe: die Begreiflichkeit der Natur. Wenn
">um sich nun bei einem solchen Donnerwort an die Irrwege und Sackgassen
°er Weismcmnschen Entwicklmigsgedanken erinnert, ist es schwer, acht Spott
in vollen Schalen über ihn zu ergießen. Die dankbare Erinnerung an seine
5votomischen Verdienste hält uns allein davon ab.
Daß die Erreichung eines vorher bestimmten Zieles durch die Entwicklung
°es Lebens unsrer Erde nicht alle mechanische Erklärung ausschließt, ist schon
"»n mehreren Denkern ausgesprochen worden, die mit dieser kurzsichtigen Angst
»or der Zielstrebigkeit nicht behaftet waren, z. B von Fechner. Daraus
^so folgt auch, daß die natürliche Auswahl zufälliger Variationen im Kampf
ums Dasein keineswegs die einzige mechanische Erklärung der Lebensentwick-
lung und Fortbildung zu sein braucht. Ich möchte sogar noch eine weitere Er¬
klärung für möglich halten, von der ich glaube, daß noch kein Biolog sie ausge¬
sprochen hat Ich gebe sie. an zu zeigen. wie wenig Grund man hat. nach
Zuchtwahl wie nach dem einzigen rettenden Balken in einer hochgehenden
See zu greifen Sie geht von der Voraussetzung aus, die niemand mir streitig
dachen kann, wenn auch die Mehrzahl, und besouders die Geologen, sie
ungläubig behandeln mögen, daß das Alter der Erde uns absolut unbekannt
Darum ist auch für die Geschichte des Lebens kein Anfang zu setzen.
Was uns an Zeugnissen dieser Geschichte in versteinertem Zustand von der
ältesten kambrischen Schicht bis zu den Diluvialablageruugcn erhalten ist,
macht sicherlich nur ein Minimum des Lebens aus, das auf der Erde war
und ist. Was zwingt mich nun, anzunehmen, daß nur diese eine Entwicklung
auf der Erde möglich sei, die wir kennen? Kann nicht eine andre oder
können nicht andre dieser vorangegangen sein? So gut wie die ältern Spuren
der Entwicklung, in der wir gegenwärtig stehn, bis auf einen kleinen Nest
durch die Umgestaltung (Metamorphismus) der Gesteine, in denen sie lagen,
vernichtet worden sind, können anch andre Schöpfungen untergegangen sein.
Ich gehe nicht so weit wie der bekannte Botaniker Karner, der das Leben für
ewig erklärt, aber das Leben ist eine notwendige Folge der Einwirkung der
Wärme, des Lichtes und vielleicht andrer Formen der Energie auf die Stoffe der
Erde, die unter ähnlichen Verhältnissen immer entstehn muß und entstanden
sein muß. Das Wie dieser Entstehung kennen wir allerdings nicht, werden
es auch vermutlich nie kennen lernen.
Daß aber z. B. eine Erde, deren Oberfläche wärmer als der Siede¬
punkt des Wassers war, kein Leben hegen konnte, das dem unsern ähnlich
war, ist sicher. Ein Hereinstürzen der Lebenskeime ist eben deswegen nicht
anzunehmen. Ich stehe nicht an, den Gedanken von Helmholtz und William
Thomson, die Bruchstücke zertrümmerter, einst mit Leben bedeckter Welten,
d. h. Meteorsteine, hätten die Keime des Lebens auf die Erde gebracht,
einen höchst geistlosen zu nennen. Nichts billiger, als dieses Entfliehen vor
dem Problem der Entstehung des Lebens durch eine solche ärmliche Hinter¬
thür. Man hat-sogar Wert darauf gelegt, festzustellen, daß Helmholtz diesen
Gedanken noch vor Thomson ausgesprochen habe, dieser im Herbst, jener im
Frühling 1871. Ich hätte gewünscht, keiner von beiden hätte das gethan.
Was bleibt davon bei unserm Zusehen übrig? Meteorsteine erhitzen sich beim
raschen Dnrchstürzen unsrer Atmosphäre zum Glühen, nachdem sie vorher in
einem Weltraum von unbekannter, gewaltiger Kälte geweilt, sich also zweimal
unter lebentötenden Bedingungen befunden haben. Leben in Temperaturen hoch
über dem Gerinnungspunkt des Eiweißes kennen wir aber nicht.
Die Stoffe und Körper, die die Trüger des Lebens sind, konnten dagegen
auf einem Planeten, dessen Temperatur nicht beträchtlich höher war, als die der
Erde ist, immer da sein. Nichts zwingt uns zu der Annahme, daß es jemals
anders gewesen sei. Nur eine Eigenschaft der Erde hat sich im Laufe der
Zeiten ändern müssen, ihre Größe muß durch die beständig hereinstürzenden
Meteoriten gewachsen sein. Für das Leben bedeutete das nur neue Stoff¬
zusuhr.
Um aber nun die Fortpflanzung des Lebens von einem Zeitalter der
Erde ins andre, den Niedergang und die Neucntstehung von Schöpfungen
zu versteh» und um zu begreifen, wie die Lebewelt eines erdgeschichtlichen
Heute auf ein Ziel hinstreben kann, das ihr nicht von außen gesetzt zu sein
braucht, denken wir nur an die wunderbare Fähigkeit der Erinnerung, die ich
von vornherein allem zusprechen möchte, was wir auf der Erde Stoff nennen-
Vererbung und Gedächtnis beruhen auf ganz ähnlichen mechanischen Vor¬
gängen, die eben Erinnerung sind. In beiden wird eine Unsumme von Ein-
drücken in den engsten Raum zusammengepreßt, die dann wieder in derselben
Reihenfolge frei gemacht werden, sich entfalten. In einer unsichtbaren Eizelle
ein Mensch, eine Eiche, die sich bis auf Einzelheiten ähnlich der Mutter und
dem Vater entfalten werden! Wohl ist die Vererbung ein viel sichrerer, fast
unfehlbar arbeitender Mechanismus; das Gedächtnis laßt leicht Lücken und
Verdunklungen eintreten. Aber auch die Vererbung kürzt die Vorgänge ab,
die sie in einem Entwicklungsabschnitt wiederholt, wie das Auftreten längst
überwnndner niederer Merkmale in der Entwicklung höherer Tiere und des
Menschen zeigt. Und dabei handelt es sich um die Eutfnltung von Vorgängen,
die ungezählte Millionen von Jahren hinter uns liegen. Der muschelförmige
Krebs Lingula, dessen Schalen in den ältesten fossil führenden Schichten der
Erde liegen, lebt heute in derselben Gestalt fort. Aber es ist doch viel er¬
staunlicher, daß der Mensch in seiner Entwicklung im El abgekürzt ein Stadium
durchläuft, wo seine Wirbelsäule ein Gallertstrang wie bei den niedersten
Wirbeltieren ist, und ein andres, wo sein Embryo Kiemenspalten wie ein im
Wasser atmender Fisch oder Lurch hat. Reinste unser Blick tiefer in die Ent¬
wicklungsprozesse des Eies, so würden wir in seinen innern Veränderungen
noch viel mehr solche Erinnerungen finden. Ist es nun nach solchen Vor¬
gingen zu gewagt, anzunehmen, daß in dem Lebensstoff, der sich heute zu
Formen gestaltet, Erinnerungen an eine Schöpfung erhalten sind, die früher
einmal da war, und daß diese Erinnerungen eben die Wege und die Ziele
bestimmen, denen die Lebeuseutwicklung mit so wunderbarer Sicherheit folgt
und zustrebt?
Die Zerteilung unsers geistigen Wesens in Glauben und Wissenschaft
löst die natürliche Einheit auf,' die eine Lebensbedingung für unsre Seele ist wie
die körperliche für unsern Leib. Die Wissenschaft begünstigte, weil sie fürchtete,
vom Glauben gestört zu werden, diese Teilung, ohne die Gefahren zu ahnen,
in die sie sich damit begab. Aus einem Grunde, der eigentlich nur von zünf¬
tiger oder Handwerksnatur ist, verzichtete sie auf wesentliche Bestandteile ihrer
Wirksamkeit. Ein großer Naturforscher, der noch lange kein ausgesprochner
Materialist war. Claude Bernard, sagt in der Einleitung zu seiner klassischen
Mäoemo MpSÄlliöntale,: „Der Naturforscher beschäftigt sich nicht mit Un¬
nützen: die ersten Ursachen liegen jenseits seiner Grenzen. Er hat es nur
mit der Untersuchung der Erscheinungen zu thun. Indem er sein Laboratorium
betritt, läßt er Philosophie und Religion draußen." Das hört sich als eine
technische Vorschrift und als ein Rat an die ganz jungen Schüler sehr gut
an. Nehmen wir aber nun denselben Forscher, der am Abend eines arbeits¬
vollen Tages die Ergebnisse seiner Arbeit überdenkt. Wird er da auch noch
seine etwas hochmütig klingende Vorschrift anwenden? Ich glaube nicht; oder
vielmehr ich weiß, er wird es nicht thun, denn er kann es nicht. Und wenn
nicht am Abend eines Tages, so doch um Abend eines Lebens, das der
Forschung gewidmet war, würden die Schwestern Philosophie und Religion
zu ihm treten, und diesesmal wird er sie nicht vor der Thür stehn lassen!
Ich vermute, daß er zuerst mit der Philosophie sprechen wird, und. da deren
Antworten ihm nicht genügen werden, wird er sich auch mit der Religion
unterhalten. Das ist so und wird immer so bleiben. Die Rückkehr zur
Philosophie hat schon in jeder Einzelwissenschaft ihre Vertreter, in der Physio¬
logie und in der Chemie, in der Zoologie und in der Geographie, sie hat
sogar schon ihre besondern Zeitschriften. Die Rückkehr zur Religion hat einst¬
weilen nur ihre weitverbreiteten Zweifel an den materialistischen Dogmen,
und in viel größerer Zahl als Außenstehende denken, ihre privaten Umkehren
und ihre Fragen und Bekenntnisse unter vier Augen. Kein Leben ist praktisch
durchzuführen mit der Zweiteilung von Glauben und Wissenschaft, vor allem
werdeu nie die beiden Hälften, die man auseinanderhalten will, getrennt die
Fahrt auf das Meer der Ewigkeit antreten. Aber auch im wissenschaftlichen
Denken leistet die doppelte Buchführung nichts; sie kann Geister, die zu
unvorsichtigen Abschweifungen neigen, zeitweilig in Schranken halten; aber
der Mensch will und muß doch endlich seine Weltanschauung haben, die selbst¬
verständlich nur Eine sein kann. Der Materialismus hat das ja frühe ein¬
gesehen und wollte den Glauben loswerden, um zur Einheit zu kommen, er
hat aber, wie vorauszusehen war, das nicht fertig gebracht und erwies sich
außerdem als wissenschaftlich so schlecht begründet, daß er nun auf allen
Seiten abgelehnt ist. Es ist ganz ebenso mit dem Positivismus und dem
Monismus, die uns weder als Grundlage unsrer Lebensanschauung noch als
wissenschaftliche Ausbrüten genügen. Meinen denn die Vertreter dieser Lehren,
wir forderten eine Weltanschauung nur zur ästhetischen Ausfüllung einer Lücke
unsers Daseins? Es scheint, daß sie keine Ahnung von der dringenden Not¬
wendigkeit einer Überzeugung haben. Pascal hat die Überzeugung die Be¬
herrscherin der Welt genannt, und in der That, solange es eine Geschichte
giebt, haben immer die Recht behalten, die eine festbegründete Überzeugung
vertraten. Die Überzeugung, das ist die lebendig und praktisch wirksam ge-
wordne Weltanschauung. Daher eben das Streben nach einer alle Forde¬
rungen erfüllenden Weltanschauung. Auf wissenschaftliche Meinungen allein läßt
sich keine Überzeugung gründen. Auch der Glaube allein ist nicht Überzeugung,
dazu fehlt ihm zu oft die Leuchte der Vernunft; er bleibt dann ein passives
Fürwahrhalten mit einer Neigung zum Fanatismus. Die Überzeugung ist
dagegen ein vernünftiges Fürwahrhalten, freiwillig, klar und frei; so wie
sie den ganzen Menschen erfüllt, erfaßt sie ihn auch ganz und setzt ihn mit
all seinem Wollen und Können ein.
Das Wort Entwicklung ist zu einem der inhaltreichsten unsrer Sprache
Herangewachsen. Es ist mehr als das Werden der griechischen Naturphilo¬
sophen, als die Emanation der Neuplatoniker, als die Entfaltung der deutschen
Jdealphilosophen. Die Naturforschung hat in den schattenhaften Begriff einen
Strom? von Erkenntnissen thatsächlicher Zustände und Verändrungen hinein¬
geleitet, die uns in der Entwicklung das Hervorwachsen eines Dinges aus dem
andern, zusammengesetzter aus einfache», höher organisierter aus niedrigern
zeigen. Der Mensch ist nicht ausgeschlossen, auch er steht am Ende einer
langen Reihe von Wesen, die ihm vorangingen. Alles Leben ist eines durch
die Entwicklung und fließt in der Entwicklung. Und da alles, was aufeinander¬
folgt, Zeit braucht, hat die Wissenschaft durch immer hoher gesteigerte Zeit¬
forderungen die Dauer vergrößert, die die Entwicklung der Schöpfung in
Anspruch nimmt; wo noch Buffon zagend über die paar Jahrtausende der
mosaischen Zeitrechnung zu 68000 Jahren fortschritt, bewilligt allein die
Erdgeschichte freigebig Hunderte von Millionen von Jahren. Das alles hat
die Entwicklung so gekräftigt, daß sie ihre Herrschaft weit über den Bereich
der Erdgeschichte hinaus ausgebreitet hat; der Mensch, das Volk, die Mensch¬
heit, die Welt: alles steht unter dem Gesetz der Entwicklung. Und so werden
denn alle Fragen, die sich auf das Wesen der Entwicklung richten, zu Lebens¬
fragen im weiteste,, und tiefsten Sinne des Wortes. Je nachdem wir an zu¬
fällige oder planvolle Entwicklung glauben, wendet sich unser Weg von Gott
ab oder zu Gott hin. Das Wort Entwicklung hat nämlich zwei grundver-
schiedne Inhalte. Die Entwicklung im philosophischen Sinne war immer die
Entfaltung eines Keimes oder Gedankens, der auf eine Schöpfermacht hinwies;
die Entwicklung der Naturforscher meint dagegen in den meisten Fällen gar
nichts als die beobachteten Reihen auseinander hervorgehender Zustände, Ge¬
schöpfe usw., für deren „Entwicklung" aus einander sie mit mechanischen Mitteln,
wie z. B. mit dein Kampf ums Dasei,, auszukommen glauben. Natürlich
sind aber die beiden Auffassungen sehr „„gleichwertig; dein, während die der
Philosophen >,„s eine„ Grund'der Entwicklung umgiebt, der z. B. bei Hegel
das Bewußtwerden des Geistes von sich selbst ist, haben die Naturforscher
"us im besten Falle nur eine Reihe von nebensächliche,, Eingriffen zu neunen.
die die Entwickluuq hier oder dorthin richten; über ihren Grund und ihr Ziel
wisse.: sie nichts ' anzugeben. Der Philosoph sagt: Dort haben wir eine
teleologische. hier eine ätiologische Entwicklung. Da kommen wir um wieder
auf die Zielstrebigkeit, die nichts andres meint als die Richtung der Ent¬
wicklung auf ein Ziel, das eine höhere Macht, ein Schöpfer, em Gott^ ihr
setzte. Die meisten Naturforscher sind zwar ganz begeistert von der Ent¬
wicklung überhaupt oder an sich, fragen „ach keinen, Ziel, opfern Worten, aber
Worten, wie der göttlichen Schöpferkraft des beweglichen Weltäthers der Ur-
waterie „„d a„der„ Gedanken, vielmehr Dingen ohne Gedanken. Aber denen,
die tiefer schauen, wird es nicht so wohl bei den „wundervollen Wahrheiten
der Weltentwicklung," wenn sie mit Enttäuschung sehen, wie sich all d,ehe trium¬
phierende Freude nur auf das Triebwerk der Schöpfung und nicht auf ihre
Gedanken richtet, ohne die sie doch gar nicht möglich ist.
Goethe würde die Entwicklungslehre der Schöpfung mit seiner ihm an-
gebornen Freude am Erkennen ebenso freudig begrüßt habe», wie Karl Ernst
v°n Baer. der Darwins und seiner Nachfolger wahres Verdienst me ver¬
kleinert hat. Aber die ^umutuug. auf diesen Grund eine naturwissenschaftlich-
evolntionistische Weltanschauung zu bauen, würde er eben soweit von sich ge¬
wiesen haben. We„„ das. was wir wissenschaftlich als Entwicklung in der
Welt, an der Erde, im Leben nachweisen können. „ur ein ganz kleines Stuck
der wirklichen Welt ist, und wenn dieses wenige auch wieder nur aus Bruch¬
stücken besteht, die wir zu Teilen von Entwicklungsreihen zusammenordnen,
wie soll es der Grund einer Weltanschauung werden können? Durch die
Hinausrückuug der Grenzen der Entwicklung bis an die Grenzen des Erkennens,
wodurch die Schöpfungslehre bei einem „planetarischen Entwicklungsgesetz" an¬
kommt, wird im Wesen nichts geändert. Sie vergleicht die ganze sichtbare
Welt einem Organismus, in den das Streben zur Entwicklung in einer be¬
stimmten Richtung von Anfang an gelegt ist, und so wie sich der Keim eines
Lebewesens nach der in ihn gelegten Anlage entfaltet, so entfaltet der Kosmos
nur das, was von Anfang in ihm angelegt war. Aber wie angelegt? und
von wem? Das Rätsel ist mit dieser Parallele nicht gelöst, es ist nur aus
unbequemer Nähe weggerückt.
Wenn Theologen nur mit Grauen von „evolutionistischer Weltan¬
schauung" reden, überschätzen sie doch wohl die Gefahr. Das Wort Ent¬
wicklung mag viele betäuben in ähnlichem Sinne, wie einst die Worte Kraft
und Stoff, aber es wird und kann nichts Positives daraus hervorwachsen.
Die schönsten Bauten der Schöpfungsgeschichte ans evolutionistischer Grund¬
lage sind doch nur Kulissen und Maschinerie, ohne den Geist, der sie in Be¬
wegung setzt, nichts als ein Ausdruck für das Wie eines Vorgehns, von
dessen Woher und Warum er uns gnr nichts sagt. Deswegen möchte auch
nnr ein im weitesten Sinne technischer Wert den Erörterungen über den Gang
der Entwicklung, Vererbung usw. zuzuerkennen sein, kein philosophischer.
Die naturwissenschaftliche Entwicklungslehre für sich hat also auch gar
uicht das Zeug, eine Weltanschauung zu werden, und darum kann man auch
uicht sagen, sie stehe in einem prinzipiellen Gegensatz zu einer andern Welt¬
anschauung, die zu Gott strebt. Die Theologen haben sich viel zu tief mit
der Entwicklungslehre eingelassen und offenbar doch hauptsächlich nur, weil
sie ihre eigne Position für schwächer hielten, als sie ist. Sie können ruhig
in diesen Strom hineinschauen und ihn zu ihren Füßen ganz nah vorüber¬
rauschen sehen, er wird die Glaubensgrundlagcn niemals unterspülen und weg¬
reißen, denn er hat gnr kein Organ, sie zu erreichen. Die Entwicklungslehre
vermag uns ja doch nur Zusammenhänge in den Dingen dieser Welt zu
zeigen, die unsre Welt ist; und was sind das anders als Zusammenhänge
von kleinen Teilen, deren Ganzes uns anch dort unbekannt bleibt, wo es
unsern Sinnen erreichbar ist? Wir werden sicherlich nie die Anfänge auch
nur unsers kleinen Planeten und nie die Anfänge des Lebens erkennen. Er¬
ahnen ist das äußerste, was uns dn beschieden ist. Der Glaube hat es aber
mit der Schöpfermacht zu thun, ohne die unsre ganze Welt nicht wäre. Der
äußerste Punkt, bis zu dem uns die Entwicklungstheorie im allergünstigsten
Falle führen kann, ist noch unendlich weit von ihm entfernt. Warum sind
also die Gläubigen so bekümmert, wenn diese Lehre einen Fortschritt zu
machen scheint? Auch die Ausfüllung der Lücke zwischen dem Menschen und
den Säugetieren, in deren Reihe übrigens schon der kindlich gläubige Linus dem
Menschen arglos seinen Platz anwies, hätte für unser Gefühl durchaus nichts
Bedrückendes. Wir wissen ja nicht, ob es je gelingen wird, halten es aber
für wahrscheinlich, und wenn es gelingt, für äußerst belanglos hinsichtlich
unsrer Vorstellungen von Gott und Schöpfung. Denn das Wunder der Ent¬
stehung des Bergkristalls in seiner herrlich klaren und regelmäßigen Gestalt
oder der lieblichen Blumen ist uns nicht kleiner als das des Menschen. Seine
Seele ist reich, aber Beseelung ist nicht sein Vorrecht.
Um mit dem Übernatürlichen Ernst zu machen, binden wir uns zwar nicht
an das, was wir Naturgesetze nennen; das sind Gesetze für uns, aber nicht
Gesetze für Gott. Wir wollen aber ihre UnVerbindlichkeit für Gott auch nicht
in lächerlichen Wundern, Geistcrschriften oder Tischbewegungen suchen, sondern
sie als eine Notwendigkeit des Weltganzen verstehn. Gerade die Einsicht in
die Schranken unsers Erkennens soll uns davor bewahren, sie gegen das
Walten einer höhern Macht aufzurichten. Deshalb lachen wir über das
kindlich-kindische Vermessen, mit einer Berichtigung der Schöpfungstheorie
Gott nahe zu treten, oder mit der Entdeckung eines alten Knochens seinen
Thron zu erschüttern. Darin ist die Horde der Aufklärer ebenso seicht wie
die Herde der Glaubensretter. Beider Konzeption von Gott ist viel zu klein.
Auch die immer wiederkehrenden Vergleiche des Schöpfergeistes mit der In¬
telligenz des Menschen haben entschieden etwas Herabsetzendes, da doch diese
Menschenintelligenz nur natürliches Geschehen wiederholt, das mit mächtiger
Ursprünglichkeit von dem Schöpfergeist ausströmte. Aber offenbar schmeichelt
es auch dem theistischer Naturforscher, daß er den „Laien" diese oder jene
Feinheit eines Natnrmechanismus mit dem überlegnen Lächeln des privilegierten
Sachkenners ausschließt, als wolle er sagen: So etwas kann nur Gott machen,
und ich. der mit göttlichem Geiste begabte, kann es verstehn, wenn auch nicht
»achmachen; vielleicht kommen wir aber auch noch dahin. Über diese Art
von Gottesbeweis sollte man eigentlich seit Kant hinausgekommen sein. Daß
es eine Vernunft über alle Vernunft geben muß, für die die größten Rätsel
"nsrer Welt und unsers Daseins selbstverständlich von müheloser Durchsichtig¬
keit sind, sollte gerade dem Naturcrkenner nicht verborgen sein, der eigentlich
jeden Tag erfahren muß. wie weit unsre Vernunft von der höchsten Vernunft
absteht, und zu dessen Voraussetzungen eigentlich gehören sollte, daß ihm
immer nur Seiten und Bruchstücke des ganzen Weltzusammenhanges zugäng¬
lich sein werden. Es ist offenbar nur die Kurzsichtigkeit des Kleinarbeiters.
die ihn darüber täuscht; sein Auge erträgt das große Licht nicht, nachdem es
sich so eng den kleinen Dingen angepaßt hat. Darum haben aber doch
die Wissenschaften, indem sie alle auf die Vertiefung und Erweiterung der Er¬
kenntnis und der Kenntnisse hinarbeiteten, die Idee von Gott immer höher
und reiner ausgestaltet. Daß sie das zum Teil in einem Kampfe gegen Gottes-
wrstcllungen vou vorübergehendem Werte gethan haben, wobei sie überhaupt
zeitweilig'aufhörten Gott zu suchen oder auch mir anzuerkennen, ist mir immer
^s ein 'strahlender Beweis des Göttlichen in der Menschennatur erschienen.
Echte Wissenschaft ist einer der höchsten Töne im Lobgesang Gottes; aber
allerdings ist nicht gerade Wissenschaft dazu nötig, diesen Hymnus zu verstehn.
In den Diskussionen der Gelehrten über die Entwicklung der Schöpfung
sah man eine Gruppe die biblische Schöpfungsgeschichte direkt angreifen und
eine andre die Bibel ignorieren. Diese letzten waren die Klügern. Lhell nett
Darwin gehörten zu ihnen. Wir wollen uns zu keiner von beiden schlagen,
denn die Bibel ist uns etwas mehr als ein Buch, ja viel mehr. Klar ist die
Unmöglichkeit, uns an den Wortlaut der Schöpfungsgeschichte im ersten Buch
Mosis zu binden./Schon die elementarste Frage, die Zeitfrage, macht es un¬
möglich, die Schöpfungstage wörtlich aufzufassen, und wenn wir einmal die
Bildlichkeit im Chronologischen zugeben, so wird sie folgerichtig für die ganze
Erzählung zur Notwendigkeit. Da ist es ganz vergeblich, einzelnes retten zu
wollen. Die historische Kritik kommt uns ohnehin entgegen, die die allmähliche
Entstehung aller Bücher des Alten Testaments auch wieder als eine Art
Entwicklung zeigt, die geschichtlich begründet ist. Was wir ans diesem ganzen
Schöpfungsmythus retten wollen, müssen und können, das ist der Schöpscr-
geist über den Wassern, der mit bewußtem Willen auch diese Welt hervorruft,
und der lebendige Odem, der dem Erdenkloß Leben und Seele giebt. Im
übrigen stehn wir der Bibel als der größten „Urkunde des Menschengeschlechts"
mit derselben Verehrung gegenüber wie allem, worin Gottes Geist weht —
auch wie der Natur selbst. Und niemand wird heute der kritischen Wissenschaft
in die Arme fallen wollen, wenn sie diese Urkunde zergliedert und ihr geschicht¬
liches Gcwordensein nachweist.
Aber das Werk der Geschichte besteht nicht aus Kritik allein; ein viel
größerer und wichtigerer Teil von ihr sind die positiven Lehren der Ver¬
gangenheit. Den Geschichtschreibern liegt die Pflicht ob, uns diese Lehren wahr
und klar zu übermitteln; es werden damit die Schmerzen und die Verluste in
etwas gut gemacht, die das kritische Wasser verursacht. Die Bibel lehrt mich
nun als geschichtliche Thatsache vor allem die ungeheure Bedeutung einer
einheitlichen Weltanschauung und die Unmöglichkeit, ohne solche zu bestehn.
Einen solchen Halt verschmähen wir nicht, was auch kritische Augen an
ihm aussetze» mögen, so lange kein andrer geboten ist. Wer leicht darüber
weggeht, ist nicht unser Mann. Die Geschichte selbst lehrt uns, daß nicht so
leicht eine Überzeugung an die Stelle der andern gesetzt werden kann. Was
uns künftighin leiten soll, muß vor allem um das anknüpfen, was unsre Väter
geleitet hat. Wir wollen damit nicht einer doppelten Buchführung in Glanben
und Wissen das Wort reden, die wir vielmehr für eins der größten Übel des
jetzt hinabsinkenden Zeitalters halten, sondern vielmehr die Notwendigkeit einer
ebenso einheitlichen Auffassung der Welt und unsrer selbst feststellen, wie die
Bibel sie der Welt vermittelt hatte. Deren Kern aber kann nur derselbe
Glaube an einen persönliche» Gott sein, der diesem Buch eine solche Kraft ge¬
geben hat.
Daß der englische Geologe Charles Lyell und der Zoologe und Geologe
Charles Darwin, den man wohl Lyells Schüler nennen kann, die eigent¬
lichen Meister des großen Baues der Entwicklungslehre der Erde und ihres
Lebens gewesen sind, wird heute allgemein zugegeben. Männer wie Hutton,
Lamarck und Von Hoff sind ihre großen Vorläufer, aber jene beiden haben
nach deren Vorgang und mit deren Mitteln den Bau wirklich aufgerichtet.
-Leide gehören einem Zeitalter reger wissenschaftlicher Arbeit in England und
eines anregenden, geistigen Austausches an, wie es dort nicht wiedergekehrt
l>r, und beide haben auch eine übereinstimmende religiöse Entwicklung durch¬
gemacht, deren Ausgang positives Christentum und deren Ziel etwas ganz
andres ist, als der Radikalismus der Mehrzahl ihrer deutschen Nachfolger und
der französischen Biologen und Geologen derselben Jahrzehnte war. Wenn ich
diese Entwicklung, die meines Wissens noch nie im Zusammenhang dargestellt
worden ist, mit ein paar Worten berühre, so geschieht es hauptsächlich
nus dem Wunsche, zu zeigen, wie tiefe Einsicht in die Dinge der Natur an
steh nicht von Gott wegführte, sondern vielmehr eine größere, freiere Auf¬
lassung aller höhern Mächte anbahnte, und zwar gerade bei Männern, denen
allgemein, und auch heute noch, der höchste Raug unter den naturwissen¬
schaftlichen Denkern eingeräumt wird. Der große Vorgänger Lhells, der
Schotte Hutton, der für alle Betrachtungen über die Entwicklung der Schöpfung
zuerst den einzig richtigen Weg wies: die Vorgänge unter unsern Augen
l^h in undenkbar langen Zeiträumen zu den großen Wirkungen summieren
on lassen, die wir anstaunen, war weit über die wörtliche Auslegung der
'uosaischen Schöpfungsurkunde hinaus, die das Werk undenkbar langer Zeit-
^anime in 6000 Jahre einzwängen will, vermied aber jeden unmittelbaren
^Mweis auf die Unmöglichkeit, mit so wenig Zeit auszukommen. Daß er
ng daran that, bewiesen die Angriffe, die ein Menschenalter später der fromme
evlog Buckland erfuhr, als er erklärte, die Erde könne nicht unter einer
"Won Jahre alt sein. Lyell trat aber der Vermischung des biblischen Be-
5) ' ? Wissenschaftlicher Geologie offen entgegen, verlangte noch viel größere
^träume, leugnete die einmalige und allgemeine Sündflut und deutete schon
aus das fortdauernde Vergehn und Entstehn organischer Wesen, die keines-
'^S einmal oder in mehreren Katastrophen geschaffen und wieder vernichtet
"rden seien. Diese Lehren, von ihm rein sachlich vorgetragen, wobei er
WU seinem Gefühl jeden Angriff auf die religiösen Überzeugungen vermied,
lelinehr eilf kirchlicher und für Religionsfragen tief interessierter Manu lebte,
Yachten ihm die akademische Wirksamkeit in Oxford unmöglich. Er war über-
^'ge, daß seine Auffassung der Thätigkeit eines schaffenden Gottes höher sei,
^ die der Theologen und der Katastrophengeologen, hat sich aber in seinen
er s " ^ ^ seinen Briefen nie anders als rein sachlich darüber geäußert. Wo
"ich, besonders in den Briefen, über den unvermeidlichen Konflikt der Geologen
dem Buche Genesis ausspricht, da sucht er nur immer die Grenzen hinaus-
zurücken, in denen der Glaube dem Wissen freie Bahn lassen sollte: ein echter
faktischer Reformer, dem dann auch ganz andre Erfolge erblühten als den
^deistischen Bilderstürmern auf dem Kontinent. Er und seine Schüler haben
w Geologie in England und in den Kolonien populär gemacht, daß sie wi
"no eine andre Wissenschaft mit staatlichen Mitteln reich ausgestattet würdwie
e
>,»i. x, "---- ..... ........^"......^1-,
^"0 sogar Bischöfe Lhell um öffentliche Vorträge darüber baten. Als Lyell
«un mit seinem Buche ^uticMv ok N-in (1863) die Reste vorgeschichtlicher
wuschen dnrch die obersten Schichten der geologischen Ablagerungen verfolgte,
erregte dieser Widerspruch gegen die Lehren von der gleichzeitigen Schöpfung
der gauzen Welt bei weitem nicht mehr so viel Aufsehen wie seine ersten rein
geologischen Werke. Wer die aufeinanderfolgenden Ausgaben seiner Werke
kennt, weiß, wie vorsichtig Lyell sich gegenüber der Lamarck-Darwinschen Lehre
von der allmählichen Entwicklung der Arten verhielt; aus seinen Briefen er¬
fahren wir, daß der Hauptgrund die Erkenntnis war, daß, was von den Pflanzen
und Tieren gesagt wurde, endlich notwendig auch auf den Menschen An¬
wendung finden mußte, für den dann das Wort „Schöpfung" aufhörte, einen
Sinn zu haben. Als er aber einmal den richtige,, Kern der Darwinschen
Theorie erfaßt hatte, schwand auch dieses Bedenken, wiewohl er nie ein Freund
der „Vergötterung der Zuchtwahl" geworden ist, sondern sich sein Urteil über
Einzelheiten der Darwinschen Lehren vorbehielt. In derselben Zeit, in der er
mit Darwin und Huxley darüber korrespondierte, las er philosophische Werte,
um sich über das Verhältnis eines freien Schöpferwillens zu den Gesetzen
der Entwicklung aufzuklären, und in einem seiner letzten Briefe an Darwin
(von 1869) spricht er sich entschieden für eine Lenkung der Richtung der
organischen Entwicklung durch eine höhere Macht ans. Mit Recht konnte
Stanley, der Dekan von Westminster, um seinem Grabe sagen: Religion und
Wissenschaft waren in ihm nicht getrennt, sondern unteilbar und eins. — Da
Darwins Leben und Briefe (1887 von seinem Sohne Francis veröffentlicht)
in Deutschland viel weniger bekannt geworden sind als andre darwinistische
Schriften, die es weit weniger verdienen, möchte ich mit ein paar Worten
auch die Gedanken des großen Naturforschers über Religion und Glauben
berühren. Darwin war, seinen eignen Angaben nach, ganz orthodox auf seiner
Reise um die Welt, auf der er den Grund zu allen seinen großen Entdeckungen
legte; er erreichte damals gerade sein dreißigstes Jahr. Aber das Nachdenken
über die Religionen, deren Unterschiede und Ähnlichkeiten seine vergleichenden
Völkerstudien ihn kennen lehrten, machte ihn zum Zweifler an der göttlichen
Offenbarung des Christentums. Sehr ungern und nur Schritt für Schritt
gab er diesen Glauben auf, hielt aber an seinem Gottesglauben auch dann
noch fest, als er selbst durch die mechanische Erklärung der Entwicklung der
Schöpfung durch die Auswahl des Passendsten im Kampf ums Dasein die
stärkste der bisherigen Stützen des Gottesbeweises aus der Natur, die kunstvolle
Zweckmäßigkeit der Lebewelt, so heftig wie keiner erschüttert hatte. Einst hatte
er, wie so viele andre, für einen vollgiltigen Beweis das tiefere, innere Ge¬
fühl gehalten, es müsse einen Gott geben, der diese schöne Welt geschaffen hat.
Er selbst hat diesen, Gefühl in seiner Reisebeschreibung schöne Worte geliehen,
wo er von der Bewundrung und Ergebung spricht, die den betrachtenden Geist
erfüllen und erheben; aber 1876 bezeichnet er sich als einen Mann, der dieses
Gefühl ganz verloren hat, vergleichbar einem, der farbenblind geworden sei, und
indem er überlegt, daß dieses Gefühl bei weitem nicht in allen Menschen und
Völkern erwache, glaubte er nicht weiter an seine Beweiskraft. Viel stärker
war in ihm noch, als er als reifer Mann am „Ursprung der Arten" schrieb,
die Überzeugung, daß diese Welt mit ihren Bewohnern nicht das Werk eines
blinden Zufalls sein könne; und diese Überzeugung teilte er mit seinem Freunde
Lyell. Wenn er, um sich schauend, eine letzte Ursache des Alls mit einem Geist
ähnlich dem des Menschen annahm, nannte er sich selbst einen Theisten, be¬
kannte aber zugleich, daß auch diese Überzeugung in ihm schwächer geworden
sei, allerdings unter manchen Schwankungen. Er hat sie aber offenbar nicht
verloren, und das ist das Wichtige. Darwins geistige Entwicklung ist bis
zuletzt aufsteigend gewesen. Die Klarheit seines Geistes ist höchstens vorüber¬
gehend getrübt worden, am meisten durch die Weihrauchwolke seiner tief unter
ihm stehende» Verehrer, besonders der deutschen. Sein kritisches Vermögen
ist im ganzen immer mehr gewachsen. Und dabei ist ihm als unverlierbarer
Rest nnvollkommnerer Gottesideen die Idee geblieben, die sich den tiefsten
und u
esus für eine mythische Person zu erklaren, die niemals gelebt
hat, wird heute auch der verwegenste Kritiker, der noch Anspruch
auf Wissenschaftlichkeit macht, kaum wagen. Abgesehen von dem
Zeugnisse des Paulus haben wir die beiden Stellen in den
^ Jüdischen Altertümern des Flcwius Josephus. Die Echtheit der
Zweiten ist niemals bestritten worden. (Uranus führte dem Synedrium den
prüder Jesu, der Christus genannt wird, vor; Jakobus war sein Name. 20, 9.)
^ erste ist zwar vielfach für eine Fälschung gehalten worden — auch Hase
"eigte dieser Ansicht zu —, aber Wilhelm Christ hält in seiner 1898 er-
Wenenen Griechischen Litteraturgeschichte S. 646 nur zwei Sätzchen darin für
^utervoliert, die in der nachstehenden Übersetzung eingeklammerten: „Es war
^er um diese Zeit Jesus, ein weiser Mann, wenn es erlaubt ist, ihn einen
-^ann zu nennen. Denn er war ein Verrichter außerordentlicher Thaten
"ud Lehrer der Menschen, die mit Freuden die Wahrheit aufnehmen, und
^le Juden, much viele hellenischen Stammes zog er an sich. ^Dieser war
"er Christus.j Und als er auf die Anklage der Vornehmsten unsers Volkes
Pilatus zum Kreuz verurteilt worden war, ließen doch die, die ihn vor-
^ geliebt hatten, von ihrer Liebe nicht ab. jDenn am dritten Tage erschien
^ ehren wieder lebend, was nebst vielem andern Wunderbaren die göttlichen
ProplMm von ihm vorausverkttndet hatten.j Bis jetzt ist das nach ihm be-
nannte Geschlecht der Christianer nicht ausgestorben." Dann die berühmte
Nachricht bei Taeitus. Daß dieser nichts näheres von Christus weiß, die
^rigen heidnischen Schriftsteller aber ihn gar nicht erwähnen, ist ganz natürlich.
Kreuzigung eines armen Juden im entlegensten Winkel Syriens war
kein Ereignis. Die jüdische Diaspora wird überall, auch in Rom, von Jesus
^fahren haben, aber falls hier und da die Kunde von ihm gesprächsweise
über eine Synagogengemeinde hiuausgedrungen ist, so haben die Heiden etwas
so gleich giltiges gewiß schon am andern Tage vergessen gehabt. Auch als
Wunderthäter konnte Jesus den Römern und den Griechen nicht besonders
interessant werden, denn dergleichen „Gaukler" gab es viele im Orient. Die
Apostel sodann unterschieden sich äußerlich in nichts von den zahllosen Wander¬
predigern und Bettelphilosophen, die das Reich durchstreiften, und auch ihre
Lehre stimmte mit der der Cyniker und der Stoiker überein — bis auf die
Botschaft vom gekommnen Messias, seinem Kreuzestode und seiner Auferstehung,
die den philosophisch Gebildeten widerstrebte und der Hauptgrund gewesen sein
wird, weshalb sie sich, wenn sie einmal einen Christen zu hören Gelegenheit
hatten, vom Christentum als einer der Beachtung des gebildeten Mannes un¬
werten Schwärmerei abwandten. Den Baum, der im Samenkorn steckte,
konnte man diesem nicht ansehen; daß Gottes Kraft daran war, aus der kleinen
verachteten Sekte ein Gefäß zu machen, das die geistige Frucht der absterbenden
alten Welt für die spätesten Geschlechter aufbewahren sollte, davon haben nicht
einmal die Christen selbst eine Ahnung gehabt; denn die Proselyten ergriffen
die neue Religion nur als Mittel für das Heil der eignen Seele in Erwartung
des nahen Weltunterganges.
So blieb das Geistesleben der Gebildeten im römischen Reiche während
der ersten beiden Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung rein hellenisch, ja
es wurde sogar reiner hellenisch, als es im letzten Jahrhundert vor Christus
gewesen war. Mit erneutem Eifer ergaben sich die Griechen ihrem nationalen
Götterkult, dessen Vernünftigkeit ihnen die Philosophen nachwiesen, während
freilich andrerseits auch die Kritik nicht ruhte. Doch hat sie nur einen Ver¬
treter von hervorragender Bedeutung: Lucian, während die Philosophen, die
dieser Periode das Gepräge gaben: Seneca, Plutarch, Epiktet, Marc Aurel,
positiv gerichtete Geister sind. Die eben genannten sind nun bekannt. Aber
es giebt noch einen wenig bekannten Mann, aus dessen Schriften man die
Gemüts- und Geistesverfassung der edlern Menschen dieser Zeit um so deut¬
licher erkennen kann, weil er, wie allerdings auch Epiktet und Marc Aurel,
ein Charakter war, bei dem sich Wort und That deckten: Dio von Prusa,
genannt Chrysostomus. Hans von Arnim hat ihn weitern Kreisen zugänglich
gemacht durch eine schöne zweibändige Ausgabe seiner Werke (1893) und durch
ein einführendes Buch (Leben und Werke des Dio von Prusa mit einer
Einleitung: Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jugend¬
bildung. 1898. Beide Werke sind bei Weidmann in Berlin erschienen).
Dio, von dem weder das Geburtsjahr uoch das Todesjahr bekannt ist,
wurde in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts in der bithhnischeu Stadt
Prusa als Sprößling einer angesehenen und begüterten Familie geboren und
wuchs in den damaligen Traditionen solcher Familien zum opferwilligen Stadt¬
patrioten und begeisterten PanHellenen heran. Er bildete sich zum Sophisten
aus, weil dieser Beruf bei der Beschränkung der Politik auf die Stadtver¬
waltung der einzige war, der den Zugang zu einer über den Wohnort und
die Provinz hinausreichenden ehrenvollen Thätigkeit erschloß. Nach Sophisten¬
art machte er Kunstreisen und unterhielt sein Publikum mit schönem Wort¬
geklingel und geistreichen, paradoxen Spitzfindigkeiten, z. B. dem Nachweis, daß
Awn nicht zerstört worden sei, und daß Homer überhaupt in allem, was er
, , -x— -—? ^.>.,^v
Scheinwesen seine Kernnatur nicht verdorben. Sein gesunder Geschmack
äußert sich auch schon in diesen Spielereien unter anderm darin, daß ihm
Äschylns besser gefällt als Euripides, und daß ihn die Lauterkeit und Ein¬
falt des sophokleischen Neoptolemos vor allem anzieht. Und die Kunstreisen
waren nur sozusagen eine Ferienerholung. Seine besten Kräfte widmete er
der Verwaltung seiner Vaterstadt und der Fürsorge für das Wohl der Provinz.
Er rühmt, daß er sein Rednertalent nicht mißbraucht, nie damit Schaden an¬
gerichtet habe. „Giebt es einen, dem ich durch Reden Kummer bereitet hätte?
Hab ich den friedlichen Bürger in Händel verwickelt oder gegen ihn gehetzt?
Hab ich einen in Gefahr gebracht, sein Vermögen durch Konfiskation einzu¬
büßen, oder als Sachwalter an einem Klienten Verrat geübt?" Die hervor¬
ragende Stellung, die er in der Stadtverwaltung einnimmt, zieht ihm wieder¬
holt und von verschiednen Seiten Haß zu. Das erstemal vom Proletariat.
In einer Hungersnot beginnt der Pöbel sein Haus zu stürmen; eine Panik,
die unter dem Haufen ausbricht, rettet ihn. Am folgenden Morgen tritt er
w der Volksversammlung auf, die über die Abhilfe beraten soll. Er sagt
unter anderm, weder sei er sich einer Mitschuld an dem Notstände bewußt,
«och halte er sich vor andern zur Hilfe verpflichtet; es gebe reichere Leute,
und darunter solche, die noch nicht gleich ihm Leiturgien geleistet hätten.
Doch erklärt er sich bereit, die Sorge für den Lebensmittelmarkt zu über¬
nehmen, wenn er für dieses Amt gewählt werde.
Auf einer seiner Kunstreisen kam er nach Rom, wo er wahrscheinlich die
Gunst des Kaisers Titus gewann. Jedenfalls verband ihn Freundschaft mit
des Kaisers Schwiegersohn I. Flavius Sabinus. den Domitmn unwahre 82
hinrichten ließ, und um dessen willen Dio aus seiner Vaterstadt und Heunat-
provinz auf unbestimmte Zeit verbannt wurde'); denn, sagt er später in einem
Bericht über seine Verbannung. wie man bei den Skythen mit den Königen
ihre Mundschenken. Köche und Kebsweiber begräbt, so ist es Sitte unsrer
Tyrannen, denen, die sie hinrichten, andre ohne Grund hinzuzufügen. Er
Hütte sich um. da er weder aus dem ganzen Reich ausgewiesen noch an einem
bestimmten Orte interniert war. in einer andern Stadt niederla sen tonnen.
Das that er nicht, weil er seinen Prusanischen Grundbesitz nicht verkaufen
sondern seinen Kindern erhalten wollte, und weil er hoffte, daß ihm eme
politische Wendung die Rückkehr in die geliebte Vaterstadt ermöglichen werde.
Außerdem gedachte er, damit zugleich dem Gemeinwesen nützend, seinem Rache¬
gefühl gegen Domitian Luft zu machen und die Tyrmmei zu be änipfen Das
konnte er am besten, wenn er. unerkannt von Ort zu Ort schweifend bald hier
bald da in einer Rede gegen die Tyrannen donnerte und gleich darauf ver-
schwand. Polizeimaßregeln, die heute eine derartige Thätigkeit erschweren,
kannte man ja nicht im römischen Reiche. So irrte er vierzehn Jahre umher,
indem er seinen Lebensunterhalt bald erbettelte, bald mit unqualifizierter Tage¬
löhnerarbeit, als Gärtnergehilfe, als Badeknecht verdiente. Und dabei wurde
er Philosoph. Die damalige Sophistik schloß nämlich keineswegs das philo¬
sophische Studium ein, sondern war nur Rhetorik und beschränkte sich auf die
formelle Ausbildung der Redekunst. Dio hatte bis dahin die alten Philosophen
nicht studiert und haßte sogar die Philosophie, wie sie sich ihm in der Person
ihrer lebenden Vertreter darstellte. Dieser Haß war ihm schon von seinen
Lehrern eingepflanzt worden, denn Rhetoren und Philosophen waren feindliche
Konkurrenten, er wurde verstärkt durch sein mehr der sinnlichen Anschauung
als der Abstraktion zuneigendes Naturell und durch die Wahrnehmungen, die
er in Rom machte. „Die Hofphilosophen der römischen Großen, deren Rede
so hochtönend trotzig und deren Benehmen so zahm und bettelhaft war, er¬
innerten ihn an die hündisch wedelnden Löwen der Circe. Es kommt hinzu,
daß er den höfischen Kreisen nahe stand, die gerade damals auf die Gefähr¬
lichkeit der stoischen und der cynischen Sekte aufmerksam geworden waren."
(Domitian hat alle Philosophen aus Rom und Italien vertrieben.) Den
Athenern erzählt er später in einer Rede, er habe beim Beginn seiner Wander¬
schaft zunächst überlegt, ob das Leben des Heimatlosen unbedingt elend, oder
ob nicht vielmehr die Schützung der menschlichen Schicksale rein subjektiv sei.
Die Erfahrung lehre ja, daß Verbannung, Armut, Alter, Krankheit dein einen
unerträglich schwer, dem andern leicht zu tragen erscheine; das Daimonion
(der Genius) eines jeden mache ihm eben die Dinge schwer oder leicht nach
seiner Kraft und Einsicht. (Mit dem Dümonium ist ohne Zweifel nichts
andres gemeint als eben der Grad von Kraft und Einsicht des einzelnen
Menschen, sein Naturell.) Auch würde Apollo nicht in einigen Füllen das
Herumirren angeraten haben, wenn es unbedingt ein Übel wäre. Er habe
nun auch das delphische Orakel befragt und die Antwort erhalten, er solle
getrost die begonnene Lebensweise, die schön und zuträglich sei, fortsetzen, bis
er an das Ende der Erde gelangen werde. So sei er nnn umhergewandert;
die Leute hätten ihn bald Vagabunden, bald Bettler, einige auch einen
Philosophen genannt, und solche hätten ihn über das Gute und Böse befragt,
auch manchmal aufgefordert, öffentlich zu sprechen, sodaß er sich genötigt
gesehen habe, über philosophische Fragen nachzudenken. Er habe dabei ge¬
funden, daß die Meuschen im allgemeinen unverständig seien, indem sie sich
von der Sucht nach Geld, Ehre und Genuß zwecklos im Kreise herumtreiben
ließen. Er verweilt dann, „von einem gewissen Sokrates" angeregt, bei einer
Betrachtung über die Unzweckmüßigkeit der gewöhnlichen Jugenderziehung-
Dieser Bericht darüber, wie er Philosoph geworden sei, erinnert an die
platonische Apologie des Sokrates, und Arnim meint, ohne Zweifel habe
Dio von da ab an Orten, wo er sich zu lungern Verweilen niederließ, die
großen Philosophen studiert, um sich auf das Amt, das ihm göttliche Fügung
aufdrängte, gehörig vorzubereiten.
Sein philosophisches Glaubensbekenntnis wurde das stoische, wie schon
der erste Satz zeigt, den ihn die Praxis lehrt, daß alles, was man gewöhnlich
Übel nenne, nur durch subjektive Schätzung zum Übel werde, an sich aber
Adiciphoron sei. Die stoische Lehre verband sich ihm von selbst mit der
zynischen Praxis. „Er erlebte, daß die Verbannung, die ihn anfänglich an
den Rand der Verzweiflung getrieben hatte, ihre Schrecken verlor, sobald er
sich entschloß, von allen herkömmlichen Meinungen über Glück und Ehre ab¬
zusehen, den Mut nicht zu verlieren und sich so gut als möglich in das neue
Leben zu schicken. Er fand, daß er alle die Dinge, die er bisher für unent¬
behrlich gehalten hatte, den Inbegriff alles dessen, was dem Kulturmenschen
der höhern Stände eine süße Gewohnheit ist, ganz wohl entbehren konnte.
Er glaubte sogar, seit er darauf verzichtet hatte, eine Steigerung seiner Lebens¬
lust zu empfinden. Es schien ihm. als ob er in seinem bisherigen welt-
förmigen Dasein nie sich selbst gehört und erst durch seine Ausstoßung oder
vielmehr seinen freiwilligen Austritt aus der Gesellschaft das höchste Gut, die
freie Selbstbestimmung, wiedererlangt habe." Armin fügt hier eine sehr gute
allgemeine Betrachtung ein. Der Angehörige der höhern Stände in einem
Kulturstaat hat mancherlei Fesseln und den Druck vieler Widersprüche und
Naturwidrigkeiten zu ertragen. „Diese werden jedoch erst dann störend
empfunden, wenn infolge unzureichender Ergänzung aus den untern Schichten
oder aus sonstigen Ursachen die lebendige Fortentwicklung der Gesellschaft auf¬
hört und eine Erstarrung ihres innern Wesens eintritt. Nun wird die gesell¬
schaftliche Bindung von vielen als drückende Fessel empfunden. Das Jrrationelle
in den gesellschaftlichen Zuständen wird dein zur Qual und Pein, der ver¬
zweifelt, zu ihrer Besserung beitragen zu können. In solchen Zeiten tritt die
Erscheinung auf, der wir bei Dio begegnen, daß Deklassierung als Befreiung
begrüßt wird, weil in den untern Volksschichten die geschichtliche Eigentümlich¬
keit einer solchen Zeit nicht mit derselben Schärfe ausgeprägt ist wie in den
obern. Die geschichtliche Bindung des individuellen Denkens und Wollens ist
hier in weit schwächerm Grade vorhanden. In Zeiten lebendig fortschreitender
Bildung ist genau das Gegenteil der Fall. Da befreit die Bildung vou dem
Druck des Herkommens in Glauben und Sitte. Die höhern Stände haben
die Führung des Volkes: ihre geistigen Errungenschaften kommen der Gesamtheit
z" gute. Wenn aber das Salz dumm geworden ist, womit soll man salzen?"
Auf die cynische Weisheit, die Dio dem Diogenes in den Mund legt,
brauchen wir nicht näher einzugehn. Es ist die uralte und jederzeit neue
Predigt von der Verschrobenheit der Zivilisation, von den Plagen und Ver¬
suchungen des Reichtums und der Herrschaft und von dem Glück der Armut,
°le wir aus den Schriften unzähliger heidnischer Philosophen, christlicher
Asketen und religiös indifferenter Moralisten und Satiriker keimen, und die
heute mit besonderm Eifer von den „Naturgemäßen" verkündigt wird. Nur
daß Dio der trivialen Predigt eine originelle und überaus anziehende
Fassung zu geben versteht. Daß der Nutzen der natürlichen Lebensweise und
der Abhärtung, des Frierens, des Hungerns und der körperlichen Anstrengung
seine Grenzen hat, mußte er später am eignen Leibe erfahren; er ist infolge
der erduldeten Strapazen den Rest seines Lebens hindurch kränklich geblieben.
Als Probe seiner damaligen Predigt wollen wir wenigstens eine der Diogenes¬
reden skizzieren. Der Weise trifft einen Bekannten, der das delphische Orakel
hat befragen wollen, aber umgekehrt ist, weil ihm unterwegs sein Sklave ent¬
laufen ist, den er in Korinth zu erwischen hofft. Diogenes findet es zunächst
lächerlich, daß er, der nicht einmal einen Sklaven zu gebrauchen verstehe, sich
erkühnen wolle, den Gott zu gebrauchen (/^o-S«^ was sowohl gebrauchen
als auch das Orakel befragen heißt). Dann nennt er es thöricht, daß er
einem Menschen nachlaufe, den er, und der ihn für schlecht halte, denn wenn
ihn der Bursche nicht für schlecht gehalten hätte, würde er ihm nicht entlaufen
sein. Beides giebt der andre zu, obwohl, meint er, der Bursche keinen Grund
gehabt habe, seinen Herrn für schlecht zu halten, da er nichts zu thun hatte,
als ihn zu begleiten, und sonst den ganzen Tag müßig ging. Darauf erwidert
Diogenes, gerade dadurch habe der Mann den Sklaven ganz ernstlich geschädigt,
da ja der Müßiggang namentlich den Ungebildeten verderbe, der Sklave habe
ihn also mit Recht verlassen. Und dabei bleibe die Thorheit des Herrn bestehn,
einem Menschen, den er für schlecht halte, nachzulaufen; das sei gerade so,
als laufe man einem bösen Hunde nach, um von ihm gebissen zu werden.
Ich kann ihn ja verkaufen, wenn ich ihn gefunden habe, entgegnet der Besitzer.
So, sagt Diogenes, du willst also einen andern mit dem nichtsnutzigen Menschen
anschmieren? Dann setzt er dem Manne auseinander, daß Sklavenhalter
überhaupt vom Übel sei. Für den Reichen, der ihrer viele habe, seien sie
eine schreckliche Plage. Bald müsse er nach dem Arzte schicken, weil einer
erkrankt sei, bald einen Ungehorsamen züchtigen, bald einen entflohenen suchen,
und verreise er, so lasse ihm der Gedanke keine Ruhe, was wohl die Burschen
daheim anstellen werden. Und was das lächerlichste sei, während der rasch
fertig sei, der sich selbst bediene, gehe alles schrecklich langsam, wenn die Sache
von einer Menge Sklaven besorgt werde; ein solcher Reicher gleiche den Kriech¬
tieren, die mit hundert Füßen nicht von der Stelle kommen. Die Natur habe
alle Dinge nach dem richtigen Maße eingerichtet; ein sechster Finger, ein drittes
Bein würde nicht allein überflüssig sondern auch hinderlich sein. So sind die
Hände und die Beine des Sklaven, die du gebrauchst, nicht allein überflüssig
sondern auch hinderlich, denn du hast statt eines Magens zwei zu sättigen
und kommst um den ruhigen Schlaf, da du fürchtest, der wache Sklave könne,
während du schläfst, irgend welchen Schaden anrichten. Außerdem wird die
Frau träge und nachlässig, wenn ihr eine Sklavin die Arbeit abnimmt, und
die Kinder werden verdorben, wenn sie einen Menschen haben, der sie bedient,
und den sie verachten dürfen. Besonders die Freiheit, deren sich Diogenes er¬
freut, hebt Dio hervor — nur der Bettler sei der wahre König —, und er stellt
ihm das schreckliche Los des Perserkönigs gegenüber, statt dessen sich die Zu¬
hörer natürlich den Kaiser Domitian denken sollen, den unglücklichsten aller
Menschen. Der Tod sei an sich nichts schlimmes, wohl aber die Furcht vorm
Tode, und die erdulde der Despot alle Tage seines Lebens. Der Glückliche
halte den Tod, der Unglückliche das Leben für ein Übel, dem Tyrannen werde
beides zur Pein, weil er, durch das Scheinglück seiner Macht und seines Reich¬
tums geblendet, die Erlösung von seinem elenden Dasein durch den Tod nicht
Wünsche. Dergleichen an allen Orten zu predigen, hält Dio für seinen Beruf
und seine Pflicht. Er läßt den Diogenes nach Korinth ziehn, weil der Hafen
dieser Stadt der Kreuzweg von Hellas sei, wo alles Volk zusammenströme.
Der Weise müsse, gleich einem Arzte, immer an Orte gehn, wo er viele treffe,
die seiner Hilfe bedürfen. Freilich biete er diese gar oft vergebens an, denn
von Zahnschmerzen wolle wohl jeder geheilt werden, von Thorheiten und
Schlechtigkeiten kaum einer von vielen. Bei den isthmischen Spielen läßt er
den Diogenes sagen, er komme nicht als Zuschauer sondern als Kämpfer; er
wolle zeigen, wie man sowohl die Mühseligkeiten besiege als auch die Sinnen¬
lust, diese Circe, die die Menschen in Wölfe und Schweine verwandle.
Dio war mit solchem Leben keine vereinzelte Erscheinung. Sokrates zwar
hatte nur seine Mitbürger belehrt; aber schon Diogenes wanderte zwischen
Athen und Korinth hin und her, jedem seine Weisheit anbietend, ohne Geld¬
entschädigung zu beanspruchen, und seine Nachahmer durchwanderten das ganze
Reich. Seit Jahrhunderten, schreibt Arnim von der Zeit Dions, waren die
Reiseprediger thätig gewesen, den Armen im Geiste die Brosamen zu reichen,
die von den Tischen der Philosophen fielen. Was Dio selbst betrifft, so hatte
er freilich, wie wir gesehen haben, sein Apostelamt nicht aus philosophischer
Überzeugung gewählt, sondern es war ihm durch höhere Fügung aufgedrängt
worden. Er hielt die cynische Lebensweise nicht für die an sich beste und gab
sie wieder auf, sobald der Zwang dazu aufhörte. Er hatte sie gewählt, um
nicht durch Übersiedlung in eine andre Stadt seine Heimat zu verlieren. Aus
dieser Lebensweise war ihm seine Lehrthätigkeit erwachsen. „Diese hatte darin
bestanden, daß er jeden geringsten, der ihm mit empfänglichen Sinn entgegen¬
trat, an seinem eignen Gedankenleben teilnehmen ließ, nicht als Verkünder
einer neuen Lehre und nicht mit dem Anspruch, die Wahrheit, deren der
Mensch bedarf, selbst erst zu erfinden, sondern in bescheidner, aber ganz selb¬
ständiger Aneignung dessen, was die großen Weisen früherer größerer Jahr¬
hunderte gelebt und gelehrt hatten. So war er seines Schicksals Herr ge¬
worden. Was bestimmt schien, ihn zu vernichten, war ihm eine Quelle der Kraft
und der Erhebung gewesen. Die Überzeugung, daß keine Macht der Erde uns das
Glück rauben kann, das Unabhängigkeit und Freiheit verleihen, auch wenn uns
das Schicksal alles nimmt, was es nehmen kann, hatte sich ihm bewahrt."
Gegen das Ende seines Exils geriet er „an die Enden der Erde." Er wollte
die Dacier kennen lernen, die tapfern Männer, die damals den Römern so
dick zu schaffen machten, und zwar wollte er vom Nordufer des Schwarzen
leeres aus in ihr Land eindringen. Bei den Borystheniten überzeugte er sich
von der Unausführbarkeit seines Planes, kehrte zurück und suchte von Süden
aus ans Ziel zu gelangen. Er kam nach Moslem und hielt sich als Bettler
einige Zeit im römischen Heerlager auf; denn wie die Hirten und die Jäger, so
Aebte er die Soldaten als einfältige Leute, an denen man die unverfälschte
Menschennatur studieren könne. Da traf die Kunde ein. daß Domitian er¬
mordet und Ncrva zum Kaiser ausgerufen worden sei. Die Soldaten murrten,
denn Domitian war beliebt bei ihnen gewesen. Da sprang Do auf einen
Altar, gab sich als Dio den Philosophen zu erkennen - „aus den Lumpen
enthüllt sich der listenreiche Odysseus" —, bewies den Soldaten, daß Domitian
ein Frevler gewesen sei, den ein gerechtes Strafgericht ereilt habe, und schil¬
derte den vortrefflichen Charakter Nervas. So stillte er die Meuterei.
Nerva hob unter andern Vcrbannungsurteilen auch das über Dio ver¬
hängte auf, und dieser kehrte, die Einladung an den Hof ausschlagend, im
Herbst 96 nach Prusa zurück. Hier widmete er sich mit solchem Eiser dem Wohle
der Stadt, daß er darüber die Ordnung seiner durch die lange Abwesenheit
zerrütteten Vermögensverhältnisse jahrelang versäumte. Wenn er doch schließlich
seiner Kinder wegen — er hatte einen Sohn und zwei Tochter — ernstlich
daran ging, so liegt darin nach den oben angeführten Worten Arnims so
wenig ein Abfall von der errungnen philosophischen Überzeugung wie darin,
daß er, der Cyniker, nach der Sitte seiner Zeit viel Sorge auf die Verschönerung
seiner Stadt und auf ihre Ausschmückung mit Prachtbauten verwandte. Diese
Thätigkeit zog ihm viel Ärgernis und gegen das Ende seines Lebens Prozesse
zu. Ja er wurde sogar von einem seiner Feinde mit einer Anklage auf Ma-
jestütsbeleidigung bedroht, weil er in einem der Stadt überwiesenen Gebäude
neben einer Bildsäule des Kaisers die Grabstätte seiner Gattin und seines
Sohnes habe anbringen lassen. Diesem Umstände verdanken wir einen herr¬
lichen Brief Trcijcms. (Den sechsundachtzigsten des zehnten Buches der Brief¬
sammlung des Plinius.) Plinius hatte sich durch den Augenschein überzeugt,
daß die Bildsäule des Kaisers in der Bibliothek stand, die Gräber dagegen
in dem von einem Säulengang umgebnen Hofraum lagen, fragte aber trotz¬
dem an, wie mit Dio Verfahren werden solle. Trajan antwortete: „Über den
Fall, wegen dessen du bei mir anfragen zu müssen glaubtest, kannst du, mein
teuerster Secundus, nicht in Zweifel sein, da du meinen Grundsatz kennst, weder
durch Furcht und Schrecken noch durch Majestätsprozesse meinem Namen Achtung
zu verschaffen. Demnach werde ich eine Untersuchung nicht zulassen, möchte sie
auch durch Präzedenzfälle gerechtfertigt erscheine«. Über das von ihm aufgeführte
Gebäude wird Coccejanus Dio unter deiner Aufsicht Rechnung ablegen."
Ebensowenig wie in dieser Thätigkeit wird man darin einen Wider¬
spruch finden, daß Dio, der Eiferer gegen Tyrannei, unter Nerva und Trnjan
ein begeisterter Prophet der Monarchie wurde. Hatten doch alle großen
Philosophen zwischen Tyrannei und Monarchie unterschiede«. Dio unter¬
nahm, nachdem er in seiner Vaterstadt das wichtigste erledigt hatte, aufs neue
Reisen, die nun aber nicht mehr Kunstreisen eines eiteln Sophisten waren,
sondern im Sinne der Wanderschaft seines zweiten Lebensabschnitts verliefen-
Er hielt seine Vortrüge zum Nutzen der Hörer, um zur Besserung der Sitten,
zur Reform des Jugendunterrichts und zu sozialen Reformen zu mahnen, in
den kleinasiatischen Griechenstädten aber, die vielfach miteinander verfeindet
waren, um Frieden zu stiften. In Rom, wohin er noch zweimal kam, ge¬
wann er die Freundschaft Trojans, wie er die seines Advptivvaters Nerva
genossen hatte, und hielt vor ihm vier sehr merkwürdige Vorträge über die
Monarchie l/rs^ ^«o^e/o-g). Im ersten zeichnet er das Bild des guten
Königs, wie es eben Philosophen und Moralisten zu zeichnen pflegen. Als
erste Pflicht des Monarchen nennt er die Gottesverehrung. Die verstehe sich
für jeden guten Menschen von selbst. Wenn sich ein böser einbilde, den
Göttern gefallen zu können, so erweise er sich eben dadurch als einen Frevler,
denn er setze damit voraus, daß die Gottheit entweder vernunftlos oder böse
sei. Der gute König wisse, daß ihm die Herrschaft nicht um seinetwillen
sondern der Menschen wegen verliehen sei; deshalb wolle er nicht einmal von
seinen Sklaven Herr, vielmehr von allen Vater und Freund genannt werden.
In nichts ist er unersättlich als im Wohlthun; alle andern Thätigkeiten er¬
achtet er als uncmswcichbare Pflichterfüllung; das Wohlthun allein beglückt,
weil es freiwillig geübt wird. Vom Bösen ist er so wenig Urheber wie die
Sonne von der Finsternis. Nur deu Feinden des Staates ist er furchtbar;
die Guten nahen ihm nicht mit Schrecken sondern mit Ehrfurcht. Er liebt
Einfalt und Wahrheit, verabscheut Hinterlist und Täuschung, der sich ja auch
unter den Tieren nur die unedelsten bedienen. Kriegerisch ist er in dem Sinne,
daß er jederzeit Krieg führen kann, wenn er will, zugleich aber friedlich, weil er
keinen Geguer hat, der ihm gewachsen wäre; denn gerade die aufs beste zum
Kriege gerüsteten Monarchen haben es in ihrer Macht. Frieden zu halten. Da er
und seine Umgebung einander vertrauen, ist er über alles gut und wahrheits¬
getreu unterrichtet; so viel Freunde, so viel hat er Augen und Ohren. Als
getreues Abbild des Zeus verdient er alle Beinamen des Göttervaters: Pollens
(Stadtbeschützer), Philios (Freuudschaftsbeschützer), Hetaireios (Genossenschafts¬
beschützer), Homognios (Familienbeschützer), Hikesios (Schützer der Flehenden),
Xenios (Schützer der Fremden). Die schlechten Könige sind nicht dem Zeus,
sondern, als untaugliche Wagenlenker, dem Phaethon ähnlich. Als ersten Ver¬
treter des wahren Königtums auf Erden schildert er den Herakles, der nicht, wie
die Sage lüge, Knecht des Eurystheus, sondern Erdbeherrscher und Weltheiland
gewesen sei/die Menschheit nicht von wilden Tieren, sondern von Tyrannen
befreit und überall die Herrschaft des Rechts und der Güte aufgerichtet habe.
Die zweite Rede über das Königtum hat die Form eines Gesprächs
zwischen Alexander dem Großen und seinem Vater, das dem über die wahr¬
haft königliche Gesinnung des Sohnes hocherfreuten Philipp zum Schluß den
Ausruf entlockt: So haben wir uns doch mit unsrer Schätzung des Anstotcles
nicht betrogen! (In einer spätern Rede führt Dio aus. die Philosophen seien
die eigentlichen Herrscher, denn nach ihrem Rat regierten die Könige. Mit
Recht strebe der Philosoph auch nach solcher Herrschaft, denn an nichts habe
ein guter Mensch mehr Frende als am Gutesthun, und dazu habe memand
mehr Gelegenheit als der Mächtige).
In der dritten Rede wird Trajan gepriesen als ein Herrscher, dem alle
Genüsse zur Verfügung stehn, der aber nicht den Genuß liebe, sondern allein
die mühselige Arbeit, und s/^o/ein^r^oc.- sei als alle gezwungen Arbeitenden.
Niemand werde ihn, weil er das sage, der Schmeichelei beschuldigen. In einer
Zeit, wo jedermann zu schweigen genötigt war, habe er allein unter Lebens¬
gefahr die Wahrheit gesagt, und wenn er jetzt lügen wollte, wo jedermann
gefahrlos die Wahrheit sagen könne, müßte er sehr dumm sein. Er giebt dann
unter anderen den Unterschied zwischen dem König und dem Tyrannen dahin
"n, daß jener gesetzlich, dieser ungesetzlich regiere, bezeichnet noch einmal den
Gottesdienst, der den Glauben ein die Götter voraussetze, als die erste Pflicht
des Monarchen und stellt ihm die Sonne, die der Redner mit der Mehrzahl
seiner Zeitgenossen für ein göttliches Wesen hält, als Muster der Pflichter¬
füllung vor Augen, Weil der Kosmos, wenn der Sonnengott auch nur ein
wenig von seiner Bahn abwiche, in ein häßliches Chaos verwandelt werden
würde, halte er diese seine Bahn mit solcher Genauigkeit und Pünktlichkeit
und so unermüdlich inne, daß sein Dasein als die härteste Knechtschaft erscheine.
Für den vierten Vortrag hat Dio als Einkleidung ein Gespräch zwischen Dio¬
genes und Alexander gewühlt. Der Philosoph schmettert den von dem Hoch¬
gefühl seiner Kraft und Macht geschwellten jungen Herrscher nieder, indem er
ihm zeigt, daß er noch gar kein König sei. Das Sinnbild des wahren Königs
sei der Bienenweisel, der sein Volk beglücke, ohne einen Stachel zu haben;
„du aber scheinst sogar in Waffen zu schlafen. Kennst du nicht das Saken-
fest der Perser? Sie nehmen einen zum Tode verurteilten Gefangnen, setzen
ihn auf einen Thron, schmücken ihn mit königlichen Gewändern, lassen ihn
essen, trinken, die königlichen Kebsweiber gebrauchen, lassen ihn thun, was ihm
beliebt, einige Tage lang; dann ziehn sie ihn aus, geißeln und hängen
ihn. Was wollen sie damit versinnbildlichen? Doch wohl, daß oft Unver¬
ständige und Schlechte die Königswürde erlangen, und nachdem sie eine Zeit
lang in Übermut geschwelgt haben, elend umkommen." Wahrer König werde
Alexander nicht eher sein, als bis er sich für seinen guten, den echt königliche«
Dämon entschieden habe. Die Dämonen müsse man aber nicht außerhalb des
Menschen denken, sondern sie seien seine eignen Anlagen, Neigungen und
Leidenschaften. Unter den bösen Dämonen seien die mächtigsten Sinnenlust,
Habsucht und Ehrgeiz (Fleischeslust, Augenlust und Hoffart nennt sie der
erste Johannesbrief), und da man alle Künste aufwenden, alle passenden und
packenden Bilder und Gleichnisse benutzen müsse, um vom Schlechten abzu-
ziehn und zur Tugend hinzuführen, so schildert er ihm diese drei Dämonen
unter den Bildern eines buhlerischen Weibes, eines unseligen und verachteten
Geizhalses und des Ikarus; auch als Ixion, der von seinem Rade abwechselnd
in die Höhe getragen und in die Tiefe geschleudert werde, könne man sich den
Ruhmsüchtigen vorstellen. folgt)
! n seiner Kulturgeschichte der Neuzeit sagt Breysig, es werde sehr
häufig der allgemeinen, deduktiv verfahrenden Forschung vor¬
geworfen, sie stelle eine Einzelheit falsch dar. Er giebt die Be¬
rechtigung des Vorwurfs in vielen Fällen zu, erklärt aber zu¬
gleich, daß meist der Angegriffne auch nicht Unrecht habe, denn
beide Widersacher — so erläutert er seinen Ausgleichssatz — sähen den Streit¬
gegenstand gewöhnlich unter anderm „Gesichtswinkel" oder in verschiedner Seh-
ferne, und das bewirke natürlich voneinander abweichende Auffassungen. Vreysig
hat mit seiner Ausführung selbstverständlich Recht. Ob das auch mit seiner
weitern Ansicht, daß man von all solchen Kämpfen zuletzt nur den Eindruck
ungerechter Kämpfe feindlicher Brüder gewinne, ob sein in ihr unausgesprochen
enthaltner rosiger Gedanke, daß solche Streitereien am letzten Ende nur Neben¬
sächlichkeiten, nur dialektische, sich schließlich in höherer Harmonie auflösende,
Wortklanberische Haarspaltereien seien, ebenso selbstverständlich richtig ist. das
bezweifle ich.
Einer der Grundgedanken Breysigs, ja nur scheint, sein Lieblingsgedanke
ist der Satz, alles Sein, alles Leben, alle Strömungen des Geschehns, des
Schaffens entquollen den zwei in aller Welt, in allem Lebendigen wirkenden
Grundtrieben des Abstoßcns und des Anziehens, des Herrschen- und des
Dienenwollens, des Sichemanzipierens und Sichanschließens. Er drückt das,
offenbar unter dem Einfluß des alten Worts 7r«or« Fe?> am Schlüsse des
ersten, allgemeinen Teils seines Werks in der Formel aus: „Alles stößt
Fremdes ab oder zieht Fremdes an."
Am weitesten ist das im ersten Kapitel des zweiten Buchs ausgeführt.
Bei der grundsätzlichen Ausarbeitung des Satzes, die hauptsächlich im ersten, „Ab-
sonderungs- und Gesellschaftstrieb" überschriebncn Absätze gegeben wird, füllt
besondrs ein Umstand auf. Es ist der, daß der Satz als für alle Verhält¬
nisse gleich, als eine überall, im allerverschiedensten Menschensein gleicherweise
maßgebliche Grundregel aufgefaßt wird. Breysig erkennt eigentlich immer
in seinen sonstigen Ausführungen rückhaltlos an, daß die verschiednen Völker
verschiedne Anlagen zeigen, und daß danach die Erscheinungen ihres öffent¬
lichen Lebens zu würdigen sind. Hier, bei seiner Erörterung über Absonde-
wngs- und Gesellschaftstrieb, hier, wo gerade von äußerster Wichtigkeit ge¬
wesen wäre, zu prüfen, erstens, wie weit bei den einzelnen Völkern von dem
einen oder dein andern Triebe gesprochen werden könne, zweitens, inwiefern
Gleichheit oder Ähnlichkeit in der Bethätigung des einen oder des andern bei
den verschiednen Völkern zu erkennen sei, drittens, ob mich bei äußerlicher
Feststellung solcher Gleichheit oder Ähnlichkeit diese ihrem innern Wesen, ihrer
seelischen Triebfeder nach als wirklich, als ethisch gleich, oder hiernach doch
"is urwüchsig verschieden bei dem einen und dem andern Volke zu erachten und
W Rechnung zu ziehen seien: hier hat er eine solche Untersuchung nach den
abweichenden Anlagen der Völker zu geselliger oder cigenrichtiger Lebens-
führung nicht vorgenommen. Absonderungs- wie Geselluugstrieb setzt er von
vornherein bei allen Völkern als gleiche Größen an; hierbei sieht er alle
Völker als grundsätzlich gleiche Werte an.
Allerdings muß anerkannt werden, daß es sehr schwierig ist, em festes
Urteil in der hier angeregten Frage abzugeben. Sie ist meines Wissens
überhaupt uoch nicht in den Kreis wissenschaftlicher Bearbeitung gezogen
worden. So fehlen alle systematischen Gruudlngcn dafür, zu ihr mit Sicherheet
Stellung zu nehmen. Auch ist ohne weiteres zuzugeben, daß bei den Völkern,
die im großen und ganzen für die Prüfung dieser Frage in Betracht kommen,
bei den Griechen. Römern und Germane», sowohl assoziative wie indM-
dualistische Regungen — wenigstens Regungen solcher Art, wie sie Breysig unter
diesen Bezeichnungen versteht — dein politischen Leben die Form gegeben haben.
Trotzdem erscheint es bedenklich, die Einteilung Breysigs, seine von der Ober¬
flüche der Erscheinungen her genommene Einschnchtelung seelisch unendlich tief
liegender Grundtriebe der Menschen in zwei trockne Schulbcgriffe und ihre gewisser¬
maßen maschinenmäßige Anwendung auf alle Völker schlechtweg hinzunehmen.
Was da zu Bedenken Anlaß giebt, mag in einigen Worten kurz gestreift
werden.
Eigenwillige Triebe nach Breysigscher Einteilung sind bei den Griechen
wie bei den Römern mächtig gewesen. Es erscheint jedoch nicht gut angängig,
die Art und Weise des hellenischen Selbstbewußtseins dem quiritischer Herkunft
gleichzusetzen. Dem Auftreten eines Pausanias und eines Alkibiades läßt sich
höchstens das von Coriolan und von Mnnlius an die Seite setzen. Nun, die
Handlungen der beiden ersten und ihr sich darin ausdrückendes eigenes Wesen
wird niemand dem der beiden andern gleichstellen können. Ebensowenig möchte
es angebracht sein, die Kundgebungen der Gemeinden auf der Pnyx und auf dein
Forum als wesensgleich anzusehen. Sowohl bei den Einzelnen hier und dort
wie bei den Massen hüben und drüben liegen in Empfindung und Äußerung
charakteristische Unterschiede vor. Diese erscheinen seelisch so bedeutsam, daß
sofort Bedenken dagegen erhoben werden können, bedingungslos von einer
auf beiden Seiten wenigstens ihrer allgemeinen Art uach gleichen assoziativem
oder individualistischen Richtung zu sprechen. Der entscheidende, gewisser¬
maßen dämonische Grundzug im Wesen der hervorragenden Griechen ist der
wie eine Naturnotwendigkeit in ihnen wirkende Drang, ihre Persönlichkeit
als solche, sich der Außenwelt gegenüber als um ihrer selbst willen wert¬
volle, als eigenartige Großen, als Herren ihrer selbst und ihrer Geschicke,
als volle und wahre Menschen zur Geltung zu bringen. Nicht, daß sie bestrebt
gewesen wären, alles auf sich und ein in ihnen übermächtiges, tiefinner¬
liches Empfinden zurückzuführen, ihr eignes Seelenleben zum archimedischen
Punkte für ihre Auffassung der Welt zu machen. Davon, von einem
rein im Innenleben wurzelnden und allein von ihm aus an die Außenwelt
herantretenden Individualismus wußten sie nichts. Betrachtet man, unbe¬
einflußt von der heutigen Auffassung des Individualismus und unbeeinflußt
auch insbesondre von der heutigen Auslegung mancher unter ihrer Voraus¬
setzung gelesenen Stellen der griechischen Philosophen, lediglich unter Wür¬
digung der damalige-: Verhältnisse die hellenische Hochhaltung der Persönlichkeit,
so stellt sie sich dar als das weltgeschichtliche Gegenspiel zu dem vor Hellas
Thoren in breiter Masse geltenden und bis zum Auftreten der griechischen
Kultur herrschenden Horden- und Herdenregiment des Orients. Wie sehr
die Hochhaltung der Persönlichkeit, wobei der Begriff der Persönlichkeit ganz
naiv nach dem, was den schlicht urwüchsigen Menschen vor Augen war, rein
äußerlich gefaßt wurde, wie sehr das Eintreten für das so verstcmdne Indivi¬
duelle im Gegensatze zum ewig unveränderlichen, in göttlicher Vollkommenheit
unbewegbar thronenden, individueller Sonderregung feindlichen Universum
das griechische Fühlen und Denken beherrscht, dafür geben die Dramen der
großen drei Tragiker ein erschütterndes Zeugnis. Anders steht es mit den
Römern, die als Persönlichkeiten über die große Menge hervorragen. Bei
ihnen lebt allerdings auch immer die feste und entschlossen in That um¬
gesetzte Absicht, uach ihrem Willen die Masse zu meistern. Dabei entzieh»
sie sich jedoch ideell in keiner Weise den allgemeinen Vorstellungskrcisen der
römischen Gesellschaft; denen schmiegen sie sich vielmehr in ihren Gedanken¬
gängen vollständig an. Sie fühlen und geben sich nicht als von der Masse
und ihrer Weise gesonderte Einzelne, sondern nur als besonders ausgezeichnete
typische Vertreter vou Massenmcnschen, die in ihrer Gesamtheit Rom aus¬
machen. Während der heroische Jndividualhellene zuerst er selbst ist und dann
erst Athener oder Perser oder sonst was, zuvörderst Achilles und dann erst
Achäer, ist der einzeln in den Vordergrund tretende Römer immer und be¬
dingungslos vor allem civis Roimarus und dann erst ein Claudius oder ein
Scipio oder sonst wer. Auch mit den gewaltigen Männern, die Rom in
seiner wildesten Zeit die Richtung gegeben haben, mit den Gracchen, Marius,
Sulla, Cäsar verhält es sich uicht anders.
Die Staatsidee ist in jedem Römer das Treibende, und die Staatsidee
wieder ist ihm die Auffassung des Staats als des Inbegriffs der Volksgesamtheit
und ihrer unbedingten Gewalt, ihrer grundsätzlichen Machtvollkommenheit
über alles, was politisch zu Rom gehört. Gerade der, der dem Machtgefüge
„Rom" die abschließende Fassung gegeben und der das vermocht hat, weil er
durch und dnrch römischer Art war, gerade Augustus ist das beste Beispiel
dafür, daß auch der um höchsten die Masse des Volks überragende Römer
von solcher Massenttberzcngnng seines Volks erfüllt gewesen ist. Von einem
auch nur annähernd ähnlichen Aufgehen in gesellschaftlichen Grundüberzeu¬
gungen, von einer das Volk in seiner Gesamtheit unwandelbar haltenden
und alle seine Glieder unverbrüchlich beherrschenden Gesellschaftsordnung kann
bei den Hellenen nicht gesprochen werden. Genug allerdings wird bei ihnen,
insbesondre den Athenern, vou Volksversammlungen berichtet. Das sind
jedoch nur Zusammenkünfte hellenischer Menschen gewesen, die, wechselnd
wie Wind und Welle, nach persönlichen Angenblickseingebnngen hente so und
Morgen anders schillernd, eines volkstümlichen, urwüchsig und unveränderlich in
ihnen mächtigen politischen Grundtriebs bar waren, und die deshalb uicht
vermocht haben, eine Gesellschaftsbildung von dauerndem Stand und Wesen
M schaffen. Während Rom noch Jahrhunderte kräftig gelebt hat, auch nach¬
dem ihm längst nicht mehr leitende Geister erstanden, allein vermöge der Kultur¬
gewalt der seinem Gemeinwesen eignen Staatsidee, ist Griechenland sofort
und unrettbar politisch zusammengebrochen, als die Zeit seiner großen Staats¬
männer zur Rüste gegangen war. Seine politische Geschichte schließt mit Epa-
minondas. Höchst bezeichnend und in diesem Munde ein Urteil von über¬
zeugenden Gehalt ist dessen letztes Wort; nachdem er erfahren hatte, daß
mit ihm auch die Feldherren Daiphantos und Jolaidas zu Tode getroffen
waren, sagte er, man solle in Theben von allem weitern politischen Vorgehn
abstehn. Es ist der Verdammungsspruch des klarsten griechischen Staats¬
manns über das hellenische Staatswesen.
Gegen diese Ausführung könnte der Einwurf erhoben werden, sie dresche
leeres Stroh, da Breysig ja auch zwischen Individualismus und Individua¬
lismus sowie zwischen Assoziationstrieb und Assoziationstrieb unterscheide. Daß
Breysig das thut, ist richtig. Es fragt sich mir, wie er dabei verfährt, und
was von dem Wie seines Verfahrens zu halten ist.
Absondrungs- und Gesellungstriebe, „diese beiden großen Triebkräfte des
(8on. unterschiedslos all und jedes) sozialen Lebens," unterscheidet Breysig
rein äußerlich, lediglich uach dem Maß und nicht nach dem innern Gehalt.
Breysig läßt sich dadurch, daß er bei dem einen Volke mehr vereinzelnde,
bei dem andern aber mehr sammelnde Neigungen findet, nicht dazu bringen,
zu prüfen, ob bei dem einen vielleicht eine besondre Anlage nach jener,
bei dem andern eine solche nach dieser Richtung vorhanden sei. Er geht nicht
darauf ein, dieser oder jener Anlage weiter nachzuspüren und ihre ethischen
Grundtriebe zu untersuchen. Er sucht nicht festzustellen, ob etwa dieser oder
jener Grundtrieb bei dem einen oder dem andern Volke als volkstümliche
Eigenschaft erscheint, die, mögen sich auch bald hier und bald da sonstige,
wie immer geartete verschiedne Neigungen geltend machen, dem Volkswcsen
die entscheidenden Züge aufprägt. Er beurteilt absondrungssüchtige und ge-
sellungslustige Erscheinungen bei den Völkern nicht unter der Erwägung,
daß das eine nach seiner Grundanlage von ungeselligen Eigenschaften, das
andre dagegen von sammelnden beherrscht werde. Breysig unterscheidet that¬
sächlich bei deu verschiednen Völkern und den verschiednen in ihrem Leben
vorkommenden Absondrungs- und Gesellungshandlungen nicht nach dem innern
Wesen. Er sieht völlig davon ab, sich die Frage vorzulegen, ob nicht etwa
zwischen den gesellungslustigen Regungen des einen Volks oder den Vorkomm¬
nissen, die ihm als solche gelten, und den entsprechenden Vorgüngeu bei einem
andern Volke sowie weiter zwischen eigensüchtigen Erscheinungen hier und dort
zu unterscheiden sei, und das veranlaßt ihn, beide großen Urtriebe als an sich für
alle Welt gleich, als an sich bei allen Völkern gleich, als zwei dem reinen Begriffe
nach für alles Menschentum von vornherein gleiche Grundkräfte aufzustellen.
Sicherlich läßt sich über die Berechtigung des vou Breysig migenommnen
Urteilsmaßstabs sehr viel sagen. Er kann z. B. gleich für sehr dehnbar und
sachlich also geradezu für unzuverlässig erklärt werden. Da nämlich bei einer
natürlich von Fall zu Fall verschiednen Abmessung der gerade vorliegenden
Erscheinungen keine von ihnen nach sachlicher, ein für allemal feststehender
Regel betrachtet werden kann, da vielmehr jede nach des jeweiligen Beur¬
teilers rein persönlicher Auffassung von Absondrung und Gesellung eingeschützt
werden muß, so liegt die Möglichkeit vor, daß der eine schon als Absoudruugs-
trieb bezeichnet, was dem andern noch als Gesellnngstrieb gilt. Darüber soll
hier jedoch nicht weiter gerechtet werden. Breysigs Weise mag sogar in ge¬
wisser Beziehung Vorzüge haben. Sie erhebt keine großen Ansprüche auf
geistig tieferes Eindringen in den Gegenstand. Das veranlaßt vielleicht
manchen, den Stoff überhaupt erst einmal auf diese Weise zu sichten, um sich
ihn damit näher zu bringen. Für das große Publikum hat das ganz gewiß
seine Verdienste, und schaden kann es da auch nicht.
Bedenklicher wird die Lage, wenn Breysig es nicht dabei bewenden läßt,
seine Art der Scheidung nur im Groben zu handhaben, wenn er mit ihr auch
ins Feine zu arbeiten unternimmt.
Er schreitet nach Aufstellung seiner Maßstabslehre zunächst dazu, nach
ihren beiden Gegensätzen die Einungen im Völkerdasein, die ihm als Gebilde
des Sammlungstriebs erscheinen, eingehender zu betrachten und zu scheiden.
Er prüft sie daraufhin, ob bei ihnen wirklich nur Gesellungsströmuugen oder
auch Sonderungsregungen zu spüren sind. Betrachtet man die Dinge von
seinem Standpunkt ans, so kann mau zugeben, daß er das logischerweise thun
kann. Sind ihm nämlich Absondrungstrieb und Gesellnngsdrang allgemein
menschliche, uns kein besondres Volkstum gegründete Eigenschaften, sind sie
ihm in Wahrheit unkörperliche Werte, so ist er wohl befugt, sie als von jeder
Gegenständlichkeit, d. h. hier von der Volkstümlichkeit losgelöste, reine Begriffe
aufzufassen. Danach kann er also (natürlich immer von seinem Standpunkt
aus gesprochen) mit ihnen als Schablonenhaften, geradezu mathematischen
Größen verfahren. Danach kann er Gesellschaftsgebilde in solche von mehr
oder weniger sammelnder und mehr oder weniger fordernder Prägung scheiden
und verzeichnen. Einer oberflächlichen Betrachtung wird das sogar sehr zu¬
treffend erscheinen. Gesellschaftliche Einungen finden sich in unendlicher Menge
und großer äußerlicher Verschiedenheit. Was giebt es da für schichtungs¬
lustige, ihnen gegenüber sonst ratlose Systematiker schöneres, als mit den
herrlichen, so leicht handlichen und auch so natürlich anmutenden Breysigscheu
kategorischen Schablonen auf sie loszngehn! Wie fein, wie mit Lust und
Grazie läßt sich da wissenschaftlich bis ins Unendliche Splittern und lindern.
Da ergiebt sich eine rein assoziativ gehaltne Assoziation. Da muß man
von individualistisch assoziiereuder Assoziation reden. Da kann eine assoziativ
individualisierende Assoziation unmöglich verkannt werden. Da ist selbstver¬
ständlich eine individualistisch durchseuchte Assoziation festzustellen usw. Des
Segens für Schreibtischheckereien und Federfuchsereien ist gar kein Ende. Irgend
welcher Halt in der Erscheinungen Flucht ist da nicht vorhanden. Trotzdem
soll gegen Vreysigs Schichtnngsweise nicht unbedingt Einspruch erhoben werden.
Die Wissenschaft hat noch keinen zweifellos anerkannten und erprobten Maßstab
sür eine grundsätzliche Beurteilung von Gesellungskörpern. Kann und darf auch
"uf steinen Fall eingeräumt werden, daß dieser Maßstab in den Breysigschen
Kategorien gegeben sei, muß vielmehr entschieden hervorgehoben werden, daß
se» ihn andre Namen viel geeigneter erscheinen, so mag es doch seine Vor¬
teile haben, wenn auch diese Ördnnngsweise zur Bearbeitung des hier in
Frage stehenden Feldes der Wissenschaft unbenutzt wird. Die Überfülle der
gesellschaftlichen Gebilde, die durch Zusammenschluß von Menschen geschaffen
werden, ist so unendlich groß, so unendlich vielgestaltig, daß einstweilen noch
jedes Mittel, das irgendwie eine Handhabe dazu bietet, ihrer Erkenntnis
"«her zu kommen, ohne viel Zaudern herangezogen werden muß. Das muß
und wird dazu führen, allmählich näher und näher ans Ziel zu gelangen, es
schließlich richtig zu treffen, schließlich die allein richtige Beurteilungsregel zu
finden. Wenn dann auch Breysigs Kategorien ausgeschieden sein werden, so
werden sie doch an ihrem Teile zur Erreichung des Zwecks beigetragen haben,
und so mögen sie bis dahin als wissenschaftlicher Apparat möglichst erfolgreich
verwandt werden.
Damit ist nun allerdings zu Gunsten der Breysigschen Stellung zu der
hier in Rede stehenden grundsätzlichen Frage des Guten genug geschehen.
Geradezu unmöglich ist es, ihm auch nur einen Finger breit Zugeständnisse
zu machen, wenn er weiter dazu schreitet, sogar den Individualismus in der¬
selben Weise wie die Gesellungserscheinungen zu schablonisieren. Das muß mit
bedingungsloser Entschiedenheit zurückgewiesen werden, und das ist die Einzel¬
heit des Breysigschen Werkes, gegen die ich mich unter Abweisung auch nur
eines Versuchs zum Ausgleiche wende.
Breysig, der übrigens auch sieht, wie wenig in Wahrheit seine geliebte
Kategorisierung mit ihrer steifen Schachtelnng auf den Individualismus mit
seinem Lebensgebrodel paßt, der sich aber aus sogenanntem „Bedürfnis des
Soziologen nach großen, wenn auch zuweilen etwas groben Unterscheidungs¬
merkmalen" mit Gewalt dem logischen Folgern aus der sich auch ihm auf¬
drängenden Erkenntnis entzieht, zerlegt den Persönlichkeitsdrang in zwei große
Gruppen, zwei Arten. Die eine, die „starke," nennt er aristokratischen, echten
oder persönlichen Individualismus, die andre, die „schwache," demokratischen,
Massen- oder Sozialindividualismus.
Damit geht er irr.
Anschauungsgrundlage und Denkausgangspunkt seines Kapitels „Starker
und schwacher Persönlichkeitsdrang" ist, wie sonst überall bei ihm, seine grund¬
sätzliche Gleichsetzung des Individualismus für alle Völker und alle Zeiten.
Damit verbaut er sich, man könnte sagen aus Voreingenommenheit, den Weg
zur richtigen Erkenntnis.
Es giebt unzweifelhaft drei Grundarten des Individualismus, die hel¬
lenische, die christliche und die germanische. Den Unterschied zwischen der christ¬
lichen und der germanischen habe ich an andrer Stelle erörtert. Hier mag
deshalb nur noch der Gegensatz zwischen hellenischem und germanischem Eigen¬
wesen hervorgehoben werden. Während der hellenische Persönlichkeitsdrang
nach außen treibt, ist der deutsche ganz nach innen gewandt. Geht jener in
dem Streben auf, der Einzelpersönlichkeit ihr Recht uns schrankenlose Dar¬
stellung der ihr von der Mutter Natur gegebnen Art in der sie umgebenden
Außenwelt und gegen deren starre Gemeinsatzungen zu wahren, so ist diesem
Kern und Stern seines Wesens, sich ganz ins Innenleben zu vertiefen, in ihm,
wenn nötig, sich vor der Welt ringsum zu verschließen und nur aus ihm und
seinem rein geistigen Vermögen heraus mit den Außendingen zu rechnen. Ich
will zum Belege meiner Meinung nnr auf zwei Beispiele hinweisen, allerdings
zwei, die Bünde sprechen, und die mit Händen zu greifen sind. Sie sind dem
Gebiete der Kunst entnommen; denn die Kunst, natürlich nur echte und tiefe,
bringt die Grundempfindungen der Volksseele am geschlossensten zum Aus¬
druck. Das Meisterwerk des griechischen Meißels ist die milonische Venus-
Wer einmal im Louvre, in Schauen versunken, vor ihr gestanden hat, der vergißt
die überwältigende Hoheit des Eindrucks sein Leben lang nicht, und kein andres
Gebilde griechischer Kunst kommt an ihre Wirkung heran. Die unübertroffne
und unübertreffliche Perle deutscher Bildnerei ist der Novize im Naum-
burger Dome. Wer ihn noch nicht gesehen hat (Breysig scheint darunter
zu sein), der gehe hin und vertiefe sich in die vollendete Formengebung
dieser rührenden Gestalt, dieses wunderbaren Antlitzes. Und nun, was ist
in jenem, und was in diesem Werke dargestellt? Jenes giebt in sieghafter
Schöne die Verherrlichung der Außenpersönlichkeit als des Abgotts hellenischen
Wesens; dieses ist die schlichte und in ihrer Schlichtheit unsagbar ergreifende
Verkörperung völligen Anfgehns im Seelenleben, ist die körperliche Wieder¬
gabe des Jnnerpersönlichen als des gottgeweihten Eins und Alls deutscher
Menschen.
Alle diese typischen Gegensätze, die ethisch doch wahrhaftig von höchster
Bedeutung sind, hat Breysig bei seiner Erörterung des Individualismus nicht
beachtet. Hellenischer, christlicher, germanischer Persönlichkeitsdrang, sie fallen
ihm eben alle ohne weiteres ungeschieden unter seinen teuern Allerweltsbegriff
Individualismus. Nun kann er sich jedoch nicht verhehlen, daß mit dieser
theoretisch sich ja wunderhübsch ausnehmenden Sammelgröße thatsächlich nicht
^el anzufangen ist. Zahllose Vorgänge in Athen, Rom, Jerusalem, Nürn¬
berg, die ihm nach seiner Auffassung alle als Ausflüsse von Persönlichkeits¬
drang an sich erscheinen, lassen sich schlechterdings nicht über denselben Jndi-
vidualismuslcisten schlagen. Das sieht anch er. Doch die sich auch ihm
unabweisbar nufdrängeuden Unterschiede mit innerlicher Verschiedenheit des
Individualismus in den verschiednen Zeiten und Völkern zu erklären und
danach zu sichten und zu schichten, das vermag er nicht; denn ihm ist der Indi¬
vidualismus ja ein dem innern Wesen nach unveränderliches Ding an sich.
Was thun? Er bricht die Frage übers Knie. Ohne daß er sich darauf einläßt,
ernstlich zu prüfen, wie und warum die geschichtlichen Erscheinungen, die ihm
schlechthin Judividualregungen sind, an Kraft und Vertiefung bald so und bald
so, jedenfalls unendlich mannigfach voneinander abweichen, hält er sich an das,
Was er in groben Umrissen vor Angen hat. an die plumpe Thatsache der auf
der Oberfläche der Ereignisse drastisch genng erscheinenden äußerlichen Ver¬
schiedenheit an Kraft und Vertiefung bei den Geschehnissen; danach teilt er
diese, was ja dein Satze vou der ideellen Unabänderlichkeit. der ideellen Gleich¬
heit alles Individualismus keinen Abbruch thut, grob dinglich, äußerlich rein
realistisch, maschiucnnuißig in „starken und schwachen Persönlichkeitsdrang."
Die Begriffe starker Individualismus und Massen-Jndividualisums sind
rundweg zu verwerfen. Jener ist eine Großsprccherphrase, dieser eine Fül-
schungsphmse. Jener ist eine Bombastcrei flachster Art, dieser ein schlimmer
Widerspruch in sich selbst. Jener bedeutet nämlich auf deutsch ichfrohcs Ich-
Wesen, dieser aber ichfeindlichcs Jchwesen.
Individualismus! Dieses Wort ist sicherlich der heute am meisten ge¬
brauchte, litterarisch geradezu mißhandelte Begriff. In jedem Buche kommt
es unzähligemal vor Wo immer man einen Band, wissenschaftlichen oder
schöngeistigen, dentschen oder französischen, englischen oder skandinavischen, ita¬
lienischen oder russischen, aufschlagen mag, ganz bestimmt findet man das
Prachtwort auf der Seite, die man zufällig getroffen hat. Und nach der An¬
wendung, der es unterworfen wird, erscheint es so dehnbar, so drehbar, wie
der schmiegsamste Kautschukmann. Es geht aller Welt mit ihm, wie dem
Juristen mit dem groben Unfug und dem Kaufmann mit dem Konto-Korrent-
Konto; was anderswo nicht unterzubringen ist, das kommt da hinein. Das
reine Mädchen für alles. Und da soll nun hier der Individualismus als
ganz besondres, als ganz alleiniges seelisches Eigentum deutscher Menschen
angesprochen werden? Unbedingt, und ich denke mit dem allerbesten
Grunde.
Was ist denn eigentlich Individualismus? Was soll der Begriff be¬
deuten? Was denken sich moderne Menschen darunter? Hundertfach, tausendfach
verschieden kann die Antwort ausfallen. Jede davon wird aber Eins als Kern¬
gehalt ihrer Ausführung geben, und das wird die Erklärung sein, der Indi¬
vidualismus lebe und webe in der Hochhaltung der eignen Art. Das zu¬
gegeben und das festgehalten, ist der Schritt zur Feststellung, daß sich die
Begriffe Deutschtum und Individualismus decken, nicht mehr groß.
(Schluß folgt)
einrieb von Treitschke hat in seiner „Deutschen Geschichte im neun¬
zehnten Jahrhundert" Band IV Seite 516 die von dem Grafen
Maltzan berichtete Äußerung des Fürsten Metternich, daß es,
wenn sich der Herzog vou Orleans um die Hemd der Prinzessin
Helene von Mecklenburg-Schwerin bewerben wolle, für eine
Prinzessin in politischer Beziehung unmöglich sei als rmmir plus as cirmlitös
imoclinsL, dahin wiedergegeben, daß er sagt, „Metternich habe höhnisch gemeint,
die Braut sei politisch geruchlos."
Der große Publizist hat allerdings, das kann nicht geleugnet werden, in
diesem einen Falle weder mit dem gewählten Ausdruck „geruchlos" uoch mit
der Metternich beigemessenen höhnischen Absicht das Rechte getroffen, aber ein
Dr. F., der durch die anscheinend irrige Wiedergabe der Metternichschen Äuße¬
rung stutzig geworden, dem Mißverständnis auf den Grund zu gehn versucht
und das Ergebnis seiner Bemühungen in einem durch mehrere Zeitungen ge-
gangnen Artikel veröffentlicht hat, ist dabei recht, wie man zu sagen pflegt,
aus der Scylla in die Charybdis geraten.
Er vermutet, Heinrich von Treitschke „und Graf Maltzan" seien durch
das Wort oclor auf falsche Führte geleitet worden. „Hätte Metternich, sagt
Dr. F., diesen trivialen Gedanken (den einer politisch geruchlosen Braut) aus¬
sprechen wollen, würde er jedenfalls den Ausdruck inoävrs gebraucht haben."
Ob man dem Dr. F. das zugeben kann, mag dahingestellt bleiben: jedenfalls
wird kein Franzose seine Bemerkung haben lesen können, ohne sie unwider¬
stehlich komisch zu finden.
„Da nun aber, heißt es weiter, in Maltzcms Bericht anoäins steht, so
hat Metternich zweifellos (?) entweder gesagt, die Bran sei politisch avoclins,
also schmerzstillend, oder die Prinzessin sei ein iwoclln xolitiqus, ein politisches
Beruhigungs- und Lindernngsmittcl. Jedenfalls bleibt im einen wie im andern
Falle der Sinn der gleiche. Mciltzcm (?) und ihm folgend Treitschke wurden
»offenbar« dnrch die Anfangssilben anocl... an oclsur erinnert und schlössen
so auf die Bedeutung »geruchlos«. Es war ihnen entgangen, daß das
französische Eigenschaftswort iwoäin, ins wie das Dingwort Äiwäin vom
griechischen «6//^ Betrübnis, Schmerz, Traurigkeit abstammen und daher mit
dem Alpha privativum den Sinn von »Nichtschmerz« haben: lateinisch inclolorm,
anoäyng., griechisch ebenso, englisch imoäzms sowohl als Adjektiv, schmerzstillend,
wie als Substantiv, das schmerzstillende Mittel. In diesem Sinne ist das
Wort auch in die französische Sprache übergegangen; so spricht der Franzose
von einer votion auoäiiuz, einem schmerzstillenden Tränke, der Arzt kön usg-Zv
ä'Anvciins, worunter er Opium, Mohn, Cocam versteht. Metternich meinte
also gewiß nicht höhnisch, sondern höchstens ironisch oder sarkastisch, sehr wahr¬
scheinlich aber nur scherzend: die Braut sei politisch völlig »schmerzstillend«.
In der That wurden ja durch diese Verlobung verschiedne Schmerzen gestillt:
der Herzog von Orleans wurde über das von der Erzherzogin Therese er-
haltne Körblein getröstet; der Berliner Hof entging der Gefahr, eine preußische
Prinzeß zur königlichen Fronde nach Paris ziehn zu lassen, und der Bürger¬
könig selbst hatte die Genugthuung, daß sein Thronerbe doch noch eine Ge¬
mahlin aus einem vornehmen altfürstlichen Hause erhielt. Helene von Orleans
war also nicht, wie Maltzan (?)-Treitschke meinten, eine geruchlose, nein, sie
war eine »schmerzstillende Braut«."
Soweit Dr. F. und seine ,,im Interesse der historischen Wissenschaft" ver¬
suchte Richtigstellung.
Wie nun aber, wenn ihn der erste beste junge Franzose, der in einem
unsrer großen Bankhäuser seinen lautes swäss oomnisr«zig.l68 die praktische
Krone aufzusetzen bemüht wäre, hätte belehren und ihm die Aufrichtung des
großen, etwas schwerfälligen Gerüstes hätte ersparen können?
^.uoclin — die Franzosen sind nun einmal närrische Kerle und gebrauchen
die Worte, wie es ihnen beliebt, ohne darüber zuvor ein philologisches Gut¬
achten einzuholen g-uoclin hat nicht bloß die Vedcntung des Schmerz¬
stillenden, sondern weiter auch, wie unserm Doktor durch die Wörterbücher be¬
stätigt werden wird, die des Saft- und Kraftlosen, dessen, was einen nicht
heiß und nicht kalt macht, dessen, was keinen besondern Belang, keine besondre
Bedeutung, keine besondre Tragweite hat, dessen, was weder bei A noch bei B
Anstoß erregen kann, des Neutralen, Harmlosen, Unverfänglichen. Während
>nit xotiou Moäius, wie Dr. F. sehr richtig sagt, ein schmerzstillendes Tränkchen
bedeutet, ist uns ooisson Mvcliiuz das, was wir im Deutschen ein unschuldiges
Getränk nennen würden. Man spricht von einem kalt cavata, von einer inksurv
g.ne»ains, von einem tsrins anoäin, alles Dinge, die dein Diplomaten sehr
einleuchten, wenn es sich für ihn darum handelt, quistg, non inovsrs oder, wie
die Engländer sagen, de» Ist sIsspinZ äoZs lis.
Deswegen erschien es mir auch sonderbar, daß Graf Maltzan, der doch
in französischer Sprache berichtete, eine deutsche Übersetzung des in seinen
Kreisen nicht ungebräuchlichen Wortes und noch dazu eine falsche beigegeben
haben sollte. Und es stellt sich denn auch heraus, daß er ganz unschuldig ist,
und daß ihn Dr. F. mit Unrecht auf einer falschen etymologischen Führte er¬
tappt zu haben glaubt.
In seinem Bericht vom 9. März 1837 heißt es, daß Metternich dem
General von Both, der nach Wien gekommen war, um das Ableben des Gro߬
herzogs Friedrich Franz und die Thronbesteigung des Großherzogs Paul zu
modifizieren, das wiederholt habe, was er ihm, Maltzan, zuvor gesagt habe, hus
Sons 1s rapport politicius it segn iinpvssidls as r^unir plus as «ualitss anoäinss
(tsrins aoud hö 8froid 8on ^1es8Sö) eins us is lÄit 1a prinss88ö Wiens. Die
Herbeiziehung des „Geruchlosen" fällt also ganz auf unsern verehrten Historiker
von Treitschke zurück, der einen breiten Rücken hat und den leichten Vorwurf
der ihn überkommncu momentanen absrrgUo insnt,g.ki8 um so eher auf sich nehmen
kann, als der eigentliche Sinn dessen, was Metternich gemeint hatte, durch
seiue Wiedergabe nicht wesentlich entstellt worden ist.
Daß die Hypothese vom Schmerzstillenden unrichtig ist, und daß der Fürst
in der That gemeint hat, die Herkunft und die Familie der Prinzessin könnten
nach keinerlei Richtung hin zu Bedenken politischer Natur Aulas; geben, beweist
nicht bloß der übrige Kontext des Maltzanschen Berichts, sondern der Fürst
hat selbst an andrer Stelle einen authentischen Kommentar von dem, was er
meinte, gegeben.
In seinen: Bericht vom 9. März 1837 läßt nämlich Graf Maltzan Metternich
dem General von Both des weitern auseinandersetzen «us in^Igrs an'fils (1k
xrinss886 Mlöns) tut, et'uns trss-illustrs lÄnnIls, 1a nrg.i8on as NsvIclsinbouiA
us xouvait ospsnäant äonner as 1'omdraZö voM<zus, öff psnsnÄnts 8S pg,r-
taASAut sntrs 1» ?russs se ig. Un88is se 1a Situation g'se>A!'ÄvüiHus an x-1/8 n'aä-
nistt^ut Aueuus rsl-ition voliticuis sntrs es pa.^8 se l^ranos. (jus ä'cullsui'8
til xriuos88s Uslsns, n'stg-ut ni prooüs og,rsnts as la ing-ison as ?ruf8ö, ni
as oslls as Nu88is, son »llianos gvso la inaiscm ä'Orlsans n'outra!ng.it g,uoun
Asurs as «ompronüssion.
Und in einem Erlasse an Apponyi in Paris vom 17. Februar 1837°")
sagt Metternich, als wenn er selbst die quiüitv'8 anväinss, die er meinte, be¬
schreiben wollte: U taut eins os xrines (1s ano ä'Orlsans) hö inaiis se 80u
ullianes avso uns primos88s ä'uns pfeils, insis bonus mal8on n'g. auouns
xortss xoliticius.
Der von Metternich in Bezug auf das großherzoglich mecklenburgische Haus
gebrauchte Ausdruck xstits, ins-is bonus ingison ist zwar weit weniger um Platz
als der oben berichtete trss-illustrs, aber man darf dabei nicht außer Augen
lassen, was Metternich meinte und in der Nonchalance des intimen brieflichen
Verkehrs etwas frei ausdrückte, daß nämlich die Wahl einer Fürstin aus einem
politisch einflußreichern Hanse, also z. B, einer Erzherzogin oder einer könig¬
lich preußischen Prinzeß, in der diplomatischen Welt zu größern Schwierig¬
keiten — er spricht an einer andern Stelle von den er^og.8ssris8 «zontinuMgs
se kort nuisibles g, an inarigKg An ckuo ä'OrlöÄns — Veranlassung
geben könnte.
Wie richtig übrigens Dr. F. urteilt, wenn er die Vermutung ausspricht,
nichts habe Metternich bei Erörterung der Angelegenheit ferner gelegen als
eine höhnische Absicht, beweist insbesondre auch die von Maltzan im Berichte
vom 9. Mürz 1837 gemachte Bemerkung, General von Both habe Gelegenheit
gehabt, sich im Laufe eiuer am 6. Mnrz mit Metternich genommnen Rücksprache
davon zu überzeugen, daß das Wiener Kabinett dem in Frage stehenden
Heiratsprojekte Beifall zolle axplkmait) und davon nur mit Befriedigung
er Umstand, daß die Jntelligenzblätter immer in Gefahr waren, aus
Gründen ihres trocknen Inhalts an Abnehmern zu verlieren, wird
auch zu der Erscheinung beigetragen haben, die wir namentlich in
der spätern Zeit häufig finden, daß sich nämlich Intelligenzblatt und
politische Zeitung miteinander verbinden. In der Anschauung des
achtzehnten Jahrhunderts sind Intelligenzblatt und Politische Zeitung
etwas ganz Verschiednes. Die Jntelligenzblätter führen überhaupt nicht einmal
den Namen Zeitung und werden als solche nicht angesehen. Man darf nun nicht
vergessen, daß Zeitungen lange vor den Jutelligeuzblättcrn bestanden, und daß
diese schon zu jener Zeit Anzeigen brachten. Dies hört beim Aufkommen der Jn¬
telligenzblätter keineswegs auf. Neben den Jntelligenzbla'elem brachten eine ganze
Anzahl von Zeitungen, wenn auch bei weitem nicht alle, Anzeigen unter ihrem
politischen Teil.
An vielen kleinern Orten nun, wo es eine Zeitung mit mehr lokalem Charakter
gab, schien es beim Aufblühn des Jutelligenzwesens ratsam, diese zugleich zum
Träger der Jntelligeuznachrichten zu machen. Dieses war beispielsweise der Fall in
Heilbronn, Kempten, Nördlingen, Biberach, Essen usw., zeitweise auch in Hildesheim
und Kassel. Wurde neben der politischen Zeitung noch ein Intelligenzblatt begründet,
so ergab sich bald die Notwendigkeit, diese beiden Unternehmungen znsammen-
zuschweißeu. So schreibt Schwarzkopf, daß der burgundische Kreis, der früher in
Brüssel, Mecheln, Antwerpen, Mons, Luxemburg, Gent, Dünkirchen, Tongern und
in Se. Trond eigne Jntelligenzblätter gehabt habe, nunmehr die Jntelligeuzartikel
als Anhängsel seiner politischen Zeitungen bringe.
Es entsteht eine Verschmelzung von politischer Zeitung und Intelligenzblatt
nicht selten auch dadurch, daß die letzten anhangsweise politische Nachrichten auf¬
nehmen, ohne jedoch dadurch ihren Charakter als Intelligenzblatt aufzugeben. Oft
sind die Politischen Nachrichten, die regelmäßig aus andern rein Politischen Zeitungen
entnommen sind, nichts andres als Lückenbüßer und fallen fort, wenn das Blatt
von seinem sonstigen eigentlichen Inhalt gefüllt wird. Dies war beispielsweise der
Fall in Schleusingen, Merseburg, Hildburghnusen, Bautzen (in spätern Jahren),
Meiningen usw. Von den Jenaer wöchentlichen Anzeigen heißt es, daß ihre „Lücken
oft mit politischen Anhängseln ergänzt werden"; von den Meininger: „Außerdem
wird darin als stehender Artikel ein Auszug politischer Nachrichten aus den Ham¬
burger, Frankfurter, Bamberger und andern bekannten Zeitungen fortgeführt," von
den Weimarischen: „Die Haupttendenz dieses Wochenblatts betrifft bloß Intelli¬
genzen usw, , , ,, die Zeitungsnachrichten aber, welche anhangsweise beigefügt werden,
sind ziemlich dürftig und einseitig." Der Hauptgrund, weshalb die Jntelligenz-
blätter überhaupt solche Nachrichten aufnahmen, lag wohl in der Trockenheit ihres
sonstigen Inhalts. Dem Köthener Intelligenzblatt erging es folgendermaßen: „Bei
Entstehung des Revolntionslriegs erhielt das Wochenblatt eine mehr politische
Tendenz, da wie überall, so auch zu Köthen die Begierde nach den Tags-Neuig-
keiten den Geschmack an aller außerpolitischen Lektüre verdrängte." Nachdem dann
diese politische Tendenz behördlich untersagt worden war, reduzierte sich die Auf¬
lage des nunmehr wieder aufs Trockne gesetzten Blattes auf siebzig Exemplare.
Von deu politischen Zeitungen hatten die meisten Anzeigen die Blätter, die
über einen weiter verzweigten Abonnentenkreis verfügten. Dadurch konnten An¬
zeigen einem größern Publikum zugänglich gemacht werden, als dies bei den doch
immer nur lokalen Jntelligenzblätteru der Fall war. Zu dieser Kategorie von
Zeitungen geHorte die Hessische Zeitung in Kassel, die Hnnauische Zeitung, die be¬
sonders nach Österreich einen größern Absatz hatte, vor allem aber die Hamburgischen
Zeitungen. Vou ihnen sagt Stiebnitz, daß „diese beiden Zeitungen (der Corre-
spondent und die Neue Zeitung) für Uuiversal-Anzeiger für alle Europäischen Staaten
können angesehen werden." Entsprechend dieser weitern Verbreitung sind hier auch
die Jnsertionskosten beträchtlich höher als bei den gewöhnlichen Jntelligenzblätteru.
Der materielle Erfolg, der sich hieraus ergab, ließ die Vorkämpfer des Jn-
telligeuzwesens nicht ruhn. Es galt, den großen Zeitungen diesen Zweig des An¬
zeigewesens zu entreißen. Das konnte aber nur durch ein großes Zentralintelligenz¬
blatt für das ganze Reich geschehn. Schon der erste Schrödersche Vorschlag hatte
ja im Grunde nur dieses vor Augen gehabt. Der erste, der nun wirklich mit
einem Reichsiutelligenzblatt hervortrat, war der Geheimrat Joh. Phil. Schnur aus
Nürnberg, der im Jahre 1775 in Darmstadt eine „Deutsche Intelligenz- und
Correspondenz-Zeitung" plante, die Exzerpte aus andern Zeitungen und Jntelligenz¬
blätteru liefern sollte. Dieser Plan scheiterte jedoch kurz vor seiner Ausführung.
Auch eine Wiederholung des Versuchs im Jahre 1784 hatte keinen bessern Erfolg.
Da gründete im Jahre 1791 der Hofrat Rudolf Zacharins Becker in Gotha
sein allgemeines Intelligenzblatt, das ihm im folgenden Jahre privilegiert wurde,
als „Kaiserlich privilegierter Reichs-Anzeiger oder allgemeines Intelligenzblatt zum
Behufe der Justiz, der Polieeh und der bürgerlichen Gewerbe im Deutschen Reiche,
wie auch zur öffentlichen Unterhaltung der Leser über gemeinnützige Gegenstände
aller Art," und zwar wurde dieser Reichsanzeiger täglich nusgegebeu für deu Jahres¬
preis von 4 Thalern. Seine Inserate waren keine Exzerpte aus andern Zeitungen,
sondern Originalanzeigen und wurden mit 8 Pfennigen für die Zeile berechnet. Er
erfreute sich, wie Schwarzkopf sagt, „allgemeiner Beliebtheit." Natürlich entstanden
schon nach kurzer Zeit ähnliche Unternehmungen nu andern Orten, die mit denselben
Prätentionen auftraten wie der Beckersche Reichsanzeiger, ohne jedoch im entferntesten
dieselbe Rolle zu spielen. Die Versuche entstanden in Stuttgart, Weißenburg i. E.,
Nürnberg, Eßlingen, Hildburghausen und Salzburg. Die meiste» von ihnen gingen
sehr bald wieder ein. Bemerkenswert ist, daß auch Frankreich im Jahre 1794 ein
gleiches Zentralanzeigeblatt in dem Hugotischen .lournAl ä'Inäieation erhielt.
Nachdem wir uns über den Inhalt der Jntelligenzblcitter unterrichtet haben,
müssen wir auch einen Blick auf ihre äußere Einrichtung, ihren Vertrieb und ihren
Wirkungskreis werfen. Das Erscheine» der Fntelligenzblätter war in der Regel
wöchentlich. Weitaus die meisten Blätter führten ja den Titel: „Wochenblatt" oder
„wöchentliche Nachrichten," „wöchentliche Frag- und Anzeigen" usw. Erst um die
Mitte des achtzehnten Jahrhunderts fingen einige Blätter um, zweimal wöchentlich
zu erscheinen, so in Frankfurt a, M,, in Bremen, Brnunschweig, später auch in
Dettum, Weimar und Wien, seit 1787 auch in Schwerin. Frühere Versuche mit
häufiger als einmal wöchentlich erscheinenden Blättern scheinen gescheitert zu sein.
Das 1721 eröffnete Jutelligeuzwerk von Grießbach in Dresden, das sein Blatt
zweimal wöchentlich ausgab, ging sehr bald ein. Und als im Jahre 1730, von
andrer Seite aber an demselben Orte, der Versuch mit zweimal erscheinenden Nach¬
richten wieder aufgenommen wurde, konnte der Unternehmer dies zwar bis 1749
durchsetzen, von da an aber erschien das Blatt doch nur wieder einmal wöchentlich.
Häufiger als zweimal erschien auch in den spätern Jahren kein einziges Intelligenz-
blatt mit alleiniger Ansncchme des Reichsanzeigers und des Berliner Blattes, das
seit 1784 werktäglich ausgegeben wurde.
Das Format der Jntelligenzblätter war fast durchweg Quart, größer war es
nie, selten Oktav. Die Stärke betrug in der Regel einen bis anderthalb Bogen,
mitunter einen halben mehr oder auch weniger. Ist viel Stoff vorhanden, so
werden zuweilen Extrabogen beigelegt. Der mittlere Jahrespreis der Blätter be¬
wegt sich zwischen einem und zwei Thalern, der Einzelpreis einer Nummer zwischen
sechs Pfennigen und einem Groschen, doch kommen auch hier Überschreitungen nach
jeder Seite vor. Gewöhnlich scheint sich der Preis nach der Stärke und Häufigkeit
des Blattes zu richten. So kostet das Berliner Blatt bei sechsmaligen Erscheinen
drei Thaler. Die Einnahmen aus dem Verkauf und dem Abonnement werden wohl
den Hauptertrag der Blätter gebildet haben. Wenigstens lassen hierauf die außer¬
ordentlich niedrigen Jnsertionskosten schließen. Bei Betrachtung dieser Kosten ist
das bemerkenswerteste, daß die Anzeigen anfänglich nicht nach ihrem Umfange oder
nach ihrer Wichtigkeit bezahlt wurden, sondern alle einer gleichen Taxe unterworfen
waren. Freilich blieb dabei die Redaktion der Anzeige dem Herausgeber des Blattes
vorbehalte». Später fing man aber doch an, wenigstens lange und kurze Inserate
verschieden zu bemessen. Das Wittenbergische Wochenblatt berechnete kurze Anzeigen
mit zwei Groschen, längere mit vier Groschen. Die Jnsertionsgebühreu beim Leipziger
Intelligenzblatt betrugen vier bis acht Groschen. Das Schweriner Blatt berechnete
für Anzeigen von Privatpersonen in der Länge bis zu acht Zeilen einen Schilling
Kurant, aber dann kosteten die weitern drei Zeilen zwei Schillinge. Später scheint
man dann bald fast überall angefangen zu haben, die Anzeigen nach Zeilen zu
berechnen, entweder für die einzelne Zeile, wie beispielsweise in Rudolstadt, Neustadt
an der Orla u. a., wo die Zeile mit drei Pfennigen berechnet wurde, oder in Ab¬
stufungen wie in Berlin. „In Berlin, wo wöchentlich sechs Bogen ausgegeben
werden . . ., wird laut der Verordnung vom 9. Januar 1768 für 1 bis 4 gedruckte
Zeiten (jede zu 12 bis 14 Worten gerechnet) 2 Groschen, für 5 bis 8 Zeilen 4 Groschen,
und so fort von 4 zu 4 Zeilen 2 Groschen mehr bezahlt." Als Besonderheiten mögen
erwähnt werden, daß das Leipziger Intelligenzblatt schon von 1763 an von „Dienst¬
bothen so ihre Dienste und Arbeit anbieten" nur die Hälfte des sonstigen Kosten¬
betrages forderte, und ferner, daß die „Frehberger gemeinnützigen Nachrichten,"
die die Zeile mit drei Pfennigen berechneten, dem „welcher diese Nachrichten an¬
hält, jedes Quartal 24 bis 30' Zeiten" zu inserieren freistellten. Man sieht, dieses
Lockmittel so vieler unsrer Zeitungen ist keine moderne Errungenschaft.
Die Expedition der Blätter erfolgte in verschiedner Weise. Das gewöhnlichste
und ursprünglichste scheint gewesen zu sein, daß die Blätter einfach in dem Expe¬
ditionslokale verkauft wurden und jeder Käufer sie sich dort holen mußte. Schien
eine Ausgabestelle nicht genügend, so legte man mehrere an. Das 1730 angelegte
Dresdner Intelligenzblatt hatte schon vier solcher Ausgabestellen innerhalb der
Stadt, Später errichtete es mich auswärts Filialen. So hatte es im Jahre 1749
Hilfscxpediticmen in Leipzig, Breslau, Liegnitz, Görlitz, Löbau, Hannover, Berlin,
Jena, Altenburg. Außerdem hatten auch die Postmeister in Bautzen und Leipzig
den Verkauf der Dresdner Anzeigen übernommen. Im Jahre 1752 jedoch wurden
schon diese Hilfsbureaus aufgehoben, und der Vertrieb nach auswärts geschah von
nun an nur noch durch die Post. Innerhalb Dresdens blieben teils die bisherigen
Verkaufslokale, teils brachten nunmehr auch eigne Boten die Blätter ins Hans.
Das Freyberger Intelligenzblatt stellte seinen Lesern drei Vezugsmöglichkeiten an¬
heim: 1. durch die löbl. Postämter, 2. durch die Crazische Buchhandlung und
3. durch die wöchentlichen Boten. Die letzten scheinen jedoch nicht immer eigne
Boten gewesen zu sein. Aus einer Notiz im ersten Jahrgang des Pforzheimer
Blattes von 1794 kann man entnehmen, daß die Schüler der Gemeindeschule dazu ver¬
wandt wurden, die Blätter in die einzelnen Häuser zu überbringen. Übrigens be¬
richtet Kirchhofs (Aufsatz über Leipzigs ältestes Zeitungswesen. Archiv für die Ge¬
schichte des deutschen Buchhandels sBd. Xj), das; schon im letzten Viertel des sech¬
zehnten Jahrhunderts die einblättrigen Relationen der Buchhändler auf diese Weise
vertrieben worden seien. Eine mit besondern, eigens angestellten Boten versehene Ex¬
pedition scheint etwas ganz Ungewöhnliches gewesen zu sein. So schreibt Schwarzkopf
(Über politische Zeitungen und Jntelligenzblätter Sachsens usw.) über ein schon
lange bestehendes „in Deutschland einziges Unternehmen" der Gothaischen Blätter:
„Ein ganz eigentümliches Hilfsmittel war dabei das, schon seit 1780 bei der im
Mannesstamme ausgestorbnen Meviusschen Familie unter der Firma: Mevius Erben
bestehende, Boten-Amt, welches, gleich der regelmäßigsten Zeitnngsexpedition und
gegen eine sehr mäßige Gebühr, wöchentlich in die zahlreichen Landstädte und Dorf-
schaften, wohin kein Postkurs dringt, und zwar im Umkreise von zehn deutschen
Meilen, auf die schnellste und wohlfeilste Weise die Beförderung übernimmt." Dieses
Bvtenamt scheint also auch andre Dinge befördert zu haben, scheint aber in der
Hauptsache doch für die Zeituugsexpedition eingerichtet worden zu sein. Weiterhin
erwähnt Schwarzkopf noch, daß auch das Greizer Intelligenzblatt „wie die
Gothaischen, Anhalt-Bernburgischen und mehrere andre Blätter in Sachsen und
Thüringen, durch eigene Boten spediret wird."
Wir haben schon oben gesehen, daß sich die Jntelligenzkoutore nicht allem auf
die Ausgabe der Jntelligenzblätter beschränkten, sondern auch in vielen andern
Dingen, Verkäufen, Bestellungen u. dergl. ihren Klienten helfend zur Seite standen.
Hierher gehört auch eine Notiz in der Ankündigung der Schweriner Jntelligenz¬
blätter, die folgendes sagt: „Diejenigen, so Avertissemens einschicken, haben nicht
nöthig, sich darin selbst zu nennen. Wer z. B. Gelder auf Hypothek oder Pfand
verlanget, darf nur setzen, daß derjenige, welcher dazu Gelder liegen hat, bey dem
Notario, oder einem anderen ehrlichen Manne, nähere Nachricht davon haben
könne." Auch dies ist aber eine dem modernen Chiffernbetrieb ganz ähnliche mo¬
derne Einrichtung, die zur Vermeidung einer Diskreditierung der Inserierenden so
unbedingt erforderlich ist.
Der Ausbreitungskreis der Jntelligenzblätter beschränkt sich bei den meisten
auf ihren Erscheinungsort. Als Beleg hierfür seien einige Beispiele angeführt.
Von dem Intelligenzblatt der Grafschaft Hohenstein heißt es: „Die Jntelligenz-
artikel bezogen sich größtenteils auf die Stadt Nordhausen, auf deren Maße und
Gewicht sie kalkuliere sind," von dem Eisenncher Wochenblatt: „Es kömmt fast nicht
über die Gränzen der Stadt hinaus, weil es nur die gewöhnlichen Landes- und
Lokal-Nachrichten enthält." Auch sagt Krünitz in seiner „Ökonomischen Encyklopädie"
(Berlin, 1784) ganz allgemein, als er unter dem Inhalte der Jntelligenzblätter
auch die Steckbriefe aufführt: „Allein, diese Nachrichten haben hier wenig Wirkung,
weil solche Blätter außer dem Lande wenig gelesen werden." Die grüßern Jn¬
telligenzblätter zeichnen sich natürlich durch einen größern Wirkungskreis aus. Sie
erstrecke» ihren Einfluß zunächst auf die nähere, dann auf die weitere Umgebung.
Das Görlitzer Blatt nannte sich „Anzeiger oder allgemeines Intelligenzblatt zum
Behufe der Justiz, der Policey und der bürgerlichen Gewerbe in der Lausitz ze."
Von den Schweriner Nachrichten sagt stieben „Die Inserate stammen aus dem
ganzen Lande, sodaß mithin die »Nachrichten« ans Absatz weit über Schwerin
hinaus berechnet gewesen sein müssen," und von dem Hamburger Relations-Courier
berichtet er, daß dieser auch „von fremden Orten viele Dinge zur Bekanntmachung
eingesandt" erhielt. Die Ausbreitung der Blätter von Gotha und Dresden haben
wir oben schon berührt, Stiebnitz berichtet, daß Breslau ein Intelligenzblatt für
ganz Schlesien habe und Freiburg i. B, ein solches für die vorderösterreichischen
Lande. Das Berliner Blatt scheint über ganz Preußen und Brandenburg und ihre
angrenzenden Gebiete, die wirtschaftlich mit der brandenburgischen Residenz ver¬
bunden waren, verbreitet gewesen zu sein. Vor der Gründung des Jntelligenz-
kontors in Breslau wurde es dort in Korns Buchladen verkauft. Und die Rubrik
der außerhalb Berlins zu verkaufenden Sachen enthielt im Berliner Intelligenzblatt
nnter andern oft Anzeigen aus Küstrin, Kvttbus, Stargard, Hamburg, Breslau, ja
sogar aus deu holländischen Städten. Der Kanzler Ludewig rühmte sich, daß seiue
Hallischen gelehrte« Anzeigen „von Preußen bis nach Brabant" Abnehmer fänden,
und vom Leipziger Intelligenzblatt sagt Schwarzkopf, daß es „ziemlich häufig im
Auslande (d. h. natürlich außerhalb Sachsens) gelesen" werde. Indessen stehn diese
Beispiele in der großen Menge der Jntelligenzblcitter doch nur vereinzelt da. In
der Regel kann man sich den Ansbreitungskreis der Blätter kaum klein genug
denken. Zuverlässige Angabe» über Auflagehöhe der Jntelligenzblatter sind zwar
wenig oder gar nicht vorhanden, doch wird man nach dem vorhandnen überlieferten
Material kaum fehlgehn, wenn man die Anzahl von 200 bis 300 als die am
häufigsten vorkommende ansieht, dagegen sind auch Zahlen unter 200 und selbst
unter 100 nichts Ungewöhnliches. Eine Auflage von 800 wird gelegentlich einmal
als sehr hoch bezeichnet. Und wenn Ludewig von der Ausbreitung der Blätter
„von Preußen bis nach Brabant" spricht, so kann da von keiner allgemeinen Ver¬
breitung, sondern nur von einer solchen in einzelnen zerstreuten Exemplaren die
Rede sein, wie Schwarzkopf von den Frankfurter Anzeigen sagt: „Außerhalb der
Stadt und ihres Gebiets findet dieses Intelligenzblatt wenig Absatz, ausgenommen
in einigen Gebieten, wo man die Fruchtpreise und ähnliche eurrente Artikel daraus
zu ersehen Ursache hat. In Frankfurt, so fährt er fort, werden freylich mehrere
auswärtige Nnchrichtsblätter gelesen, allein nur solche, welche sich durch andere ge¬
meinnützliche Aufsätze emporheben, wie z. B. das Hannöversche."
Die Förderung des Jntelligenzwesens durch die Regierungen haben wir schon
wiederholt betont. Führen wir hier diesen Umstand noch etwas näher aus. Das
Jntelligenzwesen erschien ja von vornherein als eine Wohlfahrtseinrichtung, eine
Anstalt zur Hebung des „Nahrungsstnudes." Da war es ganz natürlich, daß
überall die Regierungen ihre schützenden Hände über dem Jntelligenzwesen
hielten.
Der Betrieb der Jntelligeuzanstalten geschah in zweifacher Weise. Entweder
war er durch die Regierung Privilegiert und Privaten überlassen, stand dann aber
unter mehr oder minder direkter Aufsicht, oder er war geradezu Gegenstand staat¬
licher Regie. In beiden Fällen war die Jntelligenzanstalt ein Werkzeug für die
innere Politik der Regierung. Häufig geschah es, daß eine Jntelligenzanstalt, die
anfangs unter privater Leitung gestanden hatte, nachher in staatliche Verwaltung
übernommen wurde. So geschah es mit dem Breslauer Unternehmen. Ferner
finde ich im Hannöverschen Magazin von 1791 in der ersten Nummer dieses Jahr¬
gangs die Ankündigung, daß es nach dem Ableben des bisherigen Leiters „dem
Zwecke und der immerwährenden Deiner des Jntelligenzcomtoirs, der Anzeigen und
der damit verbundenen Ausgabe dieser gemeinnützlichen Blätter, höchsten Orts am
mäßesten erachtet worden, das ganze Institut in Landesherrliche Administration zu
nehmen." Bisher hatte es unter der Direktton des Hofgerichtsassesfvrs und Calen-
bergischen Landsyndikus von Müller gestanden, der es mich ins Leben gerufen hatte.
Überhaupt erhielt das Jntelligeuzweseu von den offiziellen und ihnen nahe stehenden
Stellen die möglichste Förderung. Das Leipziger Intelligenzblatt wurde z, B. vom
Vizepräsidenten von Hohenthal eingerichtet, das Münchner vom Hofkmnmcrrat
von Kohlbrönner, und das Göttinger stand zeitweilig unter der Leitung des be¬
kannten Herrn von Insel. Auch haben wir schon gesehen, wie Schwarzkopf und
Hofrat Becker dem Jntelligeuzweseu ihre Förderung angedeihen ließen. Schließlich
gab es kaum ein Intelligenzblatt, das nicht an seiner Spitze die „gnädigste" landes¬
herrliche oder obrigkeitliche Erlaubnis vermerkte. Auch bestimmte die Negierung in
der That durchaus über den Inhalt der Blätter.
In einem Reskript des Kurfürsten von Sachsen vom 19. September 1730 an
den Rat der Stadt Dresden heißt es über die Wiedereinrichtung eines Jntelligeuz-
koutors, daß gewisse Artikel des mitgeteilten Plans Passieren könnten, „hingegen
aber das 7. Capitel von Aukunfft und Abgang Vornehmer Personen, ferner das
9te von allerhand Marckt Taxen des Getrcydes und übrigen Victualien, das 10te
von denen Todes- Tauff- und Trauuugs Zetteln, Weiter das 14te vom Verspielen
allerhand Sachen, das töte von neue« Acmbtern und Ehre« Stellen, Nicht weniger
das 19 te von Offerten und Wetten. Wie auch das 22te von allerhand Neuig¬
keiten oder Nouvelleu" gänzlich wegfallen müsse. Man sieht, die sächsische Regie¬
rung war damals etwas rigoros, doch wurden die Verbote später gemildert.
Um den Jntelligenzblnttern die Existenz zu erleichtern, gewahrte man ihnen
allerhand Vorteile. So erhielten sie in der Regel das Privileg der Postfreiheit.
Bei den staatlichen Blättern war das durchgängig der Fall, bei den privaten häufig.
Erstere waren dann zumeist, wie bei den preußischen, mit der Post verknüpft.
„Der Rendant. schreibt Krünitz (Ökonomische Encyklopädie. Artikel Jutelligenz-
anstcilt), ist gemeiniglich einer der Post-Sekretäre, bey welchem sich dann das
Adreß-Comtoir und die Casse befindet." Die eigentliche Verwaltung war jedoch
von der der Post getrennt. Sie bestand in Preußen in einer besondern Jntelligenz-
kommissiou, die „aus einem oder mehreren Nöthen, sowohl der Negierung als auch
der Kammer zu bestehen Pflegt." Von Privatintelligcnzblättern hatte Postfreiheit
beispielsweise das Neu-Strelitzer Blatt, das Leipziger, das Dresdner, das Witten-
berger u. a. in. Das Dresdner hatte sogar Postfreiheit für die ihm eingesandten
Annoncen; dasselbe war bei der Leipziger Anstalt der Fall. Von dem ersten heißt
es, daß es als Entgelt dafür eine Pauschsumme von 18 Thalern zahlen mußte und
die behördlichen Anzeigen unentgeltlich abzudrucken hatte.
Ein andres Förderungsmittel für die Jntelligenzblätter war die Zuwendung
behördlicher Anzeigen. „Hiesige und auswärtige Behörden, so schreibt der Dresdner
Anzeiger, benutzten schon in den 1760 er Jahren den Anzeiger als Publikations¬
organ." Das Breslauer Kondor hatte das Privilegium, daß keine Privatanzeige
in die andern Zeitungen aufgenommen werden durfte, bevor sie nicht in dem In¬
telligenzblatt gestanden hätte. Ferner finden wir verschiedentlich die Anweisung
der Regierungen an die einzelnen Behörden, ihre Bekanntmachungen und Anzeigen
an die Jntelligenzkontore zu senden. Von den Fvrderungsversucheu durch Erweite¬
rung des Inhalts (gelehrte Anzeigen usw.) haben wir schon oben gesprochen.
Schließlich aber begnügte man sich nicht einmal mit all diesen Privilegien und
Monopolen, sondern suchte den Absatz auf direktem Wege zu beeinflussen. Außer¬
ordentlich bezeichnend ist, was Krünitz hierüber schreibt. Um den Absatz der Jn¬
telligenzblätter zu fördern, meint er, sei es „schlechterdings nöthig, daß die Policey
zugleich einen gelinden Zwang, wenigstens solange die Sache noch nicht in Gang
gebracht ist, damit verknüpfe." Und da man nicht alle Unterthanen zwingen könne,
die Blätter zu halten, so müsse man doch wenigstens alle die, die ein öffentliches
Amt bekleideten, dazu anhalten. „Und bey diesen, meint er, ist kein Bedenken,
daß die höchste Gewalt in einem Staate denselben bey Strafe befehlen könne, solche
Blätter in collegialischer oder anderer Gesellschaft, welche sie an einem oder etlichen
nahegelegenen Orten ausmachen können, zu halten, und die wenigen Groschen, welche
dafür bezahlt werden, anzuwenden. Es müssen demnach alle hohe und niedere
Collegia, nämlich Regierungs-, Justiz-, Kaminer-, Policey- und Magistrats-Collegia,
die Jntelligenzblätter halten." Desgleichen, meint er, müsse man, wie es in Preußen
wirklich geschehe, die Pfarrer und Gemeinden dazu anhalten; und da namentlich
die Kaufleute und die Gewerbetreibenden von den Jntelligenzblätter» großen Nutzen
hätten, so könne man doch „mit Fug und Recht anbefehlen, daß eine jede Gilde
oder Innung, in der die Kaufleute und Handwerker eingeschlossen sind, solches thun
it. h. die Blätter halten) sollen. Ebenso können und müssen alle Wirtshäuser und
Gasthöfe, ingleichen alle Kaffee- und Wein-Hänser, zur Haltung der Anzeigeblätter
gesetzlich angehalten werden." Welch ein Geist spricht aus solchen Zeilen!
Wie weit aber in der That dieser Zwang getrieben wurde, dafür mögen
einige Beispiele angeführt werden. Im Berliner Jntelligenzblntt findet sich schon
im ersten Jahrgang von 172? die wiederholte Notiz, durch die auf Grund einer
Ordre vom 12. April desselben Jahres alle „Beambten und Magistrate in denen
Städten" angehalten werden, die Jntelligenzblättcr zu halten, und in der Nummer
vom 8. November des Jahres 1728 steht schon der Zusatz, daß auch die „Gewercke"
hierzu anzuhalten seien. Vom Karlsruher Jntelligenzblntt berichtet Schwarzkopf:
„Cameralistisch erhält sich das Intelligenzblatt dadurch, daß aus den Gemeinde-
Cassen vorschriftsmäßig die Exemplare für das Land bezahlt werden."
Daß solche „vorschriftsmäßigen" Abonnements meistens sehr drückend waren,
läßt sich denken. Aber die Einsicht dafür scheint bei den Fürsten nicht sehr häufig
gewesen zu sein. Eine Ausnahme teilt Moser mit: „In dem Brciuuschweig-
Wolfenbüttelischen Landtagsabschied von 1770 heißt es Art. 60: »Nachdem treu¬
devoteste Stände unterthänigst vorgestellet, daß die in der Fürstlichen Verordnung
vom 9. Januar 1766 den Gerichten anbefohlene Haltung der hiesigen Braun¬
schweigischen Anzeigen denselben fast beschwerlich fallen wolle, so haben Se. Durch¬
laucht gu. geruhet, die Haltung sothaner Anzeigen hinkünftig nicht weiter als eine
Nothwendigkeit den Gerichten auflegen zu lassen, jedoch mit dem Vorbehalt, daß
wenn eine (von Gott abzuwendende) Viehseuche, oder andere eine notwendige und
allgemeine Kuudmnchuug erheischende Vorfälle, es erfordern, sich hierauf nicht be¬
zogen, sondern diejenigen, welche solche nicht ohnehin freywillig halten, sie, so lange
die Vorfälle dauern, zu nehmen schuldig seyn sollen.«"
Imi allgemeinen ergab sich bei dem oben geschilderten Zwangsverfähren ein
tüchtiger finanzieller Überschuß aus dem Betriebe des Jntelligenzwesens, der nciment-
llch für die Regierungen eine willkommne Finnnzquelle war, die für mannigfache
Zwecke verwandt wurde. Ju Weimar verwandte man die Überschüsse des Jn-
telligenzblattes für die Beleuchtung der Stadt, in Kiel für die Armenpflege. Die
Erträge der Berliner Jntelligenzanstalt kamen dem Potsdamer Militärwaisenhaus
zu gute; die der Breslauer dienten zur Unterhaltung der Arbeitshäuser in Brieg
und Janer, die der Anricher zur Unterhaltung des Zuchthauses. So verschmähten
es die Regierungen nicht, aus einer Wohlfahrtseinrichtung schließlich eine möglichst
ergiebige Finnnzquelle zu machen.
Von dem ganzen Jntelligenzwesen ist heute much uicht der kleinste Nest mehr
vorhanden. Wie kommt das? Woran sind die Jntelligenzblätter eingegangen?
Es ist kein Zweifel, daß der Gedanke, der zur Gründung der Jntelligeuzanstalten
Anlaß gegeben hatte, durchaus richtig und nützlich war. Aber die Ausführung war
eine fortlaufende Reihe von Fehlern. Anstatt die Blätter einfach der Volkswirt¬
schaft frei zur Verfügung zu stellen und sie durch diese selbst regulieren zu lassen,
suchte man durch sie die Volkswirtschaft zu beeinflussen. Dies mußte auf die Dauer
"is lästiger Zwang empfunden werden, zumut da die Regierung, wie es doch oft
genug der Fall war, den Fortschritt der Zeit nicht erkannte und die aus ihrem
engen Rahmen hernusstrebeuden Blätter immer wieder in die alte Form zwängte.
Das verderblichste aber our es, die Jntelligenzblätter much fiskalischen Rücksichten
zu leiten. Sobald das Finanzielle in den Vordergrund trat, mußte das Volks¬
wirtschaftliche schwinden. Hatte man einmal angefangen, die Blätter als bloße Ein¬
nahmequelle zu betrachten, so war es schwer, ans dem einmal beschrittnen Wege
umzukehren. Sobald man die Zwangsmittel zur Erhaltung der Blätter nicht mehr
anwenden konnte, mußten sie notwendigerweise eingehn. Vor dem ersten frischern
Luftzug des modernen Geistes brach das ganze absolutistische Kartenhaus der In¬
telligenz zusammen. Kümmerliche Reste erhielten sich noch einige Jahre, aber um
die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war ihre Spur schon verwischt. Sie sind
dahingegangen und haben einer freiern Organisation des Anzeigewcsens Platz gemacht,
is Wandrer innerlich bewegt von seinem Geleite zurückkehrte, fand er
in Heinrichshall bestürzte Mienen. Am Förderhause waren Fackel»
ausgesteckt, die Arbeiter umstanden den verbarrikadierten Eingang und
tauschten halblaut Vermutungen aus. Wandrer erfuhr, daß eine Ex¬
plosion in der Tiefe stattgefunden hatte. Kein Mensch war im Schacht
gewesen, dennoch hatte es geknallt, und es war Nnuch ans dem Schachte
emporgestiegen. Rummel und ein paar Bergleute waren eingefahren. Eben kamen
sie zurück, durch und durch naß und brachten einen alten triefenden Chlinderhut mit.
Ihr Bericht war trostlos. Der ganze untere Teil des Schachtes war zerstört und stand
voll Wasser. Ans der zweiten Sohle ergoß sich ein Strom Wasser tu den Schacht,
es konnte nicht lange dauern, so erreichte der Wasserstand die Etnflußstelle, und
dann war alles verloren. Man hatte versucht, in Sohle zwei einzudringen und den
Zufluß zu verstopfen, aber es war nicht möglich gewesen, da zersplittertes, zwischen
das Gestein geklemmtes Holz den Eingang verhinderte. Es war kein Zweifel, daß
durch den Schuß die Wasserader, die man des Teufels Spundloch genannt hatte,
angeschlagen war. Wenn es nicht gelang, des Wassers durch große Pumpwerke Herr
zu werden, so war das Werk verloren, der Schacht rettungslos ertrunken.
Und der Hut? Er hatte unten auf dem Wasser geschwommen. Bei näherm
Zusehen fand man im Innern Blut und weiße Haare. Auch fand man im Deckel
die Buchstaben A. D. und eine Bierflasche eingemalt, aus deren Halse der Hefen¬
schaum auf einer Seite niederlies. Der Hut gehörte Alois Duttmüller, das war
klar. Der also den Schuß abgegeben und dabei das Leben verloren hatte, das war
Alois Duttmüller gewesen. Jetzt erinnerte man sich auch, daß er in letzter Zeit wieder¬
holt gesehen worden war, wie er sich betrunken in der Gegend umhergetrieben hatte.
Er war in großer Aufregung gewesen, hatte überall zwei Dynamitpatrvnen vorge¬
wiesen und gesagt, erst müßte seine Frau, und dann müßte der Direktor in Heinrichshall
in die Luft geschossen werden, eher würde es nicht besser in der Welt. Also dieser
Unglücksmensch hatte in seiner Betrunkenheit das Unglück angerichtet. Wie aber war
er in den Schacht gelangt, dessen Eingang doch streng bewacht wurde? Es mußte
im dem Augenblick geschehn sein, als das Militär ankam, und alle, in der Meinung,
daß die Gefahr vorüber sei, ans Thor gelaufen waren. Und wie konnte er in Sohle
zwei und um des Teufels Spundloch gelangen, da doch der Stollen versperrt war?
Dies mußte ein ungelöstes Rätsel bleiben. Hatte man die Thür fahrlässig unver¬
schlossen gelassen? oder bvshaftcrweise das Schloß beschädigt? Kein Mensch konnte
es sagen.
Bald darauf faud man unter dem Schütte eines der abgebrannten Schuppen
den bekannten Stock Duttmüllers angelobte vor. Es war also anzunehmen, daß
Duttmüller auch dieses Unheil angerichtet hatte. Dieser Schaden wäre nicht schwer
zu ertragen gewesen; wenn es aber nicht gelang, das Wasser zu zwingen, so waren
Millionen an Wert verloren, so war nicht allein die Kaligesellschaft, sondern auch
halb Holzweißig, das heißt alle, die Häuser gebaut oder Geschäfte gegründet hatten,
bankerott.
Vielleicht wundert sich der Leser, daß er von der Revolte und dem Unglücks¬
fall in Heinrichshnll seinerzeit nichts in der Zeitung gelesen hat. Wir schreiben
doch eine Geschichte aus der Gegenwart, und was in der Gegenwart geschieht, steht
doch in der Zeitung. Der Leser hat es doch gelesen. Natürlich uuter anderen Namen.
Auch hat man von den kriegerischen Ereignissen kein großes Aufhebens gemacht,
denn die Sache hatte zwar viel Pulver gekostet, war aber doch recht harmlos ver¬
laufen, ja sie entbehrte nicht eines gewissen humoristischen Beigeschmacks. Es lag also
allen Beteiligten nicht viel daran, daß die Geschichte an die große Glocke gebracht
Werde, und man vertuschte, was zu vertuschen war. Was um so leichter war, als
das Interesse durch das Begräbnis des Herrn Oberstleutnants und den Wassereinbruch
Von Heinrichshall anderweit in Anspruch genommen wurde.
Als man dem Direktor gesagt hatte, wie es stehe, und er es endlich begriffen
hatte, fuhr er aus seiner Sofaecke heraus, lachte aus vollem Halse, schlug sich auf die
Taschen und tauzte im Zimmer herum. Darauf stellte er sich gravitätisch vor Wandrer
hiu, tippte ihm auf die Brust und sagte: Wandrer, setzen Sie sich, aus Ihnen wird
nichts, Wandrer, Sie sind ein Stiefel. Darauf setzte er sich wieder in seine Sofaecke,
sank in sich zusammen, nickte mit dem Kopfe und rechnete wirre Zahlen zusammen.
Wandrer hatte seine Aktien nicht verkauft. Es wäre im Drange der Ereig¬
nisse nicht einmal möglich gewesen. Er hätte es auch nicht über sich vermocht, sich
seiner Wertpapiere zu entledigen in der gewissen Aussicht, daß sie binnen kurzem
wertlos sein würden. Er hätte das für Betrug gehalten. Er war wirklich ein
Stiefel, und vielleicht hatte der Direktor Recht, daß er mit solchen Ideen als Kauf¬
mann nicht weit werde kommen können. Es war hart, daß alles, was er in
soviel Jahren schwerer Arbeit gespart, erübrigt und gemehrt hatte, wie im Hand¬
umdrehn weg sein sollte. Man würde ja natürlich alles versuchen, das Werk zu
retten, aber Wandrer hatte nicht viel Vertrauen dazu. Er kannte die Namen
der Werke, die man nach dem Wassereinbruche nicht hatte retten können, und die
nun tot dalagen, nur zu gut. Und auch seine Stellung mußte damit unhaltbar
werden. Man würde ihm eines Tages mit Worten der Anerkennung kündige», und
dann konnte er sehen, wo er wieder ankam. Das ließ in ihm ein Gefühl der Bitter¬
keit wie über erfahrnes Unrecht entstehn. Besonders wenn er an Doktor Louis Dutt¬
müller dachte. War er etwas schlechteres als jener? Verstand er sein Geschäft
weniger als er? Warum mußte diesem Menschen alles glücken, ihm nicht? Warum
saß der mit Weib und Kind geborgen am sichern Ort, während ihm, dem sich kaum
eine erfreuliche Aussicht aufgethan hatte, alles wieder in weiter Ferne verschwand?
Aber war er es denn allein, den das Unglück getroffen hatte? Die Aktionäre waren
ebenso hart betroffen. Mancher verlor sein ganzes Vermögen und mußte den Konkurs
anmelden. Und Rummel, Drillhose, Olbrich, sie alle wurden auf die Straße geworfen
und mochten sehen, wo sie blieben. Und diese Hunderte von Arbeitern. Den Tu-
multuanten war es zu gönnen , wenn sie sich in die Nesseln gesetzt hatten, aber die
ordentlichen Leute, die Hausbesitzer, die ihr letztes dahingegeben und Geld dazu
geborgt hatten, um Wohnungen zu bauen und zu vermieten — und nun flogen die
Arbeiter davon wie die Tauben vom Schlage. Es war doch scheußlich, wie die
blödsinnige That eines einzigen Menschen so vieler Leute Existenz vernichten konnte.
Wandrer hatte in seinem Bureau an seinem Pulte gesessen, als er sich diese
Gedanken durch den Kopf gehn ließ. Man brachte die Post. Gleich oben auf lag
ein Brief, der ein verdächtiges Äußere hatte, halb amtlich halb privat, mit einem
Wappen gesiegelt und dem Poststempel Hamburg. Als er ihn öffnete, fiel ein Brief
und ein Aktenstück heraus. Der Brief war unterschrieben: York von Nienhagen.
Aha! Der Brief lautete:
Verehrter Herr Wandrer. Ich wünschte, ich konnte Ihnen eine Vorstellung
davou geben, wie schwer es mir wird, Ihnen diesen Brief zu schreiben. Aber es
muß sein. Es sei meine Strafe. Ich habe Ihr Vertrauen getäuscht, ich habe mein
Ehrenwort gebrochen, ich habe Ihre Kuxe verkauft und alles verspielt, ich habe
dazu neue Schulden gemacht — wieviel, ist nicht nötig zu sagen. Die Pistole gäbe
hier eine leichte Lösung. Aber ich habe nicht vergessen, was ich Ihnen einst im Bohn-
hnrdt versprochen habe. Ich will die Folgen meiner Thaten auf mich nehmen. Ich will
leben, wenn ich auch wenig Hoffnung habe, wieder gut machen zu können, was ich
verfehlte. Ich habe nicht gelernt zu arbeiten. Wird mirs jetzt gelingen? Ich habe
meinen Abschied genommen und werde übers Wasser gehn. Irgendwo in der Welt
wird es wohl Krieg geben, dahin gehe ich, indem ich hoffe, daß eine mitleidige
Kugel ein Ende macht. Das wäre dann wenigstens ein anständiges Ende. Wenn
Sie hören, daß irgendwo, in Zentralamerika oder Südafrika ein preußischer Offizier
gefallen sei, so werden Sie wissen, wer es gewesen ist. Um wenigstens mein Un¬
recht an Ihnen in etwas gut zu machen, habe ich Ihnen mein Erbe notariell ver¬
pfändet. Verfügen Sie darüber wie über Ihr Eigentum. Viel wird freilich nicht
mehr davon übrig sein. Und nehmen Sie sich meiner armen Eltern und Elters
an. Dulden Sie nicht, daß man sie meinetwegen beraubt. Versprechen Sie mir
das. York.
Wieder ein schwerer Schlag. Ihn traf er nicht. Was schadete es ihm, ob er
die Papiere, die doch keinen Wert mehr hatten, verlor. Im Gegenteil. Die Schuld
bei Junker war bezahlt. Sie hatte, wenn die Papiere noch dort gelegen hätten,
neu gedeckt werden müssen. Aber die arme gnädige Frau. Sie verlor an dem¬
selben Tage Gemahl und Sohn. Das freilich war ihm von vornherein klar, daß
er von dem Briefe und von dem Dokumente keinen Gebrauch machen durfte.
Die gnädige Frau hatte den Tod ihres Mannes mit großer Fassung ertragen,
sie ertrug auch den neuen Schlag mit leidendem Heldenmut. Sie hatte von Uork
einen Brief erhalten, worin dieser seine Abreise nach Chile anzeigte. Besondre Um¬
stände nötigten ihn unverzüglich abzureisen, und er bedaure sehr. . und so weiter.
Er ließ durchblicken, daß in Chile preußische Offiziere als Jnstruktore gebraucht
würden, und daß dort mehr Ruhm zu erwerben sei als zu Haus in der Garnison.
Die gnädige Fran, die so wie so schon durch die Vorbereitungen zum Begräbnis
und die laugen und schwierigen Beratungen, die diese forderten, in Anspruch ge¬
nommen war, war zwar über die plötzliche Abreise Aorks etwas betreten, kam aber
bald dazu, die Sache von der günstigsten Seite anzusehen. Sie war geneigt an¬
zunehmen, daß Chile ihrem Uork ganz besondre Chancen bieten, und daß er
ohne Zweifel binnen kurzem als General zurückkehren werde. Fatal war uur, daß
York beim Begräbnis fehlen, und daß jedermann nach ihm fragen werde. Nun,
man that ja der Wahrheit keinen wesentlichen Abbruch, wenn man die Neise als
Dienstreise darstellte. Dies feste die gnädige Fran in wehklagenden Tone ihren
Töchtern auseinander. Alice rang weinend die Hände, und Ellen biß in zornigem
Schmerze die Zähne aufeinander und schwieg. Und Duttmüller war schlechter Lanne,
machte seiner Fran Vorwürfe und fragte jedermann, woher er nun seine dreihundert
Mark wieder kriegen sollte. — Die kriegst du wieder, sagte Wandrer, wenn York
als General wiederkommt, woran, wie du ja gehört hast, kein Zweifel ist. Darauf
begab sich Duttmüller zu der gnädigen Frau, teils um nach ihrem Befinden zu sehen,
teils um mit ihr zu erwägen, welche Chancen York in Chile habe, und wie lange
es dauern werde, bis er als General zurückkehre.
Das Begräbnis des Herrn Oberstleutnants war großartig. Holzweißig hatte
etwas dem ähnliches noch nie gesehen. Der Bezirkslommaudenr, begleitet von
einer Anzahl Offiziere, kam an. Die Post brachte ganze Ladungen von Kränzen
und Palmwedeln. Drillhvse und seine Kapelle spielten ihren schönsten Trauermarsch,
der Kriegcrverein ging dem Sarge voraus, und der erste Zug mit Gewehr schoß
über das Grab, leidlich präzis, mir Zwiesel-Angust hatte nachgeklappt, und bei Kraus¬
haar war das Gewehr uicht losgegangen. Der alte Herr Pastor war krank und
wurde vou einem jungen Amtsbruder ans Altum vertreten. Dieser Herr Pastor hielt
eine schöne Rede und zeichnete das Bild des Herrn Oberstleutnants als Militär,
Christ und Mensch. Leider wurde das Porträt nicht sehr ähnlich. Woher hätte
es der junge Amtsbruder auch wissen können, wer der Herr Oberstleutnant eigentlich
war? Die gnädige Frau benahm sich tadellos. Sie war ganz Trauer, aber auch
ganz Fassung, wie es einer Dame ihres Standes ziemte.
Nachdem alles vorüber war, zog die Musik mit klingendem Spiel ab. Die
Leidtragenden zerstreuten sich erleichterten Herzens, und ein alter Kamerad sagte
zum andern: Guter Mensch gewesen, dieser Nienhngen. Ein bischen Wunderblume. —
Worauf einige Geschichten mitgeteilt wurden, die dies erhärteten.
Am schwersten war Ellen getroffen worden, Schnucki, der Liebling ihres Vaters,
aber der sah man es um wenigsten an. Es war auch keiner, der den alten Pa
so verstanden hatte wie sie. Als das Grab zurecht gemacht und mit Kränzen und
Palmen bedeckt war, ließ sie eine Gartenbank hinauf auf den Friedhof tragen und
an den Fuß des Grabes stellen. Dort saß sie, während die letzte warme Herbst¬
sonne dnrch das rote Laub schien, und pflegte das Grab und strich mit weicher Hand
über die welken Blumen, wie sie einst über ihres Pa grane Haare gestrichen hatte.
Dort traf sie nach einiger Zeit mit Wandrer zusammen. Es war das erste
mal, daß Onkel Felix und Tante Ellen sich allein begegneten, seitdem sie als Leid¬
tragende hinter dem Fahrstühle von Papa hergeschritten waren. Elters Herz wallte
auf, als sie Wandrer kommen sah, und Wandrers Angen leuchteten in mitleidigem,
freundlichem Glänze. Aber Ellen war ein tapfres, verständiges Mädchen, das ihren
Gefühlen zu gebieten wußte, und Wandrer fühlte sich heimatloser als je und un¬
berechtigter als je, Wünsche zu haben. Und so beschränkte sich ihr Verkehr auf
ein korrektes Onkel- und Tantenverhältuis. Sie reichten sich stumm die Hand und
blieben schweigend lange Zeit nebeneinander stehn.
Herr Wandrer, begann Ellen.
Herr Wandrer? wiederholte Felix in vorwurfsvollem Tone.
Onkel Felix, verbesserte sie sich, ich bin froh, daß das der arme Pa nicht
erlebt hat.
Was denn, Tante Ellen?
Das soll ich doch wohl nicht glauben, daß York nach Chile gegangen ist, um
General zu werden? York hat wieder gespielt, hat wieder Schulden gemacht und
ist bei Nacht und Nebel davon gegangen. Ist es nicht so?
So ist es.
Ich habe es gewußt. — Onkel Felix, wie wollen Sie nun wieder zu Ihrem
Gelde kommen?
Das ist verloren.
Schändlich! Onkel Felix, ich schäme mich, und ich mache mir Vorwürfe.
Tante Ellen, thun Sie das nicht. Wir hatten uns doch vorgenommen, bewußt
eine Dummheit zu machen. Wollen wir uns beklagen, daß unser Vorsatz gelungen ist?
Ach bitte, scherzen Sie nicht, es thut mir weh, und es kommt Ihnen auch nicht
von Herzen. Sie empfinden den Verlust ja doch schmerzlich.
Ja, Tante Ellen, es schmerzt mich; aber zumeist doch das, daß man einen
Menschen hat retten wollen, daß man an seine Ehre appelliert, daß man Vertrauen
auf ihn gesetzt hat, und man ist getäuscht worden.
Ja, das ist schmerzlich, aber Sie verlieren doch auch Ihr Kapital.
Nicht doch. Das war so schon verloren. Man muß es ein Glück nennen,
daß einer so gütig gewesen ist, die Papiere kurz vor ihrem Kurssturze zu kaufe».
Darum brauchen wir uus übrigens keine Vorwürfe zu machen, das war sein Pech,
bringt uns aber den Vorteil, daß Yorks Schuld, die alte Schuld, bezahlt ist.
So haben Sie mit dem Werke alles verloren?
So ziemlich. Aber man muß als Geschäftsmann eine Katzennatur haben und
es verstehn, immer wieder auf die Füße zu fallen. Man ist jung, man fängt
eben von vorn an.
Und der Direktor und Lydia haben auch alles verloren?
Nein, der Direktor nicht. Das ist ein alter Fuchs, der hat sich beizeiten
gerettet. Und doch, wer möchte mit ihm und all seinem Reichtum tauschen? Aber
hier in der Gegend wird es manchen hart treffen.
Ellen wandte sich zum Gehn, und Wandrer begleitete sie zum Kirchhof hinaus
und denselben Weg hinter den Höfen hinab, den sie einst miteinander gewandert
waren, als sie Dort gerettet hatten. Damals wars Sommer, blütenreicher Sommer
gewesen, jetzt fiel das gelbe Laub. Sie gingen schweigend nebeneinander; aber es
wäre für jeden von beiden nicht schwer gewesen, zu erraten, was der andre dachte.
Onkel Felix, sagte Ellen, sein Sie mir nicht böse.
Aber Tante Ellen, erwiderte Wandrer, wie sollte ich denn?
Ich bin ja doch zuletzt schuld. Und, nicht wahr, unser Onkel- und Tanten¬
verhältnis wird dadurch nicht gestört?
Gewiß nicht. Sie dürfen jederzeit auf mich zählen.
Darf ich? Ich fürchte, ich werde Ihre Hilfe bald brauchen.
Ellen hatte Recht gehabt. Wenig Tage nachher ließ sich bei der gnädigen
Frau ein Herr Jsidor Löwenthal melden. Dieser Herr that sehr devot, machte ein
großes Geseire und präsentierte zum Schluß eine Hand voll Wechsel, gezogen auf
Herrn Jork von Nienhagen.
Nil, sagte er, junge Leute wullen leben, dafür sind Sie jung. Junge Leute
machen Schulden. Gott soll mich bewahren, daß ich rede ein hartes Wort über
junge Leute, was macht Schulden. Es ist nicht angenehm, aber es hilft nichts,
Schulden müssen bezahlt werden, und wenn es Spielschulden sind. Schulden müssen
bezahlt werden auf den Tag. Denn wenn es nicht geschieht, verlieren die Herren
Söhne ihre Ehre und müssen hergeben ihr Portepeechen, und alle Leute weisen mit
Fingern und sagen: Siehst du wohl! Hättest du bezahlt deine Schulden.
Diesesmal hatte es die gnädige Frau getroffen. Sie sank in ihren Lehnstuhl
zurück und rang nach Atem. Ellen bemühte sich um die Mutter, und Jsidor Löwen¬
thal drehte die Daumen umeinander und ließ sich nicht aufregen. Als die gnädige
Frau wieder zu sich gekommen war, rief sie in höchster Aufregung: Doris Ehre!
Meines Sohnes Ehre! Gebt alles dahin! Verkauft alles, alles, aber rettet meines
Sohnes Ehre. Damit zog sie den Schlüsselbund aus der Tasche und warf ihn
auf den Boden. Ellen hob ihn auf und steckte ihn ein. Mama, sagte sie, beruhige
dich. Es wird alles geschehn, was geschehn kann, aber erst müssen wir es doch
überlegen.
Nu, sagte Jsidor Löwenthal, was ist da zu überlegen? Schulden werden gemacht,
und Schulden werden bezahlt, wenn heute nicht, dann morgen; aber sie werden
bezahlt.
Sie sollten bedenken, wandte sich Ellen an Löwenthal, daß Sie in einem
Trauerhause sind.
Wie heißt Trauer? Ich bin auch in Trauer, wenn ich soll um das meine
betrogen werden.
Wer redet hier von betrügen, sagte Ellen stolz, wollen Sie andeuten, daß
wir Betrüger sind?
Gott soll mich lassen verkrumpen, wo ich sowas sollte sagen. Bin ich doch
gekommen in ein nobles Haus, wo man hält auf seine Ehre, und wo man bezahlt
die Schulden von den Herren Söhnen. Und wenn es nicht gleich ist, dann ist es
später. Wollen die gnädige Frau nur setzen ihren Ruinen ans die Papierche.
Die gnädige Fran griff, ohne zu zögern, nach der Feder, die seitwärts ans
ihrem Schreibtische lag, aber Ellen legte die Hand auf die Feder und bat: Mama
unterschreibe nicht.
Da trat Wandrer ein. Er war gerade in Holzwcißig gewesen und hatte bei
Happich erfahren, daß ein unbekannter Herr orientalischen Ansehens aufgestiegen
und nach dem Fronhvf gegangen sei. Darauf hatte sich Wandrer gleichfalls nach
dem Frouhvfe begeben, ohne auf eiuen Hilferuf zu warten, und hatte Klapphorn
draußen vor die Thür postiert.
Gott sei Dank, rief Ellen, als Wandrer eintrat, und die gnädige Frau sank
erschöpft in ihren Stuhl zurück und flüsterte: Mein York, mein York!
Verzeihen Sie, gnädige Frau, sagte Wandrer, daß ich ungerufen komme, aber
es scheint, daß ich hier nötig bin. Was wünschen Sie? wandte er sich an Jsidor
Löwenthal, ohne sich bei einer Vorstellung oder dergleichen Höflichkeiten aufzuhalten.
Ich habe die Ehre, sagte Löwenthal, diese Wechselnde zu präsentieren. Wandrer
nahm sie ihm aus der Hand und sah sie durch. — Aber das sind ja gar keine
Wechsel, sagte Wandrer. Der Accept fehlt, und sie sind auch verfallen. Es scheint,
daß Sie sich die Unerfahrenheit der Damen zu Nutzen machen wollen.
Nu, sagte Löwenthal, sind es keine Wechsel, so sind es doch Schuldscheine.
Wollen Sie sich also gefälligst an den Schuldner halten.
Sie wissen so gut wie ich, daß der Schuldner ist ein fauler Kopp, der längst
ist gefahren übers große Wasser. Aber es wird sein Ehrensache von der Familie,
keinen Makel zu lassen auf der Ehre von Herrn Dort.
Bitte, lassen Sie das unsre Sache sein, und reden Sie nicht von Dingen, die
Sie nicht verstehn.
Was? ich soll nicht verstehn, was ein Makel ans der Ehre ist?
Nein. Lassen Sie uns die Sache rein geschäftlich ansehen. Herr von Nien-
hagen hat Schulden gemacht. Sie haben die Schuldforderung in Händen und prä¬
sentieren sie. Ich darf Wohl annehmen, daß Sie Strohmann sind, vorgeschoben
von gewissen dunkeln Ehrenmännern.
Gott der Gerechte, was brauchen Sie für unliebsame Ausdrücke. Ich präsen¬
tiere die Forderung, und es kann Ihnen egal sein, für wen.
Schön. Also hören Sie unsre Antwort. Wir bezahlen nichts. Also klagen
Sie gegen den Schuldner, erwirken Sie Exekution, sehen Sie zu, wie Sie zu Ihrem
Gelde kommen, aber lassen Sie die Damen hier ans dem Spiele.
Gnädige Fran, sagte Löwenthal, indem er sich erhob, ich habe es gut mit Ihnen
gemeint, ich bin gekommen, Ihnen zu erspare» die Unbequemlichkeit von der Exekution,
und daß alles wird versiegelt, und daß die Leute weisen mit Fingern auf das noble
Haus, was nicht will bezahlen die Schulden, die der Herr Sohn gemacht hat.
Ersparen Sie uns gar nichts, sagte Wandrer.
Die gnädige Frau hatte sich inzwischen aufgerafft und ihren Stolz wiederge¬
funden und sagte mit einer königlichen Bewegung ihrer Lorgnette: Bitte, Herr
Wandrer, bemühen Sie sich nicht. Ich will es nicht. Ich will alles hingeben,
um den Namen meines armen Sohnes fleckenlos zu erhalten.
Und ich, erwiderte Wandrer, muß Sie in Schutz nehmen gegen Sie selbst. Ich
habe es Ihrem Herrn Sohn versprochen.
Wenn Sie es nicht wollen besser haben, sagte Löwenthal, so erwirke ich einen
Zahlungsbefehl und lege Arrest auf das Erbe des Herrn York.
Sie wollen vermutlich sagen: Herrn von Nienhagen, sagte Wandrer.
Es genügt mir zu sagen: Aork, entgegnete Löwenthal. Soll ich machen Katz¬
buckel vor einem, der ist pleite und ist gegangen durch die Lappen? Und weil
das Erbe noch ist in der Masse, so lege ich Arrest auf die Masse, auf das Haus
und die Möbel und die Äcker.
Ellen, gieb mir die Feder, rief die gnädige Frau, ich befehle es dir.
Wandrer trat dazwischen und sagte: Gnädige Frau, Sie zwingen mich, zu offen¬
baren, was eigentlich immer verschwiegen bleiben sollte. Hier! Erzog seine Brieftasche
heraus und legte das Dokument, das die Schuldverschreibung des Dorischen Erbes ent¬
hielt, auf den Tisch. Die gnädige Frau versuchte das Schreiben zu lesen, aber ihre
Augen flogen über die Zeilen weg, ohne den Sinn zu versteh». So gab sie das
Blatt an Löwenthal weiter. Dieser verstand sogleich, daß das Erbe Aorks schon in
aller Form Rechtens verpfändet war, und daß er also zu spät kam. Er machte
also ein beträchtlich langes Gesicht. Darauf verbeugte er sich vor Wandrer und
sagte mit niederträchtigen! Tone: Ich sehe, der Herr hat Geschäfte gemacht für eigue
Rechnung. Kleines Kravattengeschnft! Nicht? Da komme ich freilich zu spät.
Wandrer verzog keine Miene, sondern öffnete die Thür, hinter der Klapphorn
stand. — Klapphorn, sagte er, werfen Sie diesen Halunken einmal die Treppe hinab.
Klnpphorn erschien und machte seine „Adlerklaue" greifbereit.
Gott der Gerechte! rief Löwenthal und zog sich zurück, Sie werden mich doch
nicht werfen lassen die Treppe hinunter. Was habe ich denn gesagt? Habe ich
nicht gesagt, daß ich komme zu spät rin dein Arrest? Habe ich doch wollen ersparen
der gnädigen Frau Unbequemlichkeit.
Wandrer winkte, und Klapphorn griff zu, worauf Jsidor Löwenthal eiligst
verschwand. Die gnädige Frau hatte sich erhoben und sagte mit zorngerötetem
Gesichte: Das vergebe ich Ihnen nicht, Herr Wandrer, nein, das vergebe ich
Ihnen nie.
Aber Mama, was denn? rief Ellen.
Daß Sie zwischen mich und meine Pflicht getreten sind, fuhr die gnädige Frau
fort. Jetzt ist Dort verloren. Ich hätte ihn retten können, und Sie haben es ver¬
hindert.
Mama, Aork ist schon untergegangen. Jetzt bist du in Gefahr, in sein Ver¬
derben hineingezogen zu werde».
Was kommt auf mich an? Ein Edelmann, der sein Wort verpfändet hat,
hält sein Wort und giebt sein letztes dahin. Eines Edelmanns Mutter darf nicht
anders fühlen als ihr Sohn. Mein armer Jork, was hat man dir zu Leide ge¬
than, daß man dich erbarmungslos in den Untergang stößt. Freilich gehört eine
edle Art dazu, zu empfinde», wie wir empfinden. Man kann es nicht von jeder¬
mann erwarten. Und ein Kaufmann fühlt — sie machte eine geringschätzige Be¬
wegung — wie ein Kaufmann.
Vielleicht, erwiderte Wandrer in voller Ruhe, vielleicht auch nicht. Jedenfalls
ist er ein Mensch, der ein dickes Fell hat. Gnädige Frau, Sie mögen sagen, was
Sie wollen, Sie werden mich jedesmal im Wege finden, wenn Sie in einen: irrigen
Pflichtgefühle sich und die Ihrigen ins Verderben stürzen »vollen. Ich habe es
Ihrem Herrn Sohne verspochen.
Die gnädige Frau wiederholte die geringschätzige Bewegung, indem sie auf
das auf dem Tische liegende Dokument wies, und rauschte hinaus.
Mama, rief ihr Ellen nach, du thust Herrn Wandrer bittres Unrecht. —
Darauf wandte sie sich, mit Thränen in den Augen, zu Wandrer und sagte: Sie
armer Onkel Felix, Sie erleben in unsern: Hause vielen Undank.
Schadet nichts, erwiderte Felix. Einem Menschen gegen seinen Willen helfen,
ist für den Augenblick eine undankbare Sache; hernach aber lohnt es sich, glauben
Sie mir, Tante Ellen.
Wenn ein Mann stirbt, der, wie der selige Herr Oberstleutnant, etwas un¬
geordnete Verhältnisse hinterläßt, so gebärden sich die Leute wie die Geier, die auf
ein gefallues Tier niederstoßen. Jeder will dem andern zuvorkomme» und von dein
Nachlasse sein Teil oder etwas mehr als sein Teil haben. Und dabei gebärden
sich die Leute, als müßten sie cmderntags verhungern, wenn sie nicht befriedigt
würden. So mich hier. Es liefen Rechnungen von allen Seiten ein, darunter
auch solche, die schon bezahlt waren, grobe Mahnbriefe, Kündigung von Kapital.
Leute zweifelhafter Art, die sich das Inventar ansahen und die einzelnen Stücke
ungeniert taxierten, kamen angezogen. Es sah aus, als habe sich die Welt vorge¬
nommen, die Frauen es entgelten zu lassen, das; sie den Herrn Oberstleutnant hatten
sterben lassen, ohne Gut und Besitz gänzlich aufgezehrt zu haben. Wer weiß, was
geschehn wäre, wenn die gnädige Frau nicht Wandrer zu Hilfe gehabt hätte. Die
gnädige Fran sah Wandrer zuerst als Luft an, dann ließ sie gnädig geschehen, was
sie nicht ändern konnte. Dann hielt sie sich verpflichtet, in die Ordnung der Ver¬
hältnisse einzugreifen. Sie hielt lauge Reden, die mit besondrer Vorliebe auf Tante
Maud und die Verhältnisse in Seroopshire-Castle zurückkamen, sie bestand darauf,
die Geschäfte nach Sympathie und Antipathie abzuwickeln, sie mischte ihren Schmerz,
Ehre, Jork, Geld und Lorgnette alles durcheinander und machte dadurch die Arbeit
Ellen und Wandrer noch einmal so schwer und beanspruchte viel christliche Geduld.
Als alle Rechnungen bezahlt, die ungeduldigen Gläubiger abgefunden, die geduldigen
sichergestellt waren, kam heraus, daß der Fronhof zwar schwer belastet sei, daß aber
die Damen bei mäßigen Ansprüchen zu leben hatten.
Aber Louis Dnttmüller machte Schwierigkeiten. Daran war die alte Duttmüllern
schuld, die öfter als je das Bild des kompletten Frauenzimmers mit ihren drei
Häusern in Magdeburg auftauchen ließ und anzügliche Redensarten brauchte von
vornehmem Volke, das nichts hat und nichts leistet und nichts kann, nicht einmal
ordentlich Strümpfe stopfen. Und das war immer dann am schlimmsten, wenn die
Duttmüllern mit der Drillhosen zusammengewesen war, der Drillhosen, die schon
wieder geerbt hatte und mit ihrer Renommisterei reinweg unerträglich war. Wenn
nun die alte Duttmüllern eingeheizt hatte, dann war Louis Duttmüller schlechter Laune,
gönnte seiner Frau kein freundliches Wort und behandelte sie wie eine Last, die
man sich thörichterweise aufgeladen hat und nicht wieder loswerden kann. Das fühlte
Allee nur zu tief, und es gab verborgne Thränen, schlaflose Nächte und bleiche
Mienen. Das konnte auf dem Fronhofe nicht unbemerkt bleiben, man fragte, erhielt
aber keine Antwort. Mama schob das Übelbefinden auf die Trauer um Papa,
Elleu aber machte hinter Duttmüller eine Faust und sagte: Alter ekliger Kerl. Danke
Gott, daß ich nicht deine Frau bin.
Als der Nachlaß geordnet wurde, verfehlte die alte Duttmüllern nicht, alle
Tage ihre Befürchtung auszusprechen, daß ihr Louis zu kurz kommen könnte, und
ihn drittglich zu ernähren, nach dem Rechten zu sehen. Die alte Gnädige sei eine alte
Suse, aber Ellen habe es hinter den Ohren, und was eigentlich Wandrer mit der
Sache zu thun habe, und warum er sich immer auf dem Fronhofe umhertriebe, könne
kein Mensch wissen. Einen Haken habe aber die Sache ganz gewiß. Louis Duttmüller
steckte also eine wichtige Miene auf, erschien unter allerlei Vorwänden auf dem Fron-
Hof und machte Felix Wandrer gegenüber allerlei Andeutungen und Redensarten über
Rechte, die man zu wahren gesonnen sei, und daß man es schon zu seinem Schaden
erfahren habe, sich mit solchen Leuten eingelassen zu haben.
Ich bitte dich, Louis, sagte Wandrer, was willst d» eigentlich? Das klingt ja
gerade so, als bereutest du es, Alice geheiratet zu haben.
Louis antwortete mit beredtem Schweigen.
Louis, fuhr Wandrer fort, hüte dich. Wer sein Glück verachtet, dem kehrt es
den Rücken. Wer so eine Frau hat, wie du, der sollte nie fragen, was hat sie
denn? Ist sie nicht selber ein Schatz?
Ach was, entgegnete Louis, ich lasse mich nicht beschwatzen, ich will klar sehen.
So sieh doch klar, sagte Wandrer und wiesauf die Auseinandersetzung. Aber
Louis verstand die Zahlen ebensowenig wie die gnädige Frau, wenigstens vermochte
er es nicht, sich so von der Richtigkeit überzeugen zu lassen, daß sein Mißtrauen
geschwunden wäre. — Und meine dreihundert Mark, die ich York geborgt habe?
die werden wohl auch verloren sein.
Ja, das werden sie Wohl.
Werden sie Wohl! — Dn hast gut reden. Aber ich renne mir den Bast von
den Füßen, um ein paar Kröten zu verdienen, und dann wirft man sie hinter so
einem nobeln Lumpen her. Ich habe ein Haar darin gefunden, mit dieser nobeln
Gesellschaft, die thut, als gehöre ihr das Königreich Preußen, und ist nichts da¬
hinter. — Damit zog er ab, und bei der nächsten Gelegenheit brachte er seine alten
Klagen von neuem vor.
Jetzt fing Ellen an, in Edelmut zu verfallen und zu verlangen, daß man Alice
Duttmüllers wegen ihr Erbe auszahle, denn jetzt wurde es offenbar, daß diese
unter dem Geize Duttmüllers litt. Wandrer widersprach. Es sei alles geschehn,
wenn das Erbe sicher gestellt sei. Die gnädige Frau brauche es nicht auszuzahlen
und dürfe es nicht auszahlen. Wovon wollte sie denn selbst leben? Man müsse
alles, was noch da sei, klug zu Rate nehmen und sich einschränken.
Nunmehr machte die gnädige Frau Schwierigkeiten. Mau erwog, daß es das
beste sei, den Fronhof zu verpachte» oder zu verkaufen. Aber die gnädige Frau
wehrte sich mit Händen und Füßen. In die Stadt ziehn, eine kleine Wohnung
mieten, sich in kleinbürgerliche Verhältnisse finden? Niemals. Sie habe ihre Jugend
auf Scroopshire-Castle bei Tante Maud verlebt, sie sei die Besitzerin von Saud-
hasenhanscn gewesen, sie sei nicht erzogen für die Armseligkeit eines kleinbürger¬
lichen Lebens. Wenn man ihr den Fronhof nehmen wolle, so möge man sie lieber
gleich töten. Sie werde jeden, der sie zwinge, den Frvnhof zu verlassen, als ihren
Feind ansehen, sie werde lieber ihr letztes hingeben, als daß sie sich von ihrem
Adelssitze vertreiben lasse. — Es fehlte nicht viel, so hätte sie Wandrer ihre Lorgnette
vor die Füße geworfen.
Man mußte also auf dieses Radikalmittel vor der Hand verzichten. Aber dann
mußte wenigstens der Hausstand verkleinert und das überflüssige Personal entlassen
werden. Die gnädige Frau mußte die Notwendigkeit dieser Maßregel seufzend zu¬
geben und übernahm es, Rosa zu kündigen.
Rosa saß in ihrer Küche vor dem Ofenloche, dumpf brütend. Es sah schlimm
aus in der Küche, es roch auch schlimm, süß-fuselig. Rosa sah auch schlimm aus.
Sie trug die Nachtjacke, hatte sich die Haare nicht gemacht, und ihre Nase war
röter als je.
Rosa, sagte die gnädige Frau. — Rosa nahm von der Anrede keine Notiz. —
Sie wissen, welche betrübende Wendung der Tod des gnädigen Herrn in unserm
Hause verursacht hat.
Weiß ich, sagte Rosa.
Es thut mir leid, fuhr die gnädige Fran fort, Ihnen sagen zu müssen, daß
wir uns werden trennen müssen. — Rosa antwortete nicht, sondern stierte in das
Ofenloch. — Wir waren mit Ihnen nicht unzufrieden.
Na also! sagte Rosa.
Aber es wird nichts helfen.
Nee, gnädige Frau, sagte Rosa, es hilft nichts, denn das schwöre ich Ihnen
zu — hier hob sie die bewußten drei schmutzigen Schwurfinger hoch —, Sie kriegen
mich nicht mit vier Pferden fort. Jetzt, wo sich die Lebensschicksale entscheiden, jetzt,
wo Glück und Unglück walten — weggehn? Niemals! Niemals!
Aber wir bedürfen Ihrer Dienste nicht mehr.
Niemals, niemals! Gnädige Fran, ich schwöre Ihnen: Niemals!
Es war nichts zu machen. Rosa stärkte sich täglich um des Herrn Oberst¬
leutnants hinterlassenen Rum und lehnte alle Kündigungsversuche standhaft ab. Es
war uur ein Mensch vorhanden, der ihrer mächtig geworden wäre, die Duttmüllern,
aber die Duttmüllern war sehr ingrimmig und gab eine ungnädige Antwort.
Onkel Felix, sagte Ellen halb lachend halb weinend, als sie auch ihrerseits
an dem Widerstande Rosas Schiffbruch gelitten hatte, helfen Sie uns, wir werden
diese Person nicht los.
Nach einigen Tagen gab es in der Küche eine hvchdramatische Szene, die
mehreren Töpfen und Tellern das Leben kostete. Rosa wütete. Sie sah aus wie
ein Feuerbrand, fing mit jedermann Streit an, redete von der gnädigen Frau in
den unehrerbietigsten Ausdrücken, nannte Klapphorn ein altes Kamel und warf der
Eberten deu Scheuerlappen an den Kopf. Darauf erschien sie in ihrem besten
Staate, deu Sonnenschirm in der Hand, den Hut vermögen auf dem Kopfe, in dem
Salon der gnädigen Frau. Die gnädige Fran saß am Kamin. Rosa ließ sich ihr
gegenüber im Lehnstuhl nieder und sagte: Ich bedaure.
Die gnädige Frau war sprachlos.
Ich bedaure, fuhr Rosa fort, mit ihrem Sonnenschirm Figuren auf deu Teppich
schreibend, aber ich bin nicht kompafel, hier mein junges Leben zu vertrauern. Wenn
man bei Generalen und Exzellenzen gedient hat — Leben Sie wohl, gnädige
Frau — nicht sehen sowas! sage ich Ihnen. Leben Sie wohl. — Darauf zog sie
laut singend wie ein zorniger Fink ab und ward nicht mehr gesehen.
Als dies Wandrer erfuhr, lachte er. — Onkel Felix, fragte Ellen, wie haben
Sie denn das fertig gebracht?
Ganz einfach, erwiderte Wandrer, ich habe ihren geliebten Bergmann über
die Grenze gebracht und ihm eine Stelle im Hannoverschen verschafft.
Nun kam noch Klapphorn in Frage. Klapphoru hatte schon Lunte gerochen,
zog hinter Wandrer her, wo er ihn sah, und sagte schließlich: Herr Wandrer, legen
Sie ein gutes Wort für mich ein.
Klapphorn, antwortete Wandrer, es wird nicht gehn. Sie sind doch ein ver¬
ständiger Mensch und sehen doch ein, daß die Damen nicht mehr in der Lage sind,
sich einen Bedienten zu halten.
Befehl, Herr Wandrer, das weiß ich. Aber die gnädge Fran und gnädiges
Fräulein Ellen können doch nicht ohne männlichen Schutz in dem alten großen Hause
wohnen.
Das ist richtig. Man wird sich nach einem Hausmann, der nicht viel kostet,
umsehen müssen.
Herr Wandrer, ich mache es auch billig. Wenn mir die gnädige Frau die
Wohnung läßt und mir erlaubt, in der Besenkammer meine Böttcherei einzurichten,
denn ich bin gelernter Böttcher, dann könnte ich wohnen bleiben und könnte mir
mein Brot verdienen, und könnte auch, wenn olle Pfeifsache ist, oder wenn Besuch
kommt, aufwarten. Wissen Sie, Herr Wandrer, ich bin ein alter Kerl geworden
und habe niemand auf der Welt, wie meines Bruders Sohn, der aber auf der
See ist; ich möchte nicht gern wieder auf die Walze gehn.
Wandrer trug die Sache der gnädigen Fran vor. Die gnädige Frau faud
Anstoß bei dem Gedanken, daß in ihrem Hause, einem alten Edelsitze, Handwerk
getrieben werden sollte, aber sie versöhnte sich mit dem Verstoße gegen den Standes¬
brauch bei dem Gedanken, bei besondern Gelegenheiten einen Livreediener nicht ent¬
behren zu müssen. Und Ellen klopfte ihrem alten Klapphorn ans die Schulter und
sagte: Klapphorn, Sie sind ein alter guter Kerl, wir bleiben zusammen, solange
es geht.
So geschah es. Klapphoru blieb wohnen; er hätte es leicht gehabt, sich aus
der Küche zu beköstigen, aber er bestand darauf, sich sein Brot zu verdienen. Und
er that es auch. Die Böttcherei war bald eingerichtet. Und da keine Konkurrenz
im Dorfe vorhanden war, so fehlte es auch nicht an Arbeit. Wenn die gnädige
Frau einmal das lustige Klopfen von unten hernnf hörte, schlug sie die Augen gen
Himmel und seufzte schmerzlich. Elleu aber trat gern bei Klapphorn ein, denn ihr
Laboratorium und die Besenkammer lagen nebeneinander und waren durch eine
Thür verbunden. Sie setzte sich ans einen umgestürzten Kübel und sah zu, wie
Klapphoru auf seiner Schnitzebank Faßtauben schnitt. — Klapphorn, sagte sie bei
einer solchen Gelegenheit einmal, ich möchte, ich wäre wie Sie.
Da könnten sich gnädiges Fräulein aber auch was besseres wünschen, antwortete
Klapphorn.
Ich Weiß doch nicht, meinte Ellen. Ich finde es sehr gut, wenn ein Mensch
etwcis gelernt hat. Wenn dann Not an Mann ist, dann kann man sich helfen.
Und als einmal Onkel Felix hinzukam, sagte sie: Sehen Sie, Onkel Felix, das ist
das Los von uns armen alten Mädchen: zusehen, wenn andre arbeiten.
Arm? erwiderte Wandrer; Tante Ellen, uur der ist arm, der sich selbst auf-
giebt. Alt? nun ich meine, mit neunzehn Jahren hat es noch gute Weile bis zur
späten Jungfrau.
Ja. Aber meine Zeit ist vorüber. Von jetzt an geschieht in meinem Leben
nichts mehr. Man treibt sich als Tante bei wohlwollenden Verwandten herum,
und dann wird man eingefangen und in ein adliches Stift gesperrt, wie eine über¬
komplette Sache, die man in den Schrank stellt. Ach Onkel Felix, Sie haben es
gut. Sie können von neuem anfangen, und wenn Sie den Boden unter sich ver¬
lieren, dann können Sie sich wieder aufrappeln. Aber wir armen Mädchen sind
wie die Maikäfer, die ans den Rücken gefallen siud. Da hilft kein Krabbeln, man
kommt doch nicht wieder auf die Beine. Onkel Felix, freuen Sie sich Ihrer Freiheit.
Aber Tante Ellen, ich freue mich ganz und gar nicht darüber.
Und, Onkel Felix, binden Sie sich nicht, halten Sie sich die Hände frei, das
ist mein aufrichtiger Rat.
Bekanntlich
ist in Preußen seit vorigem Herbst nicht nur das Studium der Medizin, sondern
auch das Rechtsstudium den Abiturienten der Realgymnasien (und der Oberrealschulen)
freigegeben worden. Während die erste Berechtigung allgemein geworden ist, be¬
schränkt sich die zweite zunächst auf Preußen. Da man aber doch preußische Realgym¬
nasiasten uicht Wohl vom juristischen Studium auf andern deutschen, außerpreußischen
Universitäten ausschließen kann, so hat das sächsische Kultusministern!» für die Uni¬
versität Leipzig ihre Zulassung zum Studium genehmigt, nicht aber zu den Staats¬
prüfungen, die ja auch Praktisch für „Nichtsachsen" (dieser schöne Name figuriert
noch immer in der Leipziger Uuiversitätssprache, weil man sich immer noch nicht
entschließen kann, die drei natürlichen Abteilungen zu bilden: Sachsen, andre Reichs¬
angehörige, Ausländer) kaum in Frage kommen. Während also Nealgymnasiasten,
wenn sie nur „Nichtsachsen" sind, in Leipzig das Jus studieren können, bleiben
solche, wenn sie das Unglück haben, Sachsen zu sein, vom Nechtsstudinm der hei¬
mischen Universität ausgeschlossen, in Preußen aber würden sie zugelassen werden;
nur daß bei den chinesischen Mauern, die deutsche Staaten noch immer um sich zu
ziehn für zeitgemäß halten, wenn es sich um die juristische Vorbereitung für den
Staatsdienst handelt, selten ein „deutscher Ausländer" anderswo als in seinem
Heimntstacit diese Staatsprüfungen bestehn wird. Das sind doch nnn offenbar
unhaltbare Halbheiten. Wodurch haben die sächsischen Realgymnasien diese offizielle
Degradation im Vergleich mit ihren preußischen Schwesteranstalten verschuldet? Und
glaubt man denn in Dresden, in dieser Beziehung Sachsen als eine Insel behandeln
und dem Laufe der Zeit auf die Dauer widerstehn zu können, nachdem der führende
Bundesstaat für zwei Drittel der deutsche» Reichsangehörigen die alte Schranke
niedergerissen hat? Ein solches einseitiges Vorgehn auf der eiuen, ein solches Zurück¬
bleiben ans der andern Seite legt den Gedanken an eine von gewissen Leuten so ge-
fürchtete weitere Allsdehnung der Reichskompetenz recht nahe. Denn was da geschehn
ist, das ist geradezu ein Rückschritt, ein Rückfnll in die alte Zerrissenheit.
Aber die Maßregel hat jüngst im Landtage, vor allem in der Ersten Kammer,
warmen Beifall gefunden. Der Vertreter der Universität Leipzig, der Jurist Professor
ol'. Wach, hat es in der Sitzung vom 2. Juni als die Überzeugung der gesamten
(Leipziger) Juristenfakultät ausgesprochen, „daß die humanistische Vorbildung für
den juristischen Beruf unerläßlich sei." Denn das Recht sei „eine spezifisch-historische
Wissenschaft," und es sei „nirgends gefährlicher im Stnntsleben, als wenn im Ge¬
biete des Rechtslebens der wurzellose Radikalismus dominiere." Außerdem werde
ein Rechtslehrer, der vor Studenten verschiedner Vorbildung doziere, von denen
einem Teile „die elementarsten Vorkenntnisse aus der römischen Geschichte, der
lateinischen Sprache u. s. f." fehlen, seine Vorträge „degradieren." Von diesem
ebenso richtigen als nicht eben durch Neuheit überraschenden Gedankengang aus
sprach der Redner den Nealgymnasialabitnrientcn die Befähigung zum Rechtsstudium
ab, soweit das in seiner auf Sachsen beschränkten Kompetenz lag.
Uns scheint, wenn die Universitäten eine „Degradation" durch Zulassung nicht
„humanistisch" vorgebildeter Rechtsstudenten fürchten, dann hätten sie sich etwas früher
und kräftiger und an ganz andrer Stelle rühren müssen. Sie haben sich die Zu¬
lassung der Realgymnnsiasten zum Studium der neuern Sprachen, das doch auch
Wohl nur auf „humanistischer Grundlage" ersprießlich ist, und zur Medizin gefallen
lassen. Leipzig hat seit langen Fahren unter gewissen Bedingungen seine Pforten
sogar Seminaristen geöffnet, und eine starke Partei drängt überall darauf hin, Leute
mit aller möglichen Vorbildung aufzunehmen, unbekümmert darum, ob die Rücksicht
auf sie den Dozenten von seiner wissenschaftlichen Höhe herabzieht; vollends die
„Hochschnlvorträge," eine vollkommen überflüssige Nachahmung amerikanischer Be¬
strebungen und eine anspruchsvolle Aufwärmung der längst überall üblichen an¬
spruchslosen populärwissenschaftlichen Vorträge, gehn darauf aus, den geneigte«
Zuhörern von der allerverschiedensten und oft allermangelhaftesten „Vorbildung"
die Ergebnisse schwerer wissenschaftlicher Arbeit möglichst schmerzlos beizubringen.
So lauge es noch Zeit war, das „Monopol" der Vorbereitung für die meisten
Universitätsstudien den humanistischen Gymnasien zu erhalten, da haben die Universi¬
täten vornehm die Hände in den Schoß gelegt, als wenn sie die ganze Frage
nichts anginge; jetzt, da nichts mehr zu halten ist, möchte wenigstens die juristische
Fakultät Leipzig den Realgymnasiasten — wohlgemerkt nur den sächsischen — die
Thür vor der Nase zuschlagen, um diese Heiligtumschänduug abzuwenden, denn
die Juristen sind eben der vornehmste Stand im deutschen Staate, der sich nicht
durch „minderwertige Elemente" entweihen darf.
Das beste an der ganzen Argumentation aber ist, daß sie von einer völligen
Unkenntnis des Realgymnasiums ausgeht. Was sie fordert: humanistische und
historische Bildung, das bietet doch auch diese Anstalt, wenngleich nicht in dem Um¬
fange wie das humanistische Gymnasium, denn das Griechische fehlt ganz, und das
Lateinische wird nicht ganz so intensiv betrieben. Immerhin verfügt es an den
preußische» Realgymnasien in allen neun Klassen über 49 Wochenstunden (an den
humanistischen über 68), an den sächsischen über 54 (also über 5 Stunden mehr
"is in Preußen; an den humanistischen Schulen über 71 bis 73); was der künftige
Jurist für das Verständnis der römischen Rechtsquellen „braucht," nachdem man
nun einmal verkehrterweise die Frage so gestellt hat, das lernt er auch auf dem
Realgymnasium, auf dem sächsischen vielleicht sogar noch besser als auf dem
preußischen, und außerdem ist doch wohl auch die größere Kenntnis des Real-
gymnasiasten in französischer Sprache und Litteratur, zu der noch die des Englischen
als ein Vorzug hinzukommt, nicht so ganz gleichgiltig, mag vielmehr manche Schwächen
der Bildung ersetzen. Daß dem Realgymnasiasten die tiefe „Kulturperspektive," die
die Kenntnis des Griechischen eröffnet; fehlt, ist richtig, aber ob die bisherige meist
sehr rasche Vorbereitung von Realgymnasialabitnrienten zur sogenannten Ergänzungs-
Prüfung, die ihnen auch in Sachsen alle Universitütsfächcr öffnet, wirklich besonders
wertvoll ist, das ist stark zu bezweifeln; in, sueenm se sg.nxuin<zu geht das Griechische
auch tüchtigen Leuten — und andre wagen die Probe nicht — uns diesem Wege
nicht über. Was dann die historische Bildung, die doch auch und vornehmlich durch
den deutschen und den geschichtlichen Unterricht vermittelt wird, anbetrifft, so sind die
preußische« Lehrpläne von 1901 in beiden Fächern für das humanistische und das
Realgymnasium vollkommen gleich, in Sachsen unterscheiden sich die Vorschriften
bei der Verteilung des geschichtlichen Stoffs stärker, verfolgen aber dieselben Ziele.
Banausen wird es immer geben, aber von der Vorbildung hängt das nicht allein ab.
So lösen sich die sachlichen Gründe, die der Vertreter der Universität Leipzig
der Zulassung der (sächsischen) Realgymnasiasten zum juristischen Studium (in Leipzig)
entgegenhielt, bei näherer Betrachtung in eitel Dunst auf. Sie blieben auch in der
Kammer nicht unwidersprochen, denn der Oberbürgermeister vou Dresden, Dr. Beutler,
selbst der Zögling des humanistischen Gymnasiums Planen i. V., nahm die Real¬
gymnasien in Schutz, nur nicht energisch und eingehend genug. Aber die weitern
Gründe wurden gar nicht berührt, die Debatte stand keineswegs auf der Höhe des
Gegenstandes. Wir sind trotzdem der Überzeugung, daß, was in Preußen recht ist,
mich in Sachsen bald billig sein wird, und daß die Zeit, wo mau die eignen Landes¬
kinder in Leipzig schlechter behandelt als preußische Studenten, bald vorüber gehn
wird, ohne daß der sächsische Juristenstand von seiner Höhe herabsteigt.
Ein Leser schreibt uns: Mit großem Interesse habe
ich soeben in Nummer 22 der Grenzboten den Aufsatz vou R. Geest: „Rückständiges
in unsrer deutscheu Wehrordnung" gelesen; den Vorschlag, Unteroffiziere und Offiziere
als Landwirte anzusiedeln, kann man nur billigen. Aber etwas Neues ist dies nicht,
denn der alte Fritz hat nach Beendigung des siebenjährigen Krieges alte, aus¬
gediente Unteroffiziere im Spreewalde des Kottbuser Kreises, der nach seiner Meinung
als Ackerland wenig Wert hatte, angesiedelt. Jeder erhielt eine Fläche vou sechzehn
Magdeburger Morgen angewiesen, die er urbar machen und gegen einen jährlichen,
kleinen Erbzius als Eigentum besitzen und bewohnen sollte. Das war die Pension,
die der alte Fritz zahlte! Noch heute besitzt ein großer Teil der Kolonisten die
Urkunden. Leider mußten diese Ansiedler, da alles um sie her wendisch war, diese
Sprache erlernen, und jetzt sind es gerade ihre Nachkommen, die auf ihren einsamen
Höfen am zähesten und festesten an der wendischen Sprache festhalten. Ähnliches
würde freilich von den heutige» Unteroffizieren und bei den Verkehrserleichterungen
der Gegenwart nicht zu befürchten sein.
MHM>
^W^s?<vs ist bedauerlich, daß sich ein Teil der französischen Presse und
auch einige Schweizer Blätter, die unter westnachbarlichem Ein¬
flüsse stehn, noch immer nicht über die befestigten Anlagen
beruhigen können, die jetzt Deutschland angeblich ans unberech¬
tigten und unerwarteten Gründen zum Schutze seiner Südwest¬
front anlegen wolle. Der verständige Teil der deutschen Presse hat jn aus
Gründen des Patriotismus, und weil es anch sonst gut informierten Bericht¬
erstattern schwer fallen sollte, eine zutreffende Kenntnis von den Absichten
unsrer Lnndesverteidigungskominission zu haben, bisher davon Abstand ge¬
nommen, auf die Herausforderungen tendenziöser ausländischer Blätter einzu-
gehn. Auch wir wollen hier an dieser Richtschnur festhalten und ohne Be¬
achtung des Zetergeschreis unsrer westlichen Nachbarn auf ein Thema eingehn,
das zwar nicht unmittelbar mit den Grenzbefestigungen zusammenhängt, aber
doch von außerordentlicher Bedeutung für alle die Fragen sein dürfte, die nicht
nur für einen etwaigen Krieg zwischen Deutschland und Frankreich an den
schweizerischen und den italienischen Grenzen, sondern vielleicht bei jedem
großen enropäischen Kriege in den Vordergrund treten können.
Rings um das italienische Niederland vom Ligurischen bis zum Adrin-
tischen Meere lagern die Gebirgsmassen der Alpen. Die Böschung dieser
geographisch ein zusammenhängendes Ganze bildenden, großartigen UmWallung
ist auf der nördlichen Seite weniger steil als auf der südlichen, weshalb die
Nachbarvölker leicht nach Italien dringen und die Geschicke des Landes lange
Zeit bestimmen konnten. Aber seit Italien ein geeintes Königreich geworden
ist, sind die Zeiten vorbei, wo die Ebnen der Lombardei ein dauernder
Kampfplatz namentlich zwischen Frankreich und dem Hause Habsburg waren.
Doch das neue Reich hat in seiner jetzigen Großmachtstcllung die europäischen
Interessen mit zu überwachen, und deshalb müssen auch seine Verkehrslinien
in den Alpen nicht nur in handelspolitischer, sondern anch in militärischer Be¬
ziehung richtig gewürdigt werden.
Schon oft sind die Alpen von Heeren überschritten worden, in neurer
Zeit auf den bekannten Straßen, die Napoleon I. durch die Verzweigungen
des westlichen Gebirges legen und vervollkommnen ließ, sowie auf den schweize¬
rischen und tirolischen Alpenstraßen, nachdem während der Friedensjahre seit 1815
die Schweiz und Österreich dort in dem Bau von Gebirgskuustwegen gewetteifert
hatten. Erst in neuster Zeit sind die Alpen von Eisenbahnen durchschnitten,
und zwar durch sechs Hauptgeleise, die Italien mit dem übrigen Europa ver¬
binden. Mit Naturnotwendigkeit schließen sich diese Schienenwege im allgemeinen
den großen Alpenstraßen an, oder sie umgehn die Flügel des Gebirges.
Eine direkte Verbindung Frankreichs mit Italien vermitteln die Corniche-
bahn und die Mont Cents-Bahn. Die erste läuft etwa 200 Kilometer neben
der wegen ihrer landschaftlichen Schönheit bekannten Straße der Riviera ti
Ponente, die sich von Nizza längs der felsigen Meeresküste am Fuße der
Seealpen hinschlüngelt, nach Genua. Die Mont Cenis-Bahn, die bei einer
Länge von 180 Kilometern Chambery in Savoyen mit Turin verbindet und in
einem 13,45 Kilometer langen Tunnel den Grundstock der Cottischen Alpen
durchbohrt, ist als Glied des Überlandweges London-Paris-Brindisi-Suez
von höchster Bedeutung. Deutschland und Italien sind auf dem kürzesten
Wege durch die Gotthardbcchn verbunden. Von dem Znger See nach dein etwa
180 Kilometer entfernten Ufer des Lago Maggiore führend, läuft sie unter
dem mächtigen Gebirgsknoten des Apolitischen Alpenmassivs durch einen
14,9 Kilometer langen Tunnel und macht Genua zum Trausitwclthafen für
den Verkehr Mitteleuropas mit den levantinischcn und den atlantischen Häfen.
An ihre Linie, die den zentralen Kernpunkt der Schweiz da schneidet, wo sich
deren große Straßenzüge kreuzen, knüpft sich das militärische Interesse in her¬
vorragender Weise. Die Brenner- und die Semmeringbcchn ermöglichen den
nächsten Verkehrsanschluß Österreichs an Italien. Jene geht zwischen Inns¬
bruck und dem 135 Kilometer davon entfernten, am Südabfall der tirolischen
Alpen liegenden Handelsplatz Bozen über die Paßhöhc des Brenners, diese
stellt die Verbindung zwischen Wien und Trieft her und durchschneidet, vom
Leithabecken in das nahe Mürzthal laufend, mit einer größern Anzahl von
Viadukten und Tunneln einen der vielgliedrigen Querriegcl der steirischen Alpen.
Beide Bahnen sind wichtige Verkehrslinien, obwohl ihr ursprünglich strategischer
Zweck, die transalpine lombardische und venetianische Stellung zu behaupten, für
Österreich hinfällig geworden ist. Als sehr nutzbare Seitenverbindung kommt
endlich die Arlbergbcchn zur Geltung, die bei 130 Kilometern Weglünge von
Zürich nach Innsbruck läuft und als die kürzeste Verbindung des nordöstlichen
Frankreichs und des südwestlichen Deutschlands mit den adriatischen Häfen für
den Handelsverkehr wie militärisch einen besondern Wert beanspruchen kann.
Diese Alpenbahnen sind durchgehende Linien, eingeengt in schmale Thäler
und Tunnel und nur selten durch Zwischenglieder verbunden. Ihre Ver¬
zweigungen beginnen erst diesseits und jenseits der Berge. Sofern man also bei
einem Massentransport von Truppen auf sie angewiesen ist, ist man mit seinen
Streitkrüften, die so riesenhafte Defileen passieren sollen, einem gefechtsbereiten
Gegner gegenüber in der ungünstigsten taktischen Stellung. Aber die Eisenbahnen
sind die Lebensadern der modernen Kriegsführung; sie allein ermöglichen die
Verpflanzung ganzer Heereskvrper von einer Landeszone zur andern durch ein
schwieriges Durchgangsgcbiet. Eine Kriegspraxis ohne Eisenbahnbenntznng ist
geradezu unmöglich geworden, und leistnugSsiihige Schienenwege, die zu Opera-
tionslinicn geeignet sind, müssen deshalb unter allen Umständen ausgenutzt
werden. Zur Sicherheit größerer Bahnstrecken, die in ein feindliches oder auch
neutrales Gelände hineinführen, ist es vor allem nötig, seine eigne Überlegen¬
heit an Streitmitteln geltend zu machen, wobei man in unsrer Zeit über eine
unbedingte Beachtung der sogenannten gewährleisteten Neutralitäten nicht zu
ängstlich denken darf. Deun eine völlige Jnteressenlosigkeit einzelner Staaten
wird es in den Tagen europäischer Zukunftskämpfe kaum geben; auch dürfte
keine Heeresführung fernerhin Anstand nehmen, wo es der eigne Vorteil ge¬
bietet, neutrales Land ohne weiteres zu betreten. Wie schou 1805 ein fran¬
zösisches Armeekorps durch das neutrale preußisch-fränkische Gebiet marschierte,
um rechtzeitig zur Verstärkung des Hauptheeres nach Mähren zu gelangen,
oder die Österreicher 1813 beim Vormarsch zum Rhein trotz alles eidgenössischen
Protestes durch die Schweiz zogen, so werden die kriegführenden Mächte künftig
ihre Heere lediglich ans den strategisch zweckmüßigsten Eisenbahnlinien vorzu¬
schieben suchen, gleichviel ob diese durch die Ardennen oder durch den Gott-
hardtunncl laufen.
Freilich bleibt es eine offne Frage, inwieweit dort ein kräftiger Widerstand
entgegengesetzt werden kann. Übrigens haben die Bahnverwaltungen, denen
der Transport von Truppen und Kriegsmaterial obliegt, in dem nächsten
Kriege mit ganz andern Zahlen zu rechnen als 1870, obgleich das Eisenbahn¬
netz mit seinen Betriebsmitteln eine wesentliche Verstärkung erfahren hat. Dazu
kommt, daß nicht nur durch die Art der Verkehrswege, sondern auch durch die
Schnelligkeit des heutigen Nachrichtenwesens die Heeresleitung gegen früher
wesentlich erleichtert, also auch zu einer um so schnellern entscheidenden Ma߬
nahme hingedrängt wird. Wie die Eisenbahnbeförderung großer Truppenmassen
nach einem strategisch wichtigen Punkte den trennenden Raum, das Haupt¬
hindernis des Zusammenwirkens der Streitkräfte, überwindet, so bleibt der
Erfolg abhängig von dein raschen Aufmarsch und der Verpflegung der kolossalen
Heere der Gegenwart, d. h. von der richtigen Benutzung und der Leistung der
Eisenbahnen.
Wendet man sich nun zu der nähern Vetrachtuug der genannten Alpen¬
bahnen, so erscheint es auffallend, daß diese zwar weitgedehnte Eisenbahngebiete
miteinander verknüpfen, daß aber den angrenzenden Mächten nur wenig Linien
zur Verfügung stehn. Für den Durchzug größerer Heere müssen deshalb die
alten Fahrstraßen noch unbenutzt werden, wenn man ohne Verzug sämtliche
Strcitmittel hinüberschaffen und durch die Besetzung taktischer Stützpunkte im
Gebirge deutliche Marksteine für die Sicherheit des Transports und seiner
Verbindungen gewinnen Null.
Was die Westalpen betrifft, so haben Frankreich wie Italien die um¬
fassendsten Vorkehrungen zu einer aktiven Grenzverteidigung getroffen und
also auch Bedacht darauf genommen, mit Heeresmacht das Gebirge zu über¬
schreiten. Beide Mächte haben die Ofsensivtraft des Landes durch Defensiv¬
mittel zu unterstützen gesucht und deshalb eine befestigte Absperrung aller Jn-
vnsionslinien, die über die Grenze führen, vorgenommen. Ebenso sind taktisch
selbständige Verbände von Alpentrnppen gebildet worden, deren Garnisonen
diese Grenzforts sind, die die Thalzugünge und Hochstiege beherrschen, sodaß
diese als ständige Wache geltenden Truppen schon im Frieden in ihrer Berg¬
zone ans das beste orientiert sind. Die Sperrforts nehmen die Eisenbahnen
und Straßen derart unter Geschützfeuer, daß beide vom Gegner nicht benutzt
werden können, solange er nicht Herr des Forts geworden ist. Die Kette
dieser Befestigungen zieht sich im Gebirge hin, und Anlage und Bau werden
durch dessen Charakter bestimmt. Mit besondrer Umsicht und Energie sind die
Einbruchstellen der Mont Cents- und der Cornichebcihn gesperrt worden.
Die erstgenannte Eisenbahn zieht von Chcunbery durch weite Thäler der Sa-
voher Alpen in das Gebirge hinein und tritt erst nach der Überbrückung der
Jserc in die schmalen Felsgassen der Hochalpen; sie wird umsomehr eingeengt,
je weiter sie auf der tief eingeschnittnen Sohle des zur Jsere thalwärts
strömenden Are vorrückt, und erreicht bei Modane den Tunnel. Vor Bar-
donecchia tritt sie wieder zu Tage, läuft zwischen schroffen Wanden weiter
und folgt der dem Po zufließenden Dora Riparia nach Turin. Hier wie bei
Chambery findet die Bahn Anschluß an Verzweigungen größerer Netze, deren
Entwicklung nach der Alpengrenze durch den Plan bestimmt ist, den strategischen
Aufmarsch beider Heere zu beschleunigen.
Auf französischem Boden wird die Bahn aus den sie nördlich und südlich
flankierenden Festungen Albertville und Brianyon mit weitreichenden Anschlu߬
ketten von Forts und Batterien kraftvoll gedeckt. Auch sei erwähnt, daß zwischen
diesen beiden Festungen, von denen die letzte der Schlüsfelpunkt der französischen
Alpenvcrteidigung ist, der Tunnel liegt, durch dessen Sprengung der Zugang
abgeschnitten werden kann. Ans der italienischen Seite ist ebenfalls sehr viel
für die militärische Sicherheit der Mont Cents-Linie geschehen. Stark armierte
Forts sind angelegt worden, so namentlich in der Höhe von Bardoneechia und
Oulx, sowie bei sühlt die Befestigungen von La Brünette. Strategisch flankiert
wird die Bahnstrecke im Norden durch die Werke von Bart, die kriegsgeschicht¬
lich bekannt sind durch ihre ruhmvolle Verteidigung (1800) gegen Bonaparte,
südlich durch die feste Position von Pinerolo.
Als eine zweite Operationslinie würde die von den Vorbergen der See-
nlpen hart an den Meeresstrand gedrückte Cornichebahn dienen können, freilich
nur im Verein und unter dem Schutze einer die Küste unbedingt beherrschenden
Flotte. Völlig abgesperrt wird die Bahn an ihrem westlichen Ausgange durch
die auf den Höhenzügen bei Nizza erbauten Batterien, die den Abschluß der
französischen Grenzbefestigung bilden. In östlicher Richtung deckt zunächst die
Festung Ventimiglia den Zugang der Bahn nach Italien, die unterwegs von
Batterien bestrichen wird und am Ende unter dem Wirkungsbereich der mäch¬
tigen Heercsfestnng Genua liegt.
Es bleibt eine offne Frage, ob im Kriege italienische oder französische
Heere die Alpen überschreiten werden. Italien wird ohne fremde Hilfe das
Schwert gegen den mächtigen Nachbarn nicht ziehn können. Mögen die fran¬
zösischen Streitkräfte auch derartig an der Maas oder am Donbs in Anspruch
genommen sein, daß an der Südostgrenze des Reichs von Osfensivplünen abgesehen
werden muß, so dürfte es dennoch keiner italienischen Kriegsführung gelingen,
die Alpengrenze zu durchbrechen. Bei der natürlichen, technisch überaus ver-
stärkten Defensivkraft Frankreichs an den dortigen Eisenbahn- und Straßen¬
zugängen würde auch der rücksichtsloseste Angriff mit schweren Geschützen nicht
imstande sein, die befestigten Absperrungen vertcidigungsunfähig zu machen.
Nur wenn eine englisch-italienische Flotte es fertig bekäme, die französische
Mittelmeer-Armada zu überwältigen — das Gleichgewicht im Mittelmeer ist
für England nicht minder wichtig als für Italien —-, wäre eine Möglichkeit
gegeben, auf der Cornichebahn Truppenmassen nach Frankreich vorzuschieben,
die Stellung von Nizza unschädlich zu machen und durch die Niederungen der
untern Rhone in das Innere Frankreichs vorzudringen. Aber Italien würde
in einem Kriege des Dreibundes auch ohne britische Hilfe gegen Frankreich
andre Wege zum Einbruch in Feindesland finden. Diese führen in den
Alpenthälern des Tieinv und der obern Rhone durch die Schweiz, zunächst auf
die Gotthardbahn. Hierzu bedürfte es des schweizerischen Einverständnisses,
andernfalls des gewaltsamen Vorgehns gegen die Gotthardposition. Wird
die zu dreiviertel ihrer Begrenzung von den Dreibundmächten umschlossene
Schweiz hier Widerstand zu leisten vermögen? Auch wenn sich zugleich vom
Zuger See vorrückende deutsche Truppen der nördlichen Strecke der Gotthard¬
bahn bemächtigten, und Österreicher mittels der Arlbergbcchn an den vordern
Rhein gelangten? Trotz aller warmen Anerkennung für das Schweizer Heer¬
wesen und trotz der Thatsache, daß die Schweiz für die Landesverteidigung
etwa 450000 Mann ins Feld stellen kann, halten wir es einer solchen Auf¬
gabe nicht für gewachsen.
Etwas anders steht die Sache, wenn sich eine französische Siidostarmee
stark genug fühlte, in Italien einzudringen. Ganz abgesehen davon, daß auch
sie die Rhone-Tieino-Linie benutzen könnte, würde ihr auch die Cornichebahn
zu Gebote stehn, weil die in letzter Zeit sehr vermehrte und vervollkommnete
französische Mittelmeerflotte zweifellos der italienischen das Übergewicht hält.
Ebenso liegen die strategischen Bedingungen an der Mont Cenis-Bahn auf
französischer Seite günstiger. Sowohl von Brian?on nach Oulx als auch von
Albertville über Sans le Bourg, dem nördlichen Ausgangspunkt der Mont
Cenisstraße in der Richtung auf Susa, breiten sich mehrere für militärische
Zwecke brauchbare Straßen aus, auf denen man die Sperrung oder Sprengung
des Tunnels bei Bardonccchia umgehn und die Bahn nach der Erobrung der
Positionen vou Oulx und Susa beherrschen kann.
Am Sttdufer des Zuger Sees durchläuft das Gotthardgeleise die vordersten
Bergreihen der Alpen, zieht sich am östlichen Rande des Vierwaldstätter Sees,
dann im Reußthal bis Göschenen hin, wo sie den großen Tunnel durchschneidet;
sie verläßt ihn bei Airolo wieder und folgt dem Laufe des Ticino nach Bel-
linzona, dem „Dominante" der Thalengen dieses Flusses, sowie aller Zugänge
aus den winkligen Landstreifen zwischen dem Lago Maggiore und dem Comer
See. Hier verzweigt sich die Bahn und erreicht um ersten See und bei
Como das italienische Gebiet. Wie die schweizerische Gotthardbefestigung den
strategischen Kernpunkt der Bahn darstellt, so gilt die verstärkte Position von
Bellinzona als sichrer Abschluß der Grenzstrecke. Auch an der Nordfront
Italiens sind eingehende und sachgemäße Anordnungen zur Absperrung der
ins Land hineinlaufenden Eisenbahnen getroffen worden. Como, einst „das
offne Thor für die deutschen Kaiser" geheißen, ist heute mit dem Stützpunkt
Mailand der feste Verschluß der Gotthardlinie, Mährend sich das bekannte
Festuugsviereck am Etsch und Mincio den Mündungen der Brenner- und der
Semmeringbahn vorlagert. Die Gvtthardbahn hat in erster Reihe nur für
Deutschland und Italien militärische Bedeutung, für Frankreich insofern, als sich
durch Besetzung der Gotthardposition diese Verbindung unterbrechen ließe. Die
von Innsbruck durch das Eisach- und das Etschthal über Bozen und Trient nach
der italienischen Hauptfestmig Verona führende Eisenbahn überschreitet in ge¬
waltigen Kurven die Paßhöhe des Brenners, Mährend die Semmeringbahn
ihren 42 Kilometer langen Weg vom Leitha- in das Mürzthal zwischen Glogg-
nitz und Mürzzuschlag an steilen Felswänden vorbei nimmt, sowie über aus¬
gedehnte Viadnkte und dann mit einer Zweiglinie über Graz und Laibach,
mit der andern über Vliland und Udine nach Trieft eilt. Von bedenklichem
Werte würden für beide Bahnen die bezeichneten Übergangsstellen in den
Tiroler und den österreichischen Alpen sein, wenn nicht diese Strecken völlig
dem innern, gesicherten Bereiche des Landes angehörten. Die Brenncrbcchn wird
gegen Italien durch die Lagerfestnng Trient mit ihren Außenforts abgesperrt; so
wurde z. B. 1866 auch vou hier aus Garibaldis Versuch, die Alpcnverschlüsse
zu durchbrechen, entschieden zurückgewiesen. Deu Zufahrtslinien der Semmering¬
bahn legen sich einerseits die Befestigungen von Triest vor, andrerseits die das
Hochthal des Tagliamento, durch das die Bahn nach Tarvis führt, leicht ab¬
schließenden Stellungen auf den Höhenrandungen westlich von diesem Platze.
In künftigen europäischen Kriegen werden voraussichtlich much die Alpen¬
bahnen eine Rolle mit übernehmen; sei es, daß man sich auf alten Schlacht¬
feldern der Lombardei trifft, sei es, daß an der Rhone, an der Maas oder
an der Weichsel gekämpft mird, immerhin wird man mehr als mittelbar ihrer
Geleise bedürfen. Die Kriegskunst steht heute vor Aufgaben, an die zuvor
kaum gedacht wurde, und über deren Lösung erst die nächsten Kriege ent¬
scheiden müssen; gerade der moderne Verkehr in seiner großartigen Gestaltung
und ungeheuern Beschleunigung bietet der kommenden Kriegsführung die schwie¬
ichon die Vergleichung der Königsreden mit den Diogenesreden
zeigt, daß Dio, wie Arnim hervorhebt, in der dritten Periode
seiner Wirksamkeit von der individualistischen zur Sozialethik fort¬
geschritten war. Noch deutlicher wird das aus dem, was seine
I Reden von seinem Wirken in der Vaterstadt verraten, und aus seinen
sozialpolitischen und ökonomischen Ratschlägen. Sehr ernstlich beschäftigte ihn
die Lage der ürmern Klassen. Es ist bekannt, daß die an sich erlaubtenKM
Genossenschaften der Handwerker und der Krämer den Behörden manchmal ver¬
dächtig erschienen sind. Das war gerade zu Dios Zeit in Bithynien der Fall.
Plinius berichtet seinem Kaiser über einen Brand in Nilomedien, der große
Verheerungen angerichtet habe, weil die Leute, anstatt zu löschen, dem Feuer
unthätig zugesehen hätten; Löschgeräte seien in der Stadt gar nicht vorhanden,
weder Spritzen noch Fcucreimer. Er fragt, ob nicht aus Zimmerleuten eine
150 Mann starke Feuerwehr organisiert werden solle. Trajan antwortet,
Plinius möge nicht vergessen, daß Handwcrkcrgilden in Bithynien Unruhen
erregt hätten; man solle sich deshalb lieber darauf beschränken, für Anschaffung
von Löschgeräten zu sorgen und die Hausbesitzer zum Löschen zu verpflichte»,
auch bei einem Brande die Herbeilaufenden dazu anzuhalten (42. und 43. Brief
des zehnten Buches). Ein harter Prokonsul nun hatte nach einem Aufruhr
arme Leute grausam gestraft, wahrscheinlich mit den Schuldigen auch viele
Unschuldige, und einige angesehene Männer waren — in welcher Weise ist
nicht bekannt — den Bedrängten zu Hilfe gekommen. Auch Dio hatte sich
an diesem Liebeswerke beteiligt, und gerade ihm wurde es von Sykophanten
als Demagogie, Begünstigung des Aufruhrs und Feindschaft gegen die Besitzenden
ausgelegt. Der Angegriffne verantwortete sich vor Volk und Rat in einer
Rede, 'in der er u.'a.' sagt: „Wenn ich mich der Leute aus dem gemeinen
Volk erbarmte in einem Falle, wo sie Erbarmen verdienten, und ihr Los so
viel wie möglich zu erleichtern suchte, so beweist das nicht, daß ich ihnen mehr
ergeben wäre als euch, deu Besitzenden; denn auch an unserm Leibe ist es
jedesmal der leidende Teil, den wir pflegen, und wenn uns die Füße weh
thun, die Augen aber gesund sind, wenden wir jenen mehr Fürsorge zu als
diesen. Wenn ich sage, daß das arme Volk Erbarmen verdiente, so soll damit
nicht gesagt sein, daß ihm Unrecht geschah. Auch mit den Kranken, die von
den Ärzten geschnitten werden, haben wir Mitleid, obwohl es zu ihrem Heile
geschieht, und Vater und Mutter vergießen Thränen darüber, obgleich sie
wissen, daß es hilft."
Er beschränkte sich jedoch nicht darauf, bei ungewöhnlicher Not Mitleid
M fühlen, sondern er entwarf Pläne zur Beseitigung proletarischer Zustünde.
Das Elend und die Laster der Großstädte, besonders Roms, erfüllten ihn nicht
weniger mit Abscheu und Besorgnis als die Verödung des Landes, und er
schlug das vor, was wir heute innere Kolonisation nennen. Er fand für
seinen Vorschlag in einer wahrscheinlich zu Rom gehaltnen Rede eine überaus
geistreiche und anziehende Einkleidung, zu der ihm Erlebnisse seiner Wander¬
schaft den Stoff und seine Begeisterung für das natürliche Leben den Schwung
lieferten. Die Rede heißt „Der Jäger" und ist, leider sehr abgekürzt, von
Ludwig Friedlnndcr seiner Abhandlung „Griechenland unter den Römern" im
22. und 23. Heft des Jahrgangs 1898/99 der Deutschen Rundschau einver¬
leibt worden. ° Dio malt hier ein anmutiges Idyll und verflicht sehr geschickt
sein Reformprogramm hinein. Man könnte die Dichtung nach der Analogie
des Wortes Staatsroman eine Staatsnovelle nennen, nur daß nichts Un¬
mögliches darin vorkommt. Der Verfasser leidet Schiffbruch am unwirtlichste»
Teile der Küste Enböas. Hcrumirrend trifft er einen Jäger, der ihn in sein
Haus einladet. Des Jägers Vater und der seines Nachbarn haben als Hirten
eines reichen Mannes an dieser Stelle ihr Sommerquartier gehabt. Das Ver¬
mögen ihres Brodherrn ist konfisziert, die Herde verkauft worden. Die beiden
Familien aber, die keinen andern Erwerb fanden, blieben in ihrer Einöde
— einem mit Wiesen bedeckten, mit einzelnen Bäumen bestandnen und von
Bächen durchflossenen Lande —, richteten ihre Wohnungen auch sür den
Winter ein, lebten zuuüchst vou der Jagd, machten aber ein Stück Land urbar,
auf dem sie Getreide bauten, Gemüse-, Obst- und Weingärten anlegten, und
hielten einen kleinen Stamm Vieh. Der Grund und Boden, auf dem sie
hausten, war, ohne daß sie davon erfuhren, in das Eigentum der einige
Meilen entfernten Stadt übergegangen, und ein Sykophcmt hatte sie entdeckt
und angeklagt, daß sie städtisches Gemeindeland benützten, ohne Pacht zu
zahlen, und darauf reich würden. Dios Wirt hatte, um sich zu verant-
worten, in die Stadt gehn müssen. Es war das zweitemal in seinem
Leben, daß er sie zu sehen bekam — als Knabe hatte er einmal seinen Vater
hin begleitet —, und es hatte ihm im städtischen Gewühl und Lärm sehr schlecht
gefallen. Er überzeugte die Volksversammlung davon, daß der Denunziant
ein Verleumder sei, der ihr in saurer Arbeit erworbnes kleines Vermögen
lächerlich übertrieben habe. Als der Mensch sogar behauptet, sie pflegten durch
falsche Zeichen Schiffe anzulocken, um dann die Habe der Gescheiterem als
Strandgut zu rauben, ruft der Jäger: O Zeus, möge nie ein Mensch aus dem
Unglück andrer Menschen solchen Gewinn ziehn! Und er erzählt, wie er schon
öfter Schiffbrüchige gastfreundlich aufgenommen und ihnen nach seinen schwachen
Kräften weiter geholfen habe. Da erkennt ihn einer der Anwesenden, der das
selbst erfahren hat, und berichtet, wie der gute Mann sogar der Tochter das
Hemd ausgezogen habe, um die Blöße des Schiffbrüchigen damit zu decken.
(Man vergleiche, was die Apostelgeschichte in der Erzählung des Schiffbruchs
an der Küste von Malta sagt: die fremden Bewohner erwiesen uns nicht
geringe Menschenfreundlichkeit.)
Die Versammlung beschließt nun auf den Antrag eines wohlgesinnten und
verständige» Mannes, den Jäger als Erretter eines Bürgers, vielleicht sogar
mehrerer Bürger, auf Staatskosten zu bewirten und ihm Leibrock und Mantel
zu schenken; der Gerettete will noch hundert Denare dazugeben. Die nimmt der
Jäger nicht; er habe und brauche kein Geld, jener möge sie dem Denun¬
zianten geben, der verstehe sich aufs Geld. Er habe damals, sagt er zu Dio,
gesehen, daß sie in der Stadt einander nicht lieben. Im stärksten Gegensatz
zum städtischen Sykophantentreiben, der lieblosen Gewinnsucht und dem
Lasterleben der Städter steht die Schilderung dieser einfachen Einödbauern,
ihres innigen, unschuldigen und reinen Familienlebens, ihrer Herzlichkeit und
Menschenfreundlichkeit, ihrer Arglosigkeit, Offenheit und Wahrhaftigkeit. Sie
leben übrigens nicht ganz abgeschieden von der übrigen Welt, sondern ver¬
kehren mit den Bewohnern des nächsten Dorfes, wo die eine der beiden
Familien eine Tochter verheiratet hat. Die Erzählung schließt mit einer
fröhlichen Hochzeit. So zeigt Dio, wie das Landleben bei einem sehr ge¬
ringen Maße von Kultnrgüteru die Entfaltung der schönsten und besten An-
lcigcn der Menschennatur möglich macht, und welches Glück die Autarkie einer
Naturalwirtschaft gewährt, die den Menschen nicht mit tausend Fäden an un¬
zählige andre Menschen bindet, von deren Schicksal und gutem oder bösem
Willen das Schicksal jedes Menschen abhängt, der in eine künstliche Staats-
Wirtschaft oder gar in die Weltwirtschaft verflochten ist.
Jenem verständigen Manne in der Volksversammlung nun, der den An¬
trag zu Gunsten des Jägers gestellt hat, legt Dio sein Reformprogramm
in den Mund. Weit entfernt davon, daß der Jäger und sein Nachbar die
Stadt geschädigt hätten, seien sie vielmehr sehr nützliche Bürger, auch abge¬
sehen von dem Dienst, den sie Schiffbrüchigen erwiesen. Sie hätten sich selbst
in einem gesunden und arbeitsamen Leben zu gesunden und tüchtigen Menschen
entwickelt und würden im Kriege oder bei Einfällen von Piraten gute Landes¬
verteidiger abgeben. Sie hätten Land urbar gemacht und erzeugten Lebens¬
mittel. Möchte es nur viele solche geben, statt des müßigen und nichts¬
nutzigen Gesindels, das sich in der Stadt herumtreibe! Lager doch zwei
Drittel des Stadtgebiets verödet da! Dafür müsse man Bebcmer gewinnen
dadurch, daß man Bürgern, die sich ansiedeln wollten, die Hufe zehn Jahre
lang ohne Pachtzins und Abgaben überlasse. Ansiedler aus der Fremde
brauche man bloß fünf Jahre steuerfrei zu lassen. Es würden auch nach Ein¬
leitung einer solchen Kolonisation noch genug müßige Leute in der Stadt
zurückbleiben, für die nützliche Beschäftigung zu finden schwierig sein werde. Der
Teil der Rede, der die positiven Vorschläge enthält, ist verloren gegangen;
erhalten ist nur, was über die teils einzuschränkenden, teils zu beseitigenden
Luxus- und Schmarotzergcwerbe gesagt ist. Nur solche Gewerbe sollen geduldet
und gefördert werden, die das wirklich Nützliche und Notwendige schaffen, und
die den Arbeitenden weder am Leibe noch an der Seele schädigen. Auch den
Sklaven darf man Dienste nicht zumuten, durch die sie ihre Menschenwürde
einbüßen, denn die Standesunterschiede beruhen auf vergänglicher Menschen¬
satzung,- der Schöpfer hat alle Menschen gleich geehrt, indem er allen die
Auszeichnung der Vernunft verlieh und das Vermögen, das sittlich Schöne
vom Schändlichen zu unterscheiden.
Auch die geschlechtlichen Ausschweifungen werden gegeißelt. Der Redner
fragt die Bürger, ob sie denn gar nicht den Zeus Genethlios, die Hera
Gcimelios und alle die andern den Ehebund beschützenden Götter scheuten.
Denn Gottesfurcht ist dem Dio, wie schon das aus den Königsreden ange¬
führte beweist, Hauptquelle und Hauptstütze der Sittlichkeit. In zwei Reden
hat er seine Theologie ausführlich dargelegt. In der olympischen handelt er
von der Entstehung der Gvtteserkenntnis. Er komme, sagte er seinen Zu¬
hörern zu Olympia, einen weiten Weg. Wegen Alter und Kränklichkeit
unfähig zum Kriegsdienste, habe er sich doch in das Kriegslager begeben (in
das Lager des gegen die Dacier ziehenden Trajans), um Männer zu sehen,
von denen die einen für die Erweiterung ihrer Herrschaft, die andern für
Freiheit und Vaterland kämpften. Nun aber sei er umgekehrt, nicht der Gefahr
ausweichend, sondern sich eines alten Gelöbnisses erinnernd, denn das Göttliche
erachte er immer für das Wichtigere. Und darum wolle er auch nicht über
den dänischen Krieg zu ihnen reden, sondern über den olympischen Zeus, den
König und Vater der Götter und Menschen, den Schaffner des Krieges und
des Friedens. Über das Wesen der Gottheit, fuhrt er dann aus, sind Hellenen
und Barbaren gleich belehrt, da wir ja alle nicht außerhalb der Gottheit leben,
sondern mitten drin in ihr und mit ihr verwachsen sind. Wie hätten die
Menschen die Gottheit nicht wahrnehmen sollen, auf allen Seiten umleuchtet
von den großen Himmelslichtern, umrauscht von den Stimmen des Waldes,
der Ströme, des Meeres, der zahmen und der wilden Tiere, selbst aber die
süßesten und deutlichsten Laute von sich gebend und die menschliche Stimme
liebend, die so fröhlich klingt und jedes Wahrgenommne durch einen geeigneten
Namen kenntlich macht. Wie wäre es denkbar, daß die Menschen den nicht
gemerkt haben sollten, der alles säet, pflanzt, erhält und nährt, der durch
Augen, Ohren und alle Sinne beständig in unsre Seele eindringt? Der im
Anfang den erdentsprossenen Stammvätern des Menschengeschlechts eine reiche,
feuchte, warme Erde mit von selbst wachsenden Früchten bereitet hat wie den
Kindlein die Mutterbrust. Wenn sie das alles wahrnahmen, auch den zu
unserm Heil eingerichteten Wechsel der Jahreszeiten, und inne wurden, wie
sie durch das Vermögen, über all das nachzudenken, vor den Tieren ausge¬
zeichnet seien, so konnten sie ja gar nicht anders, sie mußten die Gottheit
bewundert? und lieben. (schlichter, kürzer und weniger schwungvoll drücken
diese Gedankenreihe aus Apostelgeschichte 14, 15 bis 16; 17, 24 bis 29 und
Römer 1, 20.)
Wenn ein Heitere oder ein Barbar (jetzt kommt eine der wenigen Stellen,
die etwas aus den Eleusinien verraten) in ein Mhsteriengebäude von unge¬
wöhnlicher Größe und Schönheit käme, all das Schaugepränge und die sinn¬
reichen Veranstaltungen sähe, Stimmen vernähme, den Wechsel von Beleuchtung
und Verfinsterung erführe und zuletzt sähe, wie beim Thronismus die dasitzenden
Einzuweihenden von den Einweihenden umtanzt werden, ist es da wohl wahr¬
scheinlich, daß er, obwohl er von weit herkommt und von niemand belehrt
worden ist, nicht merken würde, daß das alles absichtlich und nach einem
Plane aufgeführt wird? Und in dieser reichen und weise eingerichteten Welt,
wo nicht Menschen, sondern die unsterblichen Götter den Menschen einweihen
und Tag und Nacht umtcmzen, sollte mau den Vortänzer, den Anordner der
ganzen Herrlichkeit nicht bemerken? (Wir heutigen Stadt- und Stubenmenschen
haben keine Vorstellung mehr von dem tiefen Eindruck, den die Sternbilder und
der Lauf der Gestirne auf die Gemüter der Alten machten. Man erkennt
ihn u. a. aus dem Gedicht des Aratus, von dem Cieero im 41. Kapitel des
zweiten Buches über das Wesen der Gottheit längere Stellen in seine Ab¬
handlung einsticht.) Wie wunderbar, daß auch die Tiere uach Gottes Gebot
leben, ja daß sogar die Pflanzen, die zwar leben, aber keine Einsicht haben,
eine jede die ihr zukommende Frucht tragen! Und doch giebt es Menschen,
die nicht wie die Gefährten des Odysseus Wachs sondern geschmolzenes Blei
in den Ohren und Finsternis vor den Augen haben, sodaß sie Gott nicht
erkennen und das Göttliche verachten. Statt Gottes setzen sie (die Epikuräer)
einen bösen Dämon auf deu Thron, den sie die Lust nennen; die Götter aber
Verharren sie aus der Stadt, ja aus der Welt in unwahrscheinliche Räume
(Jntermundien), und von dem All sagen sie, daß es ohne Sinn, ohne einen
Schöpfer, Herrn und Lenker von selbst geworden da sei und sich bewege, ohne
auch nur die bewegende Ursache des tanzenden Kreisels zu haben, von dem
wir doch wissen, daß ihn ein Kind in Bewegung gesetzt hat.
Diese allen Menschen eingepflanzte Einsicht ist die erste Quelle der Gottes¬
erkenntnis. Dazu kommen dann vier andre Quellen: die Poesie, die Gesetz¬
gebung, die bildenden Künste und die Philosophie. Diese verschiednen Lehr¬
anstalten, wie man sie nennen kann, Verhalten sich wie Erklärer zur ursprüng¬
lichen natürlichen Gotteserkenntnis. (In der ersten Königsrede unterscheidet
übrigens Dio zwischen inspirierten Männern und gottentfremdeten Dichtern,
die falsche und unwürdige Vorstellungen von der Gottheit verbreitet haben.)
Er verweilt ausführlich nur bei deu bildenden Künsten, führt den Phidias,
den Schöpfer des berühmten Zensbildes, redend ein und läßt ihn den Bilder¬
dienst rechtfertigen. Die göttlichen Himmelserscheinungen, spricht Phidias, Sonne,
Mond und Sterne, sind an sich bewundrungswürdig und sind ohne Zweifel
selige Götter, sie nachzubilden aber ist keine Kunst; man braucht bloß eine
kreisförmige Scheibe anzufertigen. In einem solchen Abbilde aber kann man
von dem, was doch das Wesen der Gottheit ausmacht, Vernunft und Charakter,
keine Spur bemerken. Andrerseits können auch Vernunft und Geist nicht un¬
mittelbar abgebildet werden. So nehmen wir denn unsre Zuflucht zum Menschen¬
leibe, der ein Gefäß der Vernunft ist, und wühlen ihn als ein Abbild und
Sinnbild der um sich unsichtbaren und nicht darstellbaren Gottheit, ein Sinn¬
bild, das sicherlich zutreffender ist als die Tiergestalten, die andre Völker ge¬
wählt haben. Es könnte nun jemand einwenden, am besten sei es, gar kein
Bild der Gottheit zu machen und sich mit dem Anblicke dessen, was von ihr
am Himmel erscheint, zu begnügen. Aber diese seligen Himmelsgötter sehen
wir doch nur vou fern. Deu Menschen treibt eine mächtige Liebe zur Gott¬
heit, sodaß er sich sehnt, sie in unmittelbarer Nähe zu verehren, zu berühren,
ihr zu opfern und sie zu bekränzen. Wie die kleinen Kinder, wenn sie von
Vater oder Mutter getrennt sind, von sehnsüchtiger Begierde getrieben, sogar
noch im Traume die Händlein nach ihnen ausstrecken, so will der Mensch die
Götter, die er mit Recht als Wohlthäter und Verwandte liebt, nahe haben
und mit ihnen verkehren. Darum darf man es auch dein Homer nicht ver¬
übeln, daß er den Zeus ganz menschenähnlich geschildert hat. Und während
Phidias glaubt, in mancher Beziehung besser als Homer den Zeus dargestellt
zu haben — ganz friedvoll und mild, als Schirmherrn (6?c/c7xo^os) des be¬
friedeten und einmütiger Hellas —, giebt er zu, daß allerdings der Poesie
reichere Darstellungsmittel zur Verfügung stehn als der Plastik, und daß jene
deshalb das Wesen der Gottheit erschöpfender zu versinnbildlichen vermöge.
Der größte Künstler, der alles darstellen kann und alles dargestellt hat, bleibt
Zeus selbst; von den menschlichen Künstlern, schließt der Phidias des Dio,
weiche ich keinem, der Gottheit aber darf sich kein Mensch vergleichen.
In der Borysthenitenrede, die der Philosoph daheim in Prnsa gehalten
hat, entwickelt er die stoische Kosmologie, namentlich die Lehre von der Et-
pyrosis und Apokatastasis. In einer sehr anziehenden Einleitung erzählt er,
wie er auf der Reise zu den Geten (Daciern) in die griechische Kolonie ge¬
kommen sei, die zwar an der Mündung des Hypanis (Bug) lag, sich aber
nach dem nahebei mündenden mächtigern Strome (Dujepr) nannte. Er be¬
schreibt ihre Lage, erzählt von ihren Schicksalen — mit Mühe behauptete sie
sich unter den umwohnenden kriegerischen Scythen —, schildert ihren ver-
fallnen Zustand und berichtet, wie er freundlich aufgenommen worden sei, und
wie man sich auf Spaziergüngen zu ihm gesellt habe, um Belehrung von ihm zu
empfangen. Das einemal sei ein als tapfrer Seythenbcknmpfer angesehener junger
Mann, Kallistratos, an den Wandelnden vorübergeritten, aber bald vom Pferde
gesprungen und ihm nachgeeilt, um ihn zu begrüßen. Weil Dio wußte, daß
die Borystheniten, obwohl sie nicht mehr korrekt hellenisch sprachen (sah/>c5s
e/^^o^56s), für Homer schwärmten, den Achill verehrten und fast alle die
Ilias auswendig konnten, so fragte er scherzend den Kallistratos, ob ihm
Homer ein größerer Dichter zu sein scheine als Phvkhlides. Den kannte der
junge Mann nicht einmal dem Namen nach. Und doch, meint Dio, ist ein
einziger Vers von ihm mehr wert als die ganze Ilias und Odyssee. Der
Vers behauptet, ein wohlgeordnetes Städtlein auf einer Klippe sei stärker als
ein unvernünftiges Ninive. Kallistratos erwidert, von einem andern Fremdling,
den sie nicht so liebten und scheuten, würden sie, die den Achill fast als Gott
verehrten, sich das nicht gefallen lassen. Dagegen Dio: den Homer loben
wir wohl ein andermal, aber jetzt müssen wir doch untersuchen, ob Phokylides
Recht hat. Die andern stimmen bei; denn dazu seien sie ja an den Fluß ge¬
kommen, ihn zu hören (wird man da nicht an Apostelgeschichte 16, 13 er¬
innert?), obwohl wir, fügen sie bei, in Unruhe leben, da die Scythen erst
gestern bei einem Überfall einige der Unsern getötet, andre gefangen mitge¬
nommen haben. Aber beim Umherwandeln gehe den Entfernten zu viel ver¬
loren. Sie begeben sich deshalb auf den Platz vor dem Zeustempel. Die Ältern
und Angesehenern setzen sich ans die Stufen, die andern stehn, und Dio hat,
die Menge überschauend, Freude daran, wie sie doch auch im Äußern Hellenen
geblieben seien. Einer sei geschoren gewesen; man sagte, damit habe er den
Römern schmeichelt wollen. Er definiert nun zunächst die Polis als eine
zusammenwohnende, gesetzlich geordnete Menschenmenge. Werde gefordert, daß
jedes Mitglied der Polis durchaus gesetzlich, das bedeute vernünftig leben
müsse, so gebe es allerdings nur eine Polis: die der seligen Götter. Bei
einer menschlichen Polis müsse man schon zufrieden sein, wenn die Herrschenden
den Logos hätten, die Menge ihnen gehorche. Das Urbild der Polis sei der
Kosmos, dessen Glieder, die Weltkörper und die Elemente, in Liebe zusammen¬
wirken. Nach der pantheistischen Anschauung der Stoiker fallen ihm Welt und
Götterstaat in eins zusammen. Diesen Götterstaat schildert er nun einmal
als Monarchie, dann als Haushalt, sodaß Zeus einmal der König und dann
der Hausvater ist, endlich aber unter dem sonderbaren Bilde eines vierspännigen
Wagens, den Zeus lenkt. Er hat, sagt er, diesen Mythus von den Magiern
erfahren. Diesen weisen Männern, die nicht mit gewöhnlichen Gauklern zu
verwechseln seien, habe ihn Zoroaster offenbart, als sie im Gefolge ihres
Königs an den von Flammen und Blitzen umspielten Berg herantraten, auf
den er sich zurückgezogen hatte. Die Pferde des Weltwagens gehn im Kreise
herum, sodaß sich das innerste um sich selbst herumdreht, die andern es in
immer weiterer Entfernung umkreisen. Das äußerste Pferd ist weiß, glänzend,
geflügelt, dem Zeus heilig. Das zweite an sich zwar dunkel, aber vom ersten
beleuchtet und nach der Herr benannt. Das dritte, langsamer als das zweite,
ist dem Poseidon, das vierte, das seinen Ort nicht verläßt, der Hestia heilig.
Es sind die vier Elemente gemeint: der Äther oder das Feuer, die Luft, das
Wasser, die Erde. Die Pferde schlagen manchmal aus, und dann giebt es eine Kata¬
strophe, wie die in den Sagen von Phaethon und von der deukalivnischen Flut
überlieferten. Aber die Pferde kehren immer wieder schnell zur Ordnung zurück,
und im ganzen verläuft der Weltprozeß friedlich und ruhig. Dieser Prozeß
besteht nun darin, daß das höchste Element, der Äther, der zugleich Nus, die
Weltvernuuft oder Gottheit ist, allmählich alle andern durchdringt, schmilzt,
in sich verwandelt. (Die Wendungen, mit denen Dio bei der Beschreibung
dieser Ekpyrvsis das Bild von den Pferden festzuhalten sucht, sind gezwungen
und geschmacklos.) Darauf aber schafft Gott eine neue Welt, die schöner ist
als die vorhergehende, und der Kreislauf beginnt von neuem.
Nach Arnim, der Stellen aus audern Reden zur Beleuchtung dieser
Abhandlung herbeizieht, war dein Dio das Kosmologische und das Theologische
daran nicht Selbstzweck. Die Religion sei ihm, wie man aus vielen seiner
Reden sehe, Herzenssache gewesen, Grundlage und Voraussetzung seiner Lebens¬
ansicht, und er habe niemals Theologie lehren, vielmehr die theologischen
Dogmen der Philosophen in Religion zurückverwandeln wollen. In der
Bvrysthenitika habe er den religionsphilvsophischen Mythus nur für seinen
Politischen Zweck verwandt. So wenig, wollte er sagen, wie im Kosmos eine
und dieselbe Verfassung unverändert fortbesteht, ebenso wenig ist dies im
irdischen Staate möglich. Auch hier wechselt im bestündigen Kreislauf die
höchste ständische Differenzierung mit der völligen Nivellierung aller Gegen¬
sätze. Dem Zustand der Weltordnung (ötttxo^t^s) entspricht die Gliederung
der Gesellschaft in Schichten, die in verschiednen Maße an der Vernunft und
Herrschaft teil haben, dem Zustande der Vergottung (denn dieser Begriff
der Mystik ist mit der stoischen ex/i^c-^tL, Verbrennung, gemeint) würde der
demokratische Staat und die demokratische Gesellschaft entsprechen, wenn die
gleichmäßige Beteiligung aller an der Herrschaft auf der gleichmäßigen Ver¬
breitung der Bildung und Vernunft beruhte. Wie im Zustande der Ekpyrosis
die ganze Materie zu Geist und Vernunft geworden ist, so müßte auch in der
wahren Demokratie die ganze Masse des Volks gleichmäßig durchgeistigt sein.
Aber Dio hält, wie aus andern Reden (und auch aus dem Anfange der
Bvrysthenitika) hervorgeht, eine solche Durchgeistigung der ganzen Masse nicht
für möglich, deshalb bleibt ihm die Monarchie die beste Staatsform, während
im Weltkreislauf die Zustünde der Ekpyrosis und der Diakosmesis gleich gut
sind. Wie der Weltprozeß, so verläuft auch der politische nicht ohne Kata¬
strophen.
Überschauen wir das Leben und die Weltansicht dieses Mannes, so müssen
wir sagen: zwischen ihm und einem Anhänger der sich Christentum nennenden
modernen Huinanitätsreligion besteht kein wesentlicher Unterschied. Nicht ein¬
mal die stoische Kosmologie stört, denn wie schon im vierten dieser Aufsätze
bemerkt worden ist, sowohl bei unsern Naturforschern wie bei den heutigen
Philosophen treffen wir ganz ähnliche Hypothesen. Die Gestirngötter sind
zudem unter dem Namen von Engeln ganz unbefangen von den Scholastikern
und von Dante übernommen worden, ohne daß diesen daraus der Vorwurf
der Ketzerei erwachsen wäre, und im neunzehnten Jahrhundert durfte sich
Fechner zu dem Glauben an sie bekennen, ohne dadurch seinen wissenschaft¬
lichen Ruf zu gefährden. Hypothesen über das Uuwißbare kollidieren eben
nicht mit den exakten Wissenschaften. Die ganze griechische Mythologie ist
eine solche Hypothese, und was sich an ihr mit dem Christentum nicht ver¬
trägt, das sind eigentlich nur die Götternamen. Diese, und der Bilderdienst,
beiden gegenüber die Person Christi, das waren die Streitpunkte, die zwei in
der Weltanschauung ganz einige Gruppen von Personen, die Christen und die
Idealisten unter den griechischen Philosophen, zu Todfeinden machten. Und
diese Todfeindschaft war damals notwendig.
Bei einer Besprechung der Reformation habe ich gesagt, der Haß Luthers
und der echten Lutheraner gegen den Papst und den ganzen mittelalterlichen
Katholizismus sei notwendig gewesen, weil, wenn die versöhnlichen und
objektiven Geister, die Erasmusse und Melanchthone, die Oberhand behalten
hätten, sich die neu gegründeten Kirchen rasch wieder mit der alten Kirche
verschmolzen haben würden, und der weltgeschichtliche Zweck der Reformation,
ein für die nationalen Bedürfnisse der Nordländer geeignetes und den Fort¬
schritt der Kulturwelt nicht fesselndes Kirchenwesen zu schaffen, vereitelt worden
wäre. So verhielt es sich auch mit dem Urchristentum. Am Bilderdienst
nehmen heute aufgeklärte Ästhetiker so wenig Anstoß wie seit anderthalb Jahr¬
tausenden die gläubigen Katholiken. Aber wenn die Christen der ersten Jahr¬
hunderte gedacht Hütten: es ist gleichgiltig, ob wir die Engel Gabriel, Raphael
und Michael oder Hermes, Asklepios und Ares nennen und ihre Bildsäulen
verehren, so würden sie als eine philosophische Sekte des Griechcnvolks mit
diesem selbst und dem römischen Staat untergegangen sein. Sollte die christ¬
liche Kirche, als das die geistige Frucht der alten Welt durch die Zeiten der
Barbarei hindurchrcttende Gefäß und als Trägerin einer Weltreligion, erhalten
bleiben, so mußte sie sich von allen nationalen Besonderheiten frei machen.
Wie sie sich durch die Vertauschung des Sabbath mit dem Sonntag, durch
die Abschaffung der Beschneidung und der Speisegesetze vom Judentum los¬
gelöst hatte, so mußte sie durch den starren jüdischen Monotheismus und durch
deu jüdischen Abscheu vor allem Bilderdienst vor der Verschmelzung mit dem
Griechentum, dem sie innerlich so nahe stand, bewahrt bleiben. Daher also
kam es, daß die nah verwandten Seelen einander haßten. Auch Dio, meint
Arnim, hat wahrscheinlich die Christen als schlechte Menschen gehaßt; als
solche mußten ihm die Götterfeinde erscheinen. Erwähnt hat er sie nicht, ob¬
wohl er in Tarsus, der Vaterstadt des Paulus, aufgetreten ist, und in
Bithynien die Christen nach dem bekannten Briefe des Plinius (10, 97) schon
so zahlreich waren, daß die Göttertempel anfingen zu veröden. Für den
Philosophen waren sie eben, als eine zu unbedeutende Erscheinung, gar nicht
vorhanden. Die Bedeutung Jesu, dessen Göttlichkeit sich vorerst nur dem Glauben
der wenigen Auserwiihltcn offenbarte, konnten die Wirkungen seiner wunder¬
baren Persönlichkeit dem Geiste der Denkenden erst im Laufe der Jahrhunderte,
der Jahrtausende in stetig wachsendem Maße enthüllen.
ahrer Individualismus ist allein die ideale Befähigung, der als
ethisches Muß empfundne seelische Drang bei jedem Einzelnen,
im allerpersönlichsten Innenleben aufzugehn, in ihm und seinen
seelischen und geistigen Kräften und Größen das Maß aller
Dinge zu suchen und zu finden. Welchen Menschen aber ist
solche Art zu sein als typisches Volkstum gegeben? Nur den Germanen,
vor allem ihrem Kernstamm, den Deutschen. Ihnen ist der Quell alles
Empfindens und Denkens die tiefbewegte Brust, die eigne Seele, das eigne
innere. Alles Anempfinder und Nachdenken nach äußeren Anstoße, fremdem
Einflüsse ist ihnen zuwider, ist ihnen nichts. Ihnen ist notwendig, dem
ihnen eingebornen Verlangen nach Selbstbestimmung, nach selbsteigner Ge¬
staltung jedes Menschenseins unbeschränkt Raum zu geben. Ihr Sonder-
dermögen zu bewähren, es bewähren zu können, ist ihnen Ur- und Gründ¬
etet?, ist ihnen Bedingung des Seins. Nur von sich und ihrem innersten
Wesen aus stellen sie sich zu allem anßer ihnen, und ihr Lebensodem ist es,
bei ihrem Herantreten an die Außenwelt lediglich sich selber, ihre allerpersön-
Kchste Eigentümlichkeit als Maß aller Dinge zu nehmen und demgemäß zu
handeln. Die Romantiker, die doch sicher ein feines Gefühl für deutsche Seelen¬
stimmung und deutsche Geistesströmung hatten, haben dieselbe Gedankenreihe in
dem Satze zusammengefaßt, das Heil persönlicher Eigentümlichkeit (d. i. des
Individualismus) hänge am Deutschtum. Und der große Kundiger deutschen
Seelendrangs, Goethe, hat derselben Grundanschauung von der Wesensgleich¬
heit des Deutschtums und des Individualismus einmal sehr drastisch und ganz
knapp und klar Ausdruck gegeben, da, wo er von dem Neuerbltthen deutscher
Kunst in Sturm und Drang unter dem Eindrucke der Thaten Friedrichs spricht,
und wo er, nachdem er ausgeführt hat, daß man dabei alles that, von dem
König bemerkt zu werden, eben so entschieden wie selbstbewußt erklärt, „aber
^ein thats auf deutsche Weise, nach innerer Überzeugung." Das sind nur Worte.
Wohl sind es Seelenoffenbarungen, aber doch nur solche, die Worte geblieben
sind. Mögen sie anch einem noch so urdeutschen, tiefinnerlichen Antrieb
entsprungen sein, und mögen sie noch so zwingend Widerhall im deutschen
Gemüte gefunden haben, aus der Sphäre rein idealen Erkennens sind sie
nicht hinausgeschritten. Anders bei Einem. Einer hat seinen Eigendrang, seine
aus glühendem Eigenempsinden gebornen Worte zu weltbewegenden Thaten
emporznsteigern gewußt: Luther. Sein erstes Wort an das deutsche Volk
waren die 95 Thesen. Wie machte das Alldeutschland auffahren! Was aber
ist der Kernsatz darin? Es ist der selbstbewußte Ausspruch der Thesen 36 und 37,
daß jeder Christenmensch nach seiner eignen Fayon bei Gott Gnade gewinnen
könne. Luther hat das bald weiter ausgeführt, am schärfsten in seinem Traktätlein
und Sermon „Von der Freiheit eines Christenmenschen." Hatte er sich an
der Schloßkirche zur Abweisung der Tetzelschen Ablaßlehre darauf beschränkt,
zu predigen, daß jeder Christ, der wahrhafte Reue fühle, um dieser seiner
selbsteignen Reue willen volle Vergebung der Sünden als sein ihm bei Gott
zustehendes Recht finde, so geht er in seinem Stnrmbüchlein darüber aufs
energischste hinaus; hier erklärt er, daß der Christenmensch, der sich in Gott
mit festem Glauben ergebe und frisch auf ihn vertraue, um desselben Glaubens
willen alle seine Sünden, all sein Verderben überwunden... und alle Selig¬
keit habe. Glaube! heißt der Fels Petri seiner Gotteserkenntnis. Glaube! ist
Anfang, Mitte und Ende seiner Lehre. Was aber ist ihm Glaube? Es ist
nicht das gebauten- und willenlose, nicht das hysterisch-ekstatische, nicht das
sklavisch-fatalistische Hinsinken vor der Gottheit als einer über der jämmerlichen
Menschheit unerreichbar thronenden, ja für ihr Begreifen überhaupt unfaßbarer
Allmacht. Nichts davon. Luthers Glcinbe ist ein gemütvoll inniges Vertrauen,
ein unaussprechlich seelenvolles Hindrängen zu Gott, ja sogar in höchster Herzcns-
erregung ein willensstarkes, Erhörung heischendes Gebetsringen mit Gott als
dem lieben Vater eines jeden, auch des elendesten Erdenpilgers.
Ebenso kindlich naiv wie titanisch großartig ist seine Auffassung des Ewig¬
keitsthemas „Gott und Mensch." „Mit dem Glauben, so sagt er z. B., ists
also gethan, daß, welcher dem andern glaubt, ihm darum glaubt, weil er ihn
für einen frommen, wahrhaftigen Mann achtet, welches die größte Ehre ist,
die ein Mensch dem andern thun kann, wie es wiederum die größte Schmach
ist, so er ihn für einen losen, lügenhastigen, leichtfertigen Mann achtet. Also
auch, wenn die Seele Gottes Wort festiglich glaubt, so hält sie ihn für
wahrhaftig, fromm und gerecht, womit sie ihm thut die allergrößte Ehre, die
sie ihm thun kann. . . . Wiederum kann man Gott keine größere Unehre an¬
thun, als ihm nicht glauben, womit die Seele ihn für einen Untüchtigen,
Lügenhaftigen, Leichtfertigen hält. . . . Wenn dann Gott siehet, daß ihm die
Seele Wahrheit giebt und ihn also ehret durch ihren Glauben, so ehret er
sie wiederum und hält sie auch für fromm und wahrhaftig durch solchen
Glauben." Etwas reckenhaft Gewaltiges ist es um diesen seinen Glauben.
Melanchthon lag 1540 zu Weimar am Tode. Luther, herbeigerufen, fand
den Freund in den letzten Zügen. Da erhob er in glühendem Gebete die
Hände zu seinem Vater im Himmel. „Allhier, so sprach er später davon,
mußte mir unser Herrgott herhalten; denn ich warf ihm den Sack vor die
Thür und rieb ihm die Ohren mit allen Verheißungen des Gebets, die ich
aus der Heiligen Schrift zu erzählen wußte, sodaß er mich anhören mußte,
Wenn ich anders seinen Verheißungen trauen sollte." Als er das gethan
hatte, faßte er Melanchthon bei der Hand und rief ihm zu: „Seid getrost,
Philipp, Ihr werdet nicht sterben." Der Hindämmernde gewann die Be¬
sinnung wieder; er wurde hergestellt. Mit geradezu gigantischer Urkraft spricht
da deutsch-individuelle Art mit ihrer Selbstachtung. Die Ausgestaltung, die
sie ihrem unendlich erhabnen Glaubensbekenntnisse giebt, ist etwas Ungeheures;
sie ist nicht mehr nud nicht weniger als die Erhebung des Staubgebornen
aus eignem Vermögen zur Sphäre der Herrlichkeit des Herrn. Trotzdem ist
Luther vor der Predigt der Heilswahrheit, deren Erkenntnis ihm unsäglich
mnrtervolle Seelenkümpfe gebracht, von der er aber bei seinem unerschütterlich
tapfern Innern doch nicht gelassen hatte, nicht zurückgebebt. Wohl ist
er sich der ganzen irdischen Nichtigkeit des Evasprossen bitter bewußt ge¬
wesen; die Jammerseligkeit der Kreatur „ihrem Fleisch und Blut nach" konnte
seinem offnen Auge nicht entgehn und ist ihm nicht entgangen. Dennoch
formte und verkündete er seine Lehre. Er fühlte, er wußte in sich etwas un¬
endlich viel Besseres, etwas unendlich viel Größeres als diese kauende und schla¬
fende, werkelnde und rechnende Körperlichkeit, etwas unendlich Hohes „nach
der Seele," was zu solchem, irdischer Schwachheit spottenden, des Aufschwingens
zu Himmelshöhn gewissem Glauben fähig ist. Er benennt es, in haarscharfer
Erkenntnis und Bezeichnung, als den „geistlichen, neuen und innerlichen
Menschen," dein gegenüber ihm der „leibliche, alte und äußerliche Mensch"
einfach gar nichts bedeutet. Was weiter oben als Kerngehalt deutschen
Wesens bezeichnet worden ist, das Aufgehn im Innenleben, der wahre, der
allein echte und rechte Individualismus, das hat bei Luther, der reinsten
und gewaltigsten Verkörperung urdeutschen Wesens, die bündigste Fassung ge¬
funden. Und was ist ihm das Leben aus der Tiefe allercigensten Seclen-
drangs, was ist ihm der innerliche Mensch! „Der innerliche Mensch, der
Christenmensch, so sagt er, wird durch den Glauben so hoch erhoben über
alle Dinge, daß er aller Dinge geistlich Herr wird." Der innerliche Mensch
ist ihm auch Priester. „Wer mag nun, so lautet es weiter bei ihm, aus¬
denken die Ehre und Höhe eines Christen menschen? Durch sein Priestertum
ist er Gottes mächtig." Am Schlüsse des sermons sagt er: „Durch den
Glauben führt der Christenmensch über sich in Gott"; ja er zögert nicht, darin
einmal ganz kurz zu erklären: „Der innerliche Mensch ist mit Gott eins."
Was aber will das alles nach seinem ideellen Kerne bedeuten? Das bedeutet
grundsätzlich: Luthers Lehre ist die Verkündung des innerlichen, echten Indivi¬
dualismus als maßgebender Größe für die Erfassung des Alls.
Es ist selbstverständlich völlig ausgeschlossen, daß die große Masse des
Volks den geistigen Feingehalt der Lutherschen Gedanken in ihrem jeder Erden¬
schwere baren Hochfluge auch nur annähernd begriffen hat. Was der gewaltige
Prediger unde/seinem innerlichen Menschen verstand, davon ist sicherlich einem
armseligen Kätnerweibe oder auch einem gewichtigen Dorfschulzen ebensowenig
aufgegangen wie einem ehrsamen Bartscherermeister oder auch Seiner Ge¬
strengen dem wohledeln Herrn Bürgermeister und zugleich Obermeister einer
wohllöblichen Knochenhauerzunft zu Buxtehude oder Posemuckel. Was thats!
Alldeutschland faßte doch, und zwar unverweilt und unfehlbar und bis aufs
Tüttelchen genau, was sein Seeleukündiger ihm zurufen wollte und wirklich
zurief, was in That und Wahrheit ethisch in diesen flammenden Luther¬
worten lag; es war, gleichgiltig, ob mit mehr oder weniger Bewußtsein, wie
mit einem Zauberschlage davon durchdrungen, daß die Ur- und Grundkraft
seines Wesens, sein Individualismus, als Gesetz seines Lebens erkannt und
mit stolzer Entschiedenheit als solches vor aller Welt auf den Schild ge¬
hoben wurde. So ungeheuer Luthers Umwertung aller bis dahin geltenden
geistigen Werte ist, so ungeheuer ist die Wirkung davon. Das Deutschtum
— nur von ihm ist hier zu sprechen — fand durch den armen Bruder Martin
endlich, wonach es seit seinem geschichtlichen Auftreten in heißem, freilich auch
ebenso ungeklärtem Streben gerungen hatte; ihm ward die Lösung des
Rätsels seines Ichs, die Erlösung aus dem gärenden Wirrsale des tiefen
innern Drangs, der ihm seit Jahrhunderten quälend und doch in der Ent¬
wicklung seiner Geschicke mehr und mehr beinahe hoffnungslos auf der Seele
gelegen hatte. Luthers Lehre gab dem Deutschtum die brennend ersehnte
Losung, gab ihm das Kennwort seines Wesens, gab ihm den Schlüssel zur
Erkenntnis seiner selbst. Und das geschah auf dem Gebiete, das für alles
Menschentum das ausschlaggebende ist, dem des seelisch reinsten, des innerlich
hehrsten, dem des Glaubens. Was da faßt, das faßt den Menschen an der
Herzwurzel. Mit dem Lutherwort ist es nicht anders gewesen. In hoch¬
erregter Leidenschaft fiel ihm das deutsche Volk wie ein Mann zu. Das Wort
wurde dadurch zu einer geschichtlichen That ersten Ranges. Es ist zur größten
That aller deutschen Geschichte geworden. Es hat eine Bewegung im Deutschtum
geboren, wie dieses eine auch nur annähernd ähnliche weder vorher noch nach¬
her gesehen hat. Das fällt für die eben gegebnen Ausführungen durchschlagend
ins Gewicht. Ist nämlich die lutherische Bewegung ihrem tiefsten Wesen nach
das Aufgehn des Volks in der Überzeugung, lutherische Art, sei wahrhaft
deutsche Art, ist sie (grundsätzlich gesprochen) die unwillkürliche oder bewußte
Erkenntnis, das Sein nach der Seele, das Leben und Weben im Indivi¬
dualismus sei der Ur- und Grundtrieb des Deutschtums, so ist diese Volks¬
bewegung der unanfechtbare Beweis für den Satz: Deutschtum und In¬
dividualismus sind sich deckende Größen.
Wenn ich im vorstehenden Absatz fast nie das Wort Individualismus,
sondern fast immer für das, was ich darunter verstanden wissen will, die
Doppelbezeichnung echter oder wahrer Individualismus gebraucht habe, so ist
das deshalb geschehn, weil ich im Verhältnis zu Breysig außer Zweifel stellen
wollte, was ich meine. Zu demselben Zweck werde ich auch den Begriff Massen¬
individualismus nach Breysigs Bezeichnungsweise, so verfehlt er auch ist, in
folgendem insoweit gebrauchen, wie es mir nötig scheint.
„Der Mafsenindividualismus, so sagt Breysig von ihm, nimmt das
menschliche Durchschnittsmaß zur Regel und Richtschnur"; „er geht viele,
wenn uicht alle an"; „ihm wohnt die Tendenz inne, die Menschen auszu¬
gleichen"; „bei ihm erscheint der Persönlichkeitsdrang soweit gezähmt und ge-
zügelt, daß er die Notwendigkeit der Genossenschaft und der Rücksichtnahme
des einzelnen auf den andern, den nächsten, grundsätzlich anerkennt." Das
hat etwas Bestechendes. Es scheint beim ersten Blick so rund und nett, daß
der Leser es unwillkürlich als unbedingt zutreffend bezeichnen möchte. Bei
schürferm Zusehen verliert sich der Eindruck.
Das Ganze ist wieder nach Breysigs nun einmal überall angewandter
Schulciuffassuug von Welt und Menschen rein allgemein gehalten, wieder unter-
scheidungslos für alle Welt und alle Menschen, als ständig gleiche Größen, mit
vorgefaßter Lehrmeinung verallgemeinert. Das geht selbstverständlich nicht an.
Dagegen muß insonderheit der Deutsche den schärfsten Einspruch erheben.
Auf deutsches Genossenschaftswesen passen die schönen Sätze ganz und gar
nicht. Es wäre geradezu eine Verdrehung der thatsächlichen Verhältnisse, wenn
gesagt würde, dem deutschen Vereinswesen wohne die Neigung inne, auszu¬
gleichen. „Gleich und gleich gesellt sich gern" ist ein uraltes deutsches Sprich¬
wort. Das wird auch heute noch überall gewahrt, wo sich deutsche Menschen
zusammenschließen. Sie suchen nicht, durch ihre Vereinigung Leute und Ver¬
hältnisse verschiedner Art miteinander in Verbindung und mit Hintansetzung
der natürlich gegebnen Verschiedenheiten unter einen Ausgleichshut zu bringen.
Gerade das Gegenteil geschieht. Immer schließen sich nur Gruppen von gleicher
Polnischer, gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Art zusammen, und zwar immer
unter strengem Ausschluß von allem, was irgendwie nicht zu ihnen paßt, und
unter oft schroffer Ablehnung jeder etwa möglichen Ausgleichung mit diesem.
Himmelweit sind und bleiben sie sicherlich davon entfernt, unter Zurückdrängung
Persönlicher Triebe und Rücksicht auf Fremdes, ein liberales Durchschnittsmaß
für Menschen und Dinge zum Maßstab ihrer Gesellungen zu nehmen. Nicht
Abdämpfung, sondern gerade Hervorhebung des Persönlichen ist der Haupttor
im Akkorde deutschen Vereinswesens. Es wird durch das zwar meistens nicht
ausgesprvchne, aber immer und überall unverbrüchlich befolgte Gesetz, nur Eben¬
bürtiges in die Genossenschaft aufzunehmen, in ganz entscheidender Weise be¬
herrscht. Der übermächtige Trieb, ja die unüberwindliche Sucht, peinlich und
oft sogar kleinlich zu sichten, in dinglicher und ganz besonders in persönlicher
Beziehung nicht auszugleichen, sondern auszuwählen, ist der Grundzug der
deutschen gesellschaftlichen Art. Gewiß, er artet manch liebes mal in kaum
glaublicher, geradezu lächerlicher Weise aus; er ist aber unbedingt dem Deutsch¬
tum innerlich eigentümlich und ihm charakteristisch. Über die Thatsache, wie
über etwas Unästhetisches, vornehm hinwegzusehen, sie gar hinwegdeuten zu
wollen, hat ebensowenig wissenschaftlich wie politisch Sinn. Die Thatsache
muß, weil sie eben unumstößlich ist, von jedermann hingenommen werden, mag
er auch über sie denken, wie er will; der Witz ist sogar, herauszubringen, wie
der in ihr und von ihr kundgemachte Urtrieb deutschen Wesens bis in seine
kleinsten und feinsten Verästelungen hinab höhern gesellschaftlichen Zwecken richtig
dienstbar gemacht, wie er — und das ist am Ende des Pudels Kern — als
nutzbare Größe in das große Rechenexempel des deutschen Gemeingetriebes, des
deutschen Staatslebens eingesetzt werden kann, und zwar so, daß er darin
ohne Rest aufgeht. Wer diese gesellschaftspolitische Aufgabe zu lösen vermag, der
nimmt, nebenbei gesagt, der Sozialdemokratie das Wasser von ihren Mühlen.
Jedenfalls ist es durchaus verkehrt, vor der Thatsache, daß das deutsche Ge¬
nossenschaftswesen in echt individualistischer Grundregung, in dem Drange nach
Zusammenschluß von Mensch zu Mensch nach persönlich ganz ins einzelne
gehender Sichtung und Auswahl wurzelt und treibt, die Augen zu schließen. Ans
deutsches Gemein-, deutsches Masscnleben lassen sich die oben angezognen
Breysigschen Regeln, deren sachlicher Boden in völlig abweichenden Ver¬
hältnissen bei Menschen und Dingen liegt, ganz entschieden nicht an¬
wenden.
Damit ist nicht gesagt und soll nicht gesagt sein, daß die Breysigschen
Ausführungen über das Wesen des Massenindividualismus durchaus und
überall falsch seien. Für ein andres als das deutsche Volkstum treffen sie
vielmehr völlig zu. Das Streben, die Menschen auszugleichen, etwaigen Per¬
sönlichkeitsdrang in ihnen niederzuhalten, auf viele, wenn nicht auf sie alle
zu sehen, menschliches Durchschnittsmaß als Regel und Richtschnur zu nehmen,
das ist dem Romanismus eigen. Während der Deutsche in der Schätzung und
Pflege der thatsächlichen, wenn auch immerhin vielfach derben und unschönen
Körperlichkeit der Menschen und Dinge, ihrer ganz persönlichen Eigenheit, ihrer
vollsaftig irdischen Individualität aufgeht, bedeutet dem Romanen der natürliche
Mensch mit seinem Erdgernche des alltäglichen, mühseligen Arbeitens und
Ringens um des Leibes Notdurft wenig, wenn nicht gar nichts. Dieses Mensch
genannte Fäserchen im Weltweben, Staub von Staub, das heute zufällig zum
Dasein für einen Augenblick der Ewigkeit gekommen ist und im nächsten schon
wieder spurlos verweht, gilt ihm und seiner abstrakten Art, zu empfinden und
zu denken, eigentlich nichts. Von der Größe Mensch erscheint ihm nur das
bemerkenswert, was sich ihm daran als ein dem Elende des Erdendaseins
Entrücktes, über den gemeinen Stoffwechsel Erhabnes darstellt. Über die ihm
nichtig scheinenden Besonderheiten und Zufälligkeiten an den einzelnen Menschen
hinweg richtet er sein Absehen auf das Allgemeine, Übersinnliche, rein Begriffliche
am Menschentum; denn nur das ist ihm das in Wahrheit Bleibende und also
das Wesentliche daran. Nicht der natürliche, sondern der ideelle, nicht die
Wirklichkeit, sondern der Begriff Mensch ist ihm Gegenstand seiner Beachtung
und Betrachtung.
Es wäre nichts leichter, als für diesen Grundzug in dem Charakter
des Romanismus Beispiele sonder Zahl beizubringen. Sie könnten sowohl
aus Racine und Moliere wie aus Zola und Nostand hergenommen werden.
IxliiAsnis und (^rg.110 sind ebenso sicher Verkörperungen einer Idee, wie
1'^.?grs, 1s Uglacis irug.Flog.irs und 6srrniug,I in zweckbewußt geschaffnen
Personen ganz bestimmte Gedanken körperlich zur Darstellung bringen. Die
damit berührte Saite vermag ich hier natürlich nicht weiter zu streichen; ich
konnte sie nur flüchtig anklingen lassen, gewissermaßen als Vorschlag für die
vollen, den in Rede stehenden Grundzug romanischer Art mit leidenschaftlicher
Wucht zum Ausdruck bringenden Akkorde aus dem berufensten romanischen
Munde selber, für die Sätze Rousseaus. Rousseau sieht auf die Meuschen
this ein'ils forn mit bitterm Hohn, ja unverhohlner Feindseligkeit hinab; den
domius r6s1 bezeichnet er in seinem Oontrat sosig.! schlechtweg als g.rriwg.1
stuMs 6t borus. Von solcher Sorte Menschentum will er grundsätzlich nichts
wissen. Das Verfahren, sie mit ihrer selbstverständlichen insA-Ms MMque
«mers iss b.oinnrs8 zum maßgebenden Ausgangspunkt für irgendwelche Ein¬
richtungen in Staat und Gesellschaft zu machen, gilt ihm einfach als Ursache
aller schlimmen Erscheinungen im öffentlichen wie im privaten Leben. Er
rechnet auch nicht mit ihr. Er nimmt als Grundgröße seiner sozialpolitischen
Bildungen den aller Erdenschlncke baren, den abstrakten Menschen; er nennt
ihn Ztrs intelligent. Was etwa daran fehlen sollte, diesem fers iutslligsnt
auch das letzte, ihm möglicherweise doch noch anklebende Nestchen irdischer
Natürlichkeit abzustreifen, das besorgt Rousseau mit dem ocmtrg.t sovml, dessen
Sätzen als unbedingt zwingenden Regeln er seine gesamte Staatsgesellschaft
unterwirft. Er nötigt jedes Mitglied seines durch den vortrat 8ooial ge¬
schaffnen corps moral se «zollsotit, zu verzichten auf uns volcmts xg.rtioulisrs
Und soo intörst xartisnlisr; er spricht sogar ganz kühl aus, daß bei voll-
kommnem Walten der vom vortrat sooial getragnen öffentlichen Ordnung la
Volants partisulivi-s on iuäiviäuslls äoit Ztrs nulle. Für deutsches Empfinden
O das die verrückteste Umkehrung der Natur; ihm aber, dem Vollblutromanen,
ist es das einzig Wahre. Mit Wollust treibt er aus den Gliedern seiner
Sozialkommnne, seinen a88osiss, den natürlichen Adam aus, um sie unter¬
schiedslos zu Idealmenschen zu machen. An der Unterschiedslosigkeit nun, an
der Gleichheit der Menschen liegt ihm alles; denn sie grundsätzlich aufzurichten
ist ihm Kern und Stern seiner Ausführungen, und sie sozialpolitisch zu be¬
gründen ist Sinn und Zweck seines vortrat social. Als er das durch das
erste Buch seiner Schrift erreicht zu haben glaubt, schreibt er triumphierend:
^6 tsrininsrai so slispitrs <ze os livrs xar uns rsumrauo Hui äoit ssrvir as
pass a tout is s^störinz sooial; o'sse ein'an usu as ä^truirs I'sAÄits Q5>.durst1s,
^ pasts konclainsutal substitus s,n voutrairs uns sA^Ins morals se lsgitims
^- es <^us 1», naturf avait xu insttrs ä'ius^lito' xb.78la.us outrs iss doininss,
6t <zus, xouvMt fers iusganx su tores on su Zsnis, Ü8 äsvisunsut tous
VMnx xar oonvsution se as äroit. Da ists, was Breysig als Massen- oder
Sozialindividualismus ansieht. Da ist in geschlossenster, reinster Form die
Annahme eines menschlichen Durchschnittsmaßes zur sozialpolitischen Regel und
Richtschnur, das Streben zur Ausgleichung der Menschen, das Absehen auf
alle unter grundsätzlicher Niederhaltung jedes Persönlichkeitsdrangs. Es ist
^doch zugleich Rousseaus Glaubensbekenntnis, Selbsterkenntnis des Urbilds
der romanischen Sonderart Mensch; es ist, weit entfernt von irgend welcher
Ableitung seiner Sätze aus allgemein menschlichem Grundempsinden, durchaus
und lediglich romanisches Wesen.
Wer den venerat 8oeig.l genauer liest, der wird sich nur schwer dazu
berstehn, die Lebensführung und charakteristische Art der von ihm ergriffnen
Menschen mit dem Breysigschcn Worte Massen- oder Sozialindividualismus
SU bezeichnen. Er wird völlig davor stutzen, wenn er auf den Satz stößt,
daß der Staat (is scmvsrain) us äistingus auonn as osux oni is ooinxo8fut.
Logischerweise giebt es gar keine Möglichkeit mehr, bei diesen Staatsordnungen
uoch von eigner Art, Individualität, Individualismus zu reden, auch uicht
unter dem Verlegenheitsdeckmantel des Hermaphroditenbegriffs Masfenindivi-
dualismus.
Wenn nur das festgestellt hat, entsteht sofort die Frage: Was steckt denn
eigentlich unter diesem Begriffe Massenindividualismus, und wofür giebt er
in Wahrheit sein Firmenschild her? Das ergiebt sich aus eiuer weitern Be¬
trachtung.
Rousseaus Behandlung des Einzelmenschen bei seiner Bearbeitung des
Themas man vör8U8 8weh hat ein Gegenstück, das, wie die Vorderseite einer
Münze zur Rückseite, untrennbar zu ihr gehört. Es ist seine Auffassung von
Staat und Gesellschaft und seiue Überzeugung von der übermächtigen Be¬
deutung der Kommune für alles öffentliche und private Leben. Die eoiumuuauts
ist ihm die höchste xsi'8onus morals und als solche 1s pouvoir 80uvsiÄin,
Wut absolu, taut sg,er6, Wut invioliMs. Was ihre Souveränität nach ihm
bedeutet, das spricht er in dem Satze aus: si l'sol u'sse on'uus psrsoninz
morals aoud ig, ?is oousisw «laus 1'union as 8Sö rusindres, se si Is piu8
imporwut als 8S3 8om8 S8t oelui als 8Ä propre L0U8srvA>einen. it lui k-int uns
toros uuivsr8s1Is se oowpul8los xour mouvoir se al8pv8ör sdg.<^us partis.
Er lehrt sogar: 1'stg.t, A l'e'Ag.ra as 868 iusmbrs3, sse is iug.!ers as tous lsur8
Kiön8. Wie allgewaltig er sich die Souveränität der Staatsgesellschaft gegen¬
über allen Gütern ihrer Angehörigen denkt, das lehrt wohl am besten das
geradezu dämonische Kapitel 8 im vierten Buche des «neutral sosial; da spricht
ein wiedererstandner Arbues. Die oornrnuuauts, die ohne jede schwächliche
Rücksicht auf läppische Einzelregungen van8tiens 1'vtg.t sowrus un fers as rg.i8or>,
ist Rousseaus Gottheit, vor der er sich und sein Menschentum platt in den
Staub wirft. Rousseaus Lehre ist die zur reinen, abstrakten Form entwickelte
Grundanschauung, daß bei der Gemeinde allein die vollkommne Gewalt über
all und jedes zu ihr Gehörige liege; es ist die Ausrufung der Masse, der
xro1s8, zur allein maßgebenden Größe, zur omnipotenten Autorität für alles
öffentliche wie private Leben. Der Einzelne gilt Rousseau nichts, alles aber
die Masse. spinnefeind ist er jedem individuellen Wesen; in proletarischen
Empfinden und Denken geht seine Seele mit Inbrunst auf.
Was Rousseau als typischer Vertreter seiner Rasse, seiner Rassentriebe
lehrt, das hat auch nicht einen Zug von Individualismus, das ist Proletaris-
mus in Reinkultur. Ich bitte, den Ausdruck Proletarismns so, wie ich ihn
hier anwende, genehmigen zu wollen. Ein besserer ist für das, was er
decken soll, nicht vorhanden; die Nebenbedeutung aber, die dem deutschen Worte
Proletariat beigelegt ist, und unter der es hauptsächlich gebraucht wird,
wohnt ihm nicht bei.
Rousseaus Leitsätze umschließen bis auf die letzte Linie genau das, was
Breysig unter Müssen- oder Sozialindividualismus verstanden wissen will.
Daraus ergiebt sich: Breysigs Massenindividualismus, um endlich mit dem
unglückseligen Zwitterworte zu brechen und das Ding beim richtigen Namen zu
nennen, ist nicht mehr und nicht weniger als blanker, kahler Proletarismns.
Ich lege nun, und ich hoffe viele Deutsche mit mir, aufs allerent-
schiedenste Verwahrung ein gegen den Mißbrauch des einen und reinen Be-
griffs Individualismus zu Bankertbildungen wie Masseuindividualismus und
dergleichen. Der Grund dafür ist sehr einfach, aber auch sehr ernst.
Der Individualismus ist die gewaltigste ethische Größe, die sich bisher
überhaupt in der Geschichte kundgethan hat. Seit Luthers Auftreten ist er
der geistige Pol geworden, uach dem noch allein die Welt gravitiert. Aus¬
schließlich den Germanen, vor allem den Deutschen ist er ein angeborner Be¬
standteil, ja ein entscheidender Grundzug ihres Wesens. Sind und bleiben sie
sich dessen bewußt, und erhalten sie sich das köstliche, ihnen vom Geschick ge-
wordne Gut in voller, unangetasteter und unantastbarer Einheit und Rein¬
heit, so sind und bleiben sie die Herren der Jdeensonne der modernen Zeit,
so sind und bleiben sie die geistigen Herren der Welt. Thun sie das nicht,
lassen sie dem heiligen Feuer, dessen gottbegnadete Meister sie sind, Teile
von Unberufnen entnehmen und diese mit fremden Zuthaten zu Nebenfeuern
entflammen, so geht ihnen Unendliches verloren. Die in Wahrheit ihnen allein
eigne seelische Erstlingskraft der Kulturwelt wird als Gemeingut aller ange¬
sehen, und ihnen wird ein Platz im gemeinen Haufen der übrigen, auch der
niedrigst stehenden Völker bereitet werden. Gewiß, thatsächlich wird damit an
dem wirklichen Sachverhältnis, an ihrer innern Überlegenheit über die Ge¬
sellschaft um sie nichts geändert werden. Ganz gewiß; doch der Glaube be¬
deutet unendlich viel. Der Glaube, daß die Deutschen nicht die alleinigen
und echten Söhne des Individualismus, der anerkannt ersten Größe im Völker¬
leben sind, hat schon dazu geführt, daß sich jedes andre Volk und Völkchen
und ihnen ethisch auf eine Stufe stellen, hat fogar schon bewirkt, daß sie selber
falsch über das Verhältnis zwischen ihrem und fremdem Kulturwerte urteilen.
Ein solcher Glaube hüben und drüben ist ein weltgeschichtliches Imponderabile
Kor gar nicht abschätzbarcr Bedeutung. Ihm Stützen zu bereiten, ist keines
Deutschen Amt. Wer als Deutscher nicht wagt, den Individualismus rück¬
sichtslos als Eigentum ausschließlich seines Volkes zu beanspruche», der soll
wenigstens zur Sache schweigen. Nie und nimmer hat er ein Recht, unüber¬
legt die Perle seines Volkstums vor die Säue zu werfen.
eilmittelhandlungen hat es bei allen Kulturvölkern schon weit
früher gegeben, bevor Apotheken im heutigen Sinne entstanden. In
Deutschland waren es im frühen Mittelalter fast nur die Mönchs¬
kloster, deren Mitglieder sich mit der Ausübung der Heilkunst be¬
faßten. Hier in den Klöstern wurden heilkräftige Arzneikräuter
gesammelt oder auch angebaut, und allerlei Arzneien daraus angefertigt und
an das Volk, wenn auch nicht verkauft, so doch abgegeben. Manche dieser
Klosterarzneien spielen namentlich in katholischen Gegenden noch heute eine
gewisse Rolle. Später, als die Städte immer mehr heranwuchsen, und sich ein
wohlhabender Bürgerstand entwickelte, entstanden hier Handlungen, die mit den
heutigen Heilmittelhandlungen schon mehr Ähnlichkeit hatten. Es waren das
die Spezereigeschäfte, d. h. Geschäfte, die hauptsächlich mit den Gewürzen des
Orients Handel trieben. Zimmet, Nelken, Ingwer, Curcuma, Galgant, Safran
gehörten hierzu, außerdem für kirchliche Zwecke Weihrauch, Myrrhen und noch
manches andre. Allen diesen Stoffen schrieb man auch mehr oder weniger heil¬
kräftige Wirkungen zu, und so war es denn ganz natürlich, daß daneben auch
mit sonstigen Heilkräutern gehandelt wurde. Noch heute erinnern die in vielen
Gegenden für Drogenhandlungen gebräuchlichen Namen: „Krüutergewölbe"
und „Spezereihcmdlnug" an diese längst entschwundnen Zeiten.
Erst als im Mittelalter, nach der Gründung von Universitäten, die ärztliche
Kunst eine mehr wissenschaftliche Grundlage erhielt, stellte sich das Bedürfnis nach
sachgemäß geleiteten Rezeptieranstalten heraus; es entstanden die ersten Apo¬
theken. Es waren dies meist Hos- oder Ratsapotheken, die, weil man ihnen eine
Existenz sichern wollte, von dem Landesfürsten oder von dem Rat der Städte mit
weitgehenden Privilegien ausgestattet wurden. Neben diesen privilegierten Apo¬
theken muß aber immer noch ans andre Art Arzncimittelhandel betrieben worden
sein; das beweisen die zahlreichen Verordnungen, die von den Behörden schon
damals erlassen wurden, und die diesem Handel steuern sollten, was allerdings
mit schlechtem Erfolg geschah, denn die Verordnungen wiederholen sich immer
von neuem. Allmählich wuchs mit dem steigenden Arzneibedürfnis die Zahl
der Apotheken immer mehr, aber diese scheinen, nach den mancherlei noch jetzt
erhaltnen Kaufakten zu schließen, keinen besonders hohen Verkanfswert gehabt
zu haben. Als sich im achtzehnten Jahrhundert die Verkehrsverbindungen
besserten, da legten einige geschäftstüchtige Apotheker neben ihren Apotheken
Handlungen mit Arzneikräutern und in einzelnen Fällen auch solche mit selbst
hergestellten chemischen Präparaten an. So entstanden die ersten Anfänge von
Drogengroßhandlungen und chemischen Fabriken. Vielfach wuchsen diese
Drogengroßhandlnngen so kräftig heran, daß sie nicht mehr in den Rahmen
des Apvthekenbetriebs paßten; sie wurden dann davon abgetrennt und bildeten
neue, selbständige Geschäfte.
Diese Entwicklung kann man bis in die allerneuste Zeit beobachte«. Die
so entstandnen Drogengroßhandlungen hatten, wie das früher fast allgemein
Gebrauch war, neben ihrem Grossogeschäft noch einen offnen Laden, wo ihre
Waren auch in kleinern Posten an das Publikum abgegeben wurden. Allmühlich
wuchsen die Bedürfnisse des Publikums und der Gewerbe nach technischen Drogen
und einfachen Haus- und Heilmitteln so sehr, daß dieser Kleinhandel nicht
mehr zu den Interessen des Grossogeschäfts paßte. Da trat auch hier wieder
eine Trennung der beiden Geschüftsarten ein; das Detailgeschüft wurde vom
Grossogeschäft abgetrennt und selbständig gemacht, und auf diese Weise sind in
der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhundert viele Drogendetailgcschäfte
entstanden. Diese waren natürlich vorwiegend reine Medizinaldrogengeschüfte,
die allerdings durch mancherlei Verordnungen in ihren Verkaufsbefugnisseu ein-
geschränkt waren, im großen und ganzen aber von den Behörden unbehelligt
blieben.
Als nun in den sechziger Jahren im Norddeutschen Reichstage die Gewerbe-
frage in Angriff genommen und alle Privilegien, mit Ausnahme des Apotheken¬
monopols, aufgehoben wurden, trugen die Regierung und der norddeutsche
Reichstag den Bedürfnissen der Allgemeinheit und den Interessen der in weit
größerer Anzahl, als man jetzt allgemein annimmt, bestehenden Drogengeschäfte
dadurch Rechnung, daß bestimmt wurde, es sollten durch eine Verordnung die
Arzneimittel bezeichnet werden, die dem freien Verkehr zu überlassen seien.
Diese Neuregelung wurde zur Notwendigkeit durch die Forderungen einer neuen
Zeit. iLwxoiÄ mutanwr se nos inutg,mur in illis! Nicht nur die Menschen
ändern sich im Laufe der Zeiten, sondern anch die Bedingungen und die Bedürf¬
nisse, die die Zeit um uns stellt. Handel und Gewerbe müssen sich beständig den
Anforderungen der Zeit und den Ansprüchen und Verhältnissen der Gesamtheit
fügen, und ein Gewerbe, das das nicht thut, geht entweder zu Grunde, oder
es wird doch von einem andern Zweige, der sich den Forderungen der Zeit
besser anzubequemen versteht, verdrängt.
Hätte sich das Apothekergewerbe den neuen Verhältnissen anzupassen ver¬
standen, anstatt sich, auf seine alten Privilegien fußend, wenig oder gar nicht
um diese Forderungen zu kümmern, so würde es die rasche Entwicklung des
Drogendetailhandels wohl haben verzögern, aber niemals ganz aufhalten können.
Denn beide Betriebe sind zu verschiedner Natur, als daß sie gemeinsam unter¬
nommen werden könnten. Die Apotheke erfordert für den Hauptteil ihres Ge¬
schäfts, die Rezeptur, unbedingt eine gewisse Ruhe, die mit dem Betriebe eines
lebhaften Drogendctailgeschäfts gar nicht vereinbar ist. Heute deckt sich der
Begriff „Drogenhandlung" nur in den seltensten Füllen mit dem einer reinen
Apothekerwarenhandlung; die Drogenhandlung hat sich auch hierin den Be¬
dürfnissen der Zeit anpassen müssen, und so haben sich heute, den Neigungen
des Geschäftsinhabers oder den Gewohnheiten der Gegend entsprechend, zahl¬
reiche andre Geschäftszweige an den Stamm der Apothekerwarenhandlung an¬
gegliedert, sodaß heute die Führung eines wirklichen Drogengeschäfts eine große
Summe von Kenntnissen erfordert. Die Kenntnisse, deren ein Drogist zur ge¬
deihlichen Führung seines Geschäfts bedarf, decken sich durchaus nicht immer
mit denen des Apothekers; namentlich sind es technische und kaufmännische
Kenntnisse, die der Drogist in weit höherm Maße als der Apotheker haben muß.
Auch das Apothekergewerbe hat im Laufe der Zeit, namentlich in der
zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts große Wandlungen durchmachen
müssen; währeud noch in der ersten Hälfte jede Apotheke eine pharmazentische
und chemische Fabrik im kleinen darstellte, in der nicht nur die sämtlichen
sogenannten galenischen, sondern auch ein großer Teil der chemischen Präparate
hergestellt wurde, haben sich die Verhältnisse heute gänzlich geändert. Nicht
nur die eigentlichen Chemikalien, sondern auch die meisten galenischen Präparate
werden heute in eignen Fabriken im großen hergestellt und infolge des Gro߬
betriebs in weit größerer Reinheit und tadelloser Beschaffenheit, als dies jemals
w den kleinen Laboratorien der Apotheken möglich war. Der Apotheker von
heute ist weit mehr Kaufmann und Händler geworden, als dies früher der
Fall war, auch das Gesetz kennt ihn nur als solchen, und fo muß er sich, wie
jeder andre Geschäftsmann in dein Teil seines Betriebs, der nicht zur Rezeptur
gehört, der Konkurrenz unterwerfen, selbstverständlich nur so weit, als das
Gemeinwohl keine Einschränkung erfordert.
Die wirklichen Drogisten streben weder nach der Rezeptur des Apothekers,
noch fordern sie die Freigabe der Mittel, durch die Leben und Gesundheit ihrer
Mitmenschen gefährdet werden können. Was sie erstreben ist einzig und allein
die Freigabe der unschuldigen Haus- und Heilmittel, die der Apotheker wie
der Drogist aus denselben Quellen und in derselben Reinheit und Güte erwirbt.
Es ist nur eine Frage der Zeit, daß diese Forderung trotz des Widerstandes
erfüllt wird, der diesen Wünschen durch die Apotheker entgegengesetzt wird.
Erst kürzlich sagte der Staatssekretär des Innern Graf von Posadowsky in
einer Sitzung des Reichstags, bei Gelegenheit der Beratung einer Petition,
den Handel mit Saccharin nnr in die Apotheken zu verweisen: „Wir können das
sich fortgesetzt entwickelnde Drogengewerbe gesetzlich oder durch Verwaltungs¬
maßregeln nicht weiter beschränken, als es zur Sicherheit von Leben und Ge¬
sundheit der Staatsangehörigen notwendig ist. Hier liegt die scharfe Grenze
zwischen beiden Gewerben."
Fast drei Jahre nach den Verhandlungen des Norddeutschen Reichstages
über die Neuregelung der Gewerbegesetzgebung, am 25. März 1872, erschien,
aufgehalten durch die großen Ereignisse der Jahre 1870 bis 1871, die erste
„Kaiserliche Verordnung über den Verkehr mit Heilmitteln außerhalb der Apo¬
theken." Damals war der Drogistenstand noch nicht in sich gefestigt; es bestand
noch keine Vereinigung, deren Vorstand hätte versuchen können, auf die Ge¬
staltung der Verordnung einzuwirken. Auf der andern Seite hatten natürlich
die Apotheker, die in den Medizinalbehörden der meisten Bundesstaaten ver¬
treten waren, alles versucht, die Verordnung zu Gunsten des Apothckergewerbes
zu gestalten, und so erschien denn eine Verordnung, die, ganz gegen die
ausgesprochnen Wünschen des Reichstags, keinen freiheitlichen Fortschritt in
der Regelung des Heilmittelhandels, sondern entschieden einen Rückschritt gegen
die frühern Verhältnisse bedeutete. Denn es waren in der Verordnung sogar
die harmlosesten Drogen, die früher unbeanstandet in allen Drogenhandlungen
verkauft wurden, wie Faulbaumrinde, Arnikablüten, Sennesblätter, Altheewurzel,
Süßholz, Nizinusöl und vieles andre mehr, dem Monopol der Apotheken über¬
wiesen worden. Natürlich rief diese Verordnung eine große Bewegung unter
den Drogisten hervor: Vereine zur Wahrung ihrer bedrohten Interessen wurden
gegründet; Petitionen wurden verfaßt und gingen, vom Publikum und zahl¬
reichen Ärzten unterstützt, an den Reichstag ab. Dieser nahm in seiner Sitzung
am 2. April 1873 folgende Resolution an: „Die Verordnung vom 25. März
1872 ist einer Revision dahin zu unterziehn, 1. daß das Verzeichnis zu § 1 im
Interesse des freien Verkehrs mit gesundheitsunbedenklichen Stoffen abgeändert,
2. daß das Privilegium der Apotheken im Z 2 auf den Kleinverkehr mit dem
Publikum mit gesundheitsgeführlichen Stoffen zu Heilzwecken beschränkt werde."
Infolge dieses Neichstagsbcschlusses sah sich die Regierung veranlaßt, eine
Sachverständigenkommission einzuberufen, und am 4. Januar 1875 erschien eine
neue Verordnung über den Verkehr mit Heilmitteln, die den Forderungen der
Neuzeit mehr Rechnung trug und einen Markstein in der Geschichte des Heil¬
mittelhandels bedeutet. Diese Verordnung schaffte eine gesetzliche Grundlage,
auf der sich der Drogenkleinhandel, wenn auch unter den schwierigsten Ver¬
hältnissen, natürlich entwickeln konnte. Im Laufe der Jahre folgten, außer
einigen kleinern, zwei weitere größere Verordnungen von 1890 und 1901, die,
wenn auch nnr in bescheidnen Umfange, dem immer entschiedner hervortretenden
Bedürfnis nach einer freiern Bewegung im Heilmittelhandel Rechnung trugen.
Wir haben die Verordnung von 1875 als einen Markstein in der Ge¬
schichte des Drogenhandels bezeichnet; zugleich war sie aber auch der Beginn
eines Kampfes, der zwischen den Drogisten und den Apothekern ausbrach, der
auch heute noch, nach mehr als fünfundzwanzig Jahren, in derselben Schürfe fort¬
geführt wird. Die Drogisten versuchten natürlich mit allen gesetzlichen Mitteln,
dnrch Eingaben an die Regierung und den Reichstag, die den freien Ver¬
kehr allzusehr beengenden Grenzen zu beseitigen. Die Apotheker dagegen sahen
in jedem Drogisten einen unbefugten Eindringling in ihre jahrhundertealten
Privilegien, den zu bekämpfen ihnen alle Mittel recht erschienen; sie wollten
nicht einsehen, daß nichts auf Erden ewig ist, und daß andre Zeiten andre
Rechte und Gesetze fordern. Ein Fachorgan der Apotheker nannte sogar die
Verordnung von 1875 „eine nie wieder gut zu machende Entgleisung der
Negierung."
So lange sich dieser Kampf nur in den Spalten der Fachpresse abspielte,
konnte man ja nicht viel dagegen sagen; jeder Mensch und jeder Stand hat
das gute Recht, feine wirklichen oder auch nur vermeintlichen Rechte mit allen
Kräften zu verteidigen. Aber der Kampf trat sofort in ein neues Stadium,
als man anfing, ihn in die Öffentlichkeit hineinzutragen. Seit einigen Jahren
findet man in der Tagespresse, in verschiednen Blättern zu derselben Zeit,
Artikel, die an irgend eine grobe Übertreibung eines Drogisten anknüpfen und
dann versuchen, den ganzen Stand zu diskreditieren und in den Augen des
Publikums herabzusetzen. Diese Tendenz tritt so auffällig hervor und wird
durch allerlei Bemerkungen und Redewendungen, wie z. B. „ein Blick hinter
die Kulissen des Drogenhandels usw.," so deutlich, daß es nicht schwer hält,
die Quellen, aus denen diese Artikel stammen, zu erraten. Das große Publikum,
dem natürlich die genaue Kenntnis der Verhältnisse fremd ist, wird durch solche
einseitige Darstellung in einer Art und Weise beeinflußt, die man nicht billigen
kann, und deshalb erschien es mir an der Zeit, durch eine objektive und rein
sachliche Darstellung der Verhältnisse, wie sie sich entwickelt haben, eine ge¬
rechtere Beurteilung der Sachlage herbeizuführen.
Wie ungerecht es ist, die Sünden einzelner einem ganzen Stande zur
Last zu legen, muß jeder einsehen, und dem Schreiber dieser Zeilen fällt un¬
willkürlich dabei die Entrüstung ein, die sich in der gesamten Apothekerpresse
kundgab, als vor etwa zwei Jahren in einer sächsischen Ärzteversammlung ein Arzt
den gesamten Apvthekerstand Sachsens angriff wegen der groben Kurpfuschereien
einiger Apotheker. Wenig Wochen sind es her, seit in den Zeitungen die
gröbliche und gewiß nicht zu verteidigende Handlungsweise eines Wiesbadner
Drogisten gegeißelt wurde, und kurze Zeit darauf brachten die Tagesblätter
eiuen Bericht über eine Gerichtsverhandlung in Celle, in der zwei Verwalter
der dortigen Schloßnpotheke wegen mehr als zwei tausendmaliger ungesetzlicher
Abgabe von Opiumtropfen an eine junge Frau in eine Strafe von 200 Mark
und 75 Mark verurteilt wurden. Hier hatten zwei Apotheker tausendmal
ihre eidlichen Verpflichtungen überschritten; ist das nicht ein Fall, der weit
schlimmer und verwerflicher ist, als die Handlungsweise des Wiesbadner
Drogisten, bei der das Unglück nur dadurch entstanden war, daß das von
ihm abgegebne Salol auf bisher nicht aufgeklärte Weise mit Strychnin ver¬
mischt war? Ein ganz ähnlicher Fall ereignete sich vor wenig Jahren in
einer süddeutschen Apotheke. Mit Recht könnte sich der Apothekerstand be¬
klagen, wenn die Drogisten den Fall aus Celle dem ganzen Apothekerstande
zur Last legten, und wenn sie an die im Prozeß festgestellte Unzuverlässigkeit
zweier Apotheker ähnliche Schlußfolgerungen anknüpfen wollten, wie in dem
Artikel über den Wiesbadner Fall, worin obendrein die Folgerungen auf un¬
wahre Thatsachen ausgebaut wurden. Wer in einem Glashause sitzt, sollte
nicht mit Steinen werfen, hat vor Jahren einmal Dr. Brunnengräber, der
damalige Vorsitzende des Apothekervereins, in einer Versammlung gesagt, in
der die Drogisten in gar zu scharfer Weise angegriffen wurden.
Niemand beklagt vielleicht mehr als der gesamte ernsthaft vorwärtsstrebendc
Drogistenstand die groben Übertretungen einzelner Standesgenossen, denn nichts
schadet dem Ansehen des Standes mehr, als derartige grobe Gesetzesver¬
letzungen. Der Deutsche Drogistenverband hat deshalb in seine Satzungen
einen Paragraphen aufgenommen, der den Ausschluß eines Mitgliedes be¬
stimmt, sobald er sich des Rezeptierens oder der Abgabe starkwirkender Heil¬
mittel schuldig macht. Einzelne Vereine, z. B. der Hamburger Lokalverein,
haben sogar ihre Mitglieder unter Androhung des Ausschlusses auf Ehrenwort
verpflichtet, sich derartiger Übertretungen zu enthalten.
Bei dem Erlaß der kaiserlichen Verordnung von 1875 mochten im ganzen
Deutschen Reiche etwa 500 Detaildrogisten vorhanden sein; heute dürfte die
Zahl der wirklichen Drogenhandlungen mehr als das zehnfache betragen. Es
ist dies eine Entwicklung, wie sie in gleicher Weise wohl selten vorkommt,
und die am besten zeigt, daß ein dringendes Bedürfnis diesen Stand geschaffen
hat. Der Drogist ist der natürliche Vermittler zwischen dem Großhandel und
den Bedürfnissen des Kleingewerbes und der Haushaltung; aber er war auch
notwendig, wenn man endlich die übermäßig hohen Preise der einfachsten
Haus- und Heilmittel auf ein richtiges Maß Herabdrücken wollte. Daß eine so
schnelle Entwicklung, wie sie bei dem Drogistenstande erfolgt ist, auch manche
unangenehme Nebenerscheinung gezeitigt hat, ist erklärlich. Wir rechnen hierzu
vor allem das sogenannte „wilde Apothekertum," wie es sich namentlich in
den achtziger Jahren in einzelnen Großstädten breit machte, eine Erscheinung,
die heute, dank dem Vorgehn einzelner Vereine und einer strengern Gesetz¬
gebung, fast ganz verschwunden ist. Ein zweiter Auswuchs sind die sogenannten
„Drogenschränke," die durch spekulative Fabrikanten an Wirte, Handwerker
oder andre Leute, denen jede Geschäftskenntnis abgeht, geliefert werden. Dieses
„Schraukdrogistentum" birgt selbstverständlich mancherlei Gefahr in sich, aber
sie könnte leicht beseitigt werden, wenn die Regierung sich entschlösse, den von
allen wirklichen Drogisten erstrebten und erhellten Befähigungsnachweis einzu¬
führen.
Eine Behauptung der Apotheker, die immer ins Treffen geführt wird,
wenn es gilt, die Bestrebungen des Drogistenstandes nach größerer Bewegungs¬
freiheit zu bekämpfen, ist die, daß durch die Konkurrenz der Drogisten die
Existenzfähigkeit der Apotheken beeinträchtigt würde. Auf wie schwachen Füßen
diese Behauptung steht, beweist am besten die an das Unglaubliche streifende
Steigerung der Apothekenpreise. Damit wir nicht der Übertreibung geziehen
werden, bringen wir als Beispiel eine Mitteilung ans der Pharmazeutischcn
Wochenschrift.
Zur Preissteigerung der Apotheken berichtet dieses Blatt, „daß in Danzig
eine Apotheke innerhalb eines Monats zweimal »mit leidlichem Gewinn« ver¬
kauft worden ist. Nach vierzehntügigem Besitz habe ein Apotheker 13000 Mark
verdient. Innerhalb der letzten zehn Jahre haben von neun Apotheken in
Danzig vier dreimal durch Verkauf ihren Besitzer gewechselt. Für die Neu¬
gartenapotheke wurden 1893 50000 Mark mehr als beim letzten Verkauf ge¬
zahlt, beim Verkauf im Jahre 1901 weitere 30000 Mark, und bei einem zweiten
Verkauf im selben Jahre nochmals 13000 Mark mehr. Innerhalb zehn Jahren
erfolgte also eine Preissteigerung von 93000 Mark. Die Elefantenapotheke
wurde 1892 mit 54000 Mark mehr als bei dem letzten Verkauf und 1895
mit weitem 16000 Mark mehr verkauft. Die Adlerapotheke erzielte beim Verkauf
1894 ein Mehr gegen den letzten Verkauf vou 171000 Mark, 1899 wurde
sie nochmals um weitere 35000 Mark höher verkauft. Die Langfuhrer Apo¬
theke wurde 1891 um 40000 Mark höher als zuvor verkauft. Bei dem Ver¬
kauf 1895 erfolgte eine weitere Preissteigerung um 60000 Mark, und beim
Verkauf 1897 abermals eine solche um 30000 Mark. Die Pharmazeutische
Wochenschrift weist nach, daß in zehn Jahren rund 700000 Mark an sieben
w Danzig verkauften Apotheken verdient worden sind."
Solche Zahlen sprechen am besten für sich selbst, aber sie müssen auch
der Regierung und jedem Nationalökonomen zu denken geben. Denn diese ab¬
normen Steigerungen der Preise findet man nicht nur in den Großstädten,
sondern auch fast bei allen Landapotheken. Es soll gar nicht geleugnet werden,
daß sehr viele Apotheker durchaus nicht in glänzenden Verhältnissen leben;
das aber hat seine Ursache nicht etwa in der Konkurrenz der Drogisten, sondern
w der allen kaufmännischen Grundsätzen Hohn sprechenden Art und Weise,
Kne bei dem Verkauf der Apotheken ihr Wert festgesetzt wird. Dieser nämlich
wird bestimmt nicht etwa durch den erzielten Reingewinn, sondern durch den
Umsatz des Geschäfts, der einfach mit dem acht- bis zehnfachen bezahlt wird.
Ein solcher unglückseliger Käufer wird natürlich, wenn er nicht selbst ein großes
Vermögen in das Geschäft hineinstecken kann, von der Zinsenlast erdrückt;
aber anstatt hier selbst die bessernde Hand anzulegen, ruft man nach Staats¬
hilfe, um jede Konkurrenz, wenn möglich, zu beseitigen.
Wir haben vorhin gesagt, der Drogistenstand habe sich unter sehr schwierigen
Verhältnissen entwickelt, und diese Behauptung hat ihre volle Berechtigung.
Denn die Drogisten werden fast in allen Bundesstaaten durch die Apotheker,
also durch die direkten Gegner des Standes, beaufsichtigt und revidiert. Die
Revisionen sind aus gesundheitspolizeilichen Gründen notwendig und berechtigt;
aber anstatt nun die Güte und Reinheit der Waren zu prüfen, statt auf die
Sauberkeit und Ordnung des Geschäfts ihr Augenmerk zu richten, halten die
Revisoren in vielen Fällen nur Haussuchungen ab und spähen nach den dem
freien Verkehr entzognen Heilmitteln. Außerdem werden dieselben Apotheker,
die irgendwelche Übertretungen bei den Behörden angezeigt haben, gewöhnlich
als Sachverständige bei den Gerichtsverhandlungen zugezogen, und da der
Richter bei den rein technischen Fragen ans das Gutachten der Sachverständigen
angewiesen ist, sind sie, in gewisser Beziehung, Kläger und Richter in einer
Person. Weit schlimmer aber ist der Umstand, daß die Apotheker bei allen
den Drogenhandel betreffenden Gesetzen und Verordnungen einen großen Ein-
fluß ausüben können, da sie fast in allen Medizinnlbehörden der Bundes¬
staaten Sitz und Stimme haben, während der Drogistenstand ohne jede Ver¬
tretung ist.
Wenn sich dieser nun trotz aller Schwierigkeiten zu einer so geachteten
Stellung emporgerungen hat, wie es in Wirklichkeit der Fall ist, so ist das
der beste Beweis für seine Berechtigung und für den gesunden Kern, der in
ihm steckt. Als im Jahre 1873 der Deutsche Drogistenverband gegründet wurde,
ein Verband, der heute nahezu 2500 Mitglieder hat, erkannte er es sofort
als eine seiner wichtigsten Aufgaben, für eine gediegne fachmännische Aus¬
bildung seines Nachwuchses Sorge zu tragen. Fast in allen größern Städten
des Deutschen Reichs sind Fachschulen eingerichtet worden, in Braunschweig
giebt es sogar eine unter dem Protektorat des Verbands stehende Drogisten¬
akademie. Eigne Lehrbücher für den Drogistenstand sind geschaffen, ein Lehr¬
gang ist ausgearbeitet, und endlich eine streng geregelte Gehilsenprüfung ein¬
geführt worden. Heute sind an dreißig verschiednen Orten des Deutschen Reichs
Prüfungskommissionen eingesetzt, die nach gleichmäßigen Bestimmungen die
Prüfungen ausführen. Tausende von jungen Leuten haben sich im Laufe der
Jahre an der Akademie und den Fachschulen einer Prüfung unterzogen und
bilden neben den 2000 Apothekern, die im Drogistenstande thätig sind, einen
Stamm, auf den der Einwand, „die Drogisten hätten kein fachmännisch aus¬
gebildetes Personal," uicht mehr angewandt werden darf. Daß alle diese Ein¬
richtungen eine Unsumme von Arbeit, Mühe, Zeit und auch von Geld gekostet
haben, ist zweifellos, und ein Stand, der derartige Opfer für rein ideale Ziele
gebracht hat und noch immer bringt, verdient denn doch etwas andres, als eine
fortwährende Anfeindung wegen der Sünden einzelner Standesgenossen.
n einer Zeit, die in Preußen soeben die „Gleichwertigkeit" der von
den verschiedenartigen höhern Unterrichtsanstalten vermittelten Bildung
grundsätzlich ausgesprochen hat und daraus die Gleichberechtigung für
die meisten Hochschulstudien folgern will, ohne die praktischen Kon¬
sequenzen zu übersehen und ohne zunächst im übrigen Deutschland
ganz damit durchzudringen, wird es nicht unangemessen sein, einen
Rückblick auf die Zeit zu werfen, wo das sogenannte Bildungsmonopol der huma¬
nistischen Gymnasien noch unerschüttert aufrecht stand, und die eben erst aufkommenden
Realschulen noch gar keinen Anspruch darauf erhoben, eine gleichberechtigte Bildung
zu vermitteln. Ich wähle die Schule, der ich selbst meine Vorbereitung zur Uni¬
versität verdanke, und von der ich vor vierzig Jahren, zu Ostern 1862, abging,
das Gymnasium in Zittau, weil hier lebendige persönliche Erinnerungen sprechen
können, die doch etwas Typisches für diese Zeit haben. Denn die Verhältnisse waren
auf den einzelnen Gymnasien Sachsens mich damals nicht sehr verschieden, da sie
"lie schon unter der Herrschaft des ersten sächsischen Gymnasialregulativs von 1846
standen, obwohl jede Schule trotzdem wieder ihr eignes Leben lebte, jede mannig¬
fache althergebrachte Eigentümlichkeiten hatte und von ihrer verschieden gearteten
Umgebung auch in sehr verschiedner Weise beeinflußt wurde. Bei einem solchen Ver¬
gleich gedenke ich keineswegs ein tamas-lor temxoris avei zu werden, aber ich möchte
duch nicht, in das selbstgefällige Eigenlob des einfältigen Famulus Wagner ein¬
stimmend, rühmen, wie wirs zuletzt so herrlich weit gebracht, denn zu beidem liegt
gar keine Veranlassung vor.
Ein Unterschied, der heute sehr stark ins Gewicht fällt, der nämlich zwischen
großstädtischen und kleinstädtischen Gymnasien, trat damals noch nicht so sehr hervor.
Das damalige Leipzig z. B. war noch nicht entfernt die Großstadt von hente, son¬
dern stand mit seinen 80 000 Einwohnern den Mittelstädten viel näher, und es
^>air auch noch keine Industriestadt, sondern eine reine Handels- und Universitäts¬
stadt, die noch kaum den Anfang gemacht hatte, sich in ihren Gebäuden einiger¬
maßen zu verschönern. Freilich hatte sie in ihrem alteingesessenen Kaufmanns¬
stand ein festes Fundament soliden Wohlstands, in ihrem Buchhandel und ihrer
damals allerdings nicht besonders blühenden Universität mit kaum tausend Studenten
d'e Triebkräfte eines regen geistigen Lebens, und durch beide griff sie seit lauger
«eit weit über die Grenzen Sachsens und Deutschlands hinaus, war dazu seit fast
""ein Jahrhundert die anerkannte musikalische Hauptstadt Deutschlands. Aber der
6/U'ze Zuschnitt ihres Lebens, namentlich auch der enge innere Zusammenhang ihrer
Angefesselten Familien hatte noch sehr viel von einer Mittelstadt. Und wenn meine
^aterstadt Zittau um dieselbe Zeit kaum 15 000 Einwohner hatte, so nahm sie es
och mit mancher wesentlich größern Stadt wohl besser auf als heute. Wie alle
^ alten Sechsstädte der Oberlausitz immer sehr selbständig und reich an Grnnd-
hatte sie eine Reihe alter Familien, die sie eigentlich regierten, einen in einer
^chen Vergangenheit wurzelnden Lokalpatriotismus, der allerdings zuweilen eiuiger-
s/^ Beschränktheit grenzte und sich von außen kommenden Einflüssen ungern
^gte, einen bescheidnen, aber soliden Wohlstand, der von altersher ans der lange
^en in einer eigentümlichen Konzentration der Handweberei ausgeübten Gewerb-
thätigkeit erst der umliegenden, volkreichen Jndustriedörfer, dann auch auf dem mo¬
dernen Fabrikbetrieb in der Stadt selbst beruhte, und ein regeres geistiges Leben
als heute, da damals wissenschaftliche Beschäftigung noch nicht einen so weitschich¬
tigen Apparat erforderte, wie er heute notwendig ist und natürlich nnr in großen
Mittelpunkten vorhanden sein kann. Die Stadt trug in den Bauten noch das
Gepräge ihrer Blütezeit in der zweiten Hälfte des siebzehnten und der ersten des
achtzehnten Jahrhunderts, zeigte aber auch noch die Spuren der zerstörenden Be¬
schießung durch die Österreicher am 23. Juli 1757 in zahlreichen sogenannten „Brand¬
stellen," deren Hänser seitdem nicht wieder aufgebaut und meist durch Gärten ersetzt
worden waren.
Die Vorstädte waren nieist noch ganz ländlich, denn sie bestanden noch aus
Gemüsegärten und Bauernhäusern. Nur hier und da quälende schon ein Fabrik¬
schornstein, oder zeigte sich ein neues städtisch gebautes Haus; im allgemeinen wohnte
man noch in der innern Stadt, deren malerische Mauerreste und Thortürme erst
in meiner Schulzeit allmählich verschwanden. So lag sie in sich abgeschlossen in¬
mitten eines reichen Kranzes großer Dörfer gegenüber der schönen Gebirgskette, die
hier die Oberlausitz von Böhmen trennt, auf drei Seiten von böhmischen Gebiet
umgeben, dicht an der Grenze und mit dem Nachbarlande in mannigfachen Be¬
ziehungen trotz der scheidenden Zolllinie. Aber es lebte in ihrer Bevölkerung auch
etwas von dem Stolze des Grenzers, der als Protestant und im Besitz einer
höhern Kultur etwas besseres zu sein glaubte als das katholische Volk da drüben,
das jeden Sonntag und Markttag in schreienden Farben aufgeputzt herüber zu
kommen Pflegte und uns seine Beerenweiber und Holzsuhrleute jederzeit ins Haus
schickte. Vollends auf die „Stockböhmen," die Tschechen weit drinnen im Binnen¬
lande, die so beschränkt waren, daß sie nicht einmal Deutsch verstanden, sah man
mit einer gewissen Verachtung herab. Kurz, es war nichts kleines, ein Zittauer zu
sein, und auch wir Gymnasiasten fühlten uns mit Stolz als Zittauer.
Aber auch die Stadt war stolz auf ihr Gymnasium, denn es war eine städtische
Schule, und es hörte auch mit dem Kollaturvertrage von 1855 nicht auf, das zu
sein. Aus einer dürftigen Lateinschule, die ursprünglich dem Johanniterorden ge¬
hörte, hatte es die Stadtgemeinde 1586 in ein Gymnasium verwandelt und ihm
die Gebäude des Johanuiterkomtnrs hinter der Hauptkirche zu Se. Johmmis über¬
wiesen. Dieses damals und später vielfach verbesserte, verschönerte und erweiterte
Haus nahm sich viel stattlicher aus als etwa die alte Nikolaischule. Es steht noch heute
fast unverändert und ist ein langgestreckter einstöckiger Bau mit einem vorspringenden,
später angesetzten Flügel im Osten; in der Mitte ist er von einem stattlichen
Renaissancethorbogen unterbrochen, das Dach ist von drei Nenaissancegiebeln ge¬
krönt, und die Front mannigfach mit lateinische» Inschriften geschmückt. Den
Westflügel nahm die Rektorwohnung ein. Nur im Erdgeschoß darunter war eine
Klasse, die Sexta, untergebracht, eine etwas unheimliche Nachbarschaft, nämlich für
die Sextaner, denn wenn sie in der Pause einmal allzusehr tobten, dann erschien
Wohl plötzlich als durchaus unerwünschter asu« ex inaLning. der Herr Direktor
und stellte durch ganz unzweideutige, wirksame Handbewegungen die Ruhe wieder
her, denn damals begründete eine Ohrfeige noch keine Anklage auf Körperverletzung.
Der Ostflügel gehörte der Schule, doch enthielt er noch keine Aula. Unten lagen
vier Klassen, von denen aber die Quinta einen besondern Eingang hatte, oben zwei
mit dem Konferenzzimmer, das zugleich die naturgeschichtlichen Sammlungen in
großen Schränken barg. Das ansehnlichste Zimmer hatte die Prima, einen langen,
verhältnismäßig niedrigen Raum, dessen vordere Fensterreihe auf den Kirchplatz und die
hohe Kirche ging, während die Hintere nach dem großen, schattigen und obstreichen
Nektorgarten hinaussah. Ein hohes, breites Doppelkatheder nahm die Mitte der west¬
lichen Schmalwand ein; der vordere Raum, wo der riesige grüne Kachelofen und
der Flügel standen, diente zugleich als Musikzimmer und in den Pausen gelegentlich
auch zur Austragung von Differenzen in der Klasse. Denn verglichen mit heute
muß zugestanden werden, daß eine so wohlgeordnete Aufsicht in den Pausen weder
ans den Korridoren noch vollends innerhalb der Klassen bestand; in jenen war sie
bei der Verteilung der Klassenzimmer ganz unmöglich, und in diesen blieb sie den
Pruni überlassen, die dieses Vertrauen nicht immer zu rechtfertigen vermochten, um
wenigsten in Tertia, wie ich aus eigner leidvoller Erfahrung eingestehn muß. Auch
die langen Burke waren allmählich zu Archiven ganzer Generationen geworden.
Mit der Beleuchtung durften wir, nachdem die Periode der hängenden Öllampen
und der Talglichter überwunden war, im ganzen zufrieden sein, obgleich wir noch
kein Auerlicht mit rosigen Schützern hatten.
Trotz mancher Mängel liebten wir unsern „alten Kasten" und empfanden es
schmerzlich, als wir für einige Zeit in das neue, lichte, geräumige Gebäude der
Baugewerkschule an der Promenade übersiedeln mußten. Denn seit Ostern 1855,
ein Jahr nach meinem Eintritt, wurde das Gymnasium mit einer aus der frühern
Gewerbeschule gestalteten Realschule in der Weise unter derselben Leitung verbunden,
daß die Sexta und die Quinta als „Proghmnasium" den gemeinsamen Unterbau
beider Anstalten bildeten und von da ab das Gymnasium in vier, die Realschule
in drei Klasse» aufwärts stieg. Obwohl auch das Kollegium eine Einheit bildete,
waren doch die beiden Schulen innerlich ganz selbständig, und ihre Schüler trugen
sogar verschiedne Mützen. So recht ebenbürtig erschienen freilich uns Gymnasiasten
die Realschüler keineswegs; wir lagen einander deshalb oft in den Haaren, buch¬
stäblich und figürlich verstanden, und namentlich die wenigen gemeinsamen Stunden
in den Mittelklassen wurden zuweilen durch stürmische Auftritte eingeleitet. Erst
seit Ostern 1861 begann nach dem ersten Realschulregulativ vom 2. Juli 1860
eine weitere Trennung, sodaß die Realschule sechs selbständige einjährige Klassen
erhielt, und das Latein nur von denen gefordert wurde, die das Reifezeugnis er¬
strebten.
Diese bis 1882 aufrecht erhaltne Verbindung veränderte auch die Zusammen¬
setzung des Kollegiums wie die Zahl und die Beschaffenheit der Schülerschaft ganz
wesentlich. Als mein Vater zu Michaelis 1854 das Rektorat des Gymnasiums
übernahm, bestand dessen Kollegium nach alter Art, den Rektor eingeschlossen, aus
sieben wissenschaftlichen Lehrern entsprechend den damaligen sieben Klassen, dem
Direktor (Rektor), Korrektor, Subrektor (ein außerhalb der Oberlausitz nicht üblicher
und seitdem verschwnndner Titel) oder Tertius, dem Quartus, der zugleich Kantor
war, dem Quintus, dem Sextus und dem Septimus, zu denen der Mathematikus
und noch einige Fachlehrer für Zeichnen und Turnen kamen, Diese sieben Lehrer
Waren ihrer Vorbildung nach alle Theologen, stammten fast alle aus der Stadt
oder ihrer nächsten Umgebung, hatten ihr Triennium gewöhnlich in Leipzig absol¬
viert und waren als Kandidaten in ihre Vaterstadt zurückgekehrt, um hier zunächst
etwa an der Bürgerschule als Lehrer einzutreten und dann entweder ins geistliche
Amt überzugehn oder ein Lehramt am Gymnasium zu übernehmen. Doch hatten
sie auf der Universität die damals noch nicht so sehr umfängliche Philologie keines¬
wegs als bloßes Nebenfach behandelt — mein Vater hat z. B. sämtliche Vorlesungen
^- Hermanns gehört —, und der vielfache Gebrauch des Lateinischen bei .Kollegien,
Übungen und Prüfungen gab den jungen Leuten eine Sicherheit und Gewandtheit
in dieser alten „Muttersprache der Gelehrten," die heutzutage nirgends mehr er¬
reicht wird. Deu modernen philosophischen Doktortitel, der jetzt bei einem Gym¬
nasiallehrer als selbstverständlich gilt, führte nur einer, der Mathematiker; dagegen
hatte der älteste von ihnen, der Kantor, noch den jetzt verschwundueu Titel eines
UaFist-ör ub. -ut.
Erst 1843 wurde eine besondre Prüfungskommission für Philologen in Leipzig
gebildet, und erst nach und nach drangen solche mich in das alte Gefüge des
^Ymnasialkollcginms ein. Jener alte Stamm aber blieb seiner Schule bis aus
Ende treu. Sie stiegen mir an ihr auf, langsam genug — eiuer vou ihnen wollte
sogar die bescheidne Stellung des Quintus niemals verlassen —, wurden niemals
Versetze, wünschten das auch gar nicht und starben meist im Amte oder als ZZme-riti
in der Stadt ihrer Wirksamkeit; ein einziger, der einzige jetzt noch lebende meiner
damaligen Lehrer, ging später in eine andre Stellung über, blieb aber auch in
dieser in Zitten. Das gab dem Kollegium ein merkwürdiges Gepräge der Stabilität
und einen konservativen Zug, wie das in dieser Weise heute uur selten möglich ist.
Erst die Verbindung mit der Realschule brachte neue, zum Teil ganz fremdartige
Elemente herein, und seitdem begann in den untern Stufen auch ein rascherer
Wechsel. Seit Ostern 1855 zahlte das neu konstituierte Kollegium dreizehn wissen¬
schaftliche Lehrer, darunter sieben Theologen und Philologen, und drei Fachlehrer;
auch gab es darunter schon drei Mitglieder mit dem Doktortitel. Die Schülerzahl
wuchs natürlich seit der Verewigung mit der Realschule. Hatte das Gymnasium allein
vorher rund 100 Schüler gehabt, von Sexta bis Tertia zwölf bis vierzehn in jeder
Klasse, so betrug 1862 die Gesamtzahl 287, von denen die größere Hälfte ans die
Realschule kam. Weitaus die Mehrzahl stammte ans der Stadt und der Landschaft,
einzelne aus Schlesien, eine ziemliche Anzahl von Realschülern aus Böhmen, ein
Zuzug, der erst nach 1866 aufgehört hat. So schloß sich auch in dieser Beziehung
die Schule gewissermaßen ab, ähnlich wie die städtischen Gymnasien Leipzigs noch
jetzt, die ja auch wenige auswärtige unter ihren Schülern haben, nur daß freilich
viele dieser Leipziger Familien erst aus allen möglichen Teilen Deutschlands zuge¬
wandert sind und die Frequenz auch der humanistischen Gymnasien auf 500 bis 800
gestiegen ist. Jedenfalls ließ sich die alte Zittauer Doppelanstalt, wie sie vor
vierzig Jahren war, leichter übersehen, als diese modernen großstädtischen Doppelgym¬
nasien, die vom pädagogischen Standpunkt aus doch Monstra sind.
In der Lehrverfassung dagegen tritt die Überlegenheit des heutigen Gymna¬
siums augenfällig hervor. Während wir heute neun in allen wissenschaftlichen Fächern
vollständig getrennte, in ebensovielen Jahrgängen aufsteigende Klassen haben, waren
damals nur die drei untern Klassen, Sexta, Quinta, Quarta, einjährig, die drei
obern zweijährig, die Tertia uur im Griechischen in zwei Abteilungen getrennt.
Also hatte jeder Lehrer in jedem Fache zwei Schülerjahrgänge von verschiednen
Alter und verschiedner Reife vor sich und mußte seinen Stoff danach zuschneiden,
kam aber natürlich in die Gefahr, die Behandlung für die eine Generation zu hoch,
für die andre zu tief zu greifen. Dazu gesellte sich die große Unbequemlichkeit,
in Grammatik, Mathematik, Geschichte, Religion in jedem zweiten Jahre der eben
in die Klasse eintretenden Schülergenerntion immer den zweiten Teil des Gesamt-
pcnsums der Klasse zuerst bieten zu müssen, also z. B. in Tertia die römische
Geschichte vor der griechischen, in Sekunda die zweite Hälfte des Mittelalters, in
Prima die zweite Hälfte der Neuzeit vor der ersten zu behandeln. Ohne Schaden
behaupten ließ sich diese unvollkommne Einrichtung, die an kleinern Gymnasien bis
tief in die siebziger Jahre fortgedauert hat, nur, weil die Klassen schwach waren,
also auf den einzelnen Schüler mehr Arbeit und Sorgfalt verwandt werden konnte,
als in den vollen Klassen moderner großstädtischer Gymnasien. Freilich steigerten
sich die Schwierigkeiten dann, wenn zwei dieser obern Klassen, also vier Jahrgänge,
verbunden werden mußten, wie z. B. in der Religion Prima und Sekunda bis ein
Jahr vor meinem Abgange. Ich habe noch eine sehr deutliche Erinnerung daran,
wie viel Mühe es mir kostete, mich als angehender Sekuudauer in die mir ganz
neue Behandlung des Stoffs hineinzufinden. Und doch hatte die Einrichtung auch
manches Gute. Sie förderte gründliche Repetitionen und erleichterte für begabte
und strebsame Schüler das raschere Aufsteigen, sodaß es nicht so sehr schwierig war,
mit einem Jahre durch Sekunda zu kommen, während heute ein derartiges außer¬
ordentliches Aufsteigen mit den allergrößten Schwierigkeiten verbunden ist und des¬
halb zu den seltensten Ausnahmen gehört, nicht zum Vorteil der besonders begabten
Schüler.
Die Stundenzahl für die einzelnen Fächer war schon ziemlich dieselbe wie heute;
doch begann das Französische, das auf allen Stufen über zwei Stunden verfügte,
schon in Quinta, statt wie seit 1882 in Quarta, das Griechische in Quarta statt
in Untertertia, und das Englische fehlte im Gymnasium auch als wahlfreies Fach ganz.
Auch in der Lektüre war bei den klassischen Sprachen der Unterschied im Vergleich
mit der Gegenwart nicht groß. Im Lateinischen war z. B. neben dem Cornelius
Nepos in Quarta die Ciceronische Chrestomathie von Friedemann im Gebrauch, die
nach meiner Erinnerung für die Schüler zu schwer war und ihnen deshalb wenig
Freude machte, für das Griechische in der zweiten Abteilung der Tertia das treff¬
liche Lesebuch von Jacobs; später wurde in Sekunda Plutnrch gelesen, der jetzt aus
der regelmäßigen Klnssenlektüre leider ganz verschwunden ist, während ich mich nicht
entsinnen kann, mich jemals mit Lysicis beschäftigt zu haben. Daß die Erklärung
im ganzen hinter der heutigen wesentlich zurückstand, ist nicht zu leugnen, begründet
aber für die damalige Generation, keinen Vorwurf, denn seit vierzig Jahren hat
eben die philologische Wissenschaft und mit ihr die philologische Vorbildung der
Lehrer die größten Fortschritte gemacht. Damals wurde in Sachsen die Interpre¬
tation von der kritisch-grammatischen Schule G. Hermanns beherrscht, und die ver¬
gleichende Sprachwissenschaft stand noch in den Anfängen und war für die Gram¬
matiker, also auch für die Schulen, noch gar nicht vorhanden; die lange Reihe der
Weidmannschen Handbücher für die klassische Altertumskunde begann eben erst zu
erscheinen, weder Olympia noch Delphi noch Mykenä oder Troja waren aufgedeckt,
nicht einmal das Forum romanum, die Kenntnis der Stätten antiken Lebens und
des antiken Lebens selbst also unvergleichlich geringer als heute, und von den reichen
Anschauungsmitteln, die uns heute zur Verfügung stehn, war gar nichts vorhanden.
Wenn nicht der Lehrer einmal selbst kleine Abbildungen mitbrachte, die in der Klasse
zirkulieren konnten, was immer viel Zeit wegnahm, so erhielten wir von alledem,
was heute mühelos geboten wird, keinerlei Anschauung, und keiner von unsern Lehrern
hatte jemals Griechenland oder Italien mit eignen Augen gesehen. Wie wäre das
damals auch bei der mangelhaften Ausbildung der Verkehrsmittel — Italien hatte
damals außerhalb des Potieflandes noch fast keine Eisenbahnen — überhaupt nur
möglich gewesen!
!^ Andres hing natürlich damals wie heute von der Individualität des Lehrers
ub und hatte mit der Stufe der Wissenschaft an sich nichts zu thun. So wenn
uns unglücklichen Tertianern zugemutet wurde, den Anfang des elften Buchs der
Odyssee zu Präparieren ohne eine Spur von Anleitung und mit dem großen Passow!
Ich habe damals über den ersten fünf Versen einen ganzen Nachmittag gesessen,
weil ich fast jedes Wort und jede Form nachschlagen mußte, und dem alten Homer
von Herzen geflucht. Oder wenn uns derselbe Lehrer in Prima langatmige lateinische
Anmerkungen zu den Oden und Episteln des Horaz aus einem vergilbten Heft in
die Feder diktierte. Und das war wirklich ein klassischer Philolog, kein Theolog!
Dem Horaz habe ich damals so wenig Geschmack abgewonnen wie dem Sophokles
in Prima, da dieser Lehrer wiederum die Schönheiten des Dichters zwar selbst tief
empfand, aber sie uns nicht zu zeigen wußte. Dagegen habe ich zu derselben Zeit
für Tacitus und Demosthenes ein warmes Interesse gewonnen, und dieser Lehrer
war einer von den philologisch gebildeten Theologen. Denn im ganzen wird man
diesen, wenn sie tüchtig waren, nachrühmen dürfen, daß sie ihr Latein und Griechisch
sehr wohl verstanden, wenn sie auch auf grammatische und stilistische Feinheiten wenig
Gewicht legten, und daß ihr geistiger Horizont, eben weil sie auch Theologen waren,
über das Fachinteresse weit hinausging. Mein eigner Vater — das darf ich ohne
Überhebung sagen — ist mir darin immer als Muster erschienen; er vertrat in den
obersten Klassen Lateinisch, Griechisch, Deutsch, Geschichte und Religion, und seine
Stunden habe ich immer als die anregendsten empfunden, die mir das Gymnasium
geboten hat. Ich glaube, meine Mitschüler haben nicht anders geurteilt. Er leitete
uns auch zu selbständiger Privatlektüre in der Weise an, daß er uns die Wahl des
Schriftstellers freiließ und dann seine Schüler einzeln oder gruppenweise auf seinem
Zimmer kontrollierte. So habe ich damals den größten Teil von Xenophons Ana-
basis, die vier letzten Bücher Herodots, die Antigone und fast die ganze Odyssee,
die mich immer mehr angezogen hat als die Ilias, privatim gelesen. Was gedächt¬
nismäßig einzuprägen war, vor allem also die Formenlehre, das wurde damals nicht
weniger „gepaukt" als heute, in Sexta anfangs noch mit Hilfe des Rohrstocks; die
unerbittliche Strenge, mit der in Tertia unser Subrektor die unregelmäßigen grie¬
chischen Verba einübte, war musterhaft, und uoch heute rollt es bei mir, wenn ich
<5^cLc-), <5()c^ höre oder lese, unwillkürlich weiter: K<^«x«, o?rc^?r«, öl/)o^«t, e,'6ol^.
Was die schriftliche» Übungen betrifft, so ist ja das griechische Spezimen in
Prima erst 1890 gefallen; wir haben es also bis zur Reifeprüfung geübt, zuweilen
auch aus dem Lateinischen ins Griechische übersetzt. Sehr ausgedehnt waren die
lateinischen Schreib- und Sprechübungen. In Prima wurde meist lateinisch inter¬
pretiert, ob immer zum Vorteil des Verständnisses, bleibe dahingestellt, und der
lateinische Aufsatz war die Krone, die vornehmste Zielleistung des Gymnasiums.
Allerdings bewegten sich die Themen vernünftigerweise innerhalb des antiken Ge¬
dankenkreises, aber es wurde dabei doch zuweilen auch eine selbständigere sachliche
Beschäftigung mit einem bestimmten Stoffe verlangt, wie ich einmal, soviel ich mich
entsinne, ganz quellcumäßig, alö Moronis itinors ^ebaieo geschrieben habe. Den
Bessern unter uns fiel das gar nicht schwer, denn wir hörten und sprachen auch
immer viel Latein und hatten in Prima jeden Sonnabend eine Stunde lang eine
lateinische Disputation. Es war wie ein Bild aus alter Zeit. Am Freitag vorher
erhielt der Defensor vom Lehrer einen kurzen Satz; für diesen hatte er sofort
schriftlich die kurze Begründung mit Ober- und Untersatz auszuarbeiten und dann seinen
drei Opponenten zu übergeben. Am Sonnabend nahm er ans dem untern Katheder
Platz, auf dem obern thronte der Lehrer, leitend, einhelfend, schließlich urteilend.
Es gab unter uns natürlich auch schwerfällige Leute, die ihren Angriff immer wieder
mit vixisti und folgendem ^.co. o. int. eröffneten, und wenn sie in die Enge ge¬
trieben wurden, nichts Weiler mehr zu sagen wußten als voneocio, bis sie endlich
ganz verstummten. Aber es gab auch solche, denen das Latein wie Wasser vom
Munde floß, und die sich mit großer Gewandtheit jeder Schlinge zu entziehn und
solche zu legen verstanden. Dabei wurde die ganze Disputation auch noch lateinisch
protokolliert.
Das alles war natürlich nur deshalb möglich, weil wir allmählich durch Beobach¬
tung und Übung nicht uur Gewandtheit und ein gewisses Sprachgefühl erwarben,
sondern auch, weil wir ziemlich unbefangen drauflos sprachen und schrieben, ohne
uns drum zu kümmern, ob die oder jene Wendung „klassisch" war oder nicht, wenn
wir uns nur vor grammatischen Schnitzern hüteten. Denn wenn man die lateinische
Sprache nicht nach Humanistenweise sozusagen als eine lebende behandelt, kann man
sie auch nicht schreiben und sprechen. Uns gab das die Freude nicht nur des Wissens,
soudern auch des Könnens, von der heute so wenig mehr übrig ist wie von der
althumanistischen Unbefangenheit und Gewandtheit im praktischen Gebrauch der an¬
tiken Sprache. Wenig Frende hatten wir dagegen an den lateinischen Versübungen,
die nicht nur wie jetzt in Tertia, sondern bis Prima einstündig betrieben wurden,
obgleich der Lehrer selbst ein gewandter Versifex und ein tüchtiger Kenner der
Prosodie war. Diese Stunde lag zuweilen noch dazu nachmittags um ein Uhr — im
Sommer ein schrecklicher Gedanke —, und ehrlich gestanden gaben sich nur wenig
von uns Mühe.
Alles in allem war also das alte Gymnasium meiner Jugendzeit in der
Heranbildung für den praktischen Gebrauch des Lateinischen dem heutigen überlegen,
das heutige in der grammatischen Durchbildung und in der Interpretation. Jenes
hatte noch viel von der Grundlage der alten Lateinschule und der Zeit des Neu¬
humanismus bewahrt, dieses behandelt die alten Sprachen vor allem als Mittel
zum Verständnis der Schriftsteller, das Lateinische daneben als Mittel zur allge¬
meinen grammatischen Schulung.
Von unserm Französisch ist nicht viel Rühmliches zu melden. Da es wirkliche
Neuphilologen damals noch nicht gab, und der einzige Vertreter der beiden modernen
Sprachen an der Realschule für das Gymnasium nicht verwendbar war, schon weil
er keine eigentlich wissenschaftliche Vorbildung hatte, so blieb das Gymnasialfrnnzösisch
den Theologen und Philologen, die sich dafür zu eignen schienen, aber niemals in
Frankreich gewesen waren, überlassen, und die Heranbildung zum Sprechen und
Schreiben, die für eine moderne Sprache schließlich doch eine Hauptsache ist, wahr¬
scheinlich mangelhaft genug, obwohl wir es bis zu freien Aufsätzen brachten. In der
Lektüre haben wir von der klassischen Litteratur des Wels <le I^ouis XIV fast nichts
zu sehen bekommen; in der Hauptsache wurden Chrestomathie» benutzt, wie das da¬
mals weit verbreitete Buch von Ideler und Rolle. Dagegen wird der Unterricht
im Hebräischen dem jetzigen kaum nachgestanden haben, und er fand mehr Teilnahme
als heute, weil ihn damals nicht uur die künstigen Theologen, souderu auch die
spätern Philologen zu besuchen pflegten.
Im deutschen Unterricht möchte ich es als eine Schwäche des alten Gymna¬
siums im Vergleich mit dem heutigen bezeichnen, daß auf den untern Stufen zu¬
viel theoretische Grammatik getrieben und zu wenig gelesen wurde. Dieser Mangel
machte sich auch in Sekunda und in Prima geltend. In Sekunda wurde eine von
den drei Wochenstunden auf Rhetorik und Poetik verwandt, denen wir nicht viel
Interesse abzugewinnen vermochten, daneben wurde ein oder höchstens zwei Stücke von
Schiller oder etwa Hermann und Dorothea gelesen, Stunden, von denen ich keinerlei
Eindruck behalte» habe. Die Litteraturgeschichte begann erst in Prima; in deren
erstes Jahr fiel deshalb anch das Mittelhochdeutsche, dem heute das ganze Jahr
der Obersekuuda zugewiesen ist, aber es blieb dafür und für die Lektüre etwa des
Nibelungenliedes und einiger Lieder Walthers zu wenig Zeit. Von der modernen
klassischen Dichtung wurde in der Stunde selbst eigentlich nichts gelesen. Aber eine
kräftige Anregung, sich mit ihr privatim zu beschäftigen, gaben hänfig die Themen
Zu den deutschen Vorträgen und Aufsätzen. Aufsätze wurde» in Prima in jedem
Jahre vier geschrieben, zu denen noch zwei Prüfungsaufsätze kamen.
Mein Vater Pflegte dazu jedesmal drei Themen aus verschiednen Gebieten zu
stellen, um den verschiednen Interessen gerecht zu werden, z. B. über Schillers Aus¬
spruch: Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes aber ist die
Schuld; Warum wendet das Vvlksgefühl den großen Heerführern vor andern aus¬
gezeichneten Männern Teilnahme und Bewundrung zu? Hatte Hütten zu dem
Ausspruche: O Jahrhundert, es ist eine Lust in dir zu leben! ausreichende Gründe?
Oder: Schillers Max Piccolomini eine Tragödie in der Tragödie. — Erlernen und
Erleben. — Goethes Vater in des Sohnes Wahrheit und Dichtung. Die Themen
wurden mit der Klasse sorgfältig besprochen, zur Bearbeitung sechs bis acht Wochen
Frist gewährt, und wir verschoben die Arbeit nicht etwa bis auf die letzten Tage,
sondern sie bildete wirklich für die gnuze Zeit den Mittelpunkt einer gewissen selb¬
ständigen Thätigkeit, etwa wie früher die „Quartalaufsätze" in den Fürstenschulen.
Aus ihr gingen zuweilen sehr umfängliche Arbeiten hervor, die in Thema, Anlage
und Ausführung sehr weit über das Hinansgriffen, was heutzutage möglich ist und
verlangt werdeu turn. Ich habe im letzten Jahre der Prima damals folgende
Themen bearbeitet: Mit welchem Rechte tuum man behaupten, daß alles Heidentum
den Meuscheu an die Gegenwart kelte? — Die Christen in Lessings Nathan. —
Alexnnder der Große als Vertreter der griechischen Zivilisation. — Die Griechen
und Römer in der Auffassung und Behandlung fremder Nationalitäten. Es sind
Themen, über die sich ebenso gut Bücher schreiben ließen, und manche werden ein¬
zelne von ihnen verstiegen" nennen; in der That muteten sie dem Gymnasiasten
^ne sehr energische Arbeit zu, die sich z. B. bei deu beiden letzten Themen auch
"uf Ritters Erdkunde richtete und nicht selten bis auf die Quellen zurückging, aber
ste gaben eine kräftige Anregung und eine Vorbereitung zu wissenschaftlicher Be¬
handlung eiues wichtigen Gegenstandes, die ich noch heute dankbar empfinde.
Daß der Religionsunterricht in guten Händen war, wird man bei der grünt-
lichen theologischen Vorbildung der ältern Lehrer ohne weiteres voraussehen. Der
tiefe, milde Ernst, die ehrliche, persönliche Überzeugung, das maßvolle Urteil, mit
denen dieser wichtige Unterricht in Prima vertreten wurde, waren dabei unendlich
wertvoller, als es die kritische Erörterung gelehrter Streitfragen gewesen wäre, ob¬
wohl solchen auch uicht aus dem Wege gegangen wurde, wo es unvermeidlich war.
Für deu geschichtlichen Unterricht gab es damals keine besondre wissenschaftliche
Vorbildung auf der Universität außer den Kollegien; um so eifriger wurde nachher
und im Amte privatim gearbeitet, und mein Vater war durchaus historisch gerichtet.
In der neuern Geschichte sind wir allerdings über die französische Revolution
uicht hinausgekommen; dafür wurde in Prima die römische, in Sekunda die
griechische Geschichte repetitivns- und ergänzungsweise in besondern Stunden behandelt.
Im Vordergrunde stand dabei natürlich die politische und die persönliche Geschichte,
und so wird es auf dem Gymnasium immer sein müssen, wenngleich heute die Ver-
fassungsentwicklnng und hier und da auch die wirtschaftliche Entwicklung mehr be¬
rücksichtigt werden muß als damals.
Auf die gegenwärtige Anordnung und den dauernden Erfolg des geogra¬
phischen Unterrichts haben wir gar keine Ursache stolz zu sein. Vor vierzig Jahren
hörte er auch in Tertia auf, aber er war weniger Stiefkind des Regulativs als
heute, und wir haben es in Tertia bis zum korrekten Kartenzeichnen mit Gradnetz
und Eintragung der Orte nach der Länge und der Breite gebracht; dieser Lehrer
aber war ein Theolog, dessen Lieblingsfächer allerdings Physik und Astronomie
waren. Auch der Unterricht in der Naturgeschichte, von ansehnlichen Sammlungen
unterstützt, war nicht übel; wir haben fleißig botanisiert, Herbarien augelegt und
Steine gesammelt; nur das Limbische System war uns sehr langweilig. Der mathe¬
matische und der physikalische Unterricht zogen Vorteile von den Lehrkräften der
Realschule und verfügten über nicht weniger Stunden als hente; auch war unser
physikalisches Kabinett nach damaligen Begriffen Wohl ausgerüstet, und der Unterricht
flößte uns lebhaftes Interesse ein. Die Mathematik endete im zweiten Jahre der
Prima etwa mit dem Pensum der heutigen Unterprima, teilweise auch der Ober¬
sekunda. Die Lehrer waren sehr verschiedner Art, mancher sehr scharf, sodaß er
eine gleichmäßige Durchbildung erreichte, ein andrer überließ es mehr dem einzelnen,
ob er etwas lernen wollte, aber lernen konnte man auch bei ihm etwas, und
dauernder Unfleiß rächte sich bald.
Ganz verschwunden ist heute aus Prima die philosophische Propädeutik, was
man vielleicht bedauern kann; die Logik, die sich auch interessant machen läßt, war
uns allerdings sehr langweilig, weil wir sie nach Trendelenburgs M«zu<zntii loxievs
^ristotsleiw genießen mußten, dagegen war die Psychologie (nach Herbart) wirklich
interessant. Soll ich nun noch ein Wort von den Fertigkeiten sagen, so wurde das
Zeichnen obligatorisch von Sexta bis Quarta betrieben. In der Stunde zeichneten
wir wenig nach Gipser, mehr nach Vorlagen, auch ziemlich schweren, hatten aber
jede Woche eine sogenannte Naturzeichuung nach selbstgewählten Gegenständen zu
liefern, was die Lust an der Sache wesentlich erhöhte. Deu Singnnterricht habe
ich bei unserm zornmütigen alten Kantor nur bis Tertia genossen, wobei es Schelt¬
worte und gelegentlich anch Wohl Hiebe mit dem Violinbogen genug gab. Geturnt
wurde fleißig, im Sommer auf einem Turnplatze in der Nähe des Realschulgebäudes,
im Winter in einem dazu hergerichteten Raume eines städtischen Gebäudes.
Dieser ganze Unterricht spielte sich in einem zeitlichen Nahmen ab, der von
dem heutigen nicht unwesentlich abwich. Im Sommer begannen nämlich die
Stunden um sechs Uhr, im Winter um sieben Uhr, nachmittags dann und wann
schon um ein Uhr. Der frühe Anfang ließ sich im Sommer ganz gut ertragen,
und wir gewannen dadurch eine wertvolle Stunde, denn wir waren um zehn Uhr
fertig, aber im Winter, namentlich im Dezember und Januar, war es für Lehrer
und Schüler eine harte Zumutung, trotz Dunkelheit und Schnee um sieben Uhr
zur Stelle sein zu müssen, wenn auch die Schulwege nicht weit waren, und es
gab da beiderseits manche bemerkte und unbemerkte Verspätung. Namentlich nach
etwaigen Tanzstunden und Bällen empfand der Primaner den Anfang um sieben
Uhr schwer. Und nun gar im Sommer die oft so heiße, traumbefnngne Stunde
um ein Uhr! Auch die Ferien waren kürzer als heute. Sie begannen zu Ostern
thatsächlich erst am Ende der Karwoche, umfaßten also nur etwa zehn Tage, wie
heute leider wieder an unsern großstädtischen höhern Schulen, und die großen
Ferien dauerten nur drei Wochen, dagegen die Ferien zu Pfingsten, Michaelis und
Weihnachten die jetzt im allgemeinen übliche Zeit. Dafür gab es nun eine Reihe
von schulfreien Tagen. An jedem der vier Jahrmärkte waren zwei Tage frei, weil
da der Lärm des Markttreibens um das alte Gymnasium störte, und die Eltern
der Schüler aus der Nachbarschaft hereinzukommen Pflegten, also auch mit ihren
Sprößlingen zusammen sein wollten. Sodann hielt es jeder dieser Auswärtigen
für sein natürliches Menschenrecht, zur Kirmesfeier seines Heimatsorts zwei weitere
Tage frei zu haben, was im Herbst den Unterricht oft genug unterbrach, aber au-
stnndslos bewilligt wurde.
Der Abschluß des Schuljahrs gestaltete sich etwas anders und in mancher Be¬
ziehung feierlicher als heute, und es trat dabei wieder der charakteristische Zug her¬
vor, daß die Schule nach allen Richtungen hin fester mit ihrer ganzen Umgebung
verwachsen war und ein viel bedeutsameres Stück vou ihr bildete als heute, nament¬
lich als ein großstädtisches Gymnasium, das nur eine unter vielen höhern Schulen ist.
Die öffentlichen Klassenprüfungen nahmen zwei bis drei Tage in Anspruch, wurden
und Gesang eröffnet und durch Schülerdeklmnationen belebt und waren im ganzen
gut besucht. Am Sonnabend vor Palmarum folgten „Zensur" und „Translokation,"
die in den einzelnen Klassen vorgenommen wurden, um Montag danach die feier-
"che Entlassung der Abiturienten, zu deren „Maturitätsexamen" — so sagten wir
noch — damals kein königlicher Konunissar erschien, Dienstag die Prüfung der
von einem der Theologen unter den Lehrern zusammen vorbereiteten Konfirmanden
der Schule durch eiuen Geistlichen und die Konfirmation selbst als eine Angelegen-
^it auch der Schule, Mittwoch Beichte, Gründonnerstag Kommunion für das
Kollegium und die konfirmierten Schüler.
Schon daraus ergiebt sich, daß die Beziehungen der Schule zur Kirche enger
^ren, als sie heute, namentlich bei großstädtischen Gymnasien, zu sein Pflegen.
Die konfirmierten Schüler besuchten klassenweise unter der „Inspektion" von Lehrern
den Gottesdienst, und außer zu Ostern fanden noch zweimal im Jahre Beichte und
Abendmahl statt. Dazu bestand von altersher ein Singechor unter der Leitung
des Kantors und in selner Stellvertretung des „Präfekten," meist aus ärmern
Schülern des Gymnasiums gebildet, die dafür ein „Fixum" und für die besondern
Leistungen anch noch meist wesentlich höhere „Accidentien" bei der halbjährigen
"Chorteilung" erhielten. Dafür mußten diese „Choristen" in der Hauptkirche zu
^ ^°hannis "u den Sonn- und Festtagen und bei großen Trauungen, sogenannten
"Brautmessen," den Gesang ausführen, ferner auf Bestellung am Tage vor einem
Aegräbnis vor oder in dem Trauerhause singen („Absingen"), endlich bei größern
Begräbnissen, sogenannten „Leichenpredigten," dem Trauerzuge mit dem Kruzifix
unter Gesang vorangehn und in der Kirche singen. In beiden Fällen trugen die
^horisten, goß und klein, zum schwarzen Rock auch den hohen schwarzen Hut, was
^ vielen sehr possierlich aussah, uns aber nicht auffiel. Bei solchen „Leichenpre¬
digten" und auch bei dem sehr selten vorkommenden Begräbnis erster Klasse, dem
'"genannten „großen Fignral," mußten auch die Schüler der obern drei Klassen
""t einigen Lehrern vor dem Sarge herziehn, und ich kann noch jetzt die Straße
"ach dem Friedhof nicht sehen, ohne mich an das Bild des langen dunkeln Trauer-
öugs und die Klänge eines Sterbelieds zu erinnern. Jetzt sind diese Bräuche als
unzeitgemäß längst abgeschafft, wir fanden damals nichts darin, am wenigsten etwas
Unwürdiges, und da^wir mit dem Gemüt bei dem Trauerfall gar nicht beteiligt
"^'en, ja uicht einmal den Namen des Verstorbnen erfuhren, so freuten wir uns
des unverhofften Genusses eines schulfreien Nachmittags, den uns so manche Leichen¬
predigt verschaffte.
Enger mit dem Wesen der Schule verbunden, aber doch aus ihrer Umgebung,
nicht aus ihr selbst erwachsen waren die sechs sogenannten „Orationcu," Gedächt¬
nisreden auf verstorbne Wohlthäter des Gymnasiums. Diese meist aus dem sieb¬
zehnten und achtzehnten Jahrhundert herrührenden Stiftungen waren zugleich als
eine Art Benefizium für die ursprünglich so karg besoldeten obern Lehrer gedacht,
verpflichteten diese aber auch, einen wissenschaftlichen Gegenstand in einer Rede zu
behandeln und dazu durch eine kleine Schrift einzuladen, beides meist in lateinischer
Sprache. Die jüngste Stiftung von 1854 verband damit Geldprämien für zwei
Schüler der zwei obersten Klasse«. Zu diesen „Orationen," die an einem Nach¬
mittage im Zimmer der Prima als dem L.uäitorinm maximum stattfanden, erschienen
außer den Lehrern einige Mitglieder des Stadtrats, der Geistlichkeit und königlicher
Behörden, dazu die Schüler der drei obern Klassen. Die Zumutung an die Arbeits¬
kraft der Redner war nicht gering, denn die Einnahmen, die ihnen dabei zuflössen,
reichten allmählich kaum hiu, auch nur die Druckkosten der Einladungsschristen zu
decken, und die wissenschaftliche Arbeitsleistung zersplitterte sich in lauter Einzelheiten,
die doch nur ein sehr kleines Publikum fanden. Aus allen diesen Gründen sind
diese Veranstaltungen längst wesentlich beschränkt worden.
An größern Festlichkeiten beging die Schule regelmäßig nur eine, den Geburts¬
tag des Königs (Johann) am 12. Dezember. Der Redenktus, bei dem auch ältere
Schüler regelmäßig mit Reden auftraten, fand in Ermanglung einer Anta im
großen Saale der „Sozietät," der ersten Gesellschaft, statt, dort am Abend auch der
Schulball, für uns der Höhepunkt des Winters, und auch für die junge Damen¬
welt der Stadt die am höchsten geschätzte Veranstaltung der Saison. Zuweilen
verband sich damit für die mittlern und die untern Klassen auch ein Maskenfest. Aber
statt eines feierlichen Soupers mit drei Gängen und vier Toasten gab es in der
Pause nur Thee und Kuchen, den am Nachmittag zuvor die Damen des Kollegiums
in der Rektorwohnung eigenhändig geschnitten hatten und am Abend selbst ans¬
tellten, und beim Kotillon gab es nur Orden und Sträußchen, aber anmutige
Touren, die bei unsern großstädtischen Massenbällen ganz unmöglich sind.
Einen deutsch-nationalen Festtag hatten wir nicht, denn wir waren noch keine
Nation, und nnr in dämmernder Ferne wagten damals kühne Gemüter einen Kaiser
und ein Reich zu sehen. Das erschien obendrein leicht als ein Mangel an sächsischem
Patriotismus. Und doch sehnten sich die Regsamern unter uns so schmerzlich nach
nationaler Einheit und Größe. Nicht umsonst war mein Vater 1849 Mitglied des
Frankfurter Parlaments und dann der zweiten sächsischen Kammer gewesen, derselben,
die das Ministerium Beust am 1. Juni 1850 auflöste, weil sie um engern Bündnis mit
Preußen, an der „Union," festhalten wollte, und seine gelegentlichen Erzählungen
davon machten tiefen Eindruck auf mich. Zeitungen habe ich auch später nicht gelesen;
aber beim Abendessen pflegte mein Vater in bewegten Zeiten über die Ereignisse
zu berichten, sodaß ich bei meinen Kameraden als Autorität darin galt. So folgten
wir den Zeitereignissen, soweit wir sie verstehn konnten, mit gespannter Teilnahme:
dem Krimkriege, bei dem wir uns, ohne recht zu wissen warum, als Russen und
Türken mit Fäusten und Schneebällen und Bleisoldaten bekämpften, und noch viel
mehr dem italienischen Kriege von 1859, bei dem wir die österreichischen Nieder¬
lagen als Niederlagen der nationalen Sache gegen Frankreich schmerzlich beklagten-
Denn in Frankreich sahen wir allerdings den „Erbfeind," nur daß mit dieser Auf¬
fassung der spezifisch sächsische Standpunkt zuweilen in Widerspruch geriet. Denn
wir waren doch schließlich gute Sachsen, und wir haben im September 1861 den
König Johann und sein Haus mit einem glänzenden Fackelzuge begrüßt und sind tage¬
lang den großen Manövern nachgelaufen, die uns lebendige Bilder einer Schlacht
entrollten. Es war wie eine Vorahnung der nächsten Zukunft; keine fünf Jahre
später zogen die endlosen Heersäulen der Preußen dieselben Straßen nach Böhmen.
Den ersten und. einzigen nationalen Festtag, den wir mitfeierten, war das
Schillerfest am 10. November 1859; aber wir Schüler hatten wenig davon, und
der politische Zustand Deutschlands — soviel our auch uns klar — stand mit dem
Sehnen, das an jenem Tage in der Huldigung vor dem großen Dichter zum Aus¬
druck kam, gerade damals im allerschärfsten Widerspruch. Ihn hat mein Vater in
dein Trinksprüche beim großen Festmahle in den mir unvergeßlichen Versen scharf
getroffen und damit unsern ganzen Jammer mit wenigen Strichen gezeichnet:
Unsre Ziele waren in manchen Fächern, in Mathematik, Französisch und deutscher
Litteratur, wesentlich niedriger gesteckt als heute; die philologische Akribie unsrer
Lehrer war geringer, ihre Interpretation der Klassiker weniger eindringend, ihre
ganze Kenntnis des Altertums viel unbedeutender als heute. Aber wir brachten
es mindestens in einer der Gymnasialsprachen bis zu einer gewissen praktischen
Beherrschung, und wir wurden zu einer Selbständigkeit des wissenschaftlichen Ar-
beitens erzogen, die heute oft vermißt wird, ohne daß man irgend jemand dafür
verantwortlich machen könnte, denn wir sind alle Kinder unsrer Zeit. Vor vierzig
Jahren stellten keineswegs nlle Fächer die gleichmäßige Forderung an die Arbeits¬
kraft und das Interesse der Schüler, und die dadurch ermöglichte schärfere Kon¬
zentration wurde gefördert durch das weit geringere Maß der von außen her ein¬
dringenden Interessen, wie sie heute vor allem an den Gymnasiasten einer Großstadt
herantreten, vielfach seine Bildung erweiternd, aber oft anch zerstreuend. Theater,
Konzerte, Bälle waren uns nur in sehr bescheidnen: Maße zugänglich, obwohl wir
durchaus keine Kopfhänger und Stubenhocker waren, sondern fröhlich mitmachten,
was sich uns bot, und Museen lockten uns nicht, denn es gab in unsrer Umgebung
keine, also auch keine unreifen und verfrühte» Urteile über alte und moderne Kunst,
freilich anch keine Anschauung von Kunstwerken. Und wie vergnügt zogen wir in
die landschaftlich fo schöne Umgebung der Stadt hinaus! Auch unsre Lehrer lebten
Wesentlich in denselben Interessenkreisen. Größere Reisen unternahmen nur wenige,
auch nicht in den großen Ferien, und auf eine Sommerfrische brauchten wir nlle
nicht zu gehn, denn wir saßen sozusagen mitten drin. Das alles förderte eine
gewisse Zufriedenheit, die doch gar nichts von Resignation hatte. Auch die Stellung
des Gymnasiums zur Stadt trug dazu das ihrige bei. Es bildete thatsächlich das
geistige Zentrum der Stadt; seine Lehrerschaft, wissenschaftlich tüchtig und oft auch
wissenschaftlich thätig, nahm eine durchaus ungesehene Stellung ein, ohne durch
Titel und Orden verwöhnt zu werden (mein Vater erhielt erst als Rektor 1859
den Professortitel, den Verdienstorden 1871), aber auch noch ohne durch die heutigen
Angriffe auf den Wert des humanistischen Unterrichts beständig gestört und ver¬
stimmt zu werden, und zu den öffentlichen Veranstaltungen der Schule fand sich
alles ein, was auf Bildung und Geltung Anspruch machte.
Vor allem galt das von dem Entlassnngsaktus der Abiturienten. Da das
Gymnasium keine Aula hatte, so fand dieser damals in dem großen „Bürgersaale"
des Rathauses statt, der mit seinen hohen gotischen, oben bunt verglasten Fenstern, den
Büsten der Bürgermeister und den Porträts der Könige von Sachsen, dem schönen
Parkett und der reich kassettierten Decke der stolzeste Raum war. den wir kannten. Außer
den Lehrern und Schülern waren die Spitzen der Behörden, die Geistlichkeit, die
Angehörigen der Abiturienten und zahlreiche Freunde der Schule erschienen, denn
dieses war ein Festtag nicht nur des Gymnasiums, sondern auch der Stadt, die
heute ihre Sohne in die Fremde, ins Leben hinaus entließ. Drum ging neben
der stolzen Freude über das erreichte Ziel auch ein Zug der Wehmut durch die
^ersnmmluug, deun wir alle schieden mit dem heutigen Tage ans der Heimat, die
Hälfte von uns auch ans dem Vaterhause. Die Gliederung des Aktus war uugc-
fähr dieselbe wie jetzt; drei Abiturienten trugen Reden vor, einer ein deutsches
Gedicht, dem ein Unterprimaner ebenso erwiderte. Es mag mir erlaubt sein,
dabei zu erwähnen, daß meine lateinische Rede das Thema behandelte: Vera av
enristikma- rvlixiono xersiuisio ciuantum og.Isa,t> !la littoras arti^nah rsvts aestimanclas
!itMe xörtraetsnÄÄS. Die Entlassungsrede hielt mein Vater über „Die klassischen
Studien als eine durch nichts zu ersetzende Vorschule für das Leben." Im An¬
schluß daran händigte er den einzelnen Abiturienten das Maturitätszeugnis ein,
eine feierliche lateinische Urkunde auf großem Bogen mit den Unterschriften der
Mitglieder der Gymnasinlkommission und des Lehrerkollegiums, bekräftigt durch ein
mächtiges rotes Siegel mit dem Stadtwappen, dabei gab er jedem einen poetischen
Spruch mit auf den Weg, der genau auf ihn berechnet war, denn er kannte seine
Leute gründlich.
So standen wir in engem Kreise, aber sicher und fest. Ich aber sehe heute
nicht ohne Wehmut auf die lange Reihe stattlicher Jahresprogramme, die mir heute
die Zeit meines Schullebens widerspiegeln und in ihren Beigaben eine Fülle
wissenschaftlicher Arbeit auf sehr verschiednen Gebieten darstellen, und ich erinnere
mich mit warmer Dankbarkeit der Jahre, die für meine Bildung die wichtigsten
gewesen sind, denn die Universität hat mir von dem, was ich dort zu finden hoffte,
nur wenig geboten.
>le Kunde von dem Wassereinbruch wirkte wie ein Donnerschlag. Am
meisten war die Börse, dieses feinfühlige, zapplige und nervöse Wesen,
entsetzt. Sie ließ die Heinrichshaller Kuxe von ihrer stolzen Höhe mit
einem Schlage bis in unergründliche Tiefe fallen und wandte alle
mögliche Mühe auf, den Kurs von Tag zu Tag weiter zu drücken.
!Die Zeitungen brachten in ihrem Hnndelsteile Berichte. Die einen
gaben das Werk verloren, die andern hofften, daß das Wasser in kurzer Zeit be¬
seitigt, und daß in wenig Wochen alles überwunden sein würde; aber sie fanden
wenig Glauben. Der soziale Braunfelser „Volksherold" begnügte sich damit, die
Thatsache mitzuteilen und für das Geschehnis die kapitalistische Weltordnung ver¬
antwortlich zu machen. Was den Thäter angehe, so sei das ein verrückter und unzu¬
rechnungsfähiger Mensch gewesen, dessen blödsinnige That mit dem Lohnkampfe der
Arbeiter nichts zu thun habe.
August Quarg in Asseborn und seine Leidensgenossen ließen die Ohren hängen.
Andreas Piepenpahl hatte wenigstens die Genugthuung, daß er das alles im voraus
gefürchtet hatte, was nun eingetroffen war, und Vetter Klaus sagte seufzend: Nun
können wir wieder selber Jauche pumpen. Fritze Poplitz meldete seinen Bankrott an,
was ein großes Aufsehen in der Gegend erregte. Jedoch waren die Sachver¬
ständigen der Meinung, daß er auch ohne Heinrichshall reif gewesen sei, und alle
guten Freunde flüsterten sich leise zu, daß ihm ganz recht geschehe; warum habe
er immer den Großmogul spielen wollen. Bei Happich aber gab es Heulen und
Zähneklappen. Nicht allein, daß der schöne Verdienst von den Bergleuten nun ein
Ende hatte, auch alle Ersparnisse, die in Heinrichshaller Knxen angelegt waren,
waren verloren. Dörcher schalt in den hellsten Tönen, und es fehlte nicht viel,
so hätte ihr lieber Wilhelm, der, wie sie meinte, am Kaufe der Kuxe schuld war,
und der, als sie flöten gegangen waren, ein gar zu dummes Gesicht gemacht hatte,
etwas mit der Fliegenklappe abbekommen. Und der alte Happich war ein Bild des
Jammers. Der Verlust hatte ihn da getroffen, wo er am verwundbarsten war.
Er saß mit wcissrigen Augen und einem Tröpfchen an der Nase hinterm Ofen und
rauchte kalt, ohne es zu merken. In diesen Tagen des Unglücks trat Dörcher das
Regiment im Hause an. Das erste, was sie that, war, daß sie das Streikkomitee
zum Hause hinauswarf und den Saal und alle Räume scheuern ließ, wie einer, der
ernstlich gesonnen ist, ein neues Leben anzufangen. Wilhelm Neigebarth mußte als
gehorsamer Ehegatte sein Rad verkaufen, und der liebe Vater kriegte seinen Tabak
zugemessen, die Sorte von um an einen Groschen wohlfeiler. Die Kuxe aber wurden
schleunigst verkauft, um zu retten, was noch zu retten war.
Natürlich gab man auf dem Werke nicht gleich alles verloren. Man schleppte
große Dampfpnmpen herbei und arbeitete wochenlang Tag und Nacht. Ströme
salzigen Wassers flössen den Rottebach hinab und in die Asse. August Rathke, der
Besitzer der Uutermühle, hatte gute Tage, aber von nach und fern erhob sich ein
Wehgeschret. Die Aklumer Fischer klagten vor Gericht Wider Hcinrichshall, weil
durch sein Verschulden die Fische in der Asse stürben. Die Brunnen der ganzen
Gegend hatten kein Wasser mehr. Alles Wasser des Umkreises verschwand in der
Tiefe und wurde mit Salz gewürzt in Heinrichshall wieder ausgepumpt. Und
dabei nahm der Wasserstand im Schachte nicht ab. Es wurde klar, daß das Werk
verloren sei. Die Arbeiter wurden zu Hunderten entlassen, die Tagearbciter zuerst,
dann die Bergleute. Eine Zeit lang ließ man die Fabrik noch gehn. Die erforder¬
lichen Salze wurden von Siebendorf heraufgefahren, als es sich aber zeigte, daß
damit uicht nur nichts zu verdienen sei, sondern daß man auch große Summen
Zusetzte, so gingen auch in der Fabrik die Feuer aus. Die alten, zuverlässigen
Arbeiter, besonders die Besitzer von Grundstücken hatte man noch behalten, aber
i'e sahen es selbst ein, daß dies nnr eine Galgenfrist sein konnte. Wenn sie aber
entlassen wurden, dann waren auch sie mit ihren Besitzungen ruinierte Leute. Wenn
^ nur möglich gewesen wäre, wenigstens einstweilen eine andre Beschäftigung
zu finden.
Mau hielt lange Beratungen, konnte keine Hilfe finden und beschloß zuletzt
eine Deputation zu Wandrer zu senden. Die Deputation erschien und sagte: Herr
Wandrer, nehmen Sie es nicht übel, daß wir Sie an Ihr Wort erinnern. Wir
sind doch fürs Werk gewesen, wo sie alle dagegen waren, und haben es verteidigt.
Und Sie haben uns doch Ihr' Wort gegeben, daß Sie uns nicht verlassen
wollten. Und nun kommen wir zu Ihnen und sagen: Herr Wandrer, verlassen
Sie uns nicht.
Liebe Freunde, entgegnete Wandrer, was kann ich denn für Sie thun?
Ja, wenn Sie nur wollen, fuhr der Wortführer fort, Sie finden schon etwas.
Wenn wir hier vom Brote kommen und fortziehn müssen, so verlieren wir allen
unsern Besitz bis auf den letzten Groschen. Wenns nur einstweilen was wäre.
Ich bin aber gerade so verkracht wie Sie, sagte Wandrer, und muß daran
denken, irgend wo anders unterzukommen.
Nein, Herr Wandrer, fortgehn dürfen Sie nicht. Sie sind unsre letzte Hoffnung.
Wenn Sie fortgehn, dann ist alles aus. Und Sie haben es uns doch in die Hand
versprochen, daß Sie uns helfen wollten.
Die Leute waren nicht zu bedeuten, sie hatten eine abergläubische Hoffnung ans
Wandrer gesetzt. Sie werden schon was finden, darauf kamen sie immer wieder zurück.
Gut, sagte Wandrer, ich wäre gern bald weggegangen, da sich mir gerade jetzt
etwas bietet.' Aber ich verspreche euch, daß ich hier bleiben werde, so lange, als
^ geht. Und wenn sich etwas findet, womit euch geholfen werden kann, dann solls
mit aller Kraft angefaßt werden.
Die Deputation zog getröstet ab. Freilich wog der Trost nicht gerade schwer,
"der es war doch ein Trost.
Gleich darauf erschien das Dienstmädchen und brachte einen schönen guten
Morgen, und der Herr Direktor lasse den Herrn Wandrer bitten, einmal herauf
zu kommen.
Wer? fragte Wandrer.
Der Herr Direktor sitzen auf dem Sofa und sind ganz ordentlich.
Wandrer eilte mit großen Schritten hinauf. Wirklich, da saß der Direktor in
seiner Sofaecke und war ganz vernünftig; und neben ihm stand Lydia mit glück¬
strahlendem Gesicht und Thränen in den Augen. Der Direktor strich sich mit
einem verlegner Lächeln die Stirn, als bemühe er sich, die Gedanken festzuhalten,
die ihm davongelaufen waren, und sagte: Guten Morgen, Wandrer. Ich möchte
gern ein verständiges Wort mit Ihnen reden. Ich habe wohl in den letzten —
in den letzten — ich weiß nicht wie lange, recht viel Unsinn geschwatzt?
Es mag wohl so etwas mit untergelaufen sein, sagte Wandrer; aber das ist
vorüber. Ich sehe zu meiner Freude, daß Sie wieder wohlauf sind.
Da, lesen Sie einmal, sagte der Direktor und reichte Wandrer ein Schriftstück
hin, das an das Konsortium gerichtet war und in knappen Worten sein Eutlnssuugs-
gesuch enthielt.
Aber soweit ist es doch noch nicht! rief Wandrer.
O ja, soweit ist es, entgegnete der Direktor. Wissen Sie, wenn ich einen
Beamten hätte, der im entscheidenden Augenblick überschnappte, dem kündigte ich
zum nächsten Termine ganz gewiß. Warum sollen die Herren anders verfahren?
Ich kündige, weil ich mich nicht rausschmeißen lassen möchte. Und ich habe genug,
ich kann leben. Sie bleiben aber da, Wandrer?
Ich mochte mich aber auch nicht gern rauswerfen lassen, sagte Wandrer.
Was wollen Sie denn sonst anfangen?
Ich könnte nach Schanghai gehn, ich könnte bei Blower und Sous unterkommen.
Hin! Nicht übel. Ich würde aber doch nicht aus dem Lande gehn.
Was soll denn dann aber werden?
Sie werden Direktor. Das Werk ist noch lange nicht tot.
Ja wenn es möglich wäre, einstweilen etwas zu unternehmen, ich bliebe gewiß
da. Schon der Leute wegen, die mit ihren Häusern in Not geraten, und denen
ich es versprochen habe, sie nicht zu verlassen.
Wandrer, Sie sind ein kurioser Kerl, sagte der Direktor., Was gehn Sie
denn die Leute an?
Wandrer hätte viel zu antworten gehabt, aber er unterließ es, da er sich
sagte, daß Wenzel ihn doch nicht verstehn würde. Nach einer Weile fragte der
Direktor: Was machen Ihre Knxe?
Sie stehn elf, antwortete Wandrer.
Verkaufen Sie sie nicht. Schlechter, als es ist, kanns nicht werden. Es kaun
nur besser werdeu. Jetzt würde ich selber wieder Kuxe kaufen, wenn die ver¬
dammten Nerven die Schaukelei aushielte». Wenn ich jetzt kein knackschäliger Mensch
wäre, ich wollte die Geschichte schon wieder in Gang bringen. Freilich wie es
die Herren Bergräte anfangen, wird es nichts. In Ungarn — in — Ungarn —
Ungarn — ich weiß nicht mehr wo, da haben sie es mit Zement gemacht.
Kostet eine Masse Zement. Man muß das nur den Herren auf richtige Weise bei¬
bringen. Man muß es sie selber finden lassen. Einen Zeitungsartikel in die Hand
spielen, eine Anfrage ans dem Publikum. Und dann kommen die großen Herren an
und bringen die Sache als ihre neuste Erfindung mit. Wenn man aber selbst damit
herauskommt, dann wissen es die Herren allemal besser, und schließlich wirds ver¬
pfuscht. — Der Direktor erzählte das ohne eine besondre Absicht, halb wie im
Selbstgespräch, und als habe er eine Freude an dem Gedanken, wie ein kluger
Mann große Herren am Fädchen leite» könne. Darauf verfiel er wieder ins Sinnen,
und man konnte bemerken, daß der lichte Zustand wieder anfing sich zu trüben.
Mit Zement? fragte Wandrer. Mit Zement wäre das Werk zu retten? Sagten
Sie nicht so? Das ist ja sehr interessant.
Hä! entgegnete der Direktor, mochten Sie wohl gern wissen? Aber ich sage
es Ihnen nicht. Hei! hä! Könnte jeder kommen. Was? Direktor werden? Geld
verdienen? Auch überschnappen? Wandrer, Sie sind ein Stiefel! Warum heiraten
Sie meine Lydia nicht?
Hier wurde er von Wandrer und Lydia schnell zum Schweigen gebracht, was
"und gelang, nur daß der Direktor fortfuhr mit dem Kopfe zu nicken und zu murmeln:
Wciudrer, Sie sind ein Stiefel, was gehn Sie die Bergleute an?
Die Besserung im Befinden des Direktors kehrte zurück, doch wurde er alle¬
mal, wenn Wandrer versuchte, aus ihm heraus zu bringen, wie man in Ungarn das
ertrunkne Werk mit Zement gerettet habe, hartnäckig, sing an irre zu reden und
schloß mit der Versicherung: Wandrer, Sie sind ein Stiefel, warum heiraten Sie
meine Lydia nicht? Wovon er hernach, wenn ihm Lydia Vorwürfe machte, nichts
wußte. Kurz, es war mit dem Direktor nichts zu machen. Das Werk blieb ver¬
loren, weil sein Direktor das Geheimnis nicht verraten wollte, wie es gerettet
Werden könnte.
Es giebt Zeiten und Lage«, da kommt einem Menschen die Welt wie vernagelt
vor; keine Thür, die aufzuschließen wäre, kein Ritz, wo man anfassen und durch¬
schlüpfen könnte. So ging es Wandrer. Man sagt, das Geld liege auf der Straße.
Aber gerade, wenn man es braucht, ist es nirgend zu finden. Man sagt: Wer
nur arbeiten will, der kommt schon durch. Hier waren nun eine Menge Leute,
die gern arbeiten wollten, und nirgend war Arbeit zu haben. Man sagt: Ein findiger
Kopf findet schon etwas. Er — Wandrer — gehörte doch wahrhaftig nicht zu
den Dummen; aber es fiel ihm absolut nichts ein, womit er sich und seine Arbeiter
über Wasser hatte halten können. Alle seine Projekte erwiesen sich als undurch¬
führbar, denn sie kosteten alle Geld, und an dem fehlte es.
War es nun recht, sich unthätig hinzusetzen, die Leute zu vertrösten und zu
warten, ob ein glücklicher Zufall vom Himmel herabkomme?
Da lief ein Telegramm aus London ein, in dem Wandrer aufgefordert wurde,
^es zu erklären, ob er in den Dienst von Blower and Sons eintreten wolle. Das
Angebot war glänzend. Mancher andre hätte sich keinen Augenblick besonnen, es
zuzunehmen, und auch Wandrer selbst hätte vor Jahr und Tag mit leichtem Herzen
°en Wnnderstab ergriffen und wäre in die weite Welt gezogen, aber heute machte
^hin die Entscheidung schwere Sorgen. Er hatte sein Wort gegeben, seine Leute nicht
Zu verlassen ; sollte er sein Wort brechen? Andrerseits, was half es ihnen, wenn er
und selbst seine Zukunft verdarb und in Heinrichshall blieb, ohnmächtig, wie er war,
ohne Aussicht, helfen zu können, und mit der gewissen Erwartung, selbst entlassen zu
werden? Sollte er, indem er zwecklos ein gegebnes Wort hielt, abermals eine bewußte
Dummheit machen? Wie er genugsam erfahren hatte, straften sich bewußte Dumm¬
heiten gerade so gut wie unbewußte. Das Leben hat gar keinen Sinn für Romantik,
und es gerät einem Menschen wunderselten so schön, wie man es in Romanen liest.
Und zugleich ward es ihm bitter schwer, Heinrichshall und die Gegend zu
verlassen. Was hielt ihn denn fest? Er war doch kein Pfahlbürger, dem es un¬
heimlich wird, über die Grenze der Feldmark hinmisgehn zu sollen. Er war doch
d"s Reisen und Umpflanzen gewohnt. Aber da tauchte vor seinem geistigen Auge
Bild eines Mädchenkopfes auf, und mit seinem geistigen Ohre vernahm er die
^t kameradschaftlicher Zärtlichkeit gesprochnen Worte: Onkel Felix. Ein schönes
<mit, aber ein hoffnungsloser Traum. Als man auf der Taufe bei Duttmüller
°en Nichtheiratskontrakt unterschrieben hatte, war es zwar lachenden Mundes geschehn,
""er man hatte seinen ernsten Grund dazu gehabt. Und doch, man freut sich an
ewein lieblichen Bilde, Wenn man auch keine Aussicht hat, es je sein Eigentum
nennen zu dürfen; man empfindet es schmerzlich, es weggeben zu sollen. Es schmerzte
Wandrer, seine Tante Ellen weggeben zu sollen, aber er machte sichs nicht klar, er
Mgte sichs „^de. ^ ^ Mädchenaugen, die dich festhalten, sondern er but
Mue Gednnkentorte, auf die er mit großer Tugendhaftigkeit schrieb: Ich bleibe, ich
'"uß mein gegebnes Wort halten, ich muß bei meinen Bergleuten ausharren, so-
I"uge es geht.
Darauf telegraphierte er ab und war froh, als es geschehen war.
Auf dem Fronhofe wurde inzwischen weiter gerechnet, aber bei allem Rechnen
kam doch zuletzt nicht mehr heraus, als da war. Und Aorks Anteil fiel, wie es
ja nicht anders sein konnte, recht klein aus. Er bestand ans den Kalksteinbrüchen
und einem Stück sich daran anschließenden Waldes. Nur waren die Brüche so
gut wie wertlos. Man hatte sie an Heinrichshall verpachtet, und Heinrichshall
hatte Raubbau getrieben, hatte die bequemsten Schichten abgehärt und mit den Abranm-
steinen, statt diese wegzufahren, den Bruch verbaut. Es lagen nun an der Seite,
wo man hätte weiter brechen können, ganze Berge eines bläulichen Gesteins, das
zu nichts zu brauchen war. Würde man dieses Gestein abgefahren haben, um zu
neuen Kalkschichten zu kommen, so würden die Kosten den zukünftigen Gewinn ver¬
schlungen haben. Somit waren auch die Kalköfen wertlos geworden. Das war
also das Pfand, das Wandrer für sein Kapital in den Händen hatte. Die Lage
sah nicht gerade tröstlich aus.
Aber vielleicht war ans dem Holze etwas zu gewinne». Wandrer hatte sich
in die Werkstatt zu Klapphorn begeben, der in Holzangelegenheiten für sachver¬
ständig galt, und erörterte mit ihm die Verwertungsfrage. Nebenan hantierte Ellen
in ihrem Laboratorium. Da fiel im Laboratorium ein Gefäß klirrend zu Boden,
und Ellen begleitete diesen Fall, was bekanntlich unerläßlich ist, und einem leichten
Aufschrei. Onkel Felix hörte es, glaubte seine Tante Ellen in Gefahr, riß die Thür
auf und trat ein. Im Laboratorium stand Tante Ellen in ihre graue Leinwand¬
kutte gekleidet, und zu ihren Füßen lagen die Scherben einer Abdampfschale und
dazwischen unzerbrochen ein steinerner Kuchen von bläulich grauer Farbe. Ellen hob
den Kuchen auf und sagte: Ist das Zeug hart!
Was haben Sie denn da, Tante Ellen? fragte Wandrer.
Das ist ealeium silioa-wen, entgegnete Tante Ellen. Ich habe einen von den
blauen Steinen vom Kalkbruche mit herunter gebracht und ihn untersucht, was es
eigentlich ist. Ich habe den Stein geglüht und zermahlen und das Mehl mit
Wasser gemischt. Nun sehen Sie mal, wie hart das geworden ist. Könnte man es
nicht zu irgend etwas gebrauchen?
Aber Tante Ellen, rief Wandrer, das ist ja Zement!
So? Nennt man das Zement?
Freilich ist das Zement, und ein ganz ausgezeichneter Fund! Wandrer wurde
ganz aufgeregt. Zement! Wenn sich viel von dem Steine im Böhnhardt findet,
dann — dann, Tante Ellen, ist uns geholfen! Er fuhr sich mit den Händen in die
Haare. Jetzt kann alles gut werden. Wir gründen eine Zemcntfabrik und beschäftigen
unsre Leute!
O von dem Steine giebt es ganze Berge im Steinbruch. Und Sie meinen,
daß dieser Stein wertvoll ist?
Freilich, freilich! Das reine Gold! Tante Ellen. Sie haben Ihr Meisterstück
gemacht! Entschuldigen Sie mich, ich muß sogleich hinausgehn und die Sachlage
untersuchen.
Warten Sie, rief Ellen, ich komme mit. Klapphorn, begleiten Sie uns, aber
ziehn Sie erst einen anständigen Rock an.
Befehln, gnädiges Fräulein, sagte Klapphorn, zog seinen blauen Rock mit den
Goldknöpfen an und marschierte, indem er sein offiziellstes Gesicht aussteckte, hinter
Wandrer und Ellen als Ehrengarde her.
Es war ein schöner Wintertag; es herrschte ein wenig Frost, ein wenig Schnee
lag wie Streuzucker auf dem Lande und ließ das Gestein erkennen. Man langte
am Steinbruch an und erkannte, daß der Bruch durch den Raubbau, den Heinrichs¬
hall getrieben hatte, unrettbar ruiniert war. Ganze Berge von Abraumgestein
lagen in dem Bruch und hinderten den Zugang. Aber die ganze Lage änderte sich,
wenn das, was man als Abraum aufgeschüttet hatte, als Material zu Zement Wert
erhielt. Dann konnten die Dinge gar nicht günstiger liegen, als sie lagen. Hier
das gebrochne und aufgeschüttete Gestein, dicht dabei die Kalköfen, in denen es ge-
braune wurde, hier eine ebne Fläche, wo Gebäude errichtet werden konnten dort
der Abhang nach dem Assethal hinab, dort die tote Asse, die sich zu einem Lade¬
platz eignete, da der Fluß, der Wasser genug enthielt, flache Kähne zu tragen, auf
denen der Zement bis zu Station Akluni gefahren werden konnte, und von wo' aus
Kohlen mitgebracht werden konnten. Die Bedingungen zu einer vorteilhaften Ver¬
wertung des Gesteins und zu einem erfolgreichen Unternehmen konnten gnr nicht
günstiger liegen. Vor allen Dingen war es möglich, alle die Arbeiter zu beschäftigen,
die brotlos geworden waren, aber durch ihren Besitz in Holzweißig festgehalten
wurden, und auch uoch manchen andern. Vorausgesetzt, daß, was Ellen gefunden
hatte, wirklicher Zement war. Aber Wandrer hatte ja den Beweis in der Tasche,
Elters Zementkuchen, ein Material von klingender Härte. Dies alles setzte Wandrer
Ellen auseinander, die mit glänzenden Augen und geröteten Wangen zuhörte.
Klapphoru stand in respektvoller Entfernung, aber doch so nahe, daß er Wandrers
Darlegung versteh» konnte. Klapphorn machte große Augen, kratzte sich die Nase,
trat in dienstlicher Haltung näher und zeigte die Zähne.
Wollen Sie etwas? fragte Wandrer.
Jawoll, Herr Wandrer, entgegnete Klapphorn, ich muß einmal dumm fragen.
Bitte, fragen Sie dumm.
Können Herr Wandrer und gnädiges Fräulein Ellen auch schlechte Kohle ge¬
brauchen?
Warum nicht, wenn sie nur brennt!
Brennen thut sie wie Gift, aber sie stinkt mordsmäßig.
Lassen Sie sie stinken, unsre Kalköfen sind nicht so empfindlich.
Dann melde ich gehorsamst, sagte Klapphorn, den kleinen Finger an die Hosen¬
naht legend, daß hier oben im Gemeindeholze eine alte Kohlengrube ist, die der
°lec Schulze-Lüttge angelegt hat. Ganz schöne Kohle und brennt wie ein Licht,
°°er kein Mensch hat sie haben wollen, indem daß sie stinkt wie Pech und Schwefel.
da haben sie sie wieder liegen lassen. Gleich hier oben im Gemeindeholze bei
„drei Buchen."
Klapphorn hat Recht, rief Ellen. Ich kenne das Loch. Da oben haben wir
Manchmal Geuoveva gespielt und uns gegraut, wenn die alte Eisenhut mit ihrer
^gen Nase und ihrem Krückstock ankam wie eine Hexe, um ein paar Hände voll
^°hier zu holen. Kommen Sie, Onkel Felix, ich kenne den Weg!
Man ging und fand nach einigem Suchen eine trichterförmige Vertiefung im
^aldbodeu, die von Gesträuch ganz überwachsen und mit dürren Blättern bedeckt
^r. Nachdem Klapphoru einen Weg durch das Gestrüpp gehauen hatte, und das
^and beseitigt war, fand man eine Stelle, wo in den Berg hineingewühlt war,
und wo Kohle zu Tage trat. Es war ersichtlich, daß dieser Fund für die Zement-
sabrik von größtem Wert war, und daß hierdurch ihre Rentabilität nußer allen Zweifel
gestellt wurde. Man konnte von der Fundstelle aus eine Feldbahn bis zu den Öfen
"°um und sein Brennmaterial fast kostenlos haben. Der Weg, den diese Bahn
^ nehmen hatte, wurde sogleich abgeschritten und abgesteckt, und so langte mau
. der bei den Steinbrüchen an. Ellen setzte sich auf einen Holzstamm, der an
ner sonnigen und vor dem Winde geschützten Stelle lag. Wandrer setzte sich zu
ir, und Klapphorn stand in respektvoller Entfernung und in dienstlicher Haltung,
warte er auf deu Wink der Lorgnette der gnädigen Frau.
Tante Elleu, sagte Wandrer, ich freue mich. Mir ist es, als wenn mir eine
^ntnerlnst vom Herzen gefallen wäre. Ich hatte es meinen Leuten in einer
^ unde, wo wir dachten, es ginge ums Leben, versprochen, ich wollte für sie sorgen,
hast ^""^ ^ ^ Mittel, kein Weg zu finden, es war Schauder-
^ u,w nun sehen Sie mal da unten Neukamerun, den ganzen Teil des Dorfes mit
^um roten Dächern, dort unten herrscht überall bittre Sorge. Wenn das Werk
und ?^ einstellt, so sind diese Leute brotlos, müssen in die Welt hinausziehn
bezon H"user leer zurücklassen und verlieren, weil sie die Zinsen nicht weiter
° können. Und wir hier oben haben die Wurzel Scham gefunden, und
wenn wir ihre Kraft wirken lassen, dann giebt es überall da unten Sonnenschein.
Es giebt Arbeit. Tante Ellen, es ist mir noch nie in meinem Leben so zum Be¬
wußtsein gekommen, welchen Segen Arbeit bedeutet. Und es ist wahrhaftig wahr,
daß das Gold auf der Straße liegt. Man muß es nur finden. Und das verdanken
wir Ihnen, Tante Ellen.
Aber Onkel Felix, antwortete Ellen, mir doch nicht! Ich habe wohl ein Korn
gefunden, aber Sie haben erkannt, daß es Gold sei.
Aber Tante Ellen, wenn Sie das Korn nicht gefunden hätten, dann hätte ich
doch nicht erkennen können, daß es Gold sei.
Dem sei nun, wie ihm wolle, wie Stüwel singt, sagte Ellen. Nun aber keine
Müdigkeit vorschützen! Wir bauen eine Zementfabrik und eine Rutschpartie nach
der Asse hinunter und geben einer Menge Leuten Verdienst und bringen unter am
Fronhofe eine große Firma ein: Onkel Felix und Kompagnie. Oder so. Aus dein
Laboratorium machen wir das Kondor, ich ziehe die Schreibärmel an und mache
die Korrespondenz, und Sie reisen. Denn gereist muß doch wohl werden, daß
wir unsre Produkte anbringen. Wissen Sie noch? Mühlen kauft, kauft, kauft, Lettern
kauft! was Sie ja so schön in allen Sprachen können. Und, Onkel Felix, ich muß
jetzt auch einmal den Dummen markieren.
Bitte, markieren Sie.
Wenn der Arbeiter sein Brot hat, dann muß der Unternehmer doch auch
verdienen.
Richtig, dann verdienen wir auch, sagte Wandrer, indem er über diesen Ge¬
danken überrascht war. Denn er, der firme, in allen Erdteilen bewanderte Kauf¬
mann, hatte daran noch gar nicht gedacht, sondern nur Mittel gesucht, seinen Leuten
zu helfen.
Nicht wahr, Onkel Felix, fuhr Tante Ellen fort, wenn wir erst einen Haufen
Geld verdienen, so legen wir etwas in eine besondre Büchse, um Dort seine Schulden
zu bezahlen. Der arme Aork!
Damit sah sie bittend und vertrauend mit ihren glänzenden Augen Wandrer voll
ins Gesicht. Und Wandrer legte seinen Arm um ihre Schulter, zog sie an sich und
küßte mit Andacht ihren roten Mund und sagte: Tante Ellen, Sie sind ein Juwel.
Ellen errötete, erschrak aber nicht, machte sich anch nicht aus dem Arme Wandrers
frei, sondern entgegnete nur: Aber Felix, wir wollten uns doch nicht heiraten!
Das wollten wir freilich nicht, wir närrischen Leute, aber, Ellen, es muß sein.
Muß es sein?
Ja, für unser Kompagniegeschcift reicht das Onkel- und Tantenverhältnis nicht
aus. Es muß sein, und wir dürfen ja doch keine Müdigkeit vorschützen. Wie
wollten wir denn sonst den Leuten da unten und Aork helfen? Siehst du das
ein, Schnucki?
Sie sah es ein, brach aber statt der Antwort in Thränen aus.
Aber Schnucki, rief Wandrer erschrocken, wird es dir denn so schwer, deinem
Onkel Felix deine Hand zu geben.
Ellen schüttelte den Kopf und sagte zwischen Thränen lachend: Nein, das ist
es nicht, 'sist nur das Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen,
als ich in dem Brunnen saß und eine Ilsabe war.
Was konnte darauf Wandrer anders thun, als was er that, er küßte aber¬
mals ihren roten Mund.
Diskretion ist eine löbliche Sache, besonders wenn es sich um die Äußerung
zarter Gefühle handelt. Wir sind sehr für Diskretion. Was würde der freundliche
Leser sagen, falls er schon einmal in einer ähnlichen Lage war, wie Wandrer und
Ellen, wenn ihn dabei jemand belauschte und alles das, was nicht für fremde
Ohren bestimmt war, aufs Druckpapier gebracht hätte? Wir lassen Wandrer und Ellen
eine Viertelstunde allein und sehen von ferne, wie sie Hand in Hand bei einander
sitzen und sich viel zu sagen haben. Wir brauchen um so weniger etwas zu erlauschen,
als wir ganz genau wissen, was bei diesem Gespräche beiderseits festgestellt wurde,
nämlich daß es außer Zweifel sei, daß Onkel Felix und Taute Ellen ganz expreß
für einander geschaffen seien, daß man einander vom ersten Tage an gut gewesen
sei, und daß all der „unbemittelte Edelmut" und alle die klugen Gründe, die man
zwischen sich aufgebaut hatte, dummes Zeug gewesen seien.
Nach einiger Zeit erhaben sich Ellen und Wandrer und schickte» sich an, heim¬
zukehren. Ellen hatte ihre Hand in den Arm Wandrers gelegt und sagte: Felix,
wir dürfe» unsre Verlobung noch nicht veröffentlichen. Nicht der Trauer wegen!
Was würde sich Pa freuen, wenn er jetzt bei uns sein könnte, statt dort hinterm
Turin zu liegen. Ich werde es ihm schon sagen. Und ich bin gewiß, daß er
wich Hort. Aber der Mama und der lieben Nebenmenschen wegen müssen wir
»och schweigen und vorläufig Onkel und Tante bleiben. Nur Lydia darf es erfahren.
Herr Gott, Felix, da steht ja Klapphorn, den haben wir ja ganz vergessen.
In der That, da stand Klapphvrn in respektvoller Entfernung, machte ein
knrioses Gesicht und beschäftigte sich eingehend mit seiner Nase. Er sah aus wie
ein Maikäfer, der zählt, aber nicht zum Auffliegen kommt. Ellen war sehr erschrocken,
aber Wnudrer lachte und sagte: Klapphorn, Sie alter, guter Kerl, kommen Sie
uni her. Gratulieren dürfen Sie, aber hernach halten Sie hübsch den Mund.
Verstanden?
Klapphorn kam heran und gratulierte und sagte einmal über das andre: Nein
svwns, sowas, sowas! Und sagen thue ich keinem Menschen was, bis die Fabrik
steht, und die gnädige Fran die Firma mit der Longschette gesegnet haben.
Aber Lydia erfahr die Verlobung noch selbigen Tages, und es gab in dem ver¬
schwiegnen Jungfernstübchen stürmische Umarmungen und reichliche Thränenergüsse.
Als die Verlobten, gefolgt von Klapphorn, den Kirschberg verlassen hatten
"ut sich der Dorfstraße näherten, zog Ellen ihren Arm ans dem Wandrers und
verabschiedete sich lächelnd und errötend. Es war doch etwas andres, ob man mit¬
einander im Onkel- und Tautenverhältnisse stand, oder in dem etwas schwierigem
Verhältnisse von Braut und Bräutigam — uoch dazu, wenn man eine Mutter hatte,
die es noch nicht wissen sollte. Wandrer fühlte, was Ellen empfand, empfahl sich
w korrektester Weise, blieb zurück und schaute seiner Ellen, wie sie leicht und ein-
»leidig die Dorfstraße hinabschritt, frohen Herzens nach.
Da kam hinter ihm in grausamen Quietschtöueu ein wohlbekannter Break
den Waldweg herab, und vier wohlbekannte Personen saßen darin, Larisch, Bolze,
Bernhard Scholz und der Braumeister. Als man bei Wandrer angelangt war,
hielt der Wagen still, und Larisch rief in seinen breitesten Tönen: Wo den Deibel
stehn Sie denn in der Welt herum, Herr Wandrer?
Wo zum Kuckuck kutschieren Sie den» in der Welt herum? erwiderte Wandrer.
Wie dieser Industrielle fragt! sagte Larisch. Allemal da, wo eine Bierquelle
stießt, lassen wir unsern Wagen quietschen. Denn wir sind tugendhaft, Herr Wandrer,
^ir handeln aus Pflichtgefühl und Nächstenliebe. Erstens, daß unser Braumeister,
der übrigens Brauereibesitzer geworden ist, sich nicht vor der Zeit totsäuft, welchem
Geschicke er übrigens doch nicht entgehn wird. Und zweitens wollen wir hente die
^'imitation der Toten-Asse-und so weiter-Gesellschaft beschließen und sehen, was wir
diesem Jesuiter von Gastrnt noch etwa abzwacken können. Und Sie lassen wir heute
ruht aus den Klaue». Sie sind ja auch „Konsorte." Steigen Sie nur gleich ein.
Wandrer lachte und stieg ein. Es war ihm recht, unter die Leute zu gehn,
^ hatte es ja zu Hanse sowieso nicht ausgehalten. Und jetzt erinnerte er sich,
d"ß Drillhose heute mit den Musikern, die ihm noch geblieben waren, in Happichs
^al ein Konzert geben wollte. Er war demnach auch moralisch verpflichtet, das
Konzert zu besuchen und seinen Leuten etwas zuzuwenden.
Das Konzert war uicht gerade glänzend. Es fehlten wichtige Mitglieder der
^"Pelle, die zu ersetzen auch der Kunst Drillhosens nicht gelungen war. Auch war
^ Besuch nicht eben stark, und die Stimmung nicht gerade gehoben. Man war,
die ganze Gegend von dem Unglück des Werkes so oder so mit getroffen war,
"übt in der Laune, Feste zu feiern. Doch waren die maßgebenden Personen von
Holzweiszig anwesend, und auch von Asseborn waren Kunstfreunde gekommen, und
das waren gerade solche Leute, die notleidende Kuxe besaßen. Mnu durfte es sich
doch nicht merken lassen, daß man in Sorge war. Während nun einige jüngere
Männlein und Weiblein nach dem Konzert im Saale zur Tcinzmnsik hüpften,
konstituierte sich im kleinen Saale inmitten der Asseborner und Holzweißiger Knx-
inhaber, die aber diesesmal keinen Sekt tranken, die Tote-Asse-merkantil-Ausbeutungs-
Genossenschaft. Der kleine Bolze legte die Akten der Gesellschaft auf den Tisch
des Hauses nieder, setzte eine kleine thönerne Sparbüchse hinzu und lockerte den
Kehlkopf im Hemdcnkrngen, was Larisch mit Unmut bemerkte. Larisch war in der
Laune, seinem säuerlichen Humor breiten Raum zu geben und sein Mütchen an
Hnppich zu kühlen, und hatte keine Lust, Bolzes weit ausholende Erörterungen mit
anzuhören. — Bolze, Sie alter Schwadronierer, sagte er, beherrschen Sie, bitte,
Ihre Stimmritze. Sie haben uns versprochen, uns mit Einleitungen zu verschonen,
und wir haben Ihnen die Schlußrede zugestanden. Mehr wird Ihnen nicht ver¬
zapft, so wahr ich Larisch heiße und einen großen Durst habe. — Also meine Herren,
so wandte sich Larisch an die Versammlung mit breitem Grinsen, die Tote-Afse-
und so weiter-Gesellschaft sitzt jetzt, Gott sei Dank, nachdem sie ihr Geld verpulvert
hat, auf demselben Pfrvppen, wie andre Leute auch. Karpfen haben wir leine ge¬
kriegt, außer denen, die uns der Jesuiter vou Happich gestohlen und für teures
Geld aufgehängt hat. So ein Teufelsbraten von Kerl! Meine Herren, jetzt können
wir wieder Jauche pumpen. (Das Wort, das in der Gegend schon zum geflügelten
Worte geworden war, würde unter andern Umständen einen jubelnden Beifall
hervorgerufen haben. Aber hier, wo es gar zu sehr zutraf, erregte es bei den
Kuxinhabern nur peinliche Gefühle und ein gezwungnes Lächeln.) Der Bestand
unsrer Aktiva ist — Bolze, stürzen Sie mal die Kasse — ist eine Mark fünfund¬
dreißig Pfennige. Hierzu kommt eine Speisekarte, auf deren Rückseite das Statut
der Gesellschaft verzeichnet ist, dieser feuerfeste Tresor in Gestalt einer thönernen
Sparbüchse und eine von unserm Generalsekretär abgetretne Zigarrentasche, die aber
noch in der toten Asse liegt und erst gehoben werden kann, wenn die tote Asse
ausgepumpt ist. Ferner läuft noch unser Kontrakt mit Hoffmann in Altum. Wir
sind bereit, alle Gerechtsame und Vorteile dieses Kontrakts gegen das erforderliche
Kleingeld abzutreten. Wer bietet?
Drei Mark, sagte Wandrer und legte einen Thaler auf den Tisch, den Larisch
schleunigst einstrich. Sensation. — Ja, Herr Wandrer, fragte der Schulze, was
wollen Sie denn mit dem Loche anfangen.
Ich will ihn zu einem Hafen umbauen. Ich beabsichtige nämlich die Affe
schiffbar zu machen.
Man hielt dies für einen ausgezeichneten Scherz Wandrers und belohnte ihn
mit einem großen Gelächter. — Was doch die Jugend leichtsinnig ist, meinte Qnarg
aus Asseborn, gleich drei Mark wegwerfen! — Das thäte ich nicht.
Aber fünfzigtausend Mark für Kuxe, die kann man schon anwenden, sagte
Larisch, freundlich grinsend. Darauf wandte er sich wieder an die Versammlung:
Meine Herren, sagte er, liquidieren heißt verflüssigen. Demnach müssen diese drei
Mark als Grundstock zur Anschaffung einer Bowle verwendet werden. Nun könnten
wir uns noch an Heinrichshall wenden und Schadenersatz fordern, weil sie mit ihrer
Auspumperei uns unsre Fische lebendig eingesalzen haben. Aber wir wollen das
nicht thun, sondern froh sein, wenn die notleidende Industrie uns nicht auch uoch
anpumpt. (Auch diese Bemerkung vermochte uur eine schmerzliche Heiterkeit hervor¬
zurufen.) Dagegen — ruft doch einmal das Untier, den Gastrat, her, wir haben
mit diesem alten Schwerenöter noch abzurechnen. — Man schob den Gastrat an den
Tisch; er machte ein trübseliges Gesicht und rauchte kalt. — Laut vorliegendem
Kuchenbrette und beglaubigter Abschrift, fuhr Larisch fort, hat er — wir wollen
einmal sagen „entnommen" dreiunddreißig Pfund Karpfen, im Preise von drei-
unddreißig Mark. Wir bitten bei Liquidation der Gesellschaft um Begleichung
unsers Guthabens.
Happich nahm seine Pfeife ans dem Munde, lächelte etwas blödsinnig und saate-
Meine Herren, Sie spaßen wohl.
Was? Spaß? entgegnete Larisch entrüstet, Friedrich, kommen Sie mal her.
Friedrich stand mit Dörcher zusammen hinter dem Bierschcmk. Dörcher nickte
ihm bedeutsam zu und sagte: Friedrich, du weißt.
Ich weiß schon, sagte Friedrich und stellte sich an der Gerichtsstätte ein.
Friedrich, sagte Larisch feierlich, geben Sie auf Pflicht und Gewissen Zeugnis:
Was stand auf dem Bleche geschrieben?
Weiß ich nicht mehr so geuau, erwiderte Friedrich, aber ein Pfunder dreißig
werden es wohl gewesen sein.
Na also. Und diese dreiunddreißig Pfund Karpfen stammen aus der Asse.
Ja, ans der Asse werden sie wohl sein.
Na also. Und diese dreiunddreißig Pfund Karpfen hat uns also Hnppich zu
ersetzen.
Nee, wie so deun? die sind doch von Hoffmannen aus Altum.
Was? von Hoffmann? Himmelelement so'n Jesuiter. Mensch, Sie haben doch
selber diesen H. W. unterzeichneten Brief geschrieben.
Als wie ich? Nee.
Sie haben aber selbst zugegeben, daß Sie mit der Angabe dieses Briefes die
Wahrheit gesagt hätten.
Ist mir unbewußt.
Jawohl, riefen mehrere Stimmen, das haben wir gehört.
Na, warten Sie, Sie Urian, wenn Sie die drei Finger hoch heben müssen,
wird schon die Wahrheit an den Tag kommen.
Wandrer war zu Dörcher getreten und sagte: Frau Neigebarth, die Sache
geht schief. Wenn ich jetzt an Ihrer Stelle wäre, so spendete ich eine Bowle Punsch
und machte alles damit tot.
Dörcher begriff, was Wandrer gemeint hatte, trat an den Tisch und schob
Um der einen Hand den Husnreu-Weidling, mit der andern den lieben Mann hinter
l'es. Dörcher war inzwischen stärker geworden, sogar schon einigermaßen füllig,
"ber sie war noch immer eine hübsche und appetitliche Fran. Sie stemmte also die
runden Arme in die Seite und sagte: Ich bitte ums Wort.
Stille, ihr Mannen, rief Larisch, unsre hübsche Wirtin hats Wort.
Meine Herren, fuhr Dörcher fort, nun hören Sie aber endlich mit Ihren: Ge-
>nahe auf. Das geht ja weiß Gott schon ins dritte Jahr. Meine Herren, das
^legt man nachgerade reinweg über. Und dabei kommt auch nichts raus. Trinken
«le lieber — (Hört, hört! Bravo!) Und dazu stelle ich eine große Punschbowle.
(Großer Beifall.) Aber das bitte ich mir aus, daß von den Karpfen nun nicht
'"ehr gequatscht wird. (Allgemeine Zustimmung.)
Halt, meine Herren, rief Bolze, emporschnellend, erst noch die Schlußrede.
Na meinetwegen, sagte Larisch, aber machen Sie es gnädig.
^. Es dauerte noch längere Zeit, ehe es Bolze gelang, sich Ruhe zu verschaffen,
'üblich war die Möglichkeit vorhanden, zu beginnen, und er begann: Meine Herren,
°"s Gesetz von Angebot und Nachfrage ist die Grundlage der Volkswirtschaft, so-
"M als Bethätigung, wie auch als Wissenschaft. Larisch stöhnte. — Mag dieses
Gesetz den einen in den Himmel gehoben, von den andern verurteilt werden,
e^> unterliegt keinem Zweifel, daß weder Angebot noch Nachfrage in Wirkung treten
omne», wo nichts vorhanden ist. Wo aber unter solchen gegebnen Voraussetzungen
^" geschäftliches Übernehmen ins Leben tritt, da ist der Erfolg ein Mißerfolg. Nach
^eher allgemeinen Bemerkungen wende ich mich den Geschäften der Tote-Affe-merkantil-
^usbentungsgenossenschaft mit dem Sitze Holzweißig zu. Es war um 14. Juni des
wahres 189 . . Der Fimmel war so blau, und die Erde so grün . . .
s ^ schade, daß diese gewiß schön angelegte Rede nie zu Ende kommen
Mlle, denn in diesem Augenblick erschien Doraden mit der Bowle. Die Glaser
"«gen, die Bowle dampfte, und es war vorbei mit der Andacht. So oft auch
Bolze es versuchte, aus dein Tumult nufzutaucheu, er tum nicht über den vierzehnten
Juni hinaus. Und so blieb ihm nichts übrig, als seine Rede speziell bei dem Herrn
Schulzen abzuladen. Und der Herr Schulze war so gütig, zuzuhören.
Dies war das Ende der Tote-Asse-und so Weiter-Gesellschaft. Ihr Tag ging
feucht zu Ende und roch nach Punsch. Fritze Harkort aber sagte zu seinem Nachbar:
August, wenn wir damals Karpfeukuxe gekauft hätten und hätten die Finger von
den Heinrichshallern davon gelassen, dann wären wir kluge Leute gewesen.
Und Nachbar August ließ den Kopf häugen und sagte gar nichts.
Unter allen Kulturfortschritten ist der Fortschritt in der Rein¬
lichkeit der, dessen Wert am wenigsten angezweifelt werden kann. Reinlichkeit ist aber
ein wesentlicher Bestandteil der Hhgiene, und diese verdanken wir der medizinischen
Wissenschaft. Wieviel Zweifeln auch gewisse moderne Theorien über die Krank¬
heitsursachen ausgesetzt sein mögen, und so heftig die Vertreter der verschiednen
Heilmethoden einander bekämpfen mögen, daß die Medizin im neunzehnten Jahr¬
hundert einen gewaltigen und höchst segensreichen Fortschritt gemacht hat, läßt sich
nicht bestreiten. Dieser Ansicht ist auch Troels-Lund, der ein sehr interessantes
Buch über Gesundheit und Krankheit in der Anschauung alter Zeiten ge¬
schrieben hat (vom Verfasser durchgesehene Übersetzung von Leo Bloch, mit dem
Bildnis des Verfassers, Leipzig, B. G. Teubner, 1901). Er entwickelt die Vor¬
stellungen der Ägypter, der Leiter der griechischen Tempclheilstätten, des Hippokrates,
des Asklepiades, des Galenus, der Araber, der mittelalterlichen Kirche von Gesund¬
heit und Krankheit und verweilt dann beim sechzehnten Jahrhundert, von dem er
ein hübsches Charakterbild entwirft, das nicht bloß für die Medizin zutrifft. Die
Auffassungen aller vorhergehende» Periode« waren hier, und zwar nicht in abge¬
blaßten, sondern in stärker ausgeprägten Formen zu einer Musterkarte vereinigt.
Der Glaube dieses Jahrhunderts „an das direkte Eingreifen Gottes war inner¬
licher und selbstverständlicher als bei irgend einem Naturvolk. Seine Begeisterung
für griechische Heilkunde war glühender und siegessicherer sogar als in der Zeit
des Hippokrates. Die kühnsten Rezepte des Avicenna und Averroes schienen ein¬
fach und leicht verständlich. Mittelalterlicher als das Mittelalter selbst glaubte
man diese Welt ganz und gar dem Gutdünken des Teufels überlassen, sodaß die
kleinen Teufelchen sheute nennt man sie Bazillenj zahlreicher als Staubkörnchen
herumwimmelten. Und zugleich pflegte man das Naturstudium mit begeistertem
zuversichtlichen Glauben, der weder Schranken duldete uoch einem Widerstande wich,
sondern eine Verbindung ahnte zwischen den Wegen der Sterne, dem Wesen des
Menschen, dem verachteten Kreml und dem Saft in der Retorte, der nicht zu Golde
werden wollte. Alle Zeitalter sind hier versammelt, nicht in verkrüppelten, sondern
in Prachtexemplaren." In Faust hat sich der ungestüme und unersättliche, der
grübelnde und himmelstürmende, der vielgestaltige Geist dieses gewaltigen Jahr¬
hunderts poetisch personifiziert. Von den drei Grundursachen, auf die das aus¬
gehende Mittelalter die Krankheiten zurückführte: Gott, dem Teufel, den Gestirnen,
war es die dritte, die auf langen Irrwegen ins Naturstudium hineinführte und
zuletzt den Kausalzusammenhang erschloß, der in kühnen Hypothesen, z. B. in der
von den Beziehungen der die Temperamente konstituierenden Körperflüssigkeiten zu
den Planeten, vorweggenommen wurde, ehe man die einzelnen Kausalkettcn aufge¬
deckt und ihre Glieder erforscht hatte. Der Verfasser hat diese Bedeutung der
Astrologie schon in dem Buche: Himmelsbild und Weltanschauung im Wandel der
Zeiten (vierter Band des Jahrgangs 1899 der Grenzboten Seite 83) dargestellt
und hebt auch diesesmal wieder die Verdienste Tycho Brahes um die Begründung
der Naturwissenschaften hervor. Sollte es noch Leute geben, die das Christentum
für die mittelalterliche Finsternis verantwortlich machen, so können sie mich aus
diesem Buche lernen, wie falsch ihre Ansicht ist. Zwar daran erinnert Troels-Lund
nicht, daß für die theoretischen Studien Kräfte erst frei werden konnten, nachdem
die jungen Volker des Nordens durch Abwehr asiatischer Räuberhorden, Urbar¬
machung des Bodens und Städtegründung ihr materielles Dasein gesichert hatten,
und daß von einer allgemeinen Verbreitung wissenschaftlicher Errungenschaften, die
den raschen und sichern Fortschritt erst möglich macht, vor der Erfindung und
Vervollkommnung der „schwarzen Kunst" keine Rede sein konnte. Aber er zeigt
doch, daß auch die abenteuerlichsten Phantastereien aus dem ehrlichen Drange
nach Erkenntnis hervorgegangen sind, daß sie ein Tasten nach wissenschaftlichen
Methoden waren, die anders als durch viel vergebliches Probieren nicht ge¬
funden werden konnten, und daß die große Masse von den Ergebnissen immer
nur das aufnahm und mit Fanatismus festhielt, was ihrem groben Sinn, ihrer
Einfalt und ihren Leidenschaften am meisten zusagte. Daß die führenden Geister
der Kirche immer vernünftig geurteilt haben, dafür wollen wir, da in dem be-
sprochnen Buche so viel von Astrologie'die Rede ist, ein Zeugnis aus Augustinus
anführen. Im zweiten Kapitel des fünften Buches vo eivitats ohl erwähnt er, daß,
wie er bei Cicero gelesen habe, Hippokrntes aus dem gleichzeitigen Erkranken zweier
Brüder und aus dem gleichartigen Verlauf ihrer Krankheit geschlossen habe, sie
Mer wahrscheinlich Zwillinge. Der Stoiker Posidonius dagegen habe behauptet,
f>e müßten unter derselben Konstellation empfangen und geboren sein. Die Konjektur
des Arztes sei viel annehmbarer als die des Philosophen. Denn bei gleichem
Gesundheitszustande der Eltern gezeugt, bei demselben Zustande des Mutterleibes
entwickelt, unter denselben Lebensbedingungen nnfgewachsen, konnten sie wohl von
^ner so gleichartigen Leibesbeschnffenheit sein, daß sie dieselben Gesundheitsstörungen
SU derselben Zeit erlitten. Wenn aber, fährt Augustinus fort, vieler Zwillinge
<-eben ganz verschieden verläuft, so würde das Hippokrates ohne Zweifel ganz
nichtig daraus erklären, daß sie nach der Geburt verschiedne Schicksale erleiden
und infolge abweichender Ansichten und Neigungen verschiedne Lebensgewohnheiten
annehmen. Dagegen ist es geradezu unverschämt, die Gleichartigkeit und Gleich¬
zeitigkeit der Erkrankungen auf die Gestirne zurückführen zu wollen, da wir doch
^"glich sehen, daß den verschiednen Menschen unter derselben Konstellation die ver¬
schiedensten Schicksale zustoßen. (Könnte man nicht dasselbe auch gegen Falb ein¬
wenden, da doch seine „Flntfaktoren" für die ganze Erde immer dieselben sind,
Während das Wetter jederzeit ans den verschiednen Punkten der Erdoberfläche ver¬
schieden ist?) — Georg Kellen hat 32 kleine, hübsche und leicht lesbare Plaudereien
ZU einem Büchlein vereinigt, das er Fnckelzug durch Kunst und Kultur betitelt
Berlin. Ernst Hofmann u. Co., 1901). Das Christentum und die Kirchen schätzt
^,zu niedrig ein, sonst aber spricht er über manchen Kultnrunsinn, wie über die
Ästige Massenabfütternng und über den Wunderglauben um Namen, den die
Hlakatreklame ausnutzt, manches verständige Wort. Er hat auch eigne Gedanken,
S- B.: Die Satire kennt keine Toten. Nur das Lebende kann schaden und muß,
no es das verdient, durch Spott gestraft werden. Im Genie entwickeln sich die
höchsten Anlagen ans Kosten der niedern, und diese Einseitigkeit ist seine einzige
^erwandtschnft mit dem Wahnsinn. Weit mehr als das Genie ist die Leidenschaft
dem Wahnsinn verwandt. — Eine viel umfangreichere Sammlung von Zeitungs-
^d Jonrnalartikeln, die er Kulturglossen nennt, hat Kurt Elsner (bei John
^delheim, Berlin, 1901) uuter dem Titel Taggeist herausgegeben, ein Wort, das,
^ uns der Verleger belehrt, bloß die Verdeutschung von Journalismus sein soll,
^'sners Leier ist, besonders in der Politik, nicht auf den Grenzbotenton gestimmt;
M nämlich seit ein paar Jahren Vvrwärtsredaktenr. Aber er gehört nicht zur
im Garde der Unentwegten und Verbohrten und versündigt sich durch so manche
Ketzerei an der Parteiliche. Die Großstadt ist ihm zuwider — die meisten der
hier veröffentlichte« Aufsätze hat er in Marburg geschrieben —, und er warnt die
Genossen davor, die „Aufklärung" (die Gänsefüßchen sind natürlich nicht von ihm)
zum intoleranten Dogma zu macheu. „Es ist nun einmal so: wir haben auch eine
Seele, eine unvernünftig schwärmende Seele. Auch die will ihr Recht haben. Ein
Tropfen aufgeklärten Berliuertums fort und dafür ein Tropfen des romantischen
Sozialismus der jungen Talarsozialisten von der Art des Pastor Naumann! sdas
ist vor neun Jahren geschrieben, j Ich glaube, sie werden diesen Tausch nicht zu
bereuen haben." Man sieht ungefähr, wie er zu den Sozialdemokraten gekommen
ist. Es drängte ihn, sich an der praktischen Politik zu beteiligen, aber er war zu
sehr Denker, als daß er die theoretische Rechtfertigung seiner praktischen Thätigkeit
hätte entbehren können. Solche schien ihm nnr bei der Sozialdemokratie möglich,
weil die alten Parteien mit Ausnahme des Zentrums, das für ihn nicht in Frage
kam, nur noch Interessen, aber keine Theorie mehr haben. Egidy nennt er einen
politischen Temperenzler, der dem alten Wahne huldige, man könne die Welt durch
gut zureden gut machen. „Feind bleibt Feind. Versöhnung stiften soll man nnter den
Freunden, die Gleichfühlenden bilden zu Gleichdenkenden und Gleichhandelnden. Die
freien und feinen, über dem engen Fraktionsgeist schwärmenden Ideen ^Idealisten?j
seien Werber und Bildner schaffensstarker Machte, nicht Gründer von ohnmächtigen
Sekten! Herr von Egidy, der Utopist der Versöhnung, ist einer nur vou vielen
beiseite stehenden Feingeistern. Sie mögen aufhören, den Fusel zu scheuen!"
So hat er denn selbst den Widerwillen gegen den Fusel überwunden und ist
Genosse geworden. Den letzten Stoß mag ihm seine Verurteilung wegen Majestäts¬
beleidigung gegeben haben, deren Geschichte als höchst merkwürdiger Beitrag zur
Theorie des clow8 sventualis dem Studium der Juristen empfohlen sei. Eismer
versichert, daß wenn er den Kaiser hätte angreifen »vollen, er es offen gethan hätte,
da er die Caligulamanier der Quitte und Konsorten verachte. Die größere Hälfte
des Buches ist Politischen Inhalts. Kulturfragen im engern Sinne, namentlich
litterarische, behandeln die Aufsätze der zweite» und der dritten Abteilung, darunter
Kritiken von Werken Nietzsches, Ibsens und Gerhard Hauptmanns. In der
Schätzung des Wertes der Kultur im allgemeinen steht uns der Verfasser nahe,
wie folgender Satz beweist: „Die Technik beglückt das menschliche Bewußtsein
mehr deshalb, weil es an dem Stolz blühend emporwächst, daß alles dies die
Leistung des Menschenwitzes sei, als durch die Förderung der äußern Behaglichkeit.
Diese kaun der Mensch entbehren, jenes Gefühl niemals." Wenn er meint, die
Zeit sei noch fern, wo die Wissenschaft die Religion werde ersetzen können, in der
Übergangszeit bleibe uns die Kunst als Ersatz, so überlassen wir es dem Leser,
zu entscheide», was daran Wahrheit und was Irrtum ist. — Hieronymus Lorm
ist in Person die Lösung nicht bloß einer, sondern der Kulturfrage, der Frage, ob
Kultur an sich einen Wert hat. Zwar die bewundruugswürdige Energie, mit der
er sich einen sinnreichen Ersatz für die beiden wichtigsten Sinne geschaffen hat, ist
Naturgabe, aber ohne den Gedankenschatz, den ihm unsre reiche Kultur bis zum
zwanzigsten Jahre geliefert hatte, wo er, schon erblindet, auch uoch das Gehör
vollständig verlor, würde er weder seine sinnreiche Zeichensprache erfunden noch
jenes inwendige Paradies angebaut haben, aus dem er vollsinnigcn Menschen edle
Früchte spendet. Daß ein Mann, dem so schweres beschicken ist, Pessimist wird,
ist erklärlich und entschuldbar. Die Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit seines
Pessimismus aber beweist, daß dieser nur noch im Kopfe nicht mehr im Herzen
steckt. Grundlosen Optimismus nennt er selbst seine Lebensauffassung in dem (bei
Karl Prochaska in Teschen 1901 in zweiter Anfluge erschienenen) Büchlein: Der
Naturgenuß. Ein Beitrag zur Glückseligkeitslehre. Wenn man bekennt,
daß man sich innerlich heiter fühlt, und wenn man zur Erheiterung andrer bei¬
trägt, so beweist man damit, daß es wahres Glück giebt in dieser Welt. In der
Zeit, wo man dieses Glück uoch uicht errungen, noch nicht einmal kennen gelernt
hatte, schien einem das Gegenteil bewiesen, und da man die mit viel Mühe und
Arbeit aufgebaute pessimistische Theorie für einen Besitz hält, deu mau nicht leicht¬
sinnig preisgeben dürfe, so nennt man seinen jetzigen Optimismus grundlos und
behauptet, das Glück, das man genießt, sei eigentlich keins. Für jedermann ist
nun freilich das Glück nicht, das sich der arme reiche Landesmann — das ist
Lvrms bürgerlicher Name — errungen hat. Es steht dem buddhistischen Nirwana
sehr nahe: eine innere Heiterkeit, die darauf beruht, daß er auf alles Begehren
verzichtet und das Weltweben, wie es Richard Wagner vielleicht nennen würde,
als ein unterhaltendes Schauspiel betrachtet, das vor ihm aufgeführt wird, das
ihn aber persönlich nichts angeht. „Das ganze vielgepriesene Glück des menschliche»
Selbstbewußtseins besteht nur darin, daß es das einzige Mittel ist, den Zauber
des Bewußtlosen wahrzunehmen"; z. B. des Ablaufs der Jahreszeiten. Deu zu
genießen, leitet das Büchlein an, nicht etwa die sogenannten Naturschönheiten. Die,
behauptet Lorm, genieße man überhaupt nicht in natura, sondern mir im Bilde,
w der Kunst! ein Freund von ihm sei ledig geblieben, weil er keine junge Dame
siefnnden habe, die ehrlich genug gewesen wäre zu gesteh«, daß sie die Natürliche
Tochter gelesen, oder wenn sie das über sich brachte, daß sie dieses Drama lang-
Weilig gefunden habe, und daß die schöne Natur nicht zum aushalte» sei, „wenn
sie verbunden ist mit dumpfen Bauernstuben, schlechter Kost, Insektenstichen, Ab¬
wesenheit jeglicher Bequemlichkeit und Geselligkeit." Diese Betrachtungen geben
sich als Aufzeichnungen eines Mannes, der dnrch ein furchtbares Leid in die
Einsamkeit getrieben worden ist, nud dessen romantische Geschichte als Einleitung
g"r anmutig erzählt wird.
hat dem jüngst angezeigten
Küchlein ein zweites, ebenso gutes nachgeschickt: Im Kampf um Gott und um
das eigne Ich. Ernsthafte Plaudereien. (Freiburg i. B. und Leipzig, Paul
^aetzel. 2. Auflage 1902.) Ein paar Proben! Die Unmöglichkeit, das Leben zu
enträtseln, „könnte einen zum resignierten Pessimisten machen. Ich würde vielleicht
auch einer, wenn ich das Leben zweimal leben könnte. Aber einmal, und es sich
verderben um des Verstandesbruchteils willen, der einem fehlt, um ganz Verstand
zu sein — nein! Da bin ich mir im übrigen viel zu wertvoll. . . . Das Leben
^, was wir aus ihm machen. Seht ihr denn nicht, daß aus dem Buche des
^ebens jeder mir sich selber herausliest? Der Frosch liest Fliegen, die Enle Mäuse,
vie Schnecke ihren Salat — das sind die einzigen Buchstabe» im großen Welten-
^U'he, für die sie offne Auge» haben. . . . Es giebt nichts Nmnierenderes für
den Menschen, als sich durch eine konstruierte bessere Welt diese wirkliche Welt zu
berekeln." Dem Problem des Übels und der Sünde schaut der Verfasser unerschrocken
Ms Gesicht. Er löst es ungefähr so wie wir, nur daß wirs nicht so schön zu
^gen wisscii. E^l die Widerstände verwandeln die sittliche Idee in sittlichen
Willen; ohne Widerstände würden wir nur in der Vorstellung leben, und unsre
äugend wäre eine gemalte Tugend, eine spottwvhlfeile Tugend: was kostet denn
^ B. ein Neues Testament? Das Böse stammt also nicht von einem Teufel,
wildem fließt mit Notwendigkeit ans dem Schöpferwille», der in Gott entstand,
^ndem die Heiligkeit von der Liebe besiegt wurde. — Das orthodoxe Luthertum
wnsz doch noch ziemlich viel Anhänger haben, wenn ein Buch wie das von Wilhelm
'^vhnert, Pastor in Waldenburg i. Seht., fünf Anflügen erlebt: Kirche, Kirchen
Und Sekten samt deren Unterscheidungslehren, nach dem Worte Gottes und den
ntherischen Bckenntnisschriften dargestellt. (Leipzig, E. Ungleich, 1900.) Die
ätherische Kirche ist nach ihm nicht eine neue, erst seit der Reformation bestehende,
ändern die alte, von den katholischen Irrlehren gereinigte und wiedererstauduc
^'vstvlische Kirche. „Der Kern und Stern ihrer Lehre ist die Rechtfertigung des
^"übers allein dnrch den Glauben an Jesum Christum. Jede andre Kirche, die
el . « Kennzeichen nicht mehr in vollem Maße besitzt, ist zwar noch Kirche, aber
"e kranke und verderbte, gefälschte oder falsche Kirche." Das gilt von der römischen,
der reformierten und von der nnierien Kirche. (S. ".5 bis 37.) Die sehr
ausführliche Darstellung der Unterscheidungslchren ist objektiv gehalten und frei von
Gehässigkeit im Ton. Den Sekten, unter denen anch die Spiritisten und die
Chiliasten abgehandelt werden (hätte nicht die ethische Bewegung mehr Recht auf
Erwähnung gehabt als der Spiritisteuhumbng?), find 180 Seiten eingeräumt. —
Professor Wilhelm von gehender hat uuter dem Titel: Die Weltreligionen
auf dem Columbia-Kongreß von Chicago 1893 (zweite, neubearbeitete Auf¬
lage; Gotha, Friedrich Andreas Perthes, 1900) aus den dort gehaltnen Reden
zusammengestellt, was ihm am wichtigsten schien, und eine Reihe erläuternder Ab¬
handlungen beigefügt über Religion im allgemeinen, Glauben, Wunderglauben,
Dreieinigkeit usw. Der Verfasser ist ein frommer Semipantheist, der das Gute in
den „geoffenbarten" Religionen anerkennt, selbst aber Gott in der Natur gesucht
und gefunden hat. Er hat vor mehr als einem halben Jahrhundert bei seiner
medizinischen Doktorpromotion die These verteidigt: ^.nakoiniav Senninen xist^loin
ol'g'g, Oeuiu lag'ol, iäoo<iuo tboologis etirun aiMg otia,ur eommeuÄanÄunr L8i. Die
Teilnehmer an jenem amerikanischen Kongreß haben allesamt Versöhnlichkeit be¬
kundet. Die Anordner beabsichtigten, einen zweiten 1900 in Paris zu veran¬
stalte!?, haben aber den Plan aufgegeben. Und das war gut, meint Zchender, denn
bei der Art christlicher Liebe, die in Europa die Angehörigen der verschiednen
christlichen Konfessionen beseelt, hatte leicht eine Prügelei daraus werden können. —
Fr. Whß, Schulinspektor a. D., hat ein Schriftchen: Theologie und Ethik
herausgegeben (Wien, A. Piasters Witwe n. Sohn; zweite Ausgabe 1901), worin
er u. a. beweist, daß der Glaube an ein Jenseits ans dem Heidentum stammt, daß
Jesus „die Gottesherrschaft der Wahrheit und Liebe in dieser realen Welt ge¬
predigt" hat, und daß alle Bibelübcrsetzer von Luther bis Allioli das Neue
Testament gefälscht haben; auch Luther hat nicht erkannt, daß Jesus und Paulus
die vegetarische Lebensweise vorschreiben, z. B. Johannes 6, 64 (das Fleisch nützet
nichts; nicht 63, wie zitiert wird) und Rom. 7, 5; statt: als wir noch im Fleische
lebten, übersetzt Wyß: als wir noch bei der Fleischspeise lebten. Wir erwähnen
den harmlosen Unsinn nur deswegen, weil das Schriftchen in Österreich verboten
worden ist; wenn die Herren Zeit haben, sogar für solches Zeug Reklame zu mache«,
müssen sie doch gar nichts nützliches mehr zu thun haben. — Der Dr. xlril. Hermann
Franke wendet in der Schrift: Christentum und Darwinismus in ihrer
Versöhnung die Entwicklungslehre auf Religion und Ethik an: die wahre Gottes¬
erkenntnis und die echte Sittlichkeit können nicht am Anfange der Entwicklung des
Menschengeschlechts vorhanden gewesen sein, sondern müssen als ihr Ziel ins Auge
gefaßt werden. Selbstverständlich kann von diesem Standpunkt aus vou eurer
Reformation, von Wiederherstellung des Urchristentums u. tgi. nicht die Rede sein.
Der Verfasser ist Monist, bekämpft die aus dem Heidentum stammenden dualistischen,
namentlich gnostischen Lehren der Theologen und schreibt Seite 12: „Nicht eine
neue Offenbarung über Gottes Wesen ist das Christentum, sondern eine solche
über Gottes Willen an der Menschheit (so!), über das Ziel, das er ihr gesetzt
jhatj und das sie im rechten Anschluß an ihn erreichen soll. Christus hat keine
irgendwie geartete neue Lehre von Gott aufgestellt, soudern er hat zu Gott
hingeführt, hat versöhnt mit Gott, d. h. uus zu dem ewig unerforschlichen Gott
in das rechte Verhältnis gesetzt." In Christus hat die Menschheit das Ziel der
religiösen Entwicklung erreicht; was nach ihm geschieht, ist, daß mit seiner Hilfe
eine immer größere Zahl von Menschen diesem Ziel immer näher kommt. Das
haben die Reformatoren erkannt, aber ihre Zeitgenossen waren für diese Erkenntnis
nicht reif, und darum hat unser Volk zwei Jahrhunderte im Banne der Orthodoxie
leben müssen.
/«^me schon lange mit Bangen erwartete und doch tief erschütternde
^ Trauerkunde ist in der Nacht des 19. Juni durch das deutsche
Land geflogen: König Albert von Sachsen ist nach langem, schwerem
Leiden, das er mit dem Heldenmute des echten Soldaten trug,
pflichttreu bis in die Stunden des schwindenden Bewußtseins hinein,
auf seinem herrlichen schlesischen Landsitze Sibyllenort inmitten der
Sommerpracht seiner Gärten sanft verschieden. Ein Landesherr echt
deutschen Gepräges, gewissenhaft, umsichtig, fest und mild, der jedem,
mit dem er sprach, die Empfindung zu geben wußte, daß er auf
seinem Arbeitsgebiet zu Hause sei und warmes Interesse dafür hege,
der siegreiche Feldherr des nationalen Krieges, dessen Scharfblick
und ruhige Entschlossenheit das blutige Ringen um Se. Privat
entschied, durch die Schlacht bei Beaumont die große Entscheidung
bei Sedan vorbereitete und an dieser selbst hervorragend mitwirkte,
um Paris den eisernen Gürtel schloß und alle Versuche zum Durch¬
bruch abwies, der treue, unbedingt zuverlässige Waffengenoffe des
alten Kaisers Wilhelm, der ihm zweimal, 1879 und 1886, den
Oberbefehl des deutschen Heeres zugedacht hatte und ihm vertraute,
wie sich selbst, der weise Reichsfürst, der sich ganz eingelebt hatte
in die neue Ordnung, der väterliche Freund und Berater unsers
Kaisers seit seinem Regierungsantritt, war er, alles in allem be¬
trachtet, der glücklichste und populärste Fürst, den Sachsen jemals
gehabt hat, und der erste, der den Segen des neuen Reichs an
sich selbst empfand, den Segen, daß der deutsche Fürstenstand, statt
sich auf den heimischen Staat zu beschränken, wieder mitarbeitet
an dem Wohle der ganzen Nation. Aufrichtig und tief ist deshalb
die Trauer um ihn, nicht nur in Sachsen, sondern im ganzen Reiche.
Uns aber, der ältern Generation, die wir mit vollem Bewußtsein, mit
Zorn und Freude, mit Schmerz und Jnbel die ganze schwere und
doch so große Zeit der Wiedergeburt Deutschlands durchlebt und
durchkämpft haben, wir fühlen diese Trauer als eine ganz persönliche,
denn mit König Albert ist uns ein lebendiges Stück ruhmvollster
Vergangenheit ins Grab gesunken; von den Paladinen Kaiser
Wilhelms des Siegreichen war er einer der letzten.
Noch hallt das Trauergeläute jeden Mittag von den Türmen
unsrer Kirchen, und noch wallen die Fahnen in schwarzem Flor.
Aber auch wenn alle diese äußern Anzeichen der Trauer verschwunden
sein werden, in den Herzen wird sie noch lange nachzittern, und
in der deutschen Geschichte wird König Albert immer fortleben
in seiner unwandelbaren Pflichttreue, seiner tiefen Herzensgüte,
seiner ganzen schlichten Männlichkeit.
Meun es zur unrtschaftlichen Trennung der beiden Neichshälften
käme, dann Hütte ich umsonst gelebt, — Pester und Wiener Blätter
wußten kürzlich zu berichten, daß Kaiser Franz Joseph, tiefbc-
küminert über den wenig hoffnungsvollen Stand der Ausgleichs¬
verhandlungen zwischen Österreich und Ungarn, diese Worte ge¬
sprochen habe. Ob thatsächlich eine solche Äußerung des Kaisers vorliegt, und
ob sie wirklich in dieser scharf zugespitzten Form erfolgt ist, läßt sich natürlich
nicht feststellen, dem Sinne nach aber ist damit die Stimmung zweifellos richtig
wiedergegeben worden, von der Kaiser Franz Joseph an seinem Lebensabende
beherrscht wird. In Österreich und in Ungarn hat man sich allerdings daran
gewöhnt, die Ausgleichsfrage lediglich vom einseitigen Nützlichkeitsstaudpunkt
aus zu beurteilen, aber es läßt sich nicht übersehen, daß dabei außer den
Sonderinteressen der beiden Neichshälften auch die der Gesamtmonarchie
in Betracht kommeu. Theoretisch mag die wirtschaftspolitische Trennung der
beiden Neichshälften immerhin als eine nur diese berührende wirtschaftliche
Angelegenheit gelten, praktisch würde sie aber nnter den gegebnen Verhältnissen
für die Monarchie von tiefeinschneidender politischer Bedeutung sein.
Die staatsrechtliche Organisation der österreichisch-ungarischen Monarchie
beruht auf der pragmatischen Sanktion vom Jahre 1722/23 und auf der
dualistischen Verfassung vom Jahre 1867. Jene setzt für alle Zeiten die
Personalunion zwischen Österreich und Ungarn fest, diese fügt eine Realunion
hinzu, die wiederum doppelter Natur ist. Die im Jahre 1867 zwischen beiden
Neichshälften vereinbarte Verfassung begründete eine Realunion in der Weise,
daß die auswärtigen Angelegenheiten, das Kriegswesen (außer der Rekruten-
aushebung nud der Wehrverfassnng) und die darauf bezügliche Geldgebnhrnng
dauernd als gemeinsame Angelegenheiten erklärt wurden. Zu dieser dauernden
Gemeinsamkeit trat aber noch eine zeitweilige, indem das Ausgleichsgesetz vom
Jahre 1867 bestimmte, daß es im Interesse beider Neichshälften liege, daß
eine Reihe von wirtschaftlichen Angelegenheiten (Zollgesetzgebung, Münzwesen,
gewisse indirekte Steuern usw.) zwar nicht gemeinsamen Ministern anvertraut,
Wohl aber mich Grundsätzen, die von Zeit zu Zeit (aller zehn Jahre) gemeinsam
festgestellt werden sollten, von den beiden Regierungen verwaltet würden.
Diese zeitweilige und darum auch veränderliche Realunion bildet den Gegen¬
stand des sogenannten „wirtschaftlichen Ausgleichs" zwischen Österreich und
Ungarn, der von Zeit zu Zeit erneuert werden muß. An und für sich wäre
es nun ganz gut denkbar, daß durch die Nichterneuerung des wirtschaftlichen
Ausgleichs die zeitweilige Realunion beseitigt würde, ohne daß hierdurch die
wegen der auswärtigen Politik, der Armee und der sie berührenden Finanzen
im Jahre 1867 dauernd festgesetzte Realunion Schaden litte. In einem Handels¬
vertrage könnten ja die beiden Reichshülften einen ganz natürlichen Ersatz für
das bisher bestehende Zoll- und Handelsbündnis finden, sodaß das Verhältnis
Österreichs und Ungarns zu einander nur in der Form, nicht aber im Wesen
eine Veründrung erführe. Dieser theoretisch möglichen Auffassung widerspricht
jedoch die Natur der ungarischen Politik seit 1847 im allgemeine« und ihre
Entwicklung seit 1867 im besondern.
Die ungarische Verfassung vom Jahre 1847/48 ging von dem Grund¬
gedanken der Personalunion aus. Sie kannte keine mit Österreich gemeinsamen
Angelegenheiten mit Ausnahme der auswärtigen Politik; allein auch dieses
Zugeständnis an den Gedanken der Realunion wurde dadurch wesentlich ein¬
geschränkt, daß der ungarische Reichstag das volle Verfügungsrecht über die
Verwendung aller in Ungarn ausgehöhlten Truppen hatte, in der Person des
„Ministers um die Person des Königs" aber ein Kontrollorgan für den ge¬
meinsamen Minister des Äußern bestellt und damit die Selbständigkeit des
ungarischen Staates auch aus diesem Gebiete zum Ausdruck gebracht worden
war. Diese Verfassung von 1847 beherrscht aber heute noch das gesamte
politische und nationale Leben des Magyarentums. Die Verfassung von 1867
war ein Kompromiß, und es liegt kein Grund vor, daran zu zweifeln, daß
sein Schöpfer. Franz Deal, aufrichtig glaubte, damit die verfassungsrechtliche
Entwicklung Ungarns im Nahmen der Monarchie abgeschlossen, und die magya¬
rische Nation dauernd mit der Dynastie und mit Österreich auseinandergesetzt zu
haben. Deal täuschte sich aber darin ebenso wie die Krone. Die ersten Jahre
nach 1867 waren in Ungarn allerdings zunächst der Sicherung des Errungnen
gewidmet, aber schon Anfang der siebziger Jahre traten die Unabhüngigkeits-
bestrebungen von 1848 wieder schärfer hervor und beeinflußten und zersetzten
zugleich die Deakpartei, bis diese sich endlich zur Fusion mit der staatsrecht¬
lichen Opposition unter der Führung Koloman Tiszas gezwungen sah. Aller¬
dings erkannte Tisza, um sich den Weg zur Macht zu bahnen, den Ausgleich
von 1867 an, aber ganz abgesehen davon, daß er dieses Zugeständnis mit
der Klausel versah, „so lange es im ungarischen Interesse liegt," war von
Tisza an die systematische Durchlöcherung des Ausgleichs von 1867 das Hanpt-
bestreben jeder ungarischen Regierung. Die Majoritäten des ungarischen Reichs¬
tags unterschieden sich von der Opposition nur in der Taktik, und in un¬
zähligen Füllen läßt es sich nachweisen, daß Regierung, Majorität und wildeste
staatsrechtliche Opposition verständnisvoll ineinaudergriffen, um auf dem Wege
einseitiger Auslegung und gewaltsamer Verletzung des Ausgleichs von 1867
diesen seines ursprünglichen Inhalts zu berauben. Möglich war dies eiuer-
seits durch die geradezu wunderbare nationalpolitische Disziplin des Magha-
rcntums und seiner parlamentarischen Parteien, und andrerseits infolge der in
fortgesetzten innerpolitischen Kämpfen begründeten Ohnmacht des österreichischen
Reichsrath nach außen hin. Zwischen Österreich und Ungarn bestand vermöge
dieser Verhältnisse keine politische Parität. Ungarn war der politisch stärkere
Teil; es siegte in allen Konflikten mit Österreich, weil es der Krone leichter
war, den schwachen österreichischen Reichsrat als den starken, seines Ziels
bewußten ungarischen Reichstag zur Nachgiebigkeit im Interesse der Aufrecht¬
erhaltung des Dualismus zu bewegen — es siegte aber auch in jedem Konflikt
mit der Krone, weil diese nur in einem politisch gleichwertigen österreichischen
Parlament den nötigen Rückhalt bei der Behauptung ihrer Prärogative und
ihrer Grundsätze über die Neichsgemeiusamteit hätte finden können. Der
Rechenfehler in der dualistischen Verfassung von 1867 beruhte ja im wesentlichen
darauf, daß man zwar eine formelle aber keine materielle Parität der beiden
Reichshälften schuf, indem man es versäumte, Österreich eine Verfassung zu
geben, die seinem historischen und ethnographischen Bau entsprach, und auf
diese Weise die Zusammenfassung der politischem Kräfte der österreichischen
Volksstümme zu einem lebenskräftigen und leistungsfähigen Konstitutiona¬
lismus erlaubt Hütte, der imstande gewesen wäre, der politischen Kraftent¬
faltung Ungarns das Gleichgewicht zu halten.
Der Grundgedanke, den die ungarische Regierungspolitik seit Tisza mit
einer Zähigkeit aber auch mit einem Geschick sondergleichen verfolgt, ist: all-
mühliche Einschränkung des Kreises der nach gemeinsam festzustellenden Grund¬
sätzen zu verwaltenden wirtschaftlichen Angelegenheiten nach Maßgabe der
wirtschaftlichen Interessen Ungarns, also Reduzierung der zeitweiligen Real-
union, und zugleich auch die Zermürbung der dauernden Realunion, also der
Gemeinsamkeit auf dem Gebiete der äußern Politik, des Kriegswesens und der
daraus bezüglichen Finanzen. Diesem letzten Zweck entsprachen alle die kleinen
Erfolge, die Ungarn in den letzten dreißig Jahren auf dem Gebiete der Titu¬
laturen, der kaiserlichen Hofhaltung usw. errungen hat. Dem oberflächlichen
Beobachter mag es vielleicht als etwas rein Äußerliches, Unwesentliches er¬
scheinen, daß alle gemeinsamen Einrichtungen nicht mehr als kaiserlich-königlich,
sondern als kaiserlich und königlich bezeichnet werden, daß der kaiserlichen Hof¬
haltung eine eigne königlich ungarische gegenübergestellt wird, daß man in
Ungarn die schwarzgelben Farben nicht sehen und das „Gott erhalte" nicht
hören will; aber es wäre ein Irrtum, in alledem nur Beweise für die Eitel¬
keit der Magyaren zu sehen. In diesem kindischen Spiele liegt vielmehr ein
hoher Sinn, und zwar der: es nicht bei der theoretischen Feststellung der Selb¬
ständigkeit Ungarns zu lassen, sondern durch fortgesetzte praktische, für alle Welt
sichtbare Teilung gemeinsamer Einrichtungen die Realunion zwischen Österreich
und Ungarn zu zersetzen. Weder die äußere Politik noch die Armee sind im
Laufe der Jahre davon verschont geblieben. Der tüchtige Graf Kalnoky
resignierte als Minister des Äußern, weil der damalige ungarische Minister¬
präsident Vnron Bcmffh gegen den klaren Wortlaut des Ausgleichsgesetzes
von 1867 in einer Frage der auswärtige« Politik selbständig vorgegangen war,
und dn GrafKalnoky es nicht erreichen konnte, daß dieser Schritt Banffys mis ver¬
fassungswidrig anerkannt wurde, also eine falsche und gewaltsame Auslegung der
dualistischen Verfassung sanktioniert wurde, die den gemeinsamen Minister des
Äußern zum ausführenden Organ der jeweiligen Pester Negierung herabdrückte.
Am hartnäckigsten widerstand die Krone noch den Bestrebungen, die ge¬
meinsame Armee zu zersetzen. Es ist das ganz begreiflich. „In deinem Lager
ist Österreich," sang einst Grillparzer, und die innerpolitischen Verhältnisse der
Monarchie haben seit den Tagen Radetzkys keine solche Änderung erfahren,
daß die dem Kaiser durch Eid verpflichtete Armee nicht auch heute noch als
die stärkste Stütze der Dynastie und des Gesamtstaats betrachtet und geschätzt
werden müßte. Die ungarische Negierungspolitik setzte nun an zwei Punkten
ein, um die Realunion auch hier zu durchlöchern. Zunächst machte man aus
dem kaiserlich-königlichen Heere ein kaiserliches und königliches, um zugleich
auch wider die bessere Einsicht aller militärischen Autoritäten die territoriale
Organisation der k. u. k. Armee durchzusetzen, sodciß man zu militärischen
Formationen gelangte, deren Umfang mit dem des ungarischen Staates zu¬
sammenfiel. Der Rahmen für die aus dem gemeinsamen Heere aufzulösende
ungarische Armee, die in der Verfassung von 1847 schon vorgesehen war, ist
also schon geschaffen, was natürlich die ungarischen Patrioten nicht hindert,
die „kaiserliche" Armee bis auf weiteres in jeder Weise herabzusetzen und
die Bevölkerung mit Haß gegen sie zu erfüllen. Der Umstand, daß zur
Dämpfung von öffentlichen Unruhen bei Wahlen usw. in magyarischen Be¬
zirken fast nie Honvedtruppeu, sondern in der Regel „kaiserliche" Truppen
verwandt werden, beweist, wie systematisch man zu Werke geht, um dem Volke
die „kaiserliche" Armee zu verleiden. Mit um so größerer Sorgfalt ist mau
dagegen um die Ausgestaltung der ungarischen Landwehr (Houved) bemüht.
Gleich bei der Errichtung der Landwehr in beiden Reichshülften hatte man
es durchzusetzen gewußt, daß ihr die schlechte französische Einrichtung der
direkten Rekrutenaushebung zu Grunde gelegt werde. Der Grund war der,
daß man dadurch ein nationales Heer erhielt, dessen Angehörige zum aller¬
größten Teile nicht dem Kaiser von Österreich, sondern nur dem Könige von
Ungarn den Eid der Treue geschworen haben. Der größte Schmerz der
magyarischen Parteien ist dabei allerdings die Thatsache, daß die ungarische
Landwehr noch keine Artillerie hat, also noch keine schlagfertige nationale Armee
repräsentiert. Diesem Ziele strebt man nun mit aller Kraft zu, und wiederum
nicht aus nationaler Eitelkeit, sondern aus höchst politischen Gründen, die der
der Unabhüugigkeitspartei von 1848 angehörende Abgeordnete Eötvös vor zwei
Jahren übrigens ganz offen darlegte, indem er erklärte: „Das Verhältnis
zwischen König und Nation wird erst dann nichts mehr zu wünschen übrig
lassen, wenn letztere im Besitz einer starken, vollständig ausgerüsteten nationalen
Armee sein wird." Mit andern Worten heißt das: Die magyarische Nation
wird den König von Ungarn erst dann in die richtige verfassungsrechtliche
Stellung bringen können, wenn es gelungen sein wird, ihn zum Gefangnen
der vom Pester-Reichstage befehligten Armee zu macheu.
Diese separatistischeu Bestrebungen haben nun unter dem gegenwärtigen
ungarischen Ministerium! Szell an Stärke zugenommen und dadurch wesentlich
dazu beigetragen, daß sich die Verhandlungen über die Erneuerung des wirt¬
schaftlichen Ausgleiches so kritisch gestalten. Der Ausgangspunkt hierfür ist
in der Fusion der alten liberalen Regierungspartei mit der von Apponyi
und Hvranszky geführten ehemaligen Nationalpartei zu suchen. Als zwischen
Herrn von Szell und dem Grafen Appvnyi unes dem Sturze Bansfys die
Vereinigung der beiden Parteien vereinbart wurde, da wurde als die Grund-
lage dieses Paktes im allgemeinen die Reinigung des ungarischen Wahl-
verfnhrens bezeichnet. Daß Graf Apponyi und seiue Anhänger damals ans
ihr die volle Durchführung der Selbständigkeit Ungarns scharf betonendes
Programm verzichtet hatten, wurde nicht bekannt. Daß es nicht der Fall
gewesen war, erfuhr man aber, als der vor einigen Monaten vollzoguen
Ernennung Horcmsztys zum Handelsminister der Ausbruch einer Krise im
ungarischen Landesverteidigungsministerium auf dem Fuße folgte. Nicht per¬
sönliche Antipathie gegen Horcmszky bestimmte damals den Feldzeugmeister
Freiherrn von Fejervary, seine Demission zu geben, sondern die Besorgnis, daß
der Eintritt des Führers der ehemaligen Nationalpartei in das Kabinett die
separatistischen Tendenzen in diesem sehr verstärken und es ihm unmöglich
machen werde, in der Armecfrage weiterhin den Standpunkt der Krone er¬
folgreich zu vertreten. Die Krise wurde bekanntlich nicht beseitigt, sondern aller¬
dings unter einer außergewöhnlichen kaiserlichen Bertraucnskundgebuug für
Freiherrn von Fejervary vertagt, bis plötzlich der Tod die Angelegenheit er¬
ledigte, indem er Herrn von Horcmszky abberief. Zu seinem Nachfolger wurde nun
nicht mehr ein Parteigenosse des Grafen Appvnyi ernannt, ein deutlicher Beweis
dafür, daß die Krone die Berufung eines Mitgliedes der ehemaligen National¬
partei in das Kabinett als einen Fehlgriff erkannt hatte. Der Wechsel, den
Herr von Szell seinerzeit dem Grafen Apponyi ausgestellt hatte, war damit aber
nur prolongiert worden, und Graf Appouyi stellte sich bald als Mahner ein.
Kurz nach den letzten ergebnislos verlaufnen Ausgleichsbesprechuugeu
Szells und Koerbcrs hielt Graf Apponyi, umgeben von etwa vierzig Ab¬
geordneten aller magyarischen Parteien, in seinem Wahlbezirk eine Rede, in
der er erklärte, das Land, das wegen des Ausgleichs in Unruhe sei, be¬
ruhigen zu wollen. Er, der in seinen politischen Anschauungen der alte
geblieben sei, könne versichern, daß kein Anlaß zu Besorgnissen vorhanden
sei, denn er kenne den Ministerpräsidenten von Szell als einen Mann, der
unter allen Umständen ein einmal gegebnes Wort halte. — Diese geräusch¬
volle Aprostrophierung des Herrn von Szell als eines Mannes von Wort
konnte nicht anders gedeutet werden, als daß Graf Apponyi den ungarischen
Ministerpräsidenten vor aller Welt an Versprechungen erinnern wollte, die er
den Führern der Nationalpartei bei ihrem Eintritt in die Regierungspartei
gegeben hatte. Welcher Art aber diese Versprechungen waren, das erfuhr
man wiederum von dem österreichischen Ministerpräsidenten, der wenig Tage
nach der Rede Appouyis im österreichischen Herrenhause folgendes erklärte:
Die Verhandlungen mit Ungarn werden nicht so sehr durch eine Diskordanz
der Interessen als vielmehr durch „Gesichtspunkte" erschwert, die den Gemein-
samkeitsgedanken unmöglich förderlich sein können. Die österreichische Regierung
wird aber niemals die Hand zu einer Gemeinsamkeit bieten, die eigentlich
keine Gemeinsamkeit mehr sei, und keinen Ausgleich acceptieren, der Österreich
keine Ruhe gewahre. — Das war ziemlich deutlich gesprochen; denn hält
man diese Äußerung Koerbers der des Grafen Apponyi gegenüber, und ver¬
gegenwärtigt man sich, in welcher Richtung sich die ungarische Negieruugs-
politik seit dreißig Jahren gegenüber Österreich und der Krone bewegt, dann
lassen sich die Absichten des Ministeriums Szell in der Ansgleichsfrage folgen¬
dermaßen skizzieren: Die vollständige wirtschaftliche Loslösung Ungarns von
Österreich ist augenblicklich noch nicht durchführbar, da Ungarn in ge¬
wissen Punkten noch zu schwach ist, wirtschaftlich auf eignen Füßen zu
stehn. Von der größten, ja vielleicht ausschlaggebenden Bedeutung hierfür
ist das Schicksal des deutschen Zolltarifs. Siegen die Agrarier in Deutschland,
dann verliert Ungarn vollständig die Möglichkeit, über die deutsche Greuze
zu exportieren, und ist im Absatz seiner Bodenprodnkte mehr als je auf Öster¬
reich angewiesen, konnte also den Bruch mit Österreich nicht wagen. Die
Ungewißheit über diesen Punkt erklärt denn auch das Bestreben der ungarischen
Negierung, die Entscheidung über den Ausgleich so lange hinauszuschieben,
bis man über das Schicksal des deutschen Zolltarifs Gewißheit hat. Dagegen
ist Ungarn uuter allen Umstünden bemüht, den Kreis der bisher nach ge¬
meinsamen Grundsätzen zu verwaltenden wirtschaftlichen Angelegenheiten noch
weiter einzuengen und Österreich nicht einmal sichere Bürgschaft für die loyale
Beobachtung dieses uoch verbleibenden Nestes der Gemeinsamkeit zu geben.
Da endlich in Ungarn der Abschluß eines Ausgleichs mit Österreich von
jeher als ein patriotisches Opfer hingestellt wird, so dürfte man es in Pest
auch diesesmal nicht unterlassen, an die geplante Erneuerung des Ausgleichs
Bedingungen zu knüpfen, die eine weitere Zersetzung der Realunion auf dein
Gebiete der Armee zum Zwecke haben. Es ist also wohl richtig, wenn
Ungarn erklärt, daß es der Erneuerung des Ausgleichs geneigt sei, ebenso
richtig ist es aber auch, daß es diese Erneuerung nur als die letzte Etappe
auf dem Wege zur vollständigen Trennung der beiden Neichshälften betrachtet
und sie nur deshalb nicht überspringen will, weil sie ihr die Möglichkeit
bieten soll, die erstrebte Trennung so vorzubereiten, daß mit ihr keine Übeln
wirtschaftlichen Folgen für Ungarn verbunden seien.
Die staatsrechtliche Richtung der ungarischen Regierungspvlitik ist also
entschieden separatistisch und läßt sich mit dem „Los von Ungarn," das hier
und da in Österreich ertönt, nicht in Parallele stellen. Wenn man heute in
Österreich die Trennung von Ungarn in Betracht zieht, so geschieht dies nicht
aus prinzipiellen, staatsrechtlichen Erwägungen, sondern allein, weil in der
bisherigen wirtschaftlichen Gemeinsamkeit die österreichischen Interessen gar
nicht oder nur unzureichend berücksichtigt wordeu sind. Während in Österreich
die Parole taillee: „Lieber gar keinen Ausgleich als eiuen schlechten," und
gerade von den den Kampf gegen Ungarn führenden Parteien der Gedanke
angeregt worden ist, daß die Machtstellung der Monarchie dadurch auf eine
breitere Basis gestellt werde, daß der bisher zeitweilige wirtschaftliche Aus-
gleich — natürlich unter billiger Berücksichtigung der österreichischen Forde¬
rungen, in einen dauernden umgewandelt werde — perhorresziert man in Ungarn
diese Idee auf das entschiedenste, weil man dort gewöhnlich nicht die Er¬
haltung und Festigung der Gemeinsamkeit will, sondern dnrch allmähliche Ab-
bröckluug der Realunion zur Personalunion, also zur Verfassung von 1847
zurückzugelangen sucht.
In der ungarischen Delegation hat sich vor kurzem ein in dieser Beziehung
äußerst bezeichnender Zwischenfall abgespielt. Die staatsrechtliche Begriffsbe¬
stimmung der Delegationen war eine alte Doktorfrage. Das Ausgleichsgcsetz
von 1867 sagt darüber gar nichts, weil zwischen dem Standpunkt der Krone,
die die Delegationen als gemeinsame Neichsvertretung betrachtet wissen wollte,
und dem der damals führenden magyarischen Politiker, die einer solchen Reichs-
vertrctnng widerstrebten, keine endgiltige Auseinandersetzung erfolgt war. Man
hatte diese Differenz unerledigt gelassen, wie man in der Regel in Osterreich
heikle Fragen von jeher dadurch um besten zu beseitigen glaubt, daß man von
ihnen nicht mehr spricht. Da nun die Delegationen einerseits das Recht er¬
halten hatten, über die gemeinsamen Budgets zu beschließen, andrerseits aber
ein Besteuerungsrecht ihnen nicht zustand, weil dieses den beiderseitigen Par¬
lamenten vorbehalten blieb, so hatten bis zu einem gewissen Grade zwei gegen¬
sätzliche Auffassungen über die staatsrechtliche Natur der Delegationen Recht.
In Österreich beanspruchten besonders die Konservativen für die Delegationen
den Charakter einer parlamentarischen Körperschaft, also einer gemeinsamen,
einer Reichsvertretuug, während in Ungarn vor allem die staatsrechtliche
Opposition den Delegationen nur den Charakter von Parlamentsausschüssen
zuerkannte, ihre Einheitlichkeit also bestritt. Kürzlich ist diese bisher theoretische
Streitfrage praktisch in sehr einfacher Weise gelöst worden, und zwar dnrch nie¬
mand anders als durch den ungarischen Ministerpräsidenten Herrn von Szell —
natürlich im Sinne der Auffassung der ungarischen staatsrechtlichen Opposition.
Den Anlaß bot eine scheinbare Formfrage. Einige oppositionelle ungarische
Abgeordnete, die der ungarischen Delegation nicht angehörten, forderten zu den
Verhandlungen des Budgetausschusses der ungarischen Delegation zugelassen
zu werden. Der Präsident des Ausschusses verweigerte das mit Rücksicht
darauf, daß nur Delegierten der Zutritt zu den Ausschußsitzungen der Dele¬
gation zustünde. Diese Entscheidung entsprach der Auffassung, wonach die
Delegationen eine eigne selbständige Körperschaft bilden. Die betreffenden
oppositionellen Abgeordneten appellierten jedoch mit der Begründung an den
Ministerpräsidenten, daß die ungarische Delegation nur ein Ausschuß des unga¬
rischen Abgeordnetenhauses sei, dessen Ausschüsse aber für alle ungarischen
Abgeordneten zugänglich seien; und Herr von Szell säumte nicht, diese Auf¬
fassung zu billigen, den ungarischen Abgeordneten den Zutritt zu allen Aus¬
schüssen der ungarischen Delegation zu eröffnen und damit die alte Doktor¬
frage praktisch im Sinne der separatistischen Bestrebungen des Magyaren-
tums zu lösen. Ob der ganze Zwischenfnll von Herrn von Szell mit der
staatsrechtlichen Opposition im ungarischen Abgeordnetenhause vorher abgekartet
worden war oder nicht, thut nichts zur Sache; auf jeden Fall beweist er, daß
das Ministerium Szell jede Gelegenheit benutzt, die Zersetzung der Realunion
zwischen Österreich und Ungarn sehr wirksam zu fördern.
In die Kategorie dieser staatsrechtlichen Taschenspielereien gehört auch
die Art und Weise, wie Negierung und Gesetzgebung in Ungarn seinerzeit
zur Vermählung des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand mit der
Gräfin Sophie Cholet Stellung nahmen. staatsrechtlich lag der Fall sehr ein¬
fach. Da die Familie Cholet nicht ebenbürtig ist, haben nach der österreichischen
Verfassung die aus dieser Ehe zu erwartenden Nachkommen keinerlei Anrecht
auf die Krone Österreichs; da aber nach der pragmatischen Sanktion die
Kronen Österreichs und Ungarns jederzeit einen gemeinsamen Träger haben
müssen, so füllt damit für die Nachkommen des Erzherzogs Franz Ferdinand
und der Gräfin Cholet, gegenwärtiger Fürstin Hohenberg, auch jedes Erbrecht
an der ungarischen Krone weg, obgleich die ungarische Gesetzgebung an sich
wegen Unebenbürtigkeit die Thronfolge nicht ausschließen würde. In Ungarn
legte man aber das Hauptgewicht auf diesen letzten Punkt und erzwang die
Juartikuliernng des Verzichts des Erzherzogs Franz Ferdinand ans das Thron¬
folgerecht für seine Nachkommen aus seiner Ehe mit der Gräfin. Cholet in
die ungarische Gesetzessammlung, und zwar mit der Begründung, daß nur
auf diese Weise die Nichtsuceessionsfühigkeit dieser Nachkommen des Erzherzogs
in Ungarn festgestellt werden könne. Der Zweck dieses Vorgangs war klar:
durch die erwähnte Jnartikulierung wurden die Erbfvlgebestimmungen der
ungarischen Gesetzgebung über die Erbfolgebestimmttttgen der pragmatischen
Sanktion gestellt, und ihre weitere Wirksamkeit um einen besondern zustimmenden
Akt des ungarischen Parlaments gebunden, ihre Verbindlichkeit für Ungarn
also eingeschränkt.
Allen diesen Erscheinungen gegenüber ist es verständlich, daß alle, die
in der Erhaltung der Realunion und womöglich in ihrer Festigung und Ver¬
breiterung die wichtigste Garantie für die Machtstellung der Dynastie lind der
Monarchie sehen, alles aufbieten, eine Erneuerung des wirtschaftlichen Aus¬
gleichs zwischen beiden Reichshälften herbeizuführen; denn geschieht dies nicht,
dann würde der Zolltrennung in der kürzesten Zeit auch zunächst die Trennung
der bisher gemeinsamen Armee folgen. Im Falle der Zolltrennnng würde
nicht mehr wie bisher der Reinertrag der Zölle zur Deckung der gemeinsamen
Ausgaben verwandt und nur der Nest durch Quotenbeiträge Österreichs und
Ungarns im Verhältnis von 65,6 zu 34,4 Prozent bestritten werden. Nimmt
man nun an, daß im Falle der Zolltrennung die gesamten gemeinsamen Aus¬
gaben auf die beideu Rcichshälften im Verhältnis von 65,6 zu 34,4 Prozent
aufgeteilt werden würden, so würde sich daraus für Ungarn eine Mehrbelastung
von jährlich über 25 Millionen Kronen gegenüber dein gegenwärtigen Zu¬
stande ergeben, dn Österreich an Zöllen etwa 88 Prozent, Ungarn aber nur
etwa 12 Prozent trägt. Es ist klar, daß Ungarn dieses Verhältnis nicht accep-
tieren würde, in Österreich aber die Aufteilung des gemeinsamen Heereserforder-
nifses auf die beiden Neichshülften nach Maßgabe der in ihnen für die gemein¬
same Armee ausgehöhlten Truppeuzahl gefordert werden würde, und das Ende
dieses Streites die Teilung der gemeinsamen Armee in eine österreichische und
eine ungarische sein würde. Die zur Vermeidung dieser Entwicklung notwendige
Erneuerung des wirtschaftlichen Ausgleichs wird aber wesentlich dadurch er¬
schwert, daß einerseits Österreich bessere wirtschaftliche Bedingungen als bisher
oder wenigstens die loyale Einhaltung der Vereinbarungen von Ungarn fordert,
andrerseits Ungarn aber den wirtschaftlichen Ausgleich nur unter Bedingungen
und in Formen erneuern will, die die Forderungen Österreichs nicht genügend
berücksichtigen, aber auch nicht die geringste Gewähr dagegen bieten, daß dieser
Ausgleich nur die letzte Etappe zur Trennung der beiden Ncichshülften sei, die
Krone aber mit gutem Grunde gerade durch diesen Ausgleich eine Sicherung
und Verstärkung der Realunion erzielen will.
Wenn man sich erinnert, daß der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand
in der letzten Zeit in Ungarn der Gegenstand wiederholter, heftiger Angriffe
war, die deutlich verraten, daß man in Pest von dem künftigen König einen
sehr kräftigen Widerstand gegen alle über die dualistische Verfassung von 1867
hinausgehenden Ullabhängigkeitsbestrebungen erwartet, dann wird auch die
ganz besondre Hartnäckigkeit begreiflich, mit der man in den leitenden Kreisen
Ungarns darauf besteht, fo rasch als möglich alle Voraussetzungen für die
Restaurierung der Verfassung von 1847 zu schaffen. Wer in diesem höchst
politischen Kampfe schließlich Sieger bleiben wird, läßt sich heute noch nicht
sagen, wenn auch Herrn vou Szell in dem österreichischen Ministerpräsidenten
or. Koerber der bedeutendste Staatsmann gegenübersteht, den das konstitutionelle
Osterreich hervorgebracht hat. Jedenfalls wird es eine schicksalsschwere Stunde
für die österreichisch-ungarische Monarchie sein, in der die Entscheidung über die
Erneuerung des wirtschaftlichen Ausgleichs fallen wird, denn sie wird nicht nur
für die Gestaltung der wirtschaftlichen, sondern auch für die der politischen und
der staatsrechtlichen Beziehungen zwischen beiden Neichshälften und damit auch
für die künftige internationale Stellung des Habsburgerreiches ausschlag¬
gebend sein.
rstaunlich schnell wird durch die Memoirenlitteratur, an der wir
gerade heute so reich sind, die Kenntnis der Geschichte unsrer
Tage aufgeschlossen. Entschlüsse und Pläne, die zwanzig bis
dreißig Jahre zurück gefaßt und ausgeführt wurden und nach den
Gepflogenheiten diplomatischer Rücksichten früher ein Jahrhundert
und mehr ein Geheimnis blieben, werden heute durch die Aufzeichnungen von
Zeitgenossen enthüllt. Wir erinnern nur an die Vorgeschichte des deutsch-
französischen Krieges durch die Memoiren des Königs von Rumänien und durch
französische Papiere.
Eine interessante Episode, die in die Geschichte der preußisch-italienischen
Beziehungen gehört, wird uns durch den kürzlich erschienenen achten Band der
Tagebuchblätter Theodor von Bernhardis aus den Jahren 1867 bis 1869,
die den Titel führen: Zwischen zwei Kriegen (Verlag von S. Hirzel in
Leipzig), aufgedeckt. Sie betrifft Garibaldi und Bismarck und im weitern Sinne
Preußen. Von ihr soll hier die Rede sein.
Für Italien hatte der mit Preußen gemeinsam geführte Krieg gegen
Österreich trotz der Niederlagen doch einen bedeutenden territorialen Gewinn
gebracht. Dank Preußens herrlichen Siegen wurde im Prager Frieden dem
jungen Königreich Venetien zugesichert und zwei Monate später im Wiener
Frieden abgetreten. Doch wurden in Italien die Verhältnisse nach dem Kriege
sehr mißlich. Die finanzielle Lage war alles andre als günstig, der Wider¬
stand der Klerikalen gegen den neuen italienischen Staat groß, in dem Parlament
wie in der Umgebung des höchst unzuverlässigen Königs Viktor Emanuel wurden
die Parteiungen kaum überbrückbar. Die Piemontesen, die Consorteria, waren
bestrebt, die übrigen Italiener möglichst von allein Einfluß entfernt zu halten,
was zu einer raschen Erkaltung von Nord-, Mittel- und Süditalien führte.
Als ein Krebsschaden stellte sich ferner die llnzuverlüssigkeit der Beamten heraus,
die, da nicht Tüchtigkeit, sondern liberale „Gesinnungstüchtigkeit" entschied,
zu einer grenzenlosen Korruption führte. In den höchsten Kreisen sah es nicht
weniger unerquicklich aus. Die piemvutesische Partei neigte zu Frankreich,
das La Marmorn und Nattazzi durch Geld und Drohungen zu fast unbedingten
Parteigängern gemacht hatte. Der König, der Napoleon III. leidenschaftlich
haßte, wagte doch nicht, sich Frankreich ernsthaft entgegenzustemmen, obwohl
er klar erkannte, daß das Ziel der italienischen Patrioten, die Gewinnung des
Kirchenstaats und Roms, mir in direktem Gegensatz zu Napoleon erreicht werden
konnte, da Frankreich als katholische Schutzmacht einen Angriff auf Rom
und den Kirchenstaat als easus bklli betrachtete. Die römische Frage war
von 1867 bis 1870 aber das A und O der gesamten italienischen Politik.
Leidenschaftlich forderten die „Patrioten" Rom als den Schlußstein des einigen
Italiens. Es waren meist Personen von radikaler politischer Gesinnung, Re¬
publikaner oder Radikale, die das monarchische Prinzip als zur Zeit unver¬
meidliches Übel betrachteten, Männer, die für die Schwierigkeiten der Lage kein
Verständnis zeigten und in großer Überschätzung ihrer Kraft durch rücksichts¬
loses Vorwärtsstürmen den gordischen Knoten zu lösen sich berufen glaubten.
Ihr Prototyp war Garibaldi, der ein gewaltiges Ansehen bei den Jungen
hatte, dem Könige verhaßt, der Consorteria überaus unbequem war. Crispi
hatte damals schou in ruhigere Bahnen eingelenkt. Bei der italienischen Re¬
gierung war es neben der Furcht, sich durch zu große Nachgiebigkeit gegenüber
den nationalen Forderungen mit Frankreich zu überwerfen, vor allem die Frage,
wie ein Ausgleich mit dem Papst erreicht werden konnte, die ihr um Herzen
lag. Die radikalen Stürmer, die nicht davor zurückschreckte»:, durch Putsche
und Vorbereitungen zu einem allgemeinen Aufstnude, der die Dynastie beseitigen
sollte, die Regierung zu bestimmen, hatten in ihrer Feindschaft gegen das
Papsttum kein Auge für den gewaltigen Anhang, über den der Vatikan in
ganz Italien gebot, wie über die ans Tradition und materieller Grundlage
beruhenden zentrifugalen Bestrebungen in Italien. Man ums; zugeben, daß die
Regierung die schweren Gefahren, die dein jungen Königreich aus einem in
Permanenz erklärten Konflikt mit dem Papsttum erwachsen mußten — der
offnen Wunde, um der Italien noch heute krankt —, klar erkannte. Wie freilich
eine Ausgleichung der Einheitstendenzen mit den auf historischer Basis be¬
gründeten, im Bewußtsein der Katholiken wurzelnden Ansprüchen des Papstes
herbeizuführen wäre, darüber find sich die Staatsmänner Viktor Emanuels
ebenso unklar gewesen wie die heutigen Leiter der Geschicke Italiens.
Viktor Emanuel persönlich hat an dem Konflikt schwer gelitten. Da ist
denn immer wieder der Gedanke aufgetaucht, durch einen Staatsstreich das
unbequeme Parlament aufzulösen und auf absolutistischer Grundlage mit dein
Papst abzuschließen. Viktor Emanuel hat in diesem Sinne sogar die bedeutendsten
Generale der Armee Sortieren lassen, aber nur einer — Menabren — soll sich
bereit erklärt haben, die Hand dazu zu bieten. Pläne sind aufgetaucht, sich mit
dem Kirchenstaat zu begnügen ohne Rom, oder aber sich vom Papst zum Vioario
äslla Lg.uti8siirm Obiksü. auch im Kirchenstaat ernennen zu lassen, wie frühere
Päpste einst Karl den Großen dazu ernannt hatten. Der Papst scheint dem Plane
nicht abgeneigt gewesen zu sein. Er soll Viktor Emmmel in Rom haben krönen
wollen, aber mir unter zwei Bedingungen: wenn der König die „atheistische"
Verfassung abschaffe und deu Fortbestand sämtlicher geistlicher Institutionen,
d. h. sämtlicher Bischofssitze und Seminarien und aller uoch bestehenden Klöster
verbürge. Über die letzte Proposition hätte man mit den italienischen Staats¬
männern reden können, falls die Kirche für die Kloster eine tüchtige Summe
gezahlt hätte, mit denen man den zerrütteten Staatsfinanzen hätte aufhelfen
können.
Für Preußen waren diese Verhältnisse sehr bedeutsam. Je sichrer König
Wilhelm, Bismarck und Moltke und mit ihnen alle Einsichtigen deu baldigen
Ausbruch des Kriegs mit Frankreich voraushaben, wo Napoleon sich nur
durch einen auswärtigen Konflikt zu behaupten hoffen konnte, desto wichtiger
mußte für Preußen die Haltung Italiens in diesem Kriege sein. Obwohl Italien
nur der Schlacht bei Köuiggrütz Venetien verdankte, so war doch die Hinneigung
zu Frankreich in den Kreisen der Cvnsorteria sehr stark, und bei dem König das
Gefühl der politischen Dankbarkeit für Preußen schwach genug. Nur in den
liberalen Kreisen hegte man aufrichtige Zuneigung zu dem eine gleiche geschicht¬
liche Entwicklung aufweisenden Preußen. Und alle die Leute, die erkannten, daß
Rom nur im Konflikt mit Frankreich gewonnen werden konnte, mußten in dem
engen Anschluß an Preußen das Heil Italiens sehen. Wie groß das Interesse
Preußens an den italienischen Verhältnissen war, ergiebt sich daraus, daß
Th. von Vernhardi, der den Krieg 1866 im italienischen Hauptquartier als
Preußischer Bevollmächtigter mitgemacht hatte, 1867 abermals nach Florenz ge¬
schickt wurde, der Form nach als militärischer Vertreter Preußens, in Wirklichkeit
aber, um zuverlässige Nachrichten über die politische Lage Italiens zu schaffen,
die sich aus den Berichten des preußischen Gesandten Grafen Usedom nicht
mit der dem Auswärtigen Amt wünschenswerten Klarheit ergab.
Es war am 6. September 1867, als in der preußischen Gesandtschaft zu
Florenz ein Feldjäger c>us Berlin anlangte, der u. a. einen Brief des preußischen
Premiers, des Grafen Otto von Bismarck an Bernhnrdi enthielt. Er lautete:
„Berlin, 28. August 1867. Ganz geheim. Vor einigen Tagen präsentierte
sich mir eine unter dem Namen eines Herrn von Thugut reisende Persönlich¬
keit, welche sich durch einen an mich gerichteten französischen Brief des Generals
Garibaldi vom 9. d. M. als einen Oberstleutnant Chevalier Frigyesy intro-
duzierte und mit Aufträgen des gedachten Generals versehen zu sein behauptete.
Diese Aufträge gingen dahin, meine und der preußischen Regierung geheime
Unterstützung für die Absichten Garibaldis auf Rom nachzusuchen und mich
zugleich zu versichern, daß General Garibaldi niemals zustimmen werde, daß
Italien an der Seite Frankreichs gegen Preußen kämpfe. Der General
wisse, daß das italienische Gouvernement den Franzosen für den Fall eines
Krieges gegen Preußen die Mitwirkung einer Armee von 100000 Mann
bereits zugesagt habe, und daß der Preis dieses unnatürlichen Verrath an
seinem Bundesgenossen aus dem Jahre 1866 der Besitz von Rom sein solle.
Er, Garibaldi, werde aber die Ausführung dieses Vertrags verhindern können,
wenn er auf dein Wege nationaler Erhebung Rom für Italien gewinne, dadurch
den Zweck des Bündnisses vereitle und eine antifranzösische Diversion mache.
Abgesehen von der delikaten und zweifelhaften Natur der Angelegenheit
überhaupt, standen mir auch gar keine Mittel zu Gebote, um die Authentizität
des Schreibens und der Beziehungen der fraglichen Persönlichkeit zu prüfen.
Die von letzterm als die Äußerung des Generals wiedergegelmen Worte ent¬
sprechen allerdings dem bekannten Charakter desselben; es liegt aber auch der
Gedanke nicht fern, daß das Ganze eine von französischer oder österreichischer
Seite gestellte Falle sei, um uns gegenüber der italienischen Negierung zu
kompromittieren. Diese Befürchtung lag um so näher, als in den öffentlichen
Blättern, z. B. in der dem französischen Interesse dienenden »Jtalie« vom
6. August bereits Insinuationen sich finden, daß Preußen die Pläne Garibaldis
und der Aktiouspartei begünstige und unterstütze.
Ich habe mich deshalb dem angeblichen Gnribaldischen Abgesandten gegen¬
über auf allgemeine Äußerungen der Sympathie für die italienische National¬
sache beschränkt und ihm zugleich bemerkt, daß wir bis jetzt leine Veranlassung
hätten, an den guten und aufrichtigen Gesinnungen der italienischen Negierung
gegen Preußen zu zweifeln oder an das angeblich bereits mit Frankreich gegen
uns geschlossene Bündnis zu glauben. Ebenso habe ich ihn auf die Gefahren
aufmerksam gemacht, welche ein Vorgehn der Aktionspartei ohne die gesicherte
Billigung der italienischen Regierung haben müsse.
Es würde mir aber angenehm sein, wenn E. H. durch Ihre persönlichen
Verbindungen in einer ganz unauffälligen Weise hcrnnsbringen könnten, ob
der Chevalier Frigyesy in der That zu den Vertrauten Garibaldis gehört
und mit einem solchen Schreiben und den gedachten Aufträgen von ihm ver¬
sehen worden ist.
Wenn E. H. ohne Gefahr der Kompromittieruug zu direktem Verkehre mit
Garibaldi oder den einflußreichsten Personen seiner Umgebung Gelegenheit
haben, so wünsche ich, daß mündlich demselben mitgeteilt werde, daß die
absolute Unbekanntschaft mit der Person, die mir als Vertreter Garibaldis
gegcnübertrat, sowie mit der angeblichen Handschrift des Generals mir vor¬
sich
Für Bernhard: war die größte Vorsicht geboten. Schon das Gerücht, er
wolle nach Siena reisen, wo sich einer Version zufolge Garibaldi aufhalten sollte,
führte zu unliebsamen Gerede. So redete der österreichische Gesandte einen
Bekannten auf der Straße mit den Worten an: „Bernhardt ist in Siena und
Pantscht mit Garibaldi," und im Auftrage des Premiers Rattazzi erschien am
15. September der Minister Barbolani bei Bernhardi, um ihn Garibaldis wegen
auszuholen.
Er erklärte im Gespräch, die italienische Negierung sei informiert, daß
Bernhardi „Millionen" (!) von seiner Regierung zur Verfügung gestellt
worden seien, um die Garibaldimnsche Bewegung zu fördern und auf Rom
zu leiten. Bernhardi, der sich in vorsichtiges Schweigen hüllte, hatte unter¬
dessen mit einem der Häupter der Aktionspartei, dem cinundsiebzigjährigen
Marquis Giorgio Pallavicini, dessen schöne und in nationalem Idealismus
aufgehende Frau er schon früher kennen und schätzen gelernt hatte, Beziehungen
angeknüpft, um mit Garibaldi zusammenzukommen. Pallavicini hatte die fünf¬
zehn besten Jahre seines Lebens vom siebenundzwanzigsten bis zweinndvicr-
zigsten Jahre seiner politischen Überzeugungen wegen in den Kasematten des
Spielbergs zugebracht, aber im Kampf für seine Ideen war er nicht müde ge¬
worden.
Am 19. September suchte ihn Bernhardi auf seiner im Mniländischen
liegenden Villa Codvgno auf, wo Garibaldi, aus Genf zurückkehrend, Rast
gemacht hatte. Der Marquis bestätigte Bernhardi die Identität Thuguts
mit Frigyesy, der von Garibaldi in der That nach Berlin geschickt worden
sei, um Bismarck von dem Stande der Dinge hier in Italien in Kenntnis zu
setzen; um zu sagen, daß das Königtum hierzulande zu Grunde gehe, wenn
die Dinge in der gegenwärtigen Weise fortgeführt würden, daß Italien der
Revolution, der Anarchie verfalle, daß sich unter Rattnzzis Herrschaft Italien
gegen einige Konzessionen in Bezug auf Rom in dem bevorstehenden Konflikt
zwischen Frankreich und Preußen unfehlbar Frankreich und seinem Beherrscher
anschließen werde, ja daß das Bündnis zwischen Frankreich und Italien schon
geschlossen sei — daß das einzige Mittel, der Ausführung dieser Pläne und
allem Unheil zuvorzukommen, darin liege, daß sich die Aktionspartei durch
eine kühne That in den Besitz von Rom setze, dadurch das Ministerium
Rattazzi stürze und ein Ministerium aus ihrer Mitte an die Spitze der Re¬
gierung bringe. Preußen, das alle Patrioten als ihren Freund ansähen,
müsse sie moralisch unterstützen oder durch eine diplomatische Aktion, nötigen¬
falls sogar durch irgend eine Demonstration eine neue französische Expedition
nach Rom abwehren und fernhalten. Die preußische Negierung würde ferner
gut thun, wenn sie eine große Zeitung ihren Interessen dienstbar mache, wie
Frankreich das längst thue.
In betreff Garibaldis wies ihn der Marquis an seine nach Florenz zurück¬
gekehrte Gemahlin, die Marchesa, die Bernhardi im Hotel de Turin schon am
folgenden Tage aufsuchte. Bon ihr erfuhr er, daß Garibaldi in der Stadt sei
nud übermorgen, um den Aufruhr losbrechen zu lassen, uach Arezzo abreisen
werde. Es mangle aber an Geld. „Die wenigen großherzigen Patrioten, die
es in Italien giebt, haben seit 1848 so viel hergegeben, daß sie jetzt fast
ruiniert sind und nichts mehr geben können. Die Gesinnungslosen dagegen,
die alles gelassen mit angesehen haben, sind jetzt vorzugsweise die reichen
Leute im Lande, geben aber jetzt so wenig als früher." „Wenn man doch,
schloß die schöne Frau, von Preußen eine Unterstützung an Geld bekommen
könnte. Nur eine Summe, die für Preußen eine Kleinigkeit wäre!" Bernhardi
antwortete, daß bei der Loyalität der preußischen Negierung darauf uicht zu
hoffen sei. Bismarck werde auf eine solche Anfrage immer antworten, er könne,
da die gegenwärtige italienische Negierung bis jetzt, was anch ihre Absichten
sein mögen, doch nichts gegen Preußen gethan habe und mit Preußen befreundet
sei, unmöglich eine Bewegung unterstützen, die wesentlich, wenn auch nicht un¬
mittelbar gegen die italienische Regierung, doch gegen ihre Intentionen ge¬
richtet sei. Die Marchesa versprach ihrerseits alles zu thun, um Bernhardi
mit Garibaldi persönlich zusammenzubringen. Noch am Abend desselben Tages
sandte sie den Sizilianer Francesco Falsone, einen ihr ergebner Advokaten, zu
ihm, der mit Bernhardi die Zusammenkunft verabredete.
Am folgenden Tage, um halb nenn Uhr fand er sich auf der Piazzn Pitti
ein, dort wo vom Ponte vecchio die Nnmpe beginnt. Gleich nach ihm traf
Falsone ein, ein Mann, der unter dem bourbonischen Regiment auf bloßen
Verdacht hin drei Jahre im Gefängnis gesessen hatte und neben 3000 andern,
meist den bessern Ständen angehörenden Gefangnen durch Garibaldi aus dem
Kerker von Palermo befreit worden war. Seitdem folgte er ihm in nicht
wankender Treue. Gemeinsam gingen beide zur Porta Nomana hinaus zu
einem Hause, wo ein Deputierter der äußersten Linken, Greco, wohnte. Doch
lassen wir Bernhardi selbst das Wort, der in ungemein lebhafter Weise also
erzählt: „Dein Herrn Greco ist gesagt worden, Garibaldi werde bei ihm eine
geheimnisvolle Zusammenkunft mit einem der Fuorusciti, der italienischen
politischen Flüchtlinge haben, und man hat ihm hoch und heilig versichern
müssen, nicht mit Mazzini; den Hütte er um jeden Preis sehen wollen!
Falsone hatte den Schlüssel zu einer Seitenthür des Hauses in der Tasche;
er zündete ein Streichwachskcrzchen an, so leuchteten wir uns selbst die schmale
dunkle Hintertreppe bis zum zweiten Stockwerk hinan und gingen in ein durch
zwei Wachskerzen erleuchtetes leeres Zimmer. Nach einiger Zeit kam Garibaldi
an; er war mit der Marchesa Pallavieini spazieren gefahren und zwar zum
andern Ende der Stadt zur Porta San Gallo hinaus und dann weit dnrch
das Land. Er fuhr natürlich an einer andern Seite des Hauses vor, kam
eine andre Treppe herauf und trat durch eine andre Thür in das Zimmer.
Er ist eigentlich ein schöner Mann; sieht sehr gutmütig aus und war in seine
bekannte gewöhnliche Tracht gekleidet: in das rote Hemd mit dem über die
Brust gefalteten Plaid darüber.
Wir setzten uus an das Tischchen in der Mitte des Zimmers. Ich fragte
zunächst, was ihm Frigyesy aus Berlin gemeldet hat, verglich, was er davon
sagte, mit Bismcircks Brief, den ich bei mir hatte, und überzeugte mich, daß
sein Sendbote der Wahrheit gemäß berichtet hatte. Ich sagte ihm darauf, was
mir Bismarck aufgetragen hat . . . und fügte dann hinzu, hiermit sei nun mein
Auftrag erschöpft; wenn er mir seinerseits etwas zu sagen habe, könne ich
allerdings schweigend anhören — ich könne auch, wenn er es wünsche, meiner
Regierung darüber berichten, aber ich habe ihm keine Antwort darauf zu geben.
Garibaldi znnderte etwas, wußte vielleicht im ersten Augenblick nicht recht,
was er nur sagen sollte, so schien es mir wenigstens, kam aber dann doch
in das Reden, wie ich gehofft hatte, und zeigte sich mir in einem unerwarteten
Licht. Er verriet eine Art und einen Grad der Bildung, die ich bei dem alten
Seemann nicht vorausgesetzt hatte — eine rhetorische Bildung, die er nicht
lediglich der Gewohnheit, öffentlich zu sprechen, verdanken kann. Diese Ge¬
wohnheit hat freilich auch ihren Einfluß geübt; Garibaldi scheint eigentlich nie
zu sprechen; er hält immer Reden, drückt sich immer gewählt und rednerisch
aus. Er sagte, er allein sei die einzige legitime Obrigkeit Roms, und niemand
sonst, denn er sei 1849 durch allgemeine Abstimmung vom römischen Volk zum An¬
führer und Oberhaupt der Stadt erwählt worden. Er allein habe das Recht, im
Namen des römisches Volkes zu spreche»: und zu handeln. Die päpstliche Regierung
dagegen sei einfach eine Usurpation; sie sei lediglich durch unberechtigte Gewalt,
durch fremde Bajonette zurückgekehrt und werde lediglich durch Gewalt, durch
fremde Bajonette aufrecht erhalten. Es sei in jeder Beziehung notwendig,
daß er sich Roms bemächtige; Italien müsse sich von Frankreich frei machen
und sein Heil in einem engen Anschluß an Preußen suchen. Die Regierung
dagegen wolle Rom oder vielmehr das römische Gebiet vermöge eines Ein¬
vernehmens mit Frankreich gewinnen, stehe im Bunde mit Frankreich und
sei jedenfalls bereit, sich für einen solchen Preis, für Konzessionen in Beziehung
auf Rom der Macht Frankreichs in einem Kriege gegen Preußen anzuschließen,
gegen Preußen, das sich so loyal erwiesen und so ritterlich — c-v8i oso^Ikresoa-
vnzntg — Venetien für Italien erobert habe, während Frankreich sich seine
Hilfe habe sehr teuer bezahlen lassen! Das wäre eine That des schmachvollsten
Undankes; aber er allein könne sie verhindern, indem er sich zum Herrn von
Rom mache und die Pläne der Regierung durchkreuze. Auch gehe sein Plau
weiter als der der Regierung; diese wolle nur die weltliche Macht des Papstes
beseitigen: sein Unternehmen sei nicht bloß gegen die weltliche, sondern auch
gegen die geistliche Macht des Papstes gerichtet; die wolle er vernichten. Sie
sei ein noch viel größeres Übel als die weltliche Macht und müsse vor allen
Dingen gestürzt werden, wenn Italien sich je erheben solle. Sein Beginnen
entspreche ganz den Interessen Preußens und müsse daher der preußischen
Negierung erwünscht sein; er rechne ans ihre Sympathien. Ich erwartete fast,
er würde von Unterstützung und Geld reden, er that es aber nicht; es scheint
nicht in seiner Art zu°sein."
Nachdem ihn Bernhardi in allgemeinen Worten der Sympathie versichert
hatte, schied man mit einem Händedruck. „Wenn wir uns anderswo treffen,"
sagte Bernhardi — und Garibaldi ergänzte: Avr ol vonosoig-me».
Dem Preußen fiel das Eigentümliche des italienischen Freiheitskämpfers
stark ans: nicht ohne Verstand und Feinheit des Geistes machte er auf ihn
den Eindruck eines Unmündigen, dein das Organ für das, was man Erfahrung
nennt, völlig fehlt. Bernhardt durchschaute deshalb auch das Thörichte einer
Aktion, bei der es am wichtigsten, am Gelde, so sehr fehlte, daß Garibaldi
bei seiner Abreise am 22. September, buchstäblich, bevor er in den Eisenbahn¬
wagen stieg, seinem Freunde gestand, daß er absolut kein Geld habe. Beide
Hände der Marchesa ergreifend, bat er: Na, ourats all xroourar toncli! Die
Marchesa war tief betroffen, für so unmündig hätte sie ihren Freund doch nicht
gehalten. Mit doppelter Energie kam sie deshalb darauf zurück, Preußen
müsse finanziell helfen, oder Geld wenigstens vorschießen. Bernhardi konnte
sich nur in derselben Weise wie früher ablehnend nußern, er müsse jede Ver¬
mittlung ablehnen, der einzige Ausweg sei, daß der Marquis Pallavieini selbst
nach Berlin reise und mit Bismarck konferiere. Doch die Ereignisse spielten
sich schneller ab, als die Beteiligten damals vermuteten.
Am 23. September erfuhr Bernhardi bei Falsone von der Marchesa, daß
Frigyesy soeben verhaftet sei, und man bei ihm viele kompromittierende Papiere
gefunden habe. Der Marquis oder, falls er leidend sei, sie, die Marchesa,
seien entschlossen, sofort nach Berlin zu reisen. Doch schon am folgende Tage
brach das Gebäude wie ein Kartenhaus zusammen: Garibaldi war in der
Nacht zu Asinalunga auf Befehl der italienischen Regierung verhaftet und
nach Alessandria gebracht worden. Seine Parteigenossen waren völlig kon¬
sterniert — darauf war keiner gefaßt gewesen. Die Erregung im Volke nahm
dann aber bald gefahrdrohende Dimensionen an, und Nattazzi blieb nichts
übrig, als Garibaldi freizugeben und nur dafür zu sorgen, daß er auf seine
Insel Caprera zurückkehrte. Damit war freilich das Signal zu erneuter Agi¬
tation dnrch das Aktionskomitee gegeben, denn daß Garibaldi ans Caprera
nicht bleiben würde, war sicher. Andrerseits war es Nattazzi gelungen, einen
Teil der Liberalen unter Crispi von Garibaldi abzutrennen. Bernhardi, dein
alles daran lag, daß Bismarck schleunigst von der wahren Sachlage unterrichtet
würde, einen Brief durch die Post zu schicken aber Bedenken trug, schrieb am
29. September in Chiffern an die Marchesa, sie solle ihren Mann bewegen,
nach Berlin zu reisen. Am folgenden Tage teilte ihm Falsone mit, sie selbst
werde die Reise unternehmen. Doch auch daraus wurde nichts. Das Aktions¬
komitee beschloß Anfang Oktober den Ausbruch eines Aufstandes in Rom, und
Pallaviciui, der im Grnnde seines Herzens doch auf finanzielle Beihilfe aus
Berlin rechnete, entschloß sich, in Florenz zu bleiben und sich brieflich an Bismarck
zu wenden. Am 13. Oktober übergab er Bernhardi ein Schreiben um Bismarck,
das der preußische Kurier nach Berlin bringen sollte. Noch einmal schien den
Patrioten das Glück zu lächeln. Garibaldi entfloh ans Caprera, am 19. Oktober
abends traf er in Florenz ein und bewirkte den Sturz des Kabinetts Nattazzi.
Niemand wagte ihn anzutasten, und Pallaviciui prophezeite: In einem Monat
haben wir ein Ministerium aus der Aktionspnrtei oder eine Revolution. Da
handelte Frankreich: zum Schutze des Papstes landete es in Civita vecchia
Truppen, italienische Truppen überschritten nun gleichfalls gemäß der französisch¬
italienischen Konvention die Grenze des Kirchenstaats, und der Garibcildische
Einfall scheiterte. Nachdem der Pulses in Rom völlig zu Boden gefallen war,
wurde Garibaldi am 3. November bei Mendana von französischen und päpst¬
lichen Streitkrüfteu angegriffen, total geschlagen und nach der Rückkehr über
die Greuze gefangen genommen erst in das Fort Varignano und dann nach
Cnprera gebracht und wohl bewacht.
Damit endete der Versuch der Patrioten, Rom zu erobern. Fast drei
Jahre gingen ins Land: im Juli 187H brach der deutsch-französische Krieg
aus, und Napoleon III. zog die französischen Truppen aus Civitci vecchia zurück.
Am 20. September 1870 rückten hierauf italienische Soldaten, ohne Wider¬
stand zu finden, in Rom ein. Am 1. Juli 1871 wurde die ewige Stadt der
Sitz der Negierung und die Hauptstadt des Königreichs — es war Rorua, wwn-
geworden!
Daß die Thatsache, den Schlußstein in das Gebäude nationaler Einheit zu
setzen, nur dadurch möglich geworden war, daß Preußen den hartnäckigsten Gegner
der Einverleibung Roms, den Kaiser Napoleon, völlig besiegte, hat Garibaldi,
den phantastischen Republikaner, freilich nicht gehindert, in direktem Gegensatz
zu den feurigen Versprechungen des Jahres 1867, mit seinen Freischaren Frank¬
reich zu Hilfe zu eilen, ohne, wie bekannt, dabei kriegerische Lorbeeren zu
Pflücken.
Zur Beurteilung seiner Pläne im Jahre 1867 und seines Charakters
trügt die von Bernhardi mitgeteilte Episode, die wir hier behandelt haben,
wesentlich bei.
ärmer, die wie Dio von Prusa durch philosophische Deutung den
Glauben der Väter dem Volke zu erhalten und für die Sittlichkeit
zu verwerten suchten, erscheinen uns ehrwürdig. Aber so achtungs¬
wert ihre Anstrengungen sein mochten, diese waren an eine Ver¬
lorne Sache verschwendet. Einer auf Mythologie gegründeten
Religion ist die Grundlage in dem Augenblick entzogen, wo die Gebildeten des
Volkes ihre Naivität einbüßen und zu kritisieren anfangen. Aus der Dichtung
ins Begriffliche übersetzt ergiebt jeder Mythus, wie jedes Märchen und jede
Fabel, reinen Unsinn, und reiner Unsinn kann niemals die Grundlage für die
Religion eines denkenden Kulturvolks abgeben. Weil nach dem Erwachen des
wissenschaftlichen Denkens der Unsinn klar zu Tage liegt, ist es kein Verdienst,
ihn zu erkennen und zu verspotten, und hätte Lucian von Smnosata, außer
einigen andern Verdiensten, nicht das litterarische Verdienst, seinem Spott auf
die armen, hcruntergekommnen Griechengötter eine geistreiche und unterhaltende
Form gegeben zu haben, so wäre er gar nicht der Erwähnung wert. Not-
wendig war freilich seine Totengräberarbeit, denn die Überzeugung von der
UnHaltbarkeit des alten Glaubens mußte allgemein werden, wenn der neue
siegen sollte, aber da sie wissenschaftlich wertlos war, und da zudem Lucians
Gespräche den heutigen Gebildeten wenigstens oberflächlich bekannt find, so
brauchen wir keine ausführlichen Proben davon zu geben. Wir heben nur
ein paar Stellen hervor, in denen der Spott einen Gedanken von bleibendem
Wert umhüllt. «>
Wenn Lucian in der kurzen Abhandlung über die Opfer die unwürdige
Vorstellung geißelt, die sich die meisten Menschen von der Gottheit macheu,
namentlich, daß sie sich diese als käuflich vorstellen und Gesundheit mit einem
Stierkalb, Reichtum mit vier Ochsen und eine Krone mit einer Hekatombe
erkaufen wollen, so liegt darin eine Mahnung, die anch manche Fromme unsrer
Zeit noch brauchen können. Im „widerlegten Zeus" treibt Cyniskns den Götter-
kvnig mit der Frage in die Enge, ob es wahr sei, daß, wie Homer und Hesiod
sagen, das Menschenschicksal gar nicht von den Göttern, nicht einmal von ihren
obersten, sondern von einer über ihnen stehenden Schicksalsmacht abhänge.
Zeus mag sich winden und drehen, wie er will, und dem frechen Bengel das
Maul verbieten, es nützt ihm nichts: er muß die überlegne Macht der Schicksals¬
göttinnen anerkennen, wobei die Zerlegung dieser geheimnisvollen Macht in
drei Weiber zu weiteren Spott Anlaß giebt. Zwei wichtige Folgerungen
zieht Cyniskus; da die Götter nicht weniger Sklaven des Schicksals seien als
die Menschen, so hätten sie gar keinen Vorzug vor diesen; würden sie un¬
sterblich gedacht, so würden sie noch unendlich mehr zu beklagen sein als die
Menschen, deren Lebenselend doch wenigstens ein Ende habe. Zweitens folgert
er, daß die Menschen, wenn ein Fatum alle ihre Handlungen vorherbestimmt
hat, weder Lohn noch Strafe verdienen. Lucian hebt also zwei Schwierigkeiten
der Theologie hervor, die sich jeder denkenden Zeit, jedesmal in einem andern
Gewände, aufdrängen, und die bis heute uoch kein Philosoph gelöst hat.
Schließlich meint der lose Bursche, das Schicksal scheine selbst unter einem
unglücklichen Schicksalsstern auf die Welt gekommen zu sein; er wenigstens
wolle lieber ein armer Teufel bleiben als Parze sein, unaufhörlich eine Spindel
drehn und auf jedes einzelne der unmenschlich vielen Dinge achtgeben, die
unaufhörlich drumgewickelt werden. Der jämmerliche Zustand des Götter¬
staats, an den niemand mehr recht glauben will, und dessen Bürger in Gefahr
stehn, von den Menschen ausgehungert zu werden, wird im „tragischen Zeus"
ergötzlich geschildert. Der König dieses untergehenden Staates, der selber schon
die Farbe seiner Leugner, der Philosophen angenommen hat und grüngelb vor
Ärger geworden ist, beruft eine Vollversammlung der Götter ein, um über die
Abwehr des drohenden Unterganges beraten zu lassen. Die Unvernunft des
Volksglaubens, der die Götterbilder mit den Göttern identifiziert, jene bald
nach dem Kunstwert, bald nach dein Materialwert schätzt, die Göttergestalten
ins ungemessene vermehrt und aus allen Barbarenländern Götter zusammen¬
schleppt, diese Unvernunft wird durch einen Rangstreit um die Plätze veran¬
schaulicht. Zeus meint, die von Phidias und andern berühmten Künstlern
angefertigten müßten oben sitzen, der häßliche Götterpöbel aber solle nur, um
die Versammlung voll zu machen, eingelassen werden und habe sich, in die
Winkel zusammengedrängt, still zu verhalten. Aber freilich sieht er, von Hermes
erinnert, dann ein, daß auch der Materialwert zu berücksichtigen sei; nur führt
das dazu, daß die massivgoldncu Barbarengötter obenan zu sitzen kommen, da
die Griechen ihre Götter meistens aus Marmor oder Erz machen, Gold und
Elfenbein höchstens zur Überkleidung von Holz verwenden, das inwendig noch
dazu hohl ist, sodaß sich in einem solchen Gott nicht selten eine ganze Republik
von Mäusen ansiedelt. Dann beschwert sich Poseidon, daß ein hundsköpfiger
Ägypter über ihm Platz genommen habe. Große Verlegenheit bereitet auch
die Unterbringung des Kolosses von Rhodus. Hermes, der unermüdliche Ordner,
löst aber schließlich seine schwierige Aufgabe, und im Schulgerechtem Nhetorenstil
leitet nun Zeus deu Gegenstand ein, den er zur Beratung stellt. Dann erzählt
er: Gestern sei er mit andern Göttern der Einladung des Atheners Mnesitheus
zu einem Dankopfer gefolgt — ihrer sechzehn Götter seien gewesen, der Geiz¬
hals aber habe sie mit einem einzigen zähen Hahn und vier Körnchen Weih¬
rauch abgespeist —, und nach der Mahlzeit sei er spazieren gegangen und zur
Poikile (der von Polygnotus mit Wandgemälden geschmückten Halle) gekommen.
Hier sei eine große Volksmenge versammelt gewesen, die dem Streit zweier
Philosophischer Kampfhähne zugehört habe. Der Epikuräer Damis habe be¬
hauptet, daß es keine göttliche Vorsehung gebe, daß sich die Götter nicht um
die Menschen kümmerten, ja daß es überhaupt keine Götter gebe, der Stoiker
Timokles aber habe die Götter in Schutz genommen. Der Beifall der Menge
sei dem Damis zuteil geworden; doch habe sich Timokles nicht für besiegt
erklärt, und es sei beschlossen worden, die Disputation am nächsten Tage zu
Ende zu führen. Was dieser Gefahr der Aushungrung gegenüber, die ihnen
drohe, zu thu» sei? Keiner wagt es, den Mund aufzuthun, nnr Mvmns,
der Gott des Spottes, tritt keck hervor und sagt den Göttern, bei der Wirt¬
schaft, die auf Erden herrsche, wo fast immer das Laster triumphiere und die
Tugend leide, sei es gar kein Wunder, daß die Menschen nicht mehr an die
Götter glaubten. Diese armen Menschen hätten sich von jeher immer selbst
helfen müssen; wollten sie sich wegen der Abwehr der furchtbaren Übel, die
sie bedrücken, auf die Götter verlassen, so könnten sie lange warten. Man
sieht, auch diese Bemerkung reicht über die Kritik der Religionsform hinaus,
mit der es Lucian zu thun hatte. Die spaßhafte Debatte, die auf den ernst
M nehmenden Vortrng des Momus folgt, entbehrt der tiefern Bedeutung.
Eine solche kommt aber wieder der Disputation zwischen Damis und Timokles
zu, der die Götter zuhören, nachdem die Hören die Himmelsthür aufgeriegelt
und die Wolkenvorhänge beiseite geschoben haben. Lucian läßt natürlich den
Epikuräer siegen und charakterisiert die beiden Parteien dadurch, daß Timokles
alberne Sophismen vorbringt und in seiner ohnmächtigen Wild pöbelhaft schimpft,
während Damis mit überlegner Ruhe und feinem Spott verständig argumentiert.
Schließlich tröstet Hermes den Zeus: Der Pöbel und die Barbaren bleiben
uns treu. Der Jknromenipp scheint die Unmöglichkeit einer weisen Welt¬
regierung oder wenigstens der Erhörung der Gebete darthun zu sollen; denn der
kecke Wolkenbummler, der in den Himmel eingedrungen ist, wohnt einer Audienz
Jupiters bei und vernimmt, dnß die Menschen entgegengesetztes, darum uner¬
füllbares und ruchloses erflehen. Zeus spürt es ganz gut, daß der sich harmlos
stellende AusHorcher ein Spötter und Gottesleugner ist, will ihn aber, weil
gerade Festzeit ist, nicht nach Gebühr strafen, sondern ihm nur die Flügel
abschneiden, und Hermes muß ihn am Ohr auf die Erde hinunter befördern.
Nicht ohne tiefere Bedeutung ist auch der Anfang der Schimpfrede, mit der
Timon seinem Ingrimm gegen Götter und Menschen Luft macht: „O Zeus,
du Freundschaftsstifter, du Beschirmer des Gastrechts, du Verbrüdcrer, du
Familienschutz, du Blitzeschleudrer, du Wolkensammler, und wie die Namen alle
heißen, die dir die Poeten beilegen, besonders wenn sie wegen des Silben¬
maßes verlegen sind, denn dann müssen deine vielen Beiworte helfen, den
Einsturz ihrer baufälligen Gedichte zu verhüten oder eine Lücke im Verse aus¬
zufüllen," was noch deutlicher wird, wenn man sich statt der deutschen Über¬
setzung dieser Beiwörter die griechischen Originale wie Nephelegeretn ansieht.
Der Wörterhunger der Dichter und Rhetoren hat sicherlich viele Vorstellungen
geschaffen, die nicht allein in der Religion, sondern in der gesamten Welt-
und Lebensauffassung der Völker eine wichtige Rolle spielen. Heute wird
diese Macht des Wortes, der Phrase, von den politischen Parteien mit Be¬
rechnung ausgenutzt; man denke an Ausdrücke wie Liebesgabe, Hungerzoll!
Der ganze Dialog ist sehr schön; er zeigt unter anderen, wie undenkbar eine
gerechte Verteilung der irdischen Güter ist.
Nicht bloß die UnHaltbarkeit ihrer Religion, sondern auch den Bankrott
ihrer Philosophie hat Lucian seinen Zeitgenossen klar gemacht. Im Toten-
orakcl (die Echtheit dieses Gesprächs scheint nicht über jeden Zweifel erhaben
zu sein, aber es ist ganz im lucicmischen Geiste geschrieben) erzählt Menippus
einem Freunde, er habe als Knabe dem Homer und Hesiod ihre Göttergeschichten
geglaubt, darum Ehebruch, Raub und andre Schandthaten für erlaubt und
löblich gehalten, dann aber zu seiner Verwundrung erfahren, daß die Gesetze
das alles verbieten. Er habe nnn nicht mehr gewußt, wem er glauben solle,
und sich an die Philosophen gewandt. Da sei er aber vom Regen in die Traufe
gekommen; denn nicht allein lehre jeder etwas andres, und widersprächen sie
einander in allen Dingen, sondern auch Lehre und Leben stünden bei ihnen
im schreiendsten Widerspruch gegeneinander: die den Reichtum verachten lehrten,
hingen mit ganzer Seele am Gelde, prozessierten darum, wucherten, verkauften
ihre Weisheit um Geld und erduldeten um des Geldgewinns willen jede
Schmach. In seiner Ratlosigkeit habe er beschlossen, den Tiresias zu befragen,
und ein babylonischer Magier habe ihm den Gefallen erwiesen, ihn in die
Unterwelt hinabzuführen. Nachdem er deren nicht sehr erfreuliche Wunder
beschaut habe, sei er zu dem böotischen Seher gekommen und habe ihm sein
Anliegen vorgetragen. Dieser habe anfangs bloß gelacht und mit der Sprache
nicht herausgewollt, weil es verboten sei, auf solche Fragen Bescheid zu er¬
teilen, endlich aber ihm abseits von den übrigen Schatten ins Ohr geflüstert:
Am besten und verständigsten leben die gemeinen Leute. Lege deshalb deine
Narrheit ab, höre auf, uach den tiefsten Ursachen und letzten Zielen zu forschen,
verachte die Syllogismen und das ganze hohle Philosophcngeschwätz, bemühe
dich nur, deine täglichen Geschäfte gut zu erledigen, lache über alles andre
und nimm nichts in der Welt allzu ernst. Diese Weisheit predigt Lucian
auch in dein Totengespräch zwischen dem Satiriker Menippus, den er sehr
viel verwendet, und Chiron. Menippus fragt den weisesten aller Centauren,
warum er, da er doch ein Gott sei, habe sterben wollen. Der antwortet, weil
ihm das ewige Einerlei des irdischen Lebens und der irdischen Genüsse
— immer dieselbe Sonne, derselbe Mond, dieselben Speisen — unerträglich
geworden sei; nur der Wechsel der Genüsse erhalte geuußfühig. Ja, sagt
Menippus, ist denn das Schattenleben hier so gar abwechslungsreich? Wenn
du das Einerlei nicht erträgst, wirst du bald wieder anderswohin verlangen.
Was soll man da thun? fragt Chiron. Genießen, was der Augenblick bietet,
und grundsätzlich keine Lage für unerträglich halten. Da hätten wir ein Gemisch
von feinem Epikurüismus und gemildertem Stoizismus, etwa im Sinne des
Horaz und des Buches Kohelct, uur daß dieses bei jedem Genuß an das
göttliche Gericht zu denken mahnt; doch verwirft anch Lucian, ohne sich vor
einem jenseitigen Richter zu fürchten, jeden Frevel. Eines seiner Epigramme
lautet (in der Übersetzung von Pauly): Einstens stirbst du gewiß; so gebrauche
denn, was du besitzest; aber, als lebtest du lang, brauche mit sparender Hand!
Weislich handelt der Mann, der dieses wie jenes bedenket, gebrauchend und
sparend zugleich, nimmer des Maßes vergißt.
Lucian wird nicht müde, am Bankrott der Philosophie beide Seiten zu
beleuchten. Die eine hatte schon Horaz verspottet; es mag aber freilich in
den zwei Jahrhunderten, die zwischen diesem und Lucian liegen, noch bedeutend
schlimmer damit geworden sein. Zu dessen Zeit waren die Philosophen ein
nichtsnutziges Gesindel von Schmarotzern, die mit langem, struppigen Bart,
in einem schmutzigen Mantel und mit einem schlechten Ranzen einhergingen,
nichts konnten, als die abgedroschne Weisheit der alten Meister immer wieder
herunterleiern, dieselben lächerlichen Thesen verteidigen und mit denselben un¬
nützen logischen Kunststückchen prunken. Hinter der durchsichtigen Kulisse ihres
asketischen Äußern und ihres hohlen Pathos frontem sie jedem Laster; um
Geld verkauften sie sich skrupellos dem Meistbietenden, und um ein Plätzchen
nur Tisch eines Reichen, wo sie ihrer Freßgier in ekelhaftester Weise frontem,
behaupten zu können, erduldeten sie jede Schmach. Im „Fischer" beißen diese
Wichte auf den Goldköder augenblicklich an, und als in demselben Dialog die
Philosophen vor den Richterstuhl der Tugend, der Philosophie und der Ge¬
rechtigkeit gerufen werden, wagen sich nur sehr wenige heran. Freimund,
Wahrmunds Sohn, d. i. Lucian selbst, sagt, der Gerichtsherold verstehe seine
Sache nicht, er wolle es besser machen. Und er verkündigt nun: Wer sich
einen Philosophen nennt, der komme auf die Akropolis zu einer Spende!
Jeder erhält zwei Minen und einen Sesamkucheu, und die die längsten Bärte
haben, kriegen noch ein Stück Feigenmus zu; die Mäßigkeit, Enthaltsamkeit
und Gerechtigkeit könnt ihr zu Hause lassen, aber wenigstens fünf Syllogismen
luuß jeder mitbringen. Auf diese Einladung hin kommen sie nun in Scharen
geströmt, und jeder fordert mit Berufung auf seinen Sektennamen ungestüm
seinen Anteil. Wie aber die Philosophie auftritt und ihnen eröffnet, daß es
sich nicht UM eine allgemeine Spende, sondern um die Ausfordrung der echten
Philosophen und das Gericht über die unechten handle, da laufen fast alle wieder
fort. Ein Cyniker verliert auf der Flucht seinen Bettelsack, und darin findet
man nicht Schwarzbrot und Bücher, sondern Goldstücke, wohlriechende Salbe,
einen Spiegel und Würfel. Die andre Seite der Sache wird sehr ernsthaft
im Hermotimus behandelt. In dessen Person stellt Lucian den wirklichen
Wahrheitsfreund dar, der mit unermüdlichem Eifer und opferfreudigem Ver¬
zicht auf Genuß Philosophie studiert und sich mit rührendem Glauben der
Leitung seiner Lehrer anvertraut; solche muß es also gegeben haben, und
solche werden das Salz der Christengemeinden gewesen sein. Justinus, der
Märtyrer und Apologet, ein Zeitgenosse Lucians, erzählt, wie er, vom Drange
nach Wahrheit getrieben, aus einer Philosophenschule in die andre gelaufen
sei, aber in keiner Befriedigung gefunden habe. Dieselbe Erfahrung hat Lucian
gemacht, der unter dem Namen Lycinus dem Hermotimus beweist, daß es un¬
möglich sei, auf dem Wege, den die Philosophen zeigen, zur Erkenntnis der
Wahrheit zu gelangen. Justinus hat nun zuletzt einen christlichen Lehrer ge¬
funden, der ihm doch noch einen gangbaren Weg zu zeigen vermochte. Lucian
hat dieses Glück nicht gehabt und mußte deshalb auf alle Philosophie verzichten.
Entschließe dich, mahnt er zuletzt den Hermotimus, den Rest deiner Tage als
ein nützliches Glied der bürgerlichen Gesellschaft zu verleben, und entschlage
dich deiner abenteuerlichen und windigen Hoffnungen. Hätte Lucian einen
erleuchteten Christen gefunden, so würde er vielleicht den Weg des Justinus
gegangen sein. Wenn du, läßt er den Lycinus zu Hermotimus sagen, einen
Meister fündest, der das Gewisse vom Ungewissen zu unterscheiden und das
Wahre mit unumstößlicher Gewißheit darzuthun vermöchte, so wärest du aller
Sorge und aller weitern Mühen überhoben. Und bei einer andern Wendung
des Gesprächs: Hast du je einen echten Stoiker gesehen? Die Christen erfreuten
sich eben eines Meisters, der seine Lehre gelebt hatte, und der den Seinen
das Gefühl einzuflößen vermochte, daß die wenigen Sätze, in denen er Gottes
Wesen und unser Verhältnis zu ihm beschrieben hatte, unbedingt wahr und
gewiß seien; darin lag ihre Stärke und die Bürgschaft ihres Sieges. Übrigens
hat Lucian die Philosophie nicht in Bausch und Bogen verurteilt. Zwar
verdächtigt er sogar den Sokrates, den Plato und den Aristoteles, aber er
leugnet nicht, daß es echte Philosophen gebe, worunter er allerdings nicht
Erforscher der tiefsten Gründe, sondern nur Männer versteht, die tugendhaft
leben, ihre eignen Angelegenheiten weise ordnen und ihren Nebenmenschen nützen.
Es gebe auch jetzt noch einzelne, versichert er, und zweien von ihnen, die
er selbst kennen gelernt hat, dem Demonax und dem Nigrinus, errichtet er
in den gleichnamigen Schriften litterarische Denkmäler. An beiden lobt er,
daß sie nicht durch Absonderlichkeiten Aufsehen erregt, sondern im Äußern wie
gewöhnliche Menschen gelebt hätten. Den Diogenes schützt er höher, als der
Vater der Bettelphilosophen wahrscheinlich verdient. In einem Totengesprüch
zwischen Krates und Diogenes, das die damals so häufige Erbschleichers ver¬
höhnt, läßt er den ersten sagen: Ich habe dergleichen so wenig nötig gehabt
wie du, Diogenes, denn ich habe von dir das Erbteil erhalten, das dir
Antisthenes vermacht hatte, ein Erbteil, das mehr wert ist als alle Herrlich¬
keit des Perserkönigs, nämlich Weisheit, Genügsamkeit, Wahrheitsliebe, Frei¬
mut und Unabhängigkeit. Im „Tyrann" beschaut Rhadamcmthus die Seelen,
um die Brandmale zu suchen, die ihnen ihre Laster und Schandthaten aufge¬
drückt haben. Bei Cyniskus sind Spuren von solchen zu sehen, und der
Höllcnrichter fragt, womit er sie getilgt habe; die Antwort lautet: Mit dem
Studium der Weisheit. Sogar in ihrem damaligen jämmerlichen Zustande er¬
scheint dem Lucian die Philosophie nicht ganz ohne Nutzen. Im Doppelt
Angeklagten läßt er den Hermes sagen, die Philosophie habe wenigstens das
Gute, daß sich die Menschen des Schlechten ein wenig schämten, auf Bewahrung
des Scheins bedacht seien und darum müßiger sündigten. Die Philosophie
an sich sei ja überhaupt ganz vortrefflich; wenn sie die Welt nicht sehr bessere,
so liege das daran, daß sehr wenige im philosophischen Farbkessel ordentlich
durchgefärbt würden; die übrigen blieben zu kurze Zeit drin oder dunklen gar
nur einen Finger ein. Am schmerzlichsten mochte die Zunft das beleidigende Ge¬
spräch empfinden, worin die Vertreter der philosophischen Sekten an den Meist¬
bietenden versteigert werden. Von den darin vorkommenden Witzen gefüllt
mir am besten der, daß Aristipp, der Gennßkünstler, nicht weggeht, weil nie¬
mand einen so kostspieligen Sklaven haben mag. Lucian hielt es doch für
geraten, diesem Dialog den „Fischer" nachzuschicken, worin er glaubhaft zu
machen sucht, daß er der aufrichtigste Freund der echten Philosophie sei und
ihr durch Geißelung der Unwürdigen, die sie in Verruf bringen, den größten
Dienst erweise.
So viel von Lucians Totengräberarbeit! Seine Werke sind aber für
unsern Zweck noch ans dem Grunde wichtig, weil darin die allgemeine Ver¬
breitung der Gemütsverfassung, die den geeigneten Nährboden für das Christen¬
tum abgab, vielfach bezeugt wird. Er donnert gegen die Reichen und redet
bei jeder Gelegenheit den Armen das Wort. Dieses Gold und Silber, diese
Paläste, läßt er einen Cyniker sagen, diese kunstvoll gearbeiteten Gewänder,
diese kostbaren Geräte, mit wie viel Ungemach der Arbeitenden muß das alles
erkauft, wie viel Mühen und Gefahren müssen deswegen bestanden, wie viel
Menschenleben geopfert werden; an all dem klebe Blut und saurer Schweiß.
Sogar in der Hölle bevorzugen die Götter noch die Armen vor den Reichen,
indem sie ihnen, wie wir im Totenorakel erfahren, Ruhepausen gönnen, während
die Reichen und die Tyrannen unaufhörlich gepeinigt werden. Der Arme, der
namentlich in der Person des Flickschusters Myeill verherrlicht wird, ist sowohl
um Leben wie im Tode und in der Unterwelt glücklicher als der Reiche. Von
dem Elend der Reichen überzeugt der Hahn, in dessen Leibe die Seele des
Pythagoras steckt, den Myeill so vollständig, daß dieser für die Schütze des
"orbem beneideten Nachbars dankt und lieber bei einem Verdienst von zwei
Obolen täglich leben als reich sein will. Er stirbt mit Freuden, weil er auf
Erden nichts zu verlieren hat, lacht über die andern Schatten, die sich wie
wahnsinnig dagegen sträuben, ihrer Reichtümer, Ehren und Herrschaftsrechte
entkleidet und nackt in die Unterwelt geschickt zu werden, und tritt mit heitrer
Zuversicht vor den Richter, weil an seinem reinen Leibe keine Schandflecke
zu sehen sind. Im Totenorakel läßt Lucian ein scharfes Dekret der unter¬
irdischen Mächte gegen die Reichen abfassen: während ihre Leiber in der Unter¬
welt gepeinigt werden, sollen die Seelen in Esel fahren und aus einer Generation
von Eseln in die andre übergehend hundertfüufzigtnusend Jahre als Lasttiere
von Armen getrieben werden, dann erst soll es ihnen erlaubt sein, zu sterben.
In den Saturnalien bedauert Saturn, daß es, seitdem er die Herrschaft seinem
Sohne Zeus abgetreten hat, auf Erden so wüst und ungerecht zugehe; aber
er könne dagegen nichts thun; nnr an den Saturnalien, die die Unterschiede
auf kurze Zeit aufheben, sei er Herrscher, und da verlange er nun allerdings,
daß seine Gesetze gehörig ausgeführt werden; er tadelt darum die Reichen,
daß sie sogar in dieser Zeit, die über alle Freude und Glück verbreiten soll,
die Armen verächtlich behandelten und karg abspeisten, worauf dann freilich
die Reichen erwidern, die Armen kriegten niemals genug und würden unver¬
schämt, wenn man sie nicht kurz halte.
Den Nigriuus läßt Lucian die Athener loben, daß sie eines in der Gering¬
schätzung des Reichtums, in der Milde gegen die Armen und in der Ablehnung
alles Protzeutums die guten Traditionen einer wahrhaft philosophischen Lebens¬
führung bewahrt hätten. An den Panathenäen sei einmal beim Kampfspiel ein
Bürger festgenommen worden, weil er in einem bunten Gewände erschienen sei
(weiß war die vorgeschriebne Farbe); die ganze Versammlung aber habe ein¬
stimmig den Richtern zugerufen: Verzeiht diesem Manne seinen Anzug, er hat
keinen andern! Nirgend sonstwo könne man in solcher Ruhe studieren und dabei
bescheiden leben wie in Athen; wer Reichtum, Macht, Glanz, ein ausschweifendes
Leben und die Ergötzungen des Pöbels liebe, für den sei diese Stadt kein
passender Aufenthaltsort. Geistliche, die über die Vergänglichkeit alles Irdischen
und über den Unwert aller irdischen Güter deklamieren wollen, können, wenn
es ihnen an eignem Gedankenvorrat fehlt, den Stoff ebenso gut aus Lucian
wie aus der Bibel und aus alten Predigtbüchern beziehn. Mögen die Be¬
wohner der Unterwelt als Schatten oder als Gerippe beschrieben werden, in
jedem Fall hat keiner vor dem andern etwas voraus, sie sind alle gleich (bis
auf die ungleichen Strafen; von Folgerichtigkeit ist ja bei diesen Phantasien
keine Rede), und auch das bedeutet wieder einen Triumph der Armen. Zur
Abwechslung wird dann wieder von verschiednen Beschäftigungen der Schatten
gesprochen: König Philipp flickt Schuhe um kargen Lohn, Perserkönige und
griechische Tyrannen gehn betteln. Ein hübscher Einfall Lucians ist von
Spätern viel variiert worden. Das Leben ist eine große Maskerade, ein Fest-
zug oder eine Theateraufführung. Die Glücksgöttin hängt dem Menschen, der
an sich ein ganz nichtiges Wesen ist, irgend einen Maskenanzug um, sodaß
er als König oder Feldherr oder schöner Jüngling oder schönes Weib einher¬
stolziert, oder als Mißgestalt Lachen erregt. Im Tode werden alle entkleidet
und erscheinen in ihrer natürlichen Armseligkeit. Nicht selten nötigt die launen¬
hafte Tyche schon vor dem Ende der Komödie eine schöne Maske, die Herrlich¬
keit abzulegen oder mit einer unscheinbaren oder häßlichen die Rolle zu tauschen-
Im ersten Totengespräch läßt Diogenes dem Menipp sagen, wenn er droben
genug über die Lebenstragikomödie gelacht haben werde, möge er nur herunter-
kommen, da werde er erst recht lachen, denn erst nach dem Tode erkenne man
die Lächerlichkeit des irdischen Treibens in ihrer vollen Größe.
Die Liebe zu den Armen, das Mitleid mit ihnen und der Glaube, daß
das inwendige Himmelreich nicht bloß ohne irdischen Reichtum erbaut werden
kann, sondern sogar in — nicht bettelhafter — Armut am besten gedeiht, das
sind wesentliche Bestandteile der neutestamentlichen Religion. Der Verachtung
der irdischen Güter ist jedoch schou ein bedenkliches Element beigemischt. So¬
wohl das Alte wie das Neue Testament fordert, daß wir die natürlichen
Güter als gute Gaben Gottes schätzen, nach seinem Willen treu verwalten
und mit Dank gegen ihn genießen, was alles die Verachtung ausschließt.
Nur im Verhältnis zu den höhern Gütern der sittlichen Vollkommenheit und
göttlichen Gnade sollen wir das Weltliche gering achten, und in der Zeit der
Begründung und ersten Verbreitung des Christentums mußte freilich diese Ge¬
ringschätzung stärker hervortreten, als an sich wünschenswert ist, weil das Be¬
kenntnis zu der neuen Religion sehr häufig den Verlust des Vermögens und der
Angehörigen nach sich zog und sogar das Opfer des Lebens forderte. Bei
den Christen erzeugte also die Praxis die Askese, die den Heiden als theo¬
retische Forderung vertraut war und vielfach zum Schein geübt wurde. Später
wurde die heidnische Theorie von der Kirche förmlich angenommen und im
Mönchstttm organisiert, das allerdings zeitweise den praktischen Bedürfnissen
der Christenheit so sehr entsprach, daß ohne die großen alten Orden unsre
heutige Kultur gar nicht vorhanden sein würde, und daß sich im neunzehnten
Jahrhundert der Protestantismus veranlaßt gesehen hat, das Ordensleben
nachzuahmen und ihm eine neue Form zu geben. Noch bedenklicher waren
zwei andre Eigentümlichkeiten, in denen sich das Christentum mit dem Zeit¬
geist berührte: der Höllenglaube und der Wunderglaube. Die Unterwelt, die
die Phantasie des spätern Griechentums so lebhaft beschäftigt hat, spielt bei
Lucian eine große Rolle, natürlich nicht darum, weil er selbst an sie geglaubt
oder sich vor ihr gefürchtet hätte, sondern weil sie ihm bequeme Einkleidungen
seiner Satiren darbot. In dem Aufsatze über die thörichten Traucrgebräuche
sagt er ganz offen, daß er die Unterwelt für ein Märchen, für eine Erfindung
der Dichter hält, und was er den verstorbnen Sohn dem jammernden Vater
antworten läßt, beweist, daß er den Tod als Vernichter des Lebens und Er¬
löser von allen Übeln für ein Glück hält. Wenn der Verstorbne hören könnte,
was der Vater jammert, und wenn er Bewußtsein Hütte, meint Lucicin, würde
er den Vater schelten, daß dieser ihn nicht vielmehr glücklich preist. Und
dennoch — was nun folgt, wollen wir in Wielands freier Übersetzung an¬
führen, weil es auf die in einer neutestamentlichen Erzählung erwähnten
Klageweiber ein helleres Licht wirft —, und dennoch „schreien und lamentieren
die thörichten Leute und lassen sogar noch einen eignen Vorheuler kommen,
der das als Profession betreibt und einen großen Vorrat alter Jammerge-
schichten zur Hand hat, um ihre närrische Betrübnis in Atem zu erhalten; so
oft sie nachlassen, fängt der Kerl aus vollem Halse wieder an, und das ganze
Tranerhaus heult in dem Tone, den er angegeben hat, hinterdrein, sodaß
wan einen Theaterchor mit seinem Vorsänger zu hören glaubt, die dafür bc-
zahlt werden, die lächerlich tragische Posse zu spielen." So wenig wie mög¬
lich mit dem Leichnam hermachen, erscheint unserm Satiriker als das vernünftigste,
die ägyptische Einpökelnng aber als das dümmste und widerwärtigste. Im
widerlegten Zeus hält der kecke Cyniskus dem Götterkönig die auf Erden
herrschende Ungerechtigkeit vor; Zeus erwidert dem Tadler der Weltregierung,
er möge doch an die jenseitigen Belohnungen und Strafen denken. Cyniskus
aber meint: Nun, ob es so etwas giebt, wie das, was die Dichter davon er¬
zählen, werde ich ja erfahren, wenn ich tot bin. Vorläufig wünsche ich mir
für die kurze Lebenszeit Wohlergehn ans die Gefahr hin, daß mir drunten die
Leber von Geiern abgefressen wird, und es fällt mir nicht ein, hienieden mit
Tantalus zu dürsten, um dann in den elysischen Gefilden mit den Heroen
zechen zu können. Die Christen jener Zeit dachten mehr an die Seligkeit
des zukünftigen Gottesreichs als an die Höllenpein; erst später haben sich
die Theologen, die Prediger und die christlichen Dichter darauf verlegt, nach
den heidnischen Vorbildern höllische Henkerszenen auszumalen.
Ein Wunder wenigstens, das der Auferstehung Christi, ist für die Be¬
gründung des Christentums unentbehrlich gewesen, und an Heilwundern, wunder¬
baren Errettungen und himmlischen Erscheinungen fehlt es weder im Neuen
Testament noch in den Märtyrerlegenden. Aber von gemeinem Spuk, von
Zauberei und Gaukelei ist die älteste Kirche frei gewesen; sie hat diese Dinge
bekämpft. Jedoch gehört ein feiner Geist dazu, auf diesem Gebiete das Reine
vom Unreinen zu unterscheiden, und die Wunder der alten Kirche konnten
ebensowohl den Pöbel, der darin etwas ihm Verwandtes sehen mußte, anziehn,
wie die Skeptiker verleiten, das Christentum für einen gewöhnlichen Aber¬
glauben zu halten. Wie es im Heidentum, und zwar nicht bloß unter dem
gemeinen Volke aussah, erfahren wir aus dem Lügenfrcund. Tychiades besucht
den kranken Eukrates, einen wohlhabenden ältern Mann, der sich viel mit
Philosophie beschäftigt. Tychiades trifft denn auch mehrere Philosophen ver-
schiedner Richtung bei ihm, und diese Männer unterhalten sich nun mit der
Erzühluug vou geglückten Sympathiekuren, Zauberstiickchen, Spukgeschichten
und überbieten einander im Altweiberunsinn. Auch die Geschichte von den
wasserholenden Besen und Mörserkeulen, die Goethe im Zauberlehrling zu
einer Allegorie verwandt hat, ist dabei. Tychiades sagt den Herren entrüstet,
sie möchten solches Zeug wenigstens nicht vor Knaben erzählen — die Söhne
des Eukrates kamen gerade aus der Palästra und setzten sich zum Vater aufs
Bett — und die Gemüter der jungen Leute mit düstern Bildern, mit Angst
und Schrecken und thörichtem Wahnglauben erfüllen. Einer der „Philosophen,"
Dinomachus, sagt ihm: Du glaubst wohl gar nicht an die Götter? Tychiades
antwortet: Man kann sehr wohl an die Götter glauben, ohne an solchen Unsinn
zu glauben. Ich verehre die Götter und sehe, daß sie heilen, nämlich durch
geeignete Heilmittel, nicht wie eure Zauberer mit Müusezähncn und dergleichen.
In einer der erzählten Wunderkuren kommt ein Ausdruck vor, der die Echt¬
heit der Lokal- oder vielmehr Zeitfarbe der neutestamentlichen Erzählungen ver¬
bürgt, in denen Jesus spricht: Nimm dein Bett und wandle! Im elften Kapitel des
Lügenfreundes heißt es: «^«^«^os <7>.^t^oc!« A'/el» »«^ «^6? «/r^v/
Matth. 9, 5: ä^>o? <7öl> x/i,/»-^; Joh. 5, 8: «^>o^ ro,/ x^es?/?«ro^ <7vo. Aus
der Verschiedenheit des Wortlauts sieht man zugleich, daß Lucian nicht etwa
die evangelischen Erzählungen hat verspotten Wollen, die er nicht gekannt haben
wird; sonst Hütte er sich gewiß die Gelegenheit nicht entgehn lassen, durch Be¬
nützung des Wortlauts der Evangelien den Christen eins zu versetzen. Wieland
schickt dem Lügenfreund eine Bemerkung voraus, die heute, im Jahre 1902,
noch so zeitgemäß ist wie 1788, wo sie im Druck erschien: „Vor etwa fünf¬
undzwanzig Jahren brauchte man sich nur in das Zimmer irgend eines alten
schwachköpsigen Grafen oder Herrn in Schwaben, Bayern oder Österreich zu
denken, statt der sogenannten Philosophen Ion, Dinomachus usw. einen bocks¬
bärtigen Kapuziner, einen wohlbeleibten Prämonstratenser oder stark kolorierten
Bernhardiner, einen hagern habichtsnasigen Jesuiten und allenfalls noch einen
derbgläubigen Karmeliter um ihn herumzusetzen, und sie aus Veranlassung
einiger Millionen Teufel, die unlängst von einer mordsüchtigen Bauerndirne
abgetrieben worden, in ein Gespräch über dergleichen erbauliche Dinge geraten
zu lassen, um ein herrliches Gegenstück zu diesem lucianischen Gemälde zu
haben. sDaß nicht ganz hundert Jahre vor 1788 dergleichen Gespräche in
den Stuben der Theologen und Juristen zu Jena, Halle, Kopenhagen und
Edinburg an der Tagesordnung gewesen waren, scheint Wieland nicht gewußt
zu Habens Aber seit dieser Zeit haben sich die Umstände sehr geändert. Man
kann sich jetzt mitten unter lauter Protestanten in das Zimmer des Eukrates
versetzt sehen; und die Geisterseher, Zauberer, Mystagogen, Hcrmesschüler,
Magnetisierer, Desorganisierer und Exaltierer der menschlichen Natur, kurz
alle Arten von Adepten und Wundermünnern spielen eine so große Rolle
gegen das Ende unsers Jahrhunderts, daß die Ion und Eukrates, wenn sie
wiederkommen könnten, sich genötigt sehen würden, die großen Vorzüge der
Neuern vor den Alten und unsrer aufgeklärten Zeit vor dem Zeitalter der
Antonine auch in diesem Stück demütig einzugestehu."
Lucian hat ein reichliches halbes Jahrhundert nach Dio von Prusa ge¬
schrieben, und in dieser Zeit waren die Christen doch schon so zahlreich ge¬
worden, daß sie einem vielreisenden Litteraten nicht ganz verborgen bleiben
konnten. Aber so hoch war ihre Bedeutuug noch nicht gestiegen, daß sich Lucian
veranlaßt gesehen Hütte, ihren Glauben zu studieren und sie in seinen Schriften
als eine wichtige Erscheinung zu behandeln. Aus den wenigen Stellen, wo
er sie erwähnt, erkennt man, daß er sie für eine der zahllosen orientalischen
Sekten gehalten hat, mit denen sich zu besassen nicht der Mühe lohne. Die
Tenfelsaustreibung, die im Lügeufreund „der bekannte Syrer aus Palästina"
vornimmt, „der sich auf dergleichen versteht" (ro^ e^t ro^rei»? o-o^ar^), rechne
ich nicht zu diesen Stellen, obwohl die Erzählung stark an die Heilung des
mordsüchtigen Knaben Markus 9, 16 erinnert. Ich denke mit Wieland: Hätte
Lucian einen Christen oder gar Christus selbst gemeint, so Hütte er es gesagt;
es gab eben doch viele Goeler in Syrien. Die Schriften, in denen er — aber
nur gelegentlich — von den Christen spricht, sind bekanntlich die über den Tod
des Peregrinus und die Biographie des Lügcupropheten Alexander von Abono-
teichos. Die erste soll wahrscheinlich ein indirekter Angriff auf das Christentum
sein; denn sie macht die Selbstverbrennung des Peregrinus lächerlich und diesen
selbst verächtlich; er habe die heroische That bloß aus wahnsinniger Eitelkeit
angekündigt und bis zum letzten Augenblick gehofft, seine Verehrer würden ihn
vom Scheiterhaufen zurückreißen. Es scheint also, daß Lucian die Erzählung
mit zu dem Zweck geschrieben hat, den Heroismus der christlichen Märtyrer
herabzusetzen. Doch das ist ungewiß. Von Wichtigkeit ist nur die christliche
Episode aus dein Leben des Peregrinus. Nach einer lasterhaft verlebten
Jugend habe dieser Mann (ob ihn Lucian verleumdet, wird wohl heute uicht
mehr zu ermitteln sein) die bcwundrungswürdige Weisheit der Christianer er¬
lernt bei ihren Priestern und Schriftgelehrten in Palästina. In kurzer Zeit
habe er sie alle überholt und sei ihr x«5 Leo-o^^c,- x««, ^vo«/all^evL
und alles in allem geworden (Lucian kennt also nicht einmal die Amtsnnmen
der christlichen Gemeindevorsteher und Gemeindebeamtcu). Er habe ihre Bücher
erklärt und selbst viel geschrieben, sei als Gesetzgeber angesehen und zum Vor¬
steher (^^o^Krt'
/L) ernannt worden. „Die Christen verehren nämlich noch
jenen großen Mann, der in Palästina gekreuzigt worden ist, weil er diese
neuen Mysterien (^e/i-e^v) eingeführt hat." Desselben Vergehns wegen, erzählt
Lucian weiter, wurde nun Peregrinus selbst ins Gefängnis gesetzt, was seinem
Ehrgeiz diente, indem es ihn: zu großem Ansehen verhalf. Die Christen er¬
achteten seine Einkerkerung für ein Unglück und setzten alles in Bewegung,
ihn zu befreien. Während er gefangen saß, genoß er die sorgfältigste Pflege;
schon am frühen Morgen wurde sein Gefängnis von alten Weibern, von
Witwen und Waisen umlagert. Die unter ihren Glaubensgenossen angesehensten
erkauften sogar durch Bestechung das Vorrecht, bei ihm zu übernachten. Man
schaffte Mahlzeiten hinein, las die heiligen Schriften und nannte den teuern
Peregrinus deu neuen Sokrates. Bis aus der Provinz Asien kamen Christen,
ihm zu dienen. „Denn bei solchen Vorfüllen ihres Gemeindclebens bieten sie
einen erstaunlichen Eifer auf." Und viel Geld, reichliches Einkommen hat
dieser Eifer dem Peregrin noch nach seiner Befreiung eingebracht. (Der philo¬
sophisch gebildete Statthalter begnadigte ihn, weil er die Christen für harm¬
lose Narren hielt.) „Denn diese Tröpfe haben sich einreden lassen, daß sie
unsterblich seien und ewig leben werden; deswegen verachten sie den Tod, und
viele opfern sich freiwillig. Dann hat ihnen ihr erster Gesetzgeber eingeredet,
sie seien alle Brüder untereinander geworden, sobald sie die griechischen Götter
verleugnet haben und jenen ihren gekreuzigten Sophisten anbeten. Sie ver¬
achten alles (Irdische) und halten alles für Gemeingut. Jeder Gaukler kann
sich an ihrer Einfalt leicht bereichern und sie dann auslachen." Wir erfahren
dann noch, daß sie deu Peregriu exkommuniziert haben. Sie werden ihn
eben durchschaut haben, denn sie waren durchaus nicht dumm. Das gesteht
Lucian selbst unüberlegterweise ein, denn er erzählt in der Lebensbeschreibung
des Lügenpropheten Alexander, daß dieser neben den (dem Lucian teuer»)
Epikuräern die Christen für seine größten Feinde erklärt und geklagt habe,
ganz Pontus wimmle von Atheisten und Christen, die schändliche Verleumdungen
gegen ihn ausstreuten. Bei seinen Mysterien ließ er ausrufen: „Wenn etwa
ein Atheist, ein Christ oder ein Epikuräer als Zuschauer gekommen ist, der
möge sich entfernen! Wer aber dem Gotte glaubt, der soll zu seinem Heil
die Mysterien feiern!" Darauf wurden die Verdächtigen hinausgetrieben.
Alexander rief: Hinaus mit den Christen! Die Menge aber fügte hinzu:
Hinaus mit deu Epikuräern! Außer Leuten wie Lucian waren also die Christen
die einzigen, die sich von dem Gaukler nicht anführen ließen, dem alles zu¬
lief, und dem sogar in Rom angesehene Männer huldigten. Man sieht aus
alledem, daß Lucian nicht gerade ein erbitterter Feind der Christen gewesen
ist; wäre er es gewesen, so hätte er sich mehr Mühe gegeben, ihr Leben und
ihre Lehre kennen zu lernen, und hätte mehr gegen sie geschrieben. Wenn,
Wie man gewöhnlich annimmt, der Celsus, auf dessen Bitte er den Lügen-
Propheten entlarvt hat, derselbe Celsus wäre, der einen von Origenes abge¬
wehrten ernsthaften wissenschaftlichen Angriff gegen das Christentum gerichtet
hat, so müßte man es verwunderlich finden, daß Lucian nicht von seinem
Freunde einigermaßen in die christliche Lehre eingeweiht worden sei. Der
Name Sophist, deu er Jesus giebt, war übrigens damals kein Schimpfwort,
sondern die Bezeichnung eines angesehenen Standes. Christ schreibt in seiner
griechischen Litteraturgeschichte (Band 7 des von Iwan von Müller heraus¬
gegebnen Handbuchs der klassischen Altertumswissenschaft) S. 748 von Lucian:
„Die heitere Klarheit und Schönheit des Hellenentums gegen die Dunkel¬
männer und Halbbarbaren zu schützen, war der Kern seiner Thätigkeit. Der
aufgehenden Sonne des Christentums stand er allerdings feindlich gegenüber,
aber nnr, weil er den Kern der neuen, weltcrlöseuden Lehre nicht kannte und
es deshalb nur für eine philosophische Sekte hielt."
Zum Schluß mag noch an eine Äußerung Lucians erinnert werden, die
zu unserm Gegenstande mittelbar in Beziehung steht. Von der Abhandlung:
Wie soll man Geschichte schreiben? ist vor einiger Zeit in den Grenzboten
gesagt worden, sie sei nicht viel wert. Und in der That ist Lucians Begriff
von Geschichtschreibung der ärmlichste, den man sich denken kann. Sehr
natürlich: wo nichts geschieht, da giebt es keine Geschichte und keinen Begriff
von Geschichte. Außer der Einführung des Christentums, dessen Bedeutung
den Augen der Weltweisen verborgen blieb, geschah damals nichts, was Be¬
deutung für die Zukunft gehabt hätte. Diese Leere wurde empfunden. Lucian
sagt, über jeden kleinen Krieg seien die Geschichtschreiber heißhungrig her¬
gefallen; der Streit scheine also anch auf diesem Gebiet der Vater aller Dinge
zu sein. Das ist er in der That. Und es handle sich, meint er dann, nur
um Kriege von Barbaren untereinander, „denn uns wird wohl niemand mehr
anzugreifen wagen." Und als das daun die Barbaren wagten, da bedeutete
es deu Untergang der alten Welt. Diese ist, wie Otto secat gezeigt hat,
untergegangen, weil sie keine Aufgabe mehr zu lösen hatte, von keinem Streit
wehr bewegt wurde, ans dem etwas Neues hätte geboren werden können, nur
noch leeres Stroh drasch. Und weil ihr Untergang die Vorbedingung für
die Entstehung einer neuen Welt war, in die das Christentum einführen sollte,
gehört auch jene Äußerung Lucians. seine dürftige Auffassung der Geschicht¬
schreibung zu unserm Thema.
chon eine oberflächliche Beobachtung des Lebens der Tiere zeigt,
daß es ganz andern Regeln unterworfen ist als das des Menschen.
Der Mensch hat einen Geist, der ihm volle Freiheit des Handelns
gewährt; die Begriffe Religion, Glaube, Aberglaube, Gewissen,
Ehre, Hochmut, Selbstbewußtsein, Stolz, Demut, Begeisterung,
Fanatismus, Vaterlandsliebe, Aufopferung, Idealismus, Phantasie, Wissen¬
schaft, Kunst, Ästhetik, Ethik sind geistig und als solche dem Tiere fremd. Der
Mensch hat als geistiges Wesen freie Selbstbestimmung; er kaun nach Hohem
streben oder dagegen gleichgiltig sein und uur Sinn für materielle Genüsse
haben. Er kann gleichgiltig sein seinem Gewissen und dem Gesetz gegenüber
und blindlings verbrecherischen Trieben folgen; er kann fleißig und ange¬
strengt arbeiten oder jahrelang nichts thun; er kann heiraten oder ehelos bleiben-
Er kann nach seinein Belieben und Vermögen seinen Wohnsitz verändern und
kann sogar selbst in arktische Regionen reisen, wenn es ihm beliebt, die für
das Leben des Menschen nicht geeignet sind, und dort in der arktischen Winter¬
nacht durch Frost und Kälte umkommen. Manche kommen durch ihre Arbeiten
zu hohen Ehren, andre bleiben trotz redlichen Strebens unbekannt und uner¬
kannt, dieser wird reich, jener bleibt arm, manche enden im Zuchthause und auf
dem Schafott; bei völligem moralischem Bankrott, nach einem Verbrechen, auch im
unfreien Zustande der Geisteskrankheit begehn manche Selbstmord, und in ge¬
wissen Kreisen nimmt man an, daß die durch das Verbrechen vernichtete Ehre
durch ein zweites, unsühnbares Verbrechen, das des Selbstmordes, wieder
hergestellt wird. So gestaltet sich das Schicksal des Menschen durch seine
freie Selbstbestimmung unendlich verschieden; der Mensch kann thun, was er
will, nur eins kann er nicht, was jedes Tier kann, ohne Hilfe und ohne An¬
leitung in der Natur existieren. Ein junges Tier ist sehr bald selbständig,
ein einzelnes, junges Menschenkind, in die Natur gesetzt, ist völlig hilflos; es
hat keine Kleidung, keine Wohnung, keine Waffen, es kennt nicht einmal den
Gebrauch des Feuers und würde bald dem Hunger, der Kälte und Raub¬
tieren zur Beute fallen.
Wesentlich anders gestaltet sich das Leben der Tiere; sie haben keine
Waffen, keine Kleidung, kein Feuer, Geisteskrankheiten und Selbstmord kennen
sie nicht. Die bei den Menschen so auffallenden Unterschiede im Können, Ver¬
mögen und Wissen fehlen; sie haben keine freie Selbstbestimmung; den Schutz
den Naturgewalten gegenüber, den der Mensch durch seinen Geist hat, der
Erfahrungen sammelt und diese den Nachkommen überliefert, hat das Tier in
blinden Zwangstrieben, bei jeder Tiergattung andre, die ihm befehlen, was
es thun und lassen soll, und den Geist des Menschen ersetzen.
Diese Triebe werden als Instinkt bezeichnet. Die darwinistische Natur¬
forschung, die im Menschen ein höher entwickeltes Tier sieht, leugnet den
Instinkt und behauptet, nicht nur die Menschen, auch die Tiere hätten Geist
und Vernunft, die ihr Leben regeln; der Instinkt sei unerklärlich. Das ist er
auch für uns, und wir gebrauchen das Wort Instinkt nnr als eine Kollektiv-
bezeichnung für alle verschiednen dem Tiere unbewußten Impulse, die, bei
jeder Tierart auf andre Weise, durch Zwang deren Leben regelt, und erklären
ausdrücklich, daß uns diese instinktiven Triebe ebenso merkwürdig wie uner¬
klärlich sind.
Unter Instinkt wird demnach hier im Gegensatz zur freien, bewußten,
selbständigen Überlegung ein blinder, unbewußter, unselbständiger, gezwungner
Trieb zum Handeln verstanden, der jedem Tier angeboren und bei jeder Tier¬
art mehr oder weniger verschieden ist; man kann danach die Tiere im Gegen¬
satz zum Menschen für ihre Handlungen in der freien Natur nicht verant¬
wortlich machen.
Der Instinkt der Tiere ist lediglich auf die Ernährung, die Fortpflanzung
und den Aufenthalt gerichtet.
Die darwinistische Naturforschung glaubt alle menschlichen Eigenschaften
in ihren Anfängen bei den Tieren wiederzufinden, sodaß sich der Mensch vom
Tier in diesem Sinne nnr quantitativ, nicht qualitativ unterschiede. Aus
dem Heidentum stammt das stolze, edle Wort: Homo sum,, nuinavi old.it g,
räh küienuin puto, der Darwinist aber ändert es in Rostig, sum ot bsstiali
uib.it g, ins ickisnum xrcko.
Daß der Mensch volle Willensfreiheit hat, und daß er mit Vernunft und
Überlegung handelt, steht fest; läßt es sich nun nachweisen, und wir glauben
un folgenden den Beweis zu liefern, daß das gesamte Tierreich lediglich in¬
stinktiv handelt, so ist damit eine unüberbrückbare Kluft zwischen Mensch und
Tier festgestellt, und damit das darwinische Gesetz, wenigstens soweit es den
Menschen betrifft, für illusorisch erklärt.
Es hat nicht an Versuchen gefehlt, Handlungen von Tieren zu schildern,
an denen man ein vernünftiges, überlegtes Handeln erkennen will. So las
man kürzlich in einer verbreiteten und angesehenen deutschen Zeitschrift zum
Beweis, daß ein Hund mit vernünftiger Überlegung handeln könne, ein Mann
sei im Sommer bei gutem Wetter in Begleitung seines Hundes ausgegangen,
als ein Gewitter aufgezogen sei; der Hund sei plötzlich verschwunden, bis er
uach einiger Zeit mit einem Regenschirm im Maule zurückgekehrt sei.
Ein Förster wollte beobachtet haben, daß ein Fuchs mehreremale hinter-
nnander mit einem schweren Ast im Maule auf einen abgesagter Baumstumpf
sprang; einige Zeit daraus ging eine Bache mit Frischlingen an dem Baume
vorbei; der Fuchs hatte sich hier in den Hinterhalt gelegt, faßte einen der
Frischlinge und sprang mit demselben im Maule auf den Baumstumpf, wo
die Bache ihn nicht erreichen konnte; das Springen mit dem Ast hatte als
Vorübung gedient. Derselbe Förster beobachtete im Winter bei Spürschnee,
daß sein Hund eine ganze Anzahl Wildschweine aus einem Kessel im Walde
Vertrieb, in den nur die Führte eines einzigen Tieres führte, und meint, die
Schweine seien eins hinter dem andern, immer genau in die Führte des
Vorgängers tretend, gelaufen, um den Jäger glauben zu machen, es sei nur
ein Tier vorhanden.
Diese Erzählungen, die in Petermanns Jagdbüchern zu stehn verdienten,
waren allen Ernstes als Beweise für die Vernunft der Tiere wiedergegeben.
Brehm meint wirklich, daß ein Papagei, der sprechen gelernt hat, das
verstehe, was er sagt; wenn ein Papagei immer wieder hört, daß man im
Zimmer, nachdem an die Thür geklopft ist, „herein" sagt, so kann es kommen,
daß er auch eines Tages, wenn geklopft wird, „herein" sagt; besteht doch das
Abrichten der Tiere lediglich in der Hervorrufung bestimmter Handlungen durch
bestimmte Worte oder Töne oder durch Veranstaltung gewisser Umstünde, deren
das Tier sich erinnert.
Im folgenden soll eine Reihe merkwürdiger Handlungen von Tieren be¬
sprochen werden, die nur durch den Instinkt zu erklären sind; als instinktive
Handlungen werden solche bezeichnet, bei denen das Tier, mag es außerdem
seelische Eigenschaften haben oder nicht, ohne vorheriges Lernen blindlings
und zwangweise einem angebornen Triebe folgt.
Unter den Säugetieren ist der Biber wohl das, das durch seine kunst¬
vollen Bauten am meisten unsre Aufmerksamkeit erregt. Er baut, wenn der
Wasserspiegel seines Wohnorts starke Schwankungen erleidet, seine Dämme,
besonders bei sinkendem Wasser, damit die unter dem Wasserspiegel liegenden
Eingänge seiner Wohnung nicht zu Tage treten; so zieht er querdurch einen
Bach oder Fluß kunstvolle, oft sehr lange Dämme, um das Wasser zu stauen.
Der Effekt der Arbeit kann erst eintreten, wenn die Arbeit vollendet ist; die
Dämme verlaufen zwischen der Wohnung des Tieres und der Flußmündung,
sie haben die nötige Festigkeit, Breite und Höhe, und zu der Herstellung
werden Baumstämme an der Wasserseite angenagt, sodaß sie in der Richtung
quer über den Wasserlauf umfallen. Will man diese Arbeiten als überlegte
Handlungen auffassen, so muß man annehmen, daß die Biber Kenntnisse in
der Physik, besonders in der Lehre von der Schwerkraft, der Hydrostatik und der
Hydrodynamik haben, und da das doch wohl nicht angeht, müssen wir ihre
Handlungen als instinktiv auffassen.
Bei manchen unsrer einheimischen Säugetiere, beim Dachs, Igel, Bär,
Murmeltier beobachten wir einen Winterschlaf, und die Vorbereitungen zu
ihm, die darin bestehn, daß sie sich eine passende Höhle suchen und diese in
Stand setzen, sind es, was unsre Aufmerksamkeit erregt. Die genannten Tiere
tragen im Spätherbst Laub, Gras, Zweige, Moos in ihre Lagerstätte; oft
graben und erweitern sie auch erst die Höhle, in der sie den Winterschlaf ab¬
halten wollen. Das Murmeltier verstopft von innen die Einfahrtsröhre seiner
Wohnung auf eine mehrere Fuß lange Strecke mit Erde, Steinen, Wurzeln,
trocknem Gras, sodaß der Bau nun nach außen luftdicht abgeschlossen ist.
Da die Tiere, wenn sie zum erstenmal einem Winter entgegengehn, unmöglich
wissen können, daß sie einem mehrere Monate dauernden Schlaf verfallen werden,
so kann man ihre Handlungen nur auf den Instinkt zurückführe«.
Das Eichhörnchen und der Hamster sammeln sich Wintervorrüte; die Tiere
können, wenn sie zum erstenmal in den Winter hineingehn, nicht wissen, daß
die Nahrung bald knapp werden wird; auch später können sie nicht wissen,
daß die Jahreszeiten sich regelmäßig wiederholen, und so muß auch ihre Hand¬
lung instinktiv sein.
Die Fledermäuse fliegen nur nachts, mitunter anch kurz vor Sonnen¬
untergang und kurz nach Sonnenaufgang; sie sind hiermit einem Zwange wider¬
standslos unterworfen und können nicht am Tage fliegen, obgleich die Insekten,
von denen sie leben, dann die Luft reicher bevölkern als des Nachts. Der Zwang
führt sogar zu einem verschiednen Ausflüge der einzelnen Arten, man unter¬
scheidet Früh - und Spätflieger; Altum bemerkt von der Zwergfledermaus,
daß sie ihren Flug abends mit großer Regelmäßigkeit beginne, einerlei ob
die Sonne am Himmel stehe oder der Himmel bewölkt sei, sodaß sich der An¬
fang des Fluges fast uach Minuten bestimmen lasse; am 20. Januar flog sie
8 Minuten nach Sonnenuntergang aus und am 22. November 29 Minuten
danach; die Zeitdiffercnz zwischen dem Sonnenuntergang und dem Ausfluge
bildet eine regelmäßige Kurve, die ihren höchsten Punkt, 59 Minuten, Ende
Juni erreicht. Diese Regelmäßigkeit, die von dem Untergang der Sonne un¬
abhängig ist, kann nur auf einen instinktiven Trieb zurückgeführt werden.
Noch merkwürdiger ist eine Beobachtung von N. Werner, der erzählt, daß
ein Orang-Ulan auf einem Schiffe von Batavia zum Kap der guten Hoffnung
mitgenommen wurde; das Tier hatte die Gewohnheit, die ganze Nacht und
zwar genau zwölf Stunden lang zu schlafen. Als die Reise eine Zeit lang
gedauert hatte, bemerkte Werner, daß das Tier immer früher in sein Lager
ging und um ebenso viel früher aufstand als bisher; je länger die Reise
dauerte, um so größer wurde der Unterschied, bis das Tier, als man am
Kap der guten Hoffnung war, sich um zwei Uhr nachmittags hinlegte und
um zwei Uhr nachts aufstand. Das Schiff machte durchschnittlich täglich
45 Meilen nach Westen, wodurch täglich ein Zeitunterschied von zwölf Minuten
zwischen Batavia und dein Orte des Schiffes entstand, der am Kap der guten
Hoffnung auf vier Stunde» gewachsen war. In Batavia ging die Sonne etwa
um sechs Uhr abends unter und um sechs Uhr morgens auf, diese zwölf Stunden
in der Nacht pflegte der Affe zu schlafen, und diese Gewohnheit setzte er
unbekümmert um deu Stand der Sonne, um das Leben ans dem Schiffe, um
die Zeit der Mahlzeiten fort, und durch nichts ließ er sich von seiner Ge¬
wohnheit abbringen. Daß diese Handlungsweise nur zwangsweise, instinktiv
sein konnte, braucht nicht bewiesen zu werden.
Unsre einheimische Ratte war bisher die kohlschwarze Hausratte, die jetzt
ganz von der Wanderratte verdrängt worden ist; im Jahre 1727 drangen
große Massen von Wanderratten aus dein angrenzenden Asien in Europa ein,
bei Astrachan schwammen sie in großen Haufen über die Wolga, und seit
dieser Zeit sind sie bestündig, langsam aber unaufhaltsam nach Westen ge¬
wandert, und immer nur nach Westen; in Ostpreußen erschienen sie 1750,
im übrigen Deutschland 1780, in der Schweiz 1809; sie wanderten des Nachts,
und ihr Erscheinen ließ sich von Etappe zu Etappe verfolgen an den Leichen
der totgebissenen schwarzen Hausratten, die sie, da sie stärker sind als diese,
aus ihren Schlupfwinkeln vertrieben hatten. Einmal wurde ein solcher Zug
auch am Tage beobachtet; es war an einem frühen Herbstmorgen, als Heims
im Bördcnschen einen wandernden Zug sah, der aus mehreren Tausenden bestand.
Dieses massenhafte Auswandern aus einem sehr ausgedehnten Bezirk, viele
Jahre lang und immer nnr nach einer Richtung, kann nicht auf Verabredung
und ans freier Überlegung beruhen, sondern muß als eine gezwungne, instinktive
Handlung aufgefaßt werden.
Wie jeder Tierart unweigerlich ihre Lebensart vorgeschrieben ist, erkennen
wir unter anderm, wenn wir die zweier sehr nah verwandter einheimischer
Säugetiere betrachten, die des Hasen und die des Kaninchens; beim Hasen
spielt sich das ganze Leben auf der Erdoberflüche ab, das Kaninchen lebt in
unterirdischen Gängen; das umgekehrte kommt niemals vor, dem Tier bleibt
eben keine Wahl.
Das Leben der Vögel bietet eine ganze Reihe von Erscheinungen, die
nur auf einen Instinkt zurückgeführt werden können. Zur Aufnahme der
Eier und zur ersten Pflege der Jungen werden Nester gebaut; zur Zeit der Ab¬
legung der ersten Eier steht das Nest fertig da, und jede Vogelart baut ihr
Nest an einen bestimmten Ort und in eiuer bestimmten Form; diese Gesetz-
müßigkeit geht so weit, daß ein Vogelkenncr nach der Bauart des Nestes und
dem Orte, wo es steht, erkennen kann, welchem Vogel es gehört. Ein junges
Vogelpaar, das den ersten Frühling und die erste Fortpflanzungsperiode er¬
lebt, kann unmöglich wissen, wozu es den Nestbau beginnt; es müßte von
ältern Vögeln, die diese Periode schon erlebt haben, gehört haben, daß ein
Nest zur Aufnahme der Eier dcmnüchst notwendig sein werde. Viele aber
würden es nicht glauben und den Nestbau unterlassen oder ihn unzweckmäßig,
in beliebiger Form, aus beliebigem Material, an beliebigem Ort anlegen;
alle Vogelarten bauen aber gleichmüßig und zur rechten Zeit.
Unser einheimischer Kuckuck baut kein Nest, sondern legt seine Eier in
fremde Nester; während die Vögel sonst gegen Störungen ihrer Nester sehr
empfindlich sind und manche ihre Eier schon verlassen, wenn sie nur von Menschen¬
hand berührt sind, dulden die kleinen Singvögel es, wenn ein Kuckucksweibchen
einige der Eier aus ihrem Neste wirft und ein fremdes El hineinlegt; sie
lassen dieses im Neste liegen und bebrüten es wie ihre eignen. Ist später der
junge Kuckuck ausgebrütet, so wirft er um auch die übrigen jungen Vögel aus
dem Neste und nimmt dieses allein ein, die Alten aber füttern ihn mit derselben
Aufopferung, als wären es die eignen Jungen.
Auch das Bebrüten der Eier geschieht zwangsweise eine gewisse Anzahl
von Tagen; das Weibchen brütet oft noch ruhig weiter, nachdem ihm alle
Eier aus dem Neste genommen sind, bis die Frist abgelaufen ist. Man hat
sogar Hennen auf einer zusammengelegten, groben, eisernen Kette und auf
einem alten Noßkmnme ruhig weiterbrüten sehen. Der instinktive Trieb zum
Brüten dauert nur eine gewisse Anzahl von Tagen, und wenn nach deren
Ablauf die jungen Vögel nicht ausgeschlüpft sind, verläßt der Vogel das Nest.
Altum legte die Eier der Kronlande (6cmrs. voror^ta) einer Haustaube unter,
die aber nach siebzehn Tagen das Nest verließ; die Eier der Kronlande aber eut-
wickeln sich viel langsamer als die der Haustaube, und Altum erreichte seinen
Zweck erst dadurch, daß er die genannten Eier zwei Haustauben nachein¬
ander zum Bebrüten unterlegte.
Der indische Hornvogel (Luesros) brütet in hohlen Bäumen; das Weibchen
mausert sich während der Brutperivde, und da es in diesem Zustande wehrlos
ist, manert es das Männchen, um es zu schützen, ein. Aus Erde, verfaultem
Holz und seinem Speichel bereitet das Männchen einen Mörtel, mit dem es
das Loch im Baumstamme zumauert; es läßt nur eine kleine Öffnung, aus
der das Weibchen seinen Schnabel vorstecken kann.
Ebenso wie das Bebrüten der Eier dauert auch das Füttern der Jungen
im Neste nur so lange, wie der instinktive Trieb dazu anhält, bei jeder Vogel-
art eine gewisse Anzahl von Tagen; nimmt man junge Vögel aus dem Nest
und setzt sie in einen Bauer, so kommen die Alten heran und füttern die
Jungen durch die Stäbe hindurch, aber nur so lauge, als die Fütterung im
Freien dauern würde; befreit man jetzt nicht die Jungen, so lassen die Alten
sie verhungern. Der Fregattvogel atzt seine Jungen in der Weise, daß er
verschlungne Ncchruug vor dem auf der Erde stehenden Neste auswürgt; er
thut das auch dann, wenn das Nest keine ausgeschlüpften Jungen, sondern
faule Eier enthält.
Der Gesang der männlichen Vögel ist im Freien an die Fortpflanzungs-
zeit gebunden, er ist ein Lockruf für das Weibchen und dient zugleich dazu,
die von den einzelnen Vogelscharen bewohnten Bezirke gegeneinander abzu¬
grenzen; den Gesang der Nachtigall hören wir nur im April, Mai und Juni,
der Vogel kann nicht singen, wenn er will. Die Fortpflanzungszeit nicht nur
der Vögel, sondern des gesamten Tierreichs ist im Gegensatz zu der des
Menschen an ganz bestimmte Jahreszeiten gebunden. Verläßt der junge
Vogel sein Nest, so kann er sofort fliegen und braucht es nicht erst zu lernen,
wie das Kind das Gehen langsam und mühsam erlernen muß.
Sind in einem Jahre bestimmte Samen und Beeren besonders reichlich
gewachsen, so finden sich unfehlbar die Vogelarten massenhaft ein, die von ihnen
leben; der Kuckuck frißt mit Vorliebe behaarte Raupen, und wo ein Eicheu-
bestand von den haarigen Raupen gewisser Nachtschmetterlinge bedroht wird,
stellt er sich zu deren Vertilgung in Mengen ein, während er sonst mir
einzeln lebt; nur der Instinkt kann die Vögel in Mengen in solche Gegenden
führen.
Die meisten Vögel verlassen uns im Herbst und kommen im Frühling
wieder. Sie ziehn nach dem Süden, weil sie bei uns im Winter verhungern
würden; sie ziehn zu einer Zeit, wo das Wetter noch milde, und Nahrung
in Fülle vorhanden ist, ohne Kenntnis der Temperaturverhültnisse, des Jahres¬
wechsels, der geographischen Verhältnisse. Man hat gemeint, die jungen
Vögel würden hierin von den alten mitgenommen, und so werde der Wander¬
trieb von Generation zu Generation verbreitet. Das ist aber nicht richtig;
die jungen Vögel, die im laufenden Sommer ausgebrütet sind, eröffnen den Zug.
Der große Oruithologe Gätke auf Helgoland hat beobachtet, daß die meisten
Vogelarten in der Weise ziehn, daß die Jungen den Zug eröffnen und ihren
Eltern vorauseilen; bei den Staren ziehn die in demselben. Jahre ausgebrüteten
Jungen Mitte Juni, die Alten Mitte September. Dadurch wird der Zug der
Vögel noch rätselhafter, als er es ohnehin schon ist, denn die vorauseilenden
Jungen ziehn in eine Gegend, die ihnen völlig unbekannt ist.
Aus dem Nest geuommne und aufgezogne Vögel, Blaukehlchen, Pirole,
Nachtigallen, Kuckucke, Würger, Schwalben, Wachteln werden zur Zeit des
Herbst- und Frühlingszuges ihrer Art außerordentlich unruhig; sie fliegen
gegen Wände und Decke des Käfigs, toben und stoßen sich wund, und diese
Unruhe legt sich erst, wenn die Zugzeit der Art vorüber ist. Die Vogelzüchter
nennen diesen Zustand das Zugfieber, das sich bei den Arten, die in der Nacht
ziehen, auch in der Nacht einstellt. Die Tiere können sich durch ihr Ungestüm
töten.
Bei dem Zug der jungen Vögel nach dem Süden muß es sich um einen
Sinn handeln, der sie leitet, der uns gänzlich unbekannt ist. Dasselbe gilt
von den Brieftauben, die, uach einem fremden Ort gebracht, in ihre Heimat
zurückfliegen. Sie legen dabei oft gewaltige Strecken zurück; so flogen sie von
Paris bis Brüssel 310 Kilometer,' von Madrid bis Brüssel 1385 Kilometer,
von Berlin bis Köln 500 Kilometer, von Madrid bis Lüttich 1600 Kilometer;
von den Sinnen, die sie auf dem Fluge leiten könnten, wäre nur an Gesicht
oder Geruch zu denken, aber die können bei solchen Entfernungen nicht in
Frage kommen.
Die Vögel erkennen ihre Feinde instinktiv. Lenz beobachtete, wie zwei
junge, aus dem Nest genommne Bussarde über Blindschleichen und Ringel¬
nattern gierig herfielen und sie töteten, sich aber ängstlich und mit gesträubtem
Gefieder in die äußerste Ecke des Zimmers zurückzogen, als eine Kreuzotter
in das Zimmer gelegt wurde; Erfahrungen über den Kreuzotterbiß konnten
die Nestlinge noch nicht gemacht haben. Altuiu beobachtete am Strande der
Ostsee eine große Anzahl Schwimmvögel, Enten, Taucher usw., als er in der
Ferne einen großen Raubvogel heranfliegen sah und sich im Geiste die Ver¬
wirrung vorstellte, die der Räuber unter den überraschten Vögeln hervorrufen
würde. Zu seinem Erstannen aber blieb alles ruhig, der Raubvogel zog seine
Kreise über den Wasservögeln, die ihn gar nicht beachteten, bis er plötzlich
herabschoß und mit einer Beute in den Fängen weiterflog, die aber keine Ente,
sondern ein Fisch war. Nun erkannte Altum ihn als einen Flußadler; die
Ruhe der Schwimmvögel kam daher, daß dieser Raubvogel nie warmblütige
Tiere, sondern nur Fische schlägt. Der gelehrte Zoologe wurde hier von den
Tieren beschämt, denen ihr Instinkt sagte, daß sie von diesem Raubvogel nichts
zu fürchten hätten.
Die Frösche und Kröten, auch die, die außerhalb der Fortpflanzungs¬
periode ausnahmslos auf dem Lande leben, wie der Laubfrosch und die ge¬
meine Kröte, legen ihre Eier in das Wasser und leben um diese Zeit in,
Wasser; sie können es unmöglich wissen, daß aus ihren Eiern Kaulquappen
entstehn werden, die nur auf ein Wasserleben angewiesen sind mit ihren
Kiemen und Nuderschwänzen. Unser gewöhnlicher Frosch aber geht im Herbst
wieder in das Wasser, um sich tief in den Schlamm zu wühlen, wo er über-
wintert, und kommt im März regelmäßig wieder hervor, was nur auf einen
instinktiven Trieb zurückgeführt werden kann.
Den Schlangen fehlen die Extremitäten; die Tiere, die ihnen als Nahrung
dienen, bewegen sich viel schneller als sie. Die Kreuzotter würde die Mäuse,
von denen sie lebt, nie einholen können; sie legt sich in den Hinterhalt und
versetzt einer vorbeieilenden Maus einen Biß, bleibt dann ruhig liegeu und
verfolgt die Maus mit den Blicken, die von dem Gift bald gelähmt wird;
dann kriecht sie hinzu und verschlingt ihr Opfer. Die Überlegung, daß, wenn
sie beißt, Gift in die Wunde fließt, die schnell Lähmung und Tod der Maus
zur Folge haben wird, dürfte der Schlange wohl fehlen; ihr Verhalten kann
also nur auf den Instinkt zurückgeführt werden.
Manche Fische, wie der Lachs, leben im Meere und pflanzen sich im
Süßwasser fort. Zu einer bestimmten Jahreszeit, zu Anfang des Sommers,
erscheinen die Lachse in den Flüssen, um hier, und zwar an Stellen, wo das
Wasser sechs Grad Reaumur warm ist, zu bleiben; hier wird der Laich von
dem Rogner abgesetzt und von dem Milchner befruchtet. In einem Wasser, das
acht Grad Reaumur warm ist, entwickeln sich die Eier zwar auch noch, aber
unsicherer; oft müssen die Lachse vom Meere aus hundert Meilen und weiter
wandern, bis sie Stellen in den Flüssen finden, die dnrch kleine Zuflüsse eine kon¬
stante Temperatur von 6 Grad haben. Solche Reisen dauern Wochen und Mo¬
nate lang, und während seines Aufenthalts im Süßwasser nimmt der Lachs gar
keine Nahrung zu sich. Aus deu Eiern schlüpfen Junge aus, die, wenn sie eine
gewisse Größe erreicht haben, die oft sehr weite Reise in das Meer machen, um
hier geschlechtsreif zu werden, was in etwa fünf bis sechs Jahren geschehen ist.
Was die Lachse vom Meere in die Flüsse treibt, wo sie hungern müssen,
wissen wir nicht; ebenso rätselhaft ist das Ziehen der jungen Fische in das
Meer; eine Anleitung dnrch die Alten können sie nicht bekommen, denn die
ziehn nach dem Eiablegen sofort wieder in das Meer zurück.
Umgekehrt liegen die Verhältnisse beim Aal; der lebt im Süßwasser und
zieht im Spätsommer und Herbst in das Meer zur Fortpflanzung. Im ersten
Frühling aber zieht die junge Brut, die Montee, in unzählbarer Menge in
dunkeln Nächten wieder ans dem Meere in die Flüsse, um sich hier zu ver¬
teilen und heranzuwachsen; die Aale des Sttßwassers haben entweder gar
keine oder nur ganz rudimentäre Geschlechtsorgane.
Bei dem Weibchen eines kleinen Süßwasserfisches, des Bitterlings, RKoäsus
KMitrus, bildet sich zur Zeit der Fortpflanzung eine lange Legeröhre; diese
drängt der Fisch zwischen die klaffenden Schalen der Malermuschel, und
hier schlüpfen unter deren sicherm Schutz die jungen Fische aus deu Eiern
und bleiben dort, bis sie den ihnen anhängenden Dottersack verloren haben
und sich ohne Gefahr ins Freie wagen können. Eine freie Überlegung ist
auch hier wohl ausgeschlossen; alle Bitterlinge handeln zwangsweise und in¬
stinktiv so. Der aus den Aquarien bekannte Bernhardskrebs, ?g.Zv.ruf Lsru-
daraus, drängt seinen weichen Hinterleib in ein leeres Schneckengehäuse, meist
ein Luvemum, das er als Wohnung benutzt; eine überlegte Handlung ist das
sicher nicht, denn Krebse denken offenbar überhaupt nichts.
Die Jagdspiuueu beschleichen ihre Beute und kühnen sie mit einem ver¬
giftenden Biß, wie die Giftschlangen; die Netzspinnen weben kunstvolle Netze,
jede Art nicht nach freier Wahl, sondern nach einem für jede Art ganz be¬
stimmten Muster, das ihr durch den Instinkt vorgeschrieben ist; eine Be¬
lehrung durch die Eltern können sie nicht bekommen, denn wenn im Frühling
die jungen Spinnen ans den überwinterten Eiern schlüpfen, sind die Eltern
lange tot. Nicht nur die Art und Weise der Webung des Netzes, sondern
auch, daß sie überhaupt eins weben, ist auf den angebornen Instinkt zurück¬
zuführen.
Unter den Insekten sind es die Ameisen und die Bienen, die von jeher
die Aufmerksamkeit auf sich lenkten durch ihr geordnetes Staatensystem und
ihre kunstvollen Bauten. Die Ameisen bewegen sich außerhalb ihres Baues
auf Straßen, die einen folgen den andern, und sie hinterlassen nach den Unter¬
suchungen Beeses auf ihrem Wege eine Spur, die den nachfolgenden und spater
ihnen selbst als Wegweiser dient; dieser Spur haftet etwas an, was darauf
hindeutet, ob auf diesem Wege etwas zu finden ist oder nicht. Entfernt man
von einer Ameisenstraße, die über Sand führt, eine Sandschicht von einigen
Millimetern, so entsteht auf beiden Seiten eine Stauung. Bringt man in einer
Ameisenstraße eine um 180 Grad drehbare Strecke an und dreht dieselbe um
diesen Winkel, so entsteht ebenfalls an beiden Endpunkten eine Stauung. Die
zum Nest führende Spur kann ferner den vom Nest kommenden nicht als
Wegweiser dienen, die Spur ist also polarisiert; und von der Sinneswahr-
nehmung, die hier in Frage kommt, können wir uns keine Vorstellung machen.
Ein Mitteilungsvermügen haben die Ameisen nicht; die feindliche Reaktion
auf Individuell andrer Nester ist angeboren und wird durch deu Geruchssinn
ausgelöst.
Die Ameisen leben vorwiegend von kleinen Tieren, mit gewissen Arten
aber haben sie ein Freundschaftsverhältnis; diese leben als Gäste in ihren
Bauen, und Janet führt 1246 solcher Arten an, die meistens zu den Küferu
gehören; einige, wie der Keulenküfer, der blind ist, werden nirgend anders
als in Ameisennestern gefunden.
Die Bienen bauen ihre Waben, um sie mit Honig zu füllen, der zur
Ernährung der Larven dienen soll zu einer Zeit, wo diese noch gar nicht
vorhanden sind. Die Bienenkönigin legt die befruchteten Eier, aus denen Ar¬
beiterinnen entstehn, in gewöhnliche Zellen, die unbefruchteten, aus denen die
Drohnen oder Männchen ausschlüpfen, in Buckelzellen; nach der Befruchtung
der Königin durch eine Drohne töten die Arbeiterinnen die sämtlichen Drohnen
in der sogenannten Drohnenschlacht. Entfernt man einen Bienenstock von
seiner Stelle, so fliegen die Bienen, die ausgeflogen waren und nun zurück¬
kehren, an die Stelle des Raumes, wo bisher das Flugloch war; beträgt dabei
die Entfernung des Stockes von seinem frühern Standort mehr als zwei Meter,
so findet sich keine Biene wieder in ihren Stock zurück. Sie folgen bei dem
Rückfluge zum Stock eiuer unbekannten Kraft und fliegen geradlinig auf den
Punkt zu, von dem sie kamen; die Wirksamkeit dieser Kraft erstreckt sich auf
einige Kilometer im Umkreise. Isoliert man eine Wabe mit junger Brut, so
führen die ausgeschlüpften Bienen alle Arbeiten genau so aus wie die im
Mutterstocke. Weder bei Ameisen noch bei Bienen findet man eine Seelen-
thütigkeit, beide lernen nichts neues, alle ihre Handlungen sind instinktiv, oder
wie Beede sagt, reflektorisch; sie handeln rein mechanisch und sammeln keine
Erfahrungen.
Die Schlupfwespen stechen weichhäutige Tiere, besonders Raupen an und
legen in deren Körper ihre Eier; aus diesen entsteh» die Larven der Schlupf¬
wespen, die vom Fettkörper der Raupen leben. Würden die Larven den Darm
und den Magen der Raupen verzehren, so würden diese sofort getötet werden;
so aber leben sie weiter, und erst wenn die Zeit der Verwandlung gekommen
ist, schlüpfen Schlupfwespen statt des Schmetterlings aus der Puppe. Es
giebt Schlupfwespen, die als Larven in Marienkäfern (voczeinsllg.) leben; diese
haben aber eine so harte Körperdecke, daß das Schlupfwespenweibchen sie
nicht mit ihrem Legestachel durchbohren kann, es legt darum seine Eier in
Blattläuse, die Marienkäfer aber fressen Blattläuse, und auf diese Weise ge¬
langen die Schlupfwespcneier in die hartschaligen Käfer.
Die Larve einer Schlupfwespe, lilr^ssg. pörsnasorig,, lebt in der Larve
der Holzwespe, Lirsx, die im Innern der Äste des Nadelholzes lebt. Das
Weibchen der Schlupfwespe umschwärmt einen Ast, worin eine solche Sirex-
lcirve lebt, setzt sich daraus, bohrt seinen Legestachel tief in das Holz und in
die Larve und legt ein El in diese, und zwar immer nur eins. Eine andre
Schlupfwespe, ^.Ar1ot^xu8 Armatus, die wie alle andern Arten in der Lust
lebt, fliegt im Frühling im Sonnenschein an Gebirgsbüchen, in denen die
Larven von Phryganiden leben; sie setzt sich an das Ufer, kriecht von einer
Luftschicht umgeben in das Wusser und sucht hier an dessen Grnnde Phry-
ganidenlarven auf, die sie ansticht, um ihre Eier hineinzulegen.
Es ist klar, daß alle diese Handlungen nicht überlegt, sondern instinktiv
sind, ohne die die Art zu Grunde gehn würde, denn die Larven der Schlupf¬
wespen können im Freien nicht leben. Dasselbe gilt von den weiblichen Bremsen;
sie legen ihre Eier an die Haut von Rindern und Pferden. Diese lecken sie
ab, verschlucken sie, und im Magen entwickeln sich die Larven; nachdem diese
ausgewachsen sind, werden sie mit den Exkrementen nach außen geführt, wo
sie wieder zu geflügelten Insekten werden. Andre Bremsen stechen die Haut
bon Säugetieren an, um ihre Eier hineinzulegen, und unter der Haut entwickeln
sich dann die Larven.
Das Weibchen des Mniwurmes oder Ölkäfers, Rökos xroseÄrg-basus,
^ge seine Eier an blühende Gewächse; die auskriechenden kleinen Larven be¬
geben sich die Blüten, und wenn diese von Honig sammelnden Bienen be¬
sucht werden, klammern sie sich an deren Körper fest und lassen sich mit
Ut die Bienenstöcke nehmen; hier werden sie von den Bienen mit Honig groß
gezogen und machen ihre Verwandlung durch. An Schmetterlinge, Hummeln,
Käfer, Vlumensliegen klammern sich die Larven nicht; nnr der Instinkt kann
sie und die Eier legenden Käferweibchen leiten.
Die Schmetterlingsweibchen legen ihre Eier immer an die Pflanzen, für
wie Art oft nur eine einzige, die der ausschlüpfenden Raupe als Nahrung
dient; der Schmetterling kann aber weder wissen, daß aus den Eiern Raupen
entsteh», die Nahrung bedürfen, noch auch, daß die Pflanze, die er gewählt
hat, gerade die richtige ist.
Nur eine instinktive Handlung kann es sein, wenn Raupen sich in die
Erde einwühlen, um sich hier zur Puppe zu verwandeln; die Raupe von
Latnriüg. viirxini spinnt sich eine Puppenhülle, die am Kopfende eine Öffnung
hat, die von einem Kranzreife nach außen konvergierender Borsten eingefaßt
ist; umgekehrt wie bei dem Schlupfloch einer Mausefalle kann der ausschlüpfende
Schmetterling das Gespinst verlassen, von außen aber kann kein Tier ein¬
dringen; in bewußter Absicht wird dieses Werk sicher nicht angefertigt.
Die Raupen gewisser Nachtschmetterlinge (?8^<zlnz) bauen sich chlindrische
Röhren, in denen sie leben; nur der Kopf und die vordern drei Leibesringe
mit den sechs Beinen sehen vorn heraus. Kommt die Zeit der Verwandlung
zur Puppe, so spinnt die Raupe die Röhre an einem Baumstamm oder einem
Steine fest, sodaß diese vorn geschlossen ist. Dann kehrt sie sich in der Röhre
um, sodaß ihr Kopf uach unten, dem offnen Ende der Röhre, sieht; so ver¬
wandelt sie sich zur Puppe, und später schlüpft der Schmetterling aus dem
untern Ende der Röhre aus. Dieser Vorgang ist ja an sich äußerst einfach
und doch sehr bezeichnend für eine notwendige, instinktive Handlung. Würde
die Raupe in ihrer ursprünglichen Lage bleiben, so würde der Schmetterling,
der die verschlossene Öffnung der Röhre vor sich und die leere Puppenhülle
hinter sich Hütte, hier sterben müssen; es ist nicht etwa Luftmangel, der die
Raupe zum Umdrehn nötigt, denn die Raupen atmen nicht durch den Mund,
sondern dnrch am Hinterleibe angebrachte Atemlöcher oder Stigmen. Bis
herab zu den niedrigsten Tieren beobachtet man unerklärliche, instinktive
Handlungen, bei den einzelnen Arten besondre, die geeignet sind, die Art zu
erhalten im Kampf ums Dasein und sie fortzupflanzen, sogar bei den so
niedrig stehenden Eingeweidewürmern. Diese gelangen meistens zufällig mit
der Nahrung in Magen und Darm der Wirbeltiere, um hier, wenn sie in das
richtige Wohntier gelangt sind, weiter zu leben. Sehr zahlreiche Arten aber
wandern selbständig aus Magen und Darm aus, um sich in andre Organe
zu begeben; so findet man gewisse Arten nnr in der Augenhöhle, in der
Nase, bei Fischen an den Kiemen und an den Schuppen, unter der Haut, in
der Brusthöhle, in der Bauchhöhle, im Kehlkopf, in den Verzweigungen der
Luftröhre, in der Gallenblase, im Herzen, in den Adern, in den Lymphgefäßen,
in den Muskeln, im Nierenbecken, in der Harnblase, unter der Haut. Wenn
sie in dieseni Organ angekommen sind, bleiben sie dort; jede hat ihren be¬
stimmten Wohnsitz. Kenntnisse in der Anatomie des bewohnten Tieres können
die Parasiten aber nicht haben, und so können wir das Aufsuchen eines be¬
stimmten Organs nur für eine instinktive Handlung ansehen. Die Reihe der
hier mitgeteilten Beobachtungen ließe sich leicht vermehren, aber sie genügt,
zu zeigen, daß den Tieren ein bestimmtes Wissen und Können angeboren ist,
das sie zwingt, so und nicht anders zu handeln; jede Art lebt nach ihrer
besondern Regel. Eine Geschichte des Wissens und Könnens giebt es für sie
nicht; die Handlungen bleiben sich bei jeder Art immer gleich, die Bienen
haben in urvordmklichen Zeiten genau dieselben Zellen gebaut wie heute. Die
Tiere können für ihr Leben in der freien Natur nichts lernen; alle ihre Hand¬
lungen sind instinktiv.
Versteht: können wir das Wesen des Instinkts nicht; das kann aber nicht
befremden, denn bei unserm Studium der Naturerscheinungen stoßen wir überall
ans eine Grenze, wo es heißt: Bis hierher und uicht weiter. Man hat
die Erscheinungen der Elektrizität kennen lernen, man erzeugt elektrische Kraft
durch das Experiment und gebraucht sie zur Erzeugung von Licht, Wärme,
Kraft, zum Telegraphiere!:, zum Telephonieren, zur Elektrolyse; aber das
Wesen der Elektrizität ist völlig unbekannt. Welche Veränderungen in dem
Leitungsdrahte während des Telephoniereus vor sich gehn, weiß man nicht,
issnoramus et ig'norMinus.
Im Gegensatz zum Tier hat der Mensch kein angebornes Wissen und
Können; ein junges Menschenkind ist, allein in die Welt gesetzt, vollkommen
hilflos. Es muß, um besteh» zu können, von den ältern und erfahrnen
Menschen jahrelang lernen. Die Menschheit hat eine Geschichte ihres Wissens
und Könnens; zur alten Steinzeit lebte sie in Höhlungen, hatte keine Haus¬
tiere, trieb keinen Ackerbau und lebte nur von der Jagd; der Gebrauch der
Metalle war unbekannt, die Waffen bestanden aus Fliutstein, Horn und Knochen.
Von da an ist das Wissen und Können langsam aber stündig gewachsen, und
eine Generation überträgt es auf die folgende, die ihrerseits wieder neues
hinzufügt. Daraus erkennen wir, daß der Mensch geistige Fähigkeiten hat,
die das Tier nie erlernt, und andrerseits das Tier angeborne, instinktive
Fähigkeiten hat, die dem Menschen fremd sind. Die seelischen Eigenschaften
der Menschen und der Tiere sind also nicht nur quantitativ, sondern qualitativ
verschiede», und darum ist der Mensch kein höher entwickeltes Tier; das
Darwin-Häckelsche Affenevangelium, das solches lehrt, muß demnach als ein
unbewiesenes, irrtümliches Dogma zurückgewiesen werden.
> cihrend die Totenopfer für die tote Tote-Asse-Ausbeutnngsgesellschaft
in Form mehrerer Pursche dargebracht wurden, saßen Wandrer und
Drillhose im Hintergründe bei einander. Drillhose hatte keine Freude
I ein Pokulieren, sondern sah sorgenvoll in die Zukunft.
Herr Wandrer, sagte er, es geht nicht. Ich kann meine Leute
^! nicht beisammen behalten. Der Verdienst mit dem Musikmachen allein
ist zu klein. Wenn man nur sonst noch etwas hätte.
Ich habe etwas, antwortete Wandrer und erzählte sein Projekt, eine Zement-
f"brik zu erbauen. Dus Material liege da, Kohlen seien in der Nähe zu habe»,
die Öfen stünden schon, Klapphoru fabriziere die Fässer, es seien nur noch einige
Holzbaracken zu bauen, eine Lokomobile aufzustellen und Mühlen anzuschaffen. Das
fertige Produkt könne auf der Asse verschifft und in Altum verladen werden. Damit
könne man ein halbes Hundert Leute beschäftigen. Da nun die Herstelluugsbedin-
gungeu überaus günstig seien, so könne man darauf rechnen, die Konkurrenz zu schlagen
und ein gutes Geschäft zu machen.
Drillhose hörte mit aufgerissenen Augen zu und sagte: Dieses ist, wie mein
Schwiegervater sagen würde, die erste und dritte Potenz, Koppschenie und Dusel.
Und für den Ellbogen wollen wir schon sorgen.
Drillhose, sagte Wandrer, es giebt noch eine vierte Potenz, die heißt Geld,
und ohne diese kommen wir auch mit Koppschenie und Ellbogen nicht weit. Aber am
Gelde fehlt es. Sie wissen es, Drillhose, wir sind allesamt mit dem Werke verkracht.
Ach, Geld! erwiderte Drillhose in geringschätzigen Tone. Geld ist allemal da.
Soviel Geld nötig ist, die paar Buden zu bauen, können Sie jederzeit von mir
haben, Herr Wandrer. Allzuviel ist es ja nicht, was ich habe, aber Ihnen gebe ich es
unbesehens.
Drillhose, sagte Wandrer, Sie sind ein braver Mann. Sie leisten vielen
Leuten, auch Ihren Leuten damit einen großen Dienst, und das wird man Ihnen
danken. Aber bedenken Sie, jedes Geschäft ist mit Risiko verbunden. Offen ge¬
standen, ich möchte nicht in die Lage kommen, mir vielleicht später Vorwürfe machen
zu müssen, daß Sie mir Ihr Vermögen anvertrauten, und ich hätte es nicht hindern
können, daß es verloren ging. Aber ich will Ihnen einen Vorschlag machen, treten
Sie selbst in die Firma mit ein.
Ach nein, Herr Wandrer, entgegnete Drillhose, ich will Ihnen alles bauen
und einrichten, auch die Rutschbahn nach der Asse hinunter, und darauf freue ich
mich am meisten, aber Kaufmann werden, Bücher schreiben, nein das kaun ich nicht.
Ich habe nun einmal Musikautenblut im Leibe. Und Sie, Herr Wandrer, dürfen
auch nicht in der Zementquetsche stecken bleiben, das ist zu klein für Sie.
Sie haben gut reden, sagte Wandrer, wenn das Große flöten geht, muß man
sich mit Kleinem begnügen.
Drillhose rückte näher heran und sagte geheimnisvoll: Nichts geht siste», Herr
Wandrer. Wenn man es nur richtig anfängt, so ist das Werk immer noch zu retten.
Wissen Sie es denn richtig anzufangen?
Ich wüßte es schon. Nur, wenn unsereins was sagt, dann sind sie neunmal
klüger und lachen eine» aus und sagen: Was kann so ein Blechpfeifer von der
Sache versteh«. Aber glauben Sie mir, Herr Wandrer, die Sache geht. Ich habe
es schon im kleinen versucht, und manchmal findet ein alter Praktikus auch einmal
etwas, was die gelehrten Herren nicht gefunden haben. Aber eine große Menge
Zement kostets freilich.
Eine große Menge Zement! Dasselbe Wort, das der Direktor gebraucht hatte.
Jetzt wurde Wandrer aufmerksam. Er erinnerte sich dessen, was Wenzel über die
Rettung eines ertrunknen Werkes in Ungarn gesagt hatte. So? Zement? Wo wissen
Sie denn das her?
Selber gefunden, Herr Wandrer, selbst gefunden und ausprobiert. Sie können
sich drauf verlassen, die Sache geht. Aber sagen Sie niemand etwas, ehe wir
nicht ein paar tausend Zentner Zement liegen haben. Und dann machen wir ein
Bombengeschäft.
Wandrer war sehr erfreut. Hier boten sich ihm zwei Chancen auf einmal.
Erstens, einen Abnehmer in Heinrichshall zu finden, der die Fabrik mit einem
Schlage in die Höhe bringen mußte, und zweitens, die Möglichkeit, das Werk zu
retten, wodurch gewisse, in den Brunnen gefallne Kuxe wieder Wert gewannen-
Wandrer versprach also am nächsten Tage Drillhoses Versuche anzusehen und ver¬
ließ HaPPichs Saal mit der stolzen Genugthuung, daß Koppschenie und Ellbogen, be¬
sonders wenn Dusel und das nötige Kleiugeld hinzukommen, zuletzt doch noch nach
oben kommen. Er kam sich vor wie ein Schiffer, der mit seinem Schiffe auf Grund
geraten war, der sich lauge vergeblich bemüht hatte, es flott zu machen, und der
nun endlich fühlt, wie es frei wird und schwimmt — ein Gefühl unsäglicher Er¬
leichterung und mir dem zu vergleichen, das er gehabt hatte, wenn Meister Klimbim
Schulschluß läutete. Und Wen hatte er auf seinen! Schiffe? und wer würde an seiner
Seite stehn, wenn es nun los ging in glücklicher Fahrt? Seine Ellen, nun nicht
mehr eine unpersönliche Tante, sondern ein sehr persönliches Schnucki.
Am nächsten Tage besichtigte Wandrer die Versuchsstation Drillhoses, Drill¬
hose hatte weite Zementröhrcn, wie man sie zum Knnalbau braucht, senkrecht über¬
einander gebaut und mit Wasser gefüllt, indem er durch eine Röhre Wasser unter
Druck von unten hineintreten ließ. Durch eine zweite Röhre, die den Stollen auf
Sohle zwei vorstellte, lies; er gleichfalls Wasser einstieße«. Denn er war der Meinung,
daß man mit der Möglichkeit rechnen müsse, daß der Wasserznfluß nicht bloß von
des Teufels Spundloch komme, sondern auch aus der Sohle des Schachtes, die in
dasselbe schräg gelagerte Geklüfte führte, in das Sohle zwei geraten war. Nun
hatte er die Erfahrung gemacht, daß wenn man ein Gemisch von Zement und
Sand von oben hineinschütte, dieser Zement nicht schnell genug erhärte, vom Wasser
ausgespült werde, und daß die untere Quelle immer wieder durchbreche. Erst als
er die Mischung in Säckchen gefüllt und diese Säckchen hinuntergelassen und in
mehreren Lagen ordentlich auseinandergelegt hatte, gelang es, den Wasserzufluß zu
hemmen. Dann wurde so lange Zement mit Sand gemischt — im großen sollte
Belon, das heißt eine Mischung kleiner Steine und Zement genommen werden —
aufgefüllt, bis man Sohle zwei erreichte und schloß. Und dann war es etwas
leichtes, den Nest des Wassers nuszupnmpen. Aber freilich, viel Zement würde es
kosten. 1600 Kubikmeter Belon mindestens.
Wandrer klopfte Drillhosc auf die Schulter und sagte: Drillhose, Sie sind
auch ein Juwel. Nun aber, wie Taute Ellen sagte, keine Müdigkeit Vorschüben!
Wandrer erbat sich Urlaub von Heinrichshall. Der Urlaub wurde ihm nicht
gewährt, wohl aber wurde ihm erlaubt, seiue freie Zeit in eignen Interesse zu
verwende». Schnell waren einige Holzbilder ans dem Kirschbcrge erbaut, eine
Lokomobile wurde hinausgeschafft, und Mühlen wurden gekauft. In die Arbeiter¬
schaft kam neues Leben, alle drängten sich heran nud wollten Arbeit haben, aber
freilich konnte znnnchst nnr ein Teil von ihnen berücksichtigt werden. Drillhose war
die Seele von allem, kommandierte, wie es Rummel nicht besser gekonnt haben
würde, zeichnete, bastelte und heute nach Herzenslust. Alles griff mit Eifer zu,
und die Fabrik stand dn wie hingeblasen, und ehe der letzte Schnee vom Böhnhardt
verschwunden war, war sie im Betriebe. Alte Schienen und Kippkarren, die ans
dem Werke unter dem alten Eisen lagen, hatte man für ein billiges gekauft, und
Feldeisenbahnen von der Kohlengrube und den Steinbrüche» bis zu den Ofen gebaut.
Einige hundert Meter alten Förderseils hatte man gleichfalls gekauft, und Drillhose
hatte uns diesen Seilen und Holzstämmen, die der Wald hergeben mußte, eine
Schwebebahn gebaut, die an der Fabrik begann und den Berghang hinab bis zu
der Stelle führte, wo einst die Tote-Asse-Ansbeutungsgcscllschaft ihr Thaten gethan
hatte. Diese Bahn war so verschmitzt eingerichtet, daß sie ganz von selbst arbeitete,
und während die vollen Zementfässer in Kübeln hinabschwebten, beförderte deren
Last die leeren Kübel wieder hinauf. Auf der Asse lagen flache Prähme, die man
Ugendwo gekauft hatte, und die nun die Fässer auf der Asse bis nnter die Eisen-
bahubrttcke von Altum trugen, wo sie durch den dort stehenden Kran bis in die
Meubnhnwagcn gehoben wurden. Tag und Nacht rauchten die Kalköfen, und Tag
und Nacht drehten sich die Mühlen und bedeckten alles im Umkreise mit einem
bläulichweißen Staube. Zur Verschönerung der Gegend trug dies nicht gerade bei.
wie mich der Rauch der Öse», der allerdings wie Pech und Schwefel roch, den
Aufenthalt auf dem Kirschberge nicht angenehm machte. Aber das half nun nichts,
^eit mehr noch als an Zement nach Altum verfrachtet wurde, wurde in einem
großen Lagerraum untergebracht, und es währte nicht lange, so war der Raum
bis unter die Decke mit Fässern angefüllt. So wollte es Drillhose habe», und
davon ließ er nicht ab, obgleich man ihm vorhielt, das Geschäft sei noch zu jung,
als daß es sich in Spekulationen einlassen dürfe.
Wandrer hatte Proben seines Zements nach Charlottenburg zur Prüfung ein¬
gesandt und ein ausgezeichnetes Zeugnis erhalten. Er sorgte dafür, daß dieses
Zeugnis in den Fachblättern bekannt gemacht wurde, suchte Eisenbahnbauämter und
Bauunternehmer auf und erreichte, daß sein Geschäft, da sein Produkt vortrefflich
war, und er billiger als andre liefern konnte, schnell in Flor kam.
Währenddessen gestaltete Ellen ihr Laboratorium zum Kondor um. Die Flaschen
und die chemischen Geräte räumte sie nicht weg, sondern stellte sie wohlgeordnet im
Hintergrunde auf — Klappern gehört zum Handwerk, sagte sie —, zog Schreib¬
ärmel an, besorgte die Korrespondenz und führte die Bücher, wozu ihr Wandrer
Allweisungen gab, die sehr ausführlich gewesen sein mußten, denn sie nahmen er¬
staunlich viel Zeit in Anspruch.
Im Gemüsegarten des Fronhofes standen ganze Türme von leeren Fässern,
die Klapphorn mit Hilfe einiger Gesellen gebaut hatte.
Wenn die gnädige Frau einmal die Rückseite ihres Besitztums einer Besichtigung
würdigte, so sah sie diese Gebäude aus Fcisseru mit staunender Bewundrung durch
ihre Lorgnette an. — Aber mein Gott, sagte die gnädige Frau, zu was soll den»
diese Unmasse von Fässern?
Zu Zement, Mama, antwortete Ellen.
Zement? Was ist eigentlich Zement? fragte die gnädige Frau.
Zement, Mama, ist ein Steinleim, sagte Ellen mit wissenschaftlichem Ernste,
mit dem man alte, würdige, aber wacklig gewordne Häuser wieder zusammenpappt.
Zum Beispiel den Fronhof.
Mama war mit der Antwort nicht ganz zufrieden. Sie hatte die Empfindung,
daß sie Ellen nur halb verstanden habe.
Alles war im besten Gange, und alle waren Wohl zufrieden mit Ausnahme
von Wandrer, der seine unklare und unsichre Stellung zwischen Heinrichshall und
der Zemeutfabrik Peinlich empfand. Ja, wenn Wenzel noch dagewesen wäre! Aber
Wenzel war verschwunden, und das Werk wurde, soweit etwas zu dirigieren war,
von Berlin aus geleitet. Er selbst nahm die Stellung eines höhern Hausmanns
ein, um Auskunft zu erteilen und unbequeme Besucher abzuweisen. Doktor Olbrich,
Lehmbrand, Rummel, Hegelmeier, alle waren fortgezogen. Wie lange konnte es
dauern, dann kam auch er an die Reihe.
Es dauerte auch nicht lange, so erschien der alte abscheuliche Justizrat, wie
ihn Lydia genannt hatte. Es war ein seiner alter Herr, der freilich die nicht
berechtigte Liebhaberei hatte, junge Mädchen in die Backen zu kneifen. Der Herr
Justizrat war sehr freundlich Wandrer gegenüber und machte ein großes Aufheben
von den Verdiensten, die sich Wandrer um Heinrichshall erworben habe, und wie
man in der Zeit des Streiks gar keinen bessern Vertreter hätte haben können
als ihn. Was das Ende der Rede sein würde, erkannte Wandrer sogleich, ein
großes Bedauern und die Kündigung. Da er es nun dankbar anerkannte, daß
man ihn nicht mit kühlen Worten brieflich gehn geheißen habe, und da es dem
Herrn Justizrat sichtlich schwer wurde, auf das besagte Ende zu kommen, so kam
Wandrer ihm entgegen und bat den Herrn Justizrat, ihn zu entlassen; es sei jetzt
nichts mehr für ihn zu thun da. Der Herr Justizrat sprach sein allergrößtes
Bedauern aus, aber willigte ein und versprach zu vermitteln, wenn Wandrer eine
neue Stelle suche. Er möchte doch ins Ausland gehn, da sei noch etwas zu machen.
Wandrer dankte und erwiderte, es habe sich für ihn schon eine Beschäftigung ge¬
funden, das Zementwerk bei Holzweißig, und er fühle gar keine Lust, wieder ins
Ausland zu gehn.
Hören Sie, Herr Wandrer, entgegnete der Justizrat, das ist nichts für Sie.
Sie müssen einen weitern Arbeitskreis haben. Schade, daß unser Werk verloren
ist, Sie wären der gewiesene Nachfolger für Wenzel gewesen. Nein nein, Sie müssen
heraus aus diesem Winkel. Oder werden Sie vielleicht von zarten Ketten gehalten?
Wandrer konnte es nicht verhindern, zu erröten.
So! so! sagte der Justizrat, sehen Sie mal an! Gratuliere und wünsche, daß
es leidlich goldne Ketten sein möchten. Glaube» Sie mir, Herr Wandrer, Geld
Geld, Geld ist doch schließlich das Fundament von allem. Ohne Geld geht es heut¬
zutage nicht.
Man schüttelte sich die Hände zum Abschiede. Da sagte Wandrer: Herr Justiz¬
rat, ich halte mich für verpflichtet, Ihnen noch mitzuteilen, daß ich Kenntnis von
einem Verfahren habe, durch das das Werk doch noch gerettet werden könnte. Der
Herr Justizrat machte eine ungläubige Miene, war aber doch sehr gespannt und
ließ sich von Wandrer das Drillhvsische Verfahren auseinandersetzen. Während
dies Wandrer that, hörte er in seinem Innern die Stimme Wenzels und zwar so
deutlich, als wenn Wenzel im Zimmer gewesen und geredet hätte, und vernahm die
Worte: Wandrer, Sie sind ein Stiefel. Er besann sich und mußte sich sagen, daß
diese innere Stimme nicht ganz Unrecht habe. Denn welchen Grund hatte er, den
Fund Drillhoses auf Treu und Glauben preiszugeben, während man sich den ge¬
bührenden Nutzen sichern konnte? Und so machte er in seinem Bericht eine kühne
Schwenkung und schloß: Es ist hier aber noch ein besondrer Pfiff dabei. Ich
habe jedoch nicht das Recht, das Geheimnis, das nicht mein Eigentum ist, Ihnen
mitzuteilen. Freilich kostet die Sache eine ganze Menge Zement, 1600 Kubikmeter
Belon werden nötig sein.
Und diesen Zement, sagte der Justizrat mißtrauisch, würden wir wohl von
Ihnen zu beziehen haben?
Das nahm ich in der That an, erwiderte Wandrer. Sie werden sich selbst
sagen, daß Sie den Zement nirgend bequemer und billiger haben können, als hier
am Orte. Ob Sie den Rettungsversuch unternehmen wollen, das zu entscheiden ist
natürlich Ihre Sache.
Dies war nun unzweifelhaft richtig, und es schloß sich eine zweite langdauernde
Verhandlung an, deren Resultat war, daß das Konsortium die Kündigung Wandrers
nicht annehme, ihm dagegen unbestimmten Urlaub erteile mit der Verpflichtung,
wieder einzutreten, wenn ihn das Konsortium unter gewissen zu vereinbarenden Be¬
dingungen darum ersuche.
Es kam genau so, wie es Wenzel in seinem ersten lichten Augenblicke voraus¬
gesagt hatte. Die großen Herren vom Bergbau und von der Finanz erkannten zwar
die Idee Drillhoses als brauchbar an, veränderten sie jedoch durch Verbesserungen
und Beschränkungen so sehr, daß sie unbrauchbar wurde. Um Zement zu sparen,
baute man in den Schacht einen engern Schacht hinein, der nicht stehn wollte,
dann teilte man den Schacht durch eine Scheidewand in zwei Hälften und füllte
die eine Hälfte mit Belon aus, worauf die ganze Geschichte einfiel, und verpulverte
in Summa eine Menge Geld, ohne Erfolg zu haben. Ja es hätte nicht viel gefehlt,
so hätte mau den Zement nicht einmal von Wandrer bezogen, nur um die Sache
anders zu macheu, als sie den großen Herren von nicht sachverständiger Seite vor¬
geschlagen war. Aber da sprang der Herr Justizrat dazwischen und verbat sich weitere
Dummheiten.
Der Bau kam also wiederum ins Stocken. Nach geraumer Zeit — in das
Vorratshaus am Knlkbrnche ging auch nicht ein Faß mehr hinein — erhielt Wandrer
einen Brief, der ihn nach Berlin rief. Und als er von dort wieder zurückkam,
hatte er die Stelle eines Direktors in xartibus mliäslinm, das heißt eines Werkes, das
erst noch gerettet werden sollte, übernehmen müssen. Es war ihm gar nicht recht,
gerade jetzt in seinem Zementgeschäft gestört zu werden. Und so gehe es ihm
immer, beklagte er sich Ellen gegenüber, allemal, wenn er in Gang gekommen sei,
werde er ans seinem Gleise herausgeworfen.
Aber Felix, sagte Ellen, du bist ja gerade wie die Frau Pastor Attila, die
unglücklich war und sich beklagte, wieviel sie entbehren müsse, da sie zwei Ein¬
ladungen zu gleicher Zeit erhalten hatte und nicht auf beide Kaffees zugleich gehn
konnte. Freust du dich denn nicht, du närrischer Felix, daß sich die Leute um dich
reißen?
Wandrer freute sich nicht, denn hier traten wirklich ernste Schwierigkeiten
hervor. Bisher war die Fabrik unter dem Namen Wandrers geführt wordeu.
Inhaber einer eignen Fabrik und zugleich Vizedirektor von Heinrichshall sein, das
ging nicht. Er konnte doch auch seinen Zement nicht an sich selbst verkaufen, wenn
es auch mancher andre Direktor ohne Bedenken gethan haben würde.
Wer sollte nun die Firma übernehmen?
Das thue ich, sagte Ellen.
Geht nicht, Schnucki, erwiderte Wandrer, du bist noch ein unmündiges Kind-
lein. Aber deine Mama ist — mündig.
Famos! rief Elleu, Mama muß die Firma übernehmen. Da kann sie wunder¬
schön mit der Lorgnette dirigieren.
Aber sie wird nicht wollen, sagte Wandrer. Denke, so eine adelsstolze Dame.
Hilft ihr nichts, sie muß, sie muß. Laß mich mir machen!
Darauf ließ Ellen in Braunfels Briefbogen von Büttenpapier anfertigen, auf
deren Kopfe schön gestochen das Nienhagensche Wappen und die Aufschrift: Nien-
hagensche Zementwerke zu lesen war. Diese Briefbogen legten Ellen und Wandrer
der gnädigen Fran vor. Aber sie fanden zunächst keine Aufmerksamkeit für ihr
Anliegen. Die gnädige Frau hatte einen Brief in der Hand. Der Brief war
von Aork. Aork schrieb aus Buenos Aires, scheinbar mit Laune. Er schrieb nicht
um Geld. Er schilderte Land und Leute und deutete, was ihn selbst angehe, an,
daß er geschäftlich mit dem Transport von Reisenden und ihrem Gepäck zu thun
habe. Die gnädige Frau stellte sich das als eine Art Reisebureau u. I» Stangen
oder ein Dampferunternehmen vor. Sie hätte ja lieber gesehen, wenn Ivrk Geueral
geworden wäre, gab sich aber auch damit zufrieden, wenn er sich am Großverkehr
beteiligte.
Was ist denn Dorr eigentlich? fragte Ellen Wandrer leise, während die
gnädige Frau den Brief studierte, um weitere Anhalte für ihre günstige Meinung
zu finden.
Wandrer zuckte die Achseln und machte eine bedenkliche Miene.
Hausknecht? fragte Ellen weiter.
Wandrer machte eine noch bedenklichere Miene.
Der arme Dort! sagte Ellen; aber nicht wahr, wir helfen ihm, sobald wir
können?
Wandrer gab seine Zustimmung zu erkennen.
Jetzt legte Ellen ihre Briefbogen vor und sagte: Sieh mal, Mann, ist das
nicht nett? Die Firma und das Nienhagensche Wappen. Macht sich ordentlich
vornehm.
Mama verstand nicht, was sie damit solle.
Das sind deine Briefbogen, sagte Ellen. Du sollst hinfüro der Chef der
Zementwerke sein, wozu du vor allen Dingen diese Briefbogen brauchst.
Aber Kinder! Ich?
Ja du. Einer von uns dreien muß dran glauben. Felix — Onkel Felix
kann nicht, der wird jetzt der kommende Mann in Heinrichshall, ich bin noch ein
BM vorm Gesetz und darf nicht. Also mußt du.
Muß ich? Mein Gott, muß ich?
Ja du mußt. Du brauchst nur zu repräsentiere» und deinen Namen so oft
zu schreiben, als es verlangt wird. Alles andre wird besorgt.
Die gnädige Frau ließ mit leidender Miene die Lorgnette sinken und drückte
ihr Taschentuch an die Augen. Auch das noch. Alle ihre Ideale schwanden dahin,
nichts blieb über von dem vormaligen Glänze des Nienhagenschen Hauses. Man
würde vermutlich noch dahin kommen, einen offnen Laden einzurichten und ihr zu¬
zumuten, Seife zu verkaufen. Nein, sie konnte sich nicht überwinden. Alles, nur
das nicht. Lieber hungern, als Geld verdienen.
Mama, sagte Ellen, denke doch auch an Dorr. Aork braucht sicher Geld, und
wir können es ihm verschaffen, wenn unsre Fabrik gut geht.
Ah, das war etwas andres. Von diesem Gesichtspunkt aus hatte die gnädige
Frau die Sache noch nicht angesehen. Sie betrachtete jetzt die Briefbogen auf¬
merksamer und fand, daß sie nicht übel aussähen, und daß die Firma: Nienhagensche
Werke nicht übel klinge. Ferner erinnerte sie sich, daß Mitglieder des höchsten
Adels in England nicht allein Großindustrielle, sondern auch Hoteliers seien, und
daß Damen der obern Zehntausend sogar Putzgeschäften mit Erfolg vorstünden.
Unter diesen Umständen konnte auch sie für das Wohl ihrer Kinder ein Opfer
bringen — Gott wußte es, wie schwer es ihr wurde —, und so setzte sie seufzend ihren
Namen unter ein Schriftstück, das man ihr vorlegte, und schwebte schmerzbewegt
hinaus.
Ellen und Wandrer blieben zurück.
Ging da die Thür nicht? fragte Ellen. Sie wandte sich um, die Thür war
geschlossen. Aber sie war doch geöffnet worden. Die gnädige Fran hatte herein-
geblickt und überrascht die Lorgnette vor die Augen gebracht, als sie sah, daß Wandrer
seineu Arm um Ellen gelegt hatte, und diese sich an seine Schulter schmiegte. Die
alte Abneigung gegen den Kaufmann wollte erwachen, das aus Haß und Liebe
gemischte Teufelsgebräu, die Eifersucht, die sich auch bei Müttern findet, wenn sie
ihre Töchter fremden Männern geben sollen, wollte mit dunkler Woge ihr Herz
überfluten. Wenn es wenigstens ein Mann von Stande oder allerwenigstens ein
Gelehrter gewesen wäre! Aber dieser — Kaufmann? dieser Viktor Sandmann? Und
einem solchen ihre Ellen geben sollen, Ellen, die so sehr der mütterlichen Ermahnung
bedürfte, um sich auf der Hochlinie des Lebens zu halten! Darauf bezwang sie
ihren Unmut. Ja sie schämte sich, sie bemühte sich gerecht zu sein und anzuer¬
kennen, was anzuerkennen war. Wieviel verdankten sie diesem Manne, sie und ihre
Töchter. Mit welcher Selbstlosigkeit hatte er für sie in schwerer Zeit gesorgt. Was
wäre sie jetzt, wenn er nicht eingetreten wäre und ihr nicht gegen sich selbst Wider¬
stand geleistet hätte. Ja sie hatte ihm schweres Unrecht ubzubitten, und sie konnte
nicht anders als bekennen: Er war treu wie Gold. Und ihre kleine Ellen war
bei ihm in guten Händen.
Darauf wandte sie sich der geschlossenen Thür zu und sagte: Ihr lieben Kinder!
und „segnete sie mit der Lvngschette," wie Klapphorn sagte, durch die Wand
hindurch.
>und Doktor Duttmüller klagte über schlechte Zeiten. Daß ihn die
Knappschaft in seinem Gehalte herabgesetzt hatte, nachdem die Mehr¬
zahl der Arbeiter entlassen worden war, empfand er bitter. Denn
er sah jede Mark, die er nicht verdiente, als einen schmerzlichen Ver¬
lust an. Noch schlimmer war es aber, daß jetzt auch die Gutsbesitzer
»kund sonstigen leistungsfähigen Kunden anfingen, dem Arzte sein Ein¬
kommen nicht zu gönnen. Sie betrachteten offenbar den Arzt als eine Art Luxus-
gegenstand, bei dem mit dem Sparen zu beginnen war, wenn das eigne Einkommen
eine Schädigung erfahren hatte. Durch den Zusammenbruch des Werkes waren
aber nicht bloß die in Mitleidenschaft gezogen, die Kuxe besaßen, sondern direkt
oder indirekt viele Leute der Gegend. Die Stimmung war gedrückt, und das Geld
knapp, und das kriegte der Arzt zu fühlen. — Oder lag es daran, daß man die
überraschende Erfahrung gemacht hatte, daß der Mensch auch ohne Arzt wieder
gesund werde, und daß es eigentlich nicht nötig sei, Doktor Duttmüller zu rufen,
damit er aus einer kleinen Sache eine große Geschichte mache, mit gelehrten Namen
um sich werfe, die Krankheit zum Besten des Apothekers mit teuern Mediziner be¬
kämpfe und dann zum Quartal mit einer gesalznen Rechnung ankomme? Es war
wirklich vorgekommen, daß man sich die häufigen Besuche des Doktors verbat.
Darauf hatte Duttmüller zürnend den Rücken gekehrt, und die Welt war nicht
untergegangen. Solche Fälle hatten tiefen Eindruck auf die leidende Menschheit
der Holzweißiger Gegend gemacht und das Einkommen Duttmüllers geschädigt.
Aber auch Duttmüller selbst war nicht mehr derselbe, der er früher gewesen
War. Er hatte an Erfahrung gewonnen, aber an Glück eingebüßt. Es war ganz
merkwürdig, die interessanten Fälle, die ihm einst auf Schritt und Tritt begegneten,
und die er mit spielender Leichtigkeit, nicht selten bloß mit salicylsauerm Natron
bekämpft hatte, kamen jetzt nicht mehr vor. Sie waren wie von der Erde ver¬
schwunden. Auch fehlte ihm die Unbefangenheit, die er früher gehabt hatte. Er
machte sich Sorgen, weniger um die Patienten, als um ihre Honorare, und mußte
sich eingestehn, daß er in wichtigen Fällen völligen Mißerfolg gehabt hatte, daß
Menschen, denen er das Leben abgesprochen hatte, so rücksichtslos gewesen waren,
munter weiter zu lebe», und daß andre, die er nach allen Regeln der Kunst be¬
handelte, die Undankbarkeit bewiesen, zu sterben. So war er unsicher geworden. Er
wechselte mit seinen Methoden, versuchte dies und das und verschrieb mehr Tropfen
und Pillen und größere Flaschen deun je. Er war sogar nervös geworden, er war
habgierig geworden. Im Mangel erwachsen, aufs Sparen und Schinder von seiner
Mutter von Jugend auf angelernt, war er unvermittelt ein Mann von großem
Einkommen geworden. Darin liegt eine Gefahr. Ein solcher Wechsel kann zur
Verschwendung oder zum Geize führen. Duttmüller war geizig geworden. Er konnte
es nicht schnell genug erreichen, die Hypothek von seinem Hause abzustoßen und ein
reicher Mann zu werden. Als nun magrere Zeiten kamen, als sich neue Konkurrenz
fühlbar machte, verdoppelte er seinen Erwerbseifer.
So wie er dachten aber noch andre seiner Kollegen. Da man sich nun sagen
konnte und auch wirklich sagte, daß mau mit Organisation und Abgrenzung der In-
teressenkreise weiter komme als bei einem Kampfe aller gegen alle, so teilte man sich
unter Vorgang der Braunfelser Spezialisten in die kranke Welt. Somit sandte Dntt-
müller seine Kranken, die zu operieren waren, laut geheimem Vertrage um Professor
Emden. Kam uun ein gewinnbringender Fall vor, so suchte Duttmüller zunächst aus
ihm zu machen, was zu machen war, und darauf sandte er seinen Patienten zu Professor
Emden. Es mußte durchaus Professor Emden sein, ja nicht Dielenschneider oder
Carus, obgleich das ebenfalls tüchtige Chirurgen waren. Denn diese bezogen ihre
auswärtigen Patienten aus andern Orten und von andern Ärzten. Wer sich da¬
gegen auflehnte, wurde hart angelassen und bedroht, er werde keinen andern Arzt
finden, der ihn behandle.
Duttmüller hatte keine Ruhe. Es war, als scheue er den Aufenthalt in seinem
Hause. Er rannte von früh bis zum Abend umher, fuhr von Dorf zu Dorf und
überanstrengte seine Kräfte. War es Nervosität, oder was war es, was ihm einen
so unruhigen, flackernden Blick und ein nun aufgeregtes und nun niedergeschlagnes
Wesen gab?
Kollege, sagte der alte Blume, als er mit Duttmüller in Braunfels im
Ärzteverein zusammentraf, Sie sehen nicht gut aus. Übernehmen Sie sich nicht.
In solchen Zuständen macht man Dummheiten. Nehmen Sie sich vor der Flasche
und andern Reizmitteln in acht. Daran ist schon mancher zu Grunde gegangen.
Duttmüller versicherte, daß er weder Wein noch Vier noch sonst etwas Spiri-
tuoses trinke, aber der alte Blume schüttelte den Kopf und sagte: Kollege, ich habe
Sie gewarnt! Denken Sie an Ihre Gesundheit, und denken Sie an Ihre Zukunft.
Es gab Zeiten epidemischer Gesundheit, und diese wollten Duttinüllern fast
zur Verzweiflung bringen. Endlich besserte sich die Lage. In der Gegend trat
Scharlach ans, auch einzelne Mille von Diphtherie kamen vor. Duttmüller als
wissenschaftlicher Arzt ließ sich sogleich Diphtherie-Serum kommen und war nun im¬
stande, allen Möglichkeiten siegreich entgegen zu treten. Denn es war mit Be¬
stimmtheit anzunehmen, daß sich die Krankheit ausbreiten werde. Es machte auch
wenig Eindrnck auf ihn, daß Doktor Blume eine sorgenvolle Miene zeigte und
sagte: Diese verdammte Diphtherie, wenn man denkt, man hat sie gefaßt, so wechselt
sie ihre Form, und dann wehe, wenn es die grane Diphtherie wird, dann hilft
kein Impfen. Wird schon helfen, meinte Dnttmüller und bemängelte die unwissen¬
schaftliche Form der Darlegung des alten Herrn.
Nach Hanse kam Dnttmüller vor Abend gar nicht mehr. Dann aß er sein
Abendbrot, las seine Zeitung und ließ seiner Übeln Laune freien Lauf, gleich als
wenn er sich zu Hause dafür entschädigen wollte, daß er unterwegs ans Beruf den
Liebenswürdigen spielen mußte. Dnranf zog er sich in sein Zimmer zurück, um
sein Hauptbuch zu führen. Unten wirtschaftete die Dnttmüllcrn, und oben saß Alice
bei ihrer kleinen Julia und spann trübe Gedanken........
In der Nähe der Wohnung des Doktors standen zwei Frauen, die Gräve¬
nitzen und die Lammsdorfcu, ans der Straße und schwatzten. Die Grävenitzen war
aufgeregt, fuhr mit den Armen durch die Luft, drehte den Kopf mach dem Doktor¬
hause und hielt, eine lange Rede, die sich offenbar ans Doktors bezog.
Und das ist auch nicht recht, rief sie, eine Sünde ist es, sagte ich vor sie,
daß der Doktor, die Leute Schindel und ausbeutelt. Und von so einem Manne,
sagte ich, sollte man so etwas nicht erleben. Und ganz besonders, was ein Doktor
ist, der soll gegen die armen Leute nicht so gefährlich sein und ihnen den letzten
Groschen abnehmen, sagte ich. Und wenn eine Frau in Kindsnöten liegt, wie die
Opitzen in Sicbendorf, und man läßt den Doktor kommen, und der Doktor spricht:
Erst will ich Geld sehen, sonst gehe ich nicht hinein, und sie müssen erst ins Dorf
hinein schicken und das Geld znsammenbetteln, das ist eine Schlechtigkeit, is es, sagte
ich, und ist Vor Gott im Himmel nicht zu verantworten. So was thut ja nicht
einmal ein Viehdoktor, sagte ich. Und wenn er Thorgräbers Willy nicht helfen
konnte, sagte ich, dann brauchte er ihn nicht gleich zu Emden zu schicken, wo er
doch gestorben ist. Und nun müssen Thorgräbers ihr Leben lang krumm liegen
für das Sündengeld, das sie Emden geben müssen. Und das Volk ist verraten
und verkauft, sagte ich, und was der eine nicht nimmt, das nimmt der andre.
Das hast dn ihr gesagt? fragte die Lammsdorfen.
Ja, das habe ich ihr gesagt, erwiderte die Grävcnitzen.
Aber Grävenitzen, meinte die Lammsdorfen, was kann denn seine Frau davor?
Das ist doch unser gnädiges Fräulein Alice gewesen, und die ist doch zu den armen
Leuten immer gut gewesen.
Das ist mir egal, sagte die Grävenitzen.
Und was hat sie denn darauf gesagt?
Nichts hat sie darauf gesagt. Sie saß in ihrem Stuhle und hielt mir ihr
Portemonee hin, ich Habs aber nicht genommen. Nein ich Habs nicht genommen.
Alois Dnttmüller, sagte ich, was der Alte ist, zu dem sie Kümmelmüllcr sagten, sagte
ich, das war ein andrer Mann, der drückte die Armut nicht, der nahm, was sie
ihm gaben. Was aber Louis Dnttmüller ist, Pfui Teufel, sagte ich, der treibt es
arger wie ein Jude. Und den Brief, den er für Schrank Wilhelm geschrieben hat,
den sie mit Schrank Wilhelm seiner Frau zu Doktor Emden mitnehmen sollten, den
habe ich wieder hingebracht und habe ihn ihr vor die Füße geschmissen. Euern
Uriasbrief, sagte ich, den bestellt euch selber.
Aber Grävenitzen, hast du denn kein Gefühl? Die arme Frnn. Das muß
sie doch kränken, und die kann doch nichts davor, daß ihr Mann so ist.
Die andre hatte sich die Wild von der Leber herunter geschimpft und kam
jetzt zur Besinnung über das, was sie geredet hatte. Das war freilich arg gewesen.
Und die Frau Doktorn konnte freilich nichts dafür. Aber zugestehn, daß man un¬
verständig gewesen sei, das gab es nicht. Ach was, sagte sie, warum heiratet sie
so einen Kerl! und ging trotzig davon.
Alice ging in Erregung, tief atmend und mit brennenden Wangen im Zimmer umher.
In der Hand hielt sie deu Brief, deu ihr die Frau vor die Füße geworfen und Urias-
brief genannt hatte. Er war an Professor Emden gerichtet, enthielt das Krank¬
heitsbild in den technischen lateinischen Bezeichnungen und endete mit den Worten:
nscmo act sspting-orei ciuiuciuaAint^. Wenn das ein Uriasbrief war, so mußte es in
den letzten Worten liegen. Aber was bedeuteten sie? Sie vermutete, daß es Zahlen
seien, ging in ihres Mannes Studierzimmer und schlug im Lexikon nach. Die Worte
hießen: Bis siebenhundertundfnnfzig. Im Vorübergehn sah sie ein geöffnetes Couvert
eines Geldbriefs im Papierkorb liegen. Sie nahm es in die Hand. Der Brief
war aus Braunfels gekommen, die Aufschrift war die eines studierten Mannes,
und auf dem Spiegel stand ein l^. Je länger fie über den Sinn der Zahl und
den Zusammenhang des Briefes mit dem Couvert nachsann, desto größer wurde ihre
Angst. Es war ihr zu Mute, als wollte das letzte Licht ihrer innern Welt auslöschen,
und als wollte der Boden unter ihren Füßen in einem tiefen Morast versinken.
Endlich faßte sie einen Entschluß. Sie kleidete sich zum Ausgehn an, trat in
das Kinderzimmer und sagte zu Frau Duttmüller, die am Bette der kleinen Julia
saß: Mütterchen, ich muß notwendig ausgehn. Bitte, bleibe beim Kinde. Hoffentlich
wird es nicht krank.
Ehe sich noch Frau Duttmüller, die sehr erstaunt war, zu einer Gegenfrage
sammeln konnte, war sie verschwunden. Alice eilte zum Dorfe hinaus auf dem
Wege, der nach Asseborn und Rvdcsheim führte. Es war schlechtes Wetter, ein
feiner Regen fiel, und der Wind stand ihr entgegen. Aber sie achte dessen nicht.
Sie hatte nur einen Gedanken und ein Ziel, Doktor Blume, den alten treuen Blume.
Aber der Weg war weit. Sie war mit ihren Kräften zu Ende, und Rvdersdorf
lag noch fern im trüben Dunste. Als sie sich, um sich auszuruhen, auf einen
Meilenstein gesetzt hatte, kam von Wenigenstein her ein Wagen angeklappert. Es
war glücklicherweise Doktor Blumes Doktvrwagen, und der Jnsasse putzte sich ver¬
wundert seine nasse Brille und wollte seinen Augen nicht trauen. Es war aber
wirklich so: da saß die Frau Collega auf dem Meilenstein hinter ihrem Regenschirm,
und dies halben Weges zwischen Asseborn und Rodesheim. Wo wollte sie hin?
Natürlich zu ihm, dem alten Blume, das war doch klar.
Frau Collega, rief der alte Blume, zum Henker, was machen Sie da? Sie
werden sich in den Tod erkälten. Steigen Sie schnell auf.
Allee stieg auf, und Doktor Blume brachte sie nach Rodesheim und zu seiner
Frau, die sie in trockne Kleider steckte und sich nicht genug thun konnte, sich zu ent¬
schuldigen, daß die gute Stube nicht geheizt sei, und daß sie, die Frau Doktor,
kleiner und dicker sei als ihr Gast. Dem machte Doktor Blume aber ein vorschnelles
Ende, indem er seine liebe Fron kurzer Hand zur Thür hinausthat.
So, sagte Doktor Blume und setzte sich Alice gegenüber, jetzt reden Sie,
was haben Sie auf dem Herzen?
Alice suchte nach Worten, um das auszudrücken, was ihr Herz belastete, und
fand sie nicht; darauf nahm sie den Brief und gab ihn Blume. — Lesen Sie,
sagte sie, dieser Brief ist mir von einer Frau vor die Füße geworfen worden. Sie
nannte thu einen Uriasbrief.
Blume las. — Das ist eine Patientcnüberweisung an Professor Emden,
sagte er.
Ja, aber was bedeutet us^us söntiugöuti guiuciuaz>'mea,? Gehört das auch
zum Krankheitsbilde?
Hin! Hin! Das wohl nicht.
Aber was bedeutet der Zusatz? Bis zu siebenhundertundfünfzig? Was be¬
deutet die Zahl? Können Sie sich das uicht denken?
Doktor Blume konnte sichs wohl denken. Es war die Höhe, bis zu der, der
Zahlungsfähigkeit des Patienten entsprechend, Professor Enden mit seiner Honorar-
fvrderung gehn konnte. — Ach was, Fron Collcga, sagte er barsch, man mich nicht
alles wissen wollen.
Aber Allee fuhr aus ihrer großen Herzensangst fort zu fragen: Würden Sie denn
das thun?
Fragen Sie doch nicht so einen altmodischen, querköpfigen Kerl wie mich nach
so etwas, erwiderte Blume. Ich habe meine eignen wunderlichen Gedanken; aber
die Gegenwart empfindet und handelt anders. Wenn einem das nun auch nicht
immer gefällt, so darf man doch nicht gleich sagen, daß es schlecht oder unehren¬
haft sei. Das ist eben einmal Geschäftsgebrauch.
Alice atmete tief auf, nicht als ob ihr eine Last abgenommen wäre, sondern
als ob die vorhandue mit voller Wucht zu drücken anfing. — Weil die ärztliche
Kunst, sagte sie leise, zum Geschäft geworden ist. Würden Sie, Herr Doktor,
Prozente nehmen für Patienten, die Sie dem Spezialisten zuweisen?
Ich? Wo denken Sie hin!
Wenn es aber einer thäte, wäre das unehrenhaft gehandelt, oder ist das anch
Geschäftsgebrauch?
Nun ist es aber genug mit der Bohrerei, sagte Blume, der die Miene an¬
nahm, als sei er ernstlich böse, nur um nicht antworten zu müssen. Wissen Sie,
daß Sie eine ganz schlechte Frau sind? Sitzen dn zu Hause und Spintisieren und
sehen Gespenster und laufen durch Dreck und Speck so einem alten Kerle nach,
um vor ihm über Ihren Mann zu räsonnieren. Was eine Frau gegen ihren
Mann hat, das muß sie mit ihm unter vier Augen abmachen, da darf sich ein
Fremder nicht hineinmischen, und wäre es der älteste und beste Freund.
Alice hörte den scheltenden alten Freund an rin gesenktem Hanpte, und schwere
Thränen rollten über ihre Wangen.
Na na na, sagte Doktor Blume, nehmen Sie es nicht gleich so schwer. Sie
müssen Vertrauen zu Ihrem Manne haben.
Wenn ich das könnte!
Sie müssen nicht alles in sich hineinnmrksen. Wie soll Ihr Mann wissen,
was er an Ihnen hat, wenn Sie Ihr Inneres vor ihm zuschließen? Und nun
will ich Ihnen einmal etwas sagen. Davon, daß Sie hier waren, darf kein Mensch
etwas wissen, am wenigsten der Doktor. Da werden wir eine gediegne Lügerei
fabrizieren müssen — Alice wollte Einsprache thun. — Jawohl, es wird gelogen!
Und das Ihnen zur Strafe.
Nachdem Frau Doktor Blume eine» Glühwein gebraut hatte, und die Kleider
leidlich trocken geworden waren, brachte Doktor Blume Allee im Wagen wieder heim,
jedoch fuhr er erst bei einer kranken Frau vor, die Alice zu besuchen Pflegte, und
dann erst zu ihrem Hause. Der Frau Duttmüller wurde eine gediegne Lügerei
aufgetischt, und dann empfahl sich der Doktor. Frau Duttmüller war ungnädig.
Sie untersuchte mißtrauisch die Kleider und Schuhe der Schwiegertochter und schalt
über die Unvernunft der Frnnen, die in den Regen für andre Leute hinausliefen,
statt an ihre eignen kranken Kinder zu denken.
Alice erschrak und eilte zum Bette ihres Kindes. Das Kind war kränker ge¬
worden. Es fieberte und hustete. An den Mandeln bildete sich ein weißer
Belag. Fran Duttmüller hatte das Kind inzwischen mit Wärme und Lakritzensaft
behandelt.
Endlich kam der Doktor. Er untersuchte das Kind, erklärte die Krankheit für
einen Fall von a-NFiim tcmsillüi'is und verordnete: ^trii salieMoi 3,5, Lucei 1s,-
auiriti-w 10,5, ^amas äfft. 200.
Gott sei Dank. Aber die andre Sorge. — Louis, sagte am Abend Alice zu
ihrem Manne, dieser Brief ist hier abgegeben worden. Die Frau nannte ihn einen
Uriasbrief und sagte, dn möchtest ihn selbst besorgen.
Uriasbrief? Duttmüller hatte einmal etwas von Urias gehört, konnte sich aber
nicht erinnern, ob es sich dabei um einen Weinberg oder um Träume gehandelt
habe. — Es ist gut, sagte er.
Louis, fragte Allee, bitte, sage mir, was bedeuten die Worte: nsquo ani ssptin-
AOnti Mina.Ani.g'iiM.
Unsinn, geht dich nichts an, antwortete Louis.
Es geht mich viel an, Louis. Deine Ehre ist meine Ehre. Louis, ich habe
große Stücke auf dich gehalten. Ich habe dich für einen Wohlthäter der Menschheit
gehalten, der sich mit seiner Kunst großen Dank verdient. Bist du das noch?
Oder ein Geschäftsmann, der nimmt, was er kriegen kann?
Louis lachte höhnisch. — Ich bitte dich, Alice, sagte er, kümmere dich nicht
um Dinge, die dich nichts angehn. Ich verdiene uns unsern Unterhalt, damit sei
zufrieden.-'
Louis, wir wollen uns einschränken. Aber laß dich nicht hiuabzichu, verschmähe
den unedeln Gewinn.
So dumm! sagte Louis. Erst sich seiue ganze Jugend abrackern, und dann ein
gnädiges Fräulein heiraten, das nichts hat als ihre nobeln Ideen, und dann sich
einschränken? Fällt mir nicht im Traume ein.
Alice traten die Thränen in die Augen. Sie wandte sich schweigend ab und
ging zu ihrem Kinde. Es fieberte stärker. Alice saß die ganze Nacht an dem Bette
ihres Kindes. Es war eine schwere, schwere Nacht. Sie selbst glühte vor Angst
und einer fieberhaften Unruhe, die von Stunde zu Stunde zunahm.
Aus Alices Tagebuch. Dies sind die letzten Zeilen, die ich in mein Buch
schreibe. Dieses Buch war mein andres Selbst; es war mein Gewisien. Ich habe
ihm nichts verschwiegen. Jetzt ist es vorbei. Ich muß schweigen. Ich darf nicht
reden von dem, was ihn vor mir herabsetzt, denn ich habe ihm Treue gelobt. Gott
Helfemir. Gott helfe dir armem Kinde.
Gegen Morgen weckte sie Louis, der unwillig sein Bett verließ und über über¬
triebne Besorgnisse schalt. Als er aber an das Bett des Kindes trat,^ konnte er
sich nicht verhehlen, daß die Besorgnis begründet gewesen war. Es war Diphtherie
und hohe Zeit, das Diphtherie-Serum anzuwenden. Dies geschah. Nun noch Eis-
umschläge, und die Wissenschaft hatte gethan, was sie thun konnte.
Wie befriedigt hatte Dnttmüller, wem, er sich sagte, daß die Wissenschaft ge¬
than holte, was sie konnte, das Krankenbett andrer Leute verlassen, wie wenig be¬
friedigte ihn jetzt dasselbe Bewußtsein, da es sich um sein eignes Kind handelte. Er
wurde unruhig und unsicher. Er las in seinen Büchern nach, aber diese Bücher
gaben ihm keine Gewißheit. Er schlug sich in Gedanken mit einem Heer von Wenn
und Aber herum, was sonst nicht seine Sache gewesen war, aber Klarheit gewann
er nicht, sondern nur noch größere Unrnhe. Und er würde noch unruhiger gewesen
sein, wenn' er auf seine Frau geachtet hätte. > ,
Alice hielt sich solange aufrecht, als sie konnte, aber nach einigen Stunden
brach sie zusammen und mußte schwer krank ins Bett gebracht werden. Eine Lungen-
entzündung war im Anzüge. Wie oft hatte Duttmüller eine entstehende Lungen¬
entzündung siegreich bekämpft — wenn es überhaupt eine solche gewesen war —;
nun, Louis, zeige, was du kannst, hier ist es eine.
Unten auf der Straße ging Wandrer vorüber. Aus der Thür klang Heulen und
Klagetöne. — Was ist denn hier^los? fragte Wandrer das heulende Dienstmädchen.
Ach, Herr Wandrer, rief diese, bei uns ist großes Unglück. Die kleine Julia
ist krank, die Frau Doktor ist- krank, und der Herr Doktor hat mich rausgeschmisieu
und angeschrieen, ich wäre eine dumme Gaus.
Wandrer trat ein und erfuhr von Frau Duttmüller, die offenbar den Kopf
verloren hatte, nur mit Mühe, was geschehn war. Darauf trat er in seines Freundes
Zimmer und fand ihn in einem merkwürdigen Zustande. Duttmüller redete fvrt-
wtthrend und achtete selbst nicht ans das, was er sagte; er ordnete an, widerrief
und widerrief nochmals und wurde zornig auf jedermann. Er hatte offenbar auch
den Halt verloren, Oder was fehlte ihm?
Louis, sagte Wandrer, laß den Doktor Blume kommen.
Duttmüller schüttelte mit dem Kopfe,
Louis, wiederholte Wandrer nachdrücklich, laß den Doktor Blume kommen.
Du weißt, was auf dem Spiele steht, und was dn zu verantworten hast. Komm
her, schreibe. ,' , ,
Dnttmüller rührte sich nicht, sagte aber auch nicht nein, Wandrer brachte
Papier, drückte Louis die Feder in die Hand und sagte in bestimmt anordnenden
Tone: Schreibe. Verehrter Herr Kollege, Kommen Sie, helfen Sie, Schreibe!
Schreibe! So. Nun die Unterschrift.
Wandrer nahm den Brief und schickte ihn mit einem reitenden Boten nach
Rvdeshcim. . Doktor Blume kam umgehend, sah das Kind an und schüttelte den
Kopf — Wir müssen hoffen, sagte er den Fragenden —; sah die Iran Doktor an
und machte eine ernste Miene. — Wenn die Natur Widerstand leistet, sagte er,
so wird sie es überwinden. Darauf begab er sich zu Dnttmüller, der teilnahm¬
los in seinem Zimmer saß und vor sich hinbrütete.
Collegn, rief Blume, wie sehen Sie denn aus? Sie siud doch uicht etwa--
Morphinist geworden? , - , ,
Duttmüller lächelte verlegen. , Doktor Blume durchsuchte den Flnschcnschrank
und steckte eine kleine Flasche mit einer dunkeln Flüssigkeit, ohne jemand zu fragen,
ein. An demselben Abend noch kam Fran Doktor Blume an, nahm? Fran Dntt¬
müller, die in der Küche saß und stöhnte, das Regiment ab und richtete sich im
Krankenzimmer ein. Sie hielt die heiße Hand Alices in ihrer festen, kühlen Hand,
kühlte ihr die Stirn und sprach ihr mütterlich freundlich zu. Alice sah dankbar
zu ihr auf. Aber bald versank das klare Bewußtsein in Ficberphantasieii. ,
Wenig Tage darauf hatte die kleine Julia ausgelitten, und ihre Mutter schickte
sich an, denselben Weg zu gehn, den ihr Kind vorausgegangen war, Sterben ist ein
Kampf des Lebens mit dem Tode, Der starke Wille, leben zu wollen, hat schon
manchmal den Tod vertriebene Hier fehlte dieser Wille. Die Kranke setzte der Krank¬
heit keinen Widerstand entgegen, sie ließ sich kaum noch ziehn, sie ging freiwillig.
Die ärztliche Kunst war machtlos. Dnttmüller saß im Winkel des Zimmers,
rang die Hände und zitterte. ,
In einem hellen Augenblicke fragte Alice: Wo ist Julia?
Man zögerte zu antworten. ' ,
Ich weiß es, sagte Alice und lächelte befriedigt. — Bittet doch deu Herr»
Pastor, daß er kommt und mit mir betet,
Ellen kniete am Bette. Alice hatte ihre Hand anf Elters Haupt gelegt und
strich ihr über das Haar. Sie war mir halb bei Besinnung. ,
Ellen, sagte sie, du hast schöne, helle Augen, hellere, als ich gehabt habe. Schone
deine Augen. Schreibe kein Tagebuch, Das Höchste! Das Höchste giebt es ans
Erden nicht. Auf Erden giebt es mir das Vertrauen. Laß dir dein Vertrauen
nicht nehmen. Ellen, bist du da? / > ,>
Ja, Alice.
,„
. Ellen/ heirate Felix Wandrer, Versprich mir das. , >,
Ja, Alice, ich verspreche es dir.
Sage Wandrer, er solle----- solle — nein, du brauchst ihm nichts zu sagen.
Der weiß es allein.
Dann kam das Ende. Die gnädige Frau saß neben dem Bette. Sie hatte
ihre Lorgnette und alle ihre Weisheit zu Hause gelassen, kämpfte mit ihrem Schmerze
und stützte mit mütterlicher Zärtlichkeit den Kopf Alices mit ihrem Arme, Ellen
sah versteinert aus, die Dnttmüllern stand im Hintergrunde fassungslos, ein Schatten
ihrer selbst mit zitternden Backen, und Dnttmüller war abgerufen worden, dieses-
mal in einer wirklich dringenden Angelegenheit, und konnte nicht dabei sein, wie seine
Frau starb.
Kurz vor dem Ende schlug Alice die Augen voll auf und rief mit einem
Lächeln stolzer Befriedigung: Frei! frei!
So starb sie und lag auf ihrem Totenbette in stolzer Schönheit wie eine
Königin.
Als das Begräbnis vorüber war, gingen miteinander die Dorfstraße hinab
Nothkamm, der eine große Palme getragen hatte, und Drillhose, der mit dem Reste
seiner Kapelle den Choral geblasen hatte und seine Trompete unter dein Arme trug.
Sehen Sie, sagte Rothkamin, ich habe es gleich gesagt — fragen Sie Herrn
Wandrer —, das gnädige Fräulein Alice war zu gut für den Doktor. Eine gute
Frau muß man in acht nehmen, sonst geht sie kaput.
Drillhose antwortete nicht, aber es sah nicht so aus, als widerspräche er
innerlich.
Es ist doch merkwürdig, fuhr Rothkamm nach einer Pause fort, der Doktor
hat immer Glück gehabt. Hier die schöne Praxis und das schöne Einkommen, und
dann so eine Frau, freundlich und liebevoll, und mir hat sie das Leben gerettet,
und so noble Verwandtschaft. Er hat es aber nicht wahrgenommen. Wissen Sie,
Herr Drillhvse, er hätte vielleicht besser gethan, das komplette Frauenzimmer mit
dem Federhute zu heiraten. — Wissen Sie, wie mir das mit dem Doktor vorkommt?
Das kommt mir vor, wie wen» ein Fisch ein Vogel werden will und aus seinem
Wasser raus in die freie Luft springt. Jawohl, da hat er keine Flügel zum Fliegen,
und wenn das Glück gut ist, so Platzt ihm die Fischblase.
Jahr und Tag find vergangen. Das Kaliwerk Heinrichshall ist wieder in
vollem Gange. Der Nettungsplan Drillhoses hat vollen Erfolg gehabt. Seine
Annahme, daß sich die hauptsächlichste Zerstörung ans dem Grunde des Schachtes
zugetragen habe, und daß die Explosion gar nicht auf Sohle zwei geschehn, daß
aber des Teufels Spundloch durch die Erschütterung auch aufgebrochen sei, hat sich
bestätigt. Nachdem mit viel Mühe das Holzwerk, das mau zu Spundwänden hinein¬
gebaut hatte, beseitigt worden war, gelang es dnrch Belon, der in Säcken hinabge¬
lassen und regelmäßig gelagert wurde, und dann durch Schüttuugeu, wobei die
Schneemasse in eisernen Kästen hinabgelassen wurde, deren Boden sich unten öffnete,
den ganzen Raum vou Sohle drei bis Sohle zwei auszufüllen und den Eingang
in Sohle zwei zuzubauen. Nun machte es keine Schwierigkeiten mehr, das ober¬
halb stehende Wasser auszupumpen, und das Werk war gerettet. Der Betrieb
konnte von neuem eröffnet werden, und die Arbeiter und viele unsrer alten Be¬
kannten, darunter Rummel mit seiner guten aber schwer zu ertragenden Frau und
Doktor Olbrich mit den kurzen Höschen kehrten zurück.
Die Kuxinhaber der Gegeud waren getröstet und dachten nicht mehr daran,
Jauche zu pumpen. Nur Happich war der Hineingefallne, der, in der Meinung, recht
klug zu sein, seine Papiere verkauft hatte, als sie am tiefsten standen. — Das geschieht
dem alten Gauner schon recht, sagte Larisch.
Die Zemeutfabril war durch die großen Lieferungen vou Zement an das Werk
mit einem Schlage in die Hohe gekommen. Sie hatte ihren Ort gewechselt, war,
da es neben den Steinbrüchen an Raum zur Erweiterung gefehlt hatte, oben ab¬
gebrochen und unten im Assethal neu erbaut worden, gerade da, wo einst die
Tote-Asse-und so weiter-Gesellschaft gewaltet hatte. Sie bestand nicht mehr aus
Bretterbuden, sondern soliden Bauwerken, hatte hohe Schornsteine und Öfen bester
Konstruktion. Die Drahtseilbahn beförderte Steine und Kohlen herab, und Prähme
schafften die gefüllten Fässer nach Altum auf die Bahn. Drillhvse waltete in der
Fabrik als Betriebsleiter mit Umsicht und Sachkenntnis. Aber er hatte schon keine
rechte Lust mehr zu dem Geschäfte. Sein Musikantenblut ließ ihm keine Ruhe.
««»»«W««»
Er lcig täglich Wandrer in den Ohren, ob er nicht die Bergmannskapelle wieder
einrichten wollte. Wandrer mahnte zur Geduld. Die Zementfnbrik werde bald
ihren Herr» bekommen, und dann könnte er wieder in Heinrichshall anfangen.
Wir begeben uns nun, um Abschied zu nehmen, zum Werke, und zwar zur
Villa des Direktors, wo wir in der Veranda die ganze Familie versammelt finden.
Zuerst den Direktor selbst, und das ist Wandrer, dem die Gesellschaft wegen seiner
Verdienste und trotz seiner Jugend dieses Amt übertragen hat. Und dann seine
Frau, das ist Ellen. Ferner die gnädige Frau Schwiegermutter und die Frau Pro¬
fessor, die Mutter Wandrers. Die beiden alten Damen verstehn sich ausgezeichnet
und bewegen sich in den feinsten Formen, die gnädige Frau die Lorgnette schwingend,
und Frau Professor in diskreten Tonfalle und kluger Auswahl ihrer Worte. Auch
Lydia ist nuwesend. Ellen hat nach langer leidenschaftlicher Trauer ihre frohe Laune
wiedergewonnen, aber Lydia, so elegant sie auch gekleidet ist, sieht gedrückt aus.
Die gnädige Frau hatte einen Brief in der Hand — von Uork, einen Brief,
der sie sehr befriedigte. Avrk schrieb ans Buenos Aires. Nichts neues. Er war
noch immer geschäftlich mit dem Transport von Reisenden und ihrem Gepäck be¬
schäftigt, und die gnädige Fran war noch immer geneigt, darunter ein Reisekontor
a la Stangen oder ein großes Speditionsgeschäft zu verstehn.
I bewahre, Mama, sagte Ellen, Hausknecht ist Dorr, und das ist ihm sehr
dienlich.
Die gnädige Frau ließ traurig ihre Lorgnette sinken und sagte: Der arme Jork!
Aber niemand von auch hat ein Herz für ihn.
Da hörte man von fern das bekannte Signal Stüwels, der eben die Kantine
verließ: Ach du mein lieber Gott, muß ich schou wieder fort auf die Chaussee —
und bald darauf erschien Stüwel, legte seinen Vorrat von Briefen auf dem Tische
des Hauses nieder und verzog sich, nachdem er mit einer Zigarre getröstet war.
Wandrer sah die Eingänge durch und reichte der gnädigen Frau einen Brief hin,
den er geöffnet hatte. — Hier, Mama, sagte er, etwas für dich. Es war eine
Quittung, durch die einige dunkle Ehrenmänner in Berlin erklärten, durch Zahlung
von so und soviel mit ihren Forderungen an Herrn von Nienhagen abgefunden
zu sei«. — So, sagte Wandrer, das war der letzte Rest. Wenn jetzt Aork wieder¬
kommen will, so steht nichts im Wege. Hoffentlich hat er da draußen Geld einnehmen
und Geld ausgeben gelernt.
Mama war sehr erfreut, und Lydia wurde rot über das ganze Gesicht.
Aber Lydia, sagte Ellen leise, du denkst doch nicht etwa daran, einen Haus¬
knecht zu heiraten? — Darauf fuhr Ellen laut fort: Ganz schön, aber was wird
denn mit dem Kapital, das Jork meinem ehemaligen Onkel Felix und gegenwärtigen
lieben Gatten schuldet?
Das lassen wir im Zemeutgeschcift drin, Schnucki, sagte Wandrer, und lasse,:
es mitarbeiten.
Aha, damit du deine Finger mit drin hast und mitreden kannst?
Jawohl, mein Schatz.
Hier kamen durch den Garten drei Herren zur Villa heraufgestiegen. Der
eine war Ölmann, der andre ein alter, gebückter Herr mit weißen Haaren, weißer
Binde und eben so einem Schlapphnte, wie ihn Ölmann trug. Der dritte war
ein junger Mensch, der leicht als junger Jagdhund zu erkennen war und von dem
alten Siegfried angeredet wurde; Wandrer ging ihnen entgegen und begrüßte Ölmann
und — seinen alten Rektor ans Brannfels, der, wie Ölmann ausführte, jetzt auch in
die „Pension" gegangen und über Siebendvrf mit der „Sekretärbahn" angekommen
war, um rin dem Herrn Direktor ein Geschäft zu „abblnmieren." Der „Alte" grüßte
tief und war sehr devot. Von seiner einstigen Größe war nichts übrig geblieben.
Wandrer nötigte ihn in die Veranda, hieß ihn freundlich willkommen und
stellte ihn den Damen vor. So kam er also mit Frau Professor zusammen. Er
reichte ihr die Hand und sagte: Ich habe manchmal an Ihr Wort gedacht, Frau
Professor, es hat sich reichlich erfüllt.
Wer lieber Herr Direktor, sagte die Frau Professor, lassen Sie uns davon
schweigen. Das ist längst vorüber, und meinem Sohne ist es nicht zum Schaden
gediehen. ,
Das freut mich, erwiderte der Direktor, obwohl damit nicht gesagt sein soll — er
warf einen seiner alten Schnlblicke ans seinen Siegfried —, daß es zum Fortkommen
im Leben nützlich ist, ut, tiinck» mit dem Indikativ zu konstruieren.
Nun kam zu Tage, daß dieser Unglückssiegfried zu nichts zu brauchen gewesen
war, woran sich die Bitte schloß, ob nicht Wandrer für ihn irgend einen Posten,
es sei, was es sei, in Heinrichshall habe. Frau Professor flüsterte ihrem Sohne
zu, er möchte doch ja etwas für den Direktor thun, und Wandrer versprach dem
Direktor, seine Bitte zu erfüllen, es werde sich schon etwas finden. —
Und was ist aus Doktor Dnttmüller geworden?
Nach dein Tode von Alice hatten Duttmüller und Blume einige ernste Unter¬
redungen. Es ist nicht recht bekannt geworden, um was es sich gehandelt hat.
Man sagte, Duttmüllcr habe sich Zeugnisse bezahlen lassen, die nicht genan der
Wahrheit entsprochen hätten. Jedenfalls hat der Ehrenrat der Ärzte damit zu thun
gehabt. Darauf zog Duttmüllcr von Hvlzweißig weg und besetzte sich in Braun¬
fels. Aber es ging mit der Praxis auch in Brannfels nicht. Die Morphium¬
spritze soll daran schuld gewesen sein. Jetzt ist er in das Geschäft von Göckcl ein¬
getreten und Bierbrauer geworden. Er spielt mit den Braunfelser Philistern des
Abends Skat, und nächstens wird er doch noch seine Laura heiraten. Und die alte
Duttmüllern stopft wieder Strümpfe, denn sie kann sich nicht entschließen, sich mit
Göckcls auszusöhnen.
An dem Umbau des Marxismus wird rüstig
weiter gearbeitet. Dr. Alfred Nossig giebt sbei or. John Edelheim, Berlin
und Bern, 1961) eine Revision des Sozialismus heraus^ Der vorliegende
erste Teil des ersten Bandes ist „Das System des Sozialismus" betitelt, enthält aber
der Hauptsache nach eine Geschichte der Volkswirtschaft in zwei Teilen, deren zweiter
die gegenwärtige kapitalistische Organisation beschreibt. Der Verfasser erkennt die
Größe Marxens an, sagt aber mit Bernstein, was jener geleistet habe/ das habe
er nicht durch seine hegelsche Dialektik, sondern trotz ihrer geleistet. An den sozial-
demokratischen Autoren, Marx und Lassalle eingeschlossen, tadelt er den Pamphlet-
artigen, agitatorischen Ton, die heftigen Ausfälle gegen ihre theoretischen Gegner
und das Gewitzel über den „Herrn Professor." Politisch möge die Partei fort¬
besteht,, aber die Wissenschaft dürfe nicht Parteisache sein, und könne es nicht bleiben,
wenn der Sozialismus seine Aufgabe erfüllen solle, der Besserung der sozialen
Zustände als Triebkraft zu dienen. Die Irrtümer, zu denen sich Marx durch sein
dialektisches Spiel mit Gegensätzen hat verleiten lassen, lehnt Nossig in dem Satze
ab: „Es ist nicht wahr, daß der Fortschritt auf allen Gebieten zur Konzentration
der Güter führt, und noch weniger wahr, daß er kollektives Eigentum verlangt; es
ist nicht wahr, daß die kollektivistische Organisation sich plötzlich und unaufhaltsam Bahn
brechen, und noch viel weniger wahr, daß sie die Menschheit dauernd beglücken
wird." Nossig bekennt, daß er den wahren Sozialismus nicht bei seinen modernen Ver¬
tretern, sondern in der Bibel") und bei den alten Klassikern gefunden habe. Wie
die kirchliche Reformation, so müsse die Revision der sozialen Religion ans den Urtext
zurückgehn, vor allem auf das Bibelwort: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Die
ersten französischen Sozialisten hätten aus dieser Quelle geschöpft. Pierre Leroux habe
nicht allein das Wort Sozialismus geschaffen, sondern auch den biblischen Begriff der
menschlichen Solidarität wieder belebt und gelehrt: Wir sind alle Menschen, find
Brüder; Wir sollen alle glücklich sein, und die einen sollen es durch die andern
werden. Nur indem wir einander lieben, einander achten, einander helfen, können wir
an das Ziel gelangen, das der Menschheit vorgezeichnet ist. In der Kritik der
kapitalistischen Gesellschaft giebt Nossig den Sozialdemokraten an Schärfe nichts nach
und stützt sie mit manchem bisher unverwandten Material. Besonders hebt er die
schlimme Lage der kleinern Unternehmer hervor und die von den Trusts allen
Klassen ohne Ausnahme drohenden Gefahren. Er hätte noch das Wort Carnegies
anführen sollen: Die Nationalökonomen sind Esel, das Gesetz von Angebot und
Nachfrage ist Unsinn; wir machen den Preis, und wir bestimmen, was produziert
werden soll. Recht deutlich erkennt man aus seiner historischen Übersicht, wie sich
alle Vorwürfe, die der Sozialismus gegen die kapitalistische Ordnung erhebt, auf
Aussprüche der Verteidiger dieser Ordnung stützen, ja geradezu der klassischen
Ökonomie entlehnt sind. Daß z. B. das eherne Lohngesetz in der ruchlosen Formel
von Malthus steckt, ist ja allgemein bekannt, wird aber in der Polemik gegen den
Sozialismus gewöhnlich übersehen. Aber auch Ricardo sagt: es giebt kein andres
Mittel, die Einkünfte öder Unternehmers hoch, als das, die Löhne niedrig zu halten.
Sehr schön zeigt Nossig, wie die Manchesterlehre aus dem auf mangelhafter Kenntnis
der Geschichte beruhenden großen Irrtum Adam Smiths, seiner Spartheorie, hernns-
gesponnen worden ist, während man die wichtigen Wahrheiten in der Lehre des
edeln Schotten dem dummen Publikum verschwieg und, dürfen wir hinzufügen, bis
heute verschweigt.
Wie der Marxismus in volkswirtschaftlicher Beziehung nur eine folgerichtige
Anwendung der klassischen Ökonomie ist, so ist seine Philosophie nur die letzte Kon¬
sequenz des Hegeltmns. Nachdem David Strauß, Bruno Bauer und Feuerbach
aus Hegels Shstem die reine Diesseitigkeit gefolgert hatten, blieb nur uoch die
Wahl zwischen dem Himmel auf Erden und der Pessimistischen Flucht aus der
irdischen Hölle. Die Entscheidung für den ersten war das dem europäischen Geiste
angemessenere und zugleich das vernünftigere und seltsamere, weil eine utopische
Hoffnung nicht, wie der Buddhismus, lahmt, sondern im Bunde mit der Begierde
zum Handeln treibt. Dr. David Koigen liefert mit seinem Buche: Zur Vor¬
geschichte des modernen philosophischen Sozialismus in Deutschland
(26. Band der von Professor Dr. Ludwig Stein herausgegebnen Berner Studien
zur Philosophie und ihrer Geschichte; Bern, C. Sturzeuegger, 1901) eine (nicht
beabsichtigte) Ergänzung des Buches von Mehring, das wir zu dem Aufsatze
„Marx als Philosoph" gebraucht haben. Außer den drei oben genannten Jung¬
hegelianern behandelt er Max Stirner, „den Philosophen des Lumpenprole¬
tariats," Moses Heß, Karl Grün und Otto Lüning. Auch Lorenz von Stein, der
von den Sozialisten verspottete Reaktionär, wird berücksichtigt, weil er eben¬
falls von Hegel ausgegangen ist, und weil seine sozialistischen Gegner ihn stark
benutzt haben. Er zeigt, welche Rolle der Besitz in der politischen Entwicklung
spielt, ferner, daß keine Zeit vor der unsern ein Proletariat gehabt hat, und daß
die Lage der Armen in der heutigen Welt von der in den Staaten des Alter¬
tums grundverschieden ist; er bestreitet, daß es zur Erzeugung des Klassenhasses
einer besondern Agitation bedürfe; dieser sei durch die Lage der Dinge, namentlich
durch den Widerspruch zwischen der formellen Gleichberechtigung und der that¬
sächlichen Ungleichheit der Besitzenden und der Nichtbesitzenden unvermeidlich ge¬
geben. Marx ist nach Koigen vom Fenerbnchianismus, der erst jetzt, z. B. bei
Simmel, durchdringe, einen Schritt zurückgegangen. Der Marxismus wird in einem
Satznngehener charakterisiert, das die ganze Seite 257 füllt, und von dem wir
wenigstens den Anfang hersetzen Wollen. Karl Marx ist „das bedeutendste Er¬
gebnis des Chaos, das sich aus der Kreuzung des deutschen Idealismus und des
französischen Positivismus, der englischen klassischen Nationalökonomie und des
französischen Sozialismus, des in Naturalismus umgewandelten Hegelianismus und
des in Romantik hinübergeflosscnen gallischen Kommunismus, der englischen und
französischen Forlgeschrittenheit auf sozialem Gebiete und der der deutscheu Zurück¬
gebliebenheit usw. usw." ergiebt, sollte kommen, was aber der Verfasser am Ende
zu setzen unterläßt; er hilft sich mit einem Anakoluth. Man würde für die brauch¬
bare Stoffsammlung dankbarer sein, wenn nicht die unbeholfne Darstellung das
Lesen erschwerte.
Jakob Hollitscher stellt in seiner Schrift: „Das historische Gesetz;
zur Kritik der materialistischen Geschichtsauffassung (Carl Reißner, Dresden und
Leipzig, 1901) seinen Gegenstand sehr gut dar, zunächst die Unmöglichkeit einer
deduktiven Geschichtsphilosophie und die Schwierigkeit, auf induktiven Wege histo¬
rische Gesetze zu finden, dann Marxens Geschichtsphilosophie. In der Kritik dieser
Philosophie finden wir viel zutreffendes, aber wir vermögen nicht genau zu
erkennen, worauf der Verfasser hinaus will. Verständlich ist es, wenn er Marx
der Inkonsequenz beschuldigt, weil dieser nichts Außermenschliches (das Absolute
oder Gott) als Triebkraft der historischen Entwicklung anerkennen will, dann aber
doch wieder den Menschen von den Produktivkräften der Gesellschaft abhängig macht,
die nach einem Gesetz wirken, das dem Menschen — bis auf Marx — nie zum Be¬
wußtsein gekommen ist, und weil er dem dienend mit seinen egoistischen Bestrebungen
oft das Gegenteil von dem herbeiführt, was er beabsichtigt hat. Verständlich ist
auch, daß die marxistische Theorie wieder die uralte Frage nach dem Ursprung
der Begriffe zu stellen zwingt, die Frage, ob der absolute Geist „der Schatten
eines Traumes oder die Grundlage unsrer Erkenntnis sei." Und einmal glaubten
wir schon, Hollitscher in unserm Fahrwasser zu sehen, wo er fragt, wie der Mensch
durch das materielle Bedürfnis zum Nachdenken über die Mittel zur Befriedigung
gekommen sein könne, wenn er nicht vorher schon ein denkendes, ein geistiges Wesen
gewesen sei. Dann aber wurden wir wieder an ihm irre durch die Polemik gegen
alle, die meinen, es setze sich irgend etwas in der Weltgeschichte durch, sei es Gott
oder die Idee, oder die Gerechtigkeit, oder die Produktivkräfte; niemand und nichts
setze sich dnrch als der Mensch selbst; alle Ursachen des historischen Geschehens
lägen ini Menschen. Daraus zieht er aber nicht die utopistische Folgerung, daß
die Menschen je einmal mit Bewußtsein und planmäßig ihr Schicksal machen und
zuletzt, wenn sie die Geschichte satt haben, den Erdball in die Luft oder vielmehr
in den Weltäther sprengen werden. Sondern er schließt bescheiden: wer auf die
unerreichbare volle Erkenntnis aller Ursachen des historischen Geschehens verzichte,
der werde finden, daß es „reicher und kühner" sei, selbstbewußt mitzuwirken am
sausenden Webstuhl der Zeit, als „im Zauberkessel der Mythologie Prophezeiungen
und Rezepte zu brauen für eine Zukunft der Phantasie." Das heißt doch Wohl:
es giebt keine Erkenntnis ewiger Gesetze und höchster Ziele für das Menschenleben;
begnügen wir uns damit, die Geschäfte des Tages zu erledigen! Damit haben sich
ja die zufriedner Alltagsmenschen immer, die Unglücklichen aber und die unruhigen
Geister niemals begnügt. — Nicht frei von Utvpismus ist Dr. Karl Wvllf, der
in seiner Schrift: „Sozialer Geist, sein Wesen und seine Entfaltung (Mannheim,
Ernst Aletter, 1901) die „Höherbildung des Menschheitstypus" fordert. Wir haben
oft gezeigt, daß sich unter dieser Forderung nichts denken läßt. Man versteht,
was gemeint ist, wenn jemand fordert, daß alle Farbigen Weiße werden und die
Schönheit, Intelligenz und Gemütsart der Weißen erlangen sollen; man versteht
auch, was mit einem Zustande gemeint ist, wo es unter deu Weißen keine Dummen,
keine Elenden, keine Schlechten und keine Bösen mehr geben soll, aber niemand
versteht, was es noch vollkommneres geben könne, als die schönsten, die besten,
die größten, die tüchtigsten, die genialsten Menschen, die wir kennen, und wie über¬
haupt von einem höhern Typus die Rede sein könne, da es viele Typen der
Gattung Mensch giebt, und die Vollkommenheiten der verschiednen Typen unver¬
einbar miteinander sind. Der Verfasser wird wohl anch unter seinem nebelhaften
Ideal ini Grunde genommen nichts andres versteh», als was fromme Christen
und edle Menschenfreunde von jeher erstrebt haben: die Vermindrung der Zahl
der Elenden, der Unwissenden, der Schlechten und der Bösen. Zur Arbeit für diesen
Zweck aufmuntern, indem man die verschiednen Bethätigungen des sozialen Geistes
in der Gegenwart schildert, das ist ja nun ganz löblich. Leider erinnern uns die
wütenden Jntcressenkämpfe unsrer Zeit alle Tage daran, daß der soziale Geist und
die Überzeugung von der Solidarität der menschlichen Interessen nicht in dem
Grade herrschen, wie der optimistische Verfasser zu glauben scheint. Am besten hat
uns der Abschnitt über die Sozialisierung der Kunst gefallen, der manchen be¬
herzigenswerten Gedanken, freilich mich manches anfechtbare Urteil über Kunstwerke
enthält. Eine Anmerkung auf Seite 103 lautet: „Mittelalterlicher Spruch: pixrnm
et mois viüvtnr sucloro aäcMi'ere «zuoä r-ossis sanguine v^r-irv. Zitiert bei Röscher,
Shstem der Volkswirtschaft. Band 1 Z 46." Selbstverständlich ist Röscher un¬
schuldig daran, daß der Versasser den bekannten Satz ans dem 14. Kapitel der
Germania des Taeitus für einen mittelalterlichen Spruch hält.
Ein sehr nützliches und dabei anziehendes und geistreiches Buch hat der Ghm-
nasialdirettor Dr. Oskar Altenburg geschrieben: Die Arbeit im Dienste der
Gemeinschaft; Eltern und Erziehern unsrer deutschen Jngend gewidmet. (Berlin,
Renther und Reichard, 1901.) Der Verfasser zeigt, wie dem jungen Menschen dadurch,
daß man ihm die Entstehungsgeschichte jedes der Dinge erzählt, die er täglich gebraucht,
der Sinn der Weltgeschichte erschlossen werden könne, der darin bestehe, daß durch
die vom Bedürfnis erzwungne Arbeit alle Anlagen des Menschen entfaltet, alle
Gemeinschaften gestiftet, alle Tugenden erzeugt und die Individuen zu Persönlich¬
keiten vollendet werden; er zeigt, wie mau für diese Einführung in das Heiligtum
des historischen Verständnisses die Bibel und die alten Klassiker verwenden' soll.
Er fragt z. B. seine Schüler: Wie wohnen Homers Menschen? und führt sie der
Reihe nach in die Höhle des Cyklopen, in die Grotte der Kalypso, in die Hütte
des Sauhirteu, in die Paläste des Odysseus, des Nestor, des Menelaus, des
Phäakenkonigs. Dann: Was essen diese Menschen, wie dischen sie die Speisen auf?
Was ist dabei zu denken, daß die Könige Handwerkerarbeit, die königlichen Frauen
häusliche Arbeiten selbst verrichten? Er macht bet der Lektüre des Livius, des
Cäsar, des Taeitus auf die verschiednen Kulturstufen der Jtaliker, der Germanen
aufmerksam, die da geschildert werden. „Hornzens Gedichte wollen als kultur¬
geschichtlicher Lesestoff ersten Ranges gewürdigt sein." Von der Jugenderziehung
ausgehend zieht er das ganze Kulturleben, dem sie dienen soll, in den Kreis seiner
Betrachtungen. Den Inhalt mögen einige Kapitelüberschriften andeuten: Wie der
Mensch sein Heim gründet; das Doppclgesicht der Kultur; das Arbeitsfeld Jesu;
christlicher Jdealrcalismus; die Deutschen als Träger des Jdealrealismns; ganze
Menschen; die Kindererziehung eine soziale Pflicht. — Georg Liebe nennt seine
hübschen Bilder aus der deutschen Vergangenheit Soziale Sind im (Berlin und
Jena, Hermann Costenoble, 1991); kulturgeschichtliche Studien wäre richtiger, aber
freilich betrifft alles Kulturgeschichtliche die Gesellschaft, und das Wort sozial ist
nun einmal Mode. Liebe verwendet Urkunden, Briefe, Gedichte, namentlich Volks¬
lieder und malt mit diesem Material sechs Bildchen, die er betitelt: Ritter und
Schreiber, die soziale Wertung der Artillerie, die Wallfahrten des Mittelalters und
die öffentliche Meinung, militärisches Landstreichertum, Auslandsreisen und nationale
Opposition, die Nonne im Volkslied.
In riuz (An-istiau ^Valck ?nlpit, einer eng¬
lischen religiösen Wochenschrift, die unter anderm wöchentlich eine Predigt eines der
hervorragendsten englischen Kanzelredner bringt, sind auch häufig wertvolle
works ot' Ibons'de,, fromme Gedankensplitter, zu lesen. In einer Märznummer aus
diesem Jahre fanden wir sehr schöne religiöse Aussprüche, z. B. Gott kommt oft
zu uns zum Besuche, aber gewöhnlich siud wir nicht zu Hause (Abbe" Roux); Angst
und Sorge treiben zum Gebet, und das Gebet treibt Angst und Sorge fort
(Melanchthon); Das,Buch, das wir lesen füllen, ist nicht das, das für uns denkt,
sondern das, das uns denken macht, und darin kommt kein Buch der Bibel gleich
(Dr, Mac Cosh); usw. Dicht neben diesen Aussprüchen frommer Weisheit steht
nun eine Neklamennnonce für Verdauungspillen. Es ist nun günz natürlich, daß
auch Leser ot tluz Lbristiim Vorlcl ?uixit, fromme Engländer, unter Umständen
VVinä l>ills gebrauchen müssen; die weisesten Sprüche schützen nicht vor Hart¬
leibigkeit. Aber die Abfassung der Neklmneannonce spricht so klar für eine Ver¬
quickung von Religion und Geschäft, und der Umstand, daß sie gerade neben den
„religiösen Gedankensplittern" steht, ist so auffällig, daß wir sie hier wiederholen
wollen. Die Annonce beginnt nämlich auch mit einer Reihe von „Gedankensplittern,"
und neben den Rolig'ious ^uouZbts stehn in der Nebenkolonne, auf gleicher Höhe be¬
ginnend, die einleitenden Sprüche Josh. Billings, die zwar nicht von Religion,
aber doch von einem heiligen Institut, der Ehe, handeln: „Die Ehe ist eine ganz
schone Sache — von außen." „Aber gar zu oft findet man ein Haar darin."
„Einige heiraten eine Frau, weil sie sie für schön halten, und entdecken niemals
ihren Irrtum. Das heißt ein Glück!" „Einige heiraten eine vornehme Frau und
sind für ein halbes Jahr ganz aufgeblasen davon; nach und nach kommen sie aber
dahinter, daß ein Stammbaum nicht besser als abgerahmte Milch ist." „Einige
heiraten ihrer Verwandtschaft zuliebe; sie sind nachher sehr erstaunt, daß die Ver¬
wandtschaft sich keine taube Nuß um sie kümmert." „Liebesheiraten sind entweder
ein Erfolg oder eine schlechte Schuld." „Einige heiraten und wissen nicht warum
und leben und wissen nicht wie." „Einige beeilen sich mit dem Heiraten und be¬
ginnen die Sache nachher reiflich zu überlegen." „Andre überlegen sich die Sache
ihr Lebtag und heiraten dann drauflos." „Bei beiden kann es gut ausgehn —
wenn sie es richtig getroffen haben." „Was geht daraus hervor: die Ehe ist ein
Risiko. Aber wenn man I^c- ^Vooäooeii's Vinci ?ius nimmt, das beste Mittel
in der Welt gegen Verdauungsstörungen, Blähungen, Leberschmerzen, Nervenzustände,
Herzklopfen, Galle — da läuft mau kein Risiko, der Erfolg ist sicher. Die 'VVinä
?ills siud rein vegetabilisch usw., wirken leicht und angenehm usw." — Diese leichte
und angenehme Wirkung der Windpillen steht in der „Kanzel der christlichen Welt"
in gleicher Zeilenlinie mit einem Spruch von Goethe in den Gcdankenspittern: „Ein
edler Mensch zieht alle edle Menschen an und weiß sie festzuhalten." Die Vinci
l?UI-Anoimce, die so fein mit den in die Umgebung passenden Gedanken über die
Ehe — auch ein Sakrament der englischen Kirche — operiert, wirkt übrigens sehr
amüsant, da sie im Dcmkeedialekt abgefaßt ist; mancher „edle Mensch," wie Goethe
sagt
Zur Beachtung
Mit dem nächsten Hefte beginnt diese Zeitschrift das !. Vierteljahr ihres «I. Jahr¬
ganges. Sie ist durch alle Buchhandlungen und Postanstalten des In- und Auslandes zu
beziehen. Preis für das Vierteljahr «i Mark. Wir bitten, die Bestellung schleunig zu
erneuern.
Unsre Zescr machen wir noch besonders darauf aufmerksam, dasz die Grenzboten
regelmäßig jeden Donnerstag erscheinen. Wenn Unregelmäßigkeiten iir der Sirfernng,
besondres beim (Piartalwechsel, vorkommen, so bitten wir dringend, uns dirs sofort
mitzuteilen, damit wir für Abhilfe sorgen Können. Die Verlagshandlung Keivzig, im Juni IW2