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]]>Zeitschrift für Politik und Literatur,
redigirt von
GnstOv AreytRg und Inlisn Schmidt.
8. AechitH<at.
II. Semester. III. Vand.
Leipzig,
Verlag ohn Friedrich Ludwig Herbig.
184».
Nachdem das Ministerium Schwarzenberg-Stadwn deu 27. November dem
Reichstag zu Kremsier sein Programm vorgelegt hatte, nach welchem eine Erklä¬
rung über das Verhältniß des Kaiserstaats zum deutschen Reich erst dann in Aussicht
gestellt wurde, wenn der erstere sich selbstständig constituirt haben würde, legte
der bisherige Präsident des Reichsministeriums, Anton v. Schmerling sein Amt
nieder (15. December), und Heinrich v. Gagern, der bisherige Präsident, trat an
die Spitze der Regierung, die in Beziehung auf ihre übrigen Mitglieder unver¬
ändert blieb. Das neue Ministerium legte sofort (17. December) sein Programm
vor, welches von dem Gesichtspunkt ausging, Deutschland solle sich mit Ausschluß
Oestreichs zu einem engern Bundesstaat constituiren und mit deu östreichischen
Staaten in ein inniges völkerrechtliches Verhältniß treten. Dies Programm ver-
anlaßte in der Nationalversammlung (die seitdem zu ihrem Präsidenten Professor
Eduard Simson aus Königsberg erwählte), eine vollständige Umgestaltung der
Parteien. Ein Theil des linken Centrums schloß sich den Ideen des Ministeriums
an, dagegen faud eine Koalition zwischen einem Theil der Rechten, namentlich
den Oestreichern und Baiern, mit der Linken statt, die „Theilung" Deutschlands
zu hintertreiben.
Den Mittelpunkt fand diese Partei in Schmerling, welcher gleich nach seinem
Rücktritt nach Olmi'es geeilt war, um das Ministerium in Beziehung ans die
deutsche Frage umzustimmen. Er hatte bei dieser Reise Gelegenheit genommen,
den Wienern, die ihn für den Reichstag zu Kremsier gewählt hatten, in öffent¬
licher Rede die Versicherung zu ertheilen, daß er sich auch als Präsident des deut¬
schen Neichsministerinms mir als Oestreicher gefühlt, und überall.die östreichischen
Interessen vorangestellt habe. Als östreichischer Bevollmächtigter kehrte er nun (3.
Januar 1849) nach Frankfurt zurück und überbrachte eine Note (datirt vom 28.
December), welche gegen die Auslegung des ministeriellen Programms durch Ga¬
gern Protest einlegte, die Versicherung ertheilte, Oestreich wollte von Deutschland
nicht lassen und es ablehnte, auf andere Weise mit der Rcichsregieruug in Unter¬
handlung zu treten, als durch den gewöhnlichen Bevollmächtigte». Darauf stellte
Gagern (6. Januar) an die Nationalversammlung die Anforderung, ihm zu Unter¬
handlungen mit dem östreichischen Bevollmächtigten ni'er die künftige völkerrecht¬
liche Stellung Oestreichs zu Deutschland Vollmacht zu ertheilen. Die Debatte, welche
den 11. Januar begann, zeigte die wachsende Erbitterung, die innerhalb der dynasti¬
schen Partei zwischen den Oestreicher» und Preußen ausgebrochen war — denn
daß es sich mit dem engern Bundesstaat darum handle, de» König von Preußen
zum Erbkaiser zu machen, erklärte Gagern damals schon offen, der sich übrigens
vergebens bemühte, die Debatte in würdigen und gemessenen Formen zu halten.
Joseph v. Würth, ehemals Unterstaatssccrciär, entblödete sich nicht, um Preußen
zu schaden, Amtsgeheimnisse anszuvlander» und Georg Freiherr von Vinke ließ
sich dadurch zu einem leidenschaftlichen Ausfall gegen die Oestreicher hinreißen.
Schmerling konnte über die eigentliche» Absichten der östreichischen Regierung keine
Auskunft gebe» und so mußte die Nationalversammlung dem Ministerin»! Gagern
(Ul. Januar) die verlangte Ermächtigmig zu Unterhandlunge» mit dem Kaiserstaat
ertheilen. Es geschah mit 2in gegen 224 Stimmen.
Die Versammlung ging daraus an die erste Lesung des Verfassuugs-Entwurfs.
Die Majorität des Ausschusses stellte de» A»trag: die Würde des Reichs-Ober-
haupts wird einem der regierende» deutsche» Fürsten übertragen. Er wurde von
zwei Seiten bekämpft: von der Linke», die de» Antrag machte, einen Präsidenten
an die Spitze zu stellen, zu welcher Würde jeder Deutsche wählbar sei, und vou der
Rechten, aus welcher ein Theil ein Directorium wollte (Notenhan), ein anderer
(Welcker) einen sechsjährigen Turnus zwischen Oestreich und Preußen. Der An¬
trag der Linken fiel mit 122 : :it!9 Stimme»; das Amendement Notenhan mit
07 : 301, das Amendement Welcker mit 80 : 377 und so ging der Majoritäts-
Antrag mit 258 : 211 Stimme» d»res. (N>. Januar). Dagegen wurde (23. Ja¬
nuar) die Erblichkeit des Reichs-Oberhaupts verworfen mit 211 : 2»:!, ebenso die
Wahl ans Lebenszeit mit 39 : 413, auf sechs Jahre mit 190 : 204, aus drei
Jahre 12V : 305, und so blieb die Dauer der nenzuschaffcnden Centralgewalt,
welcher (25. Januar) der Kaisertitel mit 217 : 205 übertragen wurde, in der
Schwebe, wenn man nicht mit Herrn Vogt annehmen wollte, sie sollen auf Kün¬
digung engagirt werden.
Die kleine» Staate» hatten sich mittlerweile mehrfach für die Uebertragung
der Reichsgewalt an Preußen ausgesprochen; so die Stände von Kassel (5. Ja¬
nuar), Schwerin (9. Januar), Braunschweig (19. Januar) u. s. w. Sehr bestimmt
sprachen sich aber die radikalen Kammern von Sachsen, Baiern und Würtemberg
dagegen aus. Oestreich schlug den geläufigen diplomatischen Weg ein. Es erließ
(17. Januar) eine Note an die königlichen Regierungen, die eine Mediatisation
der kleinen deutschen Fürsten zu Gunsten der Königreiche in Vorschlag brachte,
doch so, daß Preußen von dieser Veränderung keinen Gewinn haben sollte.
Ueber die Volksvertretung und Anerkennung der Grundrechte war nichts Näheres
präcisirt. Da endlich ermannte sich Preußen und erließ (den 23. Januar) durch
den provisorischen Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Grafen Bülow, eine
Circularnote an sämmtliche deutsche Regierungen, welche, Oestreich gegenüber, für
die einzelnen Staaten das Recht in Anspruch nahm, sich innerhalb des alten
Staatenbundes zu einem engern Bundesstaat zusammenzuschließen, und die ein¬
zelnen Regierungen aufforderte, sich über die Modistcationcn, welche in dem Ver-
fassungsentwurf zu wünschen seien, vor dem endlichen Beschluß mit der National¬
versammlung zu verständige». Der dem Neichsvorstand zugedachte Kaisertitcl
wurde als überflüssig bezeichnet. In Folge dessen überbrachte Würth nach Frank¬
furt eine Note seines Cabinets vom 4. Februar, welche gegen Preußen ziemlich
bitter pvlemifirte und die Erklärung abgab, der östreichischen Negierung „schwebe"
das Bild einer ganz anderen Einheit Deutschlands vor, ohne daß doch über dies
Bild etwas genaueres bestimmt wurde. Die Regierungen vou Sachsen (10. Fe¬
bruar), Hannover (13. Februar) und Baiern (t(i. Februar) schlössen sich, wenn auch
in milderen Formen, im Wesen dieser östreichischen Erklärung an; ja der bairische
Gesandte in London, v. Cetto, entblödete sich nicht, in einem Schreiben an Pal-
merston, gestützt auf die völkerrechtlichen Verhältnisse seines Staats, einen Protest
gegen die preußische Hegemonie einzulegen; ein Verfahren, wegen dessen er von
seinem Minister, Grafen Brav,, nur einen gelinden Verweis erhielt (7. Februar).
Schon den 23. Februar übergab der preußische Bevollmächtigte, Ludwig Camp-
Hansen, eine Reihe von Abänderungsvorschlägen, welche die Regierungen der 28
kleinen Staaten gemeinschaftlich mit der Preußischen entworfen, der Nationalver¬
sammlung zur weiteren Berücksichtigung. Sie veränderten zwar die Verfassung
in vielen Punkten wesentlich zu Gunsten der Selbstständigkeit der einzelnen Staaten,
doch blieben sie im Princip bei dem Gagern'sehen Programm stehen.
Während dieser Zeit war in den meisten Staaten wegen der Anerkennung
der von der Nationalversammlung festgestellten Grundrechte ein Conflict zwischen
den Kammern und den Regierungen ausgebrochen. In Würtemberg wurden sie
in der zweiten Kammer (7. Febr.) mit 72 : 62 Stimmen für rechtSgiltig erklärt,
und führte» demnach zum Rücktritt des Ministeriums v. BeiSler, ohne daß da¬
mit für ihre Publikation etwas erreicht war; von den sächsischen Kammern wurden
sie (14. Febr.) fast einstimmig angenommen; in Hannover (10. Febr.) mit 58:2"
Stimmen. In Dresden gab in Folge dessen das Ministerium Braun (24. Febr.)
seine Entlassung, und die Grundrechte wurde» (27. Febr.) in der That publicirt,
wenn auch unter Vorbehalt, in Hannover dagegen nahm das Ministerium Stüve
seine zuerst angebotene Entlassung wieder zurück (13. März).
Indessen hatte die Nationalversammlung ihre Arbeiten fortgesetzt. Der Reichs¬
rath wurde (26. Jan.) in erster Lesung angenommen (211 :200), eben so das ab¬
solute Veto des Kaisers in Verfassuugsaugclegenheiten mit 259 : 196 Se. (1. Febr.)
Die vom General v. Schäfer-Bernstein gezogene Demarkationslinie in Posen wurde
(6. Febr.) mit 280 : 124 Se. approbirt; in Beziehung ans das Rcichswahlgesetz
(20. Febr.), die Beschränkung sowohl durch einen kleinen Census (117 : 332) als
durch indirecte Wahlen (125 : 299) verworfen, und selbst (23. Febr.) politische
Verbrecher uicht unbedingt von der Wahl ausgeschlossen. So wurde die erste
Lesung der Verfassung beendigt und die zweite Lesung bis auf den Bericht hin¬
ausgeschoben, welche der zur Revision derselben bestimmte Ausschuß abstatten sollte.
Es traten nun die Intriguen über die Spitze, welche man der neuen Ver-
fassung geben wollte, in den Vordergrund. Es schieden sich drei Parteien:
die des Weidenbusches (constituirt den 17. Februar), welche sich enge an das
Gagern'sche Programm anschloß und ihren Kern in den preußischen Abgeordneten
fand; die Grvßdeutsche (gebildet deu 9. Februar), ans Oestreichern, Baier»,
Ultramontanen und Particnlaristen aller Art zusannuengcsetzt, welche das Aus¬
scheiden Oestreichs aus dem engern Bundesstaat um jeden Preis zu hintertreiben
strebte, und die Linke, der es bei ihrem Grundgedanken, ganz Deutschland de¬
mokratisch z» centralisiren, nicht daraus ankam, bald mit der eiuen, bald mit der
andern Partei in Unterhandlung zu trete». Doch trat sie bei ihrer negative»
Haltung der Weidenbuschpartci, weil diese einen bestimmten Plan verfolgte, viel
schroffer entgegen, als der Großdeutschen, welche geschmeidiger war, weil ihr nur
ein unbestimmter Plan „vorschwebte."
Dem Anschein nach überließ sich die großdemsche Partei der Führung patrio¬
tischer Männer, welche aufrichtig die Idee des einigen Deutschlands verfolgten,
namentlich Welcker's; ihre eigeutlichen Centren waren Olmütz und Nymphen¬
burg. Neben Schmerling und Wnrth kam auch uoch (13. Februar) Graf Rehberg
als designirter Nachfolger Schmerlings in Frankfurt an, und es war zu natürlich,
daß im Stillen der Reichsverweser, im Widerspruch mit seinem Ministerium, diese
Partei begünstigte, obgleich es von Seiten des letzter» (26. Februar) officiell in
Abrede gestellt wurde. Besonders nahmen sich auch die ehemaligen Neichsminister
Heckscher und v. Hermann der Partei an, die (23. Februar) nach Ollmütz reisten,
um die Partei mit dem östreichischen Cabinet in nähere Verbindung zu setzen.
Ihre Mission hatte keinen erheblichen Erfolg, denn den 8. März theilte Schmer¬
ling dem Rcichsministcrinm eine Circnlarinstrnction seiner Regierung mit (datirt
vom 27. Februar), in welchem Oestreich endlich mit der Idee des einigen Deutsch¬
lands , welches ihm vorschwebte herausging. ES sollte den gestimmten östreichischen
Staat umfassen, kein Volkshaus, soudern nnr ein Staatenhaus e»thätten, zu wel¬
chem Oestreich mehr Deputirte zu schicken habe, als das übrige Deutschland zu¬
sammen; die gemeinsame Negierung sollte eine Art Directorium führen. Gleich-
zeitig mit dieser Instruction, welche der neuernannte preußische Minister des Aus¬
wärtigen, Graf Arnim, „mit hoher Befriedigung" aufnahm, wurde die Auflösung
des Reichstags zu Kremsier (6. März), die Octroyirung eiuer allgemeinen östrei¬
chischen Verfassung und die Constituirung Oestreichs zu einem Einheitsstaat bekannt.
Unter diesen Umständen trat (12. März) Karl Welcker, in der Erkenntniß,
die Centralisirung des gesammten Deutschlands sei unmöglich, in der Nationalver¬
sammlung mit dem überraschenden Antrag hervor, die Verfassung, wie sie aus
der Revision des Ausschusses hervorgegangen, en bloc anzunehmen, und den Kö¬
nig von Preußen zum deutschen Kaiser auszurufen. Es fanden von Seiten der
Weidenbuschpartci, die nnn ihre ganze Hoffnung aus eine schnelle Entscheidung
setzte, lebhafte Unterhandlungen mit der Linken statt; aber die Gegenpartei war
ebenfalls gerüstet; die Oestreicher waren damals 110 stark — wobei doch zu be¬
merken ist, daß durch Arneth und v. Würth der Beginn mit dem Austritt gemacht
wurde — die Linke blieb fest, und so siel der Welcker'sche Antrag (21. März)
mit 252: 283 Stimmen. Das gesammte Ncichsministerium legte sein Amt nieder
und führte die Geschäfte nur noch provisorisch fort, da eine Unterhandlung mit
Herrn v. d. Pfordten über Uebernahme derselben nicht zum Ziel führte. Die Ver¬
sammlung entschied sich (22. März) auf Eisenstucks Antrag mit 282:246 Stimmen
zu schleuniger Abstimmung über die einzelnen Paragraphen des Verfassungsentwurfs
ohne vorhergehende Discussion, verwarf aber den Antrag desselben, die östreichische
Verfassung für null und nichtig zu erklären, mit 275:174 Stimmen. Ein Theil
der Weidcnbnschpartei verpflichtete sich nnn gegen diejenigen Mitglieder der Linken,
welche unter dieser Bedingung für den Entwurf der Centren stimmen zu wollen
erklärten, den Regierungen keine weiteren Zugeständnisse zu mache»; Gagern sel¬
ber gehörte zu thuen. So wurde (26. März) die eventuelle Zusammensetzung des
Staatenhauses sür den Fall, daß Oestreich vorläufig nicht Theil nehme, geneh¬
migt mit 290:231 Stimmen; die Uebertragung der Oberhanptswürde an einen
der regierenden Fürsten mit 27!»: 255, die Erblichkeit dieser Würde mit 267:263
Stimmen beschlossen; dagegen ließ man den Reichsrath (269:245) und das abso¬
lute Veto der Reichsgcwnlt in Verfassnngsangelegenheiten (272:243) fallen —
auch die schwarzgelben Oestreicher, z. B. Schmerling, stimmten dafür, um die
Verfassung zu vereiteln — und von den Abänderungsvorschlägen wurde keiner
berücksichtigt. Nachdem ans diese Weise die zweite Lesung der Verfassung beendet
(27. März), wurde von 290 Stimmen Friedrich Wilhelm IV. König von Preußen
zum deutschen Kaiser ausgerufen (28. März). 248 Abgeordnete enthielten sich
der Wahl.
Der Reichsverweser wollte sofort abdanken; man bewog ihn zur vorläufigen
Fortführung der Geschäfte. — Die östreichische Regierung forderte ihn auf zu blei¬
ben (5. April), berief dagegen ihre Abgeordneten aus eiuer Versammlung, welche
ihre Vollmachten überschritten habe. Doch zögerten diese, um die Verhältnisse
noch weiter zu verwirren; erst den 16. April traten 30 Abgeordnete ans und den 28.,
folgte der Rest unter Schmerlings Führung, begleitet von den Flüchen ihrer frü¬
hern Verbündeten auf der Linken.
Die Deputation, welche dem neugewählten Oberhaupt die Kaiserkrone über¬
bringen sollte, kam den 3. April in Berlin an. Die preußischen Kammern waren,
mit Ausnahme der äußersten Rechten und der äußersten Linken, entschieden für
das Eingehn Preußens auf den Frankfurter Plan, doch waren sie durch andere
Parteifragen zu sehr getheilt, als daß eine bedeutende Majorität sich für diese
oder jene Form der Erklärung gebildet hätte. Die Adresse der zweiten Kammer
wurde nur mit einer Majorität von 4 Stimmen angenommen. — Die Antwort
des Königs war unbestimmt, keinenfalls erhielt sie eine unbedingte Annahme der
Kaiserwürde sammt der Verfassung, und nur von einer solchen konnte nach der
Erklärung der Deputation die Rede sein. — Dagegen erließ die Negierung (3. April)
eine Circulardepesche an die deutschen Staaten, worin dieselben zur weiteren Be¬
gutachtung des von der Nationalversammlung vorgelegten Entwurfs aufgefor¬
dert wurden. Ueberdies erklärte sich der König bereit, die provisorische Central-
gewalt zu übernehmen, wenn sie ihm angetragen würde. — Preußen machte mit die¬
sen Vorschlägen kein Glück. Von Seiten Oestreichs wurde (5. April) an deu Ge-
sandten in Berlin, Ritter v. Prokesch-Osten eine Note abgehend:t, die auch dieser
Wendung der Dinge wenig Gedeihen verhieß, und die 28 Regierungen, welche
bisher zu Preuße» gehalten, erklärten (14. April) ihre unbedingte Annahme der
Reichsverfassung. Ueberdies erhob sich jetzt ein heftiger Kampf für die Verfassung
von Seiten ihrer bisherigen Gegner, der radikalen Kammern; so wurde sie von
den sächsischen Kammern für rechtsgiltig erklärt (Antrag Reyscher, 11. April), in
Stuttgart (Antrag Heubner, 13. April) mit 5!» : 14 Se.; endlich (21. April) auch
in der zweiten preußischen Kammer nach dem Antrag von Nodbertus mit 175 :149
Se. Die Kammern von Baiern und Hannover konnten sich nicht aussprechen, weil
sie vertagt waren. Die Nationalversammlung hielt sich gemäßigt; mit Beseitigung
der radikalen Vorschläge nahm sie (11. April) mit 27<> : 15!» Se. den Antrag
Kiernlss'S an, die Centralgewalt bis auf Weiteres dem König von Preußen, so¬
bald derselbe die Verfassung anerkannt haben würde, offen zu halten. Die bis¬
herige Rechte suchte sich nun der Linken zu nähern; der zweite Vicepräsident,
Eisenstück, wurde (13. April) aus dieser Seite des Hauses gewönne». — Der
König von Würtemberg erklärte, die Verfassung annehmen zu wollen, aber nicht
die Hegemonie Preußens; das Ministerium Römer im Verein mit der Kammer
nöthigte ihn dnrch moralischen Zwang zur unbedingten Anerkennung (24. April).
Dagegen notificirte Baiern (23. April) seine definitive Ablehnung, und ziemlich
gleichzeitig wurden in Preußen (27. April), in Hannover (25. April) und in Sachsen
30. April) die Kammern aufgelöst, während eben die Nationalversammlung (An¬
trag Schubert, 2l>. April) die Regierungen bürgert aufforderte, der gesetzlichen
Stimme ihrer Volksvertreter Gelegenheit zu geben, sich zu äußern. Die Neichs-
commissäre, die nach Berlin, Dresden, München und Hannover abgeschickt wurden
(27. April), richteten natürlich Nichts ans. Preußen lehnte definitiv ab (28. April)
und berief einen Fürstencongreß nach Berlin zum Entwurf einer neuen Verfassung.
Unter diesen Umständen faßte die Nationalversammlung, indem sie über jene
Kammeranflvsungcu ihre Mißbilligung aussprachen, den Beschluß, das Präsidium
zu ermächtigen, sie an jeden beliebigen Ort wieder einzuberufen (28. April); zu¬
gleich setzte sie die Zahl der zur Beschlußfähigkeit nothwendigen Mitglieder auf
15N herab. In Sachsen gab das Ministerium Held, das auf Annahme der Ver¬
fassung von Seiten des Königs gerechnet hatte, seine Entlassung, als es sich darin
getäuscht sah (2. Mai). Das war das Signal zum Aufstand, der (ü. Mai) in,
Dresden ausbrach, die Flucht des Königs und die Bildung einer provisorischen
Negierung veranlaßte, und sich über die meisten Städte Sachsens verbreitete,
überall aber lediglich von der radikalen Partei geleitet wurde. Deu ü. Mai
rückten, von der sächsischen Regierung erbeten, preußische Truppen in Dresden
ein, den !>. Mai war die Stadt von den Insurgenten gesäubert und der Belage¬
rungszustand mit seinen übrigen Segnungen begann. Auch in der Pfalz begann
der Aufstand „zur Durchführung der Reichsverfassung" mit einer Volköversamm^
trug zu Kaiserslautern (ü. Mai) und der Einsetzung eines Landesvertheidignngö-
ansschnsses; der dorthin gesandte Reichscommissar Eisenstück stellte sich offen an
die Spitze desselben (7. Mai), und wurde deshalb zurückberufen (I I. Mai). Ueber-
haupt hielt sich die Nationalversammlung noch immer auf dem Boden des Gesetzes;
der Antrag Vogt's, einen Aufruf an das Volk zu erlassen, wurde mit 1^8 : 258,
der Antrag Simon's, das gesammte Heer auf die Verfassung vereidigen zu lassen,
mit : 244 Se. abgelehnt. Dagegen wurde (4. Mai) beschlossen, daß die
Wahlen für das Volkshauö deu 15. Juli stattfinden, und daß der erste Reichstag
den 15. August zusammentreten solle. Von denjenigen Fürsten, welche die Verfas¬
sung anerkannt haben würden, sollte der mächtigste die provisorische Centralgewalt
führen, die definitive aber sollte dem König von Preußen vorbehalten bleiben.
Zugleich protestirte das Ncichsministerium gegen eine Einmischung Preußens in
die innern Angelegenheiten von Sachsen ohne Vollmacht von Seiten des Reichs.
Selbst noch den 7. Mai, als die Reihen der Rechten sich schon bedeutend lichte¬
ten, wurde der Antrag Wesendvnk's auf sofortige Vereidigung der Truppe» durch
motivirte Tagesordnung mit 209:140 Se. beseitigt. Aber die Zeit des „Reichs"
war dennoch abgelaufen. Gagern legte ein Programm vor, auf welche Weise die
Centralgewalt sich bei der Durchführung der Verfassung zu betheiligen habe; der
Neichsvenveser versagte seine Zustimmung und nahm die darauf erbetene Entlassung
des gesammten Ministeriums an (l«>. Mai), trotz der lebhaftesten Vorstellungen von
Seiten der Nationalversammlung, welche zugleich aus deu Antrag Reden's mit
188 : 147 Se. beschlossen hatte, energische Maßregeln gegen den von Preußen in
Sachsen verübten Friedensbruch zu ergreisen. Demnach berief Preußen (14. Mai)
seine Abgeordneten ans der Nationalversammlung; Sachsen (21. Mai) und Han¬
nover (28. Mai) folgten. Die Deputirten legten zwar Protest gegen diese Ab¬
berufung ein, aber es verschwand doch Einer nach dem Andern ans der Pauls-
kirche. So wurde denn (12. Mai) ein Mitglied der gemäßigten Linken, Theodor
Reh, zum Präsidenten gewählt, und der von Backhaus erneuerte Vorschlag, von
dem Heere den Eid auf die Verfassung zu erlangen, ging diesmal mit 168 : 142
Se. durch. Dennoch wurde noch den 15. Mai der Antrag Umbscheiden's, den
Aufstand in der Pfalz unter den Schutz' der Nationalversammlung zu stellen, mit
180 : 180 Stimmen verworfen. Die Verwirrung steigerte sich, als (16. Mai)
Herr Grävell sich der Versammlung als Präsident des neuen Neichsministeriums
präsentirte, neben ihm Detmold für die Justiz, General Jochmns, Pascha von
drei Roßschweifen, für das Auswärtige, Merk für die Finanzen. Gleich den fol¬
genden Tag gab die Versammlung auf Welker's Antrag gegen dieses Ministerium
mit 191 : 12 Se. (>4 enthielten sich der Abstimmung) ein Mißtrauensvotum ab;
Grävell erklärte (18. Mai) dennoch zu bleiben. Es folgt jetzt in den Verhand¬
lungen eine grenzenlose Verwirrung; man schlug vor, die Centralgewalt zu be¬
seitigen, sie aber zugleich daran zu verhindern, ihre Vollmacht in andere Hände
niederzulegen, als die der Nationalversammlung; man beschloß die verfassungs¬
treuen Staaten zu schützen, einen Reichsstatthalter zu wählen und Anderes. So
sah sich denn — in demselben Augenblick, als die zweite Kammer zu München
mit 72 : 62 Se. die Reichsverfassung anerkannte (21. Mai) — das gesammte rechte
Centrum uuter Gagern's Führung zum Austritt veranlaßt. Damit war die Sache
der Nationalversammlung verloren.
Inzwischen waren auch im Preußischen Bewegungen gegen die Regierung
ausgebrochen. Die Unruhen in Breslau wurden schnell beseitigt (8. Mai);
ernsthafter aber wurde es in der Rheinprovinz und Westphalen, wo bei dem
Aufgebot der Landwehr ziemlich allgemein ein offener Aufstand ausbrach; ein
in Köln zusammengetretener rheinischer Städtetag erklärte (8. Mai) die Reichs-
verfassung für giltig und verlangte Entlassung des Ministeriums Brandenburg;
in Düsseldorf, Elberfeld, Iserlohn n. s. w. wurden Barrikaden aufgeschlagen.
Aber die Bürger nahmen im Ganzen an dieser Bewegung keinen Theil; in
Düsseldorf wurden schou den 10. Mai die Barrikaden genommen, in Elberfeld
wurden sie von selbst geräumt (16. Mai). Iserlohn wurde nach kurzem Wider¬
stand von den Truppen besetzt (17. Mai), und es kam wieder die Zeit des Be¬
lagerungszustandes, der Loyalitätsadressen und der Untersuchungen. Dagegen brach
in Baden eine Militärinsurrcction ans (12. Mai), in Rastatt und Lvrrach wurden
die Offiziere erschlagen, von einer Volksversammlung zu Offenburg aus (18. Mai)
verbreitete sich der Aufstand nach Karlsruhe und Freiburg; der Großherzog entfloh
nach Frankfurt, ein LandeSvertheidi^ungsausschuß unter Brentano wurde cousti-
tuirt (14. Mai), die vor einigen Tagen verurtheilten Struve, Bornstedt u. s. w.
befreit; mit den Pfälzern und den Radicalen in Würtemberg wurde eine Verbin¬
dung angeknüpft, polnische Generäle (Sznayde, Mieroslawsky) an die Spitze ge¬
stellt, eine provisorische Regierung, Brentano an der Spitze, aus jungen Leuten
zusammengesetzt, (I.Juni), die aber den Duukelrotheu bereits zu blaß waren, selbst
nach Paris Abgeordnete gesendet, endlich eine constitnirende Versammlung cinbc
rufen, die den 10. Juni durch Brentano zu Karlsruhe eröffnet wurde, und die
Regierung an Brentano, Goegg und Werner übertrug (14. Juni), bis Fnedncb
Hecker aus Amerika zurückgekehrt sein würde. Die sinnlose Wirthschaft wurde den
14. Juni durch deu Einmarsch der Preußen nnter General Hirschfeld in Kaisers¬
lautern unterbrochen. Der Versuch des bainschen Ministeriums, die Pfälzer Ab
geordneten aus der Kammer zu entfernen, führte (23. Mai) zu einem Austritt
der gesammten Linken und endlich nach langem Zaudern zu einer Auflösung des
Landtags (in. Juni).
Indeß hatte das Cabinet in Berlin, welches mit den Bevollmächtigten von
Sachsen, Hannover, Baiern und Oestreich — die andern Staaten hatten den
Congreß uicht beschickt — lebhaft über einen neuen Verfassungsentwurf unterhan-
delte, der Centralgewalt die Erklärung abgegeben (18. Mai), sie werde die Unter¬
handlungen mit Dänemark selbstständig in die Hand nehmen, da sie die Befugniß
des Reichsverwesers zur Vertretung deö deutschen Bundes uicht mehr anerkennen
könne und ihr gerathen, zurückzutreten (23. Mai). Dasselbe war von Sei¬
ten des Rumpfparlaments geschehen, welches die beschlußfähige Anzahl seiner Mit¬
glieder (24. Mai) auf 100 herabgesetzt hatte. Der Reichsvcrmeser legte gegen
beides lebhaften Protest ein und genehmigte den Rücktritt Grävell'ö (3. Juni»,
dessen preußisches Gefühl mit seiner Stellung in Konflikt kam. Er wurde durch
Fürst Wittgenstein ersetzt, und damit die Centralgewalt gänzlich in die Hände der
großdeutscheu Partei, d. h. Oestreichs gegeben. Das Parlament, das am 2«.
Mai einen Aufruf an das deutsche Volk erlassen hatte, die Verfassung mit allen
Mitteln zu vertheidigen, (selbst die Einmischung vou Fremden war nicht anSgc
schlössen), beschloß (30. Mai) mit 71 : 04 Stimme» seine Verlegung uach Stutt¬
gart, in den einzigen größern Staat, der sich für die Verfassung erklärt hatte.
Hier hatte eine große Volksversammlung zu Reutlingen (27. Mai) das Ministe
rinn auffordern lassen, mit Baden und der Pfalz, wo doch der Aufstand auch
die Feststellung der Reichsverfassung betreffe, in Verbindung zu treten; Römer
hatte sich entschieden geweigert und im Gegentheil einige Agenten ans Baden, die
das Volk aufwiegelten, in Haft bringen lassen (I. Juni). Auch die Kammer ver¬
warf den Antrag auf unbedingte Unterstützung der Insurgenten in Baden und
der Pfalz (4. Juni) mit 00 : 18 Stimmen und beschloß die Unterstützung nur
für den Fall — freilich dunkel genug ausgedrückt — daß dieselben „den Pflichten
gegen die Reichsverfassung nachkamen." Das Parlament zählte bei seiner Wieder-
eröffnung (6. Juni) in Stuttgart 104 Mitglieder: darunter U! aus Oestreich,
1» aus Preußen, aus Baiern, 1V aus Sachse», 22 aus Würtemberg. (>s
beschloß noch, nachdem Löwe zum Präsidenten ernannt war, an demselben Tage,
die Centralgewalt durch eine Regentschaft von 5 Mitgliedern zu ersehen, zu denen
Raveaux, Vogt, Schüler, H. Simon und Becker gewählt wurde. Diese soge¬
nannte Ncichsregentschaft erließ den folgenden Tag eine Proclamation, worin bei
Strafe des Hochverraths gebeten wurde, ihren Befehlen in allen Punkten und
nicht etwa der bisherigen Centralgewalt zu gehorchen. Die Würtenberger Regie¬
rung erließ eine Gegenproclamation, und die Kammer bestätigte mit «v .- 4V
Stimmen die Ansicht, daß Würtemberg nur nach Behörden zu gehorchen habe.
Die Regentschaft, die in einem beständigen Schwindel gelebt zu haben scheint, er¬
ließ einen Befehl uach dem andern an preußische und audere Generale, sandte
Commissionen ab, entsetzte einen würtembergcr General, bis endlich (13. Juni)
Römer sie ernsthaft aufforderte, sich aus Würtemberg zu entfernen. Er erklärte in
der Kammer, daß er weder die eine noch die andere Centralgewalt anerkennen
und mit Preußen auch nichts zu thun haben wollte. Als endlich (Ili. Juni) das
Parlament ein Wchrgcsctz erließ, nach welchem sie die Disposition über sämmtliche
streitbare Mannschaft der Regentschaft übertrug, verbot Römer seinen ferneren Zu¬
sammentritt und ließ es (>8.Juni) durch Militär auseinandersprengen. Die Kam¬
mer erklärte die Anklage, die deshalb gegen ihn erhoben wurde, mit 43 : 37
Stimmen für uicht dringlich. So kläglich endete eine Versammlung, welche ein
Jahr hindurch der Stolz Deutschlands gewesen war; keine Hand wurde für sie
aufgehoben.
Indeß hatte man von der andern Seite das Verfassnngswcrk wieder aufge¬
nommen. Den 28. Mai publicirte der Preußische Staatsanzetger das zwischen
Preußen, Hannover und Sachsen abgeschlossene Separatbündniß und einen von
ihnen gemeinsam vorgelegten Entwurf sür das Reich, das aus den Staaten be¬
stehen sollte, welche sich freiwillig ihnen anschlössen. Baiern hatte seine Mit¬
wirkung versagt, Oestreich war wieder in seine alte Rolle des Protestirens zurück¬
getreten. Auch der König von Sachsen erließ eine Proclamation, nach welcher
den sächsischen Kammern die Ratifikation dieses Bündnisses vorbehalten w''.rde. Am
bedenklichsten war das vctroyirte Wahlgesetz, das bei den verwickelten und un-
gleichen Stcuerverhältnissen der verschiedenen Länder kaum durchzuführen sein
dürste. Offen find diesem Bündiß, das durch eine officielle Denkschrift (I I . Juni)
näher declarirt und dessen Ausführung durch Einsetzung eines Verwaltungsraths
(>8. Juni), bestehend aus v. Canitz-Dalwitz, v. Zeschau und v. Wangenheim in
Angriff genommen, bis jetzt nnr die beiden Meklenburg (15>. Juni) und Anhalt-
Bcrnbnrg beigetreten, in's Geheim wahrscheinlich aber auch der Großherzog von
Baden, der gegenwärtig in Frankfurt residirt und sein bisheriges liberales Mini¬
sterium Beck (M Juni) mit einem conservativen unter Klüber vertauscht hat. In-
wiefern die großdentschen Intriguen, geleitet durch den bairischen Minister v. d.
Pfordten, der deu 12. Juni nach Wien, von da nach Berlin abreiste, hinreichen
werden, das auf militärische Ueberlegenheit gestützte Separatbündniß zu brechen,
wird die nächste Zukunft lehren.
In letzter Zeit wurden den Grenzboten einige historische Dramen im Manu-
script für den Abdruck eingesandt, das Wohlwollen der Dichter berief sich dabei
ans einen frühern Aufsatz dieser Blätter über deutsche Kunst. Wir haben diese
Dramen nicht abgedruckt und die Absender mögen die Gründe dafür in dem Fol¬
genden finden; unsern Lesern aber, welche die Ueberzeugung theilen, daß unter den
Kunstgattungen der Poesie vorzugsweise das Drama berufen sei, in unsrer näch¬
sten Zukunft das ideale Empfinden der Nation darzustellen, sollen diese Zeilen
einige Wahrheiten in verständlicher Sprache zusammenstellen.
Das Drama hat die Aufgabe, unserem Ange und Ohr Personen vorzuführen,
welche durch den Antheil an einer Begebenheit, die von ihrem Anfang bis zu ihrem
Ende übersichtlich ist, verbunden sind. Die Begebenheit muß uns durch die Worte
und Thaten verschiedener Personen klar werden, die Personen müssen uns ihrer
Eigenthümlichkeit nach durch und dnrch verständlich und interessant sein, oder,
wie man zu sagen pflegt, sie müssen Charaktere werden. Deshalb hat jedes
Drama einen gesetzlichen Verlauf, feste Abtheilungen und Einschnitte. Der An¬
fang führt uns die Hauptpersonen, die Helden des Stückes so vor, daß sich ihr
Wesen und ihre Eigenthümlichkeit noch frei und unbefangen ausspricht, gewöhn¬
lich grade in dem Augenblick, wo durch eine änßere Anregung oder eine innere Ge-
dankenverbindung der Anfang von einem großen Gefühl oder Wollen sich in ihnen
ausdrückt. Dies ist die Einleitung eines jeden Dramas, in der Regel der erste Akt.
Die beiden folgenden Akte zeigen, wie in den Helden des Stückes nach und nach
die Leidenschaft immer heftiger aufgeht, wie ihr Verlangen durch äußere Um¬
stände begünstigt oder durchkreuzt wird, bis endlich, in der Regel im dritten Akt,
die volle Gluth ihres Gefühls und Willens sich in einer That concentrirt. Die¬
ser Moment ist der Höhenpunkt des Dramas, von ihm beginnt die „Umkehr", die
Charaktere erscheinen bis dahin in einseitigem aber in erfolgreichem Begehren, von
Innen nach Außen wirkend und die Lebensverhältnisse, in welchen sie auftreten,
mit sich verändernd. Jetzt aber tritt der Punkt ein, wo das, was sie gethan
haben, auf sie selbst zurückwirkt und eine Macht über sie gewinnt, welche immer
größer und größer wird und neues Thun veranlaßt, bis zuletzt die gestörte Har¬
monie der Welt, in welcher die Helden dargestellt werden, dieselben besiegt und
in der Schlußkatastrophe sich mit voller Macht die handelnden Personen unter¬
wirft. Auf diese Katastrophe folgt schnell der Schluß des Stückes, die Situation, wo
die Versöhnung der kämpfenden Gegensätze, die Wiederherstellung der durch die
Helden gestörten ethischen Ruhe eintritt, dies ist der Moment, wo die Grundidee
des Stückes am klarsten hervorkommt und der Seele des Zuschauers Erhebung und
Frieden bringt. Dieser Inhalt des Dramas, in jedem einzelnen als Lebensbe-
dingung vorhanden, tritt natürlich bei den Dramen hohen Styls am deutlichsten
hervor. Macbeth z. B. erscheint zuerst als treuer Feldherr, in der Hexenscene
wird der Keim zu ehrgeizigem Wunsch in seine Brust gelegt, dieser Wunsch treibt
ihn durch den zweiten und dritten Akt, durch den Sturm der Leidenschaft bis
zur Ermordung seines königlichen Freundes und zur Occupation der Königs-
würde. Durch diese That ist die sittliche Ordnung seiner Welt furchtbar gestört
und beginnt gegen ihn zu wirken. Das Mißtrauen, der Verdacht seiner Edlen
und vor Allem die sittliche Veränderung, welche die That in ihm selbst hervorge¬
bracht hat, kämpfen gegen ihn, treiben ihn von einem neuen Unrecht zum andern,
bis endlich die gegen ihn arbeitenden Kräfte so stark werden, daß sie in der Kata¬
strophe, in dem Kampf mit Makdnff ihn vernichten.
Denselben innern Verlauf haben fast alle große» Dramen Shakespeares, Ro¬
meo und Julie, Julius Cäsar, Coriolan, auch Orhello, wo der Keim der Ti)alt
die Entführung der Desdemona, der Höhenpunkt der Handlung aber (im 8. Akt)
das Unterliegen des edlen Othello unter die Leidenschaft der Eisersucht ist, auch An-
tonius und Cleopatra, Timon ze. und von den Dramen aus der englische» Ge¬
schichte die meisten. Die antike Tragödie der Griechen ist diesem organischen
Gesetz des Dramas zuerst mit künstlerischem Bewußtsein gefolgt, die französischen
Tragiker haben oft pedantisch den Griechen nachgeahmt; Shakespeares unge¬
heure Schöpferkraft steht auch darin einzig da, daß er diese Gesetze ohne ästheti¬
sche Schulbildung viel genauer beobachtete und sicherer inne hatte, als irgend
einer unsrer deutschen Dramatiker, Lesstng ausgenommen. Von den großen Dich¬
tern der Deutschen hat Göthe dieselben am wenigsten verstanden, Schiller aber, der sich
allerdings von ihnen bestimmt fühlte, wurde durch die große Ausdehnung, welche
bei ihm die Episoden in der Ausführung gegenüber seinem ursprünglichen Plan
bekamen, zuweilen in der richtigen Handhabung derselben gestört. Shakespeare
ist anch deshalb der größte dramatische Dichter, weil er der gesetzmäßigste ist,
und weil bei aller Freiheit, die er sich im Detail erlaubt, das Hanptgewebe seiner
Dramen den höchsten Gesetzen der Kunst am genauesten entspricht. Denn die
Grundnothwendigteiten des Dramas sind zu gleicher Zeit für die Wirkung
eines. Stückes auf der Bühne unentbehrlich. Die Bühnenwirksamkeit eines
Dramas hängt nämlich in Beziehung auf die Begebenheit des Stückes, auf das,
was wir „Handlung" nennen, zumeist von folgenden Punkten ab. Erstens,
ob der erregende Moment des Anfanges die Aufmerksamkeit spannt und in dem
Zuschauer die Empfindung einer ahnungsvollen Theilnahme hervorruft. Zweitens,
ob der Moment der concentrirten That, jener Höhenpunkt der Handlung, psycholo¬
gisch richtig angebahnt wird und mächtig und erschütternd heraustritt. Drittens, ob
in deu letzten Akten die Rückwirkung der Außenwelt auf die Seele der Helden,
d. h. die Folgen seiner That, in wirksamen Situationen, deren Effecte sich gegen
das Ende steigern, zur Darstellung kommen und viertens, ob die Katastrophe des
Stückes auch ausreicht, die Harmonie der gestörten Verhältnisse wiederherzustellen
und das ethische Gefühl der Zuschauer zu befriedigen. Es sind verschiedene Eigen¬
schaften einer dramatischen Dichternatur, welche bei diesen vier Punkten, auf denen
der kunstgerechte Bau zum großen Theil beruht, gefordert werden. Eine gute
Einleitung für das Stück und ein interessantes Moment zu finden, welches die
Seele des Helden im Anfang des Stücks anf die Handlung vorbereitet, ist Sache
des Scharfsinns und der Routine: daher sind Gutzkows erste Akte das Beste an seinen
Stücken. Den Höhenpunkt des Stückes künstlerisch vorzubereiten und denselben mächtig
herauszutreiben, ist vorzugsweise Sache der productiven Kraft des Dichters; die
Schlußkatastrophe gut zu machen, dazu gehört außer dem Dichtertalent auch Le¬
bensbildung, ein feines und sicheres ethisches Fühlen; den vierten und fünften
Akt aber wirksam zu schaffen, jenen Theil des Dramas, wo nicht mehr die Ge¬
fühle und Forderungen der einzelnen Heldeupersonen die treibende Kraft sind, son¬
dern wo die Welt des Helden, die Folge seiner That, selbst gegen ihn arbeitet,
und sich mit immer größerer Macht über ihn erhebt, diesen Theil gut zu macheu
ist am schwersten. Hier kann weder Routine, noch Reichthum poetischer Anschauun¬
gen, noch weise Klarheit des Dichters das Gelingen verbürgen, es gehört dazu
eine Vereinigung von allen diesen Eigenschaften und außerdem ein guter Stoff
und ein guter Griff, d. h. gutes Glück. Junge Dramendichter fallen in der Regel
schon beim Anfang des Stückes; ihnen ist der Stoff, den sie darstellen wollen,
so lieb, und der jungfräuliche Genuß, den jeder Dichter bei seinem ersten Schaffen
hat, noch so groß, daß sie im Publikum ein gleiches Interesse voraussetzen; dar¬
über versäumen sie zu spannen und zu reizen. Und doch ist dies zweckmäßig und
unentbehrlich. Nach dem Ausziehn des Vorhangs ist die erste Nothwendigkeit, das
Publikum aus der Alltugsstimmung herauszureißen, und ihm die Welt der künst¬
lerischen Wahrheit, in welche es so plötzlich versetzt worden ist, imponirend zu
machen, zu gleicher Zeit aber in der Exposition des Stückes den Grundton des
ganzen Dramas vorgingen zu lassen. Deshalb müssen die Anfangsseeueu das
Charakteristische der Zeit, der Nationalität, der Familien, welche dargestellt werden
sollen, andeuten. Ja, noch mehr, es wird vortheilhaft sein, wenn auch das er¬
wähnte Motiv der ganzen Handlung, welches hier das erregende Moment genannt
worden ist, bei seiner dramatischen Entwicklung die Grundfarbe des Stückes trägt,
und je nach dieser, Grauen, bange Furcht, heitere Laune :c. erregt.
Wenn hier wieder die meisten Beispiele ans Shakespeare genommen werden,
so sei auch bemerkt, daß Shakespeare noch mehr Ursache hatte, durch starke Reiz¬
mittel in den Einleitungsscenen zu spannen, weil sein Publikum viel unruhiger
und aufgeregter war, als das unsrige, und schwer zu Ruhe und Aufmerksamkeit
kam. Er versteht deshalb durch kurze, starke Schläge aus die Seelen der Zuhörer
dieselben sich zu unterwerfen. Im Hamlet ist es die nächtliche Ablösung der Wa¬
chen auf der Terrasse, die soldatischen Comandoworte, der Rapport über das Er¬
scheinen des Geistes, welche Aufmerksamkeit erzwingen und zu gleicher Zeit das
aufregende Moment des Stückes, die Unterhaltung Hamlets mit dem Geist vor¬
bereiten. Dies Motiv selbst gibt dem ganzen Stück seine Farbe und Haltung.
Eben so ist es in Macbeth, die kurze Hexenscene auf öder Haide nach dem Auf¬
gehn des Vorhangs wiederholt sich in dem erregenden Moment des Stückes, in
der Unterhaltung der Feldherrn mit denselben Hexen, und das Grauen, welches
ans dieser Unterhaltung in die Seelen der Zuhörer rieselt, gibt die Grundstim-
mung für die gesammte Tragödie. Ebenso im Romeo, im Lear, im Conolan und
in deu übrigen regelrechten Dramen des großen Dichters, welcher es liebt, das
erregende Moment seiner Stücke mit genialer Kühnheit, ohne lange Auseiuauder-
schungeu hervorspringen zu lassen. Er hatte ein gläubiges Publikum, welches
einmal angespannt, sich mit naiver Frische von dem Zauber der dargestellten Welt
fassen ließ, und deshalb war es für ihn Nebensache dies Moment weitläufig zu
motiviren. Daß Lear, der Greis den kindischen Gedanken hat, die Liebe seiner
Töchter nach ihren officiellen Redensarten zu messen und wieder die Heftigkeit, nach
dem Eindruck, welche ihre Worte auf ihn machen, ihre und seine Zukunft zu be¬
stimmen, das ist dem englischen Dichter eine Thatsache, vor welcher er seinem
Publikum gegenüber ausgehn konnte, ohne sie weiter psychologisch zu erklären.
Wir Deutsche würden das niemals wagen. Bei uus siud die Expositionen in der
Regel weitläufig und die deutsche Gründlichkeit zeigt sich, nicht immer zum Bor¬
theil für das Stück, auch darin, daß wir schon im Anfange stark motiviren. Am
geistreichsten ist auch hierin Lessing. Seine Einleitung zum Nathan ist ein Mei¬
sterstück. Göthe und Schiller liebten ebenfalls ausführliche Expositioueu, Die beste
von Göthe ist die Bolksscene im Egmont; allein Göthes Stücke haben fast alle
den großen Mangel, daß ihnen ein starkes erregendes Moment fehlt, oder daß
er, wo dies vorhanden ist, wie z. B. die Erscheinung des Mephistopheles in Faust's
Schreibstube, dasselbe nicht schnell genug bringt. Schiller ist ihm darin bei weitem
überlege», z. B. im Teil, der Stuart, dem Karlos. Sicherer aber und anspruchs¬
loser als Beide weiß Jffland dies Moment zu finden. Bon den neusten Dichtern
ist Gustow am geschicktesten in guten Anfängen, so ist z. B. die Einleitung in
eins seiner schwächsten Stücke, „die Schule der Reichen" ganz vortrefflich, nur
bricht das treibende Moment, welches in dem Aerger des alten Handelsherrn über
seine Familie liegt, sehr ungeschickt dem Haupthelden Cäsar gegenüber erst in der
Mitte des Stückes heraus. Dadurch wird die Einleitung des Stückes drei Akte
lang und wo das dramatische Leben anfangen soll, bei der psychologischen Verän¬
derung des Sohns, da ist nur noch Raum für sehr schwache novellistische Skizzen.
Die zweite Klippe, an welcher mancher Bau in dramatischer Form scheitert,
ist die Concentration des Stückes in der Mitte. Wenn ein Bühnenstück dritte¬
halb bis drei Stunden die gespannte Aufmerksamkeit eines oft zerstreuten Publi¬
kums in Anspruch nehmen will, so darf es der Negel nach nicht aus Fäden zusam¬
mengesetzt sein, welche neben einander herlaufen und sich in der Katastrophe ver¬
binden, sondern es muß, bildlich dargestellt aus zwei Linien bestehe», welche in
einem spitzen Winkel aus einander laufen, von denen die eine den steigenden Theil
der Handlung, die zweite die „Umkehr" darstellt. Der Höhenpunkt der Handlung,
welcher so ziemlich in die Mitte des Stückes fällt, ist wie wir gesehn haben, der
Moment, wo die Leidenschaft der Hauptpersonen sich in einer starken That zusam¬
menfaßt, welche als Verhängniß auf sie und ihre Mithandelnden fortzuwirken hat.
Das poetische Schaffen ist bis zu diesem Augenblick vorzugsweise eine psychologische
Darstellung der innern Veränderungen, welche in der Seele der Helden vorgehn
müsse», um die That glaublich und nothwendig zu machen. Was bis dahin im
Stücke geschieht, dient fast Alles dazu, die Helden i» der, durch das «»regende
Moment geöffneten Bahn vorwärts zu treiben, und die Metamorphose ihres In¬
nern bis zum Augenblick der That zu motiviren. Soll ich erst sagen, daß das,
was hier That genannt ist, nicht nothwendig eine Action mit Händen und Füße»,
ein Mord, el» Raub oder etwas Aehnliches sein muß? Das Aussprechen eines
großen Gefühls kann eben so sehr eine dramatische That sein. Die Hauptsache
ist, daß die hohe Spannung des Individuums sich kräftig lösen, und das Resul¬
tat derselben cffectuell heraustreten muß. Lyrische und epische Dichternatnren ha¬
ben selten das Glück ihren Stoff aus diese Weise im Innern ihrer Heldenper-
svnen zusammenschließen und binden zu könne», und deshalb siud die deutschen
Bühueiistücke so selten wirksam, d. h., gut.
Deu Dichtern mit epischer Begabung ist der Zusammenhang der Bege¬
benheit das Jnteressanteste, und deshalb trete» i» ihrer Phantasie die Personen des
Stückes nicht als souveräne Charaktere hervor, souderu sie erscheinen als einseitige
Theilnehmer an der gemeinsamen Handlung, viel mehr durch das Ganze der Be¬
gebenheit fortgetrieben, als dieselbe aus sich heraus entwickelnd. Daraus sind
zwei auffallende Erscheinungen bei neuen deutschen und manchen französischen Dra-
men erklärbar, erstens daß die dramatische Verbindung der einzelnen Scenen eine
lockere ist und die Wirkung der Scenen in dem Staunen oder Behagen beruht,
welches der jezcitige Zustand, die Lage der Helden hervorbringt (SitnationS-
malerei), und zweitens, daß die Haupthelden dnrch das ganze Stück nicht sowohl
ihre Umgebung vorwärtstreiben, als durch diese getrieben werden: Clavigo, Eg-
mont. So ist Clavigo kein guter Dramenstoff; das Schwanken des Helden zwi¬
schen Carriere und Liebe, sein Entschluß und dessen tragische Folgen sind nur der
vierte und fünfte Akt, die Umkehr, eines dramatischen Ganzen, der erste Theil
würde Clavigo'n in der Zeit darstellen, wo eine verhängnißvolle, zu seinem Wesen
nicht stimmende Liebe in ihm aufsteigt und ihn zu einer Verpflichtung fortreißt,
gegen welche dann seine Stellung, seine Gefühle, Carlos u. s. w. in richtiger
Steigerung reagiren bis zu blntigerMtastrophe; so würde etwa Shakespeare die¬
sen Stoss gefaßt haben, wenn er ein Herz dafür gehabt hätte. Derselbe Stoff
läßt sich aber auch anders fassen. Exposition: Clavigo liebt warm und ehrlich,
das erregende Moment ist ein Funken von Ehrgeiz, welcher in seine Brust ge¬
worfen wird; zweiter und dritter Akt, der Ehrgeiz erhebt sich gegen seine Liebe
bis zum Höhenpunkt, Akt drei, wo der Geliebten gegenüber die Entfremdung zu
Tage kommt und der Keim zu ihrem Tode gelegt wird, oder auch nur der Ent¬
schluß gegen Karlos ausgesprochen wird, sie zu verlassen. Darauf in Akt vier
Reaction und weiterer Kampf, in Akt fünf Beaumarchais und die Katastrophe. In
dieser letzten Auffassung, welche eine feine und detaillirte Darstellung mehr begün¬
stigt, könnte Goethe selbst deu Stoff bearbeitet haben, wenn es ihn jemals ge¬
kümmert hätte, dramatisches Leben in seine Stücke zu bringen. Die erstere Auf¬
fassung ist schwerer, aber sie macht ein größeres Stürmen der Leidenschaft möglich
und stärkere Contraste in den Stimmungen, und deshalb ist sie sür einen kühnen
Dichtergeist vielleicht lockender. Dies Beispiel statt vieler, welche aus schlechteren
Stücken gezogen werden müßten. — Aehnlich steht der Dichter, dessen natürliche
Begabung lyrisch ist, zu der dramatischen Concentration; aber ihm gelingt sie des¬
halb nicht, weil er sich nicht aus dem Innern der Personen herausfindet. Seine
Helden sprechen Gefühle ans, ohne zur That zu kommen, ihre Seele steckt ganz
in der Zunge und sie befriedigen ihre Leidenschaft durch Klagen oder Ergüsse, in
denen sie das Außerordentliche ihres Zustandes gegenüber der Welt und dem ge¬
sunden Menschenverstand mit einem gewissen Behagen empfinden; bei solcher Dar¬
stellung werden gelegentliche dramatische Aktionen, z. B. Erstechen, zur Nebensache,
zu einer Art von symbolischem Beiwerk; sie sind wirkungslos, weil durch das
vorwiegend lyrische Ergießen der Gefühle eine feste Charakterbildung der Helden
gestört wird, so daß es zuletzt ziemlich willkürlich ist, was die Personen thun;
wenn sie es nur vorher mit Gefühl und Lebhaftigkeit anzeigen. Ein solches Stück
z. B. ist Ernst von Schwaben von Uhland, keine Bereicherung unserer Literatur;
sein Ludwig der Baier ist uicht besser. — Es ist schwer, über solche Dichtungen
nicht bitter zu werden, denn sie sind ein Fluch unserer deutschen Literatur, und
werden noch jetzt alljährlich in großen Massen angefertigt. Seit Raumer's Hohen-
staufen gab sehr häusig Konradin's Geschichte den Stoff zu Trauerspielen. Schreiber
dieses kennt ein halbes Dutzend gedruckte und wenigstens ein Dutzend ungedruckte
persönlich; aber grade, was den Stoff all' diesen Dichtern lieb und imponirend
gemacht hat, die elegische Trauer über das Schicksal eines edlen Jünglings, der
die Buße zahlt für die Kämpfe seiner Vorfahren, grade das macht den Stoss un¬
dramatisch und ohne große Veränderungen ganz unbrauchbar für die Kunst. Der
Verlauf fast aller Kvnradinstücke ist dieser. Akt I: Konradin und Friedrich von
Oestreich wollen in Italien einrücken, Lagerscene; Konradin verliebt sich in eine
junge Italienerin. We 2: Die Helden rücken in Italien ein, Konradin als ge¬
fühlvoller Hohenstaufe, Friedrich als lustiger Bruder. Akt 3: sie werden geschlagen,
der Vater der Geliebten verräth die Hilfesuchenden. Akt 4: sie sind gefangen, die Geliebte
macht, sie zu befreien, Anstrengungen, die natürlich erfolglos sind, wie wir aus
der Geschichte missen. Akt 5: sie benehmen sich im Gefängniß sehr brav — die
Schachspielsceue, eine Anzahl Abschiede, sie gehen zum Tode und ziehen das ganze
Stück mit sich ins Verderben. Bei diesem Stoff ist episch, daß die Steigerung
und der Höhenpunkt des Stückes nicht durch innerliche Entwicklungsprozesse der
Helden hervorgebracht worden, sondern ganz äußerliche politische Ereignisse siud,
welche aus dem bereits gefaßten Entschluß, Italien zu erobern, ohne weiteres
folgen, und deshalb nicht das geringste dramatische Interesse haben; lyrisch aber
wird die Behandlung dieses Stoffes dadurch, 'daß die Helden sich in den gegebenen
Verhältnissen, durch welche sie für uns von Anfang an zu Boden gedrückt werden,
so tapfer, liebreich und hoffnungsvoll als möglich aussprechen. Konradin ist nach
der Verlornen Schlacht und von Frangipani verrathen ganz derselbe brave, jugend¬
liche Held wie im Anfange, er könnte eben so gut nicht verrathen werden, oder
im vierten Act von seiner Geliebten gerettet werden, oder im fünften seine Wächter
rühren und erschlagen und fortlaufen und König werden und heirathen; er könnte
dies Alles, und das Stück würde nicht schlechter werden, — weil es keine dra¬
matische Nothwendigkeit hat, mit andern Worten keinen Entwicklungsprozeß der
Charaktere, welcher von der Heerstraße der Allerwcltscmpsiuduugcu abweicht und
durch die Concentration zur That ein großes Verhängniß heraufbeschwört, welches
nach unserer vernünftigen Ueberzeugung einen ganz bestimmten ethischen Verlans
und Schluß haben muß. Das Verhängniß, welches über Konradin schwebt, ist
nicht dnrch seine eigene freie That, sondern durch seine Vorfahren erregt, er ist
selbst uur der letzte Gesang eines Epos, oder meinetwegen auch der letzte Akt
einer Geschichtötragödie, welche die entgegengesetzten Lebensbedingungen hat, wie
eine Tragödie der Kunst. — Das Eigenthümliche der dramatischen Gestaltungs¬
kraft ist, die Wandlungen und Entwicklungen der Gefühle und Personen zu em¬
pfinden, Charaktere und Leidenschaften in der Bewegung zu schauen, den Prozeß
des individuellen Lebens in seiner vernünftigen Nothwendigkeit darzustellen. Diese
höchste Eigenthümlichkeit einer Dichterkraft wird bei dem Theil des Dramas natür¬
lich am meisten in Anspruch genommen, wo es darauf ankommt, die geheimsten
Regungen und Wandlungen der Seele darzustellen vom Augenblick ihres Entstehens,'
bis zum Moment, wo sie mit fortreißender Stärke herausbrechen; je großartiger
und detaillirter die Anschauungen und Empfindungen des Dichters sind, desto
kräftiger und stärker wird die Steigerung der Leidenschaft, je größer seine Bil¬
dungskraft, desto stärker wird die Concentration werden. Verschieden, wie die
Individualität der Dichter, ist auch die Methode ihrer Concentration. Am. gro߬
artigsten ist sie wieder bei Shakespeare. Scenen wie die Nacht der Ermordung
in Macbeth, die Bewerbung und Verbannung Coriolan's, der Mord Cäsar's,
die Verhörscene der Hütte im Lear, die Balkonscene im Romeo sind Meisterstücke
von Arbeit, weniger ihrer Effekte wegen, die Shakespeare selten sucht (im Lear
z. B. hat er's doch gethan), und die er in der Regel kühn und kurz hinwirft;
sondern der sehr detaillirten und sorgfältigen Vorbereitung wegen. Der psychische
Prozeß im Brutus, Othello, Lear, Romeo, Macbeth u. s. w. sind das Höchste
und Gewaltigste, was die Poesie je geschaffen hat. Die Größe hat kein Deutscher
erreicht, aber wir können bei Lessing, Schiller, Jffland und Kleist eine ähnliche
dramatische Gestaltungskraft in sehr verschiedener Weise wirken sehn, wenn man
sich die Mühe geben will, den Höhenpunkt im Nathan — das Gespräch Rathaus
mit dem Kalifen — mit der Scene zwischen Philipp und Posa in Don Karlos,
den Zank zwischen dem Oberförster, 'seiner Frau und seinem Sohn in den Jägern
und dem Besuch des Prinzen von Homburg bei der Kurfürstin zu vergleichen.
Die weise Ruhe Lessings, die wenig motivirende Pracht Schillers, die beschränkte
Tüchtigkeit Ifflands und die seltsame, springende Unruhe Kleist's treten in diesen
Theilen mächtig hervor. Eine gemeinsame Eigenthümlichkeit der dramatischen
Concentrationskraft bei unsern deutschen Dichtern ist die, daß die Affecte der
Hauptcharaktere, welche das Stück bis zu seinem Höhenpunkt hinaustreiben, nicht
gewaltig und rücksichtslos genug auftreten, um deu Charakter, das ganze Leben
der Individuen zu füllen und umzubilden. Was wir gern schildern, sind fest¬
geformte, fertige Menschen, bei denen weniger die Leidenschaft, mehr die Reflexion
oder das Behagen in eine bestimmte, verhängnißvolle Bahn treibt. Man vergleiche
Nathan, Tellheim, Egmont, Wallenstein, Tell, u. s. w. mit Othello, Lear, Mac¬
beth, Romeo. Das ist bei einer durch Lektüre und methodisches Denken „gebilde¬
ten" Nation natürlich, für die Kunst ist es kein Gewinn.
Als der schwierigste Theil des Dramas war oben die „Umkehr" genannt
worden, jene zweite Hälfte der Handlung, welche auf den Höhenpunkt der Mitte
folgt. Die Schwierigkeiten derselben sind leicht einzusehn. Bis zum Höhenpunkt
des Stückes war das Interesse des Zuschauers an die eingeschlagene Richtung der
Hauptcharaktere gefesselt. Nach der That tritt eine Pause ein. Die Spannung
des Zuschauers muß aufs Neue erregt werden, dazu müssen neue Kräfte, neue
Personen vorgeführt werden, oder doch in den Vordergrund treten, an denen er
Theilnahme erst gewinnen soll. Schon dadurch wird eine gewisse Zerstreuung und
Zersplitterung der Scenen oft unvermeidlich. Aber noch mehr, die Aufgabe die-
ses wichtigen Theils im Drama ist, die Angriffe der Opposition zu zeigen, welche
sich ans der dargestellten Welt gegen die Helden erhebt. Diese Opposition kann
nur selten in einer Person und einer Situation sich vereinigen, sehr häufig ist
es wichtig darzustellen, wie nach und nach, von verschiedenen Seiten an die
Seele des Helden geschlagen wird. Auch dadurch werden, gegenüber der Einheit
und dem festen Zusammenhang der drei ersten Akte, die beiden letzten sehr häusig
zerrissen, vieltheilig, unruhiger und deshalb weniger wirksam. Diese Uebelstände
treten sehr auffällig hervor in den sogenannten historischen Stücken, solchen Hand¬
lungen , wo der Staat selbst mit seinen großen Parteien und Gegensätzen die dar¬
gestellte Welt der Helden bildet. Hier ist der Verlauf z. B. folgender: Ein
Held hat sich zum König gemacht, er regiert schlecht, d. h., er gibt schlechte Ge¬
setze, sündigt gegen die bestehenden, führt Kriege, schließt Frieden ze. Alle diese
großen Activnen des Staatslebens sind unendlich schwer zu dramatisiren, Naths-
versammlungen, Gefechte auf der Bühne :c. sind dabei nicht zu vermeiden und die
technischen Schwierigkeiten, welche solche Momente darbieten, drücken das Stück.
Viel besser steht darin das Familienstück, wo der Kampf gegen die Haupthelden
bequemer in einen Charakter, welcher die Gegenseite darstellt, zusammengebunden
werden kann. Selbst Shakespeare ist in der Behandlung der „Umkehr" nicht
immer glücklich. Und selbst wo sein Genie die Sprödigkeit des Stoffes vollstän¬
dig besiegt hat, unterliegt die Darstellung aus unsern Bühnen allerlei Hinder¬
nissen. Er durfte uoch eine Menge von kleinen Scenen hintereinander setzen,
welche an verschiedenen Orten und zu verschiedener Zeit spielten, weil seine
Bühne die Einschnitte, welche bei uns durch den Cvulissenwechsel hervorgebracht
werden, nicht kannte. Der zweite Theil des Lear, Cäsar, Hamlet ist entschieden
schwächer als der erste; das sind nicht überwundene Uebelstände des Stoffes; da¬
gegen sind der zweite Theil des Othello und des Coriolan Muster von Kom¬
positionen, weil es bei diesen Stoffen möglich war anch die Umkehr vorzugsweise
in die Seelen der Haupthelden zu legen und die Reaction der Welt gegen diesel¬
ben in wenigen Personell, in den Jago und beim Coriolan in die Familie des
Helden und seinen Gegner Aufidius zu legen. Für den Coriolan noch die Sei-
teubemerkung, daß feire Aufführung auf unser» Bühnen zwei Veränderungen
nothwendig macht, eine Vereinfachung der Kampfscene mit Aufidius im ersten Alt,
welche aber unter keinen Umständen ganz wegbleiben darf, und ein Zusammen¬
werfen der kleinen Scenen des Aufidius in eine Zwischenscene des dritten Aktes,
wo der flüstere Held der Voksker verkleidet uach Rom komme» kaun, grade vor der
Kandidatur des Coriolan, um im Gespräch mit einem dort lebenden Spion seinen
Grimm gegen Rom und Coriolan auszuspreche». —
Unsre deutschen Dichter find, wo sie Familienstoffe behandeln, den Gefahren
der Umkehr oft glücklich ans dem Wege gegangen, bei historischen Stoffen aber
zeigt sich der Mangel an Herrschaft über dieselben oft peinlich. So im Egmont, im
Tell, der Jungfrau. Ausgezeichnet ist dagegen dieser zweite Theil im Wallenstein
und im Prinzen von Homburg. Beide Stücke siud in dieser Beziehung Muster
für unsre jungen Dichter, ohne vielen Scenenwechsel concentriren sie die reagiren-
den Elemente in höchst wirksamer Steigerung. Der Abfall der Truppen von
Wallenstein, bis zur Abreise des Max, und wieder Natalie, Dörffling, Kottwitz,
die Offiziere und der Prinz von Homburg selbst im Zimmer des Kurfürsten, sind
vortreffliche Verbindungen von Effekten. Wenn es erlaubt ist, für diesen schwie¬
rigen Theil des Dramas eine allgemeine Vorschrift zu geben, so muß es diese sein:
Man vermeide so viel als möglich den Scenenwechsel, versuche die einzelnen Theile
des Kampfes gegen den Helden in möglichst wenig Personen darzustellen und die
Momente, in welchen die Einzelnen derselben thätig sind, entweder zu einem
Ganzen zusammenzubinden, wie im Homburg durch die Person des Kurfürsten ge¬
schieht, oder schnell und ununterbrochen in einer fortdauernden Steigerung bis zur
wirksamsten aufeinander folgen zu lassen. Es läßt sich voraussagen, daß dies bei
vielen großen Stoffen unmöglich sein wird, und in diesem Fall muß man jedem
Dichter, der nicht mit souveräner Kraft seinen Stoff beherrscht (und wir haben
keinen solchen in Deutschland), den Nath geben, dergleichen Stoffe ganz fallen zu
lassen. Natürlich ist ein solcher guter Nath ohne Erfolg.
Unsren modernen Dichtern pflegt die. Katastrophe, der Schluß des Stückes,
große Schwierigkeit zu machen. Das ist kein gutes Zeiche». Wohl gehört ein
richtiger Takt dazu, die Versöhnung zu finden, welche dem Gefühl des Schauenden
nicht widerstrebt und doch die Nothwendigkeiten des Stückes alle umschließt; Roh-
heit des Dichters und weiche Sentimentalität verletzen natürlich grade da am meisten,
wo die Grundstimmung des ganzen Bühnenwerks ihre Rechtfertigung und Bestä¬
tigung finden soll. Aber die Katastrophe enthält doch nur die Konsequenzen der
Handlung und der Charaktere; wer beide fest in der Seele trägt, einen detaillirtcu
Plan durchempfunden hat und die dramatische Fähigkeit hat innerhalb der Eigen¬
thümlichkeit der dargestellten Charaktere zu empfinden, dem kann von dem Ende
seines Dramas nur sehr wenig zweifelhaft sein. Ja, da der ganze Bau auf das
Ende losarbeitet, mag ein kräftiges Talent eher in die entgegengesetzte Gefahr
kommen: das Ende zu früh auszuarbeiten und fertig im Kopf oder aus dem Pa¬
pier zu tragen, wodurch das Ende mit den Nuancen, welche während der späteren
Arbeit die vorhergehenden Theile bekommen, hier und da in Opposition kommen
kann. Man empfindet so etwas im Prinzen von Homburg, wo das dem Anfang
entsprechende, allerdings wirksame Ende, welches offenbar dem Dichter sehr sest
in der Phantasie saß, mit dem schönen klaren Ton und der breiten Ausführung
des 4ten und 5den Aktes durchaus uicht stimmt. Aehnlich im Egmont, wo man
den Schluß auch für eher geschrieben halten muß, als die letzte Scene Klärchens,
zu der er so wenig paßt, daß er einen gradezu peinlichen Eindruck macht. Das
kam aber daher: der Charakter Klärchens war dem Dichter bei der Eintheilung
des Stoffes noch nicht detaillirt genug, ihn lockte aber der romantische Effekt der
Traumscene, er arbeitete sie sich durch. Während der spätern Ausführung wurde
ihm Klärchen in den Scenen mit der Mutter, Brackenburg und Egmont eine an¬
dere, sie nahm mehr von der Natur des Dichters an und wurde gesünder und
robuster, als die ursprüngliche Anlage. — Im Allgemeinen gilt für die Katastrophe
der Satz, je mächtiger der Höhenpunkt des Stückes hervorgetrieben ist, und je
stärker die Reaction des 4ten und 5ten Aktes gegen die im Anfang eingeschlagene
Richtung ist, desto leichter wird die Katastrophe; je geringer die dramatische Kraft,
die Dynamis des Dichters in der Mitte des Stückes ist, desto mehr wird er am
Ende raffiniren und Effecte hervorsuchen. Shakesspeare thut das letztere in seinen
regulären Stücken gar nicht. Leicht, kurz, wie nachlässig wirft er die Katastrophe
hin, ohne dabei durch neue Effekte zu überraschen, sie ist ihm so nothwendige
Folge des gestimmten Stückes und der Meister ist so sicher, seine Hörer mit sich
fortzureißen, daß er über die Nothwendigkeiten des Schlusses fast eilt. Der ge¬
niale Mann empfand sehr richtig, daß die Katastrophe dem Publikum in der Haupt¬
sache nicht überraschend kommen dürfe, ja daß es nöthig sei, bei guter Zeit die
Stimmung dafür vorzubereiten; deshalb erscheint dem Brutus Cäsars Geist, des¬
halb sagt Edmund dem Soldaten, er solle unter gewissen Verhältnissen Lear und
Cordelia tödten, so muß Romeo vor der Gruft Juliens noch den Paris er¬
schlagen, damit das Publicum, welches in dem Augenblick nicht mehr an Tybalts
Tod denkt, ja nicht die Hoffnung auskommen lasse, das Stück könne uoch gut en¬
digen, deshalb muß der tödtliche Neid des Aufidius gegen Coriolan sich schon vor
der großen Scene stark äußern und Coriolan die berühmten Worte sagen: Du
hast deinen Sohn verloren; deshalb hat der König mit Laertes die Ermordung
Hamlets durch ein vergiftetes Rappier vorher zu besprechen. Das bescheidene und
kunstvolle Mittel, welches er zuweilen gebraucht, um trotz der direkten Andeu-
tung des Schlusses doch noch zu spannen ist, daß er ein leichtes Hinderniß,
eine entfernte Möglichkeit glücklicher Lösung dem angedeuteten Gange der Kata¬
strophe später noch in den Weg wirst. Brutus muß erklären, daß er sich selbst
zu tödten für zu feig halte, der sterbende Edmund muß den Mordbefehl gegen Lear
widerrufen, Pater Lorenzo kann bis zum Augenblick, wo Julie sich tödtet, wie¬
der eintreten, selbst Coriolan kann von den Richtern noch freigesprochen werden;
Macbeth ist noch unverwundbar durch jeden, den ein Weib geboren, als schon
der grüne Wald gegen seine Burg heranzieht. Unsere Dichter gerathen nnr des¬
halb am Schluß auf die Sandbank, weil die dramatischen Charaktere, dnrch welche
sie den Schluß bestimmen lassen, fehlerhaft sind. Entweder sind sie ganz unwahr,
ein Gemenge von willkürlichen Einfällen, welche keine vernünftigen Konsequenzen
haben, wie im Werner, Otfried n. f. w. oder der Seelenproccß, welchen die Cha¬
raktere durchzumachen haben, wird mit großer geistiger Freiheit durchgemacht und
läuft auf nichts, als auf vermehrte Selbsterkenntniß und ein richtiges Verstehen
ihres Lebens hinaus, und in diesem Fall ist es ebenfalls ziemlich willkürlich, wie
man sie im Stück enden läßt. Ich denke hier nicht an Tasso und Nathan, son¬
dern an einige neue Schauspiele. In beiden Fällen ist im Stoff selbst, oder in
der Behaudlung der Charaktere etwas Uukünstlerisches.
Was hier gesagt wurde, ist so wenig als möglich schematisire; es kam darauf
an, grade das zu sagen, was in unsern ästhetischen Lehrbüchern nicht zu lesen ist.
Außer der „Handlung" in einem Drama, über deren Beschaffenheit und Einthei-
lung hier gesprochen ist, lasse» sich ähnliche technische Bemerkungen über die dra¬
matischen Charaktere, die Situationen, die Form der Stücke machen; nehmen un¬
sere Leser diese Zeilen wohlwollend auf, so werden die Grenzboten den Muth be¬
komme», mehr darüber zu bringen.
Zum Schluß noch eine Erklärung. Die Ausdrücke wirksam und gut sind zu¬
weilen als gleichbedeutend gebraucht, vom Standpunkt der Kunst ist kein großer
Unterschied zwischen beiden. Allerdings kann ein Stück sehr wirksam sein und doch
noch keinen Kunstwerth haben, aber umgekehrt ist kein Stück gut, wenn es nicht
bei erträglicher Darstellung — wirksam ist. Wir Deutsche sind vielleicht das einzige
Volk, welches gegen diese einfache Wahrheit protestiren wird. Auch sie sollte
durch das, was hier gesagt ist, bewiesen werden.
Was hier dargestellt wurde, sind organische Gesetze; Lebensbedingungen des
Dramas. Wo sich im Reiche lebendiger Organismen ein Gesetz findet, steht die
Ausnahme dicht daneben. Es ist möglich, daß ein Theaterstück wirksam und vor¬
trefflich werde, wen» es auch ein oder den ander» dieser Grundsätze nicht darstellt;
wir haben z. B. viele Stücke ohne erregendes Moment, ja sogar einige ohne oder
mit sehr schwacher Umkehr, welche in grader Linie bis zum Ende fortgehen und
doch zu fesseln wissen. Diese haben natürlich andere glänzende Seiten, welche solchen
Mangel vergessen machen. Wer aber den Dichterorganismus des Dramas verstehen
will, der studire die Gesetze desselben, und nicht die Ausnahmen in Shakespeare,
Lessing und Iffland, die drei Dichter sind für uns Deutsche die größten Techniker.
Es ist jetzt einen Monat her, da sandte der junge Kaiser von Oestreich ein
Handschreiben an den Fürsten Paskewitsch, ein Billet voll von herzlicher Hochach¬
tung und gütiger Freundlichkeit. Es war nach seiner Reise nach Warschau, und
das Schreiben wurde durch ein Ordenskreuz in Brillanten begleitet.
Ja, es war das liebevollste, freundlichste Wort, welches die östreichischen Völ¬
ker bis jetzt von Franz Joseph gelesen haben. Es war an einen Fremden, einen
Russen, den designirter Helfer gegen die Ungarn gerichtet. — Zu uns hat er so
noch nie gesprochen. — Wohl gab es eine Zeit, wo zehn herzliche, hoffnungs¬
volle Worte von ihm, bei passender Gelegenheit gesagt und mit einem Händedruck
begleitet, noch ein inniges Zutrauen in Millionen Herzen angesteckt hätten, er hat
die Worte nicht gefunden, er war nicht gelehrt, sie gegen Andere, als seine Sol¬
daten im Munde zu führen. Armes Volk, armer Kaiser! — Wenn die Zeit kom¬
me» wird, wo Du, mein kaiserlicher Herr, es für vortheilhaft halten wirst, auch
Nichtexercirten kleine Aufmerksamkeiten zu beweisen, wie sie der Monarch zu geben
liebt, dann wird es bei Vielen unnütz sein, unnützlich für Dich und vielleicht auch
für uns.
Wahrlich! Die Familienpolitik der Habsburger wird verhängnißvoll.
Man wird die Behauptung richtig finden, daß sich die letzte Zeit über nur
die Interessen der Familie oder der Dynastie in dem Hause Habsburg herausge¬
stellt haben; keine Gestalt trat aus dem Fcunilieukreise mit hinreichender Selbst-
ständigkeit hervor, um ihren Eigenwillen nicht nur dem Volke, sondern auch den
übrigen Gliedern der Dynastie gegenüber zur Geltung zu bringen. Mau kam vielmehr
über die Vielherrschaft eines dauernden Familienrathes nicht hinaus, in welchem der
jeweilige Kaiser nur das Recht des Vorsitzes besaß. Während der König von Preußen
sich selbst gleich im Anfange, ein deutscher Agamemnon, an die Spitze der deutschen
Bewegung stellen wollte, weil er sie in seiner schwärmerischen Weise in ein Epos
zu verwandeln dachte, verhielt sich unter Kaiser Ferdinand die östreichische Dyna¬
stie nur ablehnend zu den verschiedenen nationalen Bewegungen in ihren Kron¬
ländern , ohne außer diesem beharrlichen Widerstände weitere positive Zwecke zu
verfolgen. Der revolutionäre Ungestüm sollte theils beschwichtigt, theils mit Ge¬
walt zum Schweigen gebracht werden, damit das Idyll von Altöstreich, welches
das Haus Habsburg vom Standpunkt der Familie allein gemüthlich finden konnte,
wenigstens annäherungsweise wieder hergestellt werde. Früher theilte das Volk die
idyllische Stimmung der Dynastie; die Familienfeste des Kaiserhauses, die Ge-
burth- und Namenstage der allerhöchsten Herrschaften wurden von der Menge mit¬
gefeiert, und wenn man die Fenster der Hofburg öffnete, so hörte man draußen
ni tausendstimmigem Chor die Volkshymne singen. Aber im März 1848 verlangte
umgekehrt die zum geschichtlichen Leben erwachte Menge, daß die kaiserliche Fa¬
milie die Volksfeste mitfeiere. Man that das Möglichste; der Kaiser hielt die
deutsche Fahne zum Fenster der Hofburg heraus, bewilligte eine Konstitution, Pre߬
freiheit, Rvbotfreihcit, sogar einen constituirenden Reichstag: als es ihm aber
gar zu arg wurde, zog er sich gänzlich zurück und sucht jetzt hinter dem Sanc-
tissimum, das der Fürst Hohenlohe bei der Frvhnleichnamsprocession voranträgt,
den Frieden, den diese Welt nicht geben kann.
Die Abdankung des Kaisers Ferdinand war ein Familienakt. Seine Gut¬
müthigkeit und Nachgiebigkeit vermochte nicht mehr die herben Stimmungen der
kaiserlichen Familie zu repräsentiren. Sein Neffe bestieg mit der scheinbar ihm
eigenthümlichen Kühnheit eines jugendlichen Autokraten den Thron. Sein Jugend-
feuer war ein künstlicher Brennpunkt, in welchem sich die jetzigen Stimmungen
der herrschenden Familie concentriren, und in den scheinpersönlichen Aeußerungen
des Monarchen spricht sich nur das allgemeine Verhalten der Dynastie zum Volke
aus. —
Bis jetzt hat der Habsburgische Staat durch jene heilige Allianz, die er mit
dem Czarenreiche geschlossen, den Bruch mit der Zukunft vollendet; dieses Oest¬
reich ist eine Mumie, und gehört nirgends anders hin, als in die Gruft der
Kapuziner, da wo seine Heimgegangenen Fürsten ruhen. Das Volk folgt weder
dem alten Kaiser Ferdinand auf jene Frohnleichuamsprocessiou nach, wo Fürst
Hohenlohe, der Wunderthäter, das Sanctissimum voranträgt, noch wird es auch
in jene gnädige Anerkennung begeistert beistimmen, die sei» Neffe, der jugend¬
liche Kaiser dem Wunderthäter des Absolutismus, dem Fürsten Paskewitsch, in
so vollem Maße angedeihen läßt.
Oestreich duldet in seiner bisherigen Gestalt nnr Unterthanen, aber keine freien
Staatsbürger; es fordert nur einen gedankenlosen Gehorsam, und verhält sich ab¬
lehnend zu einer jeden wahren Begeisterung, weil sie ein freies Entgegenkommen
voraussetzt. Der k. k. östreichische Patriotismus ist von einer Trostlosigkeit, die
sich nicht leicht ermessen läßt. Er besteht nur ans Priestern, die ihren eigenen
Vortheil verstehen, und andererseits aus Opfern, die ihm willenlos verfallen.
Der dynastische Egoismus rechnet darauf, daß er sich mit dem Egoismus des
klugen Staatsbürgers wird abfinden können, mag auch dieser in der edelsten Form
als Ehrgeiz auftreten. Ein Staat, der sich zur absoluten Einzelheit zuspitzt, kaun
nnr wieder von den Einzelnen begriffen werden; der Wohlstand der Privaten,
das Glück der Familien mag in ihm blühen, aber die Interessen ganzer Volks-
stämme tonnen in einem solchen Staate nicht ihre Befriedigung finden. Nur bei
den Einzelnen wird daher in Oestreich der Patriotismus gehegt und gepflegt;
bei den Völkern aber wird er, sobald er nicht wie bei den Urtheilen eine mini¬
sterielle Treibhauspflanze, sondern ein freies Erzeugniß des nationalen Bewußt¬
seins ist, systematisch niedergedrückt und unmöglich gemacht. Als trauriges Bei¬
spiel sind in dieser Beziehung zunächst die unglücklichen Slowaken anzuführen; sie
wissen von dem Martyrium des nationale» Patriotismus in Oestreich gar viel zu
erzählen. Der Grund einer solchen Politik liegt nicht so ferne. Die Dienste, die
der Einzelne dem Staate erweist, kann man ihm leicht durch Orden, Ehrentitel
und Adelsverleihnngen vergelten. Die patriotische Hingebung, mit der ein ganzer
Volksstamm sich dem Gesammtstaate widmet, kann dagegen nur in dieser Weise
würdig belohnt werden, daß die Staatsgewalt ihre abstrakte Hohe verläßt und der
Thron dem Volke um einige Stufen näher gerückt wird. Da man sich nun zu
diesem Opfer nicht herbeilassen will, so geht man auch dem nationalen Patriotis-
MUS lieber aus dem Wege. Das haben die Habsburger seit fast hundert Jahren
immer gethan. Sie sind nicht gemacht, Enthusiasmus der Völker zu erwecken
und zu nähren; und wo er einmal ausschlug, setzte er sie in peinliche Verlegen¬
heit. Denkt an die Tyroler! —
Unser Staat hat keine Bürger mehr: die sogenannten treuen Staatsbürger
sind Selbstlinge; und Rebellen sind gerade diejenigen, denen ein Herz für das
Allgemeine schlägt, die des begeisterten Patriotismus fähig sind, und die die
Regierung feindlich von sich gestoßen.
Nein, mit nationaler Begeisterung ist es in Oestreich nichts. Der Staat wird
ein Rechenexempel, der Kaiser die Eins, die Volker dahinterstehende Nullen. So
muß es werden, das ist die Weisheit des Familienraths!
Wäre unser Kaiser nur etwas selb se ständig, zeigte er nur je eine eigene Kraft.
Ach, aber er ist so wohlerzogen, was er thut, ist immer so ganz nach der Schule;
auch wo er einen Einfall hat, ist er vielleicht gutherzig, aber immer nach der
Schule. Er hat den Kaiser von Nußland gesehen und bewundert, er macht uns
ähnliche Streiche, ganz im Kleinen, bestellt die Mittagstafel um 3 Uhr, reitet um
4:; Uhr eine Meile weit, Soldaten streicheln und kömmt erst um 5 Uhr zurück,
während ihn der Hof mit Staunen erwartet.
Das ist das Genialste, was wir von ihm wissen. — Es ist sehr, sehr wenig!
Die Elemente des ungarischen Heeres waren zu Anfang des Krieges bunt
durcheinandcrgcwürfelt. Die wenigen Regimenter, die im Lande lagen abgerechnet,
bestanden sie lediglich aus zusammengelaufenem Landsturm. Doch genügten diese
Elemente, deu großen Comödianten des Südens mit seinem arvalischen Heere auf
der Höhe vou Pesth so in die Enge zu treiben, daß er um einen dreitägigen Waffen¬
stillstand ansucht. Er brach diesen Waffenstillstand und entfernte sich vor
Ablauf der Frist aus dem festgesetzten Rayon, um in rascher Flucht bis Presburg
Zu eilen, wo ihn zuerst die Nachricht vou der Wiener Octvbcrrevolution überraschte.
Jetzt eröffnete sich dem „ritterlichen" Baums ein neues Kamvsesziel — er folgte
dem Donner der Kanonen.
Später, als schon etwas mehr Ordnung in die Regimenter der Honvvds ge¬
kommen war, bot ihre Fronte einen kläglichen Anblick für einen Soldaten vom
Metier, ein pittoreskes Gemälde aber für jeden Maler. In Reih' und Glied er¬
blickte man neben einander den feinen Attila (Schnürenrock) des Edelmanns und
die grobe Jacke des Bauern, den deutschen schwarzen Frack und den schlechten Pelz
des Hirten. Jetzt sind im ungarischen Heere alle Waffengattungen vertreten, von
der Artillerie, deren Vortrefflichkeit selbst die östreichischen Generäle anerkennen
mußten, bis zu den Feldjägern, die den Vorpostendienst versehen. Die Geschütze
werden größtentheils von jungen Leuten aus den besten Häusern des Landes be¬
dient, welche die Theorie der Artilleriemanövers leichter faßten als unsere deut¬
schen und böhmischen Bauernjungen; ihre leichte Reiterei ist bekanntermaßen der
Kaiserlichen weit überlegen; zu den Jägern gingen meist geübte Schützen, wobei
schwerlich darauf Rücksicht genommen wurde, ob ihre Büchse früher nicht auch in
remdem Revier geknallt hatte; die Houvedsbataillvns der Infanterie standen der
ganzen rüstigen Burschenschaft des Landes offen, und die Polen waren bald fertig,
nnter sich einige Lancicrregimenter zu bilden.
„Viel Artillerie und noch mehr Reiterei, großmüthiger, allmächtiger Czar!" so
betete der Kaiser von Oestreich, als er nach den ersten Begrüßungsfvrmcln in
Warschau mit dem Kaiser von Rußland in ein Seitenkabinet ging. „Viel, sehr
viel Reiter, o Herr!" flehte der „ritterliche" Kaiser im Theater, auf der Parade,
beim Thee, kurz zu jeder Zeit und an jedem Orte. Gras Grünne flehte in
demselben Tone zu Orlow, und Schwarzenberg zu Medem. Die Unterhaltung
wurde durch das monotone Gewinsel der östreichischen Gäste nachgerade so lang¬
weilig, daß Medem in einem Anfall liebenswürdiger Bosheit den Wiener Mini¬
sterpräsidenten einmal am Ohrläppchen zupfte, und den großen Diplomaten im
<>cui>i>-<? «K>s Kos.'XM« nannte. Schwarzenberg benutzte die freundliche Stimmung
des russische» Botschafters und wurde expansiv.
„Wahrhaftig, mo» et><!>! Sie verkennen unsere Lage, oder Sie wären ma¬
liziös genng, mir als Autwort auf mein wiederholtes Anklopfen die 28 Sieges-
bnlletins des Fürsten Windischgrätz in schwarzgelben Moir«- eingebunden zuzuschicken.
Als wenn ich Ihnen erst sagen müßte, daß Alles erlogen war, daß wir nicht
Eine Schlacht gegen die Ungarn gewonnen haben, daß Melden seine künstlerischen
Schlachtenberichte blos für die Wiener Epiciers geschrieben hat, die dem allerhöch¬
ste» Hof sonst kein Loth Pfeffer mehr geborgt hätten. O diese Ungarn! Und
unsere schöne Armee! Ich habe sie am Glacis defiliren sehen, bevor sie der im-
lwcil nach Pesth führte — jeder Mann ein Held! Nun clioi-, Sie können viel
aber nie zu viel für uns, für die Ruhe, für die Gesellschaft thun. Glau¬
ben Sie mir, dieser Kossuth hat den Satan in seinem Dienst. Was sag' ich den
Satan? Eine halbe Million Satanasse. Keimen Sie die Kanasze?
„Nein." —
„Die Gulyasc?"
„Eben so wenig." —
„Vielleicht die Csikase?"
„Von diesen hab' ich gehört. Sollen gute Reiter sein."
„Reiter? — Teufel sind alle, mal aller comte. Ihr Kaiser macht mei¬
nen jungen Herrn eben auf den schönen Nacken unsers v!« -V vis aufmerksam.
Indessen kann ich Ihnen dieses Volk in Eile schildern. —
Wir aber wollen die Schilderung des Fürsten Schwarzenberg hier nicht wie¬
dergeben. Die war, aus diplomatischen Gründen, so abenteuerlich und über¬
trieben, als dMirte er sie einem nltrademokratischen Redacteur für sein Feuilleton
in die Feder. Der Csitvs soll hier aus historischen Rücksichten einfach so ge¬
schildert werden, wie er ist.
Der Csittts ist ein Mensch, dem bei der Geburt zufällig ein Fohlen zwischen
die Beine gerathen ist. Auf dem Rücken dieses Fodiens bleibt der Knabe instinkt¬
mäßig sitzen, und wird auf demselben groß, wie andere Menschenkinder in der
Wiege. O sehen Sie mich doch uicht so ungläubig an! - Dem Sohne Na¬
poleons siel bei seiner Geburt die Königskrone von Rom auf den Kopf, und doch
ist er groß und schlank geworden. Möchten Sie als zärtlicher Vater Ihrem Kinde
bei der Geburt nicht viel lieber ein Pferd zwischen die Beine, als eine Krone auf
deu Kopf drücken? —
Der junge Esiküs fühlt sich in seiner Wiege bald heimisch. Ob er Ammen- oder
Pferdemilch genießt, darüber sind die Naturforscher» noch uicht einig. So weit meine
Untersuchungen ans diesem Gebiete reichen, nährt er sich gleich nach der Geburt von
Speck und Brot. Aus dem kleinen Jungen wird allmälig ein großer Noßhirt.
Er tritt, um sich seinen Lebensunterhalt zu gewinnen, in die Dienste eines Edel¬
manns oder der Regierung, welche in Ungarn ausgedehnte wilde Pferdegestüte
besitzt. Diese nehmen einen Raum von vielen Q-uadrat-ucilen ein, größtentheils
ebene Flächen mit Wald, Sumpf, Haide- und Moorgrund. Daselbst streifen
große Heerden frei herum, vermehren sich und freuen sich ihres Daseins. Nichts¬
destoweniger ist es ein weit verbreiteter Irrthum, daß diese Pferde wie Rudel
Wölfe im Gebirge sich selbst und der Natur ohne weitere Aufsicht überlassen sind.
Gänzlich wilde Pferde findet man, was Europa anbetrifft, heut zu Tage blos
in Beßarabien. Das sogenannte wilde Gestüt in Ungarn dagegen gleicht zumeist
unsern Thiergärten, in denen das Wild gehegt und überwacht wird. Den Rehen
und Hirschen läßt man gerne die Illusion, als befanden sie sich im Genusse der
uugemcssensten Freiheit, und der Jäger gibt sich, wenn er auf den Anstand geht,
gerne derselben Täuschung hiu. Oder wollen Sie einen politischen Vergleich?
Dann denken Sie sich einen gut eingerichteten freien Staat, gleichviel ob Republik
oder Monarchie. —
Der Csik.'>s hat das schwierige Amt, auf die Heerden ein wachsames Auge
zu haben. Er kennt ihre Stärke, ihre Standorte, er kennt das Alter eines jeden
Fodiens und weiß, wenn es zur Zähmung tauglich und ans der Heerde heraus-
geholt werden muß. Dann hat er ein großes Stück Arbeit voDftch, gegen die
eine großherzogliche Wildschweinsjagd ein Kinderspiel ist, denn das Pferd muß
nicht nur lebendig aus der Mitte der Heerde hcransgefaugen werden, sondern aus
leicht begreiflichen Gründen auch gesund und unversehrt. Dazu dient ihm die
berüchtigte Peitsche, von der vielleicht schon im nächsten Jahre einige Prachtexem¬
plare im kaiserlichen Zeughause zu Wie» neben dem Schwerte Skauderbeg's ge¬
zeigt werden dürften.
Diese Peitsche hat einen starken, etwa anderthalb Fuß langen Stiel und eine
Schnur, die nicht weniger als 3 — 4 Klaftern in der Länge mißt. Diese Schnur
hängt an einer kurzen eisernen Kette, und diese ist durch einen Ring vom gleichen
Metall an der Spitze des PeitscheustockeS befestigt. Am Eude der laugen Schnur
befindet sich ein einfacher starker Bleiknops, während kleinere Bleikuöpfe und Knoten
nach gewissen uns unbekannten Erfahruugsgcsetzcu auf die ganze Länge der Schnur
vertheilt sind.
Mit dieser Waffe, welche der Cfikus nebst einer kurzen Hacke immer im Gurt
mit sich führt, begibt er sich auf die Pferdcjagd. Er ist dabei beritten, d. h. er
hat sich vervollständigt. Ohne Sattel und Steigbügel fliegt er wie der
Sturmwind über die Haide, so schnell, daß der Grashalm nicht geknickt wird
unter dem Hufe seines Pferdes, daß der Tritt seines Rosses uicht gehört wird,
daß der aufgewirbelte Saud allein sein Komme» und Verschwinden bezeichnet.
Den Gebrauch eines regelrechten Zügels kennt er wohl, aber er verschmäht der¬
gleichen hinderliche Luxusgegenstände. Er lenkt sein Pferd mit der Zunge, mit
den Händen, mit den Füßen, ja man wäre versucht zu glauben, er lenke es durch
den bloßen Gedanken des Wollens, etwa wie wir unsere eigenen Aüße nach
rechts und links, nach vor- und rückwärts in Bewegung setzen, ohne unser Sprnng-
gelenk mit einem Ledernem zu dirigiren.
So jagt er Stunden lang die flüchtige Heerde vor sich her, bis es ihm ge¬
lingt, in die Nähe des Thieres zu kommen, das er fangen will. Nun schwingt
er seine Peitsche in mächtigen Kreisen und wirst die Schnur so geschickt, daß sie
den Hals seines auserkorueu Opfers umschlingt. Der Bleikuopf am Ende und
die Knoten in der Mitte dienen dazu, daß sich aus der Schnur eine förmliche
Schlinge bildet, die sich um so enger schließt, je rascher das getroffene Pferd vor¬
wärts eilt. Aber wie es auch ausgreifen mag, der CsilViö hat ein gar flüchtiges
Rößlein zwischen den Schenkeln, und sein stämmiger Arm läßt den Peitschcnstvck
nicht los, und an dem Peitschenstock hängt die Schnur und an der Schnur häugt
das Pferd. Seht! wie das ausgreift mit allen Viere», nud die Mähne fliegt,
und das Auge sprüht, und der Mulid schäumt, nud der Staub aufwirbelt auf
allen Seiten. Aber immer beengter wird der Athem des edlen Thieres, sein Auge
wird stier und wild, seine Nüstern sind geröthet von Blut, die Adern des Halses
schwellen an zu Strängen, die Beine versagen ihm den Dienst, es sinkt ers
ohnmächtig zusammen, ein Bild des Todes. Doch in demselben Augenblicke steht
auch das verfolgende Doppelthier still und starr wie aus Stein gegossen. Eine
Sekunde — und der Csiküs hat sich vom Rücken seines Pferdes auf den Boden
geworfen und indem er den Leib nach rückwärts beugt, um die Schlinge straff
zu erhalten, saßt er die Schnur abwechselnd mit der rechten und linken Hand
immer kürzer und kürzer und windet sich an derselben immer näher und näher
dem keuchenden Pferde, und stellt sich endlich mit beiden Beinen quer über das
dahingeworfene Thier. Jetzt erst läßt er die Schlinge sachte nach, um deu Geguer
zu Athem kommen zu lassen, und kaum fühlt das Thier wieder Lebensluft durch
seine Lungen rieseln, so springt es auf und fort geht es im rasenden Lauf, als
könnte es dem Feinde noch entrinnen. Der aber ist schon Bein von seinem Beine
und Fleisch von seinem Fleische, der sitzt ihm festgewachsen auf dem Nacken und
läßt ihm seine Kraft nach Belieben fühlen, je nachdem er die Schnur mehr oder
weniger straff anspannt. Zum zweiten Mal sinkt das todtgehctzte Roß zu Boden
und rafft sich wieder ans und stürzt wieder zusammen, bis es seine Glieder vor
Mattigkeit nicht mehr rühren kann. Das zahme Pferd des CsMs ist mittlerweile
ins Dorf zurückgerauut, oder folgt seinem Herrn treu wie ein Hund. Das er¬
beutete wilde Roß ist aber uach wenigen Stunden mürbe genug, um sich lenken
zu lassen und nach Hause geführt zu. werden. Hier wird erst für seine weitere
Ausbildung gesorgt, es verliert seine Zvttelhaare und den scheuen Blick, wird
fügsam und sanft, lernt den Reiter und den Sattel tragen, k»rz — gelangt von
dem Zustande, in welchem es am sechsten Schöpfungstage in die Welt gesetzt
wurde, ans je>'e Bildungsstufe, welche es nach den Borstellnugen der Menschen
in der Gesellschaft einzunehmen berufen ist.
Daß eine solche Pferdejagd nicht ohne Gefahr ist, wird ans der flüchtigen
Beschreibung derselbe» leicht ersichtlich. Sie erfordert unendlich viel Ausdauer
und Gewandheit, einen Niesenarm und einen Riesenleib, einen nicht gewöhnlichen
Muth und die außerordentlichste Nciterümst. Aber je größer die Gefahr, desto
lockender der Sieg. Ein kühner Csitäs ist respektirt ans der Hatte, wie ein tüch¬
tiger Gemsenjäger im Gebirge. Und dann wird er ja auch bezahlt für seiue
Mühe — jährlich ein Hemd, ein Paar lmicne Hosen, freie Kost und Wohnung,
um Fäßchen Wem obendrein und zwei Gulden, sage zwei Gulden Wiener
Währung jährliche Löhnung baar ans die Hand. Das ist keine Kleinigkeit!'.
Dabei verdient er sich hin und wieder etwas im Dorfe beim Pferdehandel, er¬
beutet sich ein Stück Geld vou einem Pferdediebe, deu er erwischt und todtge-
schlagen hat, oder wenn ihm das uicht gelingt, stiehlt er selber ein Pferd und
verkauf'es - ob, der Maun ist zum Betteln nicht geboren.
Ich habe in deutschen Zeitungen gelesen, daß an 40,000 solcher Csikuse im
»nganschcu Heere dienen. Dem muß ich anf's Entschiedenste widerspreche». Die
Zahl ist jedenfalls übertrieben. Aber daß ein paar Tausend solcher verwegener
berittener Bursche unendlich viel Unheil anrichten können, das sagt Ihnen jeder
östreichische Offizier, der das Glück gehabt hat, während des letzten Feldzuges an
der Theiß mit ihnen in nähere Berührung zu kommen. Der Infanterist, der
seinen Schuß abgefeuert hat, ist verloren, wenn er dem Csikus gegenüber steht.
Was hilft ihm da sein Bajonett, mit dem er sich gegen den Husaren oder Uhlanen
ganz gut vertheidigen kann, wenn er es mit Geschick zu handhaben versteht? Der
langen Peitsche gegenüber reicht sein Manöver nicht ans, die reißt ihn zu Boden,
oder zerschlägt ihm mit dem Bleikuopf die Glieder. Und gesetzt auch, er hätte
noch einen Schuß im Rohr — eher wird er den Vogel in der Luft treffen, als
den CsitVis, der ihn in wilden Sätzen umkreist und sich mit dem Pferde nach allen
Seiten mit der Schnelligkeit des Blitzes wirft, um der Kugel kein sicheres Ziel
zu geben. Der gewöhnliche Cavallerist ist nicht viel besser daran, und wehe ihm,
wenn er vereinzelt einem CsitVis begegnet. Ihm wäre wohler, auf ein Nudel
hungriger Wölfe gestoßen zu sein.
Ein Glück ist's für die Kaiserliche», daß die CfitV.se vermöge ihrer Waffe
nicht in geschlossenen Gliedern kämpfen können, sie wären eine furchtbare Macht.
Und doch lasen wir in einem halbvffiziellen Bericht, daß Csikuse vor Komorn das
Ceatrnm eines feindlichen Corps gesprengt hätten. Da muß ihnen ihre Verwe¬
genheit und die Entmuthigung der Oestreicher mindestens eben so viel geholfen
haben, als ihre Peitsche und Hacke, die sie im Nothfall nicht ohne Geschick zu
werfen verstehn.
Bei Wieselburg hatten einmal die Kaiserlichen einen solchen Burschen leben¬
dig gefangen und brachten ihn als Curiosum ins Lager. Der commandirende
General und seine Offiziere wollten den braunen Vogel einmal im Fluge sehen,
und ließen vor den Zelten einen Strohmann aufstellen, an dem der Csitvs seine
Kunst zeigen sollte. Der Bursche war's zufrieden und verlangte, daß man ihm
den Fleck bezeichne, wohin seine Bleikugel einschlagen solle. Dann jagte er im
gestreckten Galopp mehrmal um den Popanz aus Stroh, schwang seiue Peitsche
und die Kugel stak zur Bewunderung Aller in dem bezeichneten Fleck. Die Vor¬
stellung sollte auf allgemeines Verlangen eben zum dritten Mal wiederholt werden,
da mochte es dem armen gehetzten CsitViö zu Kopfe steigen, daß er seine Waffe
noch gegen etwas Besseres gebrauchen könne, als gegen einen armseligen Stroh¬
mann , und mit einem wilden Schrei schmetterte er seiue Peitsche »litten hinein in
den gaffenden Kreis und mit seinem gehorsamen Pferde drüber hinweg und quer¬
feldein durch das grüne Korn in die Donau. Ein Dutzend Schüsse wurden ihm
nachgeschickt, aber das Schicksal war ihm günstig. Er erreichte glücklich das jen¬
seitige Ufer und das Lager seiner Landsleute.
Ich könnte Ihnen noch manche Episode aus dem Kriegs- und Privatleben
der ungarischen Roßhirten erzählen, aber ich will mich hüte», Ihre Geduld wieder
so unbarmherzig in Anspruch zu nehmen, als neulich, wo ich Ihnen die ungari-
schen Husaren vorführte. Das poetische Naturleben dieser Menschenklasse, ihre
Jagd- und Liebesabenteuer, ihr Leben im Dorf und auf der Haide bieten Stoff
in Fülle zu interessanten Beschreibungen, doch es gilt hier die Eigenthüm¬
lichkeiten Ungarns hervorzuheben, wodurch es Kossuth möglich wurde, Armeen
aus der Erde zu stampfen. Den Csikäs und seine Metamorphose zum Krieger
haben wir kennen gelernt, wahrscheinlich hat er nun schon Gelegenheit gehabt,
sich mit dem Kosaken im Zweikampf zu messen; die folgenden Zeilen seien den
Kan-iszen und Gnlyuscn gewidmet.
Die Kaiuisze sind Schweinehirten. Ein unpoetischcs, schmutziges Hand¬
werk, doppelt beschwerlich und unsauber in Ungarn. Aus Serbien, wo die
Schweine noch im halbwilden Zustande leben, wandern jährlich große Heerden
nach Ungarn. Dort mästen sie sich in den ungeheueren Eichenwäldern und wer¬
de» in die großen Städte, nach Wien und noch weiter zu Markte gebracht. In
die Leitung dieser Heerden theilt sich der Kcnuisz (deren mehrere bei jedem Triebe
sein müssen), der Hund und der Esel. Letzterer ist bei der Heerde der Erste;
er macht mit einer großen Glocke am Halse den Leithammel und trägt den Pro¬
viant des Treibers auf dem Rücken. Die Hunde von schöner, kräftiger Race
die sogenannten weißen ungarischen Wolfshunde --- umkreisen unaufhörlich deu
Trieb und halten ihn zusammen. Will der Kan.isz Rast machen, so gibt er den
Hunden ein Zeichen und diese hängen sich dann an die Ohren des Esels, daß
er nicht weiter kann und mit seine» unbequemen Ohrgehängen und seinem Schmerzens-
angesichte dasteht — ein wahres Bild des Jammers.
Im schattigen Walde, da läßt sich's noch leben. Die Eiche entfaltet sich auf
ungarischen Boden reicher und üppiger als an irgend einem Punkte Deutschlands.
Die Thiere finden Futter in Ueberfluß und fressen sich gewöhnlich so voll, daß
sie nicht an's Herumschwärmen denken. Hund und Herr können sich daher mit
mehr Ruhe am Stillleben der Natur ergötzen. Jämmerlich aber ist das Lebes des
Kanusz, wenn er zu Ende des Sommers seine Heerde zu Markte treiben muß.
Von Debrezin oder auch von der serbischen Grenze muß er dann die mühseligste
aller Luftreisen machen, die je ein wißbegieriger Reisender unternahm. Das geht
über die endlosen Haiden in Regen, Sturm und Sonnenhitze langsam hinter der
Heerde her, die ihm die glühenden Staubwolken in's Gesicht treibt. Hin und
wieder hat sich ein Schwein so vollgestopft, daß es uicht von der Stelle kaun,
das bleibt daun ohne Weiteres am Wege liegen und die ganze Caravane muß
einen halben Tag oder noch länger rasten, bis es dem Vielfraß möglich wird, auf¬
zustehen, und gelingt es ihm endlich, so beginnt oft die Nachbarin dasselbe Spiel.
Wahrlich, ein mühseligeres Geschäft gibt es auf der ganzen Welt nicht, als das
eines solchen Schweinehirten.
Dieser aber ist an das Unerträgliche gewöhnt. Er ißt seinen Speck und
raucht feine Pfeife in der Sonnenhitze wie in der Winterkälte gleich behaglich,
schwelgend in seinen Pelz gehüllt. Und geräth er einmal mit sich und seinem
Schicksal in Streit, so schlachtet er mit seineu Kameraden ein fettes Schwein
ans der Heerde und thut sich gütlich. Dem Herrn aber bringt er die Haut zu¬
rück und sagt, das Thier sei auf der Reise gestorben.
Im Walde tritt der Kau-isz zuweilen als Dillctant in der Räuberknnst auf.
Auf diese Weise sorgt er für Zerstreuung und wird er gefangen und vor der näch¬
sten Ortsbehörde überwiese», dann baumelt er gewöhnlich am Eingange desselben
Waldes, wo er gesündigt hat. Früher ließ man solche Missethäter als Warnungs-
zeichen am Galgen hängen, bis Wind und Zeit sie abschüttelten. Ich selbst sah
noch vor zehn Jahren in der Gegend von Könnönd vor dem Bakouyerwalde ein
solches dreiblättriges Warnungszeichen, aber in den letzten Jahren hat man selbst
in dieser sonst am meisten verrufenen Gegend nichts von Wegelagern gehört. Ein
Feuergewehr, dessen Lauf aus dein Wagen schaut, flößt solchen Burschen gewöhn¬
lich Respekt geung ein, um sie in ehrerbietiger Entfernung zu halten, denn der
Schweinehirt hat keine andere Waffe als seinen Fokas (for. Frisch.)
Dieses — ein Handbeil mit langem Stiel — weiß er mit meisterhafter Ge-
schicklichkeit zu werfen. Will der Eigenthümer ein Schwein aus der Heerde zum
eigenen Gebrauch oder zum Verkaufe heraushaben, so würde eS dem Hirten, bei
dem verwilderten Zustande der Heerde, nicht ohne Lebensgefahr möglich werden,
dasselbe aus dem ganzen großen Nudel auszuscheiden. Dazu dient ihm sein Fo¬
kas. Den schleudert er mit solcher Kraft und Sicherheit, daß das scharfe Eisen
dem bezeichneten Thiere genau in die Mitte der Schädelknochen eindringt. Das
Opfer sinkt lautlos zusammen und die Heerde zieht ruhig weiter. Daß er auf
8o_.i.Schritte einen Meuscheu eben so sicher niederstreckt, das beweisen eben
die dreibeinigen Monumente seiner Kunstfertigkeit am Eingänge des Waldes.
In neuester Zeit werdeu auch die Wundärzte der östreichischen Armee gerne er¬
bötig sein, den Kamiszen Attestate ihrer Geschicklichkeit auszufertigen. —
In Kleidung und Bewaffnung kömmt der Gnly-is (Ninderhirte), dem Kan-isz
ziemlich nahe. Auch er trägt die furchtbare Hacke, mit der er den stärksten Och¬
sen niederschmettert, auch sein Costüm besteht lediglich aus einem kurzen Leinen-
Hemde und einem überschwenglich weiten Beinkleide aus demselben Stoffe (Gattje).
Darüber hängt Sommer und Winter der lange weiße Schafspelz. In der Kälte
trägt er die Wolle dem Leibe zugekehrt, im Sommer dreht er ihn nach außen
und ist dadurch, besser als mau glauben möchte, gegen die Gluth der Sonnenstrahlen
geschützt. Seinen Kopf ziert ein breitkrämpiger runder Hut, dessen Ränder der
Regen zu einer doppelten Dachrinne umgemodelt hat. Sieht mau einen solchen
Rinderhirten im stürmischen Regenwetter mitten aus der unabsehbaren Fläche auf
einem Steine, fest in den weißen Pelz gehüllt, wie ihm das Wasser vorn und
hinten als Giesbach vom Hute herabstürzt, stundenlang unbeweglich dasitzen, so
glaubt man eines jener räthselhaften Steingebilde vor sich zu haben, wie sie auf
der Sandfläche vor Gizeh den Eingang in die große Wüste bezeichnen.
Sein Territorium ist ausschließlich die sutterreiche Haide, namentlich um
Grvßwardein und Debrezin. Dort ist er König und beherrscht mit seinen breit-
hörnigen Unterthanen ein Gebiet, dessen Flächenraum manches souveräne deutsche
Fürstentum dreimal an Ausdehnung übertrifft. > Einmal in der Woche erhält er
Proviant von seinem Herrn und zu diesem Zwecke findet sich der Guly-rs am Sonn¬
tag regelmäßig zur selben Stunde (er liest die Uhr am Himmel ab bei Tag und
Nacht) an ein und demselben Brunnen ein. — Bezeichnend für sein Aeußeres
ist der eiserne Kochkessel, den er immer am Gurt hängen hat. Darin kocht er
sein Fleisch, das er früher in kleine Stücke zertheilt, dann mit einer Brühe und
türkischem Pfeffer schmackhaft zubereitet. Dies ist das sogenannte Gulyusfleisch,
welches man in civilisirten Speisehäusern in und außer Ungarn zuweilen zu kosten
bekömmt, das aber nirgends so schmackhaft zubereitet wird, als im Kochkessel auf
der Haide.
Zu erwähnen sind hier noch dieHal-isze (syr. Hat-löse). Es sind dies Fischer,
welche längst der Theiß in einzelnen Uferhütten und ganzen Dörfern beisammen-
wohnen. Ein stämmiges, kräftiges Völklein, das ein wahres Amphibienleben
führt. Es müßte sonderbar zugehen, wenn nicht gerade ans diesen das Ponto-
niercorps der ungarischen Armee zusammengesetzt wurde, welches die von den Oest-
reichern anfangs so sehr verspotteten Faßbrücken nach und nach über die Theiß,
Gran, Donau und Waag schlug und den schweren kostspieligen Pontons der
Kaiserlichen überall den Rang ablief.
Alle vier, von uns hier geschilderten Menschenklassen sind rein magyari¬
scher Race. Ohne eben Proletarier zu sein, haben sie sämmtlich viel zu wenig
zu verlieren und viel zu viel angebornen kriegerischen Geist, um nicht mit Freu¬
den für das theure Ungarland in den Kampf zu gehn. Sie machen zusammen¬
genommen keinen unbedeutenden Theil des magyarischen Heeres aus, und mögen
sie auch uicht zu den liebenswürdigsten Eigenthümlichkeiten eines civilisirten
Landes gehören — in gewissen Perioden, wo das Faustrecht wieder von den
Burgen und Schlössern der hohen Herrn herab in Anerkennung gebracht wird,
kann die rohe Naturkraft solcher Menschen vieles und wünschenswerthes leisten. —
Aus den Linien einer Hand zu wahrsagen, ist ein Aberglaube; zwischen den
Zeilen einer Handschrift zu lesen, ist auch eine Art Wahrsagerei, die aber schon
weit mehr für sich hat. Ich will jedoch uicht einmal von diesem Recht der auf¬
geklärten Wahrsagerei Gebrauch machen, indem ich ans dem Actenstück, das ich
hier mittheile, nichts weiter herauslese, als was unmittelbar darin gesagt ist.
In voriger Woche war in unsern Blattern ein Erlaß des Ministeriums des
Innern an das erzbischöfliche Conststorinm von Prag zu lesen: „Dem hochw.
erzbischöfl. Ordinariate sind die Bestrebungen der Umsturzpartei bekannt, die un¬
tern Volksschichten, insbesondere das Landvolk und die Fabrikbevölkerung in
republikanisch socialistischen Sinne") zu bearbeiten und sie für ihre
Zwecke zu gewinnen u. f. w. u. s. w. Darauf folgt die Bitte: den untergeordneten
Seelsorgern zur heiligen Pflicht zu macheu, daß sie das Volk vor den Verfüh¬
rungen dieser Partei warnen, und ihm insbesondere, vom religiösen Standpunkte
aus, das strafwürdige und Verderben bringende dieser Umtriebe darstellen."
Diesen Ministerialerlaß theilt nun das Conststorinm in einem Circular vom
>>. Juni dem Diözesauclerus mit, und richtet dann an denselben folgende höchst
charakteristische Ansprache: „Hieraus wird ersichtlich, wie sehr der hohen Regie¬
rung daran liegt, die so böswillig verletzte gesetzliche Ordnung ansteche zu erhalten
und zu deren Wiederherstellung die Unterstützung des katholischen Clerus um so
mehr in Anspruch zu nehmen, je verderblicher die Bestrebungen einer gesetzlosen
Umsturzpartei sich in ihren Wirkungen bereits zu zeigen beginnen, deren Po¬
litik Anarchie, deren Religion gräßlicher Unglaube und deren
Moral Kommunismus ist. Es ist nun die heilige Aufgabe des Priesters,
diesen Verführern besonders des gutmüthigen Landvolks muthig mit den Waffen
des Wortes Gottes durch Belehrung und Warnung entgegen zu treten, und man
beschwört den hochwürdigen Seelsorge-Clerus, ja keine Gelegenheit, deren
sich im geistlichen Amte so viele darbieten, unbenutzt vorübergehn zu lassen, um
das liebe Landvolk über die diabolischen Absichten dieser Verführer über¬
zeugend aufzuklären, und auf die schrecklichen Folgen aufmerksam zu machen, wozu
derlei Umtriebe führen und welche schon jetzt theilweise schmerzlich empfunden wer¬
den. Zugleich werden die hochw. Seelsorger dringend ersucht, über das Resultat
ihrer diesfälligen Bemühungen zu berichten, und alle l 4 Tage ein getreues,
gewissenhaftes Bild ihrer Seelsorgegemeinde in dieser Beziehung
ander im Vikariatswege vorzutragen, mit dem gewissenhaften Gutachten, auf welche
Art und Weise einer etwa wahrgenommenen intendirten, oder schon tiefer gegriffe¬
nen Corrumpirung der Gemüther nach den Verhältnissen der Gemeinden noch be¬
sonders wirksam entgegengetreten werden könnte."
Wir sehen hier, wie der Staat die Beichtstühle der Kirche für sich in An¬
spruch nimmt; ihre Priester sollen dem Volke 5en Teufel austreiben, der übrigeus
gar nicht in dem Landvolk steckt, sondern den das hohe Ministerium blos an die
Wand gemalt hat. Die östreichische Regierung, welche abgeschieden vom Volke,
in einsamer Höhe thront, sieht in dieser beängstigenden Einsamkeit Gespenster;
der lebendige Geist, der draußen die Massen bewegt, geht als ein unheimlicher
Spuk durch die Räume der Hofburg. Vor den Geistersehern im Conseil schwillt
der socialistisch-republikanische Teufel zu einem Ungeheuer empor mit feurigen
Augen und schrecklichem Gebiß; und wie der Nebel fällt, tritt eine Deputation
im Namen des Landvolkes hervor, die um Zurücknahme der vctrvyirten Verfassung
vom 4. März erfleht. Das war also des Pudels Kern? Der CasnS sollte die
Herren lachen macheu, aber er treibt ihnen im Gegentheil den Angstschweiß noch
mehr auf die Stirn. Das beklommene Herz der Regenten läutet jetzt oft jene
Geisterstunde ein, aus deren Schrecken man in den höhern Kreisen nur selten
herauskommt. Hier muß jedenfalls der Pfaffe mit seineu Exorcismen daran; den
Geist, den man durchaus nicht begreifen will, muß man sich durch Hostienkelch
und Crucifix vom Halse schaffen. Es muß wohl in der That unheimlich aussehn,
wenn mau von den Fenstern der Hofburg auf den Schauplatz der Bewegung
hinabsieht, die Revolution wird zu einer Walpurgisnacht, zu einem tollen Drama,
welches durchweg von Besessenen aufgeführt wird, „deren Politik Anarchie, deren
Religion gräßlicher Unglaube und deren Moral Communismus ist." Zu solcher
Alten-Weiber-Furcht, welche den Beistand der Kirche nöthig macht, hat sich jetzt
die nüchterne, geistlos-verständige Geschcuthcit des Ministeriums verkehrt, welche
früher so sehr an den Proktophantasmisten ans Goethe's Faust erinnerte. Sie
waren so klug, die Herren vom Staatsrath, und dennoch spukte es in Tegel.
Die Kirche versprach durch ihre Wunder die Göttlichkeit des absoluten Staates
zu beweisen; aber sie wird durch diesen Dienst, den sie der Legitimität erweist,
allmälig selbst deu Glauben an ihren eigenen göttlichen Ursprung beim Volke un¬
tergraben. Noch füllen sich die Kirchen mit Gläubigen, und das Volk hört mit
naiver Inbrunst von der Kanzel herab das Wort Gottes an. So lauge die Kirche
uicht in einen entschiedenen Kampf mit den Wünschen der Nation tritt, wird das
Volk deu Beichtstuhl und die Kanzel gelten lassen und die Heiligkeit der Tradition
nicht anzutasten wagen. Wird aber die Kanzel zu einer politischen Tribune, wo
dem Volksredner, der von dem umgestürzten Fasse im Wirthshause herab eine Rede
an das versammelte Volk hielt, eine ultramontane Philippika nachgedonnert wird :
*
dann leuchtet es auch dein Bauer ein, daß die Kanzel in der Kirche jedenfalls
kein höherer Standpunkt sei, als die improvisirte Rednerbühne in der Kneipe.
Wenn der Priester im Beichtstuhle das Jnnere der Herzen erforscht und sich auch
angelegentlich um das politische Glaubensbekenntniß seiner Beichtkinder erkundigt,
dann wird es anch dem Dorfvcrstande klar, daß er nicht im Namen jenes Reiches,
das nicht von dieser Welt ist, sondern im Namen des starken Oestreich hier sitze
und Beichte höre; daß es sich hier, nicht um eine Absolution, sondern um jenes
„getreue, gewissenhafte Bild" handle, welches der hochw. Seelsorger alle 14
Tage von seiner Seelsorge-Gemeinde entwerfen und im Vitariatswege l'eim Kon¬
sistorium vorlegen soll. Der Staat, welcher in den alten Domen des Katholi¬
cismus ein Asyl vor der Revolution sucht, wird dadurch in den Augen des Volkes
kaum den Schein der Göttlichkeit bewahren können, und die Kirche wird das Volk
selbst an dem von den Vätern vererbten Glauben irre machen, indem sie sich zur
Polizeianstalt profanirt und zu einem Institut des al'soluten Staates einschrumpft.
Lassen Sie sich folgende Anekdote erzählen: In einem böhmischen Dorfe bewies
ein Pfarrer kurz nach dem 4. März seinen Bauern von der Kanzel herab die
Vortrefflichkeit des Octror/s und sandte dem cvnstituircnde» Reichstage, als einer
Erfindung der Hölle, ein frommes Anathem nach. Die entrüsteten Bauern bega¬
ben sich nach der Predigt in die Sacristei und sagten zu ihm: „Herr Pfarrer,
wenn Sie schon durchaus Politik predige» wollen, so lesen Sie uus künftig die
Man hat von je unter dieser Benennung nicht sowohl den Beamtenstand als
vielmehr Beamtenhcrrschaft und noch besser: Beamtenwillkür verstanden. Als
solche hat ihr freilich die Todtenglockc geläutet, aber in ihren letzten Zuckungen
besudelt sie noch mit ihrem Geifer Personen, und Sachen. Sie war es, welche
unzeitig oft im Kriege Frieden gebot und im Frieden Zank bereitete; sie war es,
welche die Herzensgüte so vieler östreichischer Regenten und deu besten Willen so
vieler aufgeklärter Staatsmänner paralysirte, die am Lebensmarke aller Einzelnen
selbst und an der Geduld der Bürger nagte; sie war es endlich mehr, als die
Vorrechte des Adels, mehr als die Anmaßungen des Militärs, mehr als Hof¬
staat oder äußere Politik, welche die Schrecknisse der Revolution herbeiführte und
sie ist es, welche uns wieder jetzt die Schrecken der Reaction bereitet. Ihre Ver-
derbtheit nach innen, ihrer Despotie nach außen, ihr starres Festhalten an Hier¬
archie und todten Buchstaben, ihre strenge Sonderung von der Außenwelt muß
gebrochen werden — eh' ist eine freie Geschäftsbcweguug nicht zu hoffen.
Daran ist jedoch so bald nicht zu denken, besonders jetzt, wo die Reaction
an der Tagesordnung überall! Drohend tritt uns diese Erscheinung entgegen
und der „StaatshämorrhoidariuS" in den fliegenden Blättern und der Verweis wegen
der rothen statt blauen Schnüre in den Leuchtkugeln u. s. w. sind keine Ideale —
sondern häufige Erscheinungen im Kanzleileben.
Dieser geschäftige, das Unvermeidliche mechanisch und verdrießlich abmachende
Müssiggang — ohnedies jedem aufgeklärten Beamten selbst verhaßt! — ist es, wo¬
durch derselbe allen bessern Sinn, alle Lebenslust, oft den Verstand verliert und
entweder zum kalten oder süßlichen Präsidenten zusammenschrumpft oder sonst elen¬
diglich verkümmert, wenn er nicht vorher in die Welt zurücktritt, welche ihm leider
oft indeß fremd geworden. Aber auch als Pensionist (war er ein rechter d. h. im
würdigen Sinne: echter Beamte) spielt er einst eine klägliche Rolle, und noch so
viele Dienstjahre haben ihm außer der Pension selbst keinen Nutzen gebracht, keine
Lebensweisheit verschafft und er gleicht einer Uhr, die vor vielen Jahren stehen
geblieben, jetzt wieder die Stunde schlägt, wo man den Perpendikel aushielt.
Die Commission zur Organisirung der neu einzuführenden Gerichte ist bei¬
sammen, ihre Arbeiten aber gehen selber noch immer den alten wohlbekannten
Schneckengang — wäre er doch der Letzte! — Ob diese Einführung und die des
öffentlichen Verfahrens, der Gemeindevvdnung u. f. w. allen bisherigen Uebelstän-
den abhelfen wird, weiß Niemand, noch hofft Jeder: der gntöhcnliche Oberbeamte,
der jetzt so oft den Launen eines vornehmen Tagdicbes preisgegeben ist, dafür
seine Untergebenen quält oder Jenen prellt, wo er kann, — der Communalbeamte,
welcher kleinstädtischen Uebermuthe oder Klatschsucht verfallen in der Kneipe seine
Erholung sucht, — der Uuterbcamte, der um den Hausfrieden zu erhalten oder das
Brot, auf welches oft viele Mägen warten, nicht zu verlieren, oft gegen Ueber¬
zeugung nud Gewissen handelt und zu alle» Unbilden schweigt, dafür aber seine
Rohheit dem armen Bauer oder Handwerksburschen fühlen läßt — der Rath, wel¬
cher im Hader mit seinen Kollegen und Präsidenten, im Verdrusse über Ungerech¬
tigkeiten bei der Zutheilung oder Kabalen bei der Abstimmung durch Studium
auf Gegenminen die beste Lebenszeit vergeudet,---Alle erwarten Verbesserung
ihres Schicksals von dieser unserer nächsten Zukunft.
Ein Theil unserer Bureaukraten verdient Erbarmen, es sind jene verknöcherten
Geschöpfe, die Alles für Wahrheit halten, mit innerer Ueberzeugung am leeren
Formenwesen festhalten, und ob über das ganze Blatt oder halbbrüchig geschrieben
werden soll, für wichtiger als den ganzen Inhalt ansehen, denen die Art des Zu-
sammeulegeus wesentlicher scheint, als die Urkunde selbst, die deu Präsidenten für
weiser und gerechter achte», als den Vicepräses u. s. w., deuen Alles Amtöge-
heimniß und das Unwesentlichste Lebensfrage ist, denen Kriecherei und Nachbeten
zur zweiten Natur geworden.
Eine andere Gattung aber, die der herzlosen Bureaukraten, verdient unsere
tiefste Verachtung; diese durchblicken die Lächerlichkeit des Formularismus, aber
als Mittel zu ihren Zwecken ist sie ihnen willkommen und sie hängen an ihr, um
ihre Untergebene«, Kollegen oder auch Vorgesetzten damit zu quäle» oder ihre Ge-
setzkenutniß zu zeigen: oft anch, um sich damit Manches zu erlaube», was dem
Andern verbotene Frucht erscheint.
Obwohl uun das östreichische Ministerium selbst die besten Absichten anch in
dieser Hinsicht hegt und dessen Programm in kräftiger Weise alle Mißbräuche ta¬
delte, so tritt anderseits doch wieder die Reaction zu stark hervor, als daß man
bald oder überhaupt eine Radikalen hoffen könnte. Jeder Vernünftige und jeder
frei denkende Beamte selbst aber sieht ein, daß Recht und Wahrheit, Licht und
Freiheit — soll der Zweck des Beamtenstands halbwegs erreicht werden — auch
in die abgelegenste Kauzleistnbe dringen oder geführt werden muß. Alle Kriecherei
nach Oben und alle Anmaßung nach Unten, alle Wichtigkeitskrämerei, alle gehei¬
men Weisungen, die zahllose unnöthige Schreiberei, alle Anzeigen und Reibungen
müssen verbannt werden; aber hohe Zeit ist es auch, daß dies geschieht und unser
Kanzleileben eine neue Gestalt bekömmt, ein Kanzleileben, wo der Mensch auf¬
hören und der Beamte einfangen soll, wo es fast nothwendig erscheint, daß man
Herz und Kopf verlängern, nach den Buchstaben, nicht nach dem Geiste des Ge¬
setzes handeln soll, wo der Untere alle Handlungen des Obern von „Amtswegen"
als wahr und recht, als zweckmäßig und vernünftig erkennen muß, sich aber gegen
Berichte in seinem Rücken nicht schützen kann, wo jeder Sinn für Nichtamtliches,
für Natur oder Kunst oder Wissenschaft, als verbotene Frucht bezeichnet ist.
Ob aber eine Besserung dieses großen Leidens, an welchem Oestreich krankt,
bald zu erwarten ist? Der aufgeklärte Theil der Beamtenwelt selbst sieht der Re¬
generation seines Standes mit schmerzlicher Sehnsucht entgegen. Der Militär-
beamte jammert beim Ziffer- der Justizbeamte beim Formenwesen, der Politiker
klagt über Willkür und endlose zweckwidrige Schreiberei. Ob unsere Klagen Er¬
hörung finden werde», steht auf der noch unanfgcschlagencn Seite im Buche der
Heut nichts von den Wahlnmtriebeu, welche hier wieder beginnen. Da wir
so oft das Vergnügen haben, Deputirte zu wählen, so mögen Sie annehmen,
daß wir uns schon eine recht hübsche Praxis darin erworben haben. Man ver¬
steht bei uns vortrefflich Stimmen zu kaufen, zu verschenken, zu presse»,
das Geschäftliche des Wühlens wird mit bewundernswerther Fertigkeit getrie¬
ben. Leider sind die Männer unserer Wahl bis jetzt gar zu ärgerlich für die
väterliche Weisheit der Krone gewesen, und die Negierung hat sich ebenfalls eine
recht angenehme Gewandheit darin erworben, die Deputirten wieder uach Hause
zu schicken und den Wählern einzuschärfen: Wählt besser, meine Kinder. Wir
armen Kinder in Breslau werden auch diesmal nicht die beste Wahl treffen. Vor¬
läufig sind wir noch in Trübseligkeit und Schauder über das neue Wahlgesetz ver¬
sunken. — Nein, es ist nicht möglich, daß die Verfasser dieses Gesetzes arm an
Geist sein können, es ist ja so schwer zu verstehen, wie schwer muß es erst zu
verfasse» gewesen sein! — Sagte ich, es sei schwer zu verstehn? Um Verzeihung,
es ist gar nicht zu versteh», obgleich es bereits zwei Nachträge und Erklärungen
erhalten hat. Diesem Wahlgesetz helfen keine Erklärungen, denn durch jedes
Licht, welches eine solche Ergänzung über dunkle Stellen des Gesetzes verbreitet,
werden wieder viele neue bedenkliche Schlagschatten auf andere Stellen geworfen,
und je mehr Lichter das Ministerium darüber anzündet, desto schauriger und dü¬
sterer muß es werden. O, ich wünsche nicht, daß Sie den Zustand aller unserer
Beamten, welche mit den neuen Wahlen zu thu» haben, ansehn müßten. Sie
gewähren einen sehr traurigen Anblick, und lassen sich mit keinen andern Leuten
mehr vergleiche», als mit Nachtwandlern, Trunkenbolde» oder Wahnsinnigen.
Ihr Blick ist starr, und glotzt gradaus in die Welt, welche keine Wichtigkeit mehr
hat, denn der Schlüssel zu all ihren Mysterien und Schwierigkeiten steckt im Wahl¬
gesetz; die Beine gehn nicht mehr grade, sondern im Zickzack von einer Straßen¬
seite zur andern, um die Kreuz- und Quersprünge des feinen Gesetzes träume-
nsch nachzuahmen, und der Kops wackelt unheimlich hin und her, denn er ist
vor Verzweiflung fast ausgerissen und hängt nur noch an einem dünnen Faden
in der Mitte des Halses. Viele unserer Regierungsbeamten müssen Opfer des
neuen Wahlgesetzes werden, ihr Geist geräth i» Verwirrung, ihr Leib schwindet
dahin, sie sind Bilder des Jammers, der Resignation, des Traumlebens; aber
wie sie sich auch stellen mögen, sie verstehen das neue Wahlgesetz doch nicht.
Ich könnte Ihnen viele Beispiele aus dem Kreis meiner persönlichen Bekann¬
ten erzählen, welche in ihren Symptomen zum Theil rührend sind. — So bekömmt
ein hiesiger Regierungsrath, ein geachteter tüchtiger Geschäftsmann, auf einmal
eine unerklärliche Wuth auf Rebusse, wo er steht, sitzt, geht, zeichnet oder knackt
er Rebusse, sogar in seine Akten; alle illustrirten Zeitungen, Modeblätter und
was sonst Rcbnsse enthält, durchwühlt er wie fanatisirt mit immer wachsender Auf¬
regung. Die Familie ersucht mich, den Zustand des Kranken zu untersuchen.
Mit aller Vorsicht ging ich zu Werke, gewann mir sein Vertrauen dadurch, daß
ich auf seiue Liebhaberei einging und ihn mit den berühmtesten Nebusseu Deutsch¬
lands bekannt machte, z. B. einem L, neben welches kein Kutscher gezeichnet wird,
sondern gar nichts, welches L—ohutntscher bedeutet u. s. w., bis er mich endlich
vertraulich in eine Ecke nahm und mir zuraunte: „Doctor, ich bin nicht krank,
was ich thue, muß ich aus Dienstpflicht thun, ich sehe keine Möglichkeit, das
Wahlgesetz zu verstehen und arbeite dahin, mir eine größere Fertigkeit im Erra¬
then geistreicher Aufgaben zu erwerben, leider war meine Mühe bis jetzt fruchtlos.
Ich sah in sein bleiches Gesicht, in den hektischen Glanz seiner Augen, drückte
ihm schweigend die Hand und schied mit Wehmuth im Herze». — Aber uoch
schlimmer geht es deu armen Wahlcommissarieu in der Provinz. Der Landrath
in O., ein sehr gutherziger, wvhlhäbiger Aristokrat ist ein interessanter Fall. Er
erhält das Wahlgesetz, als er grade beim Kaffee sitzt. Triumphircud überfliegt
er das Blatt und sagt: Gott sei Dank, jetzt werden wir die Demokraten los.
Des Abends am Theetisch erscheint er noch vergnügter nud sagt zu seiner Frau
die Hände reibend: ich wähle in meinem Dorf in der töten Classe allein, das
Gesetz ist fein, sehr sein und schwierig, je mehr ich es durchlese, desto mehr Sub-
tilitäten finde ich. Am nächsten Morgen kommt er nicht mehr zum Frühstück her¬
auf. Die Landräthin geht endlich in sein Zimmer und findet ihn noch im Schlas-
wck bei verschlossenen Läden und hcruutergebrauuten Lichtern an seinem Arbeitstisch
sitzen, das Wahlgesetz liegt aufgeschlagen vor ihm, er starrt regungslos hinein.
Nach langem Rütteln kommt er endlich zu sich, schüttelt traurig den Kopf, steht
seine Frau recht beweglich an und flüstert mit heiserer Stimme : ich bin ein Drittel!
— Seit der Stunde hat er nichts gesprochen, als diese Worte: ich bin ein Drittel! ich
bin ein Drittel! — Alle, die den Ehrenmann kennen, beklagen seinen Zustand, doch da
er eine durchaus aristokratische Natur ist, habe ich Hoffnung, daß er wieder genesen
wird, das Denken wird ihn nicht zu Grunde richten. — Wenn noch nach dem
verhängnißvollen Wahlgesetz gewählt werden sollte, werden wir eine große Menge
von Willkürlichkeiten der Beamten, von Mißgriffe», Thorheit und Verwirrung er¬
leben, ich werde mir die Ehre geben, auch darüber getreulich zu berichten.
So treiben wir Possen mit der Zeit und über unseren Häuptern schwebt noch
Die Politik Rußlands ist seit Jahren eine glückliche oder, um dies Wort
nicht zu mißbrauchen, eine erfolgreiche gewesen; zumeist deshalb, weil sie mit dem
Wesen und Wollen des von ihr gelenkten Volkes in Uebereinstimmung steht. Auch,
jetzt dürfen wir überzeugt sei», daß die Wirkungen der neuesten europäischen Re¬
volution auf das Innere Rußlands für dessen Gegenwirkung nach außen größte!.-
theils maßgebend sein werden.
Die erste Nachricht von der Entthronung Louis Philipps und der Errichtung
einer neuen französischen Republik wurde in Moskau von allen fremden mit dem
gespanntesten Interesse aufgenommen. Das helle Licht fliegt schneller als der dunkle
Nebel. Das Erste, was mir über Deutschland in die Hände kam, waren die
großartigen Ansprachen und Aufrufe Friedrich WilhelmIV. nach den verhängnis¬
vollen Märztagen; damit eilte der Eine zum Andern, in den Konditoreien drängte
man sich, um mit eigenen Augen die Evangelien zu schauen; Toaste erschall¬
ten auf Kaiser Friedrich Wilhelm dem Ersten. Die hohe Polizei nahm dein-
Anschein nach keine weitere Notiz von dem Allen, als daß sie den Franzosen,
welche alle persönlich vorgefordert wurden, die offizielle Eröffnung machte, daß
Se. Majestät der Kaiser die neue Regierung in Frankreich vorläufig nicht an¬
erkenne, und deren Unterthanen, als solche, in Rußland für jetzt keinen Schutz
fänden. Es wurde ihnen daher die Alternative gestellt, entweder sogleich in ihr
Vaterland zurückzukehren, jedoch mit der Bedingung, nie wieder nach Rußland
zu kommen, den Unbemittelten wurde dazu sogar Unterstützung vou Seiten der
k. Negierung zugesagt, oder sich so lange unter das russische Gesetz zu steilen,
bis die diplomatische» Verhältnisse zwischen beiden Staaten wieder geordnet seien.
Nur sehr Wenige zogen das Erstere vor, da richtig vorausgesetzt wurde, daß jene
Annäherung und Anerkennung in kürzerer oder längerer Zeit doch wieder erfolgen
würde. Die Preußen dagegen wurden der Art gesichtet, daß die große Anzahl der
eigentlich Heimatlosen, d. h. derjenige», die nicht aus den letzten drei Jahren eine;»
Heimatschein besaßen, und die deshalb nach preußischem Gesetz in ihrer eigenen
Heimat nicht mehr als Angehörige betrachtet werden, gezwungen wurden, sofort
in die russische Unterthanenschaft zu treten, wodurch Zehntausend, die zum Theil
seit zwanzig Jahren die mannigfachen Fremden-Privilegien in Rußland genossen
hatten, ohne dafür anderwärts staatsbürgerliche Verbindlichkeiten gehabt zu haben,
plötzlich unter das Gesetz der Knute fielen.
Die Studenten waren die ersten im russischen Publikum, welche durch eifrigere
Lectüre den Zeitungen einige Theilnahme zu zeigen anfingen. Man dachte daran,
ihnen den Besuch der Kouditorcieu, wo allein fast jene zu lesen sind, zu verbie¬
ten, nahm jedoch, die geringe Bedeutung ihrer Erregung gegen das Auffallende
der Maßregel richtig abschätzend, dieselbe sogleich wieder zurück; übrigens ist seit¬
dem durch die Erhebung einer hohen Steuer, für die Erlaubniß ausländische Zei¬
tungen auslegen zu dürfen, ihre Berbreitnng etwas erschwert. In Petersburg
aber, wo die ausländische Bevölkerung von Bedeutung ist, wurden lebhaftere Be¬
sorgnisse rege. Die Aufmerksamkeit der Polizei verdoppelte sich; das Briefgeheimniß
hat ihr gegenüber nie bestanden, jetzt aber verfiel die Korrespondenz mit dem Aus¬
land einer geschärften Controlle. Professor Hoffmann in Moskau, der sich in
einem Schreiben an seinen Bruder in Frankfurt a. M. als offenen Republikaner
zu erkennen gegeben hatte, wurde urplötzlich über die Grenze geführt, alle Russen,
welche ins Ausland verreist waren, erhielten den strengsten Befehl zur augenblick¬
lichen Umkehr, jährend Fremden der Eintritt in das russische Reich sehr er¬
schwert, und umgekehrt keinem russischen Unterthan der Austritt über die Grenze
bewilligt wurde.
Gleichzeitig erließ der Kaiser zwei Manifeste, worin er seine geliebten Unter¬
thanen im Gegensatz zu den ausländischen Aufrührern zur unverbrüchlichen Treue
gegen den Thron und das Vaterland aufrief. Diese Dokumente waren des tie¬
feren Eindruckes wegen in Kirchen-Russisch geschrieben, worin Völker und Hei¬
den gleich lautet; die offizielle deutsche Uebersetzung wählte deu letzteren Ausdruck.
Die Heiden also in halb Europa, uicht mir in Frankreich, sondern anch in den
Ländern seiner geliebten und verbündeten Brüder, des Kaisers von Oestreich und
des Königs von Preußen, seien aufgeregt durch die Umtriebe der Polen / der
Verbannten von ,1831, und obwohl sich der Kaiser in diese Unruhen, wie sehr
er sie beklage und mißbillige, nicht anders mischen würde, als wenn etwa die
bedrängten Monarchen seine Hilfe anflehen würden, so müsse er doch das ganze
russische Volk aufrufen, um pflichtgetreu zu wachen, und jeden Versuch, die Be¬
wegung oder deu Krieg auch über seine Grenzen zu tragen, in Voraus zu
vereiteln.
Die Leute, welche lese» können, sind in Rußland noch selten, darum wurden
diese Aufrufe nicht nur durch alle Zeitungen und als Plakate verbreitet, sondern
auch von den Kanzeln abgelesen. — Die Masse des Volkes erfuhr hindurch zuerst
etwas von den Vorgängen im Anstand. In Persa (y verstanden die Mnschikcn
(die unterste Volksklasse) die Sache aber so, als wollten die Franzosen und Deut¬
schen einen Gewaltstreich gegen den Kaiser und das Reich ausführen, und sie
würden daher aufgefordert, gegen dieses boshafte Gesindel auszuziehn. Da nun
einige wenige Deutsche, Apotheker, Fabrikanten und Oekonomen dort wohnten,
stürmte das Volk geraden Wegs ans der Kirche gegen deren Wohnungen, um an
diesen zuerst ein Exempel russischer Volksjustiz zu statuiren. Glücklicherweise war
der Gouverneur ein zu aufgeklärter Maun, um, wie manche andere es wohl ge¬
than hätten, seinen ächtrussischen Deutschcubaß befriedigen zu lassen, indem er für
den bedauerlichen Vorfall sich anßer Verantwortung erklärt hätte, er ließ wirklich
rechtzeitig das Militär einschreiten, und einigen Hauptschrciern mittelst der Ptene
(die statt der härteren Knute jetzt allgemein eingeführt ist) die richtige Auslegung
der kaiserlichen Worte beibringen.
Die Moskowiter faßten die Sache so auf, als sei wiederum, wie im Jahr
1812, ein Einfall der Gallier und zwanzig mit ihnen verbündeter Völkerschaften
(unter dieser Bezeichnung führt alljährlich der offizielle, von der kaiserlichen Aka¬
demie in Se. Petersburg herausgegebene Petersburger Kalender den Zug Napo¬
leons nnter den Hanptereignissen aus der russischen Geschichte auf) zu befürchten,
und waren bereit, wie damals Gut und Blut zu opfern, um deu Feind wieder
zu vertreiben.
Bald, sehr bald erlosch aber nicht nur im Volke, sondern anch bei den Ge¬
bildeten und den Fremden das Interesse an alleu europäischen Angelegenheiten,
da statt der erwarteten großartigen Ereignisse jene Ermattung der Parteien und
die kriechende Reaction eintrat. Nur die beständigen Truppendurchzüge nach Polen
erinnerten daran, daß am westlichen Himmel die Gewitterwolken noch standen.
An die Stelle der Theilnahme oder Erregung trat der kalte Spott über die hei߬
blutigen Enthusiasten des Frühlings und Sommers; Mitleid mit den Thoren,
welche von freiem Glücke unruhig geträumt hatten, das die väterlich-polizeiliche
Milde und Sorgfalt ihnen bei festerem Schlafe in den Schooß geschüttet hätte.
Fast unerwartet war es daher, als der neue Frühling auch neues Leben
brachte. Die siegreichen Fortschritte der Ungarn beunruhigten das Petersburger
Kabinet, und zogen die Aufmerksamkeit des Volkes in Rußland um so mehr auf
sich, als die Züge nach Galizien, die starke Vertretung der polnischen Nationalität
in der ungarischen Armee und die mehrfach entdeckten Sympathien in Polen selbst
deu genauen Zusammenhang zwischen Magyaren und Polen erkennen ließen. Das
Polenthnm aber wird selbst vom russischen Bauer als das Urelement alles Widrigen
eingesehn, so daß z. B. die herkömmlich angenommenen Brnnncnvergistnngen bei
der Cholera wie in vielen deutschen Städten den Juden, so in Nußland den
Polen zur Last gelegt werden; ja bei der großen Feuersbrunst in Kostroma ließ
der Gouverneur, ein Bartrusse von altem Schrot und Korn, einige dort ansässige
Polen, die selbst bei dem Unglück viel verloren hatten, ohne Weiteres als Brand¬
stifter einziehn.
Im Fall einer siegreichen Erhebung der polnischen Waffen, fürchtete der ge-
bildete Russe eine zweite Bewegung in den Ostseeprovinzen, freilich keine politische
und antirussische, da sie vielmehr mir die von der russischen Regierung selbst an¬
gestrebte Verbesserung der bäuerlichen Verhältnisse im Gegensatz zu dem Druck des
kurischen und livischen Adels zum Zwecke hätte; aber dnrch ihren revolutionären
Charakter würde sie das loyale Nusseuthum eben so beleidigen, wie dnrch einen
antinationalcn. Uebrigens ist es keine Unmöglichkeit, vielmehr schon dnrch die Er¬
fahrung bewiesen, daß in Kurland und Litthauen auf den Grund alter Erinnerungen
und durch den Gegensatz der kleinen Nationalitäten gegen die allverschlingende rus¬
sische eine Annäherung an Polen herbeigeführt werden kann. Wenn dagegen zu
irgend einer Zeit geglaubt ist, daß das Deutschthum in Riga und den andern
Städten der baltischen Provinzen, so wie in dem größeren Theile des dortigen
Adels durch die Erhebung Deutschlands irgend wie angeregt sei, so ist das der
völligste Irrthum, indem jene Leute viel zu viel Besitzende sind, um nicht die
Knechtschaft des Hundes weit über die Freiheit des Wolfes zu stellen.
Es ist daher zunächst uur die ungarische, vielleicht ungarisch-polnische Be¬
wegung, welche in das innere Leben Rußlands eingreifen zu können drohte. Aber
dieser Krieg, so lange er die ungarischen Grenzen nicht überschreitet, erfreut sich
doch keiner besondern Popularität in Rußland, namentlich da er dem Anschein nach
der russischen Nationaleitelkeit wenig Nahrungsstoff bieten wird. Die Gerüchte
von den ersten Verlusten waren ungewöhnlich schnell verbreitet, und als selbst die
Petersburger Zeitung eine sehr beschönigende Nachricht von den Vorfällen in Sie¬
benbürgen brachte, als offiziell schon so viel zugegeben wurde, wußte man in
Moskau, wo man längst gelernt hat, die Siegcsbulletins der kaukasischen Armeen
mit den mündlichen Berichten derer, die dort gedient haben, zu vergleichen, so¬
gleich, daß der neue Krieg kein Kinderspiel, kein Türkenkrieg sein würde.
Die ungeheuer starke Aushebung hat das Volk nicht befremdet, obgleich sie
stärker war, als je eine seit 1812. Merken wir aber darauf, daß die Sammel¬
plätze und Standquartiere der neuen Truppen durchaus längs der preußischen
Grenze gewählt sind, so haben wir wohl Grund dem einigen Glauben zu schenken,
was die betheiligten Offiziere unbedingt aussprechen, daß nämlich ein Theil des
Heeres zu einem Handstreich gegen Preußen bereit und bestimmt sei.
Daß nach der Theorie der alten Diplvmatenschule von der Abrundung der
Reiche der Besitz der Provinz Preußen dem zeitigen Herrscher über Rußland und
Polen eine Nothwendigkeit sei, lehrt ein Blick ans die Karte; daß die russische
Negierung eine Zeit der Wirren, der Schwäche und Ueberhebung in ihren Nach¬
barstaaten nicht vorübergehn lassen wird, ohne dabei für sich einen materiellen
Gewinn zu erlangen, lehrt ein Blick in die Geschäfte. Und da in Rußland nichts
der Art laut gesprochen werden darf, am wenigsten in der Armee, wenn nicht
von obenher gern gesehen wird, daß man so denke und rede, so hat ein solches
Gerücht einen halboffiziellen Werth.
Die wahre Größe und Güte der russischen Armee kennt in Rußland Nie¬
mand ganz genau, selbst der Kaiser nicht. Am Namenstage der Kaiserin im
April d. I. sah ich die Revue in Se. Petersburg. Welcher andere Staat hat
glänzendere, besser dressirte oder besser ausgerüstete Truppen, als die hier auf
dem Marsfeld paradirten? Aber die hageren, abgerissenen Bettler, welche mich
in Moskau so oft angesprochen hatten, die sich mühsam auf der Straße hin¬
schleppten, das waren auch Soldaten; und wenn ein solcher in ein Hans trat,
hieß es: „passe nur uns, daß der Spitzbube nichts stiehlt."
Die für die Armee bestimmten Summen werden, wie bekannt, in Nußland
zunächst an die verschiedenen Generale, von diesen an die Obersten u. s. f. ver¬
theilt, auf diesem Wege gelangt vielleicht nur die Hälfte des ihm Zukommenden
an den einzelnen Soldaten. Vergebens ist versucht worden diesem Uebelstand
abzuhelfen, da keine Klasse von Beamten der anderen an Rechtlichkeit vorangeht;
— nur in der unmittelbaren Nähe des Kaisers kann dies System der Gaunerei
wenigstens nicht so großartig durchgeführt werden, da derselbe zuviel Gewicht auf
das Aeußere seiner Garden legt. Gelegentlich wird auch wohl die schlechte Equi-
pirung und Verpflegung eines in den Gouvernements stehenden Corps dem Kaiser
auffällig, und dann werden oft mehrere Offiziere, selbst Generale, wie vor einigen
Jahren General Rosen, und 1847 auf einmal vier solche von der kaukasischen
Armee nach Sibirien geschickt; für andere nur eine Mahnung zur Vorsicht. Bei
alledem gilt jeder kaiserliche Beamte offiziell für einen ehrlichen Mann, eben so
auch der Soldat, als einer, der gleichfalls dem Kaiser geschworen hat. Einem
solchen darf man nicht mißtrauen, bietet also ein Soldat irgend einen kostbaren
Gegenstand zu billigem Verkauf aus, so — kann das ja nicht gestohlenes
Gut sein.
Der Kriegsdienst ist aber hier nicht so unpopulär, wie mau im Ausland
meint. Die Lage der Bauern ist nämlich eine solche, daß sie im Ganzen gern
in den jetzt 15jährigen Soldatendienst eintreten. Die armen Teufel werde» aus
der Hölle in ein Fegefeuer befördert. — Um ihnen das neue Verhältniß zuerst
besonders schmackhaft zu machen, werden sie für die ersten vierzehn Tage nach
ihrer Einkleidung aller strengeren Aufsicht entlassen und schwärmen dann um
Schenken der Bürger jubelnd und trunken umher. Werden sie erschossen, so ist's
für den Kaiser und das heilige Rußland, kommen sie als Krüppel und mit weißem
Haar zurück, so werden sie die Weisen und Märchenerzähler ihres Dorfes, sitzen
auf dem Ehrenplatz und haben freie Zeche. Was brauchen sie mehr?
Eine kleine Schrift des Grafen Rechenberg-Linsen nnter folgendem Titel:
„Westeuropa und Nußland in Beziehung auf die Verschiedenheit ihrer Verhältnisse
und die gegenwärtigen Zeitereignisse" — in Mitau gedruckt, die mir in diesem
Augenblick zukommt, spricht die Wahrheit ehrlich ans, daß die durch und durch
anders basirten Verhältnisse Rußlands der westeuropäischen Revolution gegenüber
jede Hoffnung auf tiefere Sympathien bei uns eitel und thöricht macheu, und daß
sich darum Deutschland vorsehn solle, indem es seinen alten Verbündeten
von jetzt an unter seinen Feinden sehn würde. Wenn der Herr Graf die Ursache
der Verschiedenheit und der Abneigung ganz anders auffaßt, wenn er die Begriffe
Gott und der Kaiser, Edelmann und Bauer selbstverständlich in eine Reihenfolge
bringt, die uns unbegreiflich ist, so ist das sür unsere beiderseitigen Behauptungen
ein Beweis mehr.
Loyal, wie der Bauer, ist auch der alte Russe, welcher als Gutsherr auf
dem Lande, oder als Händler in den Städten sitzt. Ihn freut's, daß sein Kaiser
überall ist, Allen zu Hilfe kommt und überall dem Lande Ehre macht. Denn
etwas von der Glorie des Czaren fällt anch anf ihn selbst, da er ein kleiner Theil
des Czaren ist, ja er gehört zum Czaren, sein Leben und sein Geld; und stolz
schlägt er auf seine Geldkatze und spricht, wenn der Kaiser Geld braucht, so
komme er Hieher, ich habe tausend, ich habe zehntausend Rubel für den Herrn
und Vater. — Die Seele eines ächten Russen dieser Klasse ist wie eine Biene
oder Ameise im Bau, für sie allein ist sie nichts, ein halbes unfertiges Ding,
sie hat sehr wenig eigene Individualität; ihr Centrum, ihr eigentlicher Typus ist
der Weisel, der Czar, für den sie lebt, zusammenschleppt und stirbt.
Nur eine Klasse gibt es in Nußland, welche den ungarischen Krieg mit Un¬
zufriedenheit betrachtet, die altrussischen Aristokraten. Sie sagen, wozu
treibt der Czar das Blut des heiligen Rußland in die Heidcnländer hinein? Für
uns ist keine Gefahr, wir können ruhig im Segen des Friedens gedeihen, wäh¬
rend die Fremde» sich untereinander auffressen. Wozu sollen wir Geld verwenden,
unsere Stellung und Macht den Gefahren eines Krieges aussetze», wozu uus einen
tödtlichen Feind an unsern Grenzen schaffen, der andere Sprache und anderen
Glauben hat als wir, und uns deshalb immer hassen wird. Siege der Czar, so
gereicht es ihm zum Ruhme, nicht uns; die Nvmauow's siud ohnedies zu ehr¬
geizig und zu mächtig sür unser Wohl, und verliert der Czar, so haben wir den
Schaden und bezahlen sein Spiel. — So spricht der alte Adel in Moskau, so
dachten die Mitglieder des Senats, welche gegen den Krieg sprachen.
"
Urtheilen Sie, ob diese Partei Recht hat. F,r Uns ist sie kein Bundes¬
genosse.
Du moqnirst Dich darüber, daß ich in der letzten Zeit in meinen politischen
Rathschlägen chcmgirt habe. In den grünen Wvchenheften fällt es wohl mehr
auf, als in der Tagespresse; die Veränderungen kommen ruckweise, in den Zei¬
tungen macht es sich uach und nach. — Allein das ist gleichgültig, ich benutze
nur die Gelegenheit, um einen Begriff zu tntisiren, der mit in den „Neupoli¬
tischen Katechismus" gehört, und der eben so gedankenlos verwerthet wird,
als die Ideen der Volkssouveränität, Gleichheit, Einheit Deutschlands u. s. w.
Und er ist für unsere Entwickelung wo möglich noch schädlicher.
Man pflegt bei dein Vorwurf politischer Wankelmüthigkeit zweierlei zu ver¬
wechseln: die materielle Umgestaltung in den Ansichten, Ueberzeugungen und
Zwecken, und die aus dem Wechsel der Situation entsprungene Veränderung in
der Richtung. Der letztere Vorwurf— und der Deinige gegen mich fällt in diese
Kategorie — würde ungefähr darauf hinauskommen, daß man von einem See¬
mann verlangt, er solle immer dasselbe Segel aufziehn, seiner nautischen Ehre hal¬
ber, gleichviel ob der Wind von rechts oder von links bläst. Aber es kommt
einem verständigen Schisser nicht darauf an, deu Wellen und Winden dnrch die
consequente Haltung seines Takelwerkö zu imponiren, sondern sein Fahrzeug heil
und sicher in den Hafen zu bringen, welcher das Ziel seiner Reise ist. Freilich
will diese Geschicklichkeit, die Umstände zu seinen Zwecken zu benutzen, etwas an¬
ders sagen, als was man mit Mautelträgerei bezeichnet: der Mangel nämlich eines
eigenen Inhalts, der zur unbedingten Abhängigkeit von den äußeren Einflüssen
führt. Ein Barrere, der alle Phasen der Revolution mit gleicher Hingebung
durchmachte, constitutionell war, als die öffentliche Meinung es verlangte, honetter
Republikaner, als die Gironde am Ruder war, Montagnard unter der Herrschaft
des Wohlfahrtsausschusses, ein Diplomat von dieser bequemen Farbe wird wohl
nirgend z. B. mit einem Lamartine verwechselt werden, der zwar eben so schnell
und energisch in seinem politischen Glaubenssystem chcmgirte, aber nicht, wie es
die augenblickliche Stimmung der Masse haben wollte, sondern nach einem inner¬
lichen Proceß.
Ich will jene beiden Formen der politischen Inconsequenz streng von einander
sondern, die wirkliche von der scheinbaren Apostasie. Zur Kritik der ersteren wähle
ich, weil ich die allgemein gehaltenen Regeln überhaupt nicht liebe, sogleich ein be¬
stimmtes Beispiel. Der größte Staatsmann unserer Tage, Sir Robert Peel,
hatte in seiner langen und ruhmvollen politischen Laufbahn mit großer Energie die
konservative Richtung verfolgt. Er hatte, nachdem durch die Reformbill die alte
Torypartei gefallen war, die Reste der conservativen Partei unter seiner Führung
wieder gesammelt, und dieselbe in kurzer Zeit so gestärkt, daß er mit ihrer Hilfe
das Steuerruder Englands auf's Neue ergreifen konnte. Unter den die Aristo¬
kratie begünstigenden Bestimmungen waren die Korngesetze diejenigen, welche er
und seine Partei am heftigsten gegen die Angriffe der Whigs und der Radikalen
vertheidigt hatte. Nun änderte sich plötzlich seine Ueberzeugung, er erkannte, daß
sie uicht länger fortdauern könnten. Woher diese Veränderung kam, ob er über
die Zweckmäßigkeit derselben überhaupt, oder nur' über ihre Haltbarkeit der öffent¬
lichen Meinung gegenüber eine andere Ansicht gewann, thut hier nichts zur Sache.
Genug, er erklärte öffentlich, daß er uach seinem allen System die Geschäfte nicht
länger führen könne, und legte, wie es die Convenienz erforderte, sein Amt in
die Hände seiner bisherigen politischen Gegner nieder, mit dem Versprechen, die-
selben in ihren Reformen zu unterstützen.
Es fand sich aber, daß die Wighö für den Augenblick uicht in der Lage wa¬
ren, ein Ministerium zu bilden. So sah sich denn Sir Robert Peel veranlaßt,
diese wichtigste Veränderung im Staatshaushalt, und damit in dem politischen
System Großbritanniens überhaupt, selber in die Hand zu nehmen. Mit Hilfe
derjenigen unter seinen Anhängern, welche theils aus persönlicher Anhänglichkeit,
theils durch Rücksichten politischer Nothwendigkeit bestimmt, ihm treu blieben, und
mit dem Beistand seiner bisherigen Gegner, setzte er die vollständige Abschaffung
der Korngesetze dnrch —, und ging darin weiter, als selbst die Whigs noch im
vorigen Jahre ihre Ansprüche zu spannen gewagt hatten.
Es war natürlich, daß dieser unerhörte Fall in einem Lande, welches mehr
als irgend ein anderes ans Tradition und Convenienz zu halten Pflegt, ein mit
einem gewissen Schauder verbundenes Aussehn erregte. Der Standard, welcher
noch kurze Zeit vorher Sir Robert als den größten Staatsmann aller Zeiten ge¬
feiert hatte, erklärte nun, wenn in diesem Menschen nur noch ein Funken von
Ehrgefühl vorhanden wäre, so würde er sich schon längst an den ersten besten
Baum aufgeknüpft haben. Im Parlament suchte man die ganze Vergangenheit
des Premier zusammen, um dieselbe als ein unausgesetztes Gewebe von Verrath
und Meineid darzustellen. Schon im Jahr 1829 hatte er die Emancipation der
Katholiken, die er in der Opposition lebhast bekämpft, als Minister durchgesetzt.
Damals war aber der bei weitem größere Theil der Partei ihm treu geblieben.
Man warf nun auf seine ganze politische Laufbahn den Verdacht, er sei überall
lediglich durch Ehrgeiz und andere persönliche Motive, nie durch wahrhaft sittliche
Ueberzeugungen bestimmt worden.
Peel selber erklärte es für eine Kalamität, daß gerade er es sein müsse, dem
die Durchführung des so lange von ihm bekämpften Systems übertragen wäre.
Und das war es auch, nicht weil die politische Convenienz verletzt wurde, denn
hierauf lege ich gar kein Gewicht, sondern weil die Gemeinsamkeit einer Partei
noch andere sittliche Verhältnisse, als blos die Gleichheit der politischen Ansichten
umschließt, und weil diese durch jede Apostasie, am schwersten aber durch den
Abfall des Führers selbst verletzt werden. Es ist ein Bruch des Vertrauens, den
gerade diejenigen am meisten empfinden, welche dem persönlichen Gewicht des
Chefs bisher den geringsten Grad von Selbstständigkeit entgegengesetzt haben. Noch
mehr ist das in England der Fall, wo wenigstens bis zu dieser Zeit die Politik
der beiden Parteien eine traditionelle, gleichsam erbliche war. Whigs und Tones
drückten uicht blos einen Gegensatz ans, der am Princip haftet, sondern der sich
auf die ganze Persönlichkeit erstreckt, wie ehemals die Welsen und Ghibellinen.
Als Peel das Ministerium übernahm, hatte er es nicht geduldet, daß die Königin
Hofdamen ans den Whigfamilien um sich behielt.
Trotz alledem hatte Peel das Vaterland der Partei eingezogen. Unmittelbar
persönlicher Ehrgeiz konnte es nicht sein, was ihn bestimmte; denn wenn er an
seinem alten System festhielt, so war die Fortdauer seines Ministeriums wenig¬
stens eine Möglichkeit, jedenfalls blieb seine ehrenvolle Stellung als Führer der
Opposition eine gesicherte. Mit der neuen Ansicht dagegen mußte er fallen, sobald
er sie in's Werk gesetzt hatte, und war außerdem einer Reihe von Kränkungen
ausgesetzt, die zu ertragen britisches Blut verlangt. Sein Wechsel entsprang also
aus dem Gefühl der politischen Nothwendigkeit. Und der praktische Sinn der
Engländer hat dies anerkannt. Gerade die populären Blätter haben sich seiner
angenommen, nicht blos, insofern sie seine neue Wendung billigten, sondern die
sittliche Totalität seines Charakters.
Es gibt also Zeiten, wo auch bei dem bedeutendsten Staatsmann in dem Sy¬
stem seiner politischen Ueberzeugungen ein Bruch eintreten kann. Es ist nicht
nöthig, daß er dann als bußfertiger Sünder sich in's Kloster zurückzieht, sondern
er soll das Seinige thun, daß seiue neue Ansicht verwirklicht werde.
Dem Publikum ist ein solcher Uebergang freilich unbequem. Es hat sich die
frühern Thaten und Meinungen seiner Helden gemerkt, es hat sie einregistrirt und
nun will das Neue dazu uicht stimmen. Das Publikum wird verdrießlich und
der Held w'rd unpopulär. Um dem zu entgehen, gibt es öffentliche Charaktere,
welche gleichfalls Buch führe» über ihre Vergangenheit, und was nun weiter ge¬
schehen soll, danach bestimmen. Die Geschichte wird aber keineswegs dadurch ge¬
fördert, daß die Reminiscenz das Leben beherrscht, und von einer Selbstständig¬
keit des Charakters ist vollends nicht die Rede. Wenn jenes Register keine Re¬
geln mehr gibt, so bleibt nichts übrig, als zu schmollen: die am mindesten geeig¬
nete Beschäftigung für eine productive Natur. Peel blieb sich selber treu, als
er mit seiner Vergangenheit brach; ja er verleugnete auch nicht sein Princip,
denn er handelte conservativ, als er im Augenblicke, wo es Noth that, durch
eine freilich kolossale Reform die Revolution vermied.
Ein anderes Beispiel, diesmal ein Poet, ein Dilettant in dem politischen
Wesen. Ferdinand Freiligrath, der Sänger afrikanischer Visionen, die er
aus Reisebeschreibungen geschöpft hatte, war mit Georg Herweg!) in eine lite¬
rarische Fehde gerathen, weil er meinte, der Dichter stehe anf einer höhern Warte,
als auf den Zinnen der Partei. Herwegh, wie es Sitte l'el den Radikalen ist,
wenn ihnen die Gründe ausgehen, war grob geworden, er hatte Freiligrath einen
Bedienten genannt. Ein eigensinniger Charakter wäre dadurch nur noch weiter
in die Reaction getrieben worden, bei dem aufrichtigen Enthusiasten wirkte es
anders, er schlug plötzlich um, predigte die rothe Republik, den Socialismus,
pflanzte die Fahne der absoluten Revolution aus und schob bei den Leipziger
Augustercignissen der sächsischen Regierung die Absicht in die Schuhe, in einer
neuen Bartholomäusnacht alle Liberalen zu vertilgen, von den Radikalen des
Stolpeschen Bicrhauses an bis zu den Biedermännern. War er nun dadurch ein
anderer geworden? Nicht doch! Es kam ihm jetzt nur poetischer vor, ein Jacobi-
ner zu sein, als ein wandernder Kosmopolit; mit Recht, denn die unmittelbare
Begeisterung für Freiheit, Vaterland, Guillotine u. s. w. ist laugathmiger als das
vermittelte Entzücken über die Wüste Sahara, die Ashantees und die Gewürze
an der Küste Malabar und Coromandel, denn sie ist concreter. Von dem Staat
ist es Unrecht gewesen, ihn in diesen Ergießungen zu stören, und es wird eine
Zeit kommen, wo man es dem Lyriker ebensowenig verargen wird, wenn er sich
sür das Verbrechen als solches in's Feuer setzt, wie man es Goethe übel nahm,
wenn er das Evangelium der Liederlichkeit verkündete. Freilich wird man dann
anch nicht so viel Gewicht darauf legen, wenn ein Saulus aus lyrischem Wege
ein Paulus wird, wie es unsere unerfahrene Jugend gethan hat.
In der Mitte zwischen dem praktischen Staatsmann und dem lyrischen En¬
thusiasten steht eine romantische Erscheinung, deren politische Stellung im Lauf der
letzten Revolution deutlich genng zu erkennen gibt, wieviel Romantik wir noch zu
verarbeiten haben, ehe es bei uns zu einer klaren Verständigung über das kommen
kann, was wir eigentlich zu erreichen haben: Alfons von Lamartine. Zu¬
gleich in den Traditionen des alten Adels und der Aufklärung auserwachseu, durch
seiue poetische Natur vorzugsweise zu Rousseau hingezogen, brachten ihn die äußern
Umstände im Anfang seiner Laufbahn zum Haß des Kaiserreichs. Er war also
ein Anhänger der Bonrbans. Dann herrschte das poetische nud überhaupt lite¬
rarische Interesse vor, b-s er nach der Julirevolution seinen Platz auf der rechten
Seite fand, und zwar, wie es dem Edelmann ziemt, mit etwas mehr Hinneigun¬
gen zur alten Monarchie, als sie in dem bürgerlichen Ministerium Louis Philipp's
vorhanden waren. Die kcämerhafte Politik der Regierung trieb ihn in die Oppo¬
sition; I-^ !l>i>u,,'.(; s'tmiuuo! damit war das herrschende System verurtheilt. Er
erging sich in politischen Dithyramben, die in Frankreich mehr galten, als selbst
in Deutschland, weil dort auch der Bourgeois durch einen schönen Styl verblendet
wird. Die dynastische Opposition wurde ebenso von kleinen Spekulanten geleitet,
als das Gouvernement; er konnte auf die Länge mit ihr nicht gehen. Da er
nicht wieder zurückkvuute, so mußte er weiter nach links hinaus, i.icht zu
eiuer wirklichen Partei, sondern in's unbestimmte Ideal. Sils die Schlag auf
Schlag hintereinander sich folgenden Ouisos «xüebi-es die Fäulniß des offiziellen
Fraukreich an den Tag brachten, fand seine sittlich-ästhetische Entrüstung die
neue Phrase: I^t I^'laco s'-tttiistv! und er suchte nur, wie ein anderer
Poet, George Sand, Anknüpfungspunkte mit dem Socialismus, der modernen
miixini, welche eine spielende Lösung aller gesellschaftlichen Probleme verhieß.
So vorgeschritten fand ihn die Revolution, und stellte ihn, als den einzigen
ehrenwerthen Mann von Ruf, der nicht gegen das Princip verstieß, an ihre
Spitze. Seine Beschäftigung war jetzt der Erlaß von Proclamationen, in welchen
mit ebensoviel Eleganz als Begeisterung das Hereinbrechen des goldenen Zeitalters
verkündet wurde. Die Praxis widerlegte diese Illusionen, und mit seinen Ver¬
bündeten, den rothen Republikanern, fiel auch der edle Dichter, vou dem es übri¬
gens unzweifelhaft ist, daß er auch der neuen Wendung der Dinge eine Seite
abgewinnen wird, die sich nach den Regeln der ästhetisch-sittlichen Politik beur¬
theile» läßt. sein Wesen wird dasselbe sein, auch wenn er eine neue Staatsform
vertritt: die schöne Seele, die sich dem verwickelten Gewebe der Praxis eben¬
sowenig entziehn als in dasselbe aufgehn kann.
Es ist den Franzosen nicht eingefallen, ihren Liebling darum aufzugeben, weil
er nicht Farbe gehalten hat; der geistreiche Mann steht bei ihnen „auf einer ho¬
hem Warte, als auf deu Zinnen der Partei." Aber auch die praktischen Eng¬
länder haben ihren Broughcnu, der in seinen Wendungen mit Lamartine viel
Aehnlichkeit hat, nur daß sie, wie es John Bull ziemt, origineller und grotesker
aussahen, immer in Ehren gehalten, und haben nur im Punch ihre harmlosen
Witze darüber gemacht. Die Franzosen respectiren den Esprit, die Britten die
Originalität. Auch darin ist der Deutsche pedantischer; ich erinnere nur an die
Bitterkeit, mit welcher der Uebertriit Wilhelm Jordan's, der psychologisch
vollkommen verständlich war, verfolgt wurde. Gerade weil sie weniger praktisch
sind, überliefern sie sich den Fesseln der Vergangenheit. Wie gefährlich diese
Konsequenz ist, zeigt das Beispiel der letzten preußischen Kammern. Die Partei
Unruh hatte gegen die octroyirte Verfassung Protest eingelegt, die Partei Vincke
gegen diesen Protest protestirt, und beide glaubte» sich nun durch ihre „Ehre"
gebunden. Statt sich mit einander zu verbinden, wie es ihre Lage erheischte, wie
es in London zwischen Peel und den Whigs geschehen war, gaben sie sich den
Absolutisten und deu Radikalen in die Hände, verzehrten sich in unfruchtbaren
Streitigkeiten und machten es für die Kammer unmöglich, als Totalität einen
Willen zu haben. Ohne diesen organischen Fehler hätte keine Regierung gewagt,
sie aufzulösen. Glücklicherweise sind jetzt die „Ehrenpuukte", an welche sich die
politische Vergangenheit jedes Einzelnen knüpft, so vervielfacht und so verwickelt,
daß es ihm schwer werden wird, sich danach zu richten, und daß er sich wohl
oder übel nach einem andern Maßstab seiner Handlungsweise wird umsehn müssen.
Mit Recht erklärt man das Festhalten am Prinzip für das Kriterium eines
politischen Charakters. Aber das Prinzip ist nicht diejenige Seite, die am un¬
mittelbarsten in die Augen springt; nicht die Cocarde, die man wohlfeil ans jedem
Markte tauft. Der Gebildete trägt nicht gern ein solches Zeichen, das ihn schein¬
bar an ein Prinzip und an eine Partei, eigentlich aber an eine. Gesellschaft, eine
Clique bindet. Sich zu den „>>!>,«-'«" oder den „killer's" zu schlage», ist einfach,
zu ihnen halten, bequem, denu die Farben sind im Augenblick zu unterscheiden;
am, Wesen der Sache festzuhalten ist ungleich schwieriger, weil es nicht blos die
gute Gesinnung, sondern zugleich deu Verstand in Anspruch nimmt.
Wer ist in unserer Bewegung consequent gewesen? — Die Thadden-Tricglaff
und die Schlosse!. Natürlich! sie wußten heute nichts anderes zu sagen, als
gestern; sie hatten nur Eine Phrase gelernt, und waren unermüdlich genug, sie
alle Tage zu wiederholen. Der Eigensinn der Bornirtheit und der Fanatismus
der Abstraction wechselt nie, weil er nicht entwicklungsfähig, weil er eigentlich
leblos ist: denn im Geistigen, wie im Physischen heißt Leben nichts anderes, als
Verarbeitung des wechselnden Stoffes nach dem immanenten Gesetz des Organis¬
mus. Herr v. Thadden sagt: hängt alle Literaten und Bummler, dann kommt
die Welt in Ordnung; Schlosse! sagt: hängt alle Aristokraten und Geldsäcke, dann
bricht das goldene Zeitalter an. Sie sagen es heute und morgen, wie Cato sein
^etorum censvo, und das gerührte Publikum erklärt: der Mensch ist zwar nicht
recht bei Sinnen, aber er ist ein Charakter.
Bleiben wir bei der deutschen Bewegung; sie ist das beste Medium, das
Verhältniß der wirklichen Apostasie zur blos scheinbaren anschaulich zu mache«.
Als einen Charakter, der je nachdem man das Prinzip auffaßt, in die eine oder
die andere Kategorie gehört, führe ich einen Politiker an, dem Niemand das
Prädicat eines Mannes wird streitig machen; eine knorrige, harte Gestalt, ganz
der Gegensatz zu dem immer eleganten und geschmeidigen Lamartine: Friedrich
Römer. Was für eine Masse von Widersprüchen springen sogleich bei dem
ersten Anblick in die Augen! Er bekämpft viele Pnnkte der Verfassung, nament¬
lich aber das Erbkaiserthum und die preußische Hegemonie, mit leidenschaftlicher
Hartnäckigkeit, als sie aber gegeben ist, wendet er moralischen Zwang gegen den
König an, um ihn zur Anerkennung des Ganzen, und namentlich der von ihm
selber so lebhaft angefochtenen Pnnkte zu bewegen. In dem Conflict der Könige
mit dem Parlament erklärt er sich sür das letztere, wirft es aber gleich darauf,
als es sich in Stuttgart ansiedeln will, zur Thür hinaus. Er erkennt in der
Theorie die Rechtmäßigkeit seiner Beschlüsse an, versagt ihnen aber in der Praxis
den Gehorsam. Und eben so behandelt er die Schöpfungen desselben, die „Cen-
tralgewalt" und die „Reichsregcntschaft." Man hat nicht verfehlt, für diese Wi¬
dersprüche den einfachen Schlüssel zu finden: „Er meint es nicht ehrlich," wobei
denn freilich nicht erklärt ist, was er eigentlich meint. Und doch ist der rothe
Faden seiner Handlungsweise nicht schwer zu verfolgen,
Römer ist ein aufrichtiger Deutscher und ein et'en so aufrichtiger Würten¬
berger; je nachdem der eine oder der andere Gesichtspunkt durch die Umstände
in den Vordergrund gedrängt wurde, handelte er nach dieser oder jener Seite
hin. AIs Würtenberger suchte er das preußische Principal zu hintertreiben, so
lange es auf legalem Wege, in der Nationalversammlung möglich war. Als
Deutscher zwang er den würtemberger Particularismus zum Gehorsam und zur
Unterwerfung, sobald sich die Aussicht darbot, aus dem von der Nationalversamm¬
lung betretenen Wege ein deutsches Reich zu Stande zu bringen. Als Würten¬
berger trieb er endlich die Nationalversammlung ausctnauder, sobald von ihr nichts
anderes zu erwarten war, als daß sie in den Ruin ihres Deutschland auch das
bis dahin noch intacte Würtemberg ziehn würde. Der Wechsel in seiner Hand¬
lungsweise wurde nicht durch innere Haltlosigkeit, sondern dnrch die beiden Brenn¬
punkte seines Gesichtskreises bedingt. So geht es jedem ehrlichen Deutschen, der
nicht entweder ein Phantast ist, ein träumerischer Verehrer des Einen untheilbciren
Deutschland, wenn er's auch im Monde suchen müßte, oder ein verstockter Par-
ticularist. So geht es auch uns, die wir gute Deutsche sind, weil wir uns nnr
auf diesem Boden einen vollständigen Staat denken können, und gute Preußen,
weil wir nur im wirklichen Staat ein Vaterland sehen. Wir sind Deutsche trotz
alles wahnsinnigen Preußenhasses unserer süddeutsche» und radikalen Brüder, wir
sind Preußen trotz der verstockte» Cabinetspolitik unserer unglückseligen Regierung.
Für uns liegt Deutschland nicht in den Offenbnrger Volksconventikeln, Preußen
nicht in der Mappe Friedrich Wilhelms IV., von Manteuffel n. s. w. ganz zu
geschweige«.
Wir sind aber noch durch einen andern Umstand in die mißliche Lage gedrängt,
unsere Bewegungen fortwährend nach denen unserer Gegner einrichten zu müssen.
Unsere Partei, d. h. diejenige, welche ein in constitutionelle Formen
eingerichtetes deutsches Reich will, und sich die Möglichkeit dessel¬
ben so denkt, daß die übrigen deutschen Staaten sich um Preußen
als um den Mittelpunkt krystallisiren — unsere Partei ist von den
bestehenden Parteien nicht allein die schwächste, sondern auch die am wenigsten
organisirte; sie ist selber erst im Werden. Mit unsäglicher Mühe hat unsere Par¬
tei den Demokraten die Verfassung vom 28. März abgerungen; die Verkehrtheit
der preußischen Regierung vereitelte diese Mühe. Einen Augenblick hatte es den
Anschein, als ob die Partei das Parlament festhalten, und gestützt auf die Kam¬
mern der einzelnen Staaten den Particularismus der Regierungen beugen würde.
Natürlich traten wir auf die Seite des Parlaments. Da verläßt unsere Partei
das Parlament, und die Demokraten bemächtigten sich der Bewegung. In demselben
Augenblick wird von den Regierungen ein Entwurf geboten, der schlecht genug,
der aber nicht so absolut schlecht ist, als wir es erwarten durften, der endlich der
einzige Weg ist, ans dem wir die Möglichkeit absehn, durch unmittelbares Wirken
unserem Ziel nachzustreben. Wer sich nicht in dumpfer Resignation, wie die trauern-
den Juden an deu Wasser vou Babel, zur Seite setzen wollte, mußte die Mög¬
lichkeit dieses Weges offen halten. Die Versammlung unserer Partei in Gotha
hat sich dafür entschieden, ans den Motiven, die much ich in meinem Sendschreiben
an den deutschen Verein zu Leipzig aufgestellt hatte, und wir adoptiren dieses
Programm. Schöner wäre es und erhebender, wenn wir im offnen Kampf er¬
ringen könnten, was wir für unser Recht halten, aber man vergleiche uns doch
uicht mit den Ungarn, Polen, Italienern: dort steht ein äußerer, sichtbarer
Feind dem vernünftigen Willen der Nation gegenüber, wir dagegen ringen mit den
Verhältnissen, wir müssten in unserm eignen Fleisch wühlen. Kleinlich, widerwär¬
tig und sehr ermüdend ist der Kampf, wie unsere Lage ihn erheischt, er bringt
beständigen Verdruß und keine Ehre, aber er muß gekämpft werden. Wodurch
sind wir in diese elende Lage gekommen, als durch die Theilnahmlosigkeit der
„Gebildeten" an der vormärzlichen Bewegung. Ihr preußische» Juristen, Bureau¬
kraten n. s. w., die ihr mit eurer politischen Aufklärung „weit hinaus" wäret über
das, was die „Liberalen" — die guten Leute und schlechten Mnsikanren — ver¬
folgten, ihr fast mit souveräner Ironie ans die kleinlichen Anstrengungen der Presse,
der Vereine u. f. w. gegen den festgefügten Bau deö Absolutismus herab, und
als dieser Bau nun plötzlich einstürzte, da wundertet ihr euch höchlichst, daß man
euch nicht das Nuder in die Hände gab, daß die Menge, verworren und leiden¬
schaftlich wie sie war, nun selber auch ernten wollte, was sie gesäet zu haben glaubte.
Ihr seid auf dem besten Wege, es zum zweiten Mal so zu machen.
Am widerlichsten ist mir die gegenwärtige Stimmung Berlins, das seinen
alten Ton auf das vollständigste wiedergefunden hat. Dieser Pessimismus, der
sich über jede reaktionäre Bewegung freut, in der Ueberzeugung, es müsse das
Maaß voll werden, damit eine neue Revolution endlich das Volk zu Ehren brin¬
gen könne — er ist eine Absurdität und eine Infamie. Ich kann kaum uoch die
Revolutionen und Nevvlntionchen alle zählen, die seit 1830 gemacht sind, sie ha¬
ben alle zu nichts geführt. „Sie sind nicht weit genug gegangen, sie sind vor
den Thronen stehn geblieben!" In Paris hat man den Thron nicht blos figürlich
verbrannt, man hat zwei Könige aus dem Lande gejagt, und man ist jetzt so weit,
um uicht den Indianern ans der an<! das Feld zu überlassen, dieselben Maßregeln
anzuwenden, welche die Restauration, welche die Julidynastie verhaßt gemacht haben.
Was die Negierung des Präsidenten in Rom gethan hat, ist zehnmal schlimmer,
als alle Intriguen der Guizot'schen Politik in der Sonderbundsfrage.
Zu diesem Augenblicke darf sich keiner dem Staat entzieh», am wenigsten der
Gebildete. Es handelt sich jetzt um mehr als vor dem März 48: e§ handelt sich
darum, ob wir fortfahren sollen, in der Reihe der unabhängigen Staaten eine
Stelle zu finden, oder ob wir dem Schicksal Italiens verfallen. Die einzige Macht,
die uns davor noch bewahren kann, weil sie wenigstens noch gerüstet dasteht, ist
Preußen. Wer sich jetzt außerhalb des wirklichen Staats stellt, um seiner Cava-
lierparvle nichts zu vergeben, um nicht der Inconsequenz geziehen zu werden —
in derselben Art, wie man diejenigen, die nach der Revolution reaktionär waren
gegen das Fieber der Demokratie, wie sie vorher oppositionell gewesen gegen den
Absolutismus, der Apostasie beschuldigte, weil sie die Localitäten gewechselt hatten
— der ist nicht etwa neutral, er treibt vielmehr, so viel an ihm ist, den Staat
in die Netze der neuen Preußischen, in die Netze der heiligen Allianz, und er
trägt mit die Verantwortung für den Fall des Vaterlandes.
Wer am 2t>. Juni über Erfurt zur Versammlung der Wcidenbuschpartei reiste,
wurde auf dem Eisenbahnperron dieser Festung lebhaft daran erinnert, daß der
Zweck seiner Partei, die kämpfenden Gegensätze unseres Vaterlandes durch das
.Gesetz eiuer starken staatlichen Einheit zu binden, grade jetzt eben so viel Schwie¬
rigkeit als Verdienst habe. Denn längs der Wagenreihe des anhaltenden Zuges
war eine bedenkliche Svldatcnschaar aufgestellt, wahrscheinlich als Soutien für
zahlreiche Polizeibeamte, welche in den Waggons und aus dem Gauge verdächtige
Gesichter, Röcke und Hüte anhielten und uach ihrer Legitimation fragten. Es
war nämlich von Gotha die Anzeige eingelaufen, daß demokratische Ruhestörer den
Entschluß gefaßt hätten, die friedliche Versammlung zu sprengen. Man fürchtete
Zuzug auf der Eisenbahn, die Truppen waren ausgestellt ihn zu verhindern.
Gotha lag nach einem Regentage im Abendschein so freundlich da, wie es
sich für eine kleine Residenz in Thüringen schickt. Die grünen Büsche um das
alte Herrenschloß auf. der Anhöhe blitzten lustig von Regentropfen und unten ans
dem Platz vor dem Theater trieb sich erwartend ein schaulustiges Publikum in
anständiger Kleidung und Haltung umher. Im stattlichen Theatergebäude waren
die Männer des Weidenbusches versammelt. — Sie hatte» sehr weise gehandelt,
als sie den Entschluß faßten, keine Zuhörer ihrer Berathungen aufzunehmen. Die
Debatten erhielten dadurch eine ungezwungene Form, und in dem Kreise der alten
Bekannten ließ die Zunge sich freier gehn und ging über Persönlichkeiten und
Verhältnisse hin, deren Besprechung ein strengeres parlamentarisches Verfahren
ausgeschlossen hätte. Als die Partei Gagern's den Entschluß faßte, ihre Mit¬
glieder aus den verschiedenen Theilen Deutschlands zusammen zu rufen, machte sie
sich keine Illusion über den Vortheil und den Einfluß ihrer Parteiversammlung
auf die deutscheu Angelegenheiten; ihre Absicht war eine dreifache. Die Mit¬
glieder, welche durch das lange Zusammenleben in Frankfurt fast alle einander
menschlich nahe getreten sind, sollten sich wiedersehn und ihre Ansichten und Ein¬
drücke, welche seitdem in den verschiedenen Theilen Deutschlands gewonnen waren,
gegen einander austauschen; ferner sollte die Stellung, welche die alte Majorität
des Frankfurter Parlaments, gegenüber dem preußischen Verfassungsentwurf ein¬
zunehmen habe, besprochen werden, und drittens sollten die ersten Schritte zur
Organisation einer große» deutschen Partei in Deutschland gethan werden.
Die Mitglieder, welche sämmtlich durch Briefe eingeladen waren, hatten sich
zahlreich eingefunden. Unter deu hundert fünfzig Gekommenen fehlten nur wenige
der Autoritäten, deren Worte von der Redncrlmhue der Paulskirche durch Deutsch¬
land geflogen waren, beide Gagern, Vincke, Dahlmann, Baseler, Simson, Riesser,
Mathy und die andern bekannten Namen wurden mit Freude und Respekt be¬
trachtet, gezeigt, gegrüßt und erklärt. Aus Oestreich war unser Freund Rösler
aus Wien gekommen, auch unsere Leipziger Deputirten, Biedermann, Laube,
Koch, waren vorhanden. In den Räumen der Gasthöfe bewegten sich am Mittag¬
tisch und in den Abendstunden die Mitglieder der Versammlung und ihre Freunde
treuherzig und vergnügt, und es gereichte dem zugereiste» Fremden uivd den Go-
thaer Honoratiore» z» recht inniger Erbauung, die Helden seiner Politik so nahe
sehn und hören zu können. Für die Mitglieder selbst war es eine Art Bedürfniß,
sich unter einander wieder einmal die Hände zu schütteln und den menschlichen
Zusammenhang mit deu Andern zu empfinden. Hatten sie doch Alle das größte
Jahr ihres Lebens gemeinschaftlich verlebt und sich an den freien Verkehr bei
großen Interesse» so sehr gewöhnt, daß sie in der Heimath seine» Mangel als
einen großen Verlust empfinden mußten. Da wir Deutsche wohl immer gemüth¬
liche Politiker bleiben werden, soll man auch deu Genuß, welchen die Versamm¬
lung in Gotha für die Mitglieder und ihre Freunde hatte, nicht gering an¬
schlagen.
Das offizielle Resultat der Versammlung war die Erklärung, welche aus den
Zeitungen bekannt ist. Die 130 Unterzeichner erklären darin ihre Bereitwilligkeit
bei der gegenwärtigen verzweifelten Lage der den'sehen Einheitsbestrebungen den
preußischen Verfassungsentwurf, als die relativ beste unter den noch vorhandenen
Möglichkeiten anerkennen und in ihren Kreise sür die Necilisiruug desselben wirken
zu wollen. Durch diese Erklärung brachten die Männer der Paulskirche ein Opfer
und Niemand soll leugnen, daß es mit großem Sinn und mit Selbstverleugnung
gebracht wurde. Welche Wichtigkeit diese Erklärung für die gute Sache haben
wird, müssen wir abwarten, jedenfalls war sie nützlich, ja nothwendig. Allerdings
hat eine Erklärung von 130 Männern, welche nichts als ihre persönliche Ueberzeu¬
gung aussprechen, nicht nnter allen Umständen Wichtigkeit für die Nation Aber
die 130 hatten volles Recht anzunehmen, daß ihr Urtheil für einen großen Theil
der Deutschen, welcher ehrlich zum Parlament gehalten hat, maßgebend sein wird.
Daß sie sich darin nicht getäuscht haben, zeigt die Freude der preußische» Regie¬
rungsorgane über die Annäherung der besten Repräsentanten deutscher Volkskraft,
eben so sehr, wie die furchtsamen Angriffe der partikularistischen Presse.
Vinke hat die Erklärung nicht unterzeichnet, weil er in seiner stolzen Beschei-.
derben eine jede Erklärung, welche von Privatpersonen über solche Interessen des
höchsten Staatslebens gegeben wird, für ineonventionell hielt, dann weil er von
seinem Standpunkt der Vereinbarung aus, mit einem einzelnen Satz der Erklä¬
rung nicht übereinstimmen durste und endlich, weil er den Willen hat, von seinem
Standpunkt des Rechts aus , sich der Wahl zu enthalten und für die nächsten
Kammern kein Mandat anzunehmen. Demungecichtet war grade seine Anwesenheit
in Gotha für die Partei und vielleicht für unsre Zukunft ein Gewinn. Schon im
vorigen Frühjahr, als er von Frankfurt nach Berlin ging und bei seinem Abschied
von der Paulskirche zu den meisten Mitgliedern der Centren heranging und ihnen
herzlich und bewegt die Hand schüttelte, wurde das Band geknüpft, welches die
genialste Kraft Preußens mit der Weidenbuschpartei verband, jetzt ist die mensch¬
liche Annäherung noch größer geworden und die guten Früchte davon werden uns
nicht ausbleiben.
Auch der dritte Zweck der Gothaer Versammlung, sich als deutsche Partei
zu constituiren, ist, so weit es in einer dreitägigen Versammlung geschehn konnte,
erreicht. Erst die Resultate dieses Bestrebens gehören der Oeffentlichkeit an.
Wir werden zur Zeit unseren Lesern darüber berichten.
Angelika Catalani ist in diesen Wochen zu Paris an der Cholera gestorben
und Henriette Sonntag kehrt zum Theater zurück. — Jedes Menschenleben gibt
Stoff zu einem wundervollen Roman, das Leben der Frauen aber mehr, als das
der Männer und das Leben einer Sängerin den meisten.
Ihr Männer wißt nicht, wie seltsam die Welt mit der Seele einer Künstlerin
umgeht. Alles Entzücken, alle Verzweiflung arbeitet nach einander unter dem Flor,
der ihre Brust verhüllt. Dasselbe Weib, das heut mit blitzendem Auge und seli¬
gem Lächeln den kleinen Fuß auf eure Nacken setzt, liegt morgen bleich, aufgelöst,
zerschmettert auf dem Teppich, den eure Schmeichelei unter ihre Sohle» gebreitet
hat. Und wenn ihr hundert Jcihre lang Champagner trinkt oder Mohnsast ein¬
nehme, ihr empfindet in allen euren Träumen nicht, was ein Weib vom Theater
wachend erlebt. Geht den Spuren ihres Schicksals nach, wie sie sich hier und
da in Anekdoten, Erzählungen, Reminiscenzen ihrer Zeitgenossen abdrücken, und
ihr werdet überall eine Fülle von Leben, einen ewigen Kampf, oft ein furchtbares
Verhängniß finden. Es ist etwas Gespenstiges dabei; glaubt mir, es gibt ein
Grauen auch hinter den Coulissen und auf dem prosaischen Schnürboden unsers
Theaters. Nehmt an, jeder Mensch habe seinen Engel, einen kleinen getreuen
Hausgeist, der über ihm schwebt, ihm die Steine ans dem Wege sucht, ein wei¬
ches Taschentuch an die weinenden Augen drückt, das trockne Brot in Kuchen
verwandelt und mit einem weichen Zauberpinsel emsig Gold und Noth ans die
grauen Wände malt. Gut, auch das Weib, welches zum Theater geht, hat einen
solchen Engel, der mit ihr plaudert, wenn die alten Kirchenglocken läuten, und
sie am Ohrläppchen zieht, wenn sie einem schwarzen Schnurrbart nachsieht.
Sobald sie die Bühne betritt, und der Vorhang aufgeht, fliegt dieser kleine
Geist auf die Soffiten und sitzt bedenklich und verlegen über ihr. Aber jede Rolle,
welche sie unten dem Publikum vorspielt, jeder Charakter, jede Leidenschaft, welche
in ihr lebendig wird, erhält ein Leben auch außer ihr, zieht wie ein Rauch, wie
ein Kobold nach der Höhe, und fängt Streit an mit ihrem Schutzgeist. Was sie
unten darstellt von Lastern und Tugenden, von Frende und Schmerz, das schwebt
schattenhaft über ihr und zieht höhnend und grinsend seine Kreise um ihren un¬
sichtbaren Helfer. O, er wehrt sich, er schluchzt, er ringt die Hände, er schlägt
nach dem Gesinde!, das ihn anfällt. Aber er bleibt nicht Sieger, die Anzahl der
Feinde wird immer größer, ihre Angriffe immer heftiger, bis sie ihn endlich her¬
unterwerfen, verjagen oder umbringen und sich an seiner Statt der Künstlerin an
die Sohlen heften. So wächst dem jungen Weib aus jeder Rolle ein Feind ihres
Lebens und so lange sie athmet, hat sie zu kämpfen mit den Gebilden, die sie
selbst geschaffen. Und deshalb ist sie dem Theater verfallen so lange sie athmet,
sie mag den bunten Flitterstaat wegwerfen, sich die Schürze einer Hausfrau um¬
binden, und ihr unschuldiges Kind zur Abwehr an das Herz drücken, ja mag sie
selbst unter den Baldachin eines fürstlichen Thrones steigen oder ihr Haupt auf
das Betpult einer Klosterzelle legen, überall und überall zieht sie's fort, zurück in
die Aufregung, in die Wonne und das Weh der Coulissen zurück. Während ihr
Gatte sie küßt, erinnern die Dämonen ihres Spiels an den Liebesrausch der
Rollen und währ-end ihr Kind spielend ein Haar der Mutter herunterzieht, ziehn
die Soffitcuteusel an allen andern Haaren zurück zu der gespenstigen Stätte, wo
das Herz am stärksten schlug und die Freiheit am schönsten war. — Es sind jetzt
50 Jahre, da trat Angelika Catalani aus dem Kreuzgange des römischen Nonnen¬
klosters heran an den kleinen Wagen, auf dem sie ihr Maestro Boselli in die
Mit entführte. Das t 4jährige Mädchen war bereits ein Wunder Italiens. Hatte
nicht der würdige Cardinal verboten, das Kind im Chor der Kirche singen zu
lassen, weil ihretwegen halb Rom hineinströmte und die junge Männerwelt dem
Allerheiligsten den Rücken zukehrte und der kleinen Angelika Bonbons und Blumen
in solchen Massen zuwarf, daß die Nonnen neben ihr fast erschlagen wurden?
Und hatte nicht die Superiorin trotz dem Verbot das Wunderkind doch singen
lassen, weil das Kloster reich wurde durch die Opferpfcnnige der zahllosen Be¬
wunderer? Du hast sehr früh Triumphe gefeiert, Angelika Catalani, du warst
noch Kind, als die Gespenster der Kunst sich um dein Haupt lagerten. Der
Bosclli machte dich zu Etwas, du wurdest seit l800 das Entzücken von Italien,
Lissabon, London und Paris. Damals nannten sie dich eine Göttin, denn du
warst ein schönes Weib, eine edle Gestalt mit stolzem römischen Antlitz und glü¬
henden Augen, du hattest eine sehr große Stimme, welche in Tiefe und Höhe
von glei5,em nud reinem Metall war und du verschmähtest es nicht, sehr fleißig
zu sein und warst ein Wunder von Technik, welches Allerlei mit der Stimme
machen konnte, auch Dinge, über welche sich dein kleiner Schutzgeist schämte und
ärgerte. Da auf dem Gipfel deines Ruhmes, als halb Enropa begeistert zu
deinen Füßen W und dich anschwärmte, da hast dn den confiscirten Kapitän
Valabregue gcheirithet, das Subject. Er wurde dein Tyrann, der dich mi߬
handelte, mit dem»: Kunst schamlosen Wucher trieb und dein Geld vergeudete,
er machte dich habsücl/ig, anmaßend, zur Egoistin! Von 1816—26 zogst du von
Lissabon bis Petersburg und sammeltest Wälder vou Lorbeeren, innerlich aber ver¬
kauft du und wurdest alle. — Seit 1828 lehrtest dn Andere singen. Dein
Herz war verkohlt, zusammenbogen, aber du konntest es doch nicht lassen, für
die Geister der Soffiten zu arb^er; dn schmücktest ihnen neue Opfer. Vor ein
paar Jahren sagten dich die Zenn-gen todt, du mußtest in den Zeitungen dage¬
gen protestiren und erklären, daß Ul noch am Leben seist. Arme Angelika! —
Und jetzt stirbst du als 65jährige alte Frau mit Hunderttausenden zusammen an
einer gemeinen Seuche, welche masscnlM tödtet und in die Gruben wirft, ohne
Distinktiv», ohne alle dramatischen Pointe,, fast unbemerkt. — Warst du glück¬
lich ans Erden, Dame Catalani? dn hast vol geweint und viel gelacht, du hast
viel gesündigt und viel Gutes gethan und den Leben war sehr reich an Bildern,
Erfahrungen und Verwandlung, aber du hast lUglück gehabt in deiner Liebe und
großes Unglück in deiner Ehe und dein Herz war todt, bevor du starbst.
Du bist gestorben und die Sonntag geht zum Theater zurück.
Während die brünette Römerin auf goldenen Vage» vou einem Ende un¬
seres Erdtheils bis zum andern flog, schlüpfte aus deu ^ieu des Conservatorinms
von Prag eine blonde Rheinländern! hinter dle Coulissen. Einundzwanzig Jahre
jünger als die Catalani, betrat sie eben so viele Jahre sy^er die Bretter. Wie
einst das erste Auftreten der Italienerin in Venedig, so warder Sonntag erstes
Debüt in Prag von ungeheurem Erfolg. Ueber Wien und Berlin zog sie ihre
Zauberkreise nach Paris und hier begegneten einander um das Jahr 1826 das aufstei¬
gende Gestirn der Blondine, und das rothe Cometenlicht der Brünette, welche vom
Zenith ihres Ruhmes langsam hernieder stieg in die Wolken der Resignation.
Wie die Catcilcmi, so war die Sonntag eine schöne Repräsentantin der Kunst ihres
Volkes, der Reiz jungfräulicher Anmuth und Bescheidenheit, die naive Schalkhaf¬
tigkeit der graziösen Figur und die liebenswürdige Sentimentalität ihres Gefühls
bildeten einen vortrefflichen Gegensatz zu dem sichern Stolz, der bewußten Kraft
ihrer Schwester. Selten hat einer Künstlerin die Welt so freundlich zugelacht,
ihren Theaterhimmel umkreisen keine dunklen dämonischen Gestalten, es waren die
weichen Elfen der romantischen deutschen Musik, welche über ihren Soffiten saßen
und ihr Gesichter schnitten; selten schien die Jugend einer Sängerin so glücklich
als die ihre. Und was ist aus ihrem Leben geworden? Sie heirathete im vollen
Glänze ihres unabhängigen Künstlerlebens einen Grafen Rossi, sie verschwend von
der Bühne und begann das Leben einer Salondame in exclusiver Kreisen. Was
sie in dieser Zeit durchgefühlt und gelitten, das soll ihr Geheimniß bleiben, wir sehn
nur eins, zwanzig Jahre war sie vom Theater getrennt und jetzt muß sie auf
die Bretter zurück. Auch sie wird durch eine gespenstische Gewalt >in den blonden
Haaren zurückgezogen zu der Stelle, auf der sie einst dem Verhängniß verfiel.
Ihre erste Rolle war die Prinzessin im Johann von Paris, welche wird ihre
letzte sein? Was wird das Weib, die Künstlerin bis zu diier letzten Rolle noch
von Freude und Leid zu genießen haben? —
Wir Deutsche haben eine Pflicht der Dankbarkeit <?egen sie zu erfüllen. Alles
Schöne, was wir von ihrer Zukunft kaum hoffen, wollen wir ihr von Herzen
wünschen.
Heute verkündet der „Lloyd" das siebente oder achte Ultimatum des Fürsten
Schwarzenberg an Deutschland.
Schwarzenberg ist so wei^g ein Feind der deutschen Einheit, daß ihre einfache
Verkörperung ihm nicht gewgt; er will sie dreimal haben, er verlangt drei einige
Deutschlands in Deutschland. Ihm ist es vor Allem um die Macht und Größe
der Nation zu thun. D< er sich nun überzeugt hat, daß Gagern's Kleindeutsch¬
land viel zu klein wär--, um sich gegen die Anfeindungen der Gesammtmonarchie
behaupten zu können so gibt er ihm den wohlgemeinten Rath, sich gefälligst in
zwei Hälften zu theilen, wodurch es ohnfehlbar an Größe und Vollständigkeit ge¬
winnen muß. Ein vereinigtes Kleindeutschland, so erklärt er, die Hand auf —
der Weste, müßte er „als natürlicher Feind" fortwährend bekämpfen; spaltet es
sich dagegen wohlweislich in ein norddeutsches und ein süddeutsches Kleindeutsch¬
land, so wird er „als natürlicher Freund" fortwährend eines gegen!.das andere
beschieden. Um Gotteswillen, Fürst Schwarzenberg, sein Sie großmüthig und
schenken Sie uns Ihre Feindschaft.
Allerliebst ist die Pointe der Lloyd'schen Offenbarung. Schwarzenberg ent¬
wickelt nämlich doppelte Großmut!): 1) will er Preußen nicht länger hindern, sich
an die Spitze jener norddeutschen Staaten zu stellen, die sich demselben freiwillig
anschließen; 2) will er Süddeutschland nicht unmittelbar beherrschen, sondern
in „weiser Erhabenheit" stellt sich Schwarzenberg bei Seite und bietet die süd¬
deutsche Hegemonie Baiern an!
Es erinnert mich an eine vormärzliche Anekdote. Ein berliner Eckensteher
verkaufte in der Abenddämmerung einem dummen Teufel ein großes Stück Eisen-
kette, das er unter dem Nock verborgen hielt. „Schönes Eisen," sagte er; „un¬
ter Brüdern zwei Thaler werth. Da haben Sie's für fünf Silbergroschen." Der
Handel ward geschlossen, der Verkäufer verschwand mit dem Silberstück, und siehe
da, der Käufer hält eine schöne, schwere Kette in der Hand, viel größer als das
erhandelte Stück. Es war nnr ein Uebelstand dabei. Sie war nämlich an einem
großen schönen Hause befestigt, welches dem Eckensteher grade so gehörte wie Süd¬
deutschland dem Minister Schwarzenberg.
Nun, was zögern Sie, Herr v. d. Pfordten? Greifen Sie zu, lassen Sie
sich geschwind das Hegemonie-Diplom in der Staatskanzlei ausstellen, ein großes
Siegel aufs Pergament mit Schwarzenberg's Unterschrift, und nicht nur die tapfern
Würtenberger, Deutschlands treuester Volksstamm, nicht nur die Badener und
Hessen, sondern Ihre eigenen Franken und Schwaben werden nicht länger anstehen,
den hegemonischen Beruf des altbairischen Particularismus anzuerkennen. Es ist
hohe Zeit, die Macht des Hauses Wittelsbach zu heben, denn jetzt reicht sein mo¬
ralisches Ansehn nicht über den Dunstkreis der Kirchen und Brauhäuser Münchens
hinaus.
Ich thue Ihnen vielleicht Unrecht. Ihr Herz empört die plumpe Arglist, welche
das Nheingeschenk verbirgt. Es geschieht Ihnen aber Recht, mit Affenmünze be¬
zahlt zu werden, wenn Sie, um Antwort ans die deutsche Lebensfrage sich an eine
russische Creatur wenden. Sieht man denn in Deutschland den diplomatischen No¬
ten Oestreichs noch immer nicht die russische Contrasignatur an? Oder sind eure
Diplomaten plötzlich solche schafherzige Ideologen geworden, um sich aufschwatzen
zu lassen, dem Kaiser Nikolaus sei es lediglich um die Pacification Ungarns zu
thun? Der Czar hat wohl über die Hälfte seines Capitals an Geld und Seelen
in die östreichische Casse geworfen, ohne sich um die übrigen Geschäfte seines Coa-
pagnons zu kümmern, ohne sich vollständige Einsicht in sämmtliche Geschäftsbücher
auszubcdingen? Wo ist solche blinde Uneigennützigkeit, wo ist solche leichtsinnige
Aufopferung je im commerciellen oder politischen Leben erhört gewesen? Vielleicht
in München oder Krähwinkel, aber gewiß nicht in Petersburg.
Die bairische Dynastie, und manche andere auch, mag den alten Bundesstaat
einem deutscheu Bundesstaat herzlich vorziehn, aber deutsche Staatsmänner, die
noch an ein deutsches Volk glauben, sollten sich nicht dazu hergeben, zum Besten
Schwarzcnbergs die kostbare Zeit zu verliere», bis das Wiener Cabinet mit seinem
wirklichen allerletzten Ultimatum herausrückt.
Ein Blick auf die erbärmliche» Zustände Deutschlands ist nicht geeignet, die
Hoffnung einzuflößen, daß die unverhüllte Restauration des Bundestags und des
iuicivn ii;<>imo aufzuhalten sein wird. Schwarzenberg's Wille wird geschehen.
Der ganze Gewinn unserer großen Völkererhebnng fällt Rußland in den Schooß.
Die Bilanz stellt bis jetzt folgende Resultate fest: Der latente Einfluß, den
Nußland seit 1792 auf das morsche Oestreich gehabt hat, verwandelt sich in einen
offenen, faktisch und rechtlich anerkannten; Ungarn wird den andern Provinzen
gleich gemacht, und verliert eine Selbstständigkeit, die ihm Jahrhunderte absoluter
Herrschaft nicht rauben konnten; Oestreich aber statt die Cultur nach Osten zu
verpflanzen, beginnt die Miasmen östlicher Barbarei nach Westen zu verbreiten.
Jetzt schon kann man Böhmen, Mähren und Schlesien „Halbrnssisches" nennen,
wie A. Buddeus Kur-Lief- und Esthland betitelt. Das Bischen embryonische Ver-
fassnngswesen wird grade so heilig gehalten, wie das feuille ol-Aimiquv in der
Moldau und Walachei. Die Militärherrschaft ist ein bequemer Vorwand, um an
die brutalste Verhöhnung vor - wie uachmärzlicher Gesetze zu gewöhnen; und zwar
wird mit dem Belagerungszustand nicht umsonst der größte Luxus getrieben. Am
gräßlichsten tritt die Nussificiruug Oestreichs im ungarischen Krieg hervor. Ich
sage nicht ohne Absicht „Krieg", denn da die Magyaren das formelle Recht je¬
denfalls auf ihrer Seite haben, so konnte zwar das Cabinet, für die materiellen
Interessen der Gesammtmonarchie, sie mit Krieg überziehe», aber als Hochverräter
und Rebellen durfte es sie nicht behandeln, ohne sich auf absolutistischen Boden zu
stellen. Die Magyaren haben bis auf diesen Augenblick an ihrer Constitution
festgehalten; sie haben weder in Wien noch in Kremsier den Reichstag beschickt,
uoch hat man sie dazu aufgefordert, folglich verstand sich ihr Recht auf die Bei¬
behaltung der ungarischen Verfassung von selbst, und es ist lächerlich, sie Rebellen
gegen die octroyirte Constitution zu nennen, welche sie kaum dem Namen nach
kennen noch jemals anerkannt haben.
Trotzdem hat man den, aus finanziellen Gründe» erklärbaren Krieg gegen sie
von Anfang an die Unterdrückung einer gottlosen Rebellion betitelt und seit der
Russe»Hilfe hat man diese Verkehrtheit bis zur letzten abscheulichsten Konsequenz
getrieben, indem man den Feldzug so führt, wie früher die Russen den gegen die
Polen führten. ,M»n ater", sagte neulich ein Stabsoffizier aus dem Preßburger
Lager, „der Tanz wird großartig. Die Rebellen werden vollständig ausgerottet,
denn daß die Russen keinen Polen und keinem Legionär, und daß die Serben
außerdem keinem Magyaren Quarttet geben, darauf können Sie sich verlassen." —
Und unsere Truppen? — „Werden dem Beispiel ihrer Alliirten folgen." — Es
sind leider keine leeren Worte. Die Ernennung Haynau's zum unumschränkten
Herrn über Tod und Leben in Ungarn ist Bürgschaft genug, daß diesem Feldzug
der Stempel des Vernichtungskrieges aufgeprägt werden soll. Haynan hat die
kurze Waffenruhe zu Preßburg gehörig benutzt und durch das Aufhängen von
Richtern, Predigern und Edelleuten die Magyaren zu Repressalien gezwungen, die
fortzeugend neue Greuel gebären müssen. Oestreich will in Ungarn nivelliren.
Fort mit dem hochmüthigen Ritterthum der Magyaren, dafür wird uns das ser¬
bisch-kroatisch-wallachische Element brüderlich näher rücken; und die „Gleichberech¬
tigung" verlangt, daß unsere Laudest'inter sich uicht über die Majorität in Ungarn
erheben, sondern die patriarchalischen Kopfabschneidersitten der allzeit getreuen Süd¬
slaven ehren lerne«. Sogar hier, in dem ursprünglich deutschen Wien, beginnen
sich Anschauungsweisen einzunisten, die nach serbisch-kroatischer Civilisation düster.
Lesen Sie unsere bestgesinnten Journale, „Geißel," „Courier," „Volksboden"
oder das „Fremdenblatt", welches ein ungerathener Bruder Heinrich Heine's re-
digirt. Wohlbestallte Spione sind seine Ehrenmitarbeiter; der Fremdenblättler
selbst ist immer guter Dinge und reißt miserable Witze, wo Andern die Haare zu
Berge stehen. Ein kaiserlicher Dorfrichter bei Oedenburg hat einen angeblichen
magyarischen Emissär die Zunge ausschneiden lassen. Das erbauliche Factum meldet
der Fremdenblättler mit der Bemerkung: „Wird ähnlichen Subjecten zur War¬
nung dienen." Der Mensch wird von den Militär- und Civilbehörden protegirt,
sein Blättchen wird von einer ehrsamen Bürgerschaft verschlungen, es fehlt in kei¬
nem Gast- und keinem Privathause. Es ist der Moniteur aller Scheußlichkeiten
und wie er sie mit stereotyp grinsendem Humor erzählt, so liest sie der größte Theil
des Publikums mit phlegmatischer Gleichgiltigkeit als eine matter ok course. —
Sind wir hier wirklich in Wien? Manchmal träumt mir, Stephansthurm, Donau
und Kahlenberg seien nur eine stehende Luftspiegelung oder Potcmkin'sche Decora-
tionen und ich wäre nach Bukarest oder Astrachan verschlagen, einige hundert
deutsche Meilen weit von der Grenze Deutschlands.
Eine geistig und körperlich großartig angelegte Natur, zu deren richtiger Be¬
urtheilung auch ein großer Maßstab gehört. Brück ist vom Wirbel bis zur Zehe
was Montesquieu nennt. ,,un domino ne nour los Aiuäes allitir.«"
Ein Schulmeister würde ihn in mancher Beziehung sehr unwissend finden,
denn er hat weder den Tacitus noch deu Xenophon gelesen, wie ihm überhaupt
jeder Anflug von sogenannter gelehrter Bildung fehlt; dagegen rühmen erfahrne
Geschäftsmänner die Tragweite seines Blickes, die Fülle seines praktischen Wissens,
die muthige Sicherheit seines Handelns, die Klarheit und Umsicht womit er die
schwierigsten Verhältnisse auffaßt und beherrscht.
Ich kauu ihn mir nicht in einem kleinen Wirkungskreise denken; auch würde
er bald die engen Schranken durchbrechen und Mittel finden, sich ein größeres
Feld der Thätigkeit zu eröffnen, denn Wenige verstehen wie er, das Gegebene
auszubeuten und die Menschen zu ihren Zwecken zu benutzen.
Er versteht besser zu befehlen als zu gehorchen, besser zu übersehen und an¬
zuordnen als auszuführen; er ist geschickter im Handeln als im Schreiben und
Sprechen. Als Militär würde er ein guter General sein und ein schlechter Lieut-
nant, als Publicist ein trefflicher Redacteur und ein schlechter Mitarbeiter, in den
Kammern ein ausgezeichneter Präsident und ein mittelmäßiger Redner.
Herr v. Brück, jetzt etwa in der Mitte der Fünfziger, ist ein Mann von
hohem Wuchs, regelmäßig geformten Gestchtszügen und scharfen, etwas stechenden
Augen. Das schon ergraute, schlicht anliegende Haar dient nur dazu die kräftige
Frische des Gesichts noch mehr hervorzuheben. Der großen, verständigen Stirn
sieht man's an, daß sie mehr berechnet als geträumt hat. Alles in Allem genom¬
men ist seine Erscheinung eine imposante, und der Verkehr mit ihm ein angeneh¬
mer und leichter.
In seinem Auftreten hält er die Mitte zwischen dem Aristokraten und dem
reichen Bourgeois. Er hat weder die fertigen Salonmanieren des Fürsten Felix
Schwarzenberg, den man sich nicht denken kann ohne lackirte Stiefel, elastische
Armbewegungen und tadellos sitzende Handschuhe auf den sein zugespitzten Fingern,
— noch die steifleinene Philisterhaltung seines Berliner Kollegen v. d. Heydt,
dessen stolzes Gcldbewußtsein durch die vollen Wangen und Hände leuchtet, und
zu dessen Gesicht der steife Hemdkragen, welcher es einklemmt, nothwendig gehört.
Seine Bewegungen sind einfach und natürlich.
Brück war in seiner Jugend Militär und brachte es, glaube ich, bis zum
Lieutnant in preußischen Diensten. Der Gamaschendienst sagte ihm jedoch nicht
zu; er entschlüpfte dem schimmernden Epaulettenjoche, und mit sehr geringen Hilfs¬
mitteln kam er nach Trieft, um sich dort eine Zukunft zu gründen.
Er trat in ein Geschäft ein und wußte sich mit Vortheil bei überseeischen
Unternehmungen zu betheilia.er.
Durch das Leben in großen Seestädten, wo alle Völker der Erde zu Gaste
kommen, wo jede Welle die aus Ufer schlägt, Kunde von fremden Landen bringt,
wird der Blick erweitert und der Wissensdrang mächtig angeregt, weil die Mittel
ihn zu befriedigen so nahe liegen.
Bei Herrn v. Brück's rastlosem Fleiße, seiner Wißbegierde und Ausdauer,
mußte Trieft für ihn zu einer Schule der Menschenkenntniß, vielseitiger Erfahrung
und nützlichen Wissens werden. Auch wurde durch seinen Aufenthalt in der an-
muthig gelegenen Mecrcsstadt seine ganze spätere Lebensrichtung und Thätigkeit
bestimmt.
Der lebhafte Verkehr mit den vielen Gelehrten, welche in dem letzten Vier-
teljahrhundert das alte Tergeftc zum Ausgangspunkte ihrer orientalischen Reisen
machten, erregte zuerst in Herrn v. Bruck den Wunsch, zwischen Griechenland, dem
Archipel, der Türkn, Kleinasien, Egvpte» u. s. w. leichtere und sichere Commu-
uikationSmiitel herzustellen. Dem Wunsche folgte der Plan, und dem Plane die
Ausführung auf dem Fuße. Es hielt nicht schwer, vermögende Theilnehmer für
ein Unternehmen zu gewinnen, das so große Wahrscheinlichkeit auf Erfolg bot,
und so wurde Brück der Gründer und Leiter des östreichischen Lloyd, jener mäch¬
tigen Schiffahrtsgesellschaft, welche durch ihre großartigen Verbindungen, durch
ihre treffliche Organisation und die Tausende von Leuten, die sie beschäftigt, jetzt
förmlich einen eigenen Staat im Staate bildet. Die Zahl seiner Offiziere und
seiner schnellsegelnden Dampfer ist größer als die der ganzen östreichischen Kriegs¬
marine zusammengenommen und seine Schisse bieten nicht allein die billigsten und
schnellsten Communicationsmittel zwischen allen Häfen Griechenlands und der Le¬
vante, sondern laufen seit Kurzem auch durch die Delphinenreiche Propontiö und
die wellenumrauschten Felsenthore der Symphlegaden bis zu Trebisonda, der alten
Komnenenstadt, und noch weiter hinab bis zu Reboul-Kate, wo der Phasis seine
Silberwellen durch die Amaranthenwälder von Kolchis rollt.
Einen wesentlichen Dienst erwies Herr v. Brück der Wissenschaft noch dadurch,
daß er vielen Gelehrten auf den Schiffen des Lloyd umsonst die Ueberfahrt nach
Griechenland und der Levante verschaffte, und mit großen Opfern ein namhaftes Jour¬
nal gründete, welches nach und nach zu dem reichhaltigsten Archiv der Statistik,
Länder-- und Völkerkunde des Orients wurde, bis es in neuerer Zeit eine wesent-
lich politische Färbung erhielt und mit der traurigen Wendung der Dinge in Oest¬
reich, ebenfalls eine traurige Wendung nahm. Hieran trägt Brück keine Schuld,
da das Journal, während er als östreichischer Bevollmächtigter bei der Central-
gewalt in Frankfurt weilte, durch eine Intrigue in andere Hände überging, waS
Niemand mehr bedauerte als er selbst. Das ebenfalls von ihm gegründete, in
italienischer Sprache erscheinende Lia-linke lien^I»)«! -mstli-deo besteht noch fort; das
Blatt fristet aber ebenfalls, seit ihm des Gründers belebender Einfluß fehlt, sein
Dasein nur kümmerlich. Dagegen hat er jetzt in Wien ein neues uationalöko-
nomisches Blatt, die Austria, ins Leben gerufen.
Es konnte nicht ausbleiben, daß Herr v. Brück, welcher schon seit langen
Jahren ans die Bewohner von Trieft einen leitenden Einfluß ausübte, auch nach
der Märzrevolution eine hervorragende Rolle spielte. Seine Stellung war damals
eine äußerst schwierige. Die sonst so friedliche Bevölkerung von Triest war in vier
einander feindlich gegenüberstehende Parteien gespalten, in eine slavische, eine
italienische, eine reindeutsche und eine reinöstreichische Partei. Jede dieser Par¬
teien wollte ihre Svuderinteressen zur Geltung bringen, und jede wollte Herrn
v. Brück zum Vertreter dieser Interessen haben. Brück mochte also wählen wie er
wollte: durch die Freundschaft der einen zog er immer die Feindschaft der drei
anderen auf sich.
Die Slaven glaubten ein Anrecht ans ihn zu haben, da die Bevölkerung von
Trieft der Mehrzahl nach slavischer Abkunft ist; die Italiener — weil in Triest
ihre Sprache die vorherrschende ist; die Deutschen — weil Brück seiner Herkunft
nach ein Deutscher ist; und die specifischen Oestreichs — weil Oestreich sein zweites,
Vaterland geworden.
Zu der italienischen Partei, welche alle übrigen gegen sich hatte, kam auch
Brück durch einen Vorfall, der ihm beinahe das Leben gekostet hätte, in eine ent¬
schieden feindliche Stellung. Der siegreiche Aufstand der Lombardei, das fabel¬
hafte Verschwinden der Oestreichs ans Venedig, der Rückzug Radetzky's und die
feige Flucht Palffy's und ZlchY'S ans der Lagunenstadt hatten auch in den Trichi¬
nen, italienischen Blutes nationale Gelüste und Hoffnungen rege gemacht, deren
erste Aeußerungen darin bestanden, daß sie die öffentlichen Gebände und Kaffeehäuser
der Stadt mit den Namen der Koryphäen der lvmbardo-venetianischen Revolution
schmückten, italienische Freihcitslieder und Spottlieder ans die deutschen sangen,
die italienischen Farben aufsteckten und die deutschen Farben verunglimpften, und
was dergleichen liebenswürdige Unarten mehr waren. ,
Die Sache hatte übrigens einen ernsthaften Anstrich. Man sprach offen von
einem Anschluß an die verjüngte Republik Venedig, ein Plan, der damals, wo
das ganze Kaiserreich aus seinen Fugen gegangen war, leicht auszuführen gewesen
wäre, wenn sich die übrige Bevölkerung von Triest nicht entschieden dagegen auf¬
gelehnt hätte.
Brück, auf den die Italiener am meisten gerechnet hatten, machte gleich An¬
fangs gegen ihre Abscheiduugsgeluste auf das Ernstlichste Opposition und ließ sich
von seinem Eifer so weit hinreißen, daß er, ich weiß nicht, bei welcher Gelegen¬
heit, vor einer großen Volksmenge ein mit dem Namen eines italienischen Nevo-
lutioushelden geziertes, frisch aufgehängtes Schild von der Thür eines Kaffeehauses
herunterschlug.
Die Leute fielen wie rasend über thu her; er entkam nur mit genauer Noth
und mußte sich eine Zeit lang verborgen halten, da man ihm förmlich uach dem
Leben trachtete. Trotzdem wurde er bei den bald darauf stattfindenden Frankfurter
Wahlen zum Deputirten für die deutsche Nationalversammlung gewählt.
Wie er dort Anfangs als Vorstand des Marineausschusses und später bei der
Centralgewalt thätig war, ist hier nicht der Ort weiter auszuführen.
Ich besuchte ihn in Frankfurt kurze Zeit nach Eröffnung des Parlaments.
Er war entzückt über das ungewohnte Leben und Treiben um ihn her, und sprach
mit unbefangener Anerkennung von den Rednern der Rechten wie der Linken.
„Welch eine Welt vou Intelligenz — sagte er — schließt diese Paulskirche
in sich ein! Ich möchte unsere Triestiner Bürger auf ein paar Wochen herein-
sctzen in diese frische Bewegung; sie würden mit ganz neuen Anschauungen und
geheilt von manchem Vorurtheil zurückkehren an die Adria.
„Aber wie die SaGen stehen, habe ich einen schweren Stand; denn folge ich
meinen Gefühlen, so komme ich in den bedenklichsten Conflict mit meinem Man¬
dat und meinen Wählern — und folge ich den Willen dieser, so komme ick in
Conflict mit dem Geiste, der die Nationalversammlung ins Leben gerufen hat."
-- Was wollen denn die Triestiner? —
„Sie wollen am Ende nichts anderes, als was alle Andern auch wollen:
ihren Vortheil! Und damit bin ich vollkommen einverstanden; der Meinungsun-
terschied besteht mir in der Feststellung des Begriffs. Die Triestiner sehen ihren
Vortheil vor Allem in der Aufrechterhaltung all ihrer alten Privilegien und Frei¬
heiten ; sie wollen nicht begreife», daß die Freiheit alle Freiheiten entbehrlich und
alle Privilegien unmöglich machte. Von gleich beschränkter Auffassung sind die
meisten unserer Industriellen und Fabrikanten im Kaiserstaat, die in dem Fallen
der Zollschranken auch das Fallen ihres Wohlstandes, eine bedrohliche Erschütte¬
rung der Fabriken, des Handels und der Gewerbe sehen würden. Sie begreifen
nicht, daß jede Uebergangsperiode Opfer erheischt, oder sie schlagen wenigstens
diese leicht zu berechnende« Opfer höher an, als die unzuberechnenden Vortheile,
welche ihnen in Zukunft daraus erwachsen würden. Im Princip sind die Leute
entschieden im Unrecht; in der Praxis aber kann man nicht umhin, den faktischen
Zuständen, selbst wenn sie aus Irrthümern beruhen, gebührende Rechnung zu
tragen."
Wir sprachen über die Mittel und Wege, wie eine staatliche Einigung Oest¬
reichs mit Delilsmland anzubahnen sei. Mir wurde schon damals klar, daß es
bei den einflußreichern östreichischen Abgeordneten nicht Maugel an Sachkenntniß,
sondern die Furcht war undeutscher Gesinnungen, partiknlaristischer Gelüste ze. ge¬
ziehen zu werden, was sie abhielt gleich von vorneherein mit der Sprache offen
herauszutreten und die Unmöglichkeit einer staatlichen Einigung des Gesammtstaats
Oestreich mit Deutschland nachzuweisen.
Nach der Oktoberrevolution traf ich H. v. Bruck in Wien als Minister.
Offen gestanden, es that mir leid, daß er Minister geworden; ich hätte ihn gern
für eine bessere Zeit aufgespart gesehen. Trägt er auch keine Schuld an der per¬
fiden Politik des jetzigen Cabinets, so wird er doch die Verantwortung dafür mit
übernehmen müssen.
Ich will hier nicht näher untersuchen, welche Motive ihn bewogen, den ge¬
fährlichen Posten anzunehmen; gewiß ist, daß die Opfer, welche er dabei brachte,
größer waren als der Vortheil, der ihm daraus entspringen wird.
Von einer durchgreifenden Wirksamkeit konnte bei ihm so wenig wie bei den
andern Ministern, bis zur Auflösung des Reichstags von Kremsier, die Rede sein.
Der Kaiser war in Olmütz, der Reichstag in Krenisier, und die Bureaux der
Minister in Wien, so daß die fortwährenden Rundreise» nach den genannten drei
Plätzen, den Herren wenig Zeit zu wichtigen Geschäften übrig ließen. Der Natio¬
nal hatte Recht, das neue Ministerium „»» Olbmot in»but>>»t" zu nennen. Es
verging fast kein Tag, wo nicht der eine oder der andere der Herren zu einer
Besprechung an's Hoflager von Olmütz berufen wurde.
Gleich in den ersten Monaten äußerten sich bedenkliche Meinungsverschieden¬
heiten unter den Mitgliedern des neuen Cabinets, in welchem Brück das frei¬
sinnigste, oder recht zu sage» das einzige freisinnige Element bildete. Er hatte
zu viel Menschenkenntnis) oder praktischen Verstand, um nicht vou vorneherein die
blasirte Beschränktheit Schwarzenbergs und die ehrgeizigen Pläne Bachs, dieses
„politischen Eichhörnchens" zu durchschauen und machte immer entschieden Opposi¬
tion gegen die von Petersburg aus diktirte Politik des vlmützer Cabinets. Es
ist nicht ohne tiefer liegende Gründe, daß man ihn fortwährend von seinem Po¬
sten fernzuhalten und mit diplomatischen Missionen zu beschäftigen sucht, die mit
der Stellung eines Ministers des Handels und der öffentlichen Arbeiten wenig
gemein haben!
Bruck ist seiner ganzen Richtung nach Handelsherr und in seiner Seele stehn
die internationalen Verkehrsverhältnisse der Völker im Vordergrund. Deshalb
legt er dem ganzen Constitutionalismus nach französischem Zuschnitt nur eine unter-
geordnete Bedeutung bei und würde es jedenfalls als einen größeren Gewinn an¬
sehen , wenn er es dahin bringen könnte, die Zollschranken zwischen Oestreich und
Deutschland niederzureißen, als wenn eS ihm gelänge, beiden Ländern die frei¬
sinnigste Konstitution zu verschaffen,
„Der Kern alles Uebels — sagte er einmal — liegt in der staatlichen Be¬
vormundung der gewerbtreibenden Klassen und das Wunderliche von der Sache
ist, daß gerade diejenigen, welche am meisten darunter leiden, das größte Ge¬
wicht darauf legen, die Bevormundung aufrecht zu erhalten. Sobald das Volk
einmal zum klaren Bewußtsein seiner eigenen Interessen gekommen ist, werden die
Schranken, innerhalb deren es sich jetzt unbeholfen bewegt, von sell'se fallen und
mit ihnen die dynastischen Interessen. Für die ganze ti-into noliüque gebe ich
keinen Heller, denn ihre Erfolge können in unserer Zeit nicht von Dauer sein.
Ich beneide Frankreich so wenig um seine afrikanischen, wie England um seine
ostindischen Besitzungen; bis jetzt haben beide Länder noch keinen Vortheil daraus
gezogen und ich glaube nicht, daß sie je Vortheil daraus ziehen werden. Wo
die Interessen der Dynastie mit den Interessen des Volks nicht identisch sind, ist
keine dauernde Eroberung möglich."
Daß Brück mit solchen Ansichten im Ministerrathe keinen Anklang findet,
brauche ich wohl kaum zu bemerken. Bei der Unmöglichkeit, mit seiner Stimme
durchzudringen, beschränkt er sich darauf in seinem speciellen Wirkungskreise nach
Kräften zu nützen; zu bedauern ist auch hierbei, daß ihm seine diplomatischen
Rundreisen in Italien so wenig Zeit dazu lassen.
Wie wenig er sich über die Schwierigkeiten seiner Stellung täuscht, mag
ein zweites treffendes Wort beweisen, das er einst aussprach, als ich ihn ans
einige gegen ihn gerichtete Jourualangriffe aufmerksam machte.
„Die Leute — sagte er — welche glauben, daß sie schon in den ersten Wo¬
chen Ersprießliches von meiner Wirksamkeit sehen werden, sind gewaltig i>u Irr¬
thum. Ich weiß sehr wohl, wo es faul ist im Kaiserstaat: die Fäulniß steckt
überall! Die vorgebrachten Klagen über die schlechte Postverwaltung sind leider
sehr begründet, aber vor 3 Monaten ist da an keine gründliche Besserung zu
denken; wollte ich dem Uebel auf einmal abhelfen, so müßte ich die ganze alte
Beamtenwelt zum Teufel jagen und solche Radikalmittel sind doch etwas gefähr¬
lich. Unsere Beamten sind gute Leute und schlechte Musikanten; übrigens ist es
begreiflich, wenn auch nicht zu entschuldigen, daß sie bis jetzt keinen übergroßen
Eifer gezeigt haben, ihre Besoldung war eben so schlecht, als ihre Leistungen.
Das Eine wie das Andere muß und wird besser werden!"
Bemerken muß ich hier, daß Brück vor der öffentlichen Meinung weit
mehr Respekt hat, als seine Collegen. Findet er in der Presse irgend einen Ar¬
tikel, worin ihm begründete Vorwürfe gemacht werden, so versäumt er es niemals,
ausführlich darauf zu antworten.
Ich schließe hier diese Skizze mit dem Bedauern, daß es mir nicht vergönnt
ist, ein vollständiges Bild daraus zu machen. Aber mit der Schilderung noch
lebender Personen muß man vorsichtig zu Werke gehen, wenn diese Personen in
einem Lande allerhöchster Verfinsterung leben.
Derschawin, der russische Dichter, hat Recht, wenn er sagt: „Erst durch den
Tod hervorragender Männer gewinnt man das traurige Recht, frei von ihnen zu
sprechen. Auf der einen Seite wird böse Gesinnung die Kritik uicht der Schmei¬
chelei beschuldige»; auf der andern Seite wird die Furcht die gereizte Eigenliebe
zu beleidigen, den Todten nicht des verdienten Lobes berauben."
Sie wünschen eine Schilderung der vorzüglichsten Vertreter der czechischeu Li¬
teratur? Soweit mein Blick in das Exclusive des czechischeu LiteratenthnmS ein¬
zudringen vermochte, will ich Ihrem Auftrage folgen. Meine Aufgabe müßte eigent¬
lich in zwei Theile zerfallen, denn vou Rechtswegen wäre jeder der czechischeu Ge¬
lehrten von zwei Standpunkten zu beleuchten, vom vormärzlichen und vom nach-
märzlichen. Wohl Jeder von ihnen hat sich seit der Epoche des März bedeutend
verändert. Aus mancher unscheinbaren Raupe hat sich ein bunter Schmetterling
entfaltet. Sogar in Tracht und Haltung. Denn die Wiedereinführung nationaler
Kostüme hat nicht blos die czechische Jugend begeistert. Mancher alte knasterbär¬
tige Gelehrte, welcher ehedem eine wahre Carrikatur des bessern Geschmacks wie ein
Dorfschulmeister oder Nachtwächter gekleidet durch die Straßen Prags trottete, erhob
seinen Nacken nach dem März gar gewaltig, setzte eine zobclverbrämte Mütze, wie
sie Przemysl und Libussa getragen, auf das cyliuderhutgewöhute Haupt, schmückte
mit Pfauenfeder» stolz den Scheitel und schlug den Purpurmantel prunkend um
die Hüften. Und erst die literarische Richtung und die politische Farbe! — wie
so sehr sind die bei den Meisten anders geworden! — Vorerst mag die alte Garde
der czechischen Literatur an uns vorbei defiliren. Ihre Reihen haben sich in den
letzten Jahren stark gelichtet. Viele der Besseren und Besten sind zu Grabe ge¬
gangen, wie der literarische Nestor Sebastian Huewkowsch'), der treffliche Dra¬
mendichter Machaczek^) Professor Prest, Chmela, Kinsky, die beiden Nejcdly
und Jung manu, dieser unvergeßliche Genius, der allein mehr geschaffen, als
manch eine Akademie!
Wenn Sie jemals die alte hundertthürmige Königsstadt an der Moldau besucht
haben, waren Sie gewiß auch im Nationalmuseum und erinnern sich gern des liebens¬
würdigen Empfangs von Seiten des Bibliothekars Wenccslaus Hanka, Ritter
u. s. w. Wenn Sie ihn vor dein März gesehen, im unscheinbaren grünen Oberrock
— indessen einem Knopfloch aber stets zwei Ordenskreuze hingen — in den kur¬
zen schwarzen Unaussprechlichen ohne Stegen, in dicken grauen Filzschuhen am
Arbeitspult stehend, wie er die mächtige Adlerseder in der von Brillant- und Nnbin-
riugeu strotzenden Hand mit kolossalen Schriftzügen irgend einen kyrillischen Text
znsammenstanchte, würden Sie ihn im April, Mai und den folgenden Monaten
des verflossenen Jahres schwerlich wieder erkannt haben, wenn Ihnen das volle,
geröthete, behäbige, etwas pockennarbige Gesicht, die gutmüthige» Auge», die runde
branne Atzel und die hohe embvnpvintirte Gestalt nicht zu fest im Gedächtniß
geblieben wäre. An der Spitze eines Zuges Swornost — blutdürstigen und ver¬
rufenen Andenkens — sah mau deu würdige» Gelehrten in der vollen, schon ver¬
schnürten Uniform eines wohlbestallten Capitains einherschreiten, die graue Ko-
sackenmütze mit der langen rothen Troddel auf dem Haupt, den blanken Säbel
in der Rechten, den er jedoch genau mit denselben stereotypen Gebärden und Hand¬
griffen zu schwingen liebte, wie sonst die lange Schreibfeder ans dem Fittig des
Steinadlers daheim im Museumsbnreau. Hanka, unstreitig eine der ersten Cele-
britäten in der slavischen Gelehrtenwelt, verdankt seinen Ruhm und seine Tüchtig¬
keit sich selbst, er ist ein einen„ jsior «v t'-latus.
Eines Bauern Sohn zu Horenivwes am 10. Juni 1791 geboren, blieb er
bis zu seinem 16. Jahre beinahe ohne alle Schulbildung. Erst nach zurückgeleg¬
tem 1ö. Jahre kam er — ohne ein Wort Deutsch zu können — an das König-
grätzer Gymnasium. Sein ungewöhnlich reger Geist und sein Fleiß brachten es
in kurzer Zeit dahin, daß er noch als Student ein treuer und geschätzter Mit¬
arbeiter Dobrowsky's wurde und als solcher durch zwei Jahre an der Prager
Universität die czechische Sprache donirte (1817): Neben dem Grafen Kolowrat
und Sternberg und den Professoren Jungmann, Jandera und Prest war es vor¬
züglich Hanka, welcher das Nationalmuseum zu Prag in's Leben rufen und ein¬
richten half. Er ward auch gleich nach der Constituirung dieses Instituts zum
ersten Bibliothekar und Archivar an demselben bestellt. Die Aufsindung der soge¬
nannten Königinhofcr Handschrift, (liulconis IvritloclvoisK^) welche Jahrhunderte
lang in einem Thurmgewvlbe der Pfarrkirche zu Königinhos unter alten rostigen
Pfeilen und Lanzenbündeln ungekannt und ungeachtet gelegen hatte und die Her¬
ausgabe und Jntcrpretirung dieses größten Schatzes der alten lyrischen und ro¬
mantischen Poesie der Böhmen, verschaffte Hanka bald einen europäischen Ruf.
Die Königinhvser Handschrift hat nun wohl schon unter Hauka's Leitung ihre
zwölfte Auflage erlebt und ist in's Deutsche/) Englische, Französische, Russische,
Polnische, Kroatische, serbische und Wendische übersetzt worden. Hanka hat sich
große Verdienste um das Institut, welchem er mit aufopfernder Thätigkeit vor¬
steht, erworben, größere noch um die Literatur der Czechen, in welcher er als Phi¬
lolog, Archäolog und Historiker bedeutend dasteht. Hauka's Schriften werden bei
den übrigen Slaven sehr hoch geschätzt, namentlich bei den Polen und Russen.
Die Brust des Bauernsvhncs zieren jetzt zwei Orden, er ist Mitglied von
mehr als dreißig gelehrten Gesellschaften, ja der Kaiser von Rußland ließ eine
Medaille mit Hanka's Portrait zu seinen Ehren schlagen. Warum soll er sich nicht
darüber freuen? — Hanka ist bei einer und der andern barocken Eigenheit ein
dnrch und durch edler, gediegener Charakter, und trotz der russischen Ehrenzeichen
schlägt in ihm ein echt vvlksfrenndliches Herz. Von außen ein aristokratischer Ge¬
lehrter, in seinem Herzen ein Demokrat vom reinsten Wasser, ist er doch bei all
seiner großen Gelehrsamkeit nichts weniger, als eine politische Kapacität. Seine
Thätigkeit als Präsident der «I»vim«Jia im-is, war eine rein cercmonielle, er war
ein bloßer Name, nie aber ein wirklicher Factor der Agitation. H. hielt sich
nicht aus kluger Vorsicht so passiv, soudern aus solcher Selbstkenntniß, weil er
wohl einsah, daß seine politische Bildung weit hinter seinen redlichen Willen
und seiner übrigen Gelehrsamkeit nachhinke; aus eben diesem Grunde hat er auch
den Posten eines Deputirten zum ersten östreichischen Reichstage, welcher ihm von
drei oder vier Wahlbezirken angetragen worden war, entschieden abgelehnt. Hät¬
ten dies «un auch manche Andere eben so ehrlich gethan! — AIS Gelehrter ist
Hanka ein fleißiger Sammler, seine Kenntniß der Details ist sehr umfangreich, seine
Seele vertieft sich g->r» und mit Vorliebe in das Einzelne; große Gesichtspunkte
zu finden, die Masse des Stoffs bewältigen, um den Geist herauszuziehen, ist
seine Sache nicht. In seinen Combinationen einzelner Fakta und Notizen ist er
eben so ängstlich, als er in der Auffindung des Einzelnen sicher und gründlich
ist. Die schöpferische Kraft, welche der große Historiker so gut haben muß, als
der Künstler und der Staatsmann, fehlt ihm. Demungeachtet ist er grade für
die czechische Literatur, welcher Gründlichkeit und Unparteilichkeit noch sehr Noth
thut, ein wahrer Schatz. Hanka's zahlreiche Originalschristen und seine noch viel
zahlreichern Editionen alter Litcraturmvnnmente, vpei-it ziostKuma und Fortsetzun¬
gen neuerer gelehrter Werke möchten wohl eine kleine Bibliothek füllen. Der
Vollständigkeit wegen erwähnen wir, daß Hanka auch Gedichte geschrieben hat *). Seine
Lieder erschienen wohl in fünf eleganten Auflagen und sind in einige slavische
Sprachen und durch John Bowring auch in's Englische übersetzt. Es weht in
denselben ein frischer, volksthümlicher Geist, doch sind sie zu ungefüge und ent¬
behren jeden höhern Schwunges. Poesie ist Hanka'S Achillesverse.
In der zweiten Bibliothek Prags im Clcmeutino finden Sie einen audern
Koryphäe» der böhmischen Literatur l),'. Paul Safarik, gegenwärtig ohne Frage
den Stern erster Größe am slavischen Gelehrtenhimmel. Seine äußere Erscheinung
ist einfach zwar, aber imponirend. Eine schlichte, »»gesuchte Toilette, durchweg
in dunkeln Farben bis ans die weiße Halsbinde, nichts Auffälliges daran, als etwa
der schwarze, breitkrämpige Filzhut. Der Kopf gleicht den antiken Büste», welche
den Namen Cato's von nella führen, von ernster, strenger, ächt römischer Schön¬
heit; schlichtes schwarzes Haar und markirte Züge.
Safarik kam am in. Mai 1795 zu Kobelarow in Oberungarn zur Welt,
wo sein Vater slovakischer Prediger war. Im Jahre 1815 hatte er bereits das
gesammte Studium der Theologie und Jurisprudenz an den heimischen Lehran¬
stalten vollendet und ging nach Jena, um daselbst uoch einige philosophische und
theologische Kollegien zu hören. Heinigekehrt warf er sich mit aller Kraft seines
Niesengeistcs aus da« Se»dium der slavischen Philologie und Archäologie, in wel¬
chen beiden Fächer» Safarik die bedeutendsten Männer aller Schwesternationen --
den berühmten Dobrowsky nicht ausgenommen — weit hinter sich zurückgelassen
hat. Der Beginn seiner literarischen Thätigkeit schreibt sich eigentlich von, Jahre
1818; damals trat er als Reformator der czcchische» Prosodie auf. Von 1820
bis I8:n war Safarik Professor, eine Zeit auch Director des serbischen Gymna¬
sium zu Neusatz, in einer Stadt, welche sich wie wenige andere zum Wohnsitze
eiues slavische» Sprach- und Alterthumsforschers eignet. Die Umgebung ist reich
an archäologischen Schätzen und in der Nähe leben drei slavische Hauptmundarten
mit mehren Dialekten! die serbisch-kroatische, die czecho-slowakische und die bul¬
garische! — Im Jahr 183!! gab Safarik sein Lehramt ans; es zog ihn nach der
Metropole der czechvslvvakis.hen Bewegung, nach Prag. Hier redigirte er durch
mehre Jahre das gediegene Organ des Nationalmuseums (^so^s coskcili» in».
so»»,), erhielt dann die Stelle eines außerordentlichen Kustos an der k. Umver-
sitätsbibliothek, und im vorigen Jahre das Oberbiblivthekariat. Bis 1847 war
Safarik durch einige Jahre Censor gewesen und ward als solcher — was unendlich
viel sagen will — hochgeschätzt, wie sonst keiner seiner rothstiftbewaffneten Collegen.
Daß ein Mann wie Safarik dies Amt übernahm, pries man allgemein als eine
ehrenhafte und edle Aufopferung. Safarik hat als Censor viel gethan für die
freiere Entwicklung der czechischen Presse, welche eine vor dem März im absolutistischen
Oestreich noch gar nicht da gewesene frische und freie Sprache führte. Und da¬
mals brauchte es eines Mannes von solchem Ansehn, von solchem Takt, voll
Wahrheitsliebe und hochherziger Resignation um die Masse mißliebiger Artikel,
welche besonders die I'i.^sKv »»vin«; und die Vcelci brachten, durchzulassen und
sie mit fester Stirn einem Sedlnitzkh gegenüber zu vertheidigen. Safariks politi¬
sches Wirken nach den Umwälzungen des vorigen März beschränkte sich auf seine
Thätigkeit als Mitglied des vvrberatheuden Ausschusses beim Slavencongreß, und
beim Kongreß selbst auf seine wackere Haltung als Präsident der böhmischen Zunge
(der Section für Böhmen, Mähren, Schlesien und die Slovakei). Als solcher
hielt er bei der großen öffentlichen Sitzung im Sophiensaale eine vorzügliche,
energische Rede (böhmisch), über welche eben jetzt die „Wiener Boten" eben so
unrichtig als parteiisch referirten. Für den constituirenden Reichstag war Safarik
von mehr als einem Wahlbezirk zum Deputaten gewählt worden, lehnte jedoch
die Abgeordnetenstelle entschieden ab. — Die Schriften Safarik's erfreuen sich
mit Recht eines europäischen Rufs, die bekanntesten davon sind seine slavischen
Alterthümer (8Ioviui«I<o «tiur7.it»o8ti) seine „Geschichte der slavischen Sprache
und Literatur," — die „serbischen Lesekörner," — „die ältesten Denkmale der
böhmischen Sprache," — und das Buch der slovakischen Volkslieder (?i8»<;
kuku »too-msliollovv HI>»^cIi). Weniger bekannt dürfte Ihnen sein, daß aus Sa¬
farik's Feder eine meisterliche, czechische Uebersetzung von Schillers Marie Stuart
gedruckt vorliegt (Prag bei K. Gerzabek I8ÜI. VIII. 222 Seiten). Safarik besitzt,
der Einzige unter Oestreichs Gelehrten, den preußischen Orden pmir les merites,
doch Niemand sah ihn bis zur Stunde irgendwo mit der Dekoration desselben er¬
scheinen. Im Umgange ist Safarik der liebenswürdigste, anspruchloseste Manu,
Jedem freundlich entgegen kommend, jünger» Schriftstellern ein väterlicher Freund
und Rather, ohne irgend einen Anstrich vornehmer Herablassung.
Safarik's Schriften charakteristrt außer der großen Masse seines Wissens, die
Tiefe des Gedankens, die Energie und Schärfe des Ausdrucks. Er ist ohne Frage
der gelehrteste, gründlichste und geistvollste Slavist der Jetztzeit.
Palacky kennen Sie wohl aus deu Reichstagssälen von Wien und Kremsier
persönlich. Wenn nicht, werden Sie ihm wohl manchmal in Prag begegnet sein,
wenn er Mittags, ein dickes Schriftenfaszikel unter dem Arm ans dem Landesar¬
chiv von der Kleinscite über die Moldaubrücke nach der Altstadt wanderte. Sein
markirtes Aeußere muß Ihnen ausgefallen sein. Die mittelgroße Statur, der
ausdrucksvolle, etwas vorgebeugte Kopf mit der hohen Stiru und dem kalten Ge¬
sicht, fahl wie die Pergamente, in denen er zu lesen Pflegt, die grauen stechenden
Augen, bewaffnet durch eine Brille mit Schildkrot, spärliche und schlichte flachs-
farbne Haare und die Anfänge eines bureaukratischen Backenbäctlcins.
Franz Palacky, der böhmische Historiograph ist der Sohn eines armen kalvi-
nischen Schulmeisters zu Hodslavic in Mähren, wo er am 14. Juni 1798 das
Licht der Welt erblickt hat. Seine Studien machte derselbe zu Preßburg und
Wien. Als absvlvirter Jurist bekleidete Palacky längere Zeit eine Hofmeistcrstelle
bei einer hochadeligen Familie in Ungarn. Im Jahre 1823 übersiedelte er nach
Prag und warf sich uuter der Ägide der beiden gefeierten böhmischen Mäcenaten
der edlen Grafen Fra iz und Caspar von Sternberg auf das seit Dobner, Pnbiczka
und Pelzel ziemlich brach gebliebene Feld der böhmischen Geschichtsforschung. Die
großen Bücher- und Urkundenschätze in den Bibliotheken und Archiven Wiens und
Prags und die zahlreichen und bedeutenden Sammlungen auf den Schlössern des
böhmischen hohe» Adels, besonders die der Schwarzenberge zu Wittiugau boten über¬
reiches Material. P. übernahm die Leitung der neugegründeten Zeitschrift des böh¬
mischen Museums, seine historischen Aufsätze waren man und interessant. Aufsehn
machte Palacky's von der k. böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften gekrönte
Preisschrift „Würdigung der alten böhmischen Geschichtschreiber." Der Erfolg die¬
ses Buchs trug nicht wenig dazu bei, daß Palacky die reich dotirte Stelle eines
„Historiographen der Stände des Königreichs Böhmen" erhielt. Nun machte sich
Palacky ernstlich an die Ausarbeitung einer Geschichte Böhmens wozu ihm eine
Masse noch unbenützter wichtiger Urkunden vorlag. Nach mehreren gelehrten Rei¬
se», durch Deutschland und Italien übergab er 1836 den ersten Band seiner böh¬
mischen Geschichte der Oeffentlichkeit. Zu gleicher Zeit begann er die Herausgabe
eines böhmischen Diplomatoriums unter dem Titel ,,^rei>lo c«z«K^", eine unschätz¬
bare Quellenschrift für den Geschichtschreiber, und in der Mehrzahl der mitgetheilten
Briefe und Dokumente wichtig für den Sprachforscher wie für den Juristen.
Palacky's böhmische Geschichte, welche er, um auch das Ausland mit Böh¬
mens thatenrcicher Vergangenheit bekannt zu machen, in deutscher Sprache ver¬
faßte , ist bis zum sechste» Theil gediehen. Die bis jetzt erschienenen fünf Theile
reichen bis zum Tode Wenzel IV., zu deu Anfängen des Hussitenkriegs. Die Ge¬
schichte und Ehrenrettung des großen Przemysl Otokar und die Zeit der Könige
Karl und Wenzel IV. siud unstreitig die Glanzpunkte seines Werks, das ans viel
reichere und solidere Vorstudien basirt als alle Vorangegangenen, und in der
Reichhaltigkeit der Mittheilungen, Strenge der Kritik und edler Treue der Dar¬
stellungsweise seines Gleichen sucht. Die Haltung des Ganzen ist so streng na¬
tional und aristokratisch als möglich. In dem zu ängstlichen Festhalten an Urkunden
und dem Mißtrauen zu ganz wackern alten Chroniken geht Palacky offenbar zu
weit. Die Plastik und Lebhaftigkeit der Schilderung läßt doch Einiges zu our-
scheu übrig, auch ist den kulturhistorischen Momenten zu wenig Raum und Beach¬
tung gewidmet worden. Auf den Wunsch der Böhmen begann Palacky in der
neuesten Zeit seine Geschichte viel weitläufiger in czechischcr Sprache umzuschreiben.
Von Palacky's übrigen historischen Schriften ernähren wir seine „literarische Reise,"
die synchronistische Uebersicht der wichtigsten Männer und höchsten Würdenträger im
Königreiche Böhmen, dann seine Würdigung Dobrowsky's und seine Abhandlung
über die Formalbücher, eine wichtige, noch wenig beachtete Spezies historischer
Hilfsquellen. Palacky erfreut sich unter den Seinen eines großen Ansehns; wenn
anch die Sympathien für ihn seit dem Juni 1848 und seit seinem Wirken im
Reichstag in manchen patriotischen Kreisen erkaltet sind, ja sogar ein Theil der
czechischen Jngend zu seinen entschiedenen Antagonisten gehört, so hat er dennoch
des Landes größere Hälfte noch immer hinter sich. Vor dem März scheint Palacky
mit an der Spitze der czechischeu Fortschrittspartei gestanden, und selbst auf die
energischen Vorgänge im böhmischen Landtag — welchen die Grenzboten zu ihrer
Zeit viel Aufmerksamkeit schenkten großen Einfluß geübt zu haben. Er war
der politische Souffleur eines oder des andern Standesherrn, welcher sich bis da¬
hin um wenig mehr, als um seine Pferde und Hunde gekümmert hatte, und mit
einem Mal im Landtagssaal unter den glücklichen Sprechern auftrat. Die Ereig¬
nisse des Frühlings 1848 überraschten ihn sehr. Der gründliche Mann der Ge¬
schichte wußte sich nicht gleich hinein zu finden in die neue Zeit, von der er in
seinen Urkunden so gar nichts gelesen. Was er bis dahin als ideales Traumbild
in sich getragen: Eine große slavische Welt, das schien auf einmal möglich und
und wirklich zu werden. Der peinlich gewissenhafte Historiker wurde ein hart¬
näckiger politischer Schwärmer. Die Veränderung ist nicht so groß, als sie scheint.
Merkwürdig aber und ein Beweis seiner starken Kraft ist, daß er die Besonnen¬
heit und Mäßigung dabei nicht verlor. Als fast Alle zwischen Extremen schwankten,
schritt er mit festem Fuß, die Augen nach seinem Himmel gerichtet, durch die
schwierigen Verhältnisse. sein Brief an deu Fünfziger-Ausschuß wird jetzt auch
in Deutschland eine unparteiische Würdigung finden. Seine Haltung im böhmi¬
schen Nationalausschuß, im Slavcnkongreß, als dessen erster Präsident er fungirte,
und im östreichischen Reichstage ist so bekannt, daß ich, um deu Raum dieser
Skizze zu sparen, füglich darüber hinweggehn kann, ttcberall ist sein Urtheil über
den eignen Fall eben so sicher und scharf, seine Haltung so imponirend und takt¬
voll, als der letzte Hintergrund seiner politischen Ueberzeugungen phantastisch ist.
Er war der stille Führer seiner großen Partei, el» guter Mittelpunkt; großer
Redner ist er bekanntlich nicht.
Es drängt mich, nach langem Stillschweigen wieder einmal das Gespinnst der luf¬
tigen Gedanken, wie sie uns Oestreichern anhängen, in die Grenzboten zu verstecken,
damit sie leise den Weg wieder zu den Herzen der Leidensgefährten finden, welche gleich
gestimmt mit uns sich einen linden Trost heraussuchen sür die vielen müden Stunden.
Es ist uns möglich, Sie zu versichern, daß die letzten Ereignisse seit dem 4. März
über die treuen gläubigen Gemüther vieler Millionen meiner Landsleute bittere Stunden
herabbcschworcn haben; der Schmerz frißt tiefer inmitten der beklemmenden Todtenstille,
welche rings um uns über die wichtigsten Interessen herrscht, mir das Geräusch des
ungarischen Krieges dringt durch die nächtliche Lautlosigkeit unserer nächsten Umgebungen
und die peinliche Spannung in Deutschland. Wir alle fühlen das Nahen der Schwin¬
gen eines unbarmherzigen Fatnms. Die kurze Jnbilate unserer Freiheitssonne „'s ist
jährig schon" hat die östreichischen Völker sämmtlich gehoben und wir laben uns wenig¬
stens in der süßen Gewohnheit eines freieren Austausches unserer Ansichten und Em¬
pfindungen im kleinern Kreise — die einzige Errungenschaft p«-- tot äisciiinin» vor»»,!
Oben und unten, wohin uns die partikulären Interessen und Calcnnitätcn früherer und
gegenwärtiger Tage führen, können wir jetzt die Oestreichs kennen lernen und ich
dcponire also in Ihre Hand das Resultat des langen Schweigens.
Ich sitze in der Nähe von Ischl, dem Brighton Oestreichs, zwischen den schönen
Alpen, im Wittwenfltzc der aristokratischen Schwärmer, umgeben von Klagen über das
jüngste Gericht, welches so lange zaudert, von leisen Seufzern wackerer Herzen, welche
gerne fahren lassen möchten, was ja doch nicht zu halten ist, wenn nur wieder Frieden
über uns herabkäme; mitten unter den alten Alfanzereien des hohen Lebens. Aller
Augen sind ans Ungarn und auf Deutschland gerichtet; mit Bangigkeit reißt man das
Kreuzband von der Zeitung — der gewaltige Krieg, welcher das schwerfällige Oestreich
erschüttert, blickt uus mit den Augen der IZ„>i our»liicto>' an, daß wir starr dasitzen
und erwarten bis sie uns verschlinge. Und wenn Sie hieher durch Niederöstreich, Böhmen,
Oestreich reisen und dem Volke zuhören, wie der Fußreisende es darf und muß, so werden
Sie dieselben Oestreicher wiederfinden — nur daß sie kühner aussehn, Männchen machen und
mit dem gekrümmten Finger die Schlange herauslocke» möchten. Ist es der Haß des
Volkes gegen die reactionären und rücksichtslosen Maßnahmen der Regierung, — ist es
die Lust am Spektakel, am Schauerlichen, — oder Beides — aber die Seele unseres
Volkes ist bei den Ungarn.
Oben wird regiert, dort werden die Proklamationen an die Ungarn gemacht, Ge¬
neräle abgenützt wie Minister; in den Wolkenschichten kümmert man sich nur um Blitze
einer Verlornen Schlacht — die Völker in Oestreich und Deutschland scheinen ruhig.
Unten aber besteht kein Vertrauen, ja vielmehr die heimliche Freude über jeden Schlag,
welchen unsere eigenen Landeskinder, unsere Geldbeutel, unsere Ehre und unser Stolz
empfangen — trifft er ja doch auch und zwar hauptsächlich die eigenmächtigen Leiter
unserer Geschicke! Die Wenigen aber, welche die großen Bewegungen innerlich durch-
arbeiten, in welche die Massen mit den kurzsichtigen egoistischen Interessen später hinein¬
gerissen werden, diese wenigen einsichtsvollen Patrioten nähern sich einander; sie klagen,
kritisiren, berathen; Schritt für Schritt w'rd ihre Verpflichtung größer und doch ihr
Weg schwieriger. Die Polizeispionagen wittern die Geheimnisse; man packt ein, was
nicht bekannt ist und erprobt wie ein abgegriffener östreichischer Sechser — und erbit¬
tert die Gemüther in den Privatneigungen und Ansichten, um Feinde zu bekommen,
wenn ja die politischen Gewaltthaten vom unreifen Volke nicht verstanden würden.
Und so wiegen wir uns in fatalen Träumereien, zwischen Aerger und Resignation.
Niemand weiß, aus welchem Boden er selbst, seine Vicrtelbanknoten und das große,
mächtige, unabhängige und überdies auch freie Oestreich stehen sott, dessen innigste Ver¬
bindung mit Deutschland mit Nahrung seiner vollständigen Unabhängigkeit, Größe,
Macht und Freiheit alle Patrioten theils hoffen, theils fürchten.
Horchen Sie auf die Stoßseufzer eines Oestreichcrs — sie kehren alle aus einen
Hauptpunkt zurück: So kann es nicht mehr drei Monate fortgehen, darüber gehen wir
zu Grunde. Concessionen muß man machen, wir haben des Schmerzes genug über
den unseligen Bürgerkrieg an allen Ecken und Enden, wir schämen uns der kleinlichen
Polizeimaßrcgeln und der großartigen Staatsstreiche, wir beben vor dem bodenlosen
Finanzabgrunde zurück, in welchen wir kopfüber schwindeln; matt und wund gerieben
haben wir längst die Hoffnung auf Dies und Jenes ausgegeben, aber wir wissen, so
ist es nicht länger mehr zu ertragen. Ungarn zu erhalten im Interesse der Kultur
und der Macht Mitteleuropas verlangen fast Alle, eher gibt man Italien auf; die
Föderativverfassnng verlangt man und läßt sich in Gottes Namen die viereckige Reichs-
Verfassung gefallen; die Freundschaft mit Deutschland bedingt mau sich ans und gesteht
gern dem preußischen Könige die Hegemonie zu.
Lesen Sie die Ostdeutsche Post, die sich mit Muth behauptenden Prager Blätter,
die Jnsbrucker Zeitung — sprechen Sie mit dem Bauer, dem Gewerbsmanne, mit dem
denkenden Badegäste von Ischl auf einem freundlichen Spatziergang. An dem Fond
unserer Mittel zweifelt Niemand; wir sind einer großen Begeisterung fähig, der Deut¬
sche, der Czcche und der Pole, wir sind noch immer die bevölkertsten, reichsten Pro¬
vinzen, man wirft uns nirgends Feigheit vor — und dennoch ruft man lieber die
Nüssen, als die Begeisterung! Wir haben ein reiches geistliches Gut und dennoch spielt
die Regierung und die Bank das schmähliche Spiel — um die ungefährlichen Bischöfe
und Prälaten nicht z» verletzen. Von dem Ausfuhrverbote, von den Viertelnoten, von
den Kassenanweisungen — einer neuen Gattung von Anticipationsschcincn — von den
Anweisungen auf die ungarischen Einkünfte, von 50,000 Stück Bankaktien erwartet
man einen Ersatz der Begeisterung; von ,dem Gebete der eigennützigen Bischöfe und
Prälaten hofft man den Sieg i» IwL ->>Ann!
Man sperrt die alten Lieblinge ein, man drückt die Presse wie ein nächtlicher
Alp, man läßt durch „Gottesaugen" in die A. A. Z. berichten, daß mehrere Polen
davonlaufen, daß die 24 Husaren sich freuen gegen die Republik fechten zu dürfen,
daß Kossuth, der Schelm, Gesichter schneide, daß unser Kaiser die gemeinen Soldaten
seine Kameraden nenne, daß selber die ungarischen Spione nicht wissen, was die Russen
wollen! Nun sehen Sie, Alles weiß man, sogur was die ungarischen Spione nicht
wissen. Und dennoch kein Heil! Und dennoch kein Faden in der Politik, an welchen
man die abgenutzten Generäle und Minister anreihen und die Corrcspondenzberichte ein¬
fädeln konnte!
Und das ist unsere Loge! Sie ist schrecklich, traurig und beschämend, sie verläßt
uns nicht, mögen wir in Wien klagen oder uns auf die grünen Matten der Alpen
hinstrecken, um auszuruhen von aller Plackerei mit des Datums Mächten.
Wir haben uns in die Alpen geflüchtet; es ist heute eben Frohnleichnamsfest; in
Hallstadt am See drängt sich eine bunte Menge simpler Alpler und eleganter Damen aus
den höchsten Kreisen; von der Mühle hoch an der Felsenwand überlassen mir uns den
Eindrücken des poetischen Festes. Alle die hohen Gebirgsmassen mit den glänzenden
Schneefeldern und den keckaufsteigendcn Kögeln schwimmen im spielenden Lichte, der
See blinkt in tausend Spiegeln und die Traun schlüpft mit silbernem Baude durch die
schweigenden Thäler. Die Kirchenglocken rufen über die Berge, die andächtigen Men¬
schen schwimmen mit Fahnen und Altar auf der Wasserfläche — die volle Musik und
der dröhnende Schlag der Böller rauscht und hallt zu uns heraus und zurück wieder
von den vielverschlungenen Schichten über, neben und unter uns. Wir erkennen Hof¬
leute und einige bekannte Künstler, die Honoratioren und den Pöbel der Umgebung
in abgesonderten Kähnen, die wehenden Tücher von den Balkonen der Gasthäuser am
See; neben uns aber plätschert der Mühlbach von Fels zu Fels hinab in das Städtchen.
Bei mir sitzt ein Präger Freund, ein politischer Flüchtling von der antisalacki-
schen Partei, also ein Jungczeche — erlauben Sie gütigst den Ausdruck; — mein
Freund leidet nicht an temporärem Wahnsinn, aber er ist geflohen, wie mancher An¬
dere aus Oestreich; man hat gesprochen und gesungen; allmälig klingt es in den Ohren,
als spräche Jemand von uns, eine gewisse Scheu packt uns, mir sehen hinter der
Scheu schon wieder Fäuste drohen, die uns packen wollen; zu thun ist jetzt nichts, —
also sort mit Eile! Ein zweiter Gefährte, ein sehr lieber Mann, ein preußischer Künst¬
ler, malt die ehemals deutschen jetzt noch östreichischen Alpen als Souvenirs für Leute,
welche ausforschen wollen, wie weit die deutsche Zunge klingt. Mein Führer aber
packt „hübsch stat" jene Landkarte von Oestreich und Deutschland ein, aus welcher ich
ihm die neuen Bewegungen der 28 Regierungen und der Paixhanse erklärt habe. Un¬
sere kleine Gruppe hat sich constituirt ans dem ruhigen Plätzchen, um die Reize eines
so schönen, festlichen Tages in den ewigen Alpen zu genießen. Hier sind offenbar keine
Krawatte möglich, die Leute wohnen meilenweit von einander — und unsere kunstver¬
ständigen Generäle wissen zu gut, daß alle Gesetze des Belagcrungsznstandcs hier keine
Anwendung finden würden. Weder der Schluß der Wirthshäuser vor l l Uhr —
die Leute liegen schon um 9 Uhr auf der Nase, noch die Suspension der Preß-
freiheit kann hier verlangt werden. Raum für einen Belagerungszustand hätte man
aber an Ueberfluß, eine Compagnie Serezaner würde in der eigenthümlichen Perspektive
der Gebirge, um einen Kegel gelagert, ungefähr wie die Morgenröthe sich aufnehmen,
welche im Oestreich des vorigen Jahres so freundlich leuchtete — und im Hintergründe doch
nichts Anderes hatte, als diese rothe Zukunft der Slaven!
Das Geräusch der grollenden Städte, der flachen Provinzen dringt kaum vernehm¬
licher zu uns, als der leichte Ruderschlag unter am grünen See. — Die Stille be¬
günstigt jede Richtung der Gedanken; die allgemeine Misvre täuscht so leicht; was wir
sür die erschöpfenden Anfälle eines tödtlichen Fiebers halten, kann vielleicht die wohl¬
thätige Krise der Genesung sein! Ob aber auch hier, in dieser nebligen oder tiefschwei¬
genden Höhe und Zurückgezogenheit irgend eine Nebenarterie den Pulsschlag des großen
Herzens der Zeit fortpflanzt? Wer sich mit den Ohren, welche sich durch die neuen
Apparate der Spionagen so verfeinert und vergrößert haben, an den Schnürleib Euro¬
pa's, an die Alpen, anlegen konnte!
„Jodel!" sprach ich vertraulich meinen Führer an, „Ihr stellt Euch wohl die
Revolutionen recht gottlos vor; der Pfarrer in Laufen bei Ischl hat neulich eine so
rührende Schilderung von dem Strafgerichte Gottes entworfen, welche den Antichrist
Heine in Paris getroffen hat; Ihr müßt Euch ja Alle im innersten Herzcnsschrein vor¬
genommen haben, nichts zu sagen und zu thun, was Gott deu Allerhöchste» und seine
Begnadigte» auf Erden Euch nicht ausdrücklich gestatten und anrathe». Eure Beamten
werden Euch dann noch mit den gewissen zwei Farben anstreichen!" „der Herr hat leicht
reden" versetzte Jodel „der Spott fließt ihm über die Lippen — aber wir hier zu Laude,
die wir weder unseren Geistlichen und Beamten trauen, noch den Zeitungen glauben,
müssen unsere Hoffnung, daß es trotz der Unglücksfälle besser wird, aus den kleinen
Zeichen sammeln, an welchen sich das Wetter verräth. Wer unter uus ein aufgeweckter
Kops, ein entschlossener Mann ist, der wartet auf die Zeit. Die anderen feigen oder
die albernen Leute geben nie einen Nachdruck. — Wir sind der Meinung, daß in un¬
serer Gegend die Geistlichen und Beamten ihre unsichere Stellung und ihre Ohnmacht
suhlen, und wir denken, daß auch in den übrigen Gegenden die Krallen dieser Herren
abgestumpft sind, und deshalb hoffen wir ans eine-Besserung. Die großen Städte wer¬
de» sich wieder erhebe». — Unsere Männer waren sehr zufrieden mit dem was im
Jahr 1848 zu erwarten war; aber was die.Regierung jetzt will, das hat uns mit der
Bitterkeit erfüllt, welche man uns sehr gut ansieht. Die Auflösung des Reichstages,
das Schicksal Wiens und die Abdankung Ferdinands hat unsere Leute grimmig gemacht.
Die Zeitung, welche sie uns übrig gelassen haben, schimpft das, was wir lieb haben,
unsere Geistlichen und Beamten schmähen die neue Zeit und schelten auf das Volk, sie
spioniren jeden aus, welcher abhängig ist, sie wollen uns erschrecken, aber sie treffen nur
zu oft auf harte Schädel. Unsere schwarzen Herren machen von keiner Freiheit Gebrauch,
die uns sogar in der Verfassung vom 4. März zugestanden sind, ja sie denunziren
jeden Eollegen, welcher sich dazu erdreisten sollte. Wir wissen das Alles, auch das
neue Gemeindegesetz; man sängt Fischhof, unsern Deputirten neulich sollen sie sogar
den Lieutenant Pollet nach Kufstein geschafft haben, welcher am 1!!. März in Wien
nicht schießen ließ. Aber nur zu! Wollen Sie ungarische Soldaten sehen, welche nach
Hause descrtircu — ich will sie Ihnen zeigen, unsere Männer helfen ihnen wie Brü¬
dern; Sie kennen nicht die Freude, wenn man hört, daß unsere Leute Schläge be¬
kommen von den Ungarn — und doch schämen wir uns. Aber das kann nicht lange
dauern. Es ist doch eine Veränderung vorgegangen in Oestreich, alle Anhänglichkeit
ist hin, aller Glaube an's Gesetz ist gestorben, weil wir sehen, wie man Gesetze macht
und bricht!" — „Und vom Geld sprecht Ihr gar nicht?" frug mein Freund. — „Das
verstehe ich nicht, es mag wohl so sein, wie alles Uebrige!"
Und der Mann hat Wahrheit gesprochen, ja einsichtsvolle Beamten und Geistliche
gestehen diese Stimmung zu und beklage» sie. In unsern stillen Gebirgen flüstert's.
Die Felsen werden nicht herabstürzen in das Thal, aber sie schicken ihre Wolken auch
zu dem finstern Horizonte, welcher unser ganzes Land deckt und immer finsterer um¬
Durch den Sieg Radetzky's über die Piemontesen bei Custozza (24. Juli 1848),
die Einnahme von Mailand (ö. August) und dem Abschluß des Waffenstillstandes
mit Carl Albert (9. August) war die Wiederherstellung des östreichischen Principals
bedingt; die Einnahme Messina's dnrch die Neapolitaner nach einem zwanzigstün-
digcn Bombardement schien auch im Süden die Restauration einzuleiten. Doch
führte vorläufig die Erschöpfung beider Parteien zu einem Waffenstillstand. Da¬
gegen verbreitete sich die republikanische Gesinnung in Mittelitalien. Die Haupt¬
stütze der päpstlichen Herrschaft, Rossi, fiel unter dem Dolch eines Meuchelmör-
ders (15. November), die Unruhen in Rom veranlaßten Papst Pius IX. zur
Flucht nach Gai'ta (25. November), von wo aus er ein Manifest gegen die Re¬
volution erließ (4. December), nud das Volk erklärte die weltliche Herrschaft des
Papstes für aufgehoben (I I. December). In den verwirrten und unsichern Zu¬
ständen, wo die Masse (im Liren!» ^»it-n-t!) ohne eigentliches Regiment waltete,
suchte ein kühner, noch junger Abenteurer, Garibaldi, die Dictatur an sich zu
reißen, bis endlich (20. December) in der Form eiuer Giunta eine definitive Re¬
gierung eingesetzt wurde. Der Papst forderte in einer Cncyclica (26. December)
die katholischen Mächte zur Intervention ans und schleuderte (l. Januar 184!>)
gegen die Insurgenten den Bannfluch.
In Folge dessen suchte die spanische Regierung Sardinien zur gemeinschaft¬
lichen Intervention zu bestimmen. Das Ministerium Gioberti, das seit dem
15. December die Geschäfte leitete, ertheilte eine ablehnende Antwort (0. Januar).
Immer deutlicher stellte es sich heraus, daß der Krieg von Neuem vorbereitet wurde.
Die Lombarden waren durch die allgemeine Versicherung des Civilcvmmissarius
Moutecucnli (3. Januar), sie sollten in einem Provinziallcmdtag innerhalb der
constitutionellen östreichischen Monarchie gleichfalls vertreten werden, keineswegs
befriedigt. Die Venetianer behaupteten ihr Gebiet noch immer unverletzt; die
Deputirtenkammer zu Turin hatte beschlossen (24. December), ihnen eine monat¬
liche Unterstützung, zukommen zu lassen, der piemontcsische Admiral Albini über¬
brachte (23. Januar) bestimmte Versprechungen von Seiten seines Staats, und
das Circularschreiben, welches Carl Albert (29. Januar) an sämmtliche euco-
päische Mächte erließ, und in welchem er sich bitter über Oestreich beschwerte, gab
diesen Versprechungen ein offizielles Ansehn. Das Ministerium Gioberti, welches
noch immer eine Vermittelung angestrebt hatte, und welches namentlich gegen die
unitarisch-italienische Partei Front machte, die auf eine Auflösung der einzelnen
Staaten ausging, und in der Costitueute Italiana, welche durch eine Procla-
mation der provisorischen römischen Negierung (16. Januar) einberufen war, das
Mittel zu diesem Zweck suchte, wurde entlassen (2 t. Februar) und durch ein ent¬
schieden kriegerisches ersetzt (General Chiedo, Natazzi; Auswärtiges Geueral
Colii, am 8. März durch deu Advokaten Domenico Deserrari ersetzt). Der
Oberbefehl des Heeres wurde (15. Februar) an den polnischen General Chrza-
nowSki übertragen, zum Chef des Generalstabs la Mcirmora ernannt. Der
Gesandte der römischen Republik, Alcco Feliciani, wurde öffentlich empfangen
(25. Februar), die Deputirtenkammer (eröffnet den l. Februar) nahm, trotz des
Einspruchs von Azeglio und Martine!, mit !)4: 24 Se. eine in kriegerischem
Sinn abgefaßte Adresse an (2. März), und genehmigte die vom Ministerium be¬
antragte außerordentliche Anleihe zum Behuf des Krieges mit lit:7 Stimmen
(16. März). Schon den 14. März überbrachte ein piemontesischer Offizier nach
Mailand die Aufkündigung des Waffenstillstandes, und der alte Feldmarschall
Radetzky erließ sofort einen Tagesbefehl, in welchem er eine schnelle Beendigung
des Krieges und eine ernsthafte Züchtigung der Feinde Oestreichs verhieß.
Indeß hatte die Revolution anch Toskana ergriffen. Die Kammern waren
(to. Januar) durch eine Thronrede eröffnet worden, in welcher Großherzog Leo¬
pold verhieß, sich der nationalen Bewegung anzuschließen. Sie hatte (3l.Jan.)
durch eine Adresse in ähnlichem Sinn, die aber auf die Einheit Italiens einen
schärferen Accent legte, geantwortet. Indeß die römische Costitnente mußte alle
Fürsten abschrecken. Leopold nahm die Rücksicht auf den Papst, der ihn in einem
ernstlichen Schreiben von weiterer Verbindung mit den irreligiösen Unitariern ab¬
gemahnt hatte, zum Vorwand, und entfloh nach Siena (7. Februar), von da nach
Gaeta zum Papst (22. Februar). In Folge dessen übernahm das bisherige Mi¬
nisterium (Guerazzi, Joseph Montauelli, Mazzoui) die provisorische
Regierung (3. Februar), ernannte ein eignes Ministerium (Advokat Mordini,
Professor Marmocchi, Dr. Nomanelli, l)r. Fraschini, d'Ayalo),
ohne auf den Protest des Großherzogs weitere Stücksicht zu nehmen, und schickte
Montanelli nach Rom (13. Februar), um mit der Republik ein Bündniß abzu¬
schließen. Doch hütete man sich wohl, die Republik direct zu proclamiren, trotz
des heftigen Andrängenö von Seiten der demokratischen Partei. Dagegen berief
man eine cvnstituirende Versammlung für Toskana ein, welche den 25. März zu
Florenz zusammentrat und Montanclli zum Präsidenten erwählte.
In Rom hatte man diese Mäßigung nicht. Die Costituente (eröffnet den
5. Februar) proclamirte sogleich (8. Februar) die Republik (mit 136 Stimmen);
sie wurde in Bologna (II. Februar) und dann auch in den übrigen Städten des
Kirchenstaats anerkannt; der Protest des Papstes (14. Februar) wurde nicht be¬
achtet. Ein volkstümliches Ministerium wurde zusammengesetzt (10. Februar):
Inneres Saffi, Auswärtiges Rusconi, Justiz Lazzarini, Unterricht Maz-
zarelli, Krieg Campellv, öffentliche Arbeiten Sterbini, Finanzen Guic-
cioli (die letzteren vier den 6. März ersetzt durch Seur direkte, Rilliet-
Constant, Montecchi und Manzoni). Die Schweizer-Regimenter wurden
abgelohnt, und unter andern bemerkenswerten Maßregeln zur Hebung der Finan¬
zen auch die Kunstschätze des Vatican zur öffentlichen Versteigerung ausgeboten.
Noch einmal forderte der Papst (>8. Februar) die katholischen Mächte (Neapel,
Spanien, Oestreich, Frankreich) dringend zu einer Intervention auf.
So war die Lage der Dinge bei dem Wiederausbruch des Krieges. Den
14. März begab sich Carl Albert ins Hauptquartier zu Alessandria. Mit der ge-
sammten Truppcnmacht, ohne irgend eine erhebliche Besatzung gegen einen etwa
ausbrechenden Aufstand in der Lombardei zurückzulassen, brach Feldmarschall Ra-
detzky von Mailand auf, überschritt den Gravclloue (20. März)*), schlug die pie-
montesische Vorhut bei Mortara (21. März) und vernichtete die feindliche Armee
in dem glänzenden Sieg bei Novara (23. März). Die Generale Schön hals
und d'Aspre hatten sich vorzüglich ausgezeichnet, Noch in derselben Nacht legte
Carl Albert seine Krone zu Gunsten seines Sohnes Victor Emanuel nieder,
und entfloh durch Frankreich nach Spanien, wo er (4. April) zu Toko^a seine Ab¬
dankung wiederholte, und endlich in Oporto seine Zuflucht suchte (30. April).
Auf Veranlassung des neuen Königs, der sich Oestreich gegenüber in einer gün¬
stigeren Lage befand, wurde nnn (20. März) zwischen Radetzky und Chrzauowdky
der Waffenstillstand abgeschlossen. Radetzky kehrte nach Mailand zurück (29. März),
Victor Emanuel leistete in der Deputirtenkammer, die noch schnell eine Dankadresse
an Carl Albert erließ, seinen constituttouclleu Eid, und löste"sie dann auf (30. März)
eben so wie das Ministerium, das durch Piuelli ersetzt wurde — das Haupt
der neuen Regierung wurde Masstmo d'Azeglio, der deu 4. Mai an Gabriel de
Lauay's Stelle trat, und seinen Bruder an Stelle Gioberti's (20. Juni) zum
Gesandten in Paris ernannte. Die Reorganisation der Bürgerwehr wurde dem
Prinzen Eugen v. Savoyen übertragen (2. April). Trotz der allgemeinen Unzu¬
friedenheit, welche dieses Ende des Krieges im piemontesischen Volk erregte, brach
nur in Genua ein Aufstand aus (24. März); ihn beizulegen, rückte General Al-
fons la Marmora (3. April) vor die Stadt, und hielt (I I. April) seinen Einzug,
dem Haupt der Revolution Joseph Avezzana, wurde Gelegenheit gegeben,
nach Amerika zu entkommen. In der Lvmbardi hatte nur Brescia sich erhoben
(25. März), verleitet durch eine untergeschobene Proclamation Chrzanowsky's,
aber nach einem furchtbaren Bombardement wurde sie durch Feldmarschall Haynau
erstürmt und mit abschreckender Grausamkeit gezüchtigt; (>. April) die Anführer
(darunter Camozzi), entflohen.
Die unerwartet schnelle Entscheidung brachte vorübergehend die demokratische
Partei zu neuen Anstrengungen. Die constituireude Versammlung für Toscana
übergab (27. März) Gncrrazzi die Dictator; in Rom wurde sie (30. März) Jo¬
hann Mazzini übertrage», dem berühmten Chef des jungen Italien, d^in un¬
ermüdlichen Verschwörer, der nach seiner Abreise aus London am 0. März zuerst
seinen Platz in der Costituente eingenommen hatte. Zwei andere Volksmänner,
Saffi und Armellini, wurden ihm zur Seite gestellt. Die Nationalversamm¬
lung selbst wählte (10. April) Galetti zum Präsidenten, Karl Bonoparte
und Salicetti zu Viceprästdenten.
Aber bald darauf begann die Reaction. In Modena zog Herzog Franz
den 15. April ein, eingeführt durch die Oestreichs unter Kolowrat; anch in
Massa wurde seine Herrschaft wieder hergestellt (2et. April). Parma wurde durch
General d'Aspre (S.April) im Namen des abwesenden Herzogs restituirt; der Her¬
zog selbst (Karl III. v. Bourbon) hielt deu 17. Mai in Piacenza seinen Einzug.
In Florenz war es die Bürgerschaft, von der eine unblutige Reaction ausging.
Der Dictator Guerrazzi wurde verhaftet (12. April), der Stadtrath übernahm die
provisorische Regierung, berief Montanclli, der als Gesandter nach Paris gegan¬
gen war, zurück, löste die constituireude Versammlung und die Municipalgarde auf,
bildete ein neues, gemäßigtes Ministerium (Tonnetti, Martini, Taberini,
Allegretti, Duchoqnes, Belluomini), und forderte den Großherzog auf,
zurückzukehren (13. April). Dieser gab der neuen Regierung vorläufig seine Be¬
stätigung, (sie wurde später, 17. durch ein neues Ministerium ersetzt: Finanzen
B aldasseroni, Innres Landucci, Justiz Capoquadro, Auswärtiges Fürst
Andrea Corsini, Cultus Jac. Mazzei, Unterricht Cesar Boccella, Krieg
de Lau gier), während gleichzeitig die östreichische Armee unter d'Aspre in Lucca
und Pisa einrückte (5. Mai). Nur in Livorno behauptete sich die Republik, vor¬
zugsweise gestützt aus das Proletariat; doch auch diese Stadt mußte sich (10. Mai)
an d'Aspre ergeben, und hier wie in ganz Italien wurde das Standrecht gegen
die Ueberwundenen mit allem Uebermuth eines heftig erbitterten Siegers ausge¬
übt. — Jetzt begannen die Operationen gegen den Kirchenstaat., Bologna, vom
Wimpfen (8. Mai) angegriffen, capiiulirte den 18. Mai, worauf durch eine
Proclamation des General Gorzkowski (28. Mai) die päpstliche Regierung in
den Kreisen Bologna, Ferrara, Ravenna und Forel wieder eingesetzt wurde. An-
cona wurde (24. Mai) von Dahlrup, dem Nachfolger Gynlais seitdem 3. April,
den 24. Mai zu Lande und zu Wasser eerr.ire, und capitulirte (l9. Juni) nach
einer laugen und tapfern Vertheidigung.
Der Waffenstillstand mit Sardinien gab den Oestreichern auch Gelegenheit,
ihre Strciikräfte wieder ernstlich gegen Venedig zu wenden, wo Man in (2. April)
die Dictatur behufs Vertheidigung der Stadt übertragen war. Die Blokade wurde
über Venedig (4. April) durch Dahlrup verhängt und zugleich Fiume und Buccari
durch Feldmarschall Dahler in Kriegszustand erklärt. Den 5. April erhielt der
piemontesische Admiral Albini Befehl, das Adriatische Meer zu verlassen. Den
2l. April rückte Hayuau, der Eroberer Brescia's, gegen Venedig, eröffnete die
Trancheen gegen das Fort Malghera (2!>. April), begann, mit Radetzki vereinigt
(3. Mai), das Bombardement gegen dasselbe, und nahm es im Sturm (27. Mai).
Seitdem wird das Bombardement, selbst dnrch Luftballons, unermüdlich fortgesetzt,
ohne daß sich bis jetzt ein erheblicher Erfolg herausgestellt hätte.
Die Friedensuttterhaudluugeu mit Sardinien begannen sofort nach Abschluß
des Waffenstillstandes. Sie wurden zu Mailand (seit dem 7. April) zwischen dem
östreichischen Minister Brück und dem sardinischen Minister Grafen Nevel ge¬
führt; zugleich unterhandelten Gioberti und H uhn er in Paris. Nevel wurde
(l4. April) durch La Bvrmida ersetzt. Der Streitpunkt bezog sich vorzugsweise
auf die Entschädigungssumme, welche Sardinien zahlen, und auf die Garantie,
welche es leisten solle. Die Oestreicher verlangten, daß ihnen bis zur Erfüllung
der Friedensbedingungen die Festung Alessandria übergeben würde, die Piemon-
tesen weigerte» sich und als eine östreichische Abtheilung eigenmächtig einzog, er¬
klärten sie sofort die Unterhandlungen für sistirt und reisten ab (24. April). Erst
den l8. Juni wurden die Verhandlungen wieder aufgenommen, als die Oestreicher
Alessandria verließen. —
Wenden wir jetzt unsern Blick auf einen Augenblick uach dein Süden. Die
Sicilianer hatten sich ans das lebhafteste gerüstet; General Emanuel Magnam
und Ludwig Mieroslawski, Chef der Jnsurrection in Posen im Jahr l>845,
hatten den Oberbefehl übernommen. Noch einmal übernahm England und Frank¬
reich die Vermittelung. Die Admiräle Parker und Baudin übergaben (4. März)
dem Ministerpräsidenten Butera das Ultimatum der Neapolitaner. Das Mini¬
sterium legte es dein Parlament vor, dieses verwarf die Vorschläge (v. März)
und verordnete ein allgemeines Aufgebot. Der Waffenstillstand wurde den 20.
gekündigt, und nun begann auch der König vou Neapel (der die am 1. Februar
eröffnete» Kammern deu 12. März aufgelöst hatte), sich ernstlich zu rüsten. Noch
einmal (23. März), aber eben so vergebens, suchten die englischen und französi-
schen Abgeordnete», Temple und Nayneval, eine Ausgleichung herbeizuführen;
der Krieg begann. Ueber die sicilianischen Häfen wurde (l. April) die Blokade
verhängt, und General Filangieri eröffnete die Feindseligkeiten dnrch die Ein¬
nahme von Taormina (2. April), worauf Catania sich freiwillig ergab. Verge¬
bens versuchte MieroölawSki (7. April), es den Neapolitanern wieder zu entreißen;
nirgend leisteten die Sicilianer ernstlichen Widerstand — wahrscheinlich dauerten die
Unterhandlungen in's Geheim fort — endlich lösten sich die beiden Kammern auf
(20. April) und eine neugebildete provisorische Regierung zu Palermo erklärte dem
Fürsten Satriano, sich unterwerfen zu wollen (23. April). Mieroslawöki ent¬
floh nach Marseille, Rnggiero Settimv, der eigentliche Chef der patriotischen
Partei, nach Malta. Noch einmal (7. Mai), gelang es der exaltirten Partei
(Scordatv), dnrch den Sturz der provisorischen Negierung die Unterwerfung zu
verzögern, aber sie mußte bald (>v. Mai), den Gemäßigten weichen; die Kapitu¬
lation wurde erneuert — übrigens mit großer Mäßigung benutzt; denn es wurde
allen Unzufriedenen Zeit zur Flucht gelassen, —, und den l5. Mai zog General
Filangieri in Palermo ein.
Als so der König von Neapel nach Süden hin freie Hand hatte, rückte er
(29. April) mit 5000 Mann in den Kirchenstaat ein. An demselben Tage landete
eine spanische Flotte bei Terracina und besetzte die Stadt. Ein gefährlicherer Feind
aber als beide, kam von einer unerwarteten Seite. Die französische Regierung,
festhaltend an den Traditionen der alten Monarchie, daß Frankreich überall seine
Hand im Spiel haben müsse, wo es zu irgend einem ernstlichen Conflict in Ita¬
lien käme, um nicht den östreichischen Einfluß zu sehr anwachsen zu lassen, beschloß
eine Intervention ohne eigentlichen Inhalt und Zweck wie zu den Zeiten Casimir
Perier's in Ancona. Die constitnirende Versammlung bewilligte ihr (16. April)
einen Credit von l,200,000 Fr., in der Ansicht, es gelte den Schutz der römischen
Freiheit gegen die Uebergriffe Oestreichs. So landete die Expedition (26. April)
unter Marschall Oudinot bei Civita Vecchia, und besetzte die Stadt, ohne auf
den Protest der römischen Regierung irgend Rücksicht zu nehmen; ja der republi-
kanische General erließ eine Proclamation, die an das Manifest des Herzog von
Braunschweig im Chaiupagnefeldzug erinnerte. Bald daraus rückte er gegen Rom
selbst an, überzeugt, er werde mit offne» Armen empfangen werden. Er wurde
aber mit Flintenschüssen begrüßt und zurückgeschlagen; ein Paar Tage darauf,
nachdem der König von Neapel (3. Mai) bei Torre ti MezMia vo» Garibaldi
besiegt und zur Räumung des römischen Gebiets gezwungen war. lieber diese
sonderbare Art, deu Römern freundlich zu sein, stellte Jules Favre (7. Mai)
i» der Nationalversammlung eine heftige Jnterpellation an die französische Regie¬
rung und veranlaßte einen Beschluß, welcher dieselbe aufforderte, die Expedition
wieder auf den ursprünglichen Zweck zu richten. Die Regierung fand sich dadurch
veranlaßt, Herrn v. Lesseps „sich Rom abzuschicken, mit einer höchst unbestimm-
ten Vollmacht, und dem Austrag, die Sache auf eine convenable We-se beizulegen
(8. Mai). Gleichzeitig erließ aber der Präsident der Republik an den Marschall
ein Schreiben , worin er das Verfahren desselben vollkommen billigte. Lesseps trat
also mit dem Triumvirat in Unterhandlung (l7. Mai), während die französische
Armee vor der Stadt lagerte; es kam nach sehr wunderlichen Intriguen zum Ab¬
schluß eines Vertrages (3 l. Mai), in welchem die römische Republik induced an¬
erkannt war, aber Oudinot erklärte kurzweg, diesen Vertrag nicht ratisicircn zu
wollen, und gleich darauf erhielt Lesseps (l. Juni) seine Abberufung, Oudinot
den Befehl zum Angriff. Seit dieser Zeit haben die Römer, geleitet von Gari-
balpi und Nosclli, und freilich unterstützt durch eine große Zahl Abenteurer aus
allen Nationen, sich auf das tapferste vertheidigt und die Franzosen haben den
Ruhm davon getragen, nach Art Attila's, der Vandalen, Bourbon's und den an¬
deren Naubfürsten, welche die Geschichte mit der Zerstörung Roms brandmarkt,
ohne alleu Zweck die Monumente des großen Alterthums verwüstet zu haben. Der
Schandfleck, den diese Expedition auf die französische Republik bringt, wiegt alle
Schmach auf, die auf unserer Bewegung lastet. — Die französische Regierung, un¬
geduldig über die Verzögerung der Einnahme Rom's, sandte General Bete an
ab (2. Juli), um »ach Befinden selber den Oberbefehl zu übernehmen, mittlerweile
hatte sich aber die Costituente von der Nutzlosigkeit einer weitern Vertheidigung
überzeugt und das Triumvirat mit der Einleitung von Unterhandlungen beauf¬
tragt (30. Juni).
Ueber der Geschichte dieses Blattes schwebt ein gewisses Dunkel. Es ging
aus einem kleineren hervor, der „Neuen Berliner Zeitung," die in der Deckcr-
scheu Hofbuchdruckerei erschien, und gemäßigter als die neue Preußische, aber mit
ehrlicher Energie die damals in der Presse sehr schwach vertretene conservative
Sache verfocht. Sie war ein Actien-Unternehmen von ziemlich geringem Umfang,
auch der Kreis ihres Publikums war beschränkt. Da wurde sie — ich denke es
war Ende August oder Anfang September des vorigen Jahres — von ihrem bis¬
herigen Besitzer verkauft, und erschien uun als „Deutsche Reform", in Folio For¬
mat und zweimaliger Ausgabe jeden Tag. Wer eigentlich der Käufer war, ist
nicht bekannt geworden; der Form nach war es eine Actiengesellschaft, als deren
Agent Herr Milde auftrat, später wollte man wissen, sie sei von der damaligen
Regierung subventionirt. Wie dem auch sei, mau konnte sie nie als eigentliches
Regierungsblatt bezeichnen, wenigstens war von einem direkten Einfluß keine Rede
— was vielleicht zum Theil darin seinen Grund hatte, daß die Principien der
Regierung selbst nicht allzufest standen. Jedenfalls waren die Geldmittel nicht
im Verhältniß zu den Ansprüchen des Blattes, das auch durch die ziemlich schnell
anwachsende Abonnentenzahl nicht im Entferntesten gedeckt werden konnte. Man
hatte daher oft genug zu der Besorgnis; Veranlassung, sie möchte einges», und
seit dem Zusammentritt der preußischen Kammern scheint sie durch die Unterstützung
der Partei gehalten zu sein, bis diese sich in Folge der Differenz in der deutscheu
Frage auflöste.
Die Redaction des Blattes leitete Herr Otterberg, ein junger Manu
aus Königsberg, der sich bis dahin mir durch eben so pikante als scharfsinnige
Theater-Recensionen in der Staatszeitung einen Namen gemacht hatte. Seine
ästhetische Wirksamkeit war gestört worden durch eine scharfe Kritik über Werber's
Columbus, welche deu alten Tieck zu eiuer heftigen Entgegnung veranlaßte. Die¬
ser Conflict mit einer höchsten Orts accrcditirten Autorität in poetischen Dingen
hatte damals Otterberg's Stellung an einem Hvfblatt unhaltbar gemacht. Für
die neuen Regierungen dagegen war eine geistvolle Opposition gegen die herr¬
schenden Ansichten, wenn sie eine gewisse Grenze uicht überschritt, eine Empfehlung.
Die deutsche Reform hat es nie verleugnen können, daß sowohl ihr Redacteur
als die meisten der übrigen Mitarbeiter ursprünglich vou eiuer ästhetische» Bildung
ausgingen. Nicht allein in dem Ton zeigte es sich, der höchlich gegen die conven-
tionelle Sprache der bisherigen Presse verstieß — Esprit und Grazie in der Zci-
tuugSsprache war bis dahin etwas Unerhörtes — souderu auch in der politischen
Haltung. Die deutsche Reform war ein Partciblatt und sollte es sein; aber sie
war es nicht naiv, sondern reflectirt. Sie war liberal in ihren Ansichten, das'
ist sowohl ein Lob als ein Tadel. Ein Lob, denn es schließt die Einseitigkeit
aus, diese Neigung, für die gesammte Partei solidarisch einzutreten, und ebenso
die gesammten Geguer für Alles, was auf der andern Seite vorgeht, solidarisch
verantwortlich zu mache»; el» Tadel, deun bei dem Mangel einer positi¬
ven, leidenschaftlichen Ueberzeugung, die nothwendig mit einem unmittelbaren
Zweck verbunden sein muß, ist man zu leicht der Gefahr ausgesetzt, sich
durch verwandte Seiten, auch wo mau im Wesen nicht übereinstimmt, bestechen
zu lassen. Die deutsche Reform war zu geneigt, an den hervorragenden Persönlich¬
keiten der Linken in der preußischen Constituante, die freilich jedem Unbefangenen
ein höheres Interesse einflößten, als die trockene» Verfechter der Ruhe ^ tout prix,
ein bedenkliches Wohlgefallen zu finden, ohne doch dadurch eine Vermittlung an¬
zubahnen, denn auf das Wesen der Sache erstreckte sich diese Liberalität keines¬
wegs. Um mit Schicklichkeit liberal sein zu können, muß man in seiner eignen
Ueberzeugung, in seinem eignen Willen sehr fest stehn. Die deutsche Reform konnte
es von sich rühmen, so weit es die allgemeinen Principien betraf; daß sie es im
Detail nicht war, lag an der eigenthümlichen Stellung derjenigen Partei, auf
welche sie sich stützte, der altcoustitutioiiellen. In Preußen war die Lage dieser
Partei noch mißlicher, als im übrigen Deutschland. Die deutsche Zeitung und
ihre Anhänger konnten sich auf die Majorität der Nationalversammlung stützen;
in Preußen war das nach den Antecedentien der beiden liberalen Ministerien nicht
unbedingt möglich.
Als die Novembcrkrisiö in Preußen ausbrach, theilte die deutsche Reform
das Schicksal ihrer Partei; die Neigung kollidirte mit den Principien. Der Schlag
traf die Gegner, die sie so lauge bekämpft, und welche sie selber mit der Partei
der neuen Preußischen zusammenwarfen; andrerseits aber stritt er mit den For¬
men, welche sie immer anerkannt hatte. Doch dauerte dies Schwanken nur kurze
Zeit; als in ganz Preußen die constitutionelle Partei sich mit der Regierung ver¬
band, um nur die augenblickliche» Gefahren der Demokratie zu beseitigen, wurde
die deutsche Reform wieder ihr bedeutendstes Organ, und bei dem Zusammentritt
der Kammern trug ihre Charakteristik der Sitzungen — Harkort war der Ver¬
fasser — sogar das Gepräge einer Gereiztheit, die mit dem sonstigen Ton des
Journals nicht recht stimmen wollte. ,
Aber der Friede währte nur kurze Zeit. Die deutsche Reform hatte, wenn
auch mit den Nestrictioncn, die ihre Stellung zu Preußen bedingte, immer treu
an der deutschen Sache gehalten. Als es nun dahin kam, daß diejenige Partei,
welche mit ihr auf gleichem Boden stand, in Frankfurt den Sieg davon trug, mußte
sie gegen die Organe der absolutistischen Partei, denen die aus der Revolution
hergeleitete Kaiserkrone ein Greuel war, entschiede» Front machen. Im Anfang
glaubte sie, wie ihre Parteigenossen in den beiden Kammern (die Dyhrn, die
Vincke u. s. w.) auf die Regierung einwirken zu können. Als sich diese Hoffnung
nicht verwirklichte, wurde sie in die Opposition gedrängt, und damit war ihre Stel¬
lung unhaltbar geworden. Sie wurde verkauft — von wem'', ist unbekannt —
aber der Käufer war die Denker'sche Hofbuchdruckerei, welche sich bei dem Verkauf
der Neuen Berliner Zeitung im Fall eines neuen Wechsels das Vorkaufsrecht vorbe¬
halten hatte. Hinter ihm vermuthete mau den östreichischen Gesandten Prokesch-
Osten, mit Unrecht, wie sich nachher gezeigt hat. Das Ministerium selbst war es auch
nicht, wohl aber diejenige Partei, welche in Manteufel ihren Ausdruck findet,
und welche, wie die Sachen jetzt stehn, beinahe schon wieder liberal zu nennen ist.
Ich habe bei der Charakteristik des Journals noch einen Punkt nicht erwähnt.
Abgesehn davon, daß sie vorzugsweise mit Nachrichten aus der Regierung begünstigt
wurde, selbst uoch zur Zeit der Kammern, obgleich hier z.B. die Cvnstitutionelle
Zeitung in der deutschen Frage der Negierung näher stand, zeichnete sie sich vor oller
übrigen Zeitungen durch ihre Korrespondenzen aus; namentlich die aus Oestreich
waren zum großen Theil eben so gediegen in ihrem Inhalt, als musterhaft in
der Form.
Wenn die deutsche Reform bis zu ihrer Krisis (im Ende April) ein Ausdruck
der allen Whigpartei gewesen war — des liberalen Grundbesitzes mit etwas idealisti¬
schen Anseres -, so wurde sie nach dieser Zeit ein Organ der gemäßigten Tones,
der altpreußischen Bureaukraten, die eigentlich von der ganzen constttutiouellen
Wirthschaft nicht viel wissen wollten, sich aber nun darein zu schicken suchten, so gut ,
es gehn wollte, und die im Uebngen aus Preußen etwas hielten, auf den alten
Fritz und die historische Nummer der Regimenter, sehr im Gegensatz zu den Hoch-
tories der Neuen Preußischen, denen eben so wie den humanistischen Radicalen,
die Partei über das Vaterland ging. In dem Unterschied der beiden Phasen
dieser Zeitung hat man auch den Unterschied der Regierungen, die sie repräsentiren.
Der neuen Reform ist es um Logik, um Gründlichkeit, um Geist, um schöne
Worte nicht zu thun; sie steift sich auf das Nechtsprincip eben so wenig als auf
höhere Ideen, sie mag das Räsonniren nicht leiden, und wenn sie selber räsonnirt,
so ist es immer mit sehr handgreiflichen Gründen. Aber es ist etwas von der
alrpreußlsch - militärischen Derbheit in ihr, und es unterscheidet sie von der Diplo¬
matie der Staatszeitung, von dem pietistischen Doctrinarismus des politischen
Wochenblatts und der Gemeinheit der Kreuzzeitung. Sie hat die Haltung eines
Preußischen gedienten Polizeicvmmissarius, dem das Gebot der Treue das höchste
ist, der aber selbst, wenn er eS seiner Stellung für angemessen findet, brutal zu
sein, einen gewissen Anstand bewahrt.
In der letzten Zeit ist die Reaction so weit gediehen, daß die deutsche Reform,
wenn sie in ihrer Weise fortführe, die extremste Opposition bilden würde. Schon
daß sie sich mit dem Christenthum nicht genug zu thun macht, daß sie ihre Gegner
blos als Anarchisten, nicht aber auch als Gottesleugner und Juden verflucht, ist
schlimm; die Angriffe aber, die sie in der letzten Zeit gegen das heilige Oestreich
richtet — verdeckt selbst gegen das noch heiligere Nußland, die höchst skandalöse An¬
erkennung, die sie den wüsten Demokraten von Gotha gezollt hat — während
jeder Gutgesinnte aus der Art, wie der Dreikönigsentwurf in dieser Versamm¬
lung ausgenommen wurde, deutlich erkennen mußte, daß derselbe eigentlich auch
noch höchst ultra-revolutionär und gotteslästerlich ist — das Alles ist aus die
Länge eben so wenig zu ertragen, als die Art, wie sie die fortwährend kühnen
Griffe des Ministeriums rechtfertigt. Sie gesteht zu, daß sie formelle Rechtsver¬
letzung enthalten, und macht nur die höhere geschichtliche Nothwendigkeit dem av-
straclen Nechtspriucip gegenüber geltend. Rechtsverletzung! Recht ist, was Se.
Majestät der König befiehlt, und waS den weisen Absichten des Monarchen im
Wege steht, ist Communismus und Anarchie. Rechtsverletzung! Ruhig im Ge¬
wehr! Der Soldat soll gehorchen, nicht räsonniren, und jeder preußische Unter¬
than ist geborner Soldat.
Wir wollen damit keine Verdächtigung aussprechen; wir sind weit davon
entfernt, der Deutschen Reform constitutionelle Gesinnungen unterschieben zu wollen.
Im Gegentheil! Wenn hente Graf Brandenburg decretirt, es solle allerdings
eine ständische Verfassung bestehen, aber die Abgeordneren soll der König aus¬
wählen, so wird sie sagen: das ist zwar eine formale Rechtsverletzung, aber es
ist gut! sehr recht! es ist eine höhere politische Nothwendigkeit! Sie wird viel¬
leicht hinzusetzen, die Negierung hat früher sehr verkehrt, sehr ungesetzlich gebar--
dell, als sie einem Andern die Wahl der Abgeordneten übertrug, als dem ge¬
bornen Repräsentanten der Nation, dem Könige, sie wird vielleicht zum Beleg
ihrer Behauptung den Aristoteles citiren, aber das alles sind Redensarten, die
einem Unterthanen nicht anstehn; historische Nothwendigkeit, Aristoteles und alles
das gehören nicht in die Bibliothek eines loyalen Journalisten, höchstens der
Katechismus.
Eins möchte ich wissen. Unter den vielen Geschenken, womit das theure
Ministerium uns beglückt hat, ist ja auch das provisorische Prcßgesetz. In dem¬
selben ist nicht nnr die Kritik der Amtsthätigkeit aller offiziellen menschlichen Wesen
bis zum Nachtwächter herunter bei so und so viel monatlicher Zuchthausstrafe
untersagt, sondern auch die Kritik der Amtsthätigkeit der Deputirten. Nun ist
zwar zu hoffen, daß in die neuen Kammern die alte Opposition nicht eintritt,
aber wenn nnn doch Ausnahmen stattfanden? Wenn Freund Dierschke doch seinen
Platz in der Oberwallstraße finden sollte? Oder ich will sagen, wenn einer von
der alten Rechten, wie es schon in der letzten Zeit geschah, etwa Herr Immer-
mann oder wer sonst, die Dreistigkeit haben sollte, der Regierung zu wider¬
sprechen? Sollte es da nicht die Pflicht eines treuen Unterthans sein, den frechen
Lästerer gehörig zurechtzuweisen? Und das darf denn doch die Deutsche Reform
nicht! Wenn sie Dierschke lästert, kommt sie ins Zuchthaus, Vielleicht wird es
ihr „süß und anständig" sein, für die gute Sache zu leiden, denn das Zuchthaus
erwartet auch den flüchtigen Mann und verschont weder die unkriegerischen Knie¬
kehlen der conservativen Liberalen, noch ihren schüchternen Rücken.
1) Die beiden Reichs Verfassungen, mit Erläuterungen vom Herausgeber der
Grundrechte in der G. Wigand'schen Ausgabe. Leipzig, G. Wigand.
Eine geistvolle kleine Schrift, die wir der Aufmerksamkeit des Publikums
empfehlen, obgleich sie, nach gewissenhafter Prüfung der vorliegenden Thatsachen,
zu ganz andern Resultaten gela.rgt, als wir.
Der Verfasser stellt zunächst seinen leitenden Gesichtspunkt in Folgendem fest.
„In Betreff der Reichsverfassung stehen sich aufs schroffste zwei Principien
gegenüber: die Souveränetät der Nationalversammlung und die Octroyirung der
Regierungen — entweder die Majorität der Volksvertreter schafft die Verfassung,
oder sie wird durch die Uebereinkunft der Landesregierungen unter sich endgiltig
festgestellt. Wir lassen uns hier auf diesen Principienstreit uicht ein, der mehr
Sache des politischen Glaubens ist als der Ueberlegung und Erörterung: wir
schreiben nur für die, welchen die Sache mehr ist als die Form, welchen das Wohl
des Vaterlandes das höchste Princip ist. Auch wer die Frankfurter Versammlung
für souverän hielt und hält, kann ohne Schande, auf ihr Werk verzichtend, das
aus der Hand der Könige empfangen, was er von den Vertretern des Volkes
gehofft hatte; ja er muß es, wenn nur auf diesem Wege die deutsche Einheit sich
retten läßt, nur durch diese Nachgiebigkeit ein den dentschen Regierungen und
Völkern gemeinsamer Rechtsboden erreicht werden kann. Darum genügt es keinen-
falls, den Entwurf der Regierungen wegen seiner formellen Mangelhaftigkeit bei
Seite zu legen. Auch der eifrigste Anhänger der Frankfurter Verfassung muß
demselben eine materielle Prüfung widmen, und nur wenn sich diese die im Entwürfe
vorgezeichnete deutsche Verfassung als materiell unausführbar oder als nachtheilig
für die Einheit und Freiheit erweist, darf er den Entwurf zurückweisen und die
ungeheure Verantwortung übernehmen, welche in dem Ausschlagen vielleicht des
letzten möglichen Einigungsversuches liegt. — Diese materielle Prüfung beabsich¬
tigen wir hier und lassen die formelle Frage dabei ganz bei Seite, ob die deutsche
Nationalvertretung oder die Regierungen befugt sind, die Reichsverfassung end¬
giltig festzusetzen. Mag man übrigens dieser oder jener Ansicht sein —eine
Wahrheit liegt in beiden Extremen, welche nur zu oft verkannt ist. Soll die
Reichsverfassung wirklich zu Stande kommen, beabsichtigt man wirklich etwas mehr
als die Ermüdung des Volkes und die Abstumpfung alles politischen Eifers durch
end- und zwecklose Verschleppung des Beginnes der neuen Einheit, so muß end¬
lich festgesetzt werden, wem das letzte Wort der Entscheidung zusteht. Das ver¬
mittelnde Princip, die Reichsverfassung aus der Vereinbarung der Landesregie¬
rungen und der Nationalversammlung hervorgehen zu lassen, enthält eine reine
Unmöglichkeit; zuletzt muß doch die eine oder die andere Partei, das Volk ober
die Regierungen das Wort sprechen, wovor man sich so sehr fürchtet: so soll es
sein und dabei hat es sein Verbleiben. Die Nationalversammlung hatte daher
vollkommen Recht, dies zu versuchen, oder vielmehr, sie hätte das Recht gehabt,
wenn sie die Macht gehabt hätte. Ist ihr Machtspruch mißlungen, gescheitert am
Widerstand der dentschen Könige und an der unzMgen Einmischung der rothen
Republik, so ist es zwar nicht formell, aber wohl der That nach und vor dem
Richterstuhl der Geschichte vollkommen gerechtfertigt, wenn die Regierungen ihrer-'
seits die rettende That versuchen; und wem: sie, dje Macht haben sie durchzuführen^
und der Gegenpartei einigermaßen gerecht werden, wird Zeit und
Nachwelt ihnen die Jndemnitätsbill nicht versagen. Mit Befremden sahen wir
aber, daß das Ministerium Brandenburg es verschmäht hat, das Recht der „ret¬
tenden That" auch hier zu üben, das ihm doch sonst nicht unbekannt ist. Defi¬
nitiv ist nichts octroyirt als das Reichswahlgesctz und gewissermaßen dos Reichs¬
gericht; die Reichsverfassung selbst liegt nur im Entwürfe vor und erwartet ihre
schließliche Feststellung von der Vereinbarung der verbündeten Regierungen mit
einem neuen in zwei Kammern gegliederten Reichstag!
Wenn — was sehr möglich ist — der Reichstag oder eine seiner Kammern
seine Zustimmung zu der Verfassung verweigert, was soll dann geschehen? wird
man sagen, der Reichstag sei nur „zur Zustimmung," nicht zur Verwerfung be¬
rufen? oder wird man dann die Einigung ganz aufgeben? oder es doch dahin
kommen lassen, daß, wer dann eben der Mächtigste ist, das Volk oder die Re¬
gierungen, schließlich erklärt: so soll es sein und dabei hat es sein Verbleiben? —
Die Einigung ist definitiv gefährdet, dazu aber noch provisorisch hinausgeschoben;
denn bis die Reichsverfassung definitiv feststeht, existirt nur die Möglichkeit eines
einigen Deutschlands. Hätte man den Entwurf sofort in der bezeichneten Weise
octrvyirt, so wäre diese Einigung, wie sie nun immer ist, wenn sie überhaupt
Lebenskraft hat, doch gleich ins Leben getreten, der deutsche Reichstag wäre ein¬
getreten in seine verfassungsmäßigen Rechte. Der nächste Reichstag hat „ledig¬
lich" die Verfassung zu berathen; so lange er sitzt, ist also die Verfassung selbst
noch uicht anwendbar — das hat Pater Nadowitz wohl ausgesonnen, ehe er es
vom Grafen Brandenburg niederschreiben ließ. Faktisch ist die Verfassung für die
beitretenden Staaten octrvyirt, provisorisch die octroyirte Verfassung suspendirt
und dabei die Möglichkeit gelassen, wenn das Volkshaus sich etwa doch wider¬
spenstig zeigen sollte, vermittelst der sehr nützlichen Vereinbaruugstheorie die deut¬
sche Einheit definitiv zu beseitigen.
Hierdurch ist zugleich der Gesichtspunkt bezeichnet, von wo aus wir uns auf
eine Kritik des Entwurfes einlassen. Es kauu nicht darauf ankommen, bei jeder
einzelnen Aenderung zu fragen, ob die frühere Fassung uicht vielleicht wünschens¬
werter und zweckmäßiger war; man mag in dem Entwurf manche gute Bestimmung
vermissen, manchen bedenklichen Paragraplien behelligt wünschen, und doch die Annahme
desselben billigen und fördern helfen. Wir fühlen täglich tiefer die heillosen Folgen
der Kleinstaaterei, wo die Negierung ohne Kraft, die Landesvertretung ohne Intelli¬
genz, das Volk ohne politischen Sinn und nationalen Stolz dem Elster Besten ans
dem Pöbel der Souveräne oder aus dem souveränen Pöbel zur Beute wird. Um
Deutsche zu werden und wenn nicht die Einheit, doch einen Anfang der Einheit zu
erringen, dürfen wir kein Opfer scheuen, selbst nicht das Opfer wichtiger Rechte.
Wenn daher die Reichsverfassung »ur sonst lebensfähig ist, werden die Schmäle¬
rungen z.B.. der Grundrechte des deutschen Volkes für den nächsten Reichstag
kein Grund sein, die Verfassung definitiv zu verwerfen; in solchen persönlichen
Rechten und Freiheiten kann Jeder, und der Reichstag im Namen Aller, im
Interesse der endlichen Einigung des Vaterlandes sich zu manchem Opfer ver¬
stehen. Alles kommt darauf an, ob die Reichsverfassung, wie der Entwurf sie
gestaltet hat, in der Wirklichkeit durchführbar ist, ob sie nicht blos auf dem Papiere
den Schein eines Organismus gewährt, sondern wirklich in allen ihren Gliedern
zu einem organischen Ganzen von freier Bewegung und mächtiger Thatkraft sich
zusammenschließt. Die Reichsverfassung der Berliner Konferenzen kann und nnter
Umständen muß sie angenommen werden, wenn sie nur wirklich Deutschland einigt,
mit einem Worte, wenn sie praktisch möglich ist. Gibt sie aber uur deu Schein
einer Einheit, führt sie Deutschland nicht seinem großen Ziele zu, stellt sie eine
todtgeborne Organisation, einen Coniplcx gegenseitig sich hemmender Kräfte, eine
Reihe sich einander aussehender Factoren hin, so kann und muß sie verworfen
werden, selbst auf die Gefahr hin, daß nichts Besseres an ihre Stelle träte und
Deutschland das Jahr, von dem es die Einigung hoffte, mit seiner definitiven
Zersplitterung schließen müßte. Wir wissen, was das bedeutet; es bedeutet den
Abschied von einer glänzenden und tausendjährigen Vergangenheit, den Bankerott
für Gegenwart und Zukunft, die geknickte Existenz, die zerstörte Lebenshoffnung
eines Jeden, der an dem Aufschwünge des Jahres 1848 mit ganzem Herzen und
ganzem Gemüthe theilnahm. Aber es kaun nichts nützen, wenn das Elend einmal
da ist, es unter einen Haufen bunter Lappen zu verstecken." —
Das Resultat, zu dem er daraus gelaugt, ist Folgendes:
„Blicken wir zurück auf die beiden Neichsverfassnugen. Die eine, das Werk
der Volksvertreter, ist nicht frei von einzelnen demokratischen Ueberschwänglichkeiten
und Uebergriffen, aber in ihrem wesentlichen Kern durchdrungen von dem edlen
Trachten nach allseitiger Gerechtigkeit, vom ernstlichen Festhalten an dem Noth¬
wendigen für das vorgesteckte hohe Ziel neben möglichster Schonung des Beste¬
henden, von der innigsten Liebe zum Vaterlands und dem ausharrendsten vorsich¬
tigsten Fleiße, dabei von musterhaft klarer und bestimmter Form; es ist ein Werk,
auf das selbst jetzt noch Deutschland stolz ist. Die zweite Redaction, das Werk
der Staatsmänner, beseitigt richtig und zweckmäßig manche Bestimmung der Frank¬
furter Reichsverfassung, welche entweder an sich bedenklich ist, oder doch unter
den gegenwärtigen Umständen aufgegeben werden kauu und muß, wie das allge¬
meine Wahlrecht und das suspensive Veto. Diese beiden demokratischen Parade¬
pferde, so wie manches Aehuliche geben wir willig ans; mit Schrecken aber scheu
wir, daß die beiden Bestimmungen, weswegen von unsern Gegnern die Frank¬
furter Verfassung als unannehmbar bezeichnet zu werden pflegte, nur den kleinsten
Theil der Aenderungen ausmachen, und daß viel wichtigere, den eigentlichen Kern
und Gehalt der Verfassung vernichtende Modificationen unter jener Aegide vorge¬
nommen worden sind. Wir wollen ein deutsches Reich in der That und in der
Wahrheit, aber kein solches, welchem die ausschließliche Vertretung gegen das
Ausland, die freie Verfügung über das Heer, die Verwaltung des deutschen Mili¬
tärwesens entzogen, dessen gesetzgebende Thätigkeit durch Beschränkung auf „allge¬
meine" Gesetze in den wichtigsten Beziehungen gelähmt und überdies neben dem
Veto des NeichSoberhaupts dem Veto einer Anzahl Fürsten preisgegeben wird;
kein Reich, dem statt der Neichsstnanzen uur das Recht eingeräumt wird, einen
leeren Beutel zu sichre» und bei den Einzelstaaten die Groschen zu erbetteln. Wir
wollen kein Reich, dessen wirkliche einheitliche Thätigkeit vielleicht sich nnr offen¬
baren könnte in einem einheitlichen Prcßgesetz und einem einheitlichen Gesetz über
den gemeinen deutschen Belagerungszustand, welches die Exccutivmacht aller klei¬
nen deutschen Staaten in die Hände Preußens legt und dieselben faktisch aufhebt,
ohne deren Bürger durch eine Theilnahme an der politischen Thätigkeit Deutsch¬
lands und. eine gemeinsame deutsche Gesetzgebung zu entschädigen. Wir wollen
kein Zwitterding von Kaiserthum und Directorium mit der Aussicht entweder auf
einen dauernden Krieg der verschiedene« Factoren der Reichsgewalt oder wahr¬
scheinlicher auf eine vollständige Lähmung derselbe»; wir wollen die Bewilligung
des ordentlichen Budgets nicht abhängig wissen von dem Willen zweier Versamm¬
lungen, die nicht immer einig sein werden. Wir wollen vor allem kein preußi¬
sches Wahlgesetz für das deutsche Volkshaus. Möge man die wirklich Uusclbst-
ständigen ausschließen und wenn man mit Kategorien nichts auszurichten glaubt,
bei denen vielleicht ein Rath von Geschwornen aushilfsweise einzelne Unbilligkeiten
ausgleichen könnte, einen mäßigen Census einführen; aber schämt mau sich nichr
alle die, welche keine directen Steuern zahle», welche keine Gcmeindewcchlrechte
haben, alle die, welche in den letzten drei Jahren ihre Wohnung nicht blos
innerhalb des Wahlbezirks gewechselt haben, alle die, welche nicht in ihrem
Wahlbezirk auch HcimatSrccht besitzen, vom Wahlrechte auszuschließen und dies
uns mit den Worten anzukündigen: „Wählbar ist jeder selbstständige unbeschol¬
tene Deutsche!" — Wir sind nicht unbedingt Gegner der Octroyirung; ja
warum sollte» wir es uicht gestehen: wir haben ans sie gehofft! Vieles, sehr
Vieles hätte das deutsche Volk verschmerzt, um Einiges zu erlangen; Vieles halte
es verziehen, eingedenk der Sünden, die auch im Namen des Volkes begangen
sind. Aber nach ernstlicher uijd redlicher Prüfung des Entwurfs schwanken wir
keinen Augenblick zu erklären, daß diese Verfassung und dieses Wahlgesetz
nie und nimmermehr angenommen werden kann und daß es verlorene Mühe ist
den zu deren Prüfung in Aussicht gestellten Reichstag zu beschicken. Das Min¬
deste, um weiter zu verhandeln, wäre
l) eine Aenderung des Wahlgesetzes für das Volkshaus, etwa in der Weise,
daß es jedem bcitrctenden Staate überlassen bliebe, mit Zugrundelegung der im
Neichsgcsetz festgestellte» Zahlenverhältmssc, ein Wahlgesetz für den nächsten Reichs¬
tag auf verfassungsmäßigen Wege zu erlassen und darnach die Wahlen
vorzunehmen. Denjenigen Staaten, welche ein dem Reichswahlgesetz unverändert
festhalten wollen, bliebe dieses unbenommen;
2) eine Bürgschaft dafür, daß auf dem nächsten Reichstag eine den Fürsten
wie dem Volke gegenüber rechtsgiltige und von beiden im Voraus anerkannte
Reichsverfassung zu Staude komme. Daß die Fürsten unbedingt sich dem Aus¬
spruch der Volksvertreter zu unterwerfen haben, ist eine übertriebene und un¬
mögliche Forderung, die es eben so leicht ist aus dem Papier zu verfechten,
als unmöglich sie in der Praxis durchzuführen. Was aber möglich und bei¬
den Theilen gerecht scheint, ist die Uebertragung der Entscheidung, bei Conflicten
zwischen den Regierungen einer- und den Volksvertretern andererseits an das von
den Fürsten und den Ständen der Einzelstaaten gemeinsam ernannte StaatenhanS.
Es würde wesentlich zu der höchst wünschenswerthen Abkürzung des ganzen Nevi-
sionswerkes beitragen, wenn das Volkshaus ausschließlich die Verfassung mit den
Vertretern der Regierungen beriethe, und nnr diejenigen Fragen, worin eine Eini-
gung nicht zu erzielen ist, an das Staatenhaus gebracht würden. So lange aber
die Vereinbaruugsthcorie ohne Bezeichnung einer höheren Instanz für den Fall
der NichtVereinbarung besteht, sind Reichstage, so viel man deren auch berufen
möge, nur zu einer ewig neuen Sisyphusarbeit bestimmt.
Auf solchen Grundlagen aber, wie man sie jetzt bietet, kaun nicht verhandelt
werden; am wenigsten mit Ministern, die selbst erklären, daß sie es nicht ehrlich
meinen. Denn so muß man es nennen „an dem Texte der in Frankfurt beschlos¬
senen Verfassungsarbeit so wenig wie möglich zu ändern, hinsichtlich derjenigen
Bestimmungen aber, welche einer verschiedenen Auslegung und Deutung fähig
sind, möglichst durch Declarationen und Bevorwvrtuugcn derjenigen Deutung
Geltung zu verschaffen, unter welcher die einzelnen gefährlichen Punkte unbedenk¬
lich erscheinen." So muß man es nennen, wenn man an einem Beispiele zeigt
und für hundert andere Fälle voraussetzt, daß die Bestimmungen „ohne directe (!)
Aenderungen des Textes sich modificiren (!) lassen." Das ist der Schlüssel zu der
scheinbar so großen Aehnlichkeit der beiden Verfassungen, die den Gutmüthigen
nur zu leicht täuscht und schon Viele getäuscht hat. Das ist die Antwort auf die
liebevolle Sorgfalt, welche die Frankfurter Volksvertreter dem Verfassnngswerke
zuwandte»: jene höhnische Leichtfertigkeit, womit niam in schülerhafter Redaction
einen neuen Entwurf in das Publikum schlendert und bei der ersten Publikation einen
deutschen Staat ausläßt, seine eigenen Aenderungen aber an den gehörigen Stel¬
len einzutragen vergißt! Auf solches Verfahren haben wir nur eine Antwort: wir
werfen den Königen ihren Entwurf zerrissen vor die Füße.
Und was dann weiter? Wir wissen es nicht. Das wissen wir, daß das
deutsche Volk mit Wenigem zufrieden war, aber auch sich nicht begnügen wird
mit einer Lüge; eine Lüge ist nicht wenig, sondern ein Nichts. Und auch das
wissen wir, daß die Frankfurter Verfassung, rechtmäßig berathen, beschlossen und
verkündet, für alle Zukunft das Ziel des politischen Strebens in Deutschland sein
wird, der Polarstern in der bevorstehenden Anarchie, der Magnet aller künftigen
Revolutionen. Sicilien gab sich seine Verfassung im Jahre 18l2; sie ward ihm
wie uns die Frankfurter gewaltsam entrissen. Zweimal haben die Sicilianer seit¬
dem die Verfassung von 1812 auf dem Schlachtfeld sich erobert und wieder ver¬
loren; zum drittenmal wird sie Niemand ihnen entreißen. Die Frankfurter Ver¬
fassung von 1840 ist ein Magnet; der Magnet wird Eisen anziehen."
Wir erlauben uns, in Kurzem unsere abweichende Ansicht zu motiviren.
Der Verfasser meint, er wisse nicht, was dann weiter. Wir aber wissen es.
Kommt der von Preußen projectirte Bundesstaat, durch die Renitenz der einzel¬
nen Regierungen, welche nach demselben wichtige Theile ihrer Souveräuitätsrechte
aufopfern sollen, nicht zu Stande, so erfolgt die Wiederherstellung des Bundes¬
tages und der heiligen Allianz, mit unendlich vergrößertem Einfluß des russischen
Cabinets und mit tieferer Herabdrückung Preußens, das sich alsdann veran¬
laßt sieht, als reuiger Sohn zu seineu frühern Herrn zurückzukehren.
Diese bittere Wahrheit wird durch die bildlichen Wendungen, die wir un¬
serm eignen Verfahren zu geben suchen, nicht verdeckt. „Wir werfen den Königen
ihren Entwurf zerrissen vor die Füße." Wenn das anginge, so wäre das wenig¬
stens ein Akt unmittelbarer Befriedigung, für den ein auf das Höchste gereizter
Mensch die ganze Zukunft auf's Spiel setze» möchte. Aber es ist nur figürlich
gemeint. Der Entwurf ist nicht ein einzelnes Pergament, und wir haben keine
Gelegenheit, ihn mit dem tragischen Pathos eines verletzten Gemüths vor dem
Angesicht seiner Urheber auf eine so verächtliche Weise zu behandeln, wie es wün¬
schenswert!) wäre. Der Akt unserer Renitenz zerfällt vielmehr in kleine Detail¬
arbeit, Abgaben von Stimmen, Enthaltung der Wahl u. s. w., die an sich, ohne
einen bestimmte» Zweck, den wir damit verbinden, keine Befriedigung geben kann.
Mit der Berufung auf eine künftige Revolution, der Appellation an ein
neues Jenseits, ist auch nichts gethan. „Der Magnet wird Eisen einziehn." Eisen
ist genug verwendet in diesen beide» Jahre», nud auf die Souveränität des Volks
hat man auch hinlänglich gepocht, es ist Zeit, daß wir die Vernunft an die
Stelle der Leidenschaft setzen. Der Vergleich mit Sicilien ist unglücklich. Dort
steht ein vollkommen in sich einiges Volk, das in einer bestimmten Form den
Ausdruck seines Willens gefunden hat, einer fremden, ganz äußerlichen Tyrannei
gegenüber. Bei uns dagegen, wo die Absichten nach tausend Seiten hin ausein-
andergehen, war für die verschiedenen Fractionen die Reichsverfassung nur ein
Kompromiß, dessen Geltung die augenblicklichen Umstände, die ihn veranlaßt ha¬
ben, nicht überdauern wird. Zudem ist das Beispiel Siciliens auch in anderer
Beziehung nicht schlagend. Wie viel von jener Verfassung zur Ausführung kom^
nie» soll, wird doch wohl von dem guten Willen des siegreichen Generals und
seines Herrn abhängen.
Der Berfassnugs-Entwurf, den die drei Könige bieten, ist nicht die Haupt¬
saale. Ueberhaupt kommt eine Verfassung nicht dadurch zu Stande, daß man sie
zu Papier bringt. Die Verfassuiigeu sind die Formen, die sich dem eigentlichen
Inhalt des Staats anpassen u»d ans diesen kommt es an.
Es liegt uns daran, in einem Staate Bürger zu sein, der eine selbstständige
Politik zu verfolgen berechtigt und der durch seine Natur genöthigt ist, die Ent¬
wickelung der Freiheit zu begünstigen. Der deutsche Bund konnte beides nicht,
nicht allein wegen des Übeln Willens der Fürsten, sondern seiner Natur nach.
Zivei wesentlich divergirende Interessen konnten sich nur in einem Streben ver¬
einigen: ängstlich jede Bewegung zu unterdrücken, weil jede Bewegung die Hohl¬
heit und Nichtigkeit ihres Bündnisses an den Tag legen mußte.
Eben so wenig konnte Preußen eine selbstständige Politik verfolgen, weil es
mit allen Theilen seines Organismus an andere Körper verwachsen war, über die
es nicht gebot. Es konnte auch die sreie, vernünftige Entwickelung seines eigenen
Staatslebens nicht fördern, weil es keine staatliche Totalität war. Das ist der
eigentliche Grund, warum die constitutionellen Bestrebungen so lange scheiterten.
Die kleinen Staaten forderten zwar einen ziemlich umfangreichen Liberalismus
zu Tage, aber er war illusorisch, weil ihre eigene Unabhängigkeit und Selbst-
ständigkeit eine Illusion war, und weil in dem engen Kreise ihres politischen
Wirkens jeder große staatsmännische Blick verloren ging. Eben darum war trotz
der freien Institutionen in den kleinern Staaten das preußische Staatswesen in
seinen großen Zügen ein gesunderes.
Da es sich nun gezeigt hat, daß die deutsche Nation nicht fähig ist, aus sich
heraus sich als Staat zu constituiren, ohne daß in der Aufräumung der Hinder¬
nisse die Gefahr eines vollständigen Ruins eintrete, so bleibt für uns nichts anders
übrig, als den unnatürlichen Bundeskörper zu zerschneiden, und die kleinen Staaten
so an Preußen anzuschließen, daß die Gesammtheit zunächst dem Ausland gegen¬
über als eine Einheit erscheint.
Dieser Idee — sie war der eigentliche Kern des Gagern'sche» Programms —
widersetzt sich der natürliche Egoismus der kleinen Fürsten. In gewöhnlichen Ver¬
hältnissen war er nicht zu überwinden; durch einen kühnen Griff, nnter dem Bei¬
stand der Nation, ihn zu brechen, hatte die Krone Preußen nicht den Muth. So
blieb nur ein, freilich nicht ganz lauteres Mittel, den Egoismus der Fürsten
selbst für das neue Werk zu gewinnen. Es ist das Preußen, wenigstens zum
Theil, aber auch nur für den Augenblick gelungen, indem es mit seinen großen
Kräften die wankenden Throne gestützt, und dadurch in eine gewisse Abhängigkeit
gebracht hat. Schon jetzt, nachdem die Ordnung für's erste wieder hergestellt ist,
scheint es so, als ob die Fürsten gern wieder zurücktreten, als ob sie die
Einheit Deutschlands zum Borwand nehmen möchten, um durch das Hineinziehen
Oestreichs Preußens Hegemonie zu Paralysiren. In der beständigen Kollision
der beiden Großmächte wähnen sie, unabhängig zu sein, weil sie keinem bestimmten
Herrn gehorchen. Dieser Wahn ist es, der sich der Herstellung eines deutschen
Reichs widersetzt, und ihn auszurotten, ist unsere Ausgabe.
Kommt das Bündniß zu Stande — selbst wenn Baiern, Würtemberg und
Baden sich ausschließen — so ist Folgendes gewonnen. Einmal ist eine starke
Macht vorhanden, die den neuen Staatsorganismus in die Reihe der bestehenden
Reiche unmittelbar einführen kann — die frühere Centralgewalt konnte das nur
durch die Vermittelung Oestreichs oder Preußens, sie war von ihnen abhängig,
und ihre Souveränität war eine Illusion. Derselbe Fall ivürde eintreten, wenn
einer der Großmächte die Vertretung Deutschlands übertragen würde, und die
andere dennoch innerhalb des vertretenen Staatcncomplexes verbliebe. In dem
vorliegenden Falle genügt es aber vollkommen, wenn die kleinen Fürsten ihren
diplomatischen Verkehr, der dem Wesen nach schon immer sich ans kleine Intriguen
einschränkte, auch der Form nach aufgeben. Die Einheit dann weiter zu begründen,
wird schon in Preußens eignem Interesse liegen.
Wie steht es aber mit der Freiheit? Die Verfassung selbst bietet gar keine
Garantien. Wohl aber die Lage der Dinge. Indem die Staaten den Bund
schließen, erkennen sie das Recht des Volks an, innerhalb desselben in seiner
Gesammtheit vertreten zu werden. Es wird sich nun sehr bald von Seiten
der kleinen Fürsten der Wunsch und das Bestreben herausstellen, das Bundes¬
verhältniß, das ihre Abhängigkeit bedingt, so viel als möglich zu untergraben.
Gegen dieses fortdauernde Bestreben wird der Reichsvvrstand kein anderes Mittel
haben, als — die Nationalversammlung. Er wird sich veranlaßt fühlen, mit ihr
Hand in Hand zu gehn, weil er uur durch sie seinen Einfluß behaupten kann,
und wenn alsdann im Volte wirklich ein energischer Wille lebt, der sich selber
klar ist, so wird sich eine freie und vernünftige Verfassung entwickeln, obgleich
eine unvernünftige auf dem Papier steht.
Diese Rechnung ist darum nicht falsch, weil sie einfach ist.
2. Lehrbuch der Demagogie. Von Jakob Radike. Leipzig, Georg
Wigcind.
Wir theilen als Probe aus dem witzige» Büchlein folgende demokratische
Stichwörter mit:
„Es ist zu spät — Auf, zum Kampfe — Hier gilt es Entschlossenheit —
Rüstet euch — Das Vaterland ist in Gefahr — noch haben wir Eisen — ans
zu den Waffen — gebt uns Brot — jetzt oder nie — an die Barrikaden —
schon wankt der Thron — jetzt entscheidet das Blei — wollen wir uns zertreten
lassen? — endlich ist die Stunde gekommen — die Feuersbrunst der Revolution
flackert an allen Ecken empor — die Revolution klopft an die Pforte — die Er¬
eignisse überstürzen sich lawineichaft — endliche Heilung hundertjähriger Gebrechen
— eigentliche Inhaber der Kraft die Sturmwolke, die über dem Vaterlande
schwebt — heute fallen die ehernen Würfel — Zündstoff der Revolution — Rüst¬
kammer der Freiheit — süße Lavcudelseclen — höchster Triumph der Freiheit —
Donnerwort des Zeitgeistes — Lammesgeduld der Impotenz -— Umsturz des Be¬
stehenden — Gifthauch des Absolutismus Pesthauch der Despotie —- Gewalt-
streich der Reaction ^ im Sold der Camarilla — rauchende Trümmerhaufen —
Morgenroth der Freiheit — gleisnerische Zungendrescher — katzcnpfötigc Leisetreter
— dramatischer Zorn eines Volkes, das sich erhebt — unbestechlicher VvlkStribnn
— Asche einer Welt — der sich mächtig regende Zeitgeist — Genius des Jahr¬
hunderts — Drachensaat der alten Staatsgankler — magischer Zauber der Frei¬
heit — zum Himmel stuckende Gewaltthaten — vorenthaltene Menschenrechte —
Sklavengeröchel — Zähnefletschen der Gegenpartei — Renegatenthum — Fürsten¬
mast — dynastische Bcsticnehrc — kommißdnftigc Ladstvckgrazie — christlich-ger¬
manischer Stumpfsinn — Todeskampf der Verzweiflung — keuchendes, blnttrie-
fcudes Wild — Wurmfraß — Laternenpfahlzierden — edler Männertrotz — Fur-
chen in die Weltgeschichte reißen — Lutschbeutel der Vertröstung — enervirte Fe¬
derfuchser — armselige Conseauenzenmacherei — landesflüchtige Edle — Stadium
der Begeisterung — Pulsschlag der Zeit — Jammergeschrei der Verfolgten —
todeswunde Streiter — großartige Weltanschauung — frcihcitkündcnde Apostel —
Kirchhofsruhe — Athem der Freiheit — dumpfe Kcrlerlnft — Guillotincnsutter —
Hofintriguautcn — Camarillapolitik - Fiuieü des Bürgerkriegs — Nacht des
Aberglaubens — Stolz des Schweigens - Urschcnsal — Central-See.ndrechtö-
bestie mit den dickwulstigen Tigerlippcn - Noch hat der Pesthauch der Tyrannei
uns ein gesundes, ein freies Herz gelassen, noch ist es der eindressirtcu Schur¬
kerei der Hüter des Absolutismus uicht gelungen, uns ganz zu vernegern. -
In keinem Theile von Preußen zählt das Ministerium, Brandenburg so viele
Freunde und Verehrer als in Schlesien. In der That ist Schlesien seinen In¬
teressen nach die am meisten konservative Provinz Preußens, Pommern und West-
phalen nicht ausgenommen, die Anzahl der großen Grundbesitzer und der Capital¬
besitz, welcher durch sie vertreten wird, ist so bedeutend, daß man sich nicht wundern
darf, wenn die preußische Regierung zufolge ihres Princips, den politischen Werth
des Staatsbürgers uach seiner Stcucrquote zu messen, dem schlesischen Grundbesitzer
eine besonders hohe Stelle in ihrem Herzen einräumt. ,
Man erzählte sich in Schlesien seit vielen Jahren, daß der König persönlich die
Schlesier nicht liebe. Gewiß ein sehr unbegründetes Geschwätz, da in der Individualität
des schlestschen Volksstammes so viele von den Eigenschaften zu finden sind, welche an
hohem Ort beliebt machen. Ob Sie eine gewisse Beweglichkci des Charakters unter diese
Tugenden rechnen wollen, sei Ihnen überlassen, aber sicher sind die Schlesier, wie
schon der curiose Antiquarius, eine berühmte Geographie vom Jahre 1700 lobend
erwähnt, mit einer sonderbaren Anlage zur Beredtsamkeit und Phantasie ausge¬
stattet. — Der schlesische Adel des Grundbesitzes wenigstens hat sich einer
freundlichen Zuneigung von Seiten des Hofes steif erfreut, er hat viele jüngere
Söhne als Kammerherrn untergebracht, und hat oft Gelegenheit gehabt, die preu¬
ßischen Könige anf seinen Schlössern gastfrei zu empfangen. Dies Verhältniß
wurde von dem großen Grundbesitzer zuweilen ganz naiv und mittelalterlich auf¬
gefaßt, der von Nendeck z.B. bewirthet seinen Lehnsherrn, den Hohenzollern, und
stellt ihm dabei seine Clansleute, die Oberförster und Unterförstcr, Hüttenbeam-
ten ze. in seiner Hausnniform mit vielem Selbstgefühl vor und der gute König
freut sich herzlich über den Wohlstand und die mannhafte Equipirung seines Va¬
salle». Aber dasselbe Verhältniß hat auch seine ernste und für Preußen verhäng-
nißvolle Bedeutung. Als der König z. B. im vorigen Jahre den alten conser-
vativen Weg verließ und die Demokraten und allerlei anderes „Gesindel" in seiner
Nähe zu dulden anfing, empörten sich alle jüngern Söhne unserer aristokratischen
Familien heftig gegen seine Person und sein Regiment, die Offiziere strichen flu¬
chend ihre Schnurrbärte und schworen, daß es mit diesem völlig nicht so fort
gehn könne, und die Landjunker schlugen mit der Reitpeitsche an die Stiefeln und
prophezeite» den Untergang der Welt, der vornehme Adel jedoch verstand und
übersah die Lage seines Königs und wußte den Weg zu seinem Herzen zu finden.
Die Nationalversammlung zu Berlin hatte ein ungeschicktes Jagdgesetz be¬
rathen, welches die großen Grundbesitzer um so tiefer verletzte, da es ihr Licb-
lingspnvilegium aufhob und in gemeine Hände gab, der König verweigerte die
Bestätigung der Bill, welche er in ehrenwerther Gewissenhaftigkeit für einen rohen
Eingnff in Priratrechte hielt. Die Differenz zwischen König und Nationalver¬
sammlung durste damals «och nicht zur Krisis führen, noch war die Versammlung
uicht reif zum Fall. Da ging Grus Uvrk von Wartenburg mit mehreren Andern
als Deputirter der großen Grundbesitzer nach Berlin, erklärte dem König, sein
Adel sei bereit, der Revolution dies Opfer zu bringen und bitte selbst die Maje¬
stät das Gesetz zu bestätigen. Der König reichte gerührt dem Grafen die Hand
und erklärte, er wolle dies thun, mit dem Vorbehalt, daß er selbst später den
großen Grundbesitzer ans seiner Privatchatulle entschädige. Nur uuter der Be¬
dingung erlaube ihm sein Gewissen eine solche Ungerechtigkeit zu sauctivuireu.
Da faßten die Herren vom Adel unter sich den Beschluß, ihrerseits diese Entsclä-
digung nicht anzunehmen. So erhielten der Adel und dieM-jestät schon im von-
gen Jahre Gelegenheit, die Tugenden loyaler Hochherzigkeit gegen einander' zu
üben, und über den Unfähigkeiten und Albernheiten, welche die Demokratie von
1848 auf den Straßen Berlins zur Schau trug, wurde das gelockerte Band zwi¬
schen dem König und seiner Aristokratie wieder befestigt, die Folgen davon waren
das Torymiuisterimn Brandenburg-Manteuffel.
Ich wiederhole Ihnen, was ich schon früher in Ihrem Blatt ausgesprochen,
dies Ministerium war für die innere Organisation Preußens eine Nothwen¬
digkeit. Wie auch seine politischen Fähigkeiten beschaffen seul mochten, nur
ein solches Ministerium war im Stande, mit rücksichtsloser Energie gegen die Un¬
sicherheit des Eigenthums, die Zerrüttung aller gesellschaftlichen Verhältnisse zu
kämpfen und die einflußreiche Partei der conservativen Aristokraten mit den Opfern
zu versöhnen, welche sie bei der neuen Organisation des preußischen Staates un¬
ter allen Umständen bringen mußt.'. Wenn wir beklagen, daß dasselbe Ministe¬
rium die nationalen Interessen Deutschlands in eine gefährliche Krisis gebracht
hat, so müssen wir auch anerkennen, was es für die Beruhigung Preußens ge¬
than hat. Die Gesetze, welche es mit großem Eifer erläßt, sind allerdings flüch¬
tig verfaßt und erweisen sich schon jetzt als mangelhaft, aber es hat die Fähigkeit
gezeigt, dem schon vorhandenen Gesetz Gehorsam zu verschaffen. Wir Schlesier
haben Gelegenheit, das jetzt zu erfahren.
In dem Verhältniß der ritterlichen Gutsherr« zu den kleinen Eigenthümern ihres
Dorfes herrschte auch in Schlesien seit vorigen Jahre eine vollständige Anarchie,
welche durch unüberlegte provisorische Gesetze noch vergrößert worden war.
Die Bauer» hatten fast durch ganz Schlesien einen Bund geschlossen, dessen Re¬
sultat eine hartnäckige Verweigerung aller Leistungen war, die sie in Geld und
Diensten den Gutsherrn zu gewähren hatten. Die brutale Wuth des aufgeregten
Dorfpobcls hatte sich im vorigen Jahre hie und da an den Schlössern, sja am
Leben der Gutsbesitzer vergriffe«. Jetzt ist für die Gutsherrn die Zeit gekommen,
ihre Rechte geltend zu machen. Wo die Gesetze sie schützen, lassen sie sich Recht
sprechen, und deu Spruch des Gesetzes durch Execution vollstrecken. An einzelnen
Orten hat es dabei Tumulte gegeben. So hatte sich ans den Gütern eines Gra¬
fen Pfeil zwischen Reichenbach und Glatz ein Hanse von 300H Landleuten zum
Widerstande gegen eine Execution versammelt, welche unter Beihilfe einiger Com¬
pagnie« Soldaten vollzogen werde« sollte.
Vo« dem Schlosse des Gutsherr« vertriebe«, sammelte« sich die Aufsässigen
auf einem heiligen Berge, welcher mit Kruzifixe« besetzt und ein Gegenstand der
Verehrung für die Umgegend ist. Sie fielen aber trotz der Heiligkeit des Ortes
aus der würdigen Haltung, welche der passive Widerstand verleihen soll, heraus,
indem sie das Militär mit Steinen warfen und gröblich insnllirtcn. Vergebens
appellirte der Offizier an ihre Pietät gegen deu Ort — der Brantwein war stär¬
ker als der Glaube, die armen Burschen konnten nur durch eine Charge zur Ver-
ninift gebracht werden, die ein Menschenleben kostete. Wir haben den Verlockungen
des vorigen Jahres zu danken, daß mehrere solche Beispiele nöthig werden, um
dem verletzten Gesetz seine Autorität wieder zu verschaffen. Charakteristisch für
das Selbstgefühl, welches unsere größeren Grundbesitzer gewonnen haben, ist eine
Forderung, welche sie je^t durch eine Deputation in Berlin gestellt haben, und
die ihnen augenblicklich gewährt wurde. Sie verlangten vorläufige Sistirung aller
Prozesse, durch welche die Landleute bereits gezahlte Laudanum (Abgaben an die
Gutsherrn bei Besitzveränderungen) reklamirten. Die Forderung war ganz ge¬
recht und die Schnelligkeit, mit welcher der König ihr nachgab, ist dankenswerth,
aber die Sprache, welche die Gutsbesitzer der Grafschaft Glatz in ihrer Eingabe
führen, ist ebenfalls bezeichnend für den Umschwung der Verhältnisse. Hören Sie
folgende Stelle:
Aehnliche Beispiele von rechtskräftigen einander durchaus wider
sprechenden Erkenntnissen der Gerichte könnten wir noch zu Hunderten an¬
führen, wir wenden uns aber mit Al'schen hinweg von diesen Thatsachen, welche
der Rechtspflege des preußischen Staates zur größten Schande gereichen, weil sie
das Rechtsbewußtsein im Volke völlig untergraben, und das Eigenthum treuer
Staatsbürger den raubgierigen Händen rabnlistischer Anwälte und steucrnverwei-
gernder Juristen überantworten.
Wenn Diebe und Räuber uns unser Eigenthum nehmen, wenn eine Versamm¬
lung rebellischer Demokraten unser Jagdrecht vernichtet, in der lächerlichen Absicht,
die Landbewohner für die Zwecke der Revolution zu bewaffnen, so sind dies Ver-
luste und Nachtheile, die wir mit der Zeit verschmerzen können, sie sind momentan
und haben keine weitern Folgen.
Wenn man aber durch die vollständigste Anarchie in einem Theile der Gesetz¬
gebung die Proceßführnng zum Lotteriespicle macht, wenn man nicht nur unser
und unserer Insassen Eigenthum durch zahllose Prozesse gefährdet, sondern auch
alle Liebe, alles Vertrauen zwischen uns und unseren Insassen hinweggeräumt,
wenn mau leichtsinniger Weise uus, die Rittergutsbesitzer Schlesiens, als Betrü¬
ger an den Pranger stellt, als hätten wir von unsern Insassen Gelder gefordert,
die uns nicht zustanden, — als hätten wir sie um den Betrag der Confirmations-
gebühren betrogen, so müssen wir gegen solche Gesetze und ihre derartige Hand¬
habung energisch protestiren. Wir werden es mit allen uns zu Gebote ste¬
henden gesetzlichen Mitteln zu verhindern suchen, daß nicht ferner unsere Ehre
und unser Vermögen diesen höchst mangelhaften gesetzlichen Bestimmungen geopfert
werde. — -
Wir wollen uns freuen, daß ein ehrcnweriher und einflußreicher Stand die
Kraft wieder gewonnen hat, seine Interessen in solchen Ausdrücken zu verfechten,
aber wir wollen uns eines darüber freuen, daß wir jetzt endlich in die normale
Lage gekommen sind, mit gerechten Waffen unter dem Schutz der Gesetze gegen
eine starke conservative Partei kämpfen zu können. Und daß der nächste Kampf,
den der vernünftige Liberalismus in Preußen durchzumachen haben wird, nickt
mehr gegen die Demokraten, sondern gegen die streng conservative Partei der
Staatsgenossen durchzufechten sein wird, auch dafür kann man hinter den Zeilen
dieses Actenstücks den Beweis finden.
Kein bedeutender Charakter, aber ein Typus, in welchem sich die Eigenthüm¬
lichkeit unserer Bewegung, diese Mischung von Gemüthlichkeit und idealistischer
Abstraction, so deutlich wie in wenig andern ausgeprägt hat. Ein warmes Ge¬
müth, eine aufrichtige Ueberzeugung und zugleich eine grenzenlose Unbestimmtheit
in dem, was zu fordern, was zu thun sei. Was er wünschte, war ihm allmäch¬
tiges Gebot; und darum erschien ihm, was sich zwischen ihn und den Inhalt seiner
Ideale stellte, in keiner andern Bedeutung, als der negativen eines verrätherischen,
bösen Willens.
Ich sah ihn im Fünfziger-Ausschuß. Eine stattliche, etwas hagere Figur,
männlich anziehender Ausdruck und einnehmendes Wesen; dunkles Haar auf
blassem, etwas leidendem Gesicht, bewegte und klagende Stimme, in der Hal¬
tung ein chevaleresker Anstrich. Seine Sprache immer leidenschaftlich, aber ohne
eigentlichen Schwung. Mich verdroß bei ihm, wie bei den übrigen Preußen, die
in Frankfurt zurückgeblieben waren, diese Abneigung gegen ihr engeres Vaterland,
namentlich wenn ich sie mit dem entschiede» und laut ausgesprochenen Patnotis-
mns der Oestreicher verglich. Mau ging so weit, diesen den Hof zu machen, denn
sie hatten den Vorzug, antipreußisch zu sein. Nur trat bei Raveaux diese Anti¬
pathie nicht so gehässig hervor, als bei den Uebrigen, z. B. Heinrich Simon und
Jacoby, es war kein eigentlicher Haß; Preußen war ihm ungemüthlich, und darum
mochte er eS nicht leiden.
Raveaux war vielleicht der populärste Charakter in Köln. Wo nnr immer der
Rheinländer productiv war, ging er voran, von den Narrenfcstcn des Gürzenich bis zum
Dombau hinauf. Im Besitz eines reichlichen Vermögens, theilte er doch nicht den
Übeln Ruf der Bourgeoisie bei den entschiedenen Fvrlschrittömäuueru, denn er ge¬
hörte keinem bestimmten Staude, keinem bestimmten Geschäft an, und liebte es,
sich Privatmann zu nennen. Der Rentier, wenn er zu leben weiß, steht dem „Volk"
näher, als der Grundbesitzer, der Kaufmann, der Industrielle, denn seine Inter¬
essen gerathen in keinen bestimmten, sichtbaren Conflict mit den Classen, ans welchen
man jenen Begriff in der Regel zusammensetzt.
Als die Bewegung in Deutschland ausbrach, gehörte er zu jener rheinischen
Deputation, die zu den Berliner Barrikaden zwar nicht die Veranlassung, aber
die Gelegenheit gab. Nachher hat er sich an dem, was in Preußen vorging,
direct nicht weiter betheiligt, was für seinen Zweck, den preußischen Particularis-
mus zu Gunsten des einigen freien Deutschland zu brechen, nicht praktisch war,
denn von Innen heraus ist ein StaatSorgauiSMus viel bequemer zu unterwühlen,
als von außen umzustoßen. Schon im Fünfziger-Ausschuß stellte er den Antrag,
den gleichzeitigen Zusammentritt der preußischen Nationalversammlung mit der
Deutschen zu untersagen, in der Paulskirche wiederholte er ihn, und erwirkte
wenigstens den Beschluß, daß von dem Verfassnngswerk der einzelnen Staaten
nur dasjenige giltig sein sollte, was mit der Reichsverfassung nicht im Widerspruch
stände. Er war der Meinung, an der einheitlichen Repräsentation würde sich das
spezifische Preußenthum stärken; die sonderbare Verkettung der Umstände brachte
das Gegentheil hervor.
In der Nationalversammlung gehörte Raveaux überall zur Linken, aber nicht
zur kosmopolitischen, sondern zur spezifisch deutschen; auch hat er sich von den
Manövern seiner politischen Freunde, das Volk durch Lügen und Denunciationen
zu böser Leidenschaft aufzustacheln, stets rein erhalten. Er gehörte zum Club
Westendhall, deu Wcstiudieru, wie sie genannt wurden, oder auch der Linken im
Frack, einer Sammlung geläufiger und immer in sittliche Entrüstung zerfahrener
Redner, die durch Phrasen den Mangel an politischem Stoff zu verdecken suchten.
Er gab dem Erzherzog seine Stimme, „obgleich" er ein Prinz war, denn er sei
der erste deutsche Mann — wobei er übersah, daß dieses Factum Schock lich zur
Kenntniß des Publikums gelaugt wäre, wenn es sich nicht gerade um einen
Prinzen gehandelt hätte.
Der Reichsverweser war ein Mann nach seinem Herzen; diese Treuherzigkeit,
diese überall hervorquellende Gemüthlichkeit, von der Al'.nul«; i>c>IKii>ii«z bis in die
tiefsten Privatverhältnisse hinein. Er wurde eines mythischen Toastes wegen, den
er ausgebracht haben sollte, der Mann Deutschlands: Kein Oestreich! Kein Preu-' .
ßer! Ein einiges freies Deutschland! Es ist charakteristisch für unsere Nevolu-"
lion, daß diese Sage auf einem Mißverständnis) beruhte; die authentische Version >
lautete: Ein Oestreich! Ein Preußen! Ein einiges Deutschland! In seinem
Aufenthalt in Wien, wie auf seiner Rückkehr schwebte Raveaux in einer be¬
ständigen Exaltation der Entzückung: jetzt war alles Unheil überstanden, der
Mann war gefunden, der einfache, biedre, schlichte, herzige, gute deutsche Mann,
den man als den Typus der deutschen Nation ans den höchsten Stuhl setzen
durste. Das Palladium war im Tempel Se. Pauls aufgestellt, Deutschland war gerettet.
Bei der neuen Regierung fand Raveaux seine Stelle. Er ging als Ncichs-
gesandter in die Schweiz. Gern hätte er sich hier in ein gemüthliches Verhältniß
zu diesem stammverwandten freien Volk gesetzt, aber sein Schicksal ließ es nicht
dazu kommen. Im Auftrage des Reichs mußte er eine energische Note gegen die
eidgenössische Negiening richten, wegen der offnen und heimlichen Unterstützung,
die von Seiten der Eidgenessen den deutsche» Insurgenten zu Theil wurde, und
er mußte sich eine „befremdete" Zurückruf'eng dieser Note gefallen lassen.
Als im September die deutsche Reaction begann, gab er seine Stelle anf,
und kehlte in die Nationalversammlung zurück. Die Lage der Dinge hatte sich
sehr geändert; eine Illusion nach der andern mußte aufgegeben werden, und seine
Stimmung wurde von da an erbittert. Die östreichischen Biedermänner erklärten,
einer nach dem andern, daß die deutsche Reichsverfassung in ihrer Strenge doch
nicht auf Oestreich anwendbar sei; zuletzt rief Graf Albert Deym: Wenn ihr
wollt, daß Oestreich euch gehorche, so kommt und erobert es! — Erschüttert stieg
Raveaux anf die Tribüne. „Endlich hat ein Biedermann uns das schamlose
Spuk enthüllt, das in Oestreich mit uns getrieben, ist, endlich hat er ausgespro¬
chen u. s. w." — Aber auch an diesem Biedermann mußte er erleben, daß er
trotzdem gegen die Trennung Oestreichs von Deutschland stimmte, um die Bildung
eines deutschen Bundesstaats, der Oestreich gefährlich werden konnte, zu verhin¬
dern, und noch diese Erfahrung war nicht stark genug, sein Gemüth, das ihn
an die Idee des einigen Deutschland fesselte, zu überwinden, und ihn mit der ein¬
zigen Partei, die nach einem verständigen Plan für die Constituirung Deutschlands
wirkte, zu versöhnen. Bis zum letzten Augenblick gehörte Raveaux zu den ent¬
schiedensten Gegnern der nach dem Gagernschen Programm angelegten Verfassung.
Dann freilich unterwarf er sich ihr, und trat als ihr Vertheidiger auf, sobald die
Könige sich ihr widersetzten.
Eine neue Enttäuschung! Der „erste deutsche Mann" weigerte sich, für die
Verfassung einzutreten! Er bildete eine Negierung, die von dem einstimmigen Mi߬
trauensvotum der ganzen Versammlung empfangen wurde. Der Nest des Parla¬
ments gab den Reichsverweser anf, und verlegte seine» Sitz nach Stuttgart, wo
ein anderer deutscher Mann, Friedrich Römer, den treuen Kämpfern für das Reich
ein starkes, sicheres Asyl bot.
Die Versammlung wählte eine neue Regentschaft. Raveaux war der Name,
den ma» an die Spitze stellte. Nicht als Politiker, nur als ehrenwerther Mann,
dem Niemand etwas Böses nachsagen konnte. — Phantastischer und träumerischer
hat sich wohl nie eine NeichSregierung gebärdet! Die kühnsten, man kann sagen
ausschweifenden Ansprüche, und nicht die geringste Ueberlegung der Mittel, die
zu Gebot stände». Eine überspannte Energie des Worts, und eine absolute Nath-
lostgkeit der That.
Und das Ende? Friedrich Römer, der deutsche Mann, warf die Regent-
schast mit sammt der Nationalversammlung aus Würtemberg hinaus; er warf sie
hinaus, in dieses Worts verwegenster Bedeutung.
Nach dem schmählichen Ende der neuen Regentschaft, die keinen Anstand ge¬
nommen hatte, aus die naivste Weise ihre Decrete an alte preußische Generale
abzuschicken, verbreitete sich das Gerücht vou Raveaux's plötzlichem Tod. Bei
seiner hektischen Anlage und der fieberhaften Aufregung, in der er sich beständig
befinden mußte, hatte es einige Wahrscheinlichkeit. Wer will entscheiden, ob wir
ihn nicht beklagen sollen, daß dieses Gerücht sich nicht bestätigt hat. Sein Leben
ist nun verfehlt, denn er war mit voller Seele in den Traum der deutschen Re¬
volution aufgegangen, und die Wirklichkeit ist ihm unverständlich geworden. Er
wird nnn das bittere Brot der Verbannung kosten, in demselben Lande, dem er
früher als Vertreter einer mächtigen Regierung gegenübertrat, und wird vielleicht
auch von da seinen flüchtigen Stab weiter führen müssen.
Der Radikalismus der Badenser hat sich von dem der übrigen Deutschen —
wenn man etwa die Pfälzer und die Hanauer aufnimmt, die ihnen benachbart
sind — stets durch eine gewisse forcirte Rohheit ausgezeichnet. Die Nachbarschaft
der radikalen schweizer Cantone und der eben so radikalen französischen Departe¬
ments hat ihren Einfluß nicht verfehlt, und die weite Entfernung des eigentlichen
Feindes, den man zu bekämpfen hatte — denn nicht der Großherzog oder seine
Regierung war es, sondern der König von Preußen — hat die Chorführer dieser
politischen Partei an Großsprecherei gewöhnt. Schon die „liberale" Opposition
gegen das eigentlich auch schon „liberale" Ministerium Beck — die Welcker, die
Bassermann, die Mathy n. s. w. — befleißigte sich einer ungewöhnlichen Grobheit,
wer also „weiter ging," als diese vormärzlichen Kreaturen, mußte sie wenigstens
in dieser löblichen Eigenschuft zu übertreffen suchen. Die Politik hatte sich des
gesammten Volks so vollständig bemächtigt, daß es für keine andere Beschäftigung
mehr Sinn hatte, Kunst und Wissenschaft war ihm zuwider, und vielleicht lag
darin der Grund, daß Gervinus, Hauffer ^c. von vornherein so unpopulär waren.
Nimmt mau nun dazu, daß die reelle politische Wirksamkeit eiuen sehr beschränkten
Horizont hatte, daß dagegen der ideale Gesichtskreis sehr wenig concreten Inhalt
umfaßte, so wird man es begreifen, daß die unmittelbare Erscheinung der Freiheit
in Baden noch viel unangenehmer war, als selbst in der Schweiz.
Von den „Liberalen" Bayens gingen die Bewegungen für die constitutionelle
Centralisation Deutschlands aus; eS war also nur billig, daß die „Radikalen"
von Mannheim sich der Republikanisirung Dentschlands annahmen. Die ersten
Kämpfe im Vorparlament waren eigentlich badenser Localgeschicbte. Diese Lvcal-
geschichte, die in dem Aufstand von Hecker und später in dem Raubzuge Struve'S
nur eine vorübergehende Erregung verursachte, hat in dem Unternehmen Brentano's
zu der eben so traurigen als lächerlichen Schlußscene der deutschen Revolution
Veranlassung gegeben.
Herr Brentano gehörte zur Hecker'scheu Partei, aber ohne ihre Consequenzen
zu theilen, d, h. er predigte mit ihnen die bewaffnete Erhebung des Volks, nahm
aber, wenn es dazu kam, an derselben keinen Theil. Er faud sich alsdann, so¬
bald das Unternehmen mißglückte, in der sehr angenehmen Position, durch warme
Vertheidigung der Angeklagten — er ist seiner Profession uach Advokat — neue
Kränze der Popularität um sein Haupt zu sammeln. Er war deshalb einer der
anerkanntesten VoWmäuuer Badens, und die Stadt Mannheim hat ihn mehrmals
zum Bürgermeister gewählt, obgleich ihm jedesmal die Negierung ihre Bestätigung
versagte.
Ju der Nationalversammlung hat er sich, abgesehen davon, daß er von Zeit
zu Zeit die Legitimität der Wahl seines großen Freundes Hecker vertrat, uur durch
die eine bekannte Scene, die er veranlaßte, ausgezeichnet: das erste Erscheinen des
preußischen Selbstgefühls, hervorgerufen durch seinen eben so brutalen als unmo-
tivirteu Ausfall auf deu Prinzen von Preußen.
Daß er der intellectuelle Urheber der neuesten Bewegung gewesen, glaube
ich uicht; er hat, wie die andern Demagogen auch, von Zeit Reden -l I-r Jacob
Nadicke gehalten, worin im Allgemeinen das Volk aufgemuntert wurde, wach zu
sein gegen die Tyrannen, aber eigentlich hat sich der Aufstand von selbst gemacht.
Das Volk und namentlich die Soldaten waren verwildert durch die fortwähreudsn
Freischaarenzüge, Vvlksversamlungen n. dergl. und unzufrieden mit der geringen
Rolle, die sie spielten, die Regierung selbst war sehr schwach und so mußte wohl
der Ausbruch früher oder später erfolgen. Die Renitenz der Könige war die
willkommene Veranlassung und Brentano der allgemein bekannte Name, den mau
an die Spitze feste, um doch eiuen Namen zu haben.
Einerseits wird es ihm wohl schmeichelhaft gewesen sein, die hohe Stellung
eiues Dictators zu bekleiden, Minister und Generale zu ernennen, Ordonnanzen
zu erlassen, Revuen abzuhalten, Pässe zu ertheilen u. dergl., aber es ist ihm
wohl'auch von Anfang an unheimlich zu Muthe gewesen; denn ein vollständiger
Schwärmer, wie die jungen Leute, die wir neben ihm in der Function vou Dic¬
tatoren, Ministern und Generalen erblicke», war er uicht, dazu war er zu alt,
und ein verzweifelter Abenteurer, dem es darauf angekommen wäre, nur rasch die
Augenblicke zu benutzen und sich dann aus dem Staube zu machen, ebensowenig.
Er hatte sich in die Revolution hineingeredet und mußte sie nun über sich ergehe»
lassen, bon Fie mal Er beschäftigte sich eingestand lieh damit, vo» Zeit
zu Zeit sich in dem angemessenen Kostüm sehen zu lasse» und im Uebrigen Nichts
zu thun, da keiner auf den reactionären Dictator hören wollte, der zwar früher
daS Evangelium der abstracten Guillotine verkündigt hatte, nun aber doch säumig
war, sich im Detail dafür zu interessiren.
Zuletzt, als der Untergang der Revolution entschieden war, benutzte er die
erste passende Gelegenheit, die Miene des Beleidigten anzunehmen und die Dictatur
über das undankbare Volk, dessen Häupter er einst vor Gericht vertheidigt, nieder¬
zulegen. Man forderte ihn auf, zu bleiben, aber „da er wohl berechnen konnte,
welchen körperlichen Mißhandlungen ihn eine abschlägige Antwort ausge¬
setzt hätte, so zog er es vor, in der gastlichen Schweiz die nöthige Ruhe zu suchen."
Seine eigenen Worte. Die constituirende Versammlung verfolgte ihn darauf steck¬
brieflich als Landesverräther, und er replicirte mit einer Schilderung der Indischen
Bewegung, die alles übertrifft, was ihre Gegner ihr Arges nachgesagt haben.
„Die Sache des Volks liegt jetzt in solchen Händen, welche durch Grausamkeiten
ihre persönliche Feigheit, durch Lügen ihre geistige Unfähigkeit und durch Heuchelei
ihren niederträchtigen Eigennutz zu verdecken suchen." „Ihr werdet staunen, wenn
ihr seiner Zeit die Rechnung seht, wie man mit enrew Gelde gehaust" ... „So¬
gleich im Anfang unserer Revolution zogen sich Hunderte von Abenteurern in unser
Laud; sie pochten darauf, daß sie für die Freiheit gelitten, sie wollten ans euern
Kassen den baaren, klingenden Lohn erhalten; vor uniformirten, schlcppsabeltragen-
den Schreibern konnte man kaum mehr über die Straße» der Stadr Karlsruhe
gehen; von eurem Gelde schwelgte« diese Müßiggänger, und wer diesem Treiben
entgegentrat, der mußte sich einen engherzigen Spießbürger, wer nicht Jeden seiner
entgegengesetzten politischen Meinung wegen I-t Windischgrätz verfolgen wollte,
einen Verräther schelten lassen." „Eine Versammlung (hervorgegangen aus
dem allgemeinen Wahlrecht des souveränen Volks), deren Mehrheit
aus ganz unfähigen, gewöhnlichen Schreiern besteht, bot das kläglichste Bild einer
Volksvertretung, welche je getagt, und welche ihre» gänzliche» Mangel an Einsicht
lind Kenntnissen hinter sogenannten revolutionären Anträge» verberge» wollte, die
heute zum Beschluß erhoben, morgen als unausführbar wieder umgestoßen werden
mußten." „Ich bin in der Lage, einer großen Anzahl der ärgsten Maulhelden
nachzuweisen, daß sie unter allerlei Vorwänden die gefährlichen Aufträge als un¬
würdig ablehnten, sich zu andern aber herbeidrängten, welche sie auf Staatekvsteu
fern von dem Platze der Gefahr entrückten."
So innig wir von der Wahrheit aller dieser Erklärungen überzeugt sind, so
wenig finden wir darin eine Rechtfertigung des Herrn Brentano. Daß die Wirth¬
schaft so kommen müsse, hatte er voraussehn können. Es ist Zeit, daß unser Ur-
theil sich darau gewöhnt, diejenigen, welche einen unsinnigen Aufstand erregen n»d
sich nachher aus dem Staube macheu, wenn es Ernst wird, härter zu brandmarken,
als die sinnlose Masse, die solchen Führern folgt, wenn sie sich nachher anch toller
gebärdet, als isle Chefs und der verspätete» Kritik dcrsilbe» verfällt, die nichts
weiter mehr zu verrathe» im Staude ist, als die eigene Gemeinheit.
Nach zwei Tage» der fürchterlichste» Aufregung und darauf folgender Ab¬
spannung, gewinne ich endlich Muße, Ihnen die Details des Erlebten, so aus¬
führlich, als mir möglich, zu schildern. Und Vieles habe ich gesehen und erlebt
im kurzen Zeitraum vou vierundzwanzig Stunden, was mir ewig in seinem gan¬
zen Grauen in der Seele bleiben und auch Ihnen vielleicht in dem schlichten Ge¬
wand , in welchem ich es hier biete, ein nicht,so leicht vergängliches Interesse ge¬
währen wird.
Sie wissen, daß wir schon seit Wochen vor der kleinen, zwar wohlvertheidig¬
ten aber doch nicht uneinnehmbaren Festung Fridericia liegen. Und wir lagen
im vollen Sinn des Worts, denn unsere Hauptbeschäftigung war der süße Schlaf,
mit welchem wir uus die Zeit vertrieben, wenn wir nicht auf Requisitionen aus¬
gesendet worden waren. Nur zuweilen, im Tage höchstens ein oder zweimal, warf uns
der Däne eine Bombe in die Schanzen, welche ans Faschinen und Sand aufge¬
worfen, uns einen ziemlich genügenden Schutz gewährten. Selten aber ward es
unseren jungen, vor Ungeduld fast verzweifelnden Artilleristen, erlaubt, diese Fcin-
desgrüße energisch zu erwiedern. Die Ursache unserer Unthätigkeit wissen Sie
jedenfalls besser, wi? wir, denn der Stand der politischen Angelegenheiten wird
uns im Lager immer erst drei Wochen zu spät bekannt, wenn irgend eine Zeitung,
etwa die SchlcSwigsche oder der Altonaer Merkur, sich zu uns verirrt; bis an
mich die Reihe kam, war aber das Blatt gewöhnlich schon so zerlesen, daß eine
thätige Phantasie viele Lücken ergänzen mußte. Genug, wir blieben in unbegreif-
lichen Zaudern liegen, wo wir waren; aber schon murrte der Soldat, flüsterte
von Verrath und diplomatischen Ränken und glühender Haß flammte in manchem
Ange, wenn uns der Name des Oberbefehlshabers ^genannt wurde. Ich könnte
Ihnen mancherlei über die höchst sonderbaren Gerüchte erzählen, welche hinsichtlich
der Kriegsführung unter uns circulirten, aber ich unterlasse es, um zu Interessan¬
terem zu kommen.
Fridericia liegt dicht am kleinen Belt, welcher hier so schmal ist, daß die
gegenüberliegende Insel Fünen mit dem leichtesten Boot und in weniger als fünf¬
zehn Minnten erreicht werden kann. Der Verkehr zwischen der letztem und der
Festung wurde immer lebhaft unterhalten, steigerte sich aber in den ersten Tagen
des Juli so sehr, daß es auffallen mußte. Unsere Vedctien und Wachen sahen
so viele große Schisse gehen und kommen, daß sich im Heer eine ernstliche Be-
sorgniß zu verbrcueu begann. Doch nein, Besorgniß ist nicht das rechte Wort;
wir wünschten ja nichts sehnlicher, als so bald als möglich, dem Feind Stirn an
Stirn gegenüberstehen zu können. Unsere Oberen trafen übrigens keinerlei Ma߬
regeln, welche der Erwartung Aller entsprechen konnten; wir beruhigten uns, denn
wie oft schon waren wir enttäuscht worden. Der Morgen des fünften Juli brach
rauh und neblig an. Ein mit feinen Wassertheilchen imprägnirter Wind schüttelte
uns das Mark in den Knochen und die großentheils aus Stangen, Brettwcrk und
Stroh gebauten Lagerhütten konnten, trotz der großen Wachtfeuer, welche den
ganzen Tag vor jeder Gasse unterhalten wurden, kaum Schutz gewähren. Ich
war daher sehr froh, als ich mit zwölf Mann commandirt wurde, vier Brotwagen
von dein anderthalb Stunden entfernten Dorfe Hagelnnd abzuholen und zu eöcor-
tiren. Ich bin nämlich, beiläufig gesagt, seit vier Wochen eine Stufe auf der
Leiter zum Feldmarschall höher geklommen, und wohlbestallter Unteroffizier im
vierten Schleswig-holsteinischen Jägercorps. Meine Mission war um drei Uhr
Nachmittags vollbracht; wir krochen in unsere Lagerhütten und machten es uns
bequem. Bald auch stand der mächtige Kupferkessel, ein Gefäß von unschätzbarem
Werth, da es zu allen möglichen Verrichtungen der Kochkunst dient, über dem
Feuer, das Wasser brodelte lustig darin und unser Feldwebel schickte sich an, aus
den wunderbarsten Ingredienzien, die Ihnen wohlbekannte, hoffentlich noch un¬
vergessene, Kriegsbowle zu brauen. Einige flotte Bursche hatten schon vorher in
der benachbarten Lagergasse ein kleines Zechgelage begonnen und frisch und fröhlich
tönte ihr Gesaug zu uns herüber. Es wird mir stets im Gedächtniß bleiben, dies
Lied. Es war Herwegh's Neiterlied und eben klang die Strophe: Du junges
Gras, was stehst so grün? Wirst bald wie lauter Röslein blühn — als von
allen Seiten»die Signalhörner ertönten, Schüsse sielen und die Offiziere zu den
Waffen riefen. In freudiger Hast und in wenigen Augenblicken standen wir auf
unseren Sammelplätzen. Die Dänen hatten in zwei Colonnen mit etwa fünf
Bataillonen, aber ohne Geschütz einen Ausfall gemacht. Wir Jäger rückten im
Sturmschritt vor, bis zu deu Schanzen, hier bildeten die beiden ersten Compagnien
allsogleich eine Tirailleuvlinie und der Augriff auf deu Feind erfolgte mit Ungestüm.
Aber die falschen Rothröcke hielten nicht Stand, kaum hatten wir zweimal gefeuert,
ja ehe noch die Artillerie unserer Schanzen thätig wirken konnte, waren sie schon
wieder verschwunden und von ihren Navelins herab brummte» die Vierundzwanzig-
pfünder den hitzigen Bcrfolgcui drohend entgegen. Das Commando zum Rückzug
erfolgte und nach einer Stunde befanden wir uns wieder in unseren Hütten.
Schon zu oft hatten die Dänen dasselbe Spiel getri?ben, als daß wir uns so sehr
darüber hätten ärgern müssen, um die augefanqene Bowle nicht auch zu Eude zu
bringen. Im Gegentheil, wir lachten und scherzten, wie selten, besonders als sich
herausstellte, daß wir bei unserem Angriff nicht den mindesten Verlust erlitten
und nichts eingebüßt hatten, als eine Rnhcstnnde. Wer daher nicht Wache hatte,
suchte nach neun Uhr seine Lagerstätte so unbesorgt, wie gewöhnlich und bald war
auch ich im tiefsten Schlaf versunken.
Es mochte gegen ein Uhr sein, als der Allarmruf uns weckte. Wirr und
halb noch im Traum ergriff ich meine Waffen, die Kleider legten wir natürlich
niemals ab, und trat hinaus auf den Sammelplatz. Aber da war weit größere
Verwirrung als gewöhnlich, denn schon knallte es draußen an den Schanzen,
schon flogen mit feurigem Schweif die pfeifenden Bomben durch die Lust und die
Leuchtkugeln stiegen in den dunkeln Himmelsraum gleich Meteoren, wüstes Geschrei,
Waffcngetlirr erschallte ohrbetänbend von allen Seiten — man sah, es mußte
etwas Außerordentliches vorgegangen sein. Ehe man nur noch Zeit zur
Besinnung hatte, schmetterte schon das Signalhorn zum Angriff— in Sturm¬
schritt, vorwärts Marsch! Das vierte Jägercorps stand in wenigen Minuten
dem Feind gegenüber. Diesmal war es ernstlich gemeint. Die Dänen halten seit
Tagen Verstärkung an sich gezogen und waren mit 15 bis 20 Bataillonen vor
uns, während wir ihnen lange nicht die Hälfte entgegen zu stellen vermochten.
Eine lange Kette von feindlichen Tirailleurs, welche in der Dunkelheit wie eine
PaUisadenrcihe sich uns gegenüber ausdehnte, eröffnete allsogleich ein ununter¬
brochenes Feuer auf uns. Aber wir Jäger achtete» wenig auf die verrätherischen
Dvppelkugeln der falschen Dänen, unsere Tirailleurs liefen voran mit lautem Hurrah,
die treuen Büchsen erwiederten muthig die feindliche Botschaft. Plötzlich öffnet sich die
dänische Tiraillenrkette, ein Glntstrom wallt uns entgegen, rings um mich prasselt
und kracht es, wie Schloßenwetter im dürren Wald, zwei dänische Batterien spieen
uns einen verheerenden Kartätschenhagcl entgegen. Von diesem Angenblick an
habe ich für die nächsten Minuten einigermaßen die Erinnerung verloren. Wohl
sah ich rechts und links Freunde und Kameraden fallen, aber ich hatte keinen
Scheideblick für sie, mechanisch lud ich die Büchse und schoß ab, so lang ich die
Summen unserer Offiziere und die Hörner holte. Es waren gräßliche Augen¬
blicke. Es kam mir vor, als sei ich ganz allein in dem dichten Pulverdampf,
der mich umgab, nud es wäre leicht möglich gewesen, daß ich gerade ans dem
Feind zugelaufen wäre, wenn nicht die Blitze des Geschützes aus der Festung,
welche mit furchtbarer Schnelligkeit sich folgten und die Leuchtkugeln mich orientirt
hätten. Ebenso mechanisch, als ich vvrangcschntten, gleichsam instinctmäßig, schritt
ich rückwärts, ehe ich noch recht wußte, wohin mich wenden. Plötzlich stol¬
perte ich und fiel — ein Verwundeter lag im Wege. Es war unser Feldwebel,
ein ehemaliger Apotheker aus dem Rheinland. „Dn bist's?" sagte er zu mir;
„mit mir ist's vorbei; versprich mir, daß Du meiner Mutter meinen Gruß schrei¬
ben willst!" Ich drückte ihm nur die Hand, das Signal zum Rückzug war eben
gegeben, schwere Fußtritte verkündeten das nahe Anrücken einer geschlossenen Fein-
descolonne und als ein jäher Windstoß den Pulverdampf vertrieb, marschirte,
kaum noch fünfzig Schritt von uns entfernt, ein dänisches Regiment mit gefälltem
Bajonnett gegen uns heran. Unsere Reihen waren sehr gelichtet, aber der Jnstinct
des geschulten Kriegers hatte uns ziemlich im Glied gehalten. Noch einmal in
tätlichster Nähe wechselten wir mit dem Feind die Geschosse — aber es war un¬
möglich , seinem Bajonncttangriff und den furchtbaren Salven seiner Artillerie zu
widerstehen. Ja sogar von Fünen herüber warf die Strandbatterie Strüb Bom¬
ben und Sechsunddreißigpfünder in unsere Reihen, während unsere BelagerungS-
geschützt, deren wir bei Weitem nicht die genügende Anzahl besaßen, verhältni߬
mäßig nur geringen Schutz gewähren, noch weniger das Feuer des Feindes zum
Schweigen bringen konnten. Noch in ziemlicher Ordnung, aber doch nicht mehr
in geschlossenen Gliedern, wandten wir uns, ich will es sagen, ohne mich zu schä¬
men, im schnellsten Lauf zur Flucht und warfen uns in die Schanzen. Ich kam mit
dem Nest von vier Compagnien in die Süderschanze. Mit einem tiefen Athemzug
iU'erflog ich ängstlichen Blicks das Häuflein meiner Kameraden — über die Hälfte
fehlte und nur noch zwei Offiziere waren unter uns! Aber es war nicht Zeit zu
laugen Betrachtungen — der Feind stürmte unsere Schanzen! Noch einmal ent¬
spann sich ein furchtbarer Kampf, der auf unserer Seite wahrhaft mit Verzweif¬
lung geführt wurde, und nochmals unterlagen wir. Fast alle Bedienungsmann¬
schaften der Schanzenbattcrie waren gefallen, zwei oder drei Kanonen demontirt
worden, und der Däne überschüttete uns wahrhaft mit einem Kugelregen. Es
dünkt mich heute uoch ein Wunder, daß ich unversehrt daraus hervorgegangen
oder vielmehr gelaufen bin. Schon war die Schanze theilweise umgangen, theil¬
weise erstiegen, wir Jäger vertheidigten uns noch so lange, bis die Kanonen sämmt¬
lich vernagelt waren. Dieses letztere Geschäft habe ich den Lieutnant Christians«»:,
ganz allein mit der größten Kaltblütigkeit verrichten sehen. Endlich war jeder
längere Widerstand unmöglich und wir flohen — wir flohen zum zweitenmal vor
einem Feind, welcher niemals unsern Rücken gesehen, uns nie lang genng in's
Auge geblickt hatte, um uns recht kennen zu lernen. Natürlich war jetzt an Ord¬
nung und Zusammenhalt nicht mehr zu denken. Ich rannte blindlings dem Lager
zu, indem ich unterwegs meine Spitzkugelbüchse lud. Aber o Schrecken, in einem
rothen Feuermeer flackerten schon die Lagerhütten auf und ihr Brand zeigte mit
Tageslu'lie den Feind schon in unserem Rücken. Da galt kein langes Zaudern, ich
wandte mich rechts und nordwestlich, eine große Anzahl Flüchtiger war mir schon
in dieser Richtung vorausgeeilt. So gelangte ich keuchend durch die Oeffnung
einer Knicke auf ein großes Brachfeld, als ich plötzlich angerufen wurde und einen
Gcwe'irlanf vor mir blinken sah. Trotz meiner Ueberraschung klang mir die Stimme
so bekannt, daß ich augenblicklich meinen Namen ausrief. „Gott sei Dank;" schallte
die Antwort und aus der Furche erhob sich ein lieber Freund und Kamerad,
„wahrhaftig, ich hielt dich für einen Rothrock, es ist mir heute alles roth vor
den Augen." Wir setzten unsere Flucht gemeinschaftlich fort. Es dauerte einige
Zeit lang, bis wir auf der anderen Seite des Feldes durch die dichte Hecke, ge¬
langten. Wir befanden uns auf einem Weg, den wir zu verfolgen beschlossen.
Aber nur wenige Schritte hatten wir zurückgelegt, als gerade vor uns ein Schuß
knallte — mein eurer Freund stürzte lautlos zusammen und drei dänische Drago¬
ner sprengten aus dem Schatten der Knicke auf mich zu. Der vorderste, oder
vielmehr wohl nur sein Pferd, stürzte von meiner Kugel und versperrte den bei¬
den Nachfolgenden so den sa malen Weg, daß ich mit Aufopferung eines
großen Theils meiner Kleidungsstücke mich durch die Hecke zurückdrängen konnte,
unbekümmert um die Pistolenkugeln, welche mir die dänischen „Grützereiter" nach¬
sandten. Sie verfolgten mich nicht, wahrscheinlich plünderten sie meinen gefallnen
Kameraden, oder hörten, wie ich im Lauf eine neue Kugel aufsetzte. Nach man¬
cherlei Umwegen begegnete ich achtzehn Mann meines Corps, welche in einem ge¬
regelten Häuflein marschirten, fest entschlossen, sich muthig durchzuschlagen oder
zu fallen. Ich schloß mich an sie an und kam mit ihnen Morgens um fünf Uhr
nach dem Dorfe Jordrup, welches seitwärts von der Straße nach Vene liegt.
Hier fanden wir viele von unsern Kameraden schon vor — ach, es waren doch
Nur Wenige im Vergleich zu deuen, welche wir vermißten. Erst jetzt, von Freun¬
den aufmerksam gemacht, gewahrte ich, daß ich verwundet sei, ein Streifschuß
hatte mich am linken Bein getroffen. Die letchte Wunde schmerzte fast gar nicht,
weit mehr die,vielen Dornen, mit welche ich mir in den Knicken den Körper ge¬
spickt hatte. Unser Aussehen war fürchterlich , die Gesichter schwarz von Pulver,
die Monturen zerrissen, fast Alle blutend, selbst die uns spinnenfeindlichen Juten
schienen ein menschliches Regen zu fühlen und brachten Wasser, Brot und Brannt¬
wein. Ein großer Trost war uns das Eintreffen der Avantgarde nnter Major
v. Zastrow, welche zum Succurs herbeieilte, und nach kurzer Rast sogleich im
Eilmarsch weiter marschirte. Viele der Unsrigen schlössen sich derselben an; ich
wollte das Gleiche thun, aber ein Arzt vom ersten Jägercorps, der zur Pflege
der Verwundeten zurückblieb, untersagte mir es auf das Strengste. So ward ich
denn in ein Bauernhaus einquartirt, wo ich ein Paar Tage Quarantaine halten
und Grütze mit Wässer essen muß — letzteres betrachte ich als zeitliche Strafe
meiner Sünden. Heute Morgen marschirten die Reste unserer Armee auf der
Flucht hier ein — noch heute Abend rctiriren wir bis nach Vene. Das erste
und zweite Jägercorps sind bis um 11 Uhr noch in heißem Gefecht gewesen.
Eine blutige Schlacht ist geschlagen worden und wir haben sie leider verloren.
Noch kann ich es Ihnen nicht angeben, wie groß unser Verlust an Menschenleben
im Ganzen ist; jedenfalls ist er bedeutender, als der aller vorhergehenden Affairen
dieses merkwürdigen Kriegs zusammengenommen. Vom vierten Jägercorps fehlen
heute noch zwei Dritttheile der Mannschaften und drei Viertheile der Officiere;
beurtheilen Sie darnach, ob wir nicht das Unsrige gethan haben. Wenn nur der
Argwohn jetzt nicht mit doppelter Macht wiederkäme, der uns täglich die Befürch¬
tung .ins Ohr bläst: ES wird ein falsches Spiel mit Euch getrieben!
Sie wissen, daß seit 14 Tagen die ungarische Grenze möglichst hermetisch ge¬
sperrt ist. Die Insurgenten bcziehcMun CÄouial-, Luxus- und Fabrikwaaren ganz aus
England, durch Vermittlung türkischerWairde, unsere Kaufleute und Spediteure
aber sind vor der Schmach bewahrt, an/Rebellen Geld zu verdienen, und besehen
auch nicht einen böswilligen Kreuzer meW^. Außer dem national-ökonomischen
Segen hat die Sperre auch eiuen publizistischen Vortheil zur Folge. Früher
pflegten hin- und herreisende Kaufleute, wie im Orient, als lebendige Zeitungen
zu dienen, und mau glaubte ihnen mehr als den gedruckten; jedenfalls brachten
sie manche Kunde, die das richtige Verständniß der sibyllinischen k. k. Bulletins
erleichterte. Dies hat jetzt aufgehört, die gutgesinnten Journale haben diese ge¬
fährliche Concurrenz nicht mehr zu fürchten, und es gelingt ihnen daher, die
Magyaren täglich zwei, dreimal auf's Haupt zu schlagen. Bem und Pertzel sind
etwa zehnmal vernichtet worden, währeud Kossuth und Görgey bereits zwanzigmal
sich „übergeben" (wie man hier sagt) und selber gebunden ausgeliefert haben.
Eine mäßige Berechnung der Wunden, welche Bem von hiesigen Stahlfedern bei¬
gebracht wurden, ergibt, daß vou ihm höchstens noch das linke Ohrläppchen und
ein Schatten der großen Zehe des rechten Fußes übrig sein können, aber mit
Hilfe dieser zwei Gliedmaßen manövrirt der polnische Satanas in Siebenbürgen
und im Banat dermaßen, daß dem armen alten Puchner und dem Russen Lüders
der Schweiß von der Stirne rinnt.
Klimpern gehört zum Handwerk, und da man in modernen Bürgerkriegen fast
noch mehr Dinte als Blut vergießt, so läßt sich wohl annehmen, daß drüben wie
hüben Einiges gelogen wird. Die Methode ist jedoch sehr verschieden. Nach
dem zu urtheilen, was mir von ungarischen Zeitungen zu Gesichte kam, muß ich
den Kaiserlichen die Palme zuerkennen. Großes leisten die deutschgeschriebenen
Blätter in Pesth, deren Autoren, ausgediente Theaterrcferenten der fenster und
feigsten Sorte, jetzt als.charaktervolle Publizisten an der schwarzgelben Fahne
gutzumachen streben, was sie im letzten Winter an der magyarischen Tricolore
versündigt haben; denn als Windischgrätz in Pesth residirte, arbeiteten dieselben
Tacitusse mit derselben Feder gegen Debreczin, die sie jetzt gegen Wien aus¬
spritzen. Dagegen trägt alles Schriftwerk, was von Bem und DembinSki ausgeht,
das Gepräge chevaleresken Anstandes und großer Einfachheit. Die Aufrufe,
Schilderungen und Verordnungen ans eigentlich ungarischer Quelle klingen oft
von dem hyperbolischer Pathos wieder, das diesem schwer- und heißblutigen,
halborientalischen Neitervolk eigen ist. Indessen, ein Völklein von fünf Millionen,
zu dessen Unterjochung, sich zwei kolossale europäische Großmächte virilms nullis kaum
ausreichen, darf schon mit stolzerem Sporengeklirr von sich sprechen, und wenn
eine Dosis Terrorismus jemals zu entschuldigen ist, so mag es in so ungleichem
Kampf eines zur Verzweiflung getriebenen Stammes sein. Das Publikum, zu
dem Kossuth, Görgcy, Klapka u. s. w. reden, ist an starken Wein gewöhnt, und
lächerlich wäre es, von Männern, die mit dem Strick um den Hals fechten, die
pragmatische Ruhe und die statistische Genauigkeit ihrer künftigen Biographen im
Konversationslexikon der Gegenwart zu fordern.
Wie accompagnirt nun die hiesige Presse den Waffenlärm an der Theiß und
Donau! Aus der verzweifelten Bildersprache und den sturmgcjagtcn Annalen der
Magyaren weht ein Hauch von Poesie, aus der gedruckten Wiener Gutgesinntheit
das Gegentheil, (worunter ich nicht etwa gute Prosa verstanden wissen will). Die
sichere Ferne des Kriegsschauplatzes, das Bewußtsein numerischer Ueberlegenheit
und „der Gerechtigkeit ihrer Sache" sollte den kaiserlichen Annalenschrei-
bcrn doch etwas mehr Unparteilichkeit und Ruhe einflößen. Statt dessen nimmt
ihnen die Leidenschaft so sehr alle Besonnenheit, alles Gedächtniß und Geschick,
daß sie sich weher thun als den Magyaren, und es ist komisch, wenn die Gut¬
gesinnten darüber wüthen, daß Oestreich von böswilligen Korrespondenten in aus¬
wärtigen Blättern angeschwärzt werde, während sie, um diesem Unheil vorzubeu¬
gen, die Ausfuhr sämmtlicher Wiener Journale aus Oestreich verbieten müßten.
Eine Legion hämischer Korrespondenten könnte sich ja bei einer Sue'schen oder
Dumasschen Erfindungsgabe nicht all das tragikomische Zeug erdichten, was
„Lloyd" und „Wiener Zeitung" aus Oestreich melden. Selbst die offiziellen
Gassenzeitungen, ich meine die Plakate der Civil- und Militärbehörden, kommen
von den Gassenccken in die Journale und so in's Ausland, wo sie, wie ich merke,
in usum nonuli, stets getreulich abgedruckt und mit Frage- und Ausrufungszeichen
commentirt werden. Was übrigens die halb und ganz offiziellen Kriegsberichte
betrifft, so kann jeder Schulknabe die plumpen Widersprüche darin nachweisen.
Zum Beweise haben sie selbst bei dem kindlichen Wiener Publikum aller Farben,
trotz des Zwangskurses, den sie gleich den neuen Ccntralcasscnschcinen besitzen,
allen und jeden Kredit verloren.
Lüge, ihr Herren, lügt in's Aschgraue, aber thut es mit einigem Verstand
und schlagt nicht jeden Augenblick aller Erd- und Völkerkunde, der Regel de Tri
und dem Einmaleins in's Gesicht. So unterhalten sich, um ein echtuugariscl es
Beispiel anzuführen, die Blätter seit einer Woche von dem steigenden Cours des
Pferdefleisches in Venedig! Wahrscheinlich hat der Erfinder dieses patrioti¬
schen Gerüchtes von Heu- oder Cecpfcrden geträumt. Die Lagunenkavallcric hat
durch die venetianische Hungersnoth schwerlich gelitten. Daß der geborene Vene---'
klarer das Pferd nur aus Büchern kennt, wie die Wiener Lyriker den Pegasus,
und daß die Gondelstadt nie einen Reitsattel oder Wagen sah, kann seine gute
Gesinnung freilich nicht anfechten.
Auf eine pfiffige Taktik der gutgesinnten Blätter gegen Ungarn muß ich Sie
aufmerksam machen. Jeden Morgen und Abend wird eine Kartätschenladung haar¬
sträubender Berichte von unnützen Gräuelthaten und unausführbaren Verräthercieu
der Magyaren losgcfeuert. Nach einigen Tagen, wenn die mit Pomp auspo¬
saunte grausige „Morithat" die Runde durch alle Provinzialblätter gemacht und
den Weg bis nach Augsburg, Berlin und Frankfurt gefunden hat, pflegt sie ohne
Aufsehen, in irgend einem kleinlauten Winkel des loyalen Blattes mit kleiner
Schrift widerrufen zu werden. Zuweilen widerlegt sich das abenteuerliche Mon¬
strum von selbst dnrch einen Nachbarartikel aus der Nebenspalte. Neuerdings ist
die ganze detaillirte Geschichte von der Pesthcr Contrerevolution gegen Kossiith
für eine leere, aber wohlgemeinte Voraussetzung erklärt worden, und als das Ge¬
rücht, Görgey sei übergegangen, durch den Kanonendonner bei Anz schlagend wi¬
derlegt wurde, erklärte die Preßburger Zeitung, Görgey habe wohl die Absicht
gehabt, überzugehen, allein es fehle ihm an Muth dazu. — Vor Raab und
Anz stellten unsere Rnhmesherolde den jungen Kaiser, auf ihre eigene Verantwor¬
tung, in deu dichtesten Kugelregen, Görgey aber ließen sie unter dem Schutz der
Kanonen der Festung (Komorn) verweilen. Anz liegt ans dem rechten Ufer, Ko-
morn auf der Schüttiuselspitze, und die Donau ist dort ziemlich breit. Die mi¬
kroskopischen Augen des Bulletins ernannten jedoch, trotz der ungeheuern Entfer¬
nung, den Görgey an seinem rothen Attila, und am nächste» Tage meldete ein
nachträglicher Bericht, daß Görgey in derselben Affaire, wo er sich so weit vom
Schuß hielt, verwundet wurde. Kossutl), heißt es anderswo, sucht dem Volk die
russische Intervention als ein Ammenmärchen, einen blinden Schreckschuß u. s. w.
darzustellen. Aber in demselben Blatt findet sich ein magyarischer Aufruf, der an
den Straßen Pesth's kleben soll, worin das Vaterland in Gefahr erklärt und die
Nation aufgerufen wird, huudcrttausendarmig drciuzuschlagen, gegen die russische
Schergenarmee. So geht's mit Grazie i» inlinitnm.
Vollends jedoch „erbricht sich das Laster," sobald Fama den unbedeutendsten
Vortheil über die Magyaren Hieltet. Sogleich besteigt die servile Tugend das
alte Steckenpferd und schimpft über die „Feigheit" der Rebellen. Wie ritter¬
lich, wie würdig und wie klug? Denn je größer die Feigheit der Insurgenten,
desto höher wächst der Lorbeerwald des vereinigten russisch-östreichischen Heeres.
Geben Sie Acht! Es ist möglich, daß die Trauben reisen und faulen und daß
der Schnee auf dem breiten Scheitel des Nabeubergs flimmert, ohne daß wir das
letzte Bulletin von Paokicvich oder Haynan gelesen haben und doch wird an der
Langwierigkeit des Krieges Niemand Schuld gewesen sein als eben die erbärmliche
Feigheit der Magyaren!! —
Thut Buße, denn das Himmelreich ist nahe. DaS Standrecht hat nicht nur
das Seitenpförtchen, sondern auch das große Thor des Himmels weit aufgerissen;
die Welt ist grau angestrichen, als sollte es ewig Aschermittwoch bleiben, in den
öffentlichen Caffeh sitzen die Zeitungsleser, wie die schweigsamen Mönche von
la Trappe nebeneinander, und halten sich an das geschriebene, offizielle Wort,
ohne weiter nach der mündlichen Ueberlieferung in verwegener Neugier zu fragen.
Die Zeiten sind vorüber, wo es hieß: „in Ermangelung eines Freimannes wurde
das Urtheil durch Pulver und Blei vollzogen;" wir haben keine Executionen aus
dem Stegreif mehr, sondern sind wieder bei den solennen formgerechten Hinrich¬
tungen angelangt. Der Galgen ist nur der Grenzpfahl zwischen dem Absolutis-
mus und der Demokratie; er zeigt an, daß das Reich der Freiheit nicht von die¬
ser Welt sei. Diese „Säule der Vergeltung," die fatalistisch aus Ungarn herüber-
drobt, hat uns wieder den Glauben an die göttliche Vorsehung zurückgegeben;
ihr Anblick hat unser Herz in jene zerknirschte Stimmung gebracht, die durchaus
erforderlich ist, damit der Hirtenbrief der bischöflichen Synode von Wien auf uns
wohlthätig einwirken könne. Was die letztere betrifft, so wäre ich sehr dafür,
daß sie noch nicht auseinandergehen solle; denn ihre Sendung ist nicht früher er¬
füllt, als bis sie das Debreczin'er Parlament, welches Haynau in seiner letzten
Proclamation den Göttern der Unterwelt weihte, zum Tode vorbereitet hat.
Dieses Volk hört aber nicht auf, zu freveln wider Gott und jetzt noch, „wo
sich der Zorn Gottes so sichtbarlich über die Erde ergießt," hat man eine republi¬
kanisch-socialistische Verschwörung entdeckt. Hören Sie die schreckliche Geschichte.
Zwei Studentenverbindungen in Prag, die „Markomanuia" und die „böh¬
misch-mährische Brüderschaft," die eine urdeutsch und die andere urslavisch, rauch¬
ten die Friedenspfeife miteinander und einigten sich in dem gemeinsamen, demokra¬
tischen Glaube«. Sie gössen Freikugeln in der Wolfsschlucht, und eine jede
war bestimmt für ein fürstliches Haupt. Sie gruben geheime Minen, welche
aber zum Glück die k. k. Untersuchungscommission entdeckte, um die Throne Euro¬
pas in die Luft zu sprengen. Sie standen in Verbindung mit der Umsturzpartei
von Dresden, mit der pfälzisch-baden'schen Jnsurrection, mit den Montagnards
in Paris, mit den polnischen Emigranten, mit Tausenau und Bakunin. Aber
die unermüdliche Umsicht und Wachsamkeit der Prager Polizei hat diese schändli¬
chen Pläne vereitelt; KhevenlMer weiß alles und hat sämmtliche Papiere in seiner
Hand. Etwa 45 Verschworene, im Alter von 18—22 Jahren, winden im Ver¬
laufe der letzten Wochen zur Nachtzeit gefänglich eingezogen, die Häupter der
Verschwörung, Nittig und Ermcr schon früher als „des Hochverraths rechtlich
beanzeigt," steckbrieflich verfolgt und der letztere bereits in Ketten hier eingebracht.
Was sollte der Student wohl anderes sein, als Republikaner! Aber seine
Republik ist nicht die rothe und trägt nicht die Farbe der rücksichtslos-blutigen
That; sie ist vielmehr die unbegreifliche blaue Blume des Novalis, die er überall
sucht, und' nach der sich sein Herz träumend sehnt! Jetzt geht er in der Stube
grimmig auf und ab, seinen Don Karlos, den er auswendig lernt, in der Hand;
er stellt einen Stuhl in die Mitte des Zimmers, der den König Philipp vor¬
stellen soll und tritt als Marquis Posa ihm kühn mit den Worten entgegen: „Ich
kann nicht Fürstendiener sein!" Wenn wir aber in seiner Schublade nachsehen,
so finden wir darin „ein unterthänigstes Bittgesuch an das wohllöbliche Kriminal¬
gericht von Prag, worin der demuthsvoll Gefertigte das geziemende Ansuchen
stellt, man möge ihm mit Ende dieses den Antritt der Praxis gnädigst gestatten."
Er ist zwar Bürger einer Zeit, d:e erst kommen soll; da er aber sich selbst und
eine arme Mutter zu ernähren hat, so ist er bereit, in der Reihe die k. k. Prak¬
tikanten einzutreten.
So sieht der Republikanismus des Studenten aus. Schämt euch, ihr Herren
vom Generalstab und vom Ministerium! Ihr seid doch mit dem Teufel du und
du und fürchtet euch vor der theatralisch aufflackernden Flamme der Jugend!
Die Schaaren Ziska's tranken sich im Abendmahlwein einen mystischen Rausch
und wurden in dithyrambischer Lust des Gottes voll. Statt dem heidnischen Evan
Evoe riefen sie den Namen Christi an und erneuerten die Bacchanalien auf dem
spiritualistischen Boden des Christenthums. Noch immer lebt ihr wilder Zug in
dem lebendigen Andenken des Volkes.
Der Freiheitsrausch übte eine ähnliche Wirkung aus. Da es hier das eigene
Blut war, welches flammend zu Kopfe stieg, so brauchte man sich nicht weiter
in dem Blute Christi zu berauschen. Ziska war wieder auferstanden von den
Todten, er stieg hinab in die innersten Tiefen des Volksgeistes und fand sein Ver¬
lornes Augenlicht wieder in den unstät glühenden Blicken der neuerwachten
Czechen.
Der hussitische Ungestüm vom vorigen Jahre, über den sich die Deutschböhmen,
so bitter beklagten, war eine natürliche Erscheinung. Wunderbar ist es aber je¬
denfalls, daß uoch jetzt einzelne Tollköpfe die kümmerlichen Flammen aus dem
Aschenhaufen herauszublasen suchen.
Ein Versuch der Art ist ein vor kurzem trotz des Belagerungszustandes bei
Gerabcck erschienenes, aber schnell unterdrücktes Gedicht unter dem Titel „Dwan-
acty cerwen," (der 12. Juni) worin ein czechischer Tyrtäus zur blutigen Nächung
der seit den Junitagen des vorigen Jahres erlittenen Unbilden auffordert. Die¬
ses gepanzerte Lied ist sowohl gegen die Deutschen, die übrigens mit den Reichen
als gleichbedeutend erscheinen, als auch gegen die Negierung gerichtet. Es heißt
darin, daß der Czeche überall als ein Sclave gelte und der reiche Unterdrücker
sich von Gott für berufen halte, den „armen Czechen" vor sich im Staube krie¬
chen zu lassen. Er sei im eigenen Hause ein Knecht der Fremden; darum möge er doch
erwachen, sein Augenmerk richten auf diejenigen, die üppig leben in seinem Lande,
und sich der Mörder entledigen. Damit niemand in Zweifel bleiben könne, wer
diese Mörder seien, so folgt sogleich eine drohende Apostrophe an die Deutschen
nach. Auch an einer kurzen Philippika gegen die Geistlichkeit und den Beamten¬
stand fehlt es nicht. „Der Reiche kauft sich mit seinem Gold von Hölle und
Fegefeuer los und findet in gleicher Weise vor dem irdischen Gericht Gnade, wäh¬
rend der Arme weder im Himmel noch auf Erden sein wohlbegründetes Recht
finden kann." Zum Schluß wird noch von der Pfingstwoche und dem Slcwen-
congrcß gesprochen, der von dem wüthende», volksfeindlichen Adel gesprengt wor¬
den wäre, von dem „Tigersinn" der Regierung, deren Sündenmaß nun voll sei,
endlich von der Blutgier der Soldaten, die der wahnsinnige Barde „brudermörde¬
rische Fürstenkuechte" nennt. Die Nutzanwendung, die daraus folgt, ist die, „daß
der Czeche durch die gemachten Erfahrungen klug werden und sich von den ent-
arteten Söhne» seines Landes befreien soll."
In den Herzen des Volkes kann solcher Unsinn keinen Anklang finden, dage¬
gen wird er aber gewiß höhern Ortes seine Wirkung nicht verfehlen. Dort wird
man es noch lange nicht begreifen.können, daß ein solcher Rachegesang eben so,
gut der Ausdruck einer vereinzelten, anonymen Stimmung sein kann als ein
Die Art und Weise, wie die neuesten Bewegungen in Deutschland behufs
gewaltsamer Einführung der Reichsverfassung und insbesondere der Aufstand in
Baden und in der Pfalz in conservativen Blättern besprochen werden, gibt zu
einigen nicht eben erfreulichen Bemerkungen Anlaß.
Ein anderes als ein verdammendes Urtheil war von dieser Seite über solche
Vorgänge natürlich nicht zu erwarten. Wer der Vereinbarungstheorie huldigt,
und die Verfassung Deutschlands aus einem Vertrage zwischen dem Volke und
den Fürsten hervorgehen sehen will, kann in dem von der Nationalversammlung
einseitig beschlossenen Grundgesetze nicht mehr als den Vorschlag eines Contrahenten
und in dem Versuche, den Regierungen mit den Waffen in der Hand die Zu¬
stimmung abzunöthigen, nur einen gegen den andern Compaciscenten gerichteten
Zwang, also eine Rechtsverletzung erblicken. Wer ferner zwar die Nationalver-
sammlung als eine constituireude und somit die von derselben beschlossene Ver¬
fassung als giltig anerkennt, aber ihre wirkliche Einführung noch von friedlichen
und gesetzlichen Mitteln erwartet, muß ebenfalls einen bewaffneten Aufstand zu
diesem Ende, der als ultima i-kein» erst dann gerechtfertigt erschien, wenn alle
andern gelindem Mittel bereits erschöpft wären, entschieden mißbilligen. Und
zwar um so mehr, als ein solcher Aufstand, der doch, wie die Sachen stehen,
nur sehr geringe Chancen des Erfolges hatte, andererseits zugleich der gesetzlichen
Agitation für die Reichsverfassung in verschiedenen Beziehungen Eintrag thut.
Denn der entschiedenere und ungestümere Theil des Volkes wird durch die Theil¬
nahme an demselben compromittirt und so außer Stand gesetzt, sich noch an dem
gesetzlichen Kampfe wirksam zu betheiligen, während die Zauderndcu und Aengst-
lichern vor einer Bewegung zurückschrecken, die in letzter Konsequenz zu Aufruhr
und Bürgerkrieg führe» kann. Und indem serner ein niedergeschlagener Aufstand
den Regierungen zur Verhängung vou Ausnahmsmaßregelu und zur Suspension
verfassungsmäßiger Rechte Veranlassung bietet, gibt er ihnen Mittel in die Hand,
auch den mollit-im-co-men ihr Terrain, den Rechtsboden zu verengern, und auch
ihre legalen Waffen unbrauchbar zu machen.
Wenn man also von solchen Gesichtspunkten die Rechtmäßigkeit oder Oppor¬
tunist der Bewegung anficht, so haben wir nichts dagegen. Aber man sucht noch
überdies den Charakter der Bewegung und ihrer Leiter dadurch zu verdächtigen,
daß man die Sache so darstellt, als unterliege es gar keinem Zweifel, daß bei
allen den letzten Aufständen die Reichsverfassung nur ein Vorwand, der eigentliche
Zweck aber die Republik und zwar die rothe oder gar der Conimunismus gewe¬
sen sei, und daß hinter Allem am Ende das Ausland die Hand im Spiele habe,
an das man ein Stück Deutschland nebst einer ReichSfestuug verrathen wolle.
Man nimmt sich hierbei nicht einmal die Mühe, das Publikum über diese
eigentlichen Absichten der Aufständischen erst ausführlich zu belehren, und ihm zu
erzählen, welcher aufgefangenen Correspondenz oder sonstigem Zufalle man diese
„Enthüllungen" verdanke, oder nachzuweisen, aus welchen Handlungen der Insur¬
genten sich ihre geheimen Pläne erkennen lassen, sondern thut so, als ob es all¬
bekannte und unbestreitbare Dinge wären, und spricht in dieser Voraussetzung
immer uur vou einer „angeblichen" oder „sogenannten" deutscheu Bewegung, er¬
geht sich in sittlicher Entrüstung über den Jesuitismus und die Gleißnerei ihrer
Leiter, die sich nicht scheuen, eine so heilige Sache, wie die deutsche Einheit, zum
Deckmantel ihrer ans den Umsturz alles Bestehenden gerichteten Absichten zu be¬
nutzen, nennt die Insurgenten die Rothen, und gibt höchstens zu, daß es unter
ihnen manche „Irregeleitete" geben möge, die wirklich für die Reichsverfassung zu
kämpfen glauben, während sie doch in der That zu ganz andern Zwecken mi߬
braucht werden. Dann verwahrt mau sich, daß man zwar die Freiheit, aber nicht
„diese Freiheit" wolle, läßt noch ein paar Worte von Anarchie, Auflösung aller
Verhältnisse u. dergl. fallen und ist fertig.
Wenn man blos diese Phrasen berücksichtigt, so sollte mau glaube«, es sei
in der Pfalz und in Baden die rothe demokratische und soziale Republik schon
lauge proclamirt, die Nevolutionstribunale in Permanenz und die Guillotine in
voller Thätigkeit, das Eigenthum durch eine Novelle zum Strafgesetzbuche bereits
offiziell als Diebstahl erklärt und werde als solcher vor deu Assisen behandelt,
man beschäftige sich eifrig mit der Erbauung von Phalansterien, und habe Herrn
Louis Blanc aus London berufen, um einstweilen große Nationalwerkstätlen einzu¬
richten, und obendrein sei Rastatt an die Franzosen übergeben worden. Sieht
man jedoch auf die Thatsachen, die uns ebeu dieselben Zeituugscorrespondenten
erzählen, so ist'mau überrascht, von allen diesen Dingen keine Spur zu finden.
Weder in Baden noch in der Pfalz ist die Republik proclamirt und in ersterem
Lande sogar ein Antrag auf Zurückberufung des Großherzogs gestellt und an eine
Commission verwiesen worden. Rastatt ist noch immer von Reichstruppen besetzt,
wenn man nicht anders annimmt, daß die badischen Soldaten diesen Charakter
verloren haben, weil sie die Reichsverfassung beschworen, und vielleicht, wenn es
darauf ankäme, ein deutsches Parlament auseinander zu jagen, weniger verläßlich
wären als andere Reichstruppen. Von Anarchie ist ebenfalls nichts zu bemerken,
vielmehr ist das Land in Kriegszustand erklärt, das Standrecht proclamirt und
die Bürgerwehren an vielen Orten entwafflict worden. Was könnten selbst die
Herren Brandenburg und Manteuffel mehr für Ruhe, Ordnung und Sicher¬
heit thun?
Man wird es daher erklärlich finden, wenn ein Mensch, der sich weder höherer
Inspiration erfreut, noch mit besondern: politischen Scharfsinn begabt ist, auf den
Gedanken geräth, daß es am Ende den Leuten in Baden vielleicht doch nur um
die Reichsverfassung zu thun sei.
Zwar hat man uns darauf aufmerksam gemacht, daß viele von den Männern,
die an jener Bewegung einen so eifrigen Antheil nehmen, ihren bekannten Grund¬
sätzen nach mit manchen der wichtigsten Bestimmungen der Reichsverfassung, z. B.
dem erblichen Kaiserthume nicht übereinstimmen können. Wodurch man, wenn wir
anders den Wink recht'verstehen, andeuten will, daß, da man doch nicht anneh¬
men kann, daß sie gewaltsam eine Verfassung einführen wollen, die sie selbst für
schlecht und der Volksfreiheit gefährlich halten, es sehr wahrscheinlich ist, daß sie
dieselbe jetzt nur als Vorwand für eine Revolution von ganz anderer Tendenz
mißbrauchen. Uns jedoch erscheint die Sache nicht in diesem Lichte. Die Reichs¬
verfassung, wie sie jetzt vorliegt, war das Resultat eines Vergleiches zwischen den
verschiedenen Parteien, wobei, damit das Werk zu Stande komme, jede etwas
von ihren Forderungen aufopferte. Wenn also jetzt die Linke und ihre Anhänger
an der Verfassung festhalten, ungeachtet sie in einzelnen Punkten ihrem Geschmacke
nicht zusagt, so finden wir dieses Unterordnen der subjectiven Ueberzeugung unter
deu Beschluß der Majorität weit patriotischer, als wenn sie sich deshalb grollend
zurückgezogen hätten.
Ferner legt mau viel Nachdruck darauf, daß Baden die Reichsverfassung be¬
reits früher anerkannt hatte, daß also wenigstens in diesem Lande der Aufstand
untrüglich den Zweck haben konnte, diese Auerte»mung zu erzwingen. Wenn er
also dennoch anch hier ausbrach, so beweise dies, daß die Bewegungspartei durch
die Einführung der Reichsverfassung noch nicht befriedigt sei, daß sie noch einen
weitern darüber hinausgehenden Zweck verfolge, und es sei daher die Annahme
gerechtfertigt, daß auch in jenen Staaten, welche diese Verfassung nicht angenom¬
men, die Agitation für dieselbe uur der Vorwand für andere revolutionäre
Zwecke sei.
Dieser Vorwurf hat allerdings einigen Grund. Wenn man die Sache jedoch
vom rechten Standpunkte aus betrachtet, so erscheint der Aufstand selbst in Baden
nicht ganz unmotivirt.
Denn wenn man einmal der Nationalversammlung das Recht zuerkennt, die
deutsche Verfassung ohne Mitwirkung der Regierungen endgiltig festzustellen, so
kam: die Anerkennung einer Regierung durchaus nicht die Bedeutung haben, daß
sie derselben ihre Zustimmung gibt, denn dieser bedars es nicht. Sie kann ferner
auch nicht die Bedeutung haben, daß sie dieselbe durch den Beschluß der Natio¬
nalversammlung blos in ihrem eignen Gebiete als giltig anerkenne, wonach die
Wirksamkeit der Anerkennung von dem Beitritte der andern Staaten abhängig
wäre, so daß, wenn dieser nicht von Seiten aller erfolgt, die Anerkennung ent¬
weder gar keine Wirkung haben solle, wie der König von Würtemberg wirklich
einen derartigen Vorbehalt in seiue Anerkennung ausgenommen wissen wollte, oder
daß die anerkennenden Regierungen alsdann höchstens gehalten wären, eine Ver¬
bindung unter einander zu einem uoch kleinern Kleindeutschland einzugehen, in
ähnlicher Weise, wie es in der Drei-Könige-Verfassung festgesetzt ist. Sondern
da die Reichsverfassung selbst den Umfang des Reichsgebietes bestimmt, so ver¬
steht es sich von selbst, daß eine Regierung, welche dieselbe unbedingt anerkennt,
hierdurch erkläre: daß sie diese Verfassung im ganzen Umfange des Reichsgebietes,
also auch in jenen Ländern, deren Regierungen sie nicht anerkannt haben, als
giltig erkenne. Wenn demnach die badische Regierung die Reichsverfassung aner¬
kannt hat, so hat sie dadurch erklärt, daß sie dieselbe nicht nur in Baden, sondern
auch in Preußen, Baiern, Sachsen und Hannover als giltig betrachte und dem¬
gemäß handeln werde. Die nicht anerkennenden Regierungen dieser Länder waren
also für sie als im Aufstande gegen das Reich zu betrachten.
Die Aufstände in Dresden, Elberfeld und der Pfalz mußten als völlig legitim
die Barrikadenkämpfer als' Vertheidiger des Gesetzes und der Ordnung und die
gegen sie operirenden Soldaten als Rebellen erscheinen. Baden, wie jede andere
der acht und zwanzig Regierungen war demnach verpflichtet ans Aufforderung der
Centralgewalt Executionstrnppen nach Preußen zu schicken, und den Pfälzern die
Neichshilfe gegen die baierischen Rebellen ebenso zu leisten, wie sie ihm selbst im
vorigen Jahre von andern Staaten zu Theil geworden war. Kann aber irgend
jemand glauben, die großherzoglich badische Negierung werde sich herbeigelassen
haben, aus ihrer Anerkennung diese praktischen Consequenzen zu ziehen? DaS
Benehmen der würtembergischen Regierung gegen das Parlament und die Regent¬
schaft und das der andern sieben und zwanzig zeigt genugsam, was von diesen
Anerkennungen zu halten ist. Und es ist diesen kleinen Staaten nicht zu verar¬
gen, daß sie um der Reichsverfassung willen keinen Krieg gegen Preußen wagen
wollen. Denn ein solcher Krieg wäre für sie allerdings eine sehr bedenkliche Sache.
Aber man wird es auch begreiflich finden, wenn in den Augen derjenigen, die
später wirklich mit den bloßen Streitkräften des kleinen Badens und der Pfalz
den Kampf gegen die vereinte Macht fast aller andern deutschen Staaten wagten,
diese Bedenklichkeiten weniger bedeutend erschienen, und man den badischen Auf-
stand machte, um dem pfälzischen zu Hilfe zu kommen. Es ist freilich wahr, daß
die badische Negierung gestürzt wurde, noch ehe eine Anforderung zur Hilfeleistung
in der Pfalz an sie ergangen war und also uoch bevor sie sich rennend zeigen
konnte; allein dies spricht nur insofern gegen die Rechtmäßigkeit des Aufstandes,
als es beweist, daß man zu den Waffen gegriffen, noch ehe man das friedliche
Mittel versuchte. Aber da die Erfolglosigkeit einer solchen Aufforderung, wenn
sie auch später von der Regentschaft ergangen wäre, (von der alten Centralgewalt
war sie ohnehin gar nicht zu erwarten) voraus zu sehen war, so beweist es durch¬
aus nicht, daß der letzte Zweck des Aufstandes ein anderer als die wirkliche Durch¬
führung der Reichsverfassung war.
Endlich sucht man noch den deutschen Charakter des Aufstandes durch die
Hinweisung auf die vielen fremden Zuzügler und die fremden Offiziere im
Jnsurgentenheere zu verdächtigen. Seitdem Bakunin auf den Dresdener Bar¬
rikaden gestanden, und Meroslawski deu Oberbefehl in Baden übernommen,
hat mau dieses Thema bis zum Ekel wiederholt, und in jedem Zeitungsberichte
aus Baden oder ans der Pfalz figuriren als Effcktstücke die Franzosen, Italie¬
er, Ungarn und wer weiß was noch für Fremde unter den Freischaaren. Ja
selbst die Zuzügler aus dem Elsaß und der deutschen Schweiz sind schon hin¬
reichend, der Bewegung den Makel der Antinativnalität aufzudrücken. Und es
wundert uns nnr, wie man zu dem Ende nicht anch schon den etwas wälsch klin¬
genden Namen des Herrn Brentano ausgebeutet, der ebenfalls keine sechzehn deutsche
freischaarenfähige Ahnen ausweisen könnte. Wenn aber erst vollends eines polni¬
schen Offiziers im Jnsurgentenheere erwähnt wird, steigert sich die patriotische Ent¬
rüstung auf den höchsten Grad und macht sich in bittern Sarkasmen Luft über
die Polen, die für die deutsche Verfassung kämpfen, die deutschfreundlichen Ski's,
die deutschen Freiheitskämpfer, die nicht deutsch sprechen n. tgi. in.
Wir würden diese Empfindlichkeit begreifen, wenn Penker, Wrangel und an¬
dere deutsche Offiziere der provisorischen Regierung ihre Dienste angeboten, und
diese die Polen vorgezogen hätte. Allein solches ist unsers Wissens nicht ge¬
schehen. Vielmehr haben sich die meisten frühern badischen Offiziere außer Lan¬
des geflüchtet. Mau mag dies für eiuen sehr lobenswerthen Akt der Treue gegen
den Großherzog ansehen; aber jedenfalls sind im Heere dadurch Lücken entstanden,
welche die provisorische Regierung so schnell als möglich auszufüllen suchen mußte.
Und wer kann es ihr verargen, wenn sie zu dem Zwecke nach den Männern griff,
bei denen sie die nöthigen militärischen Kenntnisse voraussetzen konnte, und wenn
es auch Polen waren.
Oder will man vielleicht insinnircn, daß diese Fremden wohl gar Werkzeuge
ihrer respektiven Regierungen seien, welche absichtlich den Aufstand begünstigen,
um sich ans diese Weise eine Partei in Deutschland zu schassen? So wüßten wir
wahrlich uicht, welche Negierung eigentlich ein solcher Verdacht treffen könnte. Etwa
Frankreich? Aber die jetzige französische Regierung ist nichts weniger als propa¬
gandistisch, und das Bombardement, indem sie gegen die römische Republik ihre
schwesterliche Zärtlichkeit äußert, zeigt, welche Protektion die deutsche Revolution
von ihr zu erwarten hätte. Oder vielleicht Rußland? Kaiser Nicolaus ist aller¬
dings ein sehr radicaler Herr, der, wie wir durch Custiue wissen, die Republik
der constitutionellen Monarchie unbedingt vorzieht, ganz so wie die äußerste Linke
in Deutschland. Dennoch glauben wir, würde man ihm Unrecht thun, wenn man
ihm Schuld gäbe, daß Bakunin in Dresden in seinem Auftrage gehandelt. Und
im südwestlichen Deutschland haben sich vollends gar keine russischen Demokraten
gezeigt. Man könnte also höchstens die Paar italienischen Flüchtlinge unter den
Freischaaren im Verdachte haben, daß es ihnen darum zu thun sei, den Einfluß
Modena's in Deutschland über die Gebühr auszudehnen, oder eine deutsche Re¬
publik unter dem Protektorate jener von S. Marino zu errichten.
Sonderbar, man hat sonst den Deutschen immer einen gewissen Mangel an
Nationalstolz nud Nationalgefühl vorgeworfen, jetzt aber scheint es, daß sie ein
stärkeres oder wenigstens ein reizbareres Nationalgefühl haben, als irgend ein
anderes Volk, daß sie sogar an der Betheiligung einzelner Sympathierer's an ih¬
ren Kämpfen Aergerniß nahmen. Die Griechen z. B. ließen es sich recht gut ge¬
fallen, daß Fremde ans allen Weltgegenden an ihrem Befreiuungskriege Theil
nahmen, und doch zeigten sie später durch das Heimschicken der Baiern, daß sie
deshalb nicht gesonnen seien, sich fremde Vormundschaft in ihren Angelegenheiten
gefallen zu lassen.
An der großen französischen Revolution haben sich ebenfalls viele Nichtfran-
zosen mehr oder weniger betheiligt. Der Amerikaner Thomas Payne saß im Con-
vent. Der deutsche Anacharsis Clootz machte alle Extravaganzen der Revolution
mit, und wurde zuletzt auch guillotinirt. Der Peruaner Meranda nud die deutschen
Kleber, Kellerman und Westerman führten die Heere der Republik. Und ein Ita¬
liener war es, der sich später dieser Revolution bemächtigte, und aus ihr das
Piedestal seiner Größe machte. Deshalb aber ist es uoch keinem Menschen einge¬
fallen, diese Revolution eine sogenannte französische zu »euren, oder das nationale
Epitheton zwischen prvtestirende Anführungszeichen einzusperren, wie es conservative
Zcitungskorresvondenten mit der armen „deutschen Erhebung" machen. Doch was
brauchen wir so weit nach Beispielen zu suche», haben nicht die Russen die deut¬
schen Befreiungskriege mitgemacht? Und nicht etwa als Freischaaren kommen da
die Kosaken und Baschkiren, sondern in großen Massen unter russischen Fahnen
und russischem Kommando. Und doch thaten damals selbst die allerdeutschesten
Deutschen uicht so spröde gegen die Slaveuhilfe, welche indessen der deutschen
Freiheit nicht besonders gut angeschlagen, wenigstens lange nicht so gut als jene,
welche einst französische und polnische Wühler wie Lafayette und Koscinsko den
Nordamerikanern gebracht. Wir wissen wohl, daß jedes Volk in der Regel seine
Händel selbst ausfechten soll, und sind auch nicht geneigt in jedem Franzosen, der
sich auf einer deutschen Barrikade producirt, einen Lafayette, oder in jedem pol¬
nischen Condottiere einen Kvsciusko zu sehen. ' Aber wir finden es begreiflich, daß
ein kleines Häuflein, das gegen eine große Uebermacht kämpft, die wenigen Zu¬
zügler, die ihm zu Hilfe kommen nicht erst nach Paß und Heimathschein fragt.
Freilich wenn die „drei Königreiche" sich erst über ein Neichsbarrikadengesctz
geeinigt haben, wird wohl anch hierin das Nöthige vorgesehen, und das Recht,
Neichsbarrikaden zu vertheidigen, wohl ausschließlich Neichsbürgern, die in dem
Orte des Straßenkampfes zuständig sind, vorbehalten werden. Bis dahin aber
darf man nicht so skrupulös sei». Was Miervslawski, Sznayde und tutti cjuimti
veranlaßt haben mag, dem deutschen Aufstände ihre Dienste zu widmen, ob wirk¬
liche Sympathie für Dentschland, denn es könnte wohl sein, daß nicht blos die
deutschen Radikalen Kosmopoliten sind, oder ob sie vielleicht glauben, daß die
Sache der Freiheit in allen Ländern dieselbe sei, das ist ihre Sache; aber Baden
und die Pfalz thaten Recht daran, daß sie diese Kräfte benutzten.
Mit dem allen wollen wir jedoch keineswegs dem badischen Aufstande selbst
das Wort geredet haben. Der war ein verzweifeltes Unternehmen, das von vorn
herein so wenig Aussicht auf Erfolg hatte und überdies nicht am besten geleitet
wurde. Wir geben auch gerne zu, daß es für Deutschland besser gewesen wäre,
wenn die Parteien wie über die Reichsverfassung selbst, so auch über die Mittel zu
ihrer Durchführung sich geeint hätten, so daß die Bewegung, wie es die alte
Frankfurter Majorität wollte, eine in ganz Deutschland möglichst gleichmäßige,
gesetzliche und friedliche geblieben wäre. Aber wenn man an den kläglichen Erfolg
des passiven Widerstandes in Preußen denkt, wird man es wenigstens erklärlich
finden, daß manche zu der Wirksamkeit gesetzlicher Agitation in Deutschland, wo das
Volk noch nicht die nöthige englische Ausdauer und Zähigkeit besitzt und die Regierun¬
gen mit „rettenden Thaten" so freigebig sind, noch kein rechtes Vertrauen hatten,
und lieber verwegen die Entscheidung der Waffen herausforderten. Es war un¬
streitig ein großer Fehler, und die es gethan haben dadurch der Sache, der sie die¬
nen wollte», sehr geschadet und so schwere Schuld auf sich geladen; aber böse
Absichten und Hintergedanken vermögen wir bei ihnen nicht zu erkennen.
Und die Verdächtigungen, die man gegen sie vorbringt, erscheinen um so ver¬
letzender, als sie nicht blos von den Organen der Reaction ausgehen, sondern
auch in sonst gemäßigten konservativen Blättern vorkommen. Denn diese werden
nicht den Gewinn davon haben, wenn die Radikalen in der öffentlichen Meinung
ruinirt sind, sondern jene, die hinter ihnen stehen und die, wie man sagt, keinen
Unterschied machen zwischen Gagern und Schlosse!.
Man darf es sich nicht verhehlen, die Reaction richtet sich täglich drohender
auf und über kurz oder lang kann es dahin kommen, daß man die Revolution
wieder wird von vorn anfangen müssen. Wer aber soll sich dann an die Spitze
stellen, wenn alle entschiedeneren Männer als Rothe verschrieen und decretirt wer¬
den? Werden etwa die Gemäßigten selbst, die Männer der richtigen Mitte es als¬
dann versuchen, das Volk zu den Barrikaden zu rufen? Wir haben alle Achtung vor
diesen Männern, wir wissen, daß sie in ihrer großen Mehrzahl es ehrt'es meinen,
und daß sie in ihren Reihen viel mehr politische Kapacitäten zählen als die
Radikalen. Aber was dieser Partei ganz fehlt, das ist die revolutionäre Energie,
mit der selbst unsere Quasi-Montagnards nicht im Ueberflusse versehen sind und
sie versteht durchaus nicht, die Massen in Bewegung zu setzen.
Im März vorigen Jahres waren es ebenfalls nicht die liberalen Professoren
und die Oppositions-Koryphäen aus den alten Ständeversammlungen, die in ein
paar Tagen den Absolutismus stürzten. sondern unbesonnene junge Leute, radi¬
kale Tollköpfe und Politiker dritten Ranges waren es, denen wir damals den Sieg
verdankten. Diesmal aber wird der Kampf noch viel ernster und hitziger werden,
denn damals wurde der Feind überrascht, jetzt aber ist er gerüstet und vorbereitet.
Wir wollen nicht den Uuglücksprophetcn machen, aber wenn es so fortgeht, wird
es bald nicht mehr auszuhalten sein, vor lauter Ruhe, Ordnung und Sicherheit
und da dürfte am Ende mancher jetzige „Gutgesinnte" die Thätigkeit der Wühler
schmerzlich vermissen und vielleicht wie König Richard rufen: Ein Wühler! Ein
Wühler! Fünf Königreiche und ein Kaiserthum für einen Wühler!
Der Verfasser der vorstehenden Abhandlung hat sehr recht, wenn er die Be¬
hauptung der conservativen Presse, die letzte Jnsurrection in Sachsen, Baden, der
Pfalz und Rheinprovinz habe einen andern, weiter gehenden Zweck gehabt, als die
gewaltsame Durchführung der Reichsverfassung vom 28. März, als unbewiesen zurück¬
weist. Jene Behauptung ist zum großen Theil aus einer Gefühlscolliflvn vieler Con-
stitutionellen zu erklären, die einerseits durch ihre Anerkennung der Reichsverfassung sich
für verpflichtet hielten, zur Verwirklichung derselben das ihrige zu thun, und die
andererseits sich nicht entschließen konnten, an den gewaltsamen Mitteln, welche
eine ihnen bis dahin fremde oder feindliche Partei zur Verfolgung desselben
Zweckes anwandte, sich irgendwie zu l'etheiligcn. Um nun diese, aus andern
Gründen vollkommen gerechtfertigte Abneigung vor sich selber zu motiviren, kam
die Vorstellung, daß es mit jenem Aufstand eine andere Bewandniß habe, sehr
gelegen. Die wesentliche Frage aber, ob es denn bei einer Jnsurrection überhaupt
allein darauf ankomme, was für einen Zweck die Leiter derselben sich vorstellen,
haben weder jene Constitutionellen, noch unser juristischer Freund sich vorgelegt.
Diese Frage wird erst dadurch erledigt, daß man überhaupt auf das Wesen der
Revolution, von welchem man sich häufig die wunderlichsten Vorstellungen zu
machen pflegt, eine schärfere Aufmerksamkeit wendet.
Bei der Revolution verwechselt man zweierlei: die beschleunigte legislative
Thätigkeit der gesetzlich organistrten Gewalten, und die Unterbrechung des gesetz¬
lichen Zustandes dnrch das, was man zu anderer Zeit Verbrechen nennt, was
aber uuter den eigenthümlichen Zeitumständen dazu dient, jene reformirende Thä¬
tigkeit theils zu beschleunigen, theils zu kräftigen.
Um mich nicht ins Abstracte zu verlieren, halte ich mich an die große Re¬
volution am Ende des vorigen Jahrhunderts. Auf der eiuen Seite sehen wir
vom 5. Mai 1789 an, bis zur Militärherrschaft Bonaparte's eine unausgesetzte
parlamentarische Thätigkeit, eingeleitet durch die vom Parlament und den Notabeln
geforderte, von der Krone vollzogene Einberufung der Generalstände. Durch diese
wurde zwar mit einer reißenden Schnelligkeit, aber doch in den rechtliche» Formen,
der vollständig': Umgestaltungsprozeß des alten Frankreich geleitet. Dasselbe ist
von den Metamorphosen zu sagen, in welchen die Volksvertretung erschien: Na-
tionalversammlung, Legislative, Convent, Zweikammersystem des Directoriums.
Es war, wie sehr auch die Leidenschaft ihren indirecten Einfluß ausübte und die
productive Kraft der Revolution von ihrem ursprünglichen Zweck ablenkte, seiner
Anlage im Großen nach ein Werk des Verstandes, in welchem die jedesmaligen
Absichten durch rationelle Maßregeln verfolgt werden dursten.
Anders verhielt es sich mit den berühmten Tagen der Jnsurrection, die mit
dieser gesetzgeberischen Thätigkeit parallel liefen. Ich erwähne hier nur den 14. Juli
und den 5. October 1789, den 10. August 1792, den 2. Juni 17W, endlich den
9. Thermidor — der erste Aufstand von Seiten der progressistischen Partei im
Laufe der Revolution, welcher scheiterte, und daher der Beginn der Reaction.
Alle diese einzelnen Handlungen — die Erstürmung der Bastille, der Zug nach
Versailles, die Einnahme der Tuillerien, der Angriff auf die legislative Versamm¬
lung, um die Gironde zu vernichten — das alles waren nicht nur Verbrechen im
Sinn des Gesetzes, sondern anch sinnlose Ausbrüche der Volkswuth, welche mir
die Eigenthümlichkeit hatten, daß sie wegen ihres Einflusses auf die Stellung, der
gesetzlichen Gewalten zu einander nachträglich legalistrt wurden. An keinem dieser
Ereignisse, wenn wir den 9. Thermidor ausnehmen, wo die bisherigen Chefs der
Republik den Aufstand leiteten, haben sich die eigentlichen Leiter der Revolution
direct und offen betheiligt, obgleich sie dazu provocirt, und uach vollendeter That-
sache das Resultat angenommen haben. In der Regel wurde die Sache dann so
aufgefaßt, als habe die besiegte Partei eigentlich den Aufstand angefangen: der
Gouverneur der Bastille deu 14. Juli, der Hof den 5. October, das Königthum
den to. August, die Gironde den 2. Juni.
Die Bedeutung dieser Emeuten für den Gang der Revolution liegt darin,
daß die gesetzgebende Gewalt ein zwei verschiedene Factoren vertheilt ist, welche
in ihren Absichten auseinander gehen, und von denen die eine durch den Erfolg
jener, an sich planlosen Unruhe, entweder gekräftigt oder eingeschüchtert wird.
Obgleich also derartige Emeuten von dem wichtigsten Einfluß auf den Gang
der Revolution sind, so wäre es doch höchst thöricht, sie mit derselben identificiren
und dem „souveränen Volk der Barrikaden" deshalb die schöpferische Kraft der
Bewegung beimessen zu wollen, weil es auf deu Straßen Lärm gemacht und einige
Leute todtgeschlagen hat. Diese Fournier, Maillard und wie die verzweifelten
Abenteurer noch weiter heißen, welche an jenen Tagen das Volk anführten, waren
nichts weniger als die Häupter der Revolution, wenn es anch eben so scharf her¬
vorgehoben werden muß, daß es ohne sie nicht dahin- gekommen wäre.
Ohne uns auf die Frage uach der sittlichen Berechtigung eines Aufstandes
überhaupt einzulassen — bekanntlich war in den meisten mittelalterlichen Verfassungen
die Jnsurrection uuter Umständen ein in deu Gesetzen vorgesehenes und anerkann¬
tes Rechtsmittel — müssen wir nur den Unterschied festhalten, daß er entweder
das mehr oder minder freiwillige Nachgeben der bisherige« Staatsgewalt zur Folge
hat — und dann nichts anderes ist, als ein zwar illegitimes Mittel, den gesetz¬
lichen Fortschritt zu erleichtern; oder daß er für den Augenblick den Staat völlig
aus den Fugen hebt. Darm, und nicht in dem „Zweck", den die Emeute sich setzt,
liegt ihr charakteristisches Moment.
Die ganze Bewegung des vorigen Jahres, mit Ausnahme des ,18. März in
Berlin und des 0. October in Wien, fällt in die erste Kategorie. Ueberall stand
eine geschlossene Partei, meist in den Kammern vertreten, dem Willen der Fürsten
gegenüber, und die „Unruhen" die im Lande ausbrachen, hatten keinen Erfolg,
als den, die Fürsten einzuschüchtern, und sie, um Schlimmeres zu vermeiden, in
die Arme jener Partei zu werfen. In den beiden Großstaaten nahm die Bewe¬
gung deshalb einen schlimmern Charakter an, weil sie keine Konstitution hatten,
weil also die Krone nicht in der Lage war, sich mit einer organisirten Mittelpartei
gegen die Emeutiers von Profession verbinden zu können. Dessenungeachtet kam
in Oestreich der bösartige Charakter einer vollendeten Revolution nicht unmittel¬
bar zum Vorschein, weil sie vor dem Ausbruch des eigentlichen Kampfes durch
eine scheinbar vollständige Unterwerfung von Seiten der bisherigen Staatsgewalt
geschlossen wurde. Bei der freudigen Ueberraschung, in die ein so unerwarteter
Erfolg die Volkspartei versetzen mußte, ist es leicht erklärlich, wie nun der Ver¬
lauf der Begebenheiten jenen gemüthlichen Anstrich annahm, der für den tiefer
Blickenden etwas unheimliches hatte, weil er, gleich dem lockeren Schnee über
klaffenden Felsspalten, die sehr ernsthaften Probleme verdeckte, welche der Staat
zu lösen hatte, wenn er nicht daran untergehen sollte. In den ungarischen Ver¬
wickelungen und der daraus hergeleiteten Octvberrevolution kamen diese Probleme
auf einmal zum Vorschein. Die jungen Oestreicher, welche damals in Wien eine
Rolle spielten, thaten sich später der gemäßigten Partei gegenüber viel darauf zu
gute, daß sie nie zu weit gegangen wären, daß sie nie die Republik ausgerufen
hätten. Aber ein solches Aushängeschild deö Aufstandes würde nur dann etwas
zu bedeuten haben, wenn es von irgend einer gesetzlichen Macht ausgegangen wäre.
Die Absetzung dos Hauses Habsburg durch den Reichstag zu Debreczin war aller-
dings ein wichtiges Factum, ob man aber in den Straßen von Wien einen Toast
auf die rothe Republik ausgebracht hätte oder nicht, darauf wäre nur insofern
etwas angekommen, als es der Reaction Veranlassung zu weitern Maaßregeln
gegeben hätte. Die Hauptsache war, daß der für permanent erklärte Aufstand eine
geordnete Regierung unmöglich machte und in sich selbst zu willenlos war, um an
die Stelle derselben zu treten.
So war es in Preußen gleich nach dem 18. März. Nur daß sich hier die
Impotenz der sogenannten Volkspartei noch viel rascher entwickelte, und damit
der alten Negierung in die Hände arbeitete.
Wer wollte die Bedeutung jener Barrikadentage für die Revolution des vo¬
rigen Jahres verkennen! Aber die eigentliche Revolution waren sie keineswegs.
Der Fortschritt der Revolution knüpfte sich an die constituirenden Versammlungen
zu Frankfurt, Wien und Berlin. Weil es in diesen Versammlungen nicht gelang,
eine große, mit Bewußtsein nach einem bestimmten Zweck hinarbeitende Partei zu
organisiren, die an allen Orten nach einem gemeinsamen Plan die Revolution in
die Hand genommen hätte, darum scheiterte die Revolution. Die Gegner hatten
einen bestimmten Zweck, und handelten gemeinschaftlich.
Einen Augenblick schien ein gemeinsames Handeln möglich: als in Frankfurt
der Compromiß geschlossen war, ans welchem die Reichsverfassung hervorging, und
als die Renitenz der Fürsten gegen dieselbe überall zur Kollision mit der eignen
Volksvertretung führte, Was in Würtemberg gelang, nämlich den König durch
eine Art von moralischem Zwang zum Nachgeben zu nöthigen, dasselbe wurde in
Sachsen unter viel ungünstigeren Ausspielen versucht: denn die Kammern waren
aufgelöst und das Ministerium zurückgetreten. Indeß war doch immer noch ein
Sinn in dem Aufstand, so lange der König noch in Dresden war, und man hoffen
durfte, er werde durch die fortgesetzte „Gährung" in Dresden in seinem Entschluß
wankend gemacht werden. Mit der Entfernung des Königs hörte aber aller Zweck
der Jnsurrection auf, es wurde ein wüster Straßenkampf, vom Zufall geleitet und
dem Zufall verfallen.
Was nun Baden betrifft, so fing der Aufstand sofort mit diesem wüsten We-
sen an. Die in den fortwährenden Unruhen verwilderten Soldaten fingen eine
Rauferei an, die Regierung ließ das Land im Stich, und der erste beste sing nun
an zu regieren. Es war das Reich des absoluten Unsinns.
War darum der Zweck der Insurgenten die rothe Republik? oder die Aus¬
lieferung Rastatt's an die Franzosen? oder gingen sie gar auf Communismus aus?
— Nichts vou alle dem! Ihr Panier war wirklich die Reichsverfassung, aber
ihre vollständige Gedankenlosigkeit in den Mitteln, welche sie anwenden wollten,
machte eben das aus, was wir Anarchie nennen. Dadurch, daß mau relcgirte
Studenten zu Ministern, Staatsräthcn und Generalen macht, zeigt man noch uicht,
daß man den Communismus will, und die Anstellung polnischer Offiziere verräth
noch keineswegs die Absicht, Deutschland seinen Feinden auszuliefern. Aber daß
man für die Verwaltung und das Heer leine andern Werkzeuge findet, als relc¬
girte Studenten und polnische Generäle, bewies, daß man zu einem Aufstand uicht
berechtigt war. Der Vergleich mit dem griechischen Aufstand hinkt, einmal weil
die sogenannten Philhellenen denn doch, dem nationalen Moment des Anfstands
gegenüber, eine sehr untergeordnete Rolle spielten, außerdem weil der Kampf
hier zwischen zwei halbbarbarischen Völkern geführt wurde, wo ^die allgemei¬
nen völkerrechtlichen Regeln aufhören. Sonst wird sich wohl allmälig die Sitte
herausstellen, daß mau die politischen Abenteurer von Profession, welche den Auf¬
stand, wo er auch ausbrechen möge, als ihr Gewerbe betrachten, als Freibeuter
behandelt.
Die Frage ist nun: wo scheidet sich jene Art des Aufstandes, welche nur
eine Umstimmung der Staatsgewalt zur Folge hat, vou jener, welche unmittelbar
die Anarchie, d. h. die Stockung des staatlichen Lebens, die Herrschaft des Zu¬
falls nach sich zieht? von jenem blinden Walten der Naturkraft, welche den ver¬
nünftigen Willen ausschließt?
Der Uebergang ist in den Händen des Zufalls; weder der „Zweck" der
Emeute noch der gute Wille derer, die sie provocire», hat darauf irgend einen
Einfluß. Daraus ziehe ich den Schluß: daß eine patriotische Partei, welche den
mühseligen, oft genug unästhetischen Weg des „geschlichen" Kampfes, d. h. des¬
jenigen Kampfes, in welchem man jeden Augenblick seine Kräfte vollständig über¬
sehen, und abwägen kauu, verschmäht, in der Hoffnung, ein politischer Ausbruch
werde das Ziel ihrer Wünsche auf eine viel schnellere und glänzendere Weise her¬
beiführen, uuter allen Umständen eine schwere Schuld aus sich nimmt, wenn auch
der Ausgang sie scheinbar rechtfertigen sollte. Es gilt auch hier wie vom Spieler¬
glück: wie gewonnen, so zerronnen.
Und um an diese allgemeine Bemerkung einen praktischen Fall zu knüpfen,
zum Schluß Folgendes. Die preußische Regierung, als sie dem beschwerlichen
Wege des gesetzlichen Kampfes gegen die Demokratie den bequemern der „rettenden
That," d. 1). des Nechtsbruches vorzog (durch die voreilige Auflösung der Cor-
ftituante im November, durch die eigenmächtige Veränderung des Wahlgesetzes im
Mai), hat dadurch dem Anschein des augenblicklichen Erfolgs die Garantie
einer gesetzlich fortschreitenden Entwicklung geopfert. Und auf der andern Seite
scheinen nun die Demokraten in denselben Fehler zu verfallen, in dem sie sich von
der Wahl ausschließen, weil sie dadurch deu einzigen Kampfplatz aufgeben, in
welchem mit Bewußtsein operirt werden kann. Freilich ist es sehr möglich, daß
wir in nicht langer Zeit eine zweite Revolution erleben, aber die Demokraten
täuschen sich sehr, wenn sie als das Ziel derselben die Reichsverfassung vom 28.
März, oder die Republik, oder meinetwegen den Communismus annehmen, viel
wahrscheinlicher ist es vielmehr, daß wir dem Schicksal Spaniens verfallen, wel¬
ches, nachdem das Fieber der Anarchie und. des Bürgerkriegs 15 Jahre hindurch
das Mark des Landes verzehrt hat, nun mit dem ersten besten Soldatenregiment
zufrieden ist, weil es doch wenigstens Ordnung schafft.
Als das Volk von Schleswig-Holstein sich erhob, seine Rechte gegen die
Eingriffe des dänischen Herrschers mit gewaffneter Hand geltend zu machen, da
erwachte die Sympathie, welche schon lange in ganz Deutschland für den nordi¬
schen Bruderstamm glühte, zu Heller Flamme. Nicht bei Worten allein blieb die
Begeisterung stehen, sie riß auch zu thätiger Hilfe hin. Zum ersten Male orga-
nistrten sich in großartigem Maaße Freischaaren, eine Erscheinung, welche in dieser
Weise im Vaterland noch niemals aufgetreten war und welche seither eine ganz
eigenthümliche welthistorische Bedeutung gewonnen hat; sie zogen mit mehr und
minder gutem Willen und Muth den Bedrängten zu Hilfe. Das Gleiche thaten
ans das Geheiß ihrer Fürsten verschiedene Heeresabtheilungen im Auftrag des
Bundestags, und außerdem betheiligte sich ganz Deutschland durch Spenden und
Unterstützung aller Art an einer Sache, welche längst zur ullgemcin deutschen
geworden war. Unter den Fürsten interessirte sich besonders Ludwig von Baiern
für dieselbe. Außer wesentlichen Gaben an Geld und Kricgsbcdarf sandte
er nach Schleswig - Holstein das, was dessen junges Heer vor Allem und am
Meisten bedürfte, tüchtige, kriegserfahrene Offiziere, welche er mit einer wirklich
höchst anerkennenswerther Freigebigkeit ausrüstete. Es waren deren sieben, und
sie werden in Schleswig-Holstein unvergessen bleiben, so lange im Volksmund
die Sagen des Dänenkriegs leben, so lange Geschichtsbücher den Enkeln von der
Väter Kampf für altes Recht erzählen werden. Denn unter allen Fremdlingen,
welche als Offiziere Dienste genommen hatten, waren bald die Baiern die be¬
kanntesten und beliebtesten. Jedermann rühmte ihren kühnverwcgenen Muth, ihre
Leutseligkeit; Anekdoten ihrer Thaten cursirten in allen Schichten der Gesellschaft.
Von Aldosser, dem blitzschnellen Gucrillaführer, wußte man den siegreichen Ueber¬
fall bei Ascheffel, die Tage von Missunde, Toll, Grossolt und Aroesnnd zu er¬
zählen, und nichts glich dem Triumphzug, welchen er einst an der Spitze seiner
kleinen Schaar durch das kerndeutsche Angelnlaud hielt; den Grafen Boehmer,
Adjutanten des Grafen Rantzau, betrachtete Jedermann als die Seele und den
eigentlichen Führer des Freicorps, welches des letzteren Namen trug; von dem
jungen Lieutenant von Bouteville wußte man, daß er an der Spitze einer
Vedette von neun Dragonern eine ganze dänische Schwadron zur Uebergabe auf¬
gefordert, und als ihm ein Hohnlachen des Rittmeisters zur Autwort wurde, toll¬
kühn angegriffen hatte. Allen voran aber nannte man den Major von der Tann,
der zum Führer der vierten großen Freischaar — (die übrigen waren das Brack-
low'sche, Nantzan'sche, Wasmcr'sche Corps) — erwählt worden war. Er stellte
seine sämmtlichen Kameraden und College» in Schatten und sein Name trat über¬
raschend bald aus der Zahl derjenigen hervor, welchen bewiesener Muth und Kriegs¬
glück die vorderen Seiten im Buche der Ehren anwies. Mit Energie und großer
Umsicht gelang es diesem Manne schnell, das Anfangs verrufene Freischaarenwesen
zu ordnen und demselben einen neuen Geist zu imprägnireu. Sem Corps ver¬
einigte nach und nach die Besten aller übrigen, er organisirte dasselbe auf eine
treffliche Weise, ohne dabei in die Pedanterie des militärischen Zopfes von Ehe¬
dem zu gerathen. Noch in gutem Gedächtniß stehen die glänzenden Waffenthaten,
die er mit dieser Truppe, welcher Mitglieder aus allen deutschen Ländern ange¬
hörten, verrichtet hat. Namentlich ist es das glänzende Gefecht bei Hoptrnp,
in dem er den Dänen eine Batterie abgenommen, sind es die Tage der Verthei¬
digung von Apenrade, die der Versenkung des Dampfschiffes Hertha im kleinen
Belt bei Aroesnnd gewesen, welche von der Tann zum Manne des Volks, zum
Helden der Lieder und Winterabenderzählungen in Schleswig-Holstein gemacht
haben. Die wahrhaft schwärmerische Anhänglichkeit der ihm unmittelbar Unter¬
gebenen hat sich fortgepflanzt, wenn auch in ruhigerer Weise, auf alle deutschen
Bewohner der Herzogthümer; selbst die Dänen sprachen aber anch nur mit der
größten Hochachtung von ihm, und in ganz Deutschland ist sein Name einer vom
besten Klänge geworden. Auf's Neue richteten sich die Augen aus ihn, als er
nach Ablauf des Waffenstillstandes zum zweiten Male als Obristlieutenant und
Chef des Generalstabes nach Schleswig-Holstein zog. Die Erstürmung der Düp-
peler Schanzen, auf welchen er der Erste war, hat ihm ein unvergängliches Denk¬
mal gesetzt, und als die betrübende Kunde von der Niederlage vor Fridericia kam,
da folgte ihr auf dem Fuße das Gerücht, v. d. Tann habe die Schmach gerächt
und die Verlornen Werke wieder gewonnen. Leider bestätigte es sich nicht, aber
es beweist doch die große Hoffnung und das Zutrauen, welche auf diesen Mann
gesetzt werden.
Und er verdient Vertrauen und Bewunderung. Von der Tann ist ein noch
junger Mann, höchstens vierunddreißig Jahre alt. Hoch und schlank gewachsen,
spricht sich in seinem blonden, offenen Gesicht, das mit großen blauen Augen
sicher und verständig in die Welt schaut, eine Biederkeit, Zuversicht und Humani¬
tät aus, welche Jeden augenblicklich einnehmen müssen. Seine hohe ernste Stirne
würde einem Phrenologen interessant sein müssen, seine scharf geschnittenen, fest
geschlossenen Lippen und der markige Bau seiner ganze» untere» Gesicktstheile
drücken unwidersprechlich Bestimmtheit, Entschlossenheit und große Willenskraft
aus. Ein Knebelbart und Schnurrbart, hellblond wie sein Haupthaar, verleihe»
den Zügen des tapferen Mannes das echte kriegerische Gepräge und die Narbe
einer tiefen Hiebwunde auf der linken Wange erhöht dasselbe. Er erhielt die letz¬
tere in einem ehrenvolle» Duell, desse» Veranlassung und Ende die edle Ritter¬
lichkeit des Mannes besiegeln würde, wenn es erlaubt wäre, die näheren Um¬
stände hier mitzutheilen. Von der Tann kann eine schöne Heldengestalt genannt
werden; oft, wen» er umwallt von dem weißen Reitermantel, Allen voranflvg
auf flüchtigem Reimer durch die braune Haide, hat er seine Kriegsgefährten an
die alten Tempelritter erinnert, die mit kleinem Häuflein den Tausenden der Sa¬
razenen furchtlos entgegcnzogen und den Barbaren zuerst Respekt einflößte», vor
deutschen Arm n»d deutschem Muth. Sei» Aeußeres verkündet einen vollkommen
abgeschlossenen, festen Charakter und eine nähere Bekanntschaft mit ihm be¬
stätigt diese Schlußfolge. Er ist einer jener seltenen Männer, die mit klarem
Blick sich von früh auf einen geraden Weg vorgezeichnet haben, welche» sie, allen
Hindernissen zum Trotz, stolz und unverrückt gehen, bis zum Ziele; eine Natur,
deren Stärke niemals so gebrochen werden kann, daß sie verzagte oder sich selbst
vergäße. Neben der unerschütterlichen Strenge und Thatkraft dieses Charakters,
wallet aber wiederum in ihm eine Milde und Zartheit, welche ihn eben so unend¬
lich liebenswürdig wie geachtet macht. Es scheint dies einer der Grundzüge echt
deutschen Wesens zu sei», welche wir mit andern Stämme» nur Seite» theilen
und es mag diese fast sonderbare Vereinigung der heterogensten Charaktereigen¬
schaften zu einem harmonischen Ganzen wohl als ein Vorzug gelten. Nicht oft
wird dieselbe so innigverschmolzen und nach außen abgerundet uns entgegentreten,
wie in von der Tann. Man muß diesen Mann im dichteu Kugelregen und an:
Bette der Verwundeten, im Qualm der Biwacht und im Damensalon gesehen
haben, um ihm alle die Bewunderung zollen zu könne», die er verdient. Es mag
sein, daß, wie viele behaupten, Ehrgeiz eine Haupttriebfeder seiner Handlungen,
seines ganzen Gebahrens sei — jedenfalls ist das aber ein gerechtfertigter, edler
Ehrgeiz, der ihn anspornt. Ein Charakter, wie der von der Tann's, ist frei von
niederen Schwächen und kleinlichen Leidenschaften; es ist sogar anzunehmen, daß
er große Leidenschaften nicht kennt, wenigstens weiß er sie täuschend zu decken
dnrch eine stete Ruhe und Besonnenheit, welche durch Nichts zu erschüttern ist.
Solche Männer werden selten geboren, aber sie sind zu Feldherrn geboren und
von der Tann wird eines Tages Deutschlands größter und deutschester Feld¬
herr sein.
Eine hohe, selbst classische Bildung befähigt ihn ebenso dazu, wie seine Ta¬
lente und geistigen und körperlichen Eigenschaften. Es ist allgemein bekannt, daß
er einer der kenntnißreichsten Offiziere der bairischen Armee, namentlich im Inge¬
nieur und Artilleriewesen sehr bewandert ist. Gründliche Studien und eine sorgsam
geleitete Erziehung haben ihn weit über das Niveau der gewöhnlichen Svldaten-
wissenschaftlichkeit gehoben. Viel werth war ihm in dieser Beziehung ein längerer
Aufenthalt in Griechenland, welches er mit seinem Freunde, dem jetzigen Könige
Max, damaligen Kronprinzen, bereist hat. Von der Tann's politische Richtung
ist ein gesunder, gesinnnngskräftiger Constitutionalismus, welcher auf die Lehren
der Geschichte, eigene Erfahrungen und gereifte Ansichten fußt. Es weiß den¬
selben Gegnern gegenüber vortrefflich und schlagend zu vertheidigen. Schreiber die¬
ser Zeilen, welcher gar oft mit dem interessanten Mann an demselben Tisch ge¬
gessen und dasselbe Lager im Kriegszeit mit ihm getheilt hat , erinnert sich mit
großem Vergnügen noch der lebhaften Controversen, welche gewöhnlich bei Tafel
zwischen von der Tann, dem Major von Gersdorf, dessen Adjutanten Ludolf
Wienbarg, dem Lieutnant von BoMeville n. A. stattgefunden haben. Fast jeder
der Gäste gehörte einer andern politischen Partei an, aber fast immer behielt von
der Tann den Sieg durch die ruhige Ueberlegenheit, mit welcher er die Blößen
der Leidenschaft seiner Gegcnsprecher zu erfassen und zu benutzen verstand. Er
ist zugleich ein trefflicher Redner, welcher zwar nicht begeistert, aber überzeugt,
nicht im Sturme mit fortreißt, allein mit klarer und scharfer Logik stets den Na¬
gel auf den Kopf zu treffen versteht. Keiner der Hunderte, welche sich damals
seine Kameraden nennen durften, wird die Abschiedsworte vergessen, welche er
am Abend des 6. Mai 1848 in dem festlichen Bivouak der Nyberg Mölln in Jüt-
land an sie richtete. Es waren Worte des Lebewohls eines Führers an seine
treue Schaar, — die Freicorps waren vorläufig aufgelöst worden — Worte des
weisen, erfahrenen Mannes an die stürmische Jngend und doch war, der sie sprach
jünger als gar Mancher uuter uns. Er stand, beleuchtet von dem riesigen Wacht¬
feuer das nach dem schwarzen Himmel züngelte, in der hellblauen Uniform, den
weißen Mantel malerisch umgeschlagen, entblößten Hauptes in der Mitte einer
Gruppe, wie uoch keines Künstlers Phantasie sie zusammenzustellen gewagt hat.
Knieend, sitzend, liegend, stehend in den mannigfaltigsten Costümen und mit blitzen¬
den Waffen umgab die Schaar den geliebten Führer, welchem sie ein nächtliches
Fest veranstaltet hatte; sein Namenszug aus zartem Haidekraut geflochten, prangte
über dem Ehrensitz von frischem Nasen, Feuerwerke erleuchteten mit springenden
Lichtern den See zu unsern Füßen, ans den düstern Haidebergen, welche rings
den Kessel unseres Lagers einschlossen, lagen die phantastischen Schatten der um
das Feuer Geheilten. Als von der Tann mit glänzendem Auge das Wohl Deutsch¬
lands ausbrachte, donnerte dreimal das Pelotonfeuer der Jäger ihm und dem
Vaterland zu Ehren, und dann drängte sich die ganze Menge, Jung und Alt, um
ihn, ihm die Hand zu drücken, ihm zu danken, ihm zu sagen, daß er der Stolz
Aller sei. In schüchterner Ferne standen verwundert die Juden der umliegenden
Dörfer und betrachteten mit starren, stieren Blicken das unbegreifliche Schauspiel.
Es wird uns unvergeßlich sein!
Wen» einem deutschen Manne eine große Zukunft bevorsteht, so ist es von
der Tann. Wir klagen, unsere Feinde freuen sich, daß es uns an bewährten,
tüchtigen Heerführern fehle. Da haben wir Einen, welcher beiden Theilen seiner
Zeit durch Thaten zeigen wird, daß ein Mann , wenn er der Rechte, mehr werth
ist, als hunderttausend Söldlinge. Möge es ihm nur vergönnt sein, einstmals
die Heere eines einigen Deutschlands zu führen — gegen Deutsche, das sind wir
Nichts macht uns die Schwierigkeiten unserer politischen Lage anschaulicher,
als die Verwirrung, in die einzelne Köpfe durch sie gerathen, und zwar am mei¬
sten solche, die den Eingebungen des unmittelbaren Gefühls folgen, von denen
man also erwarten sollte, sie würden wenigstens in einem bestimmten Zuge fort¬
gerissen werden. Denn unsere Neigungen durchkreuzen sich viel bunter und irra¬
tioneller, als unsere Interessen. Jene Erfindung eines Spaßvogels, die Darm¬
städter wünschten die deutsche Republik mit dem verstorbenen Großherzog an der
Spitze, ist schlagend: ihre Tollheit wird tausendmal überboten dnrch wirkliche An¬
träge, die in der Paulskirche gestellt sind. So unwahr und so kläglich unsere
Zustände im großen Ganzen wie im Detail sich aufnehmen, sie haben doch in
unsern gemüthlichen deutschen Herzen Wurzel geschlagen, und bei jedem Anflug
von Idealismus regt sich eine Faser unserer Pietät und macht uns unruhig. Um
diese Unruhe zu übertäuben, forciren wir unsere Begeisterung, toben uns in einen
gewissen Fanatismus hinein und reden zuletzt irre.
Die folgende Skizze kann nur so weit Interesse in Anspruch nehmen, als sie
diesen Gefühlsconflict in einem bestimmten Beispiel anschaulich macht. Der ehren¬
werthe Abgeordnete, dem sie gilt, war im März und April 1848 einer der po-
pulärsten Männer Deutschlands, jetzt wird man kaum noch seinen Namen kennen.
Die Bewegung hat ihre Träger mit unglaublicher Geschwindigkeit verzehrt.
Ich lernte Wiesncr vor zwei Jahren in Leipzig kennen; er mag nahe den
Vierziger sein, hält sich aber als Gar^on zur jüngern Generation. Es war eine
brave, ehrliche, selbstgefällige Natur, was mau so einen rechten Biedermann nennt.
Der enge Umfang, in welchem sich die östreichische Publicistik aus äußern Gründen
bewegen mußte, der enge Gesichtskreis, den sie aus innern Gründen nicht über¬
schreiten konnte, führten zu einer Jntensivität des politischen Gefühls, die etwas
Rührendes hatte, namentlich wenn man an die Zerstreutheit und Flüchtigkeit des
Berliner kosmopolitischen Liberalismus gewohnt war. Ein östreichischer Publicist
führte damals ein verkümmertes Dasein. Die politische Lectüre, die man einzelnen
privilegirten Gesellschaften, wie dem juridisch-politischen Leseverein zu Wien, ol-K»
selleäirm verstattete, war dürftig genug, die Bildung, die man von den Schulen
und namentlich von den Universitäten mitbrachte, stand weit hinter der Norddeut¬
schen zurück; die Geringschätzung der Presse und derer, die sich damit beschäftig¬
ten, von Seiten der „ordentlichen Leute" war wo möglich noch größer, als selbst
in Preuße», und hatte mich mehr Grund, denn sie war in der That jämmerlich
— wozu freilich die Censur nicht ermangelte das Ihrige zu thun, — und der
Ausweg für einen thätigen Schriftsteller, in deu „ausländischen," d. h. deutschen
Journalen, eine Zuflucht zu suchen, stand nur wenig Bevorzugten offen, da man
sich im „Reich" noch nicht recht daran gewöhnen konnte, dem Detail der östrei¬
chischen Angelegenheiten eine ernste Aufmerksamkeit zu schenken, und da die Schreib¬
art der östreichischen Prosaisten doch wesentlich vou dem conventionellen Styl eines
geschulten Literaten abwich. Nur die Poeten und Belletristen fanden ihre Geltung,
und bei dem großen Umfang, in welchem die junge Lyrik sich ergoß, wurde es
allmälig Glaubensartikel in Oestreich, daß mau sich eigentlich im Centrum des
poetischen Deutschland befände.
So hatte der östreichische Publicist, der sich uoch außerdem in der üblen Lage
befand, von dem, was eigentlich in der Politik vorging, herzlich wenig zu erfah¬
ren, nut fortwährendem Verdruß zu kämpfen, ja man kaun sagen, daß dieser täg¬
liche Verdruß ein wesentlicher und integrircnder Theil seiner Beschäftigung war.
Aber eben darum wuchs er ihm ans Herz, er hätte ihn nicht wohl entbehrt, und
alle die kleinen Scheerereien mit der Censur, der obern und untern Polizeistelle,
die man in Norddeutschland mit allgemeiner und abstracter Verachtung abfertigte,
hatten für ihn in seinem Detail einen Reiz und eine Wichtigkeit, die man ander¬
wärts schwer begreifen würde. Es läßt sich aus dieser vermeintlichen Wichtigkeit
anch der Eigensinn herleiten, rin dem man auf einzelnen Punkten bestand, die
Intoleranz gegen jede abweichende Meinung, und die Ueberschätzung des eignen
Einflusses, den zu Paralysiren eine der fünf Großmächte all ihre administrative
Thätigkeit ausbot, und die leicht zu der Einbildung verleitete, man würde, wenn
man nur diesen Einfluß zu beseitigen vermöchte, den Staat auf das beste zu ar-
rangiren verstehn. Freilich gab es anch eine sehr zahlreiche Classe, die aus irgend
einem norddeutschen Compendium, das sich zufällig nach Wien verirrt hatte, sich
eine ebenso glänzende als unbestimmte Anschauung vom freien Staat gebildet hatte,
und glücklich im Bewußtsein, daß Oestreich diesem Bilde nicht entsprach, die
ganze Wirthschaft als faul und antiqnirt über den Haufen warf, und in der Er¬
wartung der kommenden Revolution sich inzwischen auf Theaterrecensionen und So¬
netten an die schwedische Nachtigall resiguirte. Die Mehrzahl dagegen — und
zu ihr gehörte auch Wiesuer — verfiel in das entgegengesetzte Extrem, so daß
in der erbitterten Opposition gegen alles Detail des Bestehenden zuletzt die Ueber¬
sicht über das Ganze und die Vorstellung von dem, was an die Stelle kommen
sollte, eine sehr schattenhafte wurde. Anstatt an die Revolution zu appelliren,
wie jene Thecitcrrecensenten, oder an die ständische Entwicklung der einzelnen Pro¬
vinzen, wie einige liberale Aristokraten, verlangte sie Reformen im Josephinischen
Sinne, ohne sich über den Zusammenhang derselben klar zu werden, da zu einer
energischen Reform des Staatslebens ein eben so festes und leitendes Prinzip ge¬
hört, als zu einer Revolution und eigentlich noch mehr. Die Frage, in wie weit
die eigenthümliche Beschaffenheit des östreichischen Staatencvmplexes die Durch¬
führung derjenigen Einrichtungen, die man mit dem Begriff des modernen Staats
verknüpft, ertragen könne, ohne derartige Conflicte, wie die Josephinischen Re¬
formen an ihnen scheiterten, mit Nothwendigkeit hervorzurufen, diese Frage legten
sie sich in der Regel gar nicht vor. Ja sie waren meist außer Stande, irgend
welche Antwort darauf zu ertheilen, da die Unkenntniß über die innern Verhält¬
nisse des östreichische» Staats ius Fabelhafte ging. Der ungarische Krieg ist
für die östreichischen Publicisten eine wahre Fundgrube politischer und geographi¬
scher Entdeckungen geworden.
Erst seit einigen Jahren hat die deutsche Journalistik angefangen, sich mit
Oestreich zu beschäftigen. Die Grenzboten waren vorzugsweise auf Oestreich be¬
rechnet, andere, wie der Leuchtthurm, folgten ihnen darin nach. Dadurch stieg
der Muth der Journalisten, und die Neigung, im Ausland für Oestreich die
Kräfte zu verwenden, die in der Heimath verkümmern mußten. Anfänglich hatte
die Polizei solchen Auswanderungen sehr ernsthafte Hindernisse in den Weg ge¬
legt, sie war aber mit der Zeit laxer geworden, und als Wiesner sein Gesuch
um einen Paß (in der ersten Hälfte des Jahres 47) damit begründete, daß ihm
Oestreich für seine publicistische Thätigkeit nicht den gehörigen Spielraum böte, so
legte man ihm keine Schwierigkeiten in den Weg.
Es war das so mehr anzuerkennen, als Wiesner noch kurze Zeit vorher mit
dem Gouvernement in einen nicht unerheblichen Conflict gekommen war. Der
rusfiche Staatsrath v. Tengoborski hatte, theilweise auf Veranlassung der östrei¬
chischen Negierung, eine Schrift veröffentlicht, worin er dnrch Vergleichung mit
den in andern Staaten herrschenden Steuersystemen nachzuweisen versucht hatte,
daß Oestreichs Kräfte noch lange nicht erschöpft seien, und daß das Volk eine
Erhöhung der Abgaben ganz wohl ertragen könne. Miesner schrieb dagegen eine
„russisch-politische Arithmetik," um seine Landsleute vor einer neuen Auflage zu
verwahren: freilich nur auf die allgemeinen Quellen gestützt, die bereits ver¬
öffentlicht waren, da die nähere Einsicht in die Verhältnisse des Staatshaus¬
halts nicht offen stand. Tengoborski replicirte in der allgemeinen Zeitung, und
wie man denken kann, nicht eben fein; eine Antwort Wiesners wurde zu Augs¬
burg nicht aufgenommen. So ließ er in seinem Unwillen in einer Broschüre freien
Zug, welche zu einer directen Einmischung der Polizei Veranlassung gab. Viel¬
leicht war dieser Conflict mit eine Veranlassung, die ihn zur Auswanderung
bestimmte.
In Leipzig war damals, wie jetzt, eine Colonie östreichischer Flüchtlinge.
Nur hatte die Emigration noch keinen so heroischen Charakter; man hatte noch
keine Barrikaden vertheidigt, noch kein Ministerium: eingesetzt, noch keine dreifar¬
bigen Schärpen mit Schleppsäbeln und den nöthigen Federhüten getragen. Den
Stamm bildeten die Lyriker und Humoristen, die Politik bestand im Durchschnitt
aus Seufzern und Fragezeichen.
Bei Wiesuer fiel mir zum ersten Mal die Empfindlichkeit auf, mit welcher
die Oestreicher die Urtheile der Auswärtigen über ihr Vaterland aufnahmen. Sie
waren fest davon überzeugt, daß man sich in Norddeutschland, namentlich aber in
Preußen, unausgesetzt damit beschäftige, Oestreich zu lästern. Waren sie unter
einander, so ging es über die östreichische Politik her und Alles, was damit zu¬
sammenhing, mit einem Haß und einer Leidenschaftlichkeit, deren nur die Liebe
fähig ist. Dem Preußen gegenüber hatten sie sich dagegen auf ein vollständiges
Lügensystem eingerichtet, nach welchem jede einzelne Einrichtung in Oestreich, wenn
nicht an sich löblich und vortrefflich, doch wenigstens jeder entsprechenden im Aus¬
land bei weitem vorzuziehn sein mußte. Am seltsamsten nahm sich dieser Patrio¬
tismus bei einem „Deutschböhmen" aus, wie Wiesner sich bezeichnete, denn man
mußte für die engere Heimath, für Böhmen, eintreten, obgleich man als Deut¬
scher ein entschiedener und leidenschaftlicher Gegner der dort herrschenden liberalen
Partei, der Czechen war; man mußte für Oestreich eintreten, obgleich mit dem
ganzen Staatswesen zerfallen; man mußte endlich auch für die Einheit Deutsch¬
lands in Begeisterung sein, obgleich die Existenz Oestreichs, an der man ebenfalls
festhielt, damit in Widerspruch stand. Die ganze Verwirrung, die später in der
östreichischen Partei in der Paulskirche zur Erscheinung kam, malte sich schon in
diesem Individuum.
Was Wiesners literarische Stellung betrifft, so habe ich vergessen zu bemer¬
ken, daß er auch Versasser eines Trauerspiels war, und daß gute Gründe zu dem
Verdacht vorliegen, er habe auch sein lyrisches Scherflein auf dem Altar des Va-
terlandeS niedergelegt. Seine Prosa zeichnete sich durch das nnuntcrbrochne biedre
Pathos aus, dem wir bei den Oestreichern in der Regel begegnen, wenn sie sich
nicht zu humoristischen Da.übles ausgebildet haben, durch eine gelinde Neigung
zur Weitschweifigkeit, und durch ein hin und wieder mitten in den gründlichsten
Erguß des Unwillens eingeflochtenes poetisches Blümlein, wie es in Frankfurt
Fürst Lichuowski an ihm zu bewundern Gelegenheit fand. Diese literarische Be¬
schäftigung war übrigens sein sait>Jo; er war sehr empfindlich gegen jede, auch
die gelindeste Kritik, und darin ein Schrecken aller Redacteure.
Von Leipzig wandte er sich nach Stuttgart, um dort bei Crabbe seine Ge¬
schichte der östreichischen Censur herauszugeben, später nach Heidelberg, wo er
in Verbindung mit der deutscheu Zeitung trat, und sich an die Partei Gervinus
anschloß: eine Verbindung, die zu seinem politischen System vollkommen stimmte,
denn so bitter er in den Formen seiner Polemik war, so gemäßigt blieb der In¬
halt seiner politischen Ueberzeugung, und die kosmopolitische ^iilixie jivliticjuo deS
Donnersberges, dem er später angehörte, lag ihm damals so fern, als die phi¬
losophische Bildung, die Rüge in demselben zu vertreten suchte.
Seine Verbindung mit der deutschen Zeitung war die Veranlassung, daß er
nach dem Ausbruch der Februarrevolution zu der Versanunlnng der 51 Patnoten
gezogen wurde, die am 5. März zu Heidelberg zusammentrat, um die Grundlage
der künftigen deutschen Nationalvertretung, das Vorparlament, zu berathen. Da¬
mals war Wiesner's Stellung noch eine apokryphische, denn die kühnsten Hoffauu-
gen gingen damals noch nicht so weit, daß ein regcnerirtes Oestreich sich dem
neuen System anschließen könne.
Da kam der 14. März — ein so unerwartetes und unglaubliches Factum,
daß die meisten östreichischen „Ausländer" die Bestnnnng verloren. Wiesner er¬
ließ in diesem Taumel ein Sendschreiben an ein Wiener Journal, in welchem der
Gruß deö gestimmten Deutschland dein nenerstandenen, herrlichen, freien Oestreich
mitgetheilt, und die Verheißung hinzugefügt wurde, ganz Deutschland sei bereit,
sich der Hegemonie dieses herrlichen Staats zu unterwerfen, und nur der Neid
der Preußen, die selber nicht den Muth gehabt hatten (— es war vor dem 18. März—),
das zu unternehmen, was ihre so lange geschmähten und verachteten Nebenbuhler
auf das Herrlichste durchgeführt, störe die vollständige Einigkeit des Vaterlandes.
Unter diesen Auspicien kam das Vorparlament zusammen. Auch damals
war Wiesner der einzige Vertreter des regenerirtcn Oestreich, denn von einem
zweiten, Graf Bissingen, war die Abstammung zweifelhaft. Es war die Zeit, wo
in allen Städten Deutschlands die einzelnen zerstreuten Oestreicher im Triumph
herumgeführt wurden. Ein freier Oestreicher mit der schwarzrothgoldnen Schärpe
und dem Federhut war eine ganz neue Erscheinung. Es war im Vorparlament
wie in der Versammlung der Universitäten zu Jena, wie in den deutschen Vereinen
in Sachsen, alles, was Oestreicher war, mußte wenigstens einmal auf die Tri-
hunc, um den donnernden Applaus der Versammlung hinzunehmen. Konnte man
es ihnen verargen, wenn sich die Ansicht, sie seien doch eigentlich zur Leitung
Deutschlands berufen, bei ihnen wie ein Glaubensartikel festsetzte?
Mit welchem Gefühl Wiesner als der einzige Repräsentant dieses neuen herr¬
lichen Staats auftrat, läßt sich denken. Nur einige Beispiele. Schulz aus Darm¬
stadt hatte deu Antrag gestellt, die Wahlen in Oestreich den ständischen Versamm¬
lungen anheim zu geben, weil bei der großen Zahl roher slavischer Bauern von
den Urwähler kein gutes Resultat zu erwarten sei. Mit sittlicher Entrüstung trat
Wiesner auf die Tribüne ... es war sein nuutlvii-^oval!. „Der Redner hat seine
Bemerkungen über Oestreich damit begonnen, daß er eine ganze Classe Staats¬
bürger, die Bauern, als unfähig erklärte. Das ist eine Unbill, gegen die ich
protestire, die ich nicht dulde! (Factische Fragen durch das Gemüth erledigt!)
Wir sind lange genng in Deutschland verkannt worden, wir haben aber die Ver-
kennung ruhig ertragen. .. . Aber wir haben uus erhoben, und, allen Gefahren
spottend, die Freiheit auch uns errungen, -- wir haben gezeigt, daß wir mit der
Zeit vorgeschritten sind und uns auf die Hohe der Zeit zu schwingen wußten, trotz
Metternich und Sedlenitzky. Im Angesicht der Thatsachen, daß die Bürgerschaft
von Wien, daß die akademische Jugend Wiens ungeachtet der tausend Barrieren,
die sie vom Zeitgeist abzusperren suchten, so herrlich sich zeigte, ... kurz, daß
Oestreich zeigte, daß man es mißkannt hat, im Angesichte dieser Thatsachen u. s. w.
(Allgemeiner Beifall). . .. Wir müssen Aufrufe ergehen lassen und zwar an Jene,
die das Volk in den glorreichen Revolutionen in Prag, den geladenen Kanonen
und zu Wien, den ungarischen und italienischen Cürassiren gegenüber, anerkannt
hat, das werden die Männer des Vertrauens sein.... Dies wollte ich sagen,
um mein Oestreich, mein Vaterland, soviel als möglich zu vertreten." (Allgemei¬
ner donnernder Beifall.) — So gemüthlich wurde damals Politik gemacht. —
„Man hat stets über Oestreich falsche Ansichten gehabt und in Deutschland geglaubt,
wenn wir in Oestreich eine Verfassung erhielten, so müsse der starke Koloß aus-
einanderbrechen und seine letzte Stunde habe geschlagen. Nun erfolgte die Revo¬
lution und es hat sich gezeigt, daß die einzelnen Provinzen ihrer Stellung bewußt
waren und fest aneinander hielten. Das ist meines Erachtens das größte Ereig-
niß, daß wir hier in's Auge fassen müssen. Diese Nationalität wird noch länger
zu ihrem eigenen Heil und zum Heil anderer zusammenhalten. Man muß aber
auch Anderen Gelegen heit g eben, sich anzuschließen. Die östreichische
Regierung wird dies begreifen und den Wahlen kein Hinderniß in den Weg le¬
gen." — Wicsner wurde, als Oestreicher, unter allen Abgeordneten mit der
größten Stimmenzahl (457), in den Fünfziger-Ausschuß gewählt.
Als auf seinen Auftrag noch weitere sechs Oestreicher in denselben aufgenom¬
men wurden, statteten sie ihm im Namen Oestreichs ihren Dank ab. Er erwie¬
derte unter dem Bravo der Versammlung. Ueber seine weitere Thätigkeit in dem-
selben ist nicht viel zu sagen, denn das Beste, was man diesem Ausschuß über¬
haupt nachrühmen kann, ist, daß er nichts Böses gethan hat. Doch machte eS
einen stattlichen Eindruck, wenn in jeder östreichischen Frage, sämmtliche Oestreicher
auftraten und mit sittlicher Entrüstung die Gegner in ihre Schranken zurückwiesen.
Wiesner nahm redlich Theil daran. So als man von der Leibeigenschaft der
Bauern in Böhmen sprach, und als man sich dem Aufstand der Italiener geneigt
erklärte. Wiesuer trat — und das war von dem späteren Mitglied deö kosmo¬
politischen Donnersbcrgs kurios genug — mit Entschiedenheit gegen die treulosen
Wälschen auf, nud setzte im Gegentheil eine Proclamation an die Tyroler dnrch,
welche gegen dieselben zu Felde zogen. „Ihr stehet wieder gewaffnet auf Deutsch¬
lands herrlicher Felsenburg. Hofer's Geist schwebt über euch! Keine Spanne der
heiligen deutschen Erde darf aufgegeben werden" n. s. w. Eben so sprach er für
das Festhalten Galiziens, weil mau dort zur Freiheit nicht reif sei. Im Uebrigen
zeichnete er sich durch eine ziemliche Empfindlichkeit ans, und war unter sämmt¬
lichen Deputirten derjenige, welcher gegen Andere am zahlreichsten den Ordnungs¬
ruf verlangte, weil er behauptete, von ihnen insultirt zu sei».
Noch während des Fünfziger-Ausschusses wurde ihm die Redaction der Ober-
postamtszeituug übertrage», das bisherige Organ des deutschen Bundes. Lauge
hielten es freilich die Besitzer desselben mit der absoluten Gemüthspvlitik unseres
Freundes nicht aus. Inzwischen wurde er in Wien zum Deputirten für die Na¬
tionalversammlung gewählt.
Hier in einem Kreise, der vornehmsten Geister der Nation, und wo man an
Oestreichern keinen Mangel hatte, war seine Stellung nicht mehr so günstig. Bis¬
her nur an die revolutionäre Form der Versammlungen gewöhnt, mußte es seinem
Gemüth — und seine Politik war lediglich Gefühlssache — unerträglich sein, daß
die Schöpfung der Revolution, die Nationalversammlung, eine entschieden reactio-
näre Stellung einnehme — reactionär, wie es die Vernunft überhaupt gegen die
Leidenschaft ist. Der Unwille über diese ihm unerklärbarer Thatsachen trieb ihn zur
äußersten Linken, deren Principiell ihm so fremd als möglich waren. Als er
aber einmal darin war, übte die Parteidisciplin einen um so größern Einfluß
auf ihn aus, da er ihr keinen bestimmten Inhalt entgegentragen konnte. Seine
Blicke wandten sich noch immer sehnsüchtig nach Wien, wo die gemüthliche Stu-
dcntenwirthschaft sich von Tage zu Tage mehr zu befestigen schien. So trugen
die abenteuerlichsten Anträge, z. B. die auf die augenblickliche Mediatisirung Han¬
novers, als der König sich rennend gegen den Reichsverweser zeigte, seinen Namen,
ja er war es, der zuerst die Veranlassung gab, daß Gagern aus seiner olympi¬
schen Ruhe heraustrat und einen Ausfall auf die Nationalversammlung als Frech¬
heit bezeichnete. In Interpellationen und dringlichen Anträgen wetteiferte er mit
den unermüdlichsten Vorkämpfern des Donnersbergs, in jeder Emeute, die namentlich
in Wien vorging, lebte er geistig mit — obgleich er sich persönlich nie betheiligt
hat. Als die Verhandlung über die Ausnahmestellung Oestreichs begann, stimmte
er weder für die schwarzgelben, noch für die deutschen Unitarier. „Kein Oestreich,
kein Preußen! Der Spruch ist den Deutschen, einigen specifischen Preußen ausgenom¬
men, tief ins Herz geschrieben," nachdem er eben über die deutschen Windischgrätz,
Kaiser Ferdinand, Wessenberg u. s. w., die ein Oestreich wollen, geklagt, ja nach¬
dem er selber ausgerufen: „Aus der Asche erhebt sich, wie ein Phönix des Völker-
nnd Staatslebens, ein neues, freies und herrliches Oestreich. Dieses wird Mittel
genug finden, die verschiedenen Völkerschaften, die alle Schicksale der Monarchie
getheilt, an sich zu ketten." Also Oestreich soll bleiben, aber die schwarzgelben,
die dasselbe wollen, sind Verräther. Warum? weil sie Preußen die Hegemonie
in Deutschland überlassen. Ihr Wahlspruch sei: Kein Oestreich und Ein Preußen!
während er gleichzeitig darüber eifert, daß sie Oestreich erhalten und Preußen in
Deutschland aufgehen lassen wollen. Das dunkle Gefühl der nationalen Eitelkeit,
das sich doch nur an die Dynastie anklammert, denn Oestreich ist auf keine Weise
ein ethnographischer, sondern nur ein dynastischer Begriff, streitet mit dem repu¬
blikanischen Gefühl, das mit Dynastien überhaupt nichts zu thun haben mag, und
so bleibt nur der Unmuth, widersprechende Wünsche nicht zugleich realisiren zu
können, der sich in einem uumotivirten Pathos und zuletzt in Ausbrüchen einer
völligen Geistesverwirrung Luft macht. „Sie haben der Linken ganz ohne
Grund den Vorwurf gemacht, daß dort Republikaner sitzen. Meine Herren!
es sitzen dort Republikaner, und ich bin auch einer!"
Ihm in seiner spätern Verwirrung zu folgen, lohnt nicht der Mühe. Er
ging redlich mit seiner Partei, am liebsten freilich, als sie, die Republikaner, mit
Schmerling und Schwarzenberg gegen die Weidenbuschpartei intrignirte, und ver¬
lor sich in der Masse. Eine vollständig ausgebildete Partcistellnng drängt über¬
haupt die Individualität zurück. Aus dem gutmüthigen, braven, redlichen Mann
ward ein Genosse der Herren Zitz und Brentano: ein Beispiel, wie der absolute
Egoismus des souveränen Gefühls in politischen Dingen nicht nur der Sache,
sondern auch der Person zu Verderben gereicht.
Die Emancipation der Juden als Staatsbürger, welche das vorige Jahr
brachte, hat bei uns auch in ihren geschäftlichen Beziehungen zu den Christen
allerlei Veränderungen Hervorgerufe«. ES lassen sich Betrachtungen von allgemei¬
nem Interesse daran knüpfen, und deshalb möge Ihr Blatt auch diesem Thema
einige Seiten gönnen.
Statt der provisorischen Handelskammer ist endlich bei uns die gesetzliche zu¬
sammengetreten, in welcher die Juden eine gleichmäßige Vertretung mit den Chri¬
sten nach Außen erhalten, da sie in dieselbe mit wählen und mit gewählt worden
sind. Außerdem aber sind auch die innern Verhältnisse der hiesigen, kaufmännischen
Börsencorporation umgestaltet worden. Die alte Corporation der an der Börse
recipirten Kaufleute hört ans, und alle Handelsleute, welche den Steuersatz I^in.
^ zahlen, d.h. Handel mit kaufmännischen Rechten treiben, bilden die neue Cor¬
poration, also auch die Juden, welche bis jetzt ganz ausgeschlossen waren. Für
die Juden war diese Aufnahme deswegen von Wichtigkeit, weil die bisherige Cor¬
poration der Börsenkaufleute ein sehr bedeutendes Vermögen an Gebänden, Mo-
bilien und Effecten besaß, von welchem sie auf einmal Mitbesitzer geworden sind.
In einer Generalversammlung der gesammten Kaufmannschaft haben die Juden
dieses Recht durch fünf Stimmen Majorität erworben, weil die Christen zu indo¬
lent waren, in der nöthigen Anzahl zu erscheinen und ihre Interessen zu verfechten.
Da der Beschluß aus freier Selbstbestimmung der Betheiligten hervorgegangen ist,
läßt sich nichts dagegen einwenden, obgleich er allerlei wunderliche Consequenzen
haben muß, welche für Breslau sehr auffällig siud. Der jüdische Kaufmann steht
in Breslau in der öffentlichen Meinung noch nicht so gut, wie z. B. in Leipzig
oder Frankfurt, zum Theil durch eigue Schuld. Die Lage Schlesiens an der Grenze
von Posen, Polen und Galizien, begünstigt ein fortwährendes Eindringen der
polnischen Schacherjnden in die Provinz, und dies jüdische Element, welches vom
Osten herkommt, bginnt seinen Bildnngöprvzeß in der ersten Generation bei uns,
die zweite Generation geht nach Berlin, die dritte nach Frankfurt. Da hier die
Destillation anfängt, bleibt auch der meiste Schmuz bei uns sitzen.
Der polnische Jude von altem Styl, welcher nach Breslau kommt, seine Ge¬
schäfte zu machen und sich mit oder ohne polizeiliche Erlaubniß einen großen Theil
seines Lebens hier aufhält, läuft schwarz und geschäftig, wie eine Ameise, durch
die Straßen der Stadt und wird an Genügsamkeit durch nichts in der Welt über-
troffen. Er schläft in seinem Kaftan gewickelt aus der Diele irgend eines Gast-
freundes, dem er dafür wenige Pfennige bezahlt, sein Mittagmahl ist ein Hering,
Zwiebeln, die er in seiner Tasche trägt und ein Stück Brot. Seine Reisen nach
Breslau macht er nicht gerne zu Fuß, lieber auf dem Wagentritt einer Extrapost,
wofür er den reicheren Glaubensgenossen, welche zur Messe über Breslau uach
Leipzig fahren, ein Geringes bezahlt. Eine solche Extrapost von Brody nach
Lemberg fleht aus, wie eine dicke Weintraube von Menschenleeren, im Wagen
sitzen die vier Reichen, an jedem Wagentritt, auf dem Kutscheusitz und hinter
dem Wagen hängt ein armer Bacher wie eine Weinbeere in trauriger Lage.
Er wird gestoßen und geschüttelt, die Füße werden ihm steif vom Kauern, die
Hände zittern vom Anklammern, der kalte Wind schneidet ihm bis ins Mark, die
Sonne glüht auf ihn mit brennender Malice, der Staub überzieht ihn mit grauer
Decke, jeder Augenblick des Schlummers bringt ihn in Lebensgefahr. Aber diese
Art zu reise» ist bei alle dem billiger und geht schneller als Laufen. Im vorigen
Jahre kam ein solcher Geschäftsmann von Brody nach Breslau, beiläufig 120
Meilen weit her, um eine faule Forderung von 60 Thlr. einzuziehn; kein Christ
würde eine solche Reise um solches Geld wagen.
Sein Herz hat der fremde Jude in der Heimath gelassen bei seiner Familie,
er denkt nichts, er träumt nichts, er will nichts als speculiren, und nicht nur
über große Summen, über wenige Groschen brüiet seine Phantasie Tage lang,
laufen seine Beine unermüdlich, vom Morgen bis zum Abend. Jene Tugend,
durch welche der solide Kaufmann seinen Egoismus adelt, die kaufmännische Ehre,
er kennt sie nicht; aber er nimmt den Schein der Sicherheit und Zuverlässigkeit
mit Ausdauer und Erfolg so lange an, bis es ihm lohnt, irgend etwas Bedenk¬
liches zu thun, was nach unsern Begriffen durchaus unehrlich ist ihm nur einen
gewagten Streich gilt. In seinen Geschäften mit soliden Handlungen speculirt er
mit seiner Ehrlichkeit eben so fein als naiv. Ein Beispiel. Der Verkauf von
Producten aus Galizien macht sich in Breslau in der Regel so, daß der Bres-
lauer Kaufmann zum Kommissionär der galizischen Juden wird. Da aber der
Jude welcher verkauft, weder Capital noch Credit hat, so hat diese Geschäftsver¬
bindung ihre eigenthümliche Schwierigkeit. Der Jude bittet zuerst ein solides Haus
in Breslau oft flehentlich, seine Waaren in Commission zu nehmen, das erlangte
Versprechen betrachtet er als große Gunst. Sobald er aus seiner Heimath die
Waaren dem F'achtfuhrmann übergeben hat, sendet er den Verladeschein nach
Breslau und zieht seine Wechsel auf das Breslauer Haus zu einem Betrage, wel¬
cher den sich e r n Werth der Waaren fast erreicht. Der Kaufmann in Breslau
ve> kauft die Waaren, berechnet ihm die Zinsen des vorher gezählten Capitals und
wenige Procente als Commissivnsgebnhren und zahlt ihm den Ueberschuß heraus.
Das Risiko des Handlungshauses besteht darin, daß es die Wechsel, welche der
Jude ausgestellt hat, in der Regel acceptiren muß, bevor die langsamgehende
Fracht in seinen Händen ist. Darauf baut der Jude sein System. Durch drei,
vier, oft mehrere Jahre, ist er ehrlicher Geschäftsmann, endlich, wenn er seinen
Gegner sicher gemacht hat, wagt er deu großen Schlag, zieht eine ansehnliche
Summe auf deu Kaufmann und läßt die Waaren nicht ankommen, indem er sie
anhält, bevor sie die Grenze passirt haben und anderweitig verkauft. Diesem ge¬
wöhnlichen Manöver gegenüber besteht die Taktik des Breslauer Kaufmanns darin,
daß er das Geschäft mit seinem jüdischen Gegner im rechten Augenblick, grade
dann abbricht, wenn der Galizier durch außerordentliche Solidität die Aussicht
eröffnet, daß er nächstens seinerseits auf geniale Weise abbrechen werde. Ist dem
Breslauer Kaufmann seine List gelungen, so empfindet der Jude als einen unersetz¬
baren Verlust, daß er so viel Ehrlichkeit umsonst aufgewendet hat, er klagt heftig
wie über ein Verlornes Capital, aber er bewundert den Kaufmann um so mehr
und wird um so erpichter darauf mit ihm Geschäfte zu machen.
So kommt es, daß ein Handelshaus, welches oft Geschicklichkeit im Abbrechen
solcher Geschäfte gezeigt hat, seinerseits ein unendliches Reuoimn^ und Vertrauen
bei den Juden Galiziens bekommt und mit Geschäftsanträgen überlaufen wird. Auch
das ist ein Beweis von der unvertilgbaren'Güte der menschlichen Natur. Gelingt
aber dem Juden seine List, so verschwindet er ans mehrere Jahre spurlos, kommt
aber vielleicht doch wieder zu demselben Handelshause zurück, wenn er annimmt,
daß seine alte Sünde vergessen und verziehen ist. Es ist ein Verkehr, wie mit
Kindern oder Wilden und als Kinder und Wilde werden sie behandelt. Dies
Beispiel mag statt vieler andern zeigen, daß der Christ in Breslau oft Gelegen¬
heit hat, den Gegensatz zwischen seinem Geschäftsbetrieb und dem der Juden pein¬
lich zu empfinden, zumal trotz einer Anzahl ehrenwerther jüdischer Hänser, die
große Mehrzahl der kleinen jüdischen Geschäftsleute noch viele Verwandschaft mit
ihren polnischen Nachbaren zeigt. Unrecht aber thut der Christ dem Juden sehr häu¬
fig dann, wenn er auch den größern jüdischen Kaufmann wegen seiner nervösen Un¬
ruhe und Hast verachtet, welche ihn oft zu gewagten Geschäften treibt und einen soliden
Reichthum unter Jude» weit seltener macht, als man nach ihrer Betriebsamkeit
annehmen sollte. Auch der Mangel an gentiler Leichtigkeit im Abwickeln der Ge¬
schäfte und an feinem Ehrgefühl, welches der Kaufmann von gesetzlicher Ehren¬
haftigkeit sehr genau zu unterscheiden weiß, wird den Juden mit Unrecht zum
Verbrechen angerechnet. Alle diese höchsten Tilgenden eines Kaufmanns sind erst
die Folgen eines edlen Selbstgefühls, Stolzes, einer sicheren Stellung zu der
menschlichen Gesellschaft, die Blüthen eines freien und leichten Verkehrs mit star¬
ken und guten Menschen auch außer dem Geschäft, sie sind auch bei Christen sel¬
ten genug, war es dem Jude» bis jetzt leicht gemacht, sie zu erwerben?
So lange die Juden in den deutschen Staaten unter dem Druck bürgerlicher
Unfreiheit lebten, war es uicht an der Zeit, ihnen ihre gemeinsamen Eigenthüm¬
lichkeiten und Schwächen vorzuhalten. Jahrelang hat die Presse und die öffent¬
liche Meinung mit bewundernswerther Energie die politische und gesellschaftliche
Gleichstellung der Juden mit den Christen vorbereitet. Das letzte Jahr hat diese
Gleichheit wenigstens begründet, jetzt ist es ebenso sehr Pflicht der Presse, an die Ju¬
den selbst die gemessene Forderung zu stellen, daß sie sich fähig machen, als
Gleichberechtigte mit ihren christlichen Brüdern zu leben, und eine Pflicht des
Staates ist es geworden, die Schwachen und Verkrüppelten unter den Juden da¬
hin zu zwingen, Menschen des 19. Jahrhunderts zu werden, so weit der Staat
überhaupt das Individuum zwingen darf.
Ein Geschlecht, das die eheliche Verbindung mit Christen für eine Gottlosig¬
keit erklärt, das sich für verunreinigt hält, wenn es aus demselben Becher tri ki,
von demselben Teller ißt, aus dem der Christ gegessen und getrunken hat, kann
ans gesellschaftliche Gleichheit mit den Christen keinen Anspruch machen; die Ge¬
meinde, welche in ihrer Synagoge die alten Verwünschungsgebete gegen die Nicht-
juden nicht aufgeben will und sich in Lehre und Gebet als besonderes Volk ge¬
genüber der deutschen Nation, deren Theil sie ist, empfindet, hat keinen Anspruch
auf bürgerliche Gleichstellung mit den Gojim, ein Manu, dessen Gewissen ihm
verbietet, am Sonnabend eine Feder in die Hand zu nehmen oder Geld einzu-
cassiren, ist unfähig, irgend ein Gemeinde- oder Staatsamt zu bekleiden. Die
Mehrzahl der Juden in Breslau ist in dieser Lage, trotz den Bemü¬
hungen unseres vortrefflichen Rabbi Geiger und dem guten Beispiel, welches durch
eine Anzahl angesehener jüdischer Familien gegeben wird. — Es ist gut und schön,
daß der Staat deu Juden die Pforten seines Gesetztempels weit aufgethan hat,
aber wenn er dies gethan hat, muß er uoch mehr thun. So lauge die Juden
als tvlcrirter Staunn mit einem gewissen Quantum von Staatöbürgerrechtcn unter
uns lebten, durste er sie noch eher gewähren lassen; es war auch damals sehr schlimm,
daß er sich um ihre Schulen und die Bildung ihrer Lehrer und Rabbiner so we¬
nig kümmerte, aber er hatte wenigstens das rohe Schutzmittel für sich benutzt,
die falsch nud schlecht Gebildeten von manchen wichtigen Richtungen und Thätig¬
keiten des Staatslebens fern zu halten. Jetzt steht die Sache anders. Der
Staat hat ausgesprochen: ich will einen kranken und schwachen Theil des Volkes
dadurch aufrichten und heilen, daß ich ihm die Rechte und Pflichten der Gesun¬
den und Starken ertheile; jetzt möge er dafür sorgen, daß die Kranken nicht seine
Gesunden anstecken, die Schwachen nicht seine Starken lähmen. — Was bis
jetzt geschehen ist, den jüdische,? Kultus von stupiden Aberglaube» und harter In¬
toleranz zu befreien, ist sehr unzureichend gewesen, der Staat muß selbst helfen.
Wir brauchen ein jüdisches Consistorium (Sanhedrin), eine Bildungsanstalt für jü¬
dische Geistliche, Seminarien für jüdische Lehrer.
Der Sanhedrin wird zunächst durch die Regierung selbst gebildet, welche
eine kleine Zahl nahmhafter Rabbiner zusammenruft, diese ergänzen sich durch
Deputirte, je einer aus jeder Provinz, für deren Wahl durch die Gemeinden sie
einen Modus entwerfen, den die Regierung bestätigt. Die letzte vcttvyirte Verfas¬
sung der jüdischen Gemeinden hat sich als unpraktisch bewiese». Der Sanhedrin
entwirft den Plan eiuer Organisation, die Negierung bestätigt ihn.
Bei einer oder mehreren Universitäten wird ein gelehrter Rabbi als jüdischer
Theolog angestellt. Wer jüdischer Geistlicher werden will, muß den Lehrkursus
eines Gymnasiums durchgemacht und die Universität besucht haben. Die Colle-
gien, welche für seine Bildung nothwendig sind, bestimmt der Sanhedrin.
Bei jedem Seminar muß die etatsmäßige Aufnahme jüdischer Schulamts-
caudidaten gestattet sei», ihren Religionsunterricht besorgt der Rabbi.
Die Negierung hat den zum Sanhedrin zusammentretender Rabbinern ihre
Bedingungen vorzulegen, ohne welche sie die vollständige Emancipation der
Juden nicht bewirken könne. Diese Bedingungen sind: 1) Aufhebung aller Cul-
tusccremonien, Gebete und Formeln, welche den Grundgesetzen des neuen Staates
widersprechen und Abneigung oder Kälte gegen Andersgläubige nähren; 2) Ver¬
legung des Schabbes auf den Sonntag; 3) Erklärung, daß ihrem Gewissen und
ihrer Überzeugung nach die Ehe zwischen Juden und Christen erlaubt sei.
Nur die Individuen und Gemeinden, welche sich zu den angeführten Punkten
bekennen, haben Theil an der neuen Freiheit; wer den Revers nicht unterschreibt,
bleibt tolerirter Jude, für ihn allein bleibt auch in rechtlichen Documenten u. f. w.
die Bezeichnung: Jude. Glanben Sie, ein solches Verfahren wird zwei Dritt¬
theile der Juden aufhören machen, und in den zwei bis drei nächsten Generationen
die Besonderheiten ihres Wesens zum größten Theil aufhebe»; das übrige Drittel
aber wird sich fortwährend vermindern, denn der Uebergang zu einer freien Exi¬
stenz wird nicht mehr durch Cönfessionswechsel erkauft werden müssen.
Aber diese Bestimmungen des Staats sind tyrannisch? Wohl, es ist einige
Tyrannei dabei, aber sie ist vernünftig und nothwendig. Denn das jüdische Ele¬
ment ist für das Leben der östlichen LandestheUe Preußens eine Krankheit, welche
nnr dnrch energische Mittel geheilt werden kann. Niemand fühlt das tiefer und
schmerzlicher, als der gebildete Mann selbst, welcher dem mosaischen Glauben an¬
gehört. Ihr Christen habt keine Ahnung von den bittern Gefühlen der stillen
Demüthigung, dem innerlichen Druck, welchen euer alttestamcntarischer Freund
unter euch sowohl, als uuter der Masse seiner Glaubensgenossen empfindet. Eure
Schonung, mit der ihr das Wort Jude in seiner Gegenwart auszusprechen ver¬
meidet, jede kleine Finte, dnrch die ihr das Erzählen einer jüdischen „Anekdote"
abparirt, ist ihm wie ein Dolchstich, und unter seinen Glaubensgenossen all der
kleine Trödel von alten sinnlosen Bräuchen und Gewohnheiten, von dem näseln¬
der Plärren der Gebete bis herunter zum Gänsefett, mit dem das Gemüse zu¬
gerichtet wird, überall ein Quell des Unbehagens, der peinlichen Befangenheit Es
ist leicht, in großen Dingen groß zu empfinden, wenn man ein ganzer Mensch ist,
aber den kleinen Widrigkeiten des Lebens großen Sinn entgegenzusetzen, das ist
sehr schwer, und dem Juden schwerer, als jedem andern; denn dnrch das bestän¬
dige Reiben mit der Welt, dem er ausgesetzt ist, entwickelt sich in ihm eine Em¬
pfindlichkeit, welche ein kräftiges festes Selbstgefühl sehr selten aufkommen läßt; der
Stärkere wird leicht arrogant, der Weiche sentimental. Wir haben hier in Bres-
lau täglich Gelegenheit das zu bemerken. — Alle Juden von Erfahrung und Selbst¬
gefühl werden Ihnen sagen, daß ihre gegenwärtige Lage höchst unbefriedigend
und drückend ist, und daß der Staat allein im Stande ist, über den Streitigkeiten
und dem Haß der verschiedenen jüdischen Ncligionssccten, dem Verfall des ganzen
Cultus und der Unentschlossenheit der Einzelnen durch ein Machtwort alte Uebel¬
In sonst gut unterrichteten Kreisen fand ich nur zu häufig die irrige Meinung
verbreitet, die Serezaner, welche sich unter Ban Jellachis Fahnen seit dem Sturm
auf Wien und in den ungarischen Wirren einen Namen gemacht, seien ein eigener
Stamm irgend einer südslavischen Nation oder doch wenigstens die militärische
Organisation eines bestimmten Distrikts der Militärgrenze. Mau hat sie gern mit
Jsvlani's Schaaren im 30jährigen und mit den Panduren im siebenjährigen
Kriege verglichen und von diesen hergeleitet. Mit den letzteren haben sie wenig«
seems den rothen Mantel und die Bewaffnung gemeinsam, sonst ist keine historisch«
Verbindung zwischen ihnen und den früheren Corps nachzuweisen. Das wilde,
verwegene Corps des Grafen Jsolani, eines gebornen Fricmlers, bestand aus der
von deu Landständen des Königreichs Kroatien dem Kaiser Ferdinand II. zu Hilfe
geschickten kroatischen Massalinsnrrection. Die Panduren*) dagegen waren ein
bloßes Freicorps, welches der in Slavonien stark begüterte Major Franz Frei¬
herr v. der Trent der hartbedrängten Kaiserin Maria Theresia gegen Preußens
Friedrich II. zuführte, das in der Folge zu einer großen Masse erwuchs, aber
bald nach dem Sturze seines berühmten Führers bei der Beendigung der Kriege
mit Preußen seiner Auflösung nicht entgegenging. Die Serezaner sind ein Gensdar-
merie oder Elitecorps, welches aus folgenden sechs, deu Einfällen türkischer Rau?
berhorden von jeher am meisten ausgesetzte» k. k. Grenzregimentern: dem ersten und
zweiten Banat-, dem Ocnliner-, Ottogzaner-, Szluincr- und Littauer-Regiment
aufgehoben wird. Die übrigen zwei kroatischen Grenzregiwenter (des Warasdin-
Kreuzer und Wauasdiu-Se.Georger) und die ganze slavonische, banaler und sieben-
bürgische Militärgrenze haben keine Serezaner. Dieselben gehören demnach sämmt¬
lich der kroatischen Nationalität an. In der letzten Zeit hat sich in Dalmatien,
auf deu Wunsch des Barus ein neues Serezanercorps gebildet, welches wohl bis
auf 2000 Mann erhöht werden dürfte; die dalmatinischen Serezaner sollen jedoch
nur theilweise die eigenthümliche, bunte Tracht der kroatischen Serezaner erhalten
(wahrscheinlich blos die Elitecompagnie), das Gros derselben wird die Uniformen
der k. k. Feldjäger tragen. Die Benennung „Serezaner" selbst wird von dem
ilyrischen Worte serez hergeleitet, welches etwa „Rotte" — „Haufen" bedeutet.
Die erste Errichtung der Serezanerabtheilungen in der kroatischen Grenze geschah
vor etwa dreißig oder vierzig Jahren und ist zumeist das Werk des k. k. Com¬
mandanten General Grafen Gjulay. Sie haben bis zu Jellachichs kühnem Zuge
nach Ungarn im September vorigen Jahres als eigenes Corps noch mit keinem
andern Feinde gekämpft, als mit ihren unruhigen böhmischen und arnautischcu
Nachbarn, deren wiederholte räuberische Einfälle sie zu öftern Malen tapfer zu¬
rückgeworfen hatten. Sie waren bis dahin ihrer ursprünglichen Bestimmung und
Einrichtung nach lediglich zum Gensdarmeriedienst im Innern und zur Besetzung
der gefährlichsten Posten am äußersten Grenzkordon verwendet worden.
Jellachich bewies, noch ehe er Ban ward, eine große Vorliebe für diese ver¬
wegene Truppengattung; er hatte ihre Bravour im Kampf als Stabsoffizier der
Banalgrenze aus eigener Erfahrung kennen gelernt, ein Sergeant der Screzaner
hatte ihm in einem Gefecht mit böhmischen Horden das Leben gerettet. Als im
März vorigen Jahres Jellachich zum Entsetzen vieler k. k. Stabsoffiziere vom Obn-
sten zum Benus und Generalcommandanten ernannt wurde, äußerte sich die
Freude darüber nirgend lebhafter und enthusiastischer als in der kroatischen Mili¬
tärgränze, welche den Landtag zu Agram damals das erste Mal mit Abgeordneten
beschickte. Unter den Abgeordneten befanden sich mehrere Screzaner, welche eine
ganz besondere Anhänglichkeit zur Person des neuen, populären Baums zeigten.
Als man in Kroatien erfuhr, Jellachich sei in Jnspruck seiner Würde entsetzt und
vom Kaiser als Hochverräther erklärt, zogen sie ihre Messer und frugen mit blitzendem
Auge: Wie weit kann der Weg bis Jnspruck sein? Wo liegt das Loch? Wir wollen hin,
wir befreien unseren Ban aus seinem Gefängniß, so uns Gott helfe! — Welcher Jubel,
als der Bau bald darauf in Agram einritt! — Auf dem kroatischen Landtage
hatte man schon zu Anfang Juli laut und offen vom bewaffneten Widerstande ge¬
gen Ungarn gesprochen und in öffentlicher Sitzung Sammlungen zur Bestreitung
der Kosten für den Kampf mit den Magyaren angestellt. Kriegsrüstungen wurden
getroffen, allem der Mobilstand der kroatischen Grenze drohte zu einem solchen
Unternehmen nicht auszureichen, weil fast die Hälfte jeden Regiments in Italien
unter Nadetzkys Feldherrnstab focht und der größere Theil der slavonischen Grenz¬
regimenter noch zwischen dem damals legitimistisch erscheinenden magyarischen
Ministerium! und dem allbeliebten, allein vom Hof abandonirten Baums der
treuen Schwestcrnation schwankte, weshalb auf Slavonien noch nicht mit voller
Sicherheit zu rechnen war. Unter solchen Umständen machte Jellachich die Sere-
zanerabtheilungen mobil und ließ sie in Agram und WaraSdin zur Garnison ein¬
rücken. Im Juli und August begleitete stets eine treuergebene Leibwache von
zwölf bis zwanzig Serezcmern den Ban auf seine» zahlreichen, nicht gefahrlosen
Kreuz-- und Querzügen durch Kroatien, Slavonien und Syrmien, die er theils machte,
um sich des Volks für seiue im Interesse des Kaiserhauses und der Nation zu be¬
ginnenden Unternehmungen zu versichern, theils um mit dem zum k. k. Commissär
und Vermittler zwischen Ungarn und Kroatien bestellten F. M. L. Baron von
Hrabowski*) zu couferire». Im August standen die Serezaner mit einigen an¬
dern Truppen längs der Drave, die kroatische Grenze gegen Ungarn zu be¬
wachen; am 12. September als das Corps des Baums zuerst den ungarischen
Boden jenseit der Drave und Mur feindlich betrat, bildeten Serezaner die Avant¬
garde. Welche Dienste sie dem Baums bei seinem Zuge in Ungarn, namentlich
bei Verpvlje, dann beim Sturm auf Wien und in dem gegenwärtige». Kriege ge¬
leistet, ist im Bösen und Guten Jedermann bekannt. Sie sind die Blüthe der
kroatischen Regimenter, ausdauernd in jeder Strapaze, im Kampfe behend, kühn
und schnell enragirt, überall sah mau sie an den gefährlichsten Posten und fast
jedesmal siegreich; freilich kam ihnen anfänglich das Ungewohnte, Wildkriegerische
und Erschreckende der Erscheinung sehr zu statten. Auch bildete sich bei denselben
frühzeitig Corpsgeist und Selbstvertrauen in einem beträchtlichen Grade aus. Ne¬
ben diesen Tugenden haben sich auch ihre kleinen menschlichen Schwächen berühmt
gemacht. Wenn sich die Serezaner bei ihrem ersten Erscheinen auf dem Kriegs¬
schauplatz trotz der von den Offizieren des Baums streng gehandhabten Manns¬
zucht, nicht selten exzessiv zeigten und einer übermäßigen Neigung zum Plündern
gern Gehör gaben, muß man dies mit ihrer genauen Bekanntschaft mit deu Sitte»
und der Kriegführung ihrer böhmischen und türkischen Nachbarn und dem Verkehr
mit diesen wilden barbarischen Mensche» einigermaßen entschuldige». Beim Zuge
nach Ungarn erhielten sie ihren ersten, gleich der übrige» Mannschaft rationell ge¬
kleideten Offizier in der Person eines Vetters des Ban, des Freiherr» Albert
Jellachich de Bnzim. Früher standen sie nnter dem Commando der betreffenden
k. k. Gnmzossizicre, uur die Einrichtung der untern Chargen war eine eigenthüm¬
liche; ihre Cvrporale, welche meist deutsch zu lesen und zu schreiben wissen, heißen
nach türkischer Weise Harambassa'S, die Feldwebel Oberbassa's. Beide Sergeanten
tragen als UntervMerSanSzeichnnng gelbseidene PortepM, welche sie in Erman¬
gelung des Säbels um deu Beiugriss ihres Handczar's schlingen, außerdem pflegt
der Oberbassa meist eine reich verzierte Kappe und einen rothen, pelzverbrämte»,
nach Husareuweise zugeschnittenen Dolman zu trage». Die Kleidung der Mann¬
schaft besteht aus einer rothen oder blauen Tuchweste mit zahlreichen wcißmctallncn
Knöpfen, meist recht zierlich ausgenäht, einer rothen Kappe mit langer Quaste
und einem lauge» rothe» Mantel aus grobem Tuche, mit einer weiten, durch
Schnürbänder zusammengehaltenen Kapuze. An den Füßen haben sie buntfarbene,
wollene Fußhöcker und eine Art Sandalen (Opanken), ans roher Ochsenhaut, mit
dünnen Riemen oder gedrehte» Darmschuüre» um die Knöchel befestigt. Im
Sommer gehen sie sämmtlich in bloßen Hemdärmeln und weiten, weißen, unten
gefranzten Leinenl'einkleidern; im Winter dagegen ziehen sie entweder enge, bis
an die Knöchel gehende Tuchhosen oder derlei etwas weitere, nach türkischer Ma¬
nier zugeschnittene (Dunje), dann grobtnchne, meist braune Jäckchen an. Die Be¬
waffnung des Serezauers besteht in zwei langen Pistolen, einem türkischen Messer
(Hcmdczar) und einer langen, sehr sicher schießenden Flinte, erstere werden sammt
der Munition in einem breiten, ledernen Leibgürtel geführt, die Flinte hängt über
den Rücken.
Auf seine Schießwaffen, bei denen er gleich dem Türken und Serben dem
Feuersteinschloß vor jeder andern Einrichtung den Vorzug gibt, verwendet der
Serezaner die größte Sorgfalt, sie sind sein größter Schatz, oft ein Erbstück meh¬
rerer Generationen, oft eine selbstgewonnene Türkeubeute. Mitunter trifft mau
bei ihnen Flinten, welche am Lauf mit zehn bis zwölf silbernen Ringen verziert
und am Anschlag reich und künstlich mit Perlmutter ausgelegt sind. Wenn der
Serezaner — wie jeder andere Grenzer — auch durch Erbtheil oder Kauf eine
ganze Mignonrüstkammer daheim hat, wird er sich doch selten entschließen, eine seiner
Pistolen oder Flinten an einen waffenliebenden Städter zu verkaufen. „Ich gebe
meine Pistolen nicht weg" wird gewöhnlich erwidert, „sie sind Erbgut und stammen
von meinem Großvater her, der sie bei Belgrad oder Banjaluka einem türkischen
Aga abnahm." — Jemand fragt einen graubärtigen Serezaner: „Ist dir dein
Pistolcupaar feil? ich gebe dir so und so viel mehr als sie dich oder deinen Vater
gekostet haben." — Und wenn du mir hundertmal so viel geben wolltest, du be¬
kommst sie doch nicht. — „El du thust ja, als wären deine Pistolen aus purem
gediegene» Golde und kosteten mehr, als deines Vaters Haus und Hof." — Mich
kosten sie sehr wenig, lieber Herr! nur zwei Groschen für Pulver, aber den frü¬
hern Besitzer, einem ungläubigen Räuberhauptmann, der mit seiner Bande über
die Grenze kam und in unserm Dorfe zwanzig Kühe stahl, eine Kugel durch den
Kopf. Es sind wohl achtzehn Jahre her; der Strauß mit dem türkischen Diebs¬
volk ward uns schwer und sauer, wir jagten ihnen fast zwei Tage auf dem jen¬
seitige» Gebiete nach. Du siehst doch nun, daß ich dir meine Pistolen selbst um
das hundertfache von dem, was ich dem Türken dafür gab, nicht verkaufen kann?
— Daß die Serezaner, durch ununterbrochene Uebung von der K^abenzeit an,
ihre Schießwaffen vorzüglich zu hantbiereu wissen, brauche ich kaum zu erwähne».
Ich selbst sah manchen dieser Nothmäntler eine Schwalbe im Flug aus der Lust
holen und daß dies nicht wenig zu bedeuten hat, wird jeder Schießliebhaber zu¬
gestehen. Diese Leute haben auch durchweg ein so großes Vertrauen in die Schicß-
fertigkeit ihrer Kameraden, daß, wenn es eine Wette gilt, im Nu wohl zehn Se¬
rezaner sich dazu hergeben, auf vierhundert Schritte Distanze ein Gnldenstück zwi¬
schen den ersten zwei Fingern der erhobenen linken Hand einem Kameraden als
Schußziel hinzuhalten. Nie wird man einen solchen Zielhalter beim Schuß er-
blassen oder zucken sehen, aber nie wird auch der sichere Schütze das kleine Ziel
verfehlt haben! —
Da die Serezaner aus den Grenzregimentsbezirken eigens herausgehoben
werden, trifft man in ihren Reihen lauter feste, imposante Gestalten; kurze und
geduldige le Männer finden sich seltener unter ihnen, häufiger lange, hagere, ge¬
streckte Gestalten, doch durchweg von eisenfestem Knochenbau. Die Gesichter sind
durchgängig sieht und gebräunt, die Augen dunkel und feurig, das kurzgeschorne
Haupthaar und der Schnurrbart in der Regel schwarz oder dunkelbraun. Gebo¬
gene Habicbtuasen findet man unter den Serezanern, wie überhaupt unter den
Slaven des Südens viel häufiger, als die kleinen aufgeworfenen Nasen, welche
man in Deutschland und anderwärts allen Völkern der slavischen Race mit Unrecht
zuzuschreiben Pflegt. Im Umgang zeigt sich der Serezaner geschmeidig und will¬
fährig und dabei doch stolz, ja man möchte sagen hochfahrend. Gang und Hal¬
tung ist bei ihm nicht steif und gedrechselt, sondern natürlich leger, hat er doch
das reguläre Exerzitium der übrigen Truppen nicht so lange getrieben, und aus
dem Grenzcordon wird der Dienst zu Pferde gethan werden.
Die Tage des Falls der östreichischen Kaiserstadt verschaffte den Serezanern
einen eigenthümlichen Nimbus, man staunte über ihre Bravour, wunderte sich
über ihr ungewohntes, wildromantisches Aeußere, und in gewissen Kreisen waren
sie förmlich vn voxne. Ihr Ruf war bis zum alten Radetzky gedrungen, der sich
ihrer etwa dreißig von seinem Freunde Jellachich zur Leibwache erbat, welche ihm
denn auch richtig über Fiume nach Mailand spedirt worden sind. Auch Fürst
Windischgrätz und Melden umgaben sich mit Serezanerleibwachen. In der That
dürste man anch schwerlich bessere Leibwächter finden, als die Serezaner, von so
großer Treue und Anhänglichkeit, so entschlossen und muthig sind sie.
Am Kreuzherruplaize zunächst der alten steinernen Brücke, auf einem Plateau,
welches durch die Uebervölkerung des Moldaukanals, durch Wegräumung, des
Kreuzherrngärtchcns u. f. w. mit vieler Mühe und großem Kostenaufwand ge¬
wonnen wurde, befindet sich jenes herrliche in Erz gegossene Standbild inmitten
einer kleinen, freundlichen Gartenlagc, dnrch dessen Errichtung man im vorigen
Jahre bei der Jubelfeier der Prager Universität, das Andenken ihres Stifters in
würdiger Weise zu feiern dachte. Der gewählte Ort ist einer der malerischesten
Punkte von Prag und läßt es an einer bedeutungsvollen Umgebung für das Mo¬
nument nicht mangeln. Auf der einen Seite die steinerne Brücke mit ihren ge¬
waltigen felsenfesten Bogen, eine Schöpfung des Kaisers; aus der andern Seite
die Universität, die kühngewölbte Geistesbrücke, die aus Karls Jahrhundert in
das unsrige hinübergeführt; im Hintergrunde als romantische Dekoratiouswand
der Hradschin, der vom andern Ufer mittelalterlich finster herut'erschaut — und
zu unsern Füßen der Mvldaustrom, dieses murmelnde Orakel, welches in unver¬
ständlichen Monologen vvrüberranscht, als hätte man eine altböhmische Reimchronik
in die Wellen geworfen, aus der Ms nun die Moldaunympfe verworrene Sagen
erzählt.
Die Enthüllnngsfeier des Monuments und die conventionellen Festlichkeiten des
Jubeljahrs unterblieben bei den Stürmen des vorigen Jahres. Es ist so besser;
sie wären viel zu kleinlich ausgefallen, neben den gewaltigen Ereignissen, die das
Jahr 1848 zum Ueberfluß markirten.
Der Schöpfer dieses Kunstwerkes ist der Bildhauer I. C. Hähnel ans
Dresden, durch das Beethoven-Monument zu Bonn hinreichend bekannt. Er ließ
es an geistreicher Conception und äußerst sorgfältiger Ausführung auch bei diesem
Werke seiner Hand nicht fehlen und bemühte sich mit lobenswerther Gewissenhaf¬
tigkeit, durch ein genaues Studium der Zeit Karls IV. und der vorhandenen
Portraite (namentlich der Büste an der Prager Domkirche und mehrerer Fresken
zu Prag und Nürnberg) das wahrhafte Bild des Kaisers von den Todten zu erwecken.
Der Kaiser steht nach seiner gewohnten Weise sanft nach vorne geneigt und
bietet uns mit einem gewinnenden Lächeln den Stiftungsbrief der Universität in
der rechten Hand dar, während er die Lin?e nachlässig und leicht in seine Hüfte
stutzt. In seinem weichlächelndcn Gesichte vermissen wir keinen jener individuellen
Züge, die uns ans gelungenen Portraits geläufig siud, aber auch uicht jenen
idealen Anhauch, mit dem der Pygmalionskuß der Kunst die starre Gestalt beseelt.
Eben so treu, wie der Typus und die Haltung, ist auch die zeitgemäße Ausstat¬
tung des Kostüms. Eine geschmackvolle, reichverzierte HauSlrone, unter der die
langen Haare reichlich hervorwallen, bedeckt das Haupt; der kostbare, durch eine
Schließe zusammengehaltene Mantel von schwerem Stoffe ist in natürlichem Falten^
wurf umgeschlagen; ein mit reichen Ornamenten geziertes Wehrgehänge schließt sich
an den GürK-l des Untergewandes an und trägt ein mächtiges Nitterschwert.
So wie sich das Fleisch mit dem Himmel durch einzelne gute Werke, durch
Gebete und Opfer nach der religiöse» Anschauung des Mittelalters abzufinden
wußte, so versöhnt sich hier ans ähnliche Weise das unmittelbare, empirische Da¬
sein mit den Forderungen des Ideals. Der Stiftungsbrief der Universität, den
der Kaiser mildlächelnd in der Hand hält, sichert ihm den Eintritt in das Pan¬
theon der christlichen Kunst.
Ich behaupte, daß wir, wenn ihm diese Urkunde aus der Hand genommen
würde, nicht mehr den milden Sonntag, der uus aus dem Lächeln seines Ant¬
litzes entgegeugelenchtet, mitfeiern könnten. Aber auch in diesem Falle wäre leicht
eine andere raüo snkliüeus dieses Lächelns zu finden. Wir könnten ihm eben so
gut eine Blume in die Hand legen, die er einem spielenden Kinde darreicht, oder
eine milde Gabe, die er in edler Freudigkeit, der Vorschrift der Kirche gemäß,
einem Armen spendet, der ihn eben um ein Almosen ansieht. So meisterhaft ist
die Arbeit des Künstlers und doch steht dieser Kaiser fremd da, inmitten eines
fremden Geschlechtes. Das weiche, fast süßliche Lächeln, welches um den Mund
des klugen Karls spielte, ist es ein guter Vorwurf für die Sculptur? Paßt der
historische Karl IV. zu einer Statur in großen Verhältnissen? Das Piedestal ist
mit vortrefflichen Sculpturen nud reichem architektonischen Schmucke verziert. An
den 4 Seiten desselben sitzen in 4 Nischen, die allegorisch personificirten Fakultäten
und deuten uns so den Inhalt jeuer Urkunde, die Karl IV. verschlossen in seiner
Hand hält. Sie sind meisterhaft charakterisirt und treten lebendig, in höchster
plastischer Bestimmtheit, ans dem farblosen Schattenreich der Allegorie heraus.
Die Theologie, die geweihte Sybille voll ascetischen Ernstes, sitzt da in der
heiligen Gewißheit des Glaubens, die Rechte mit dem Kreuze auf die Bibel
stützend, in der Linken das Buch des heiligen Thomas Aquin, das verzückte Auge
zum Himmel erhoben. Die Philosophie, die ernste Griechin, hat sich eben¬
falls aus der weltlichen Zerstreuung gesammelt und in-den ideellen Frieden des
Geistes zurückgezogen. Aber sie versenkt sich in das eigene Innere, um hier des
wirren Lebens Einheit zu finden. Statt der Verzückung des Betens finden wir
die bei ihr denkende Betrachtung, statt dem Kreuz und den heiligen Büchern eine
leuchtende Fackel und die Werke des Plato und Aristoteles. Der abstrakten In¬
nerlichkeit der Theologie und Philosophie stehen die beiden andern Fakultäten ge¬
genüber, die in praktischer Thätigkeit in die Weite der Welt hinausstreben. Die
Jurisprudenz, die ernste Römerin mit der Wage in der einen und den Nechts-
sammlnngen des Kaisers Justinianus in der andern Hand, deutet mit rücksichts¬
loser Strenge auf eine Gesetzesstelle und die Medizin, die Weltbürgerin, voll
allgemeiner Menschenliebe, mit dem unvermeidlichen Symbol der Schlange an der
Rechten und dem Buche des Hyppvkrates im Schooße, blickt Vertrauen einflößend
und zur Hilfe bereit vor sich hin. —
Auf 4 schlanken Säulchen, die an den abgefallen Ecken des Postamentes an¬
gelehnt ruhen, befinden sich ebenso viele sehr sorgfältig ausgeführte und mit
größter historischer Genauigkeit behandelte Statuetten. Sie stellen 4 berühmte
Zeitgenossen dar, durch die in lebendiger Weise der Umfang und die Hauptrich-
tungen von Karls geistiger Thätigkeit veranschaulicht werden. An der andern
Seite rechts steht Ernest von Tardnbitz, der erste Kanzler der Universität, zur
Linken J-1n Ockv von Wlasjm Erzbischof von Prag; ans der Rückseite rechts der
ritterliche Beiles von Kolowrat, links der Erbauer des Prager Doms, Meister
Aras. Schlanke gothische Baldachine überdecken diese kleinen, in echt romantischen
Style gehaltenen Gebilde. Aehnliche Bilderdächer, nur reicher ornamentirt und
breiter ausgedehnt, erheben sich auch über den allegorischen Gestalten der Fakultäten.
Ein reiches Denkmal, ein schönes Kunstwerk und doch ^- für Böhmen kam
es zu spät. Die Leute freuen sich nicht mehr über das gütige Lächeln des alten
Jede Periode in der Weltgeschichte hat ihre großen Männer und ihre Lite¬
ratur aufzuweisen. Der Belagerungszustand, der über vier Fünstheile der östrei¬
chischen Monarchie im Jahre 184» v. Chr. Geb. verhängt ist, wird unbestreitbar
Epoche in der Weltgeschichte machen. Diese wird die Thaten jener Männer zu
würdigen wissen, welches dem Kriegs- und Staudrechte Kraft und Weihe zu ver¬
leihen wußten. Die Literaturgeschichte wird nicht minder Stoss finden, sich zu
bereichern. —
Herr Wenzeölaw Georg Duncker ist ein Patriot im vollen Sinne des Wortes.
Sein Patriotismus, sein schöner Sinn für Ordnung, Gesetz und Polizei schweift
phantastisch über Grenzmarken und Nationalitäten hinaus. Er genießt seit lange
in Wien den Ruf, eben so heiß für Rußland wie für Oestreich zu fühlen. Herr
Wenzeölaw Georg Duncker wußte sich in diesem Zeiralter unglückseligen Schwan¬
kens gewisse Grundsätze zu bewahre», als da siud: der Zweck heiligt die Mittel,
oder: Wer der Polizei dient, dient dem Staate, oder: Der Unschuldige muß
mit dem Schuldigen leiden, oder: Einen Bruder der Polizei angeben, heißt für
das Institut der Familie und der Gesellschaft kämpfen. — Sie werden
mich verstanden haben und Herrn Duncker mit mir bewundern, wenn ich Ihnen
sage, daß er vermöge dieser Grundsätze für das Wohl russischer Familien eben
so besorgt war, wie sür das Fortbestehen der östreichischen Gesellschaft. Sein
Eifer wurde höhern Orts anerkannt. Er erhielt seit einer Reihe von Jahren
eine Masse goldener und silberner Medaillen aber — ohne Oehr und Band. Der¬
gleichen anzunehmen, verbietet seine Bescheidenheit. Im Stillen wirkt sich's anch
am Besten.
Herr Duncker hat ein Buch während des BclagernngSzustandes erscheinen
lassen, betitelt: Denkschrift der Oktoberrevolution in Wien. Es ist
sein Verlagseigenthum und zählt 900 Octavseiten. Das Merkwürdigste an diesen:
Buche ist Herr Duncker selbst. Er hat sich auf jeder dritten Seite eine Dosis
Unsterblichkeit dekretirt. Herr Duncker, dessen Namen in andern Schilderungen
der Wiener Katastrophe nirgends genannt wird, spielt in seiner eigenen Beschrei¬
bung eine der Hauptrollen. Er ist überall gegenwärtig, er ist überall betheiligt,
er weiß sür alles Rath und Mittel, seine Wirksamkeit ist stciunenswerlh — als
Gutgesinnter natürlich.
Das Buch erschien heftweise, und wie bemerkt, während des Belagerungs¬
zustandes. Ueber die Tendenz kann daher kein Zweifel obwalten. Die ersten
Lieferungen des Werkes von.Lügen, Entstellungen, Verläumdungen und Denun¬
ziationen strotzend erfreuten sich des herablassendsten Wohlwollens von Seite des
Freiherr,? von Melden und der hohen Civilantoritäten. Herr Duncker machte bril¬
lante Geschäfte, deun sein Buch hat einen gewissen Werth dadurch, daß alle Ak¬
tenstücke jener Periode, Plakate, Kundmachnngen :c. darin zu finden sind. Herr
Duncker hat fleißig gesammelt, wenn anch ungeschickt zusammengestellt. Die Dick¬
leibigkeit seines Werkes sprach für dessen Ausführlichkeit, und diese wurde von
vielen Seiten gefordert. So kam es, daß er guten Absatz fand. Herr Duncker,
der hier zum ersten Male öffentlich für Staat, Gesellschaft und Familie ge¬
wirkt hatte, wollte dafür auch eine öffentliche Anerkennung, er aspirirte auf ein
Goldstück, das er im Knopfloch tragen könne. Seine Bemühungen jedoch waren
vergebens. Da schickte er voll edlen Zornes die letzte Lieferung in die Welt, und
um dieser willen verdient sein Werk, ein Phänomen in der Literaturgeschichte des
Belagerungszustandes genannt zu werden. In diesem letzten Hefte nämlich, wel¬
ches die Erstürmung Wiens durch die k. k. Truppen behandelt, erzählt Herr Dun¬
cker mit historischer Genauigkeit einen guten Theil der Gräul-, Mord- undPlün-
derungssccnen, welche von den k. k. Truppen in der Hauptstadt verübt worden
sind. Abgesehen davon, daß in keiner bis jetzt erschienenen Broschüre „über die
Oktoberrevolution" diese Details aufgenommen wurden, kann ich versichern, daß
der größte Theil derselben anch den Wienern selbst erst durch Duuckers Buch in
ihrer ganzen schauerlichen Ausdehnung bekannt geworden sind.
Für die Aechtheit seiner Angaben bürgt nicht sowohl sein Charakter, als Frei¬
herr v. Böhm, der jetzige Gouverneur Wiens, unter dessen Herrschaft die letzte
Lieferung aus der Presse kam. Herr Duncker mußte für seine Angaben vollwichtige
Belege in der Tasche haben, sonst hätte er nicht gewagt zu erzählen, was er er¬
zählt hat. Die Sache machte Aussehen. Die Geschichte brachte den Gouverneur
in Wuth. Er verlangte von Herrn v. Kuffa, dem civilen Helfershelfer des Kriegs¬
gerichtes, daß er Duncker zur Rechenschaft ziehe. Doch dieser warnte vor größe¬
rem Skandal. Er bemerkte dem Herrn Gouverneur, was wir eben bemerkt haben,
daß Herr Duncker nämlich seine Angaben nicht geschrieben hätte, wenn er nicht
für jeden k. k. Mord unumstößliche Beweise produziren könnte. Das Kriegs¬
gericht würde ihn freisprechen müssen, und das hieße soviel, als die Mordscenen
amtlich bestätigen. Freiherr v. Böhm stand sofort von der Verfolgung Dunckers
ab. Wir lassen einige Auszüge aus dem letzten Heft folgen. Das Buch ist
wahrscheinlich in Deutschland wenig gekannt, und Herr Duncker wird uns zum
Dank verpflichtet sein, wenn wir es auf diese Weise dem deutschen Lesepublikum
empfehlen.
Seite 746. — Zwischen 6 und 7 Uhr Abends (28. Oct.) erschien in der
Jägerzeile das erste k. k. Militär, ein Paar Züge von Mazuchelli Grenadieren,
welche sich mit dem Rücken an das Kaffeehaus postirten. Die Straßen waren
menschenleer. Da kamen, es war schon Dunkel, zwei Männer des Weges, und
wurden von den Grenadiren mit „Halt! Wer da?" angerufen. „Gut Freund"
war die Antwort. „Nur her" rief eine Stimme, und beide Männer gingen hier¬
aus zu deu Grenadieren. „Visitiren, visitiren" scholl es aus dem Häuser der
Grenadiere; dann: „Sie haben Patronen." „Patronen"? entgegnete eine Stimme,
vermuthlich jene des commandirenden Offiziers: „Drei Schritt vorwärts! Fertig!
Feuer!" — Es fielen 6 — 8 Schüsse. Die beiden Opfer fielen tödtlich getroffen
auf's Straßenpflaster. Gleich darauf kam ein Mann an der Seite des Gasthofes
zum Lamm die Straße herauf. „Halt" schreien die Grenadiere, allein der Mann
hielt nicht an. Es wurde noch einmal „Halt" gerufen, doch Jener fing an zu
laufen; darauf folgten einige Schüsse und das Opfer fiel. Die Grenadiere liefe!,
zur Stelle hin. Man fand den Mann blos verwundet. Ein Grenadier schoß ihm
hieraus noch dnrch die Brust, und so hauchte der Unglückliche sein Leben ans. —
Bemerkenswerth ist es, daß einer der beiden zuerst Erschossenen zwei Stunde ü
später aufstand, jedoch wieder auf's Straßenpflaster fiel, dennoch aber noch so viel
Kraft hatte, auf alle» Vieren gegen die Taborstraße zu kriechen, wo er wahr¬
scheinlich in das Spital der Barmherzigen gebracht wurde. Die Grenadiere ließe»
den armen Teufel fortkriechen; vermuthlich bereuten sie nun bei kälterem Blute
das Geschehene. —
S. 7ö0. — Im Hause Ur. 15 t wurde alles ausgeplündert. Ueber den
Jammer, der im ganzen Hanse hörbar war, kam die älteste Tochter des Eigen¬
thümers, Anna Schrote, aus ihrem Versteck im Keller mit ihren zwei Schwestern,
1V und 12 Jahr alt, herauf, und als sie eben an die Kellerthür angstvoll und
am ganzen Leibe zitternd treten wollte, griff ein Soldat, der sie kaum erblickte,
nach ihren goldenen Ohrringen, von dem es ihr jedoch gelang, sich loszureißen,
und indem sie sich in ihrer Todesangst in den offnen Hof hinauswagte, traf sie
eine Kugel in den Unterleib, und uach vier martervollen Stunden endete sie ihr
Leben. — Um Mitternacht hatte sich in diesem Hause eine Parthie Soldaten, wozu
später ein Offizier kam, eingefunden und plünderten alles, was nur da war,
sowohl dem Eigenthümer des Hauses, als seine Parteien. Endlich befahl der
Offizier, das Nest anzuzünden, was auch getreulich befolgt wurde, und hierauf
ging derselbe in das Gewölbe, wo die Leiche der erschossenen Tochter sich befand.
Heuchlerisch bedauerte er die Eltern und zog mit eigener Hand von einem Finger
der Todten einen schönen goldenen Ring, den er als Andenken an diesen trauri¬
gen Vorfall aufzubewahren vorgab. — Nur sanfte Gewalt vermochte es den bis
zum Wahnsinn aufgeregten Schrote von seinem geplünderten und in Brand ge¬
steckten Hause und von der Leiche seiner Tochter wegzubringen. Schrote gesteht
frei und offen, daß ihn gute Freunde und selbst seine Gemahlin wiederholt auf-
gefordert, seine besten Habseligkeiten für mögliche Fälle wegzuräumen, allein immer
erwiderte er nur: „ich habe zu viel Achtung vo.r den k. k. Truppen, als daß mir
so etwas nur träumen könnte, und dies um so mehr, da ich mir durchaus nichts
vorzuwerfen habe." —
(Gegenüber wohnte der Gastwirt!) Thannel. Sein Haus wurde geplündert.
Er selbst mit entblößtem Haupte ohne Barmherzigkeit über den Wall hinab in die
Nähe des Lagers geführt nud dort erschossen.)'
S. 765. — Hakvb Jost, Hausbesitzer von Ur. 34, ein feiger, kränklicher
Mann, wurde aus seinem Versteck geholt und sogleich erschossen. In demselben
Hanse wohnte Leopold Bree, Vater dreier Kinder. Er wurde vor der Hausthür
erschossen. Ferner wurden in diesem Hause der Gärtner Baumgartner mit
Gewehrkolben zusammengeschlagen, zwei andere Männer, Kraus und Schmidt,
unschuldig erschossen.
Im Hanse Ur. 31 wurden vier Nationalgarten aus ihrem Verstecke gezogen,
in deu Wallgraben geführt und erschossen.
S. 767. Hausnummer 33. Einer Wittwe gehörig. In dieses drang das Mi¬
litär uach 2 Uhr Nachmittag ein. Auch in diesem Hause wohnten lauter arme
Leute, die sich aus Furcht zusammen in ein von den Schüssen freies Zimmer be¬
geben hatten. In dem einen Zimmer war der Hausmeister, ein betagter sehr
ruhiger Maun und sein Vetter, ein Tischlergeselle, dann ein alter fast blinder
Mann, Pfrnndler und Invalide, ferner der Hausmeister vou Ur. 3l. Die ersten
drei wurden vom Militär fortgeschafft und über dem Walle, im Felde erschossen.
Es ist schrecklich, daß man sogar deu blinden Invaliden nicht verschonte. In
demselben Hause war ein a'ter blödsinniger Mann, Namens Buxbaum, der nicht
fortzubringen war, weshalb auch sein lediger Sohn, ein Weber, bei ihm geblie¬
ben war. Sie wurden im Vorhanse erschossen und mir Bajonnetten durchstochen.
Aus dem Hause Ur. 22 wurde der Tischler Schieb auf die Straße ge¬
schleppt, mit Gewehrkolben niedergeschlagen und endlich auf der Erde liegend er¬
schossen. Im Hanse Ur. 23 wurden 2 Weber erschossen, weil die Soldaten
nichts bei ihnen zu plündern fanden. Eben so der Weber Seefeder im Hanse Ur. 42.
Der Lederer Auchmann im Hanse Ur. 43, sämmtlich Familienväter <S. 768).
-> Die Hänser Ur. 24 und 25 wurden bU>ö geplündert, nicht angezündet.
Mehrere Hauseigenthümer und Inwohner, meistens alte Männer wurden ersto¬
chen, erschlagen oder erschossen, oder man brachte ihnen gefährliche Wun¬
den bei. (S. 769).
S. 769. Am 30. führte man 57 Leichen aus dieser einzigen Gasse und dem
Liuienwalle fort, jene nicht mitgerechnet, die das Militär ans den Häusern geholt
und über dem Walle auf den Feldern erschossen und auch daselbst begrabe» hatte.
Man hält sie alle für schuldlose Opfer. So viel ist gewiß, daß von allen 57' Lei¬
chen nicht eine in der Gegenwehr gefallen ist, und eben so sicher ist es, daß keines
der Häuser der Johannisgasse durch das Bombardement angezündet wurde, son¬
dern einzig und allem durch die Rache und den Muthwillen der Soldaten, mit¬
unter auf das Geheiß der Offiziere. —-
In der Wiener Zeitung vom 15. v. M. ist folgendes zu lesen: Se. Maj. der Kaiser
haben das vou Wenzeslaus Georg Duncker verfaßte Werk über die Octoberereignisse
wohlgefällig (!!) aufzunehmen und dem Verfasser als Zeichen des allerhöchsten
Wohlgefallens durch den Oberst-Kämmerer, Grafen von Lomkoronsky, einen Bril-
lantriiig zustellen zu lassen geruht. —
Bunsen, jetzt 55 — 56 Jahre alt, ist gebürtig aus Corbach im Waldeckischen.
Er, der jetzt in den glänzendsten Verhältnissen lebt, ist der Sohn sehr armer
Eltern, sein Vater war Unteroffizier in holländischen Diensten. Freunde und
Gönner, welche das schon in früher Jngend aufstrebende Talent erkannt hatten,
ließen ihn auf ihre Kosten in Göttingen studiren. Er studirte Philologie und Theo¬
logie und erregte im philologischen Seminar Heyne's Aufmerksamkeit. Durch
dessen Empfehlung wurde er Führer eines reisenden Engländers, begleitete densel¬
ben durch Frankreich nach Italien, entzweite sich aber in Florenz mit ihm und
blieb in dieser Stabs zurück. Zu seinem Glück kam um diese Zeit Niebuhr als
preußischer Gesandter nach Italien, lernte den reichbegabten Jüngling kennen,
nahm ihn als Privatsecretär mit sich nach Rom und verschaffte ihm Gelegenheit,
in mehrern vornehmen Häusern deutschen Sprachunterricht zu ertheilen. So er¬
langte er auch Zutritt in dem Hause eiuer reichen Engländerin, seiner spätern
Schwiegermutter, welche ihn in den Cirkeln regelmäßig mit der Formel vorzustellen
pflegte: ,Muster Lunsen, >öl>c> l'ormvs tuo Spint öl' «liuiAtiter." Durch
seine Verheirathung im Anfang der zwanziger Jahre erlangte er zwar in der einen
Hinsicht eine unabhängige Stellung, fühlte sich aber in anderer Beziehung durch
die pecuniäre Abhängigkeit von Frau und Schwiegermutter gedrückt. Seine Ge¬
mahlin, mit welcher er in glücklicher, kinderreicher Ehe lebt, war schon damals
weniger durch Schönheit, als durch häusliche Tugend, durch Geist und Charakter
ausgezeichnet. Ihre geselligen Formen sind etwas schroff, für den Augenblick mehr
zurückstoßend als gewinnend, ihr Kern durchaus edel. Sie scheint das ausge¬
zeichnete Sprachentalent ihres Mannes zu theilen: sie hat durch den Umgang mit
demselben in kurzer Zeit vortrefflich Deutsch sprechen lernen, ohne je einen Fuß
auf deutschen Boden gesetzt zu haben. Nachdem Bunsen schon längere Zeit ohne
Titel als Legationssccretär fungirt hatte, wurde er auf Niebuhr's Vorschlag
zum wirklichen Legationssecretär ernannt. Wenn wir nicht sehr irren, so waren
damals auch Brandes (jetzt Professor in Bonn) und Tholuck als sogenannt«-
Gesandtschaftskanoniker Niebuhr beigegeben, ein Umgang, der auf Bunsen's theo-
logische Richtung nicht ohne Einfluß bleiben konnte. Im Jahr 1823 kam der
Vater des jetzigen Königs nach dem Congreß zu Verona nach Rom, um die be¬
rühmte Weltstadt kennen zu lernen. Niebuhr, dem es eigentlich zugekommen
wäre, den Führer zu machen, langweilte den königlichen Herrn durch eine gewisse
Schroffheit und durch wissenschaftlichen Rigorismus"). Bunsen dagegen benahm
sich sehr taktvoll und geschmeidig, wurde zum Cicerone erkoren und gewann des
Königs ganzes Herz. Nachdem Niebuhr bald darauf seinem Wunsche gemäß der
Gesandtschaftsstelle enthöbe» und in Bonn als Professor angestellt worden, da
wurde Bunsen von Sr. Maj. zum wirklichen Geschäftsträger in Rom ernannt,
und zwar ohne daß er je in Berlin gewesen war! — Es scheint, daß er schon
während der Anwesenheit des Königs in Rom mit demselben über seine liturgi¬
schen Wünsche gesprochen hat. Wenigstens correspondirte er von dieser Zeit an
darüber mit dem König, welchem bekanntlich die neue Agende eine große Herzens¬
angelegenheit war, dergestalt, daß Se. Maj. selbst in Gemeinschaft mit dem Ad¬
jutanten v. Witzleben als eigenlicher Urheber dieser vielbesprochnen und vielfach
angefochtenen liturgischen Schöpfung betrachtet werden muß. In wieweit dabei
der König aus die Bunsen'schen Ansichten eingegangen ist, bleibt dahingestellt;
höchst merkwürdig aber und zugleich sehr bezeichnend für Bunsen's Einfluß ist, daß
er für den sogenannten „capitolinischen Gottesdienst" **) der preußischen Gesandt¬
schaft in Rom die Einführung einer abweichenden Liturgie durchzusetzen wußte, in
welcher sich viele und starke Anklänge an die Liturgie der Episcopalkirche finden.
Bunsen that jedoch — wahrscheinlich aus Rücksicht auf die in Deutschland ge-
handhabte Praxis des Königs — mit seiner Liturgie sehr geheimnißvoll; denn
ungeachtet dieselbe gedruckt worden war, so konnte doch Professor Fleck ans
Leipzig während seines der Wissenschaft gewidmeten Aufenthaltes in Rom trotz
aller Bemühungen keinen Abdruck für sich erlangen. Gewiß eine sonderbare Ge-
heimnißkrämerei! —
Im Jahre 1829 kam der damalige Kronprinz, jetzige König, begleitet von
Ancillon, nach Italien. Bunsen diente abermals als Führer und gewann den
Kronprinzen durch die historisch-artistischen Interessen, wie er den königlichen Vater
durch die theologischen Interessen gewonnen hatte. Nun stieg er in kurzer Zeit
zum Ministerresidenten, geheimen Legationsrath und erhielt den rothen Adlerorden,
was ihn seitdem veranlaßte, sich „Ritter" (Ovalere) zu nennen, eine Eitelkeit,
die er nnr mit Spontini und einigen andern theilt.
In dem nun folgenden Kölnischen Streit hat Bunsen eine, wie es scheint,
etwas zweideutige Rolle gespielt. Er kam zur Ausführung des im Zahr 1830
von Preußen mit der römischen Curie vereinbarten und absichtlich doppelsinnig
abgefaßten Breve's über die gemischten Ehen im Jahr 1834 nach Berlin, und
ging von da, nachdem er mit dem Minister v. Alten stein die erforderliche Rück¬
sprache genommen, nach Koblenz. Hier schloß er mit dem damaligen freisinnigen
Erzbischof von Köln, Graf Spiegel, mit dem Bischof v. Hammer von Trier
und dem Bischof Droste von Münster (Bruder des Clemens August v. Droste)
den bekannten Vertrag über die Interpretation jenes Breve's. Diese Ueberein-
kunft sollte verabredetermaßen tiefes Geheimniß bleiben, was man mit unbe¬
greiflicher Naivetät also für möglich gehalten haben muß! Bald genug wurde
die Existenz dieses geheimen Vertrags durch das unter Leitung des Bischofs
v. Bommel in Lüttich erscheinende ^ourml! lüstori^no ac I^.le<;v verrathen, und
in Folge davon entstand der Kölnische Streit. Die Curie durste die mit den
Bischöfen verabredete Interpretation, die sie insgeheim zugestanden, öffentlich
nicht billigen und fragte Herrn Bunsen, ob er d lesen Vertrag geschlossen. Bunsen
stellte das in Abrede-— weil im Journal cle ^le^e einige Nebenpunkte
unrichtig angegeben waren! In Folge des Conflictes kam Bunsen, der seit seinem
ersten Austreten in Berlin mit dem „Cirkel der Wilhelmsstraße," namentlich mit
Herrn v. Thile und mit Eichhorn eng liirt war, im Jahr 1837 wieder nach
Berlin. Nach Rom zurückkehrend, ging er über Wien, um die Vermittlung des
östreichischen Hofes nachzusuchen. Hier sprach er sich noch sehr muthig und mit
der festen Zuversicht auf eiuen günstigen Ausgang des Streites mit Rom ans.
Kaum war er aber über Trieft nach Ankona gekommen, so erfuhr er aus der A.
A. Z. den Pöbelaufstaud zu Münster. Dieser entmuthigte ihn so gänzlich, daß
er die von den Gegnern alsbald mit triumphirender Miene veröffentlichte demü¬
thige Note an den päbstlichen Hof richtete, welche seine plötzliche Abberufung zur
unvermeidlichen Folge hatte. Er würde wahrscheinlich ganz pensionirt worden sein,
wenn nicht die Vermittlung seines hohen Gönners, des Kronprinzen, ihm den
unschuldigen Gesandtschaftsposten bei der Schweiz verschafft hätte. Daselbst blieb
er etwa drei Jahre, hauptsächlich beschäftigt mit Stiftung von Kleinkinderbewahr-
cmstalten und andern frommen Geschäften, wozu die Nähe von Basel reiche Ver¬
anlassung darbot.
Begreiflicherweise fand sein Ehrgeiz unter den Schweizer Bauern keine son¬
derliche Befriedigung. Auf einer Reise nach Berlin legte er dem jetzigen König
den unglücklichen Gedanken eines evangelischen Bisthums zu Jerusalem ius Ohr,
und wußte sich in dieser Angelegenheit eine Spccialmisston nach London zu ver¬
schaffen, wo er als außerordentlicher Gesandter der preußischen Krone nicht etwa
mit der englischen Krone, sondern — mit den englischen Missionsvereinen den
bekannten Vertrag schloß und für Preußen doch nicht einmal vollkommne Recipro¬
cität erlangte! — Um diese Zeit ließ sich der nun verstorbene Minister v. Bülow,
dem das englische Klima nicht zusagte, von London nach Frankfurt an den Bun¬
destag versetzen. Bunsen aber blieb in England, wurde zum Gesandten ernannt
und tauscht in seiner jetzigen Stellung mit keinem preußischen Staatsminister. Er
steht sich, wie wir gewiß wissen, mindestens aus 40,000 Thaler und hatte über¬
dies das Glück, nachdem er eben seinen Gesandtschaftsposten angetreten, wegen
der Pathenreise des Königs ein prächtiges Hotel, Carlton-Terrasse, als beneidens-
werthe Zugabe zu erhalten, — während v. Bülow, wie auch dessen Vorgänger
und Schwiegervater, W. v. Humboldt, nur ein kleines Hans mit drei Fenstern
Fronte bewohnen konnte. Ja, Bunsen wußte sich die Sache noch sparsamer und
zugleich behaglicher einzurichten, indem er mit seiner Familie sogar 10 Meilen von
der Stadt entfernt aus dem Lande seinen Studien lebt, während der Legations-
secretär in London, Prinz Löwenstein ^), die laufenden Geschäfte besorgen muß
und dadurch zu seinem Verdruß an das Hotel festgebannt ist. In London hat
Bunsen sich sehr thätig und mit gutem Erfolg in ein ihm bisher fremdes Feld,
in das Gebiet der Handelspolitik geworfen und die Interessen des Zollver¬
eins stets sehr wacker vertreten. Eben so hat er sich bekanntlich der Schleswig-
Holsteinschen Sache, in welcher er zur Widerlegung englischer Vorurtheile die
bekannte kräftige Denkschrift geschrieben, wenigstens anfänglich mit Nachdruck an¬
genommen. Für den geringen Erfolg seiner Bemühungen ihn verantwortlich zu,
machen, würde unbillig sein. Dagegen war es sicherlich ein durch seine Eitelkeit
veranlaßter Mißgriff, daß er sich für Schleswig in die Paulskirche wählen ließ,
obgleich dies Land noch nicht zum deutschen Bunde gehörte, und obwohl leicht
vorauszusehen war, daß er als Unterhändler sich nicht auf die Dauer von London
entfernen konnte. Er hat sich bei Hofe und bei der orthodoxen Partei sehr gut
gestellt; in der sogenannten eleganten Gesellschaft hingegen hat er bei der Zurück-
gezogenheit, in der er lebt, keinen persönlichen Einfluß. Er kann, wenn er will,
sehr liebenswürdig sein, ist aber in der Regel (wie Graf Armin in Paris war),
für die Wünsche der Deutschen wenig zugänglich, während dagegen der preußische
Generalconsul Hebel er, der ein elegantes Haus macht, für seine Landsleute
Alles thut.
In Italien schrieb Bunsen liturgische Schriften, dann einen berühmten histo¬
rischen Liederschatz, ferner auf Cotta's Veranlassung in Gemeinschaft mit einigen
andern Gelehrten eine treffliche Beschreibung von Rom und ein sehr gelehrtes
Buch über die Chronologie der ägyptischen Könige. Während er in London war,
entwickelte sich die Eichhorn-Thile'sche pietistische Richtung zum Extrem und
rief in Deutschland heftige Opposition hervor. Da schrieb der bisher streng or¬
thodoxe Bunsen die „Kirche der Zukunft," in welcher ein ganz anderer Geist
weht. Dadurch verscherzte er die Gunst der „Wilhelmsstraße" nud ihres von
russisch - östreichischen Sympathien inspirirter Organs, der Kreuzzeitung. Diese
Partei wirst ihm vor, daß er mit allzugroßer Gewandtheit „der Zeit den Puls
zu fühlen" verstehe, kann es ihm aber insbesondere nicht verzeihen, daß er schon
1834 mit aller Entschiedenheit aussprach, eine Verfassung, freilich eine nach eng¬
lischem Muster, sei für Preußen dringendes Bedürfniß. Wir aber rechnen ihm
dieses Urtheil um so mehr zur Ehre an, da er eigentlich weit mehr Gelehrter
als Staatsmann ist. Er ist ein hervorragendes Talent, jedoch kein Genie und
kein Charakter. Er gleicht in seineu Licht- und Schattenseiten dem König und
vermag viel über denselben. Die Hofpartei aber fürchtete schon, als er noch in
Italien war, seinen geistreichen und zugleich „unpraktischen" Einfluß, darum hielt
sie ihn nach Möglichkeit fern, obgleich er damals um seiner Kinder willen ejne
Anstellung in Berlin sehnlich wünschte und sogar bereit war, sich mit der Inten¬
dantur der Musee» zu begnügen. Jetzt fühlt er sich in Loudeu sehr wohl aufgehoben.
Seine 9 oder 10 Kinder sind sämmtlich in Italien geboren. Der Kinder-
reichthum eines am Hofe Sr. cälibatären Heiligkeit accreditirten Gesandten gab
daselbst zu manchem heitern Scherz Veranlassung. Der älteste Sohn war längere
Zeit Hauslehrer im Hause des Herzogs v. Southerland in (nigland, was
man für den Sohn eines dortigen Repräsentanten einer Großmacht mit Recht un¬
passend fand. Daß Bunsen's dogmatische Richtung in neuern Zeiten keine streng
orthodoxe sein kaun, ergibt sich auch daraus, daß er seine zwei ältesten Söhne
zur anglikanischen Kirche hat übertreten lassen, den ältesten mit Rücksicht auf eine
Pfründe, wozu ihm die Verwandtschaft seiner Frau und die Protection des ge¬
nannten Herzogs von Southerland die Aussicht eröffnete. Der zweite Sohn ist
an eine reiche englische Quälerin verheirathet.
Mit einer Consequenz, wie man sie nach den bisherigen Erscheinungen kaum
hätte erwarten sollen, haben sich am 17. Juli die Demokraten der Wahlen ent¬
halten. Die wenigen Ausnahmen sind auf das Endresultat ohne allen Einfluß.
Auf der einen Seite wird nun darüber triumphirt, daß die Wahlen fast alle in
conservativen Sinn ausgefallen sind, auf der andern hält man mit eben so großem
Jubel den Gegnern das Verzeichniß der nichtwählenden entgegen, und sucht nach¬
zuweisen , daß sich bei weitem nicht die Hälfte der zur Wahl Berechtigte» an der¬
selben betheiligt habe. Hier und dort bestreitet man einzelne Posten der Rechnung,
aber bei dem Facit bleibt man stehen; was nun mit demselben weiter anzufangen
sei, darüber machen sich unsere werthen Politiker keine Gedanken.
In der Politik ist nichts gefährlicher als Unklarheit. Nur aus diesem Grunde
muß ich das Verfahren der Demokraten angreifen. Gegen die Rechtmäßigkeit des¬
selben ist nichts einzuwenden. Denn der offenbare Rechtsbruch in der willkürlichen
Abänderung des Wahlgesetzes wurde um nichts kleiner durch die Versicherung der
Regierung, es sei eigentlich das alte, weil es auf Urwähler bastre, und es seien
nur einige Formalien anders geworden. Es war diese Versicherung vielmehr ein
Hohn gegen den gefunden Menschenverstand und gegen das Rechtsgefühl des Vol¬
kes, und für diejenigen, welche die preußische Verfassung vom 5. De¬
cember für rechts giltig anerkannten, war der Schritt des Ministeriums
eine schwere Rechtsverletzung, welche in gewöhnlichen Zeiten die Strafe des Hoch¬
verraths treffen müßte.
Aber hatten denn die Demokraten jene Verfassung für rechtsgiltig anerkannt?
Im Gegentheil! Selbst nach dem Ausspruch der Kammer in der Adresse, durch
den sie für diejenigen, welche sich gegen die einseitige Verleihung sträubten, die
nachträglich Rechtsverbindlichkeit erhalten sollte, erklärten die Hauptsprecher der
Opposition, daß sie sich in keiner Weise dnrch die Majorität gebunden fehlten.
Schon damals hätten sie sich von den Wahlen ausgeschlossen, wenn sie nicht den
einen Theil der Verfassung, das Wahlgesetz, für rechtmäßig anerkannt hätten:
nicht als ein Geschenk der Regierung, sondern als ein immanentes Recht des Vol¬
kes, zur Wahrheit geworden in der großen Revolution des 18. März. Den De¬
mokraten gegenüber war also die Schuld der Regierung kleiner: sie hat die Ansicht
derselben cicceptirt, daß man sich nicht im Zustand des Rechts, sondern im Kriegs-
zustand befinde, und wie jene ans die Barrikaden, so hatte sie sich aus die Ba-
jonnette berufen. Der Rechtsgrund der Demokraten, sich an den Wahlen nicht zu
betheiligen, konnte also nicht der formale sein, daß dadurch die Verfassung vom
5. December verletzt war — denn diese hatten sie nicht anerkannt — sondern der
materielle, daß der Inhalt des neuen Wahlgesetzes den durch die Revolution be¬
haupteten Rechten des Volkes zuwider sei.
Ganz anders verhält es sich mit der constitutionellen Partei. Wenn z. B.
Vincke, wie erzählt wird, sich an den Wahlen gleichfalls nicht betheiligt hat, so
ist darin das Rechtsprincip, durch welches er sich in seiner Politik überhaupt lei¬
ten läßt, nicht zu verkeimen, und wir hoffen von den übrigen Constitutionellen
mit Zuversicht, daß sich ihre Theilnahme nicht auf den materiellen Gewinn grün¬
det, welcher der Partei durch den neuen Wahlmodus erwächst, sondern auf die
bestimmte Absicht, auf friedlichem Wege das verletzte Recht wieder herzustellen,
d. h. gegen die Regierung so lange Opposition zu machen, bis das alte Wahl¬
gesetz wieder in Kraft getreten ist.
Daß sie so handeln muß, verlangt nicht nur das formale Recht, sondern auch
die politische Vernunft. Denn es hat sich auf das Klarste herausgestellt, daß die
moderne Centuriatverfafsung eine Absurdität ist. Abgesehen davon, daß in dieser
Form die zweite Kammer nichts vorstellt, als eine verschlechterte Auflage der ersten,
daß es eine schreiende Ungerechtigkeit ist, wenn ein einzelner, hochbesteuerter Brant-
weinbrenner oder Bordellwirth einen bis zwei Wahlmänner ernennt, während sämmt¬
liche Richter, Lehrer, Geistliche mit den Bauern und Tagelöhnern zusammen selb 1000
gleichfalls nur Einen zu wählen haben, so wird auch das Princip, nach welchem das
ganze Gesetz entworfen sein soll, nicht erfüllt. Die drei Classen repräsentiren kei¬
neswegs drei verschiedene Bildungsstufen, ja bei dem verwickelten Steuersystem
nicht einmal drei Stufen des Besitzes, es macht sich nur der Zufall in ihnen gel¬
tend, u'ut die Bevorzugung der Eine» vor den Andern verstößt nicht nur gegen das
Recht, sondern auch gegen die politische Logik.
Man könnte freilich sagen, es stehe ja den Kammern frei, dieses schlechte
Wahlgesetz zu amendircn. Aber dann hätten wir eine Rechtsgrundlage, die eben
fo fraglich und unsicher ist als alle frühern. Die so zusammengesetzte Kammer
hat so wenig das Recht, die Verfassung festzustellen, als das Ministerium, und ihr
Ausspruch würde auf die allgemeine Anerkennung, worauf es hier vor allem
ankommt, nicht von dem hinlänglichen Gewicht sein. Die Verwirrung in dem
Rechtsbewußtsein der Nation könnte dadurch nur noch größer werden. Es bleibt
nichts anderes übrig, als auf die letzte, anerkannte Form der Verfassung zu recur-
riren, deren Princip bereits in dem zweiten Vereinigten Landtag festgestellt und
bei den Wahlen zur Constituante festgehalten ist, und das im Wesentlichen mit
den von der Nationalversammlung vertretenen Grundsätzen übereinstimmt.
Der Einwand, daß daraus eine Kammer hervorgehen würde, deren demokra-
lische Gesinnung uns wieder olle» Gefahren der Revolution preisgäbe, hält nicht
Stich. Die Sehnsucht nach festen und geordneten Zuständen wächst vielmehr von
Tage zu Tage in sämmtlichen Volksklassen. Sobald es ein liberales Ministerium
ist, welches die neuen Wahlen ausschreibt, ein Ministerium, welches sofort durch
Thaten zeigt, daß es nicht blos nach links hin Festigkeit und Kraft zu entwickeln
gemeint ist, so kann es der Volksvertreter sicher sein. Und gegen augenblickliche
Überschreitungen schützt auf alle Fälle die erste Kammer.
Bei der gegenwärtig herrschenden Stimmung wäre es nicht unmöglich gewe¬
sen, wenn die Demokraten sich an der Wahl betheiligten, daß die Opposition
selbst nach diesem Modus wenigstens über eine sehr Achtung gebietende Minori¬
tät zu verfügen hätte. Was sie dagegen mit ihrer großartigen Demonstration,
dem Nichtwählen mit obligater Promenade und Controle über die Zahl der
nichtwählenden, eigentlich bezweckt haben, ist schwer zu sagen. Zunächst kommen
sie dadurch der immer mehr zunehmenden Apathie der Masse entgegen, der ein
solcher „passiver Widerstand" höchst bequem ist, und arbeiten dadurch der offenen
absolutistischen Reaction in die Hände, die zu demselben Zweck mit größern Mitteln
und größerm Erfolg thätig ist. Was soll die Zählung der Nichtwähler? Von
der Illusion derjenigen, die sich selber weiß machen möchten, sie hätten damit eine
Uebersicht über die demokratische Partei, will ich gar uicht reden; aber auch die
anf> ichtigern unter ihnen, die nicht das Nichtwählen, sondern den Protest gegen
die Wahl als das Schiboleth ihrer Partei ansehen und die auf dieses Schiboleth
hin die Partei organisiren wollen, täuschen sich darin, denn eine Partei wird
nicht durch dasjenige zusammengehalten, was sie nicht will, sondern durch das
was sie will. Einen neuen Rechtsgrund, gegen die Beschlüsse der neuen Kammern
zu Protestiren, erhalten sie durch die Nichtwahl keineswegs; denn es ist ein ur¬
alter Rechtsgrundsatz: vnlcmti inn M iujm ni — warum nehmen sie ihre Rechte nicht
wahr? Und wenn sie darauf rechnen, daß alle diejenigen, welche sie auf der be¬
quemen Promenade dieses passiven Widerstandes begleiten, ihnen auch treu blei¬
ben werden, wenn es zum ernstlichen Conflict kömmt, z. B. zur Verweigerung
der von den neuen Kammern bewilligten Steuern, so möchte eine solche Rechnung
denn doch auf Sand gebaut sein. Gewonnen haben sie also durch ihr Verfahren
für die gute Sache nichts, sie haben ihr aber geschadet.
Die bestimmte Scheidung zwischeu Wählern und NichtWählern erweitert die
Kluft zwischen den beiden Fractionen der liberalen Partei, das unglückselige
Erbtheil der alten Constituante. Diese Scheidung hat schon zur Zeit der letzten
Kammern die unglückselige Wendung in der deutschen Frage bedingt, sie hat die
Regierung gestärkt, weil sie die Opposition spaltete und ihre Kräfte in gegen¬
seitigen Anfechtungen aufrieb. Von der einen Seite wird in dem stolzen Bewußt¬
sein , daß man nun — man darf ja nur die nicht abgegebene Wahllegitimation
an den Hut stecken — eine Cocarde trägt, über die kein Zweifel obwalten kann,
jede Berührung mit den Ungläubigen auf das Sorgfältigste vermieden werden,
und auf der ander» wird die sehr einfache Reflexion, daß der Linken, nachdem
sie den legalen Widerstand aufgegeben, nichts übrig bleibt, als der illegale,
auch keine große Neigung zur Versöhnlichkeit hervorbringen, namentlich wird der
„solide" Mann, die Stiche der conservativ-liberalen Partei, durch die Furcht vor
der Verlängerung des RevolutivuSfieberS immer mehr in die Netze der Reaction ge¬
trieben werden, bis er zuletzt mit ihr nach dem gemeinen Sprichwort „dnrch dick
und dünn geht." Die Schlesische Zeitung ist dafür ein eben so instructiver als
beklagenswerther Beleg.
Die Demokratie hat also dnrch ihre Nichttheilnahme an den Wahlen zweierlei
erreicht. Sie hat, soviel in ihren Kräften lag, dahin gewirkt, daß die Kammern
so reactionär und so schlecht als möglich ausfallen, und sie hat die Brücke zur
Verständigung mit der constitutionellen Partei abgebrochen. Die Gesinnung, die
einem solchen Verfahren zu Grunde liegt, kauu dem Vorwurf des Pessimis¬
mus nicht entgeh».
Eine Uebersicht über die Haltung der neuen Kammern läßt sich aus den zum
Theil ziemlich obscurer Namen der Wahlmänner, von denen nur im Allgemeinen
bekannt ist, daß sie konservativ sind, nicht entnehmen. Ob die Richtung der
Kreuzzeitung oder die altconstitntionelle vorwiegen wird, ist den Wählern selbst
wohl in jedem einzelnen Falle nicht recht klar. Nur soviel steht fest, daß eine
sehr entschied»« Scheidung beider Parteien eintreten wird, da ihnen der gemein¬
same Gegner fehlt. Es läßt sich sogar mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß
die constitutionelle Partei in dem Gefühl, wie wenig in der ganzen Kammer die
öffentliche Meinung vertreten wird, sich diesmal mehr nach links halten dürfte, als
es sonst ihre Art ist, und es wäre möglich, daß die Koryphäen des alten Land¬
tags wieder ein gerade so liberales Ansehen gewonnen, als in ihren guten Tagen.
Dagegen wird auch die legitimistische Partei, die in diesem Augenblick viel mäch¬
tiger ist, als in den letzten Kammern/) als selbst in den Zeiten des Landtags,'
viel entschiedener und compakter auftreten, sie wird, wenn sie nicht gar die Ma¬
jorität gewinnen sollte, was gar nicht unmöglich ist, eine nltraroyalistische Oppo¬
sition bilden, die ihren principiellen Kampf gegen die Revolution auch aus den
letzten Erben derselben, das Ministerium Manteuffel ausdehnen wird. In diesem
Falle wird die „liberale" Regierung am Ende zu der ersten Kammer ihre Zu¬
flucht zu nehmen haben. Indeß ist auf diesen äußersten Fall darum weniger zu
rechnen, da voraussichtlich ein ziemlich starkes Centrum von Konservativen K tout
I»,-ix sich bilden wird, die mit dein Ministerium gehn, weil es die Demokraten
nicht aufkommen läßt, die sich aber vor dem Pietismus der Herren Bismark-
Schönhausen und Kleist-Neetzow ebenso entsetzen, als vor den abenteuerlichen Doc-
trinen der Herren Stahl und Leo, die wir mit Bestimmtheit hoffen in dieser wun-
derbaren Kammer figuriren zu sehn.
Diese „I>1iäno" wird den Schwerpunkt der Kammer bilden, nicht nur was
die Gesinnung, sondern auch was den Bildungsgrad betrifft, der größere Theil
der ehemaligen Kapacitäten hat sich selber ausgeschlossen und schon ist die conser-
vative Presse beschäftigt, die gutgesinnten Michel Mroze aufzufinden, welche in
der Kammer nicht räsonniren, sondern ihren Patriotismus durch ein lautes und
energisches Ja zu bethätigen wissen. Schon warnt mau vor den Ideologen, den
Professoren, den Juristen u. f. w., und weist auf die tüchtigen Fleischermeister
und Schenkwirthe hin, die durch ihre parlamentarische Thätigkeit dem Lande we¬
nigstens nicht viel Zeit und Geld kosten werden. Reden werden sie schon, aber
verwegen und kurz, gleichviel, wie witzig, wenn es nur beredt und voll Em¬
pfindung ist. Was ihnen an Worten abgeht, werden sie durch heftiges und an¬
haltendes Poltern ersetzen, und ihr ungeschliffenes Betragen wird,, ebenso wie
die Teilnahmlosigkeit so vieler Bauern bei den Wahlen, den Ultras ein neues
Argument hergeben, daß es mit der Souveränität des Volks nichts ist, und daß
man daher mit der ganzen Constitution ans Sand gebaut hat.
Wir setzen also den Fall, die konstitutionelle Opposition habe, im Verein
mit den gemäßigten Henkern, die Majorität — für den Antrag, den sie nothwendig
stellen muß, auf Herstellung des verletzten Rechtszustandes wird sie dieselbe freilich
nicht erlangen — so ist die nächste Aufgabe, die Kritik der organischen Gesetzge¬
bung, in welcher das Ministerium Manteuffel kraft des Artikel 105 eine wunder¬
bare Thätigkeit entwickelt hat. Man wird ihr zumuthen, diese ganze Reihe pro¬
visorischer Verordnungen, worunter die liebenswürdigen Gesetze über die Presse
und über die Absetzung gesinnungsloser Beamten, en Illo« zu genehmigen. Das
wird sie nun wohl nicht thun, und die Art und Weise ihres Verfahrens ist eigent¬
lich schon genau vorgezeichnet. Es könnte zunächst angemessen erscheinen, prinzipiell
diese ganze legislative Thätigkeit zu annulliren, und überhaupt jedem neuen Ge¬
setz die Genehmigung zu versagen, so lauge die Basis für die rechtliche Existenz
der Verfassung nicht festgestellt ist, allein eine derartige Opposition ist zweckwidrig,
denn sie lähmt die natürliche Thätigkeit nicht nur der Negierung, sondern des
Volks, da vieles von jenen allgemeinen Bestimmungen schou praktisch in Anwen¬
dung gekommen ist. Die Versammlung hat daher die Vorlagen einer materiellen
Prüfung zu unterwerfen, zugleich aber die Hand an die Wurzel aller dieser Un¬
gehörigkeiten zu legen, und jenen berüchtigten Artikel, der mitten in der Fiction
eines constitutionellen Staats dem absolutistischen Schalten der Regierung freien
Spielraum läßt, zu streichen. Sie wird jene absurde» Preßbestimmuugen, uach denen
die Kritik aller Parteien und Handlungen, die vor das Forum der Publicität
gehören, untersagt ist, verwerfen, sie wird jene absolute Abhängigkeit der Beamten
von der Regierung so lange nicht anerkennen, bis dnrch rechtliche Bestimmung
und durch die Praxis es sich herausgestellt haben wird, daß die Regierung ein
Ausdruck der Majorität der Volksvertretung, und diese eine uicht blos scheinbare
Vertretung ist. In einem constitutionellen Staat muß allerdings die verantwortliche
Regierung, aber auch uur bis zu einer Grenze hin, so weit nämlich die eigentlich
politische Thätigkeit reicht, die unbedingte Verfügung über ihre Beamten haben;
wir sind aber noch weit entfernt von einem derartigem Staat, und ein Eingriff
in d'e bisherige Consistenz des Beamtenstandes, der den <!»an>lui heilg der admini¬
strativen Bildung repräsentirte, ist zugleich ein Uebergreifen des regellosen Zufalls,
der absurden Willkür, des pietistischen Doctrinarismus und des alten Junkerthums.
Weit schwerer aber als diese mehr innern Fragen fällt die ^r.-uiclo >wull^leg
ins Gewicht, welche das Ministerium oder seine Einbläser mit Deutschland und
mit den enropäischen Großmächten getrieben haben. Was werdeu die Kammern
zu den Schritten sagen, die seit der Auflösung ihrer Vorgänger in der deutschen
Frage geschehen sind, namentlich seit den Enthüllungen, die uns die letzten Tage
gebracht haben? Seitdem nämlich die Protocolle der han-növerscheu und sächsischen
Bevollmächtigten bei dem Berliner Dreiköuigsbünduiß veröffentlich sind, hat es sich
auf das Klarste herausgestellt, daß Preußen uicht nur von Oestreich und Baiern,
souderu anch von deu treuen Verbündeten dnpirt ist. Nachdem sie die preußischen
Bajonnette benutzt haben, um die Ordnung im eignen Lande herzustellen, sind sie
vollkommen bereit, Preußen mit einem höflichen Bückling wieder die Thüre zu
weisen. Es ist ein merkwürdiges Gemisch vou Hochmuth und Gutmüthigkeit, von
Willkür und Noblesse in diesem Ministerium. Erst stoßen sie die Hand der Nation,
die ihnen die so lange begehrte Krone darbietet, mit einer gewissen Brutalität von
sich, und wenden sich an diejenigen Fürsten, die ihren Wünschen und Ansprüchen
bisher deu entschiedensten Widerstand geleistet; die Umstände sind von der Art,
daß das unbegreifliche Bündniß in der That abgeschlossen und dem verwunderten
Deutschland vorgelegt wird, und siehe da, die Umstände gehen vorüber, und es
ergibt sich, daß jener Abschluß nur unter einer Bedingung erfolgt ist, die nie in
Erfüllung gehen wird, wenn nicht wieder die Nation sich einer Sache annimmt,
welche die Fürsten nie zu Stande bringen. Sachsen und Hanover haben sich auf
die preußischen Vorschläge nur unter der Bedingung eingelassen, daß sämmtliche
deutsche Fürsten darauf eingehn! Der zweite Vorbehalt, die Einwilligung der
Kammern, will, wie die Sachen stehen, nicht soviel sagen.
Merkwürdig! Das Ministerium geht doch leidlich militärisch zu Werk, und
scheut sich nicht zu sehr, die Mythen vom Rechtsboden dnrch rettende Thaten zu
widerlegen. Warum ist es nicht auf eine Idee gekommen, die doch so einfach ist,
daß selbst ein Feldwebel darauf stoßen mußte? Warum hat es nicht, als es der
Frankfurter Versammlung die angebotene Krone vor die Füße warf, warum hat
es nicht zugleich erklärt: jetzt ist die Farce mit dem deutschen Bunde zu Ende! —
Ungefähr in dem Ton, wie der Prinz von Preußen ihn in seinem Brief an den
Fürsten Wittgenstein angestimmt hat. — Jetzt sind wir souverän, und ihr alle
auch! Du König von Sachsen, Großherzog von Baden, Fürst von Anhalt Bern¬
burg u. s. w., ihr alle seid souverän, jetzt seht zu, wie ihr mit euern Demokraten
fertig werdet, wir wollen neutral bleiben!-------- Ich dächte, das preußische
Dreiköuigsbündniß hätte eine andere Wendung genommen.
Wie es jetzt steht, wird das Ministerin»! wieder auf neue Anschläge sinnen
müssen. Das Project, welches es der östreichischen Regierung in Beziehung auf
einen Doppclstaat nach Art der siamesischen Zwillinge vorgelegt hat, ist ein Pröb-
chen von seiner Erfindsamkeit. Aber sie kommt zu spät, Oestreich ist anderwärts
versorgt. Vielleicht wird der erwartete Besuch des großen Kaisers in Berlin einen
andern Plan zeitigen.
Fragt man nun, welche Gesinnung die Kammern in dieser wichtigen Frage an
den Tag legen sollen, so versteht eS sich von selbst, daß eine deutsche Gesinnung
in der Art, wie sie am Ende des März 184!) die Pflicht aller Sonderstände war,
nicht mehr an der Zeit ist. Das Deutschland, in welches Preußen ausgehen könnte,
ist nicht mehr da, und es bleibt, um das Zustandekommen eines leidlichen Bun-
desstaates zu ermöglichen, der Kammer nur der Eine Ausweg übrig, ultrapreußisch
zu werden, altcnfritzisch, um es bestimmter zu sage», und in diesem Sinne gegen
den legitimen Servilismus, der Preußen wieder in die Baude der heilige» Allianz
verstricken möchte, Opposition zu »lachen. Hätte Preußen, bei all den absoluti¬
stischen Gewaltstreichen, mit denen es der Nation vor den Kopf gestoßen hat, we¬
nigstens die kriegerische Ehre gewahrt, die nur auf dem Gefühl einer Kraft basirt
— sie gewahrt in den Fällen, wo seine Ehre mit der Nation zusammenfiel —
ich glaube, Deutschland wäre patriotisch genug, um seine Nechtsentwicklung für
einen Augenblick zu sistiren, wenn es nur seine Kraft entwickeln könnte.
Aber leider hat der preußische Staat seine kriegerische Ehre nur da gewahrt,
wo es der Revolution galt — eine zweifelhafte Ehre überdies, da man es mit
keinem ebenbürtigen Gegner zu thun hatte. In dein einzigen Kriege, der bis jetzt
für Deutschland geführt ist, hat er sie uicht gewahrt, und das ist das schwärzeste
Blatt unserer Geschichte.
Ich habe den dänischen Krieg von Anfang a» für ein Unglück gehalten. Er
wurde! in einem Sturm des Gefühls-Enthusiasmus unternommen, ohne klare
Uebersicht über das, was man eigentlich vorhatte. Ein Krieg ist nnr dann ein
wirksames Entwickluugsmoment für eine strebsame Nation, wenn man sowohl über
den Zweck, den mau dadurch erreichen will, als über die Mittel, die dazu führen
sollen, sich ein bestimmtes Bild gemacht hat. Keines von beiden war geschehen.
Das positive Recht den Friedensbedingungen zu Grunde zu legen, war unmöglich,
weil es selbst bei der für Deutschland günstigsten Auslegung - der Union der
Herzogthümer und ihrer Selbstständigkeit Dänemark gegenüber — soviel innere
Widersprüche enthält, daß daraus ein wahrhaft staatliches Verhältniß sich uicht
entwickeln konnte. Denn zu dem projectirten deutschen Centralstaat, dem Holstein
angehören mußte, konnte Schleswig ohne die Einwilligung seines Souveräns recht¬
lich nicht gezogen, die Fortdauer der Union rechtlich uicht gelöst werden. Ueber
die rechtlichen Ansprüche hinauszugehn, durste man ader nur in dem einen Fall
wagen, wenn mau zugleich den Muth hatte, einer Koalition der europäischen
Großmächte den Handschuh hinzuwerfen. Ich will hier die Frage nicht aufwerfen,
ob es nicht klüger gewesen wäre, diesen Muth wirklich zu habe»; genng man
hatte ihn nicht, und war deshalb mit seinen Zwecken an enge Schranken gekettet.
Dazu kam nun, daß man über die Mittel gar nicht verfügen konnte; es war vor¬
auszusehen, daß Dänemark trotz seiner unbedeutenden Macht dennoch in der Lage
war, seinem Gegner mehr Schaden zu thun als zu erleiden. Bei diesen Bvr-
aussetznngen habe ich den Waffenstillstand von Malmö zwar nicht für einen be¬
sonders rühmlichen, aber für einen erträgliche» Ausgang des Krieges gehalten.
Mit dem jetzt abgeschlossenen hat es aber eine andere Bewandtnis).
Einmal. Der Krieg ist unrühmlicher geführt worden, als der vorige.
Eine dänische Armee hat sich in Jütland der deutsche» Armee gegenübergestellt,
sie ist nicht vernichtet worden; mau hat eine Stadt belagert, und sie uicht erobern
können; man hat die Einnahme der Düppler Schanzen nicht weil^r verfolgt; man
hat dänische Kriegsschiffe innerhalb preußischer Batterie» ruhig ihre Raubzüge fort¬
setzen lassen. Die deutsche» Waffen haben »och zuletzt eine Niederlage erlitten,
und ma» hat sie nicht gerächt, man hat ungestört den schimpflichen Contract unter¬
zeichnet.
Weiter. Die Formen, in denen der Waffenstillstand »ut die Friedenspräli¬
minarien abgefaßt sind, stempeln sie zu einem Separatfrieden, ähnlich dem Base¬
ler. Daß man die Centralgewalt umging, war ganz in der Ordnung, denn mit
einer Schein-Existenz soll man nicht viel Aufhebens machen, aber man hat die
verbündeten deutschen Staaten, man hat die Herzogthümer nicht gefragt und könnte
so leicht in die Lage kommen, entweder mit Gemalt die deutschen Brüder zur
Unterwerfung unter einen fremden Fürsten zu zwingen, oder ruhig zuzusehn, wie
die deutschen Heere sich in einem Kriege verbluten, den Preußen angefangen hat.
Endlich ist der Inhalt des Friedens nicht nur viel schimpflicher sür Deutsch¬
land, als der von Malmö — denn die Union der Herzogthümer, der von dem
König von Preußen selbst anerkannte Grund des Krieges, ist aufgehoben — son¬
dern er ist auch unter all deu Möglichkeiten einer Ausgleichung entgegenstehender
Ansprüche die widerspruchvollste, die unhaltbarste. Er bringt einen geradezu un¬
erträglichen und daher unmöglichen Zustand mit sich, und muß nothwendig zur
Erneuerung des Krieges führen.
Was die preußische Regierung bestimmt hat, ist zwar sehr verschiedener Na¬
tur. Scheu vor Rußland, vielleicht vor Frankreich; Nachgiebigkeit gegen die eng¬
lischen Vermittler, Rücksicht ans den leidenden Handel, auf die geringen Chancen
eines immer nur mit halben Maßregeln zu führenden Krieges; dann Abneigung
gegen den revolutionären Ursprung des Krieges; doctrinäre Vorliebe für den legi¬
timen König von Dänemark u. s. w.; aber die öffentliche Meinung wird immer
nur zwei Punkte im Auge behalten: Preußen hat Furcht vor dem Ausland, und
Preußen hat kein Herz für die deutsche Sache.
Und verdient ein solcher Staat, die Hegemonie über eine edle Nation zu
haben? Wird sie ihren Scepter einer zitternden Hand, einem unredlich 'Kerzen
anvertrauen? Man fügt sich einer despotischen Gewalt, wenn man sie verehren
muß, indem man sie haßt; aber ein Despotismus ohne Größe hat keine Dauer.
Neue Soldatenlieder. (Mit dem Kreuz der Neuen Preußischen). Erfurt
1849.
Wie im vorigen Jahr den Grimassen unserer rothen Freunde, müssen wir
jetzt denen unserer schwarzweißen Geliebten unsere Aufmerksamkeit schenken. Sie
sind nicht ohne Interesse. Man höre folgendes Kriegslied. ^
Es schwang sich von der Ostsee flachem Strand
Ein kühner Adler auf.
Er schwebte hehr und mächtig ob dem Land,
Wir schauten froh hinauf. (Wie in ter Vignette abgebildet.)
O Wrangel, o Wrangel, du Siegesheld!
Wann führst du, wann führst du uns wieder zu Feld?
Immer drauf, immer draus
Im wilden, wilden Bajonnettenlans!Auf hohem Königsschlossc schwebt er noch,
Die Schwingen weitgedehnt;
Das Demokraten-Unthier kroch ins Loch,
Nach dem das Schwert sich sehnt. O Wrangel u. s. w.Heraus, heraus, du feiger Demokrat,
Aus deinem Rattenloch,
Zeig' auch der Sonne deine Heldenthat,
Die Hölle sieht sie doch! O Wrangel u. f. w.Heran, heran, aus Gottes weiter Welt,
Du Feind im Waffenschein!
Der Adler, der sich aufschwang von dem Belt,
Er fliegt auch üvcr'n Rhein. O Wrangel u. s. w.
Also doch gegen die Franzosen, trotz Falloux und Montalembert. — In einem
andern Lied wird das Riesenfräulein gefeiert:
Viele Männlein siud mir dort erkoren, (in Berlin)
Diese trage nur im Schürzlcin fort
Nach jenem kleinen Städtlein dort, (Brandenburg)
Da sind sie ungeschoren.
Und zappeln sie ein wenig,
Und trappeln sie ein wenig,
Bring sie nur fort im raschen Lauf,
Doch setz' dein eisern Hütlcin aus.
In einem anderen sagt der heldenmüthige Berliner Märzbürger zu seiner Frau:
Hörtest du, wie unsre Tapfern pafften?
Ha das ist Gesellenmnth!
Morgen haben wir Errungenschaften,
Und erkauft mit Züchtlingsblut!
Doch, geschützt von deinen Bettgardinen,
Meinen Hcldenrns ertheilt' ich ihnen:
Zum Barrikadenbau
Koch Kaffee, koch Kaffee,
Koch Ka- Ka- Ka- Ka- Kaffee,
Koch Kaffee, Frau!
Auch Humor hat unser brave Krieger. Man höre.
Borsänger. Mit verwünschten Demokraten
In der Kneipe bei dem Schnaps,
Waren wir zusamm'ngerathen.
Und da gab es argen Klaps,
Chor. Doch wir waren siegestrunken,
Wie Berliner Märzhall —
Vorsänger (ruft). Ne! ne! — Helden!
Chor. Helden?! — Hahahaha n. s. w.
Vorsänger. Und sie hatten schon gewonnen,
Denn es war ein Heller Hanf,
Als sie anders sich besonnen,
Rissen ans im vollen Lauf;
Chor. Und wir waren siegestrunken,
Wie Berliner Märzhall —
Vorsänger. Aber hört doch! Helden! Märzhelden!
Chor. Helden?! Hahahaha n. s. w.
Vorsänger. Laufet nnr, ihr Demokraten,
Das bringt uns kein Ungemach,
Essen wir nnn Schweinebraten,
Trinken tüchtig Schnaps darnach:
Chor. Denn so sind wir siegestrunken,
Wie Berliner Märzhatt -—
Vorsänger. Aber Krcuzdvnnerwetter, ihr Kerls! Es heißt ja nicht März-
hallnnken, es heißt ja Märzhelden!
Chor. Helden?! Hahahaha u. s. w.
Schade, daß dieses Lied nicht früher gedichtet war! Die Garden hätten es
am Morgen des 19. März singen können. — Weiter.
Ausgerissen ward der Stein
Von verwälschtcr Buben Hand,
Und es drangen tief hinein
Schmutz und Blut in märkschen Sand.
Tiefer, tiefer rann hinab
Dann der Schwall von Schmutz und Blut,
Bis er unten Kühlung gab
Teufeln in der Hölle Gluth,
Die ihn fingen mit den Tatze»,
Wuschen sich damit die Fratzen u. s. w.
Endlich die positive Lehre.
Ein treuer Soldat, ein treuer Soldat,
Das ist des Königs erster Nath!
Die Kammer, die zusammen sitzt,
lind mit dem Präsidenten schwitzt,
Schützt sie das Land mit ihrem — Fleiß? ')
Fließt, wie Soldatenblut, ihr Schweiß? — —
Es Kuren der Minister viel,
Daß einer über'in andern fiel,
Doch endlich kam ein treuer Soldat,
Und war des Königs erster Rath.
Nachdem der Versuch mit dem Pfuel verunglückt war. Gott verleihe dem
edlen Dichter einen Orden.
„Wer hätte im Juli 1848 geglaubt, daß wir Thüringer auch noch im Juli
1849 an dem alten Fluche der Zerrissenheit in nicht weniger als zehn Staaten
und Stäätchen zu leiden haben würden? aber das ist allein die Schuld der con-
stitutionellen Vereine, und es ist nur ein Trost für uus Demokraten, daß auch
sie in kürzester Frist von der Reaction verschlungen sein werden" — das ist un¬
gefähr die Quintessenz einer ganzen Reihe Leitartikel eines der märzvereinlichen
Localblätter unserer Provinz, welches ich vor mir liegen habe. Freilich gab es
schon im Juli 1848 Leute, die der Ueberzeugung waren, daß selbst wenn alle
constitutionellen Vereine in ganz Thüringen die Vereinigungöfrage jeden Abend
durchdebattirt und sich jedesmal einstimmig dafür ausgesprochen hätten, man doch
im Juli des nächsten und wohl auch noch einiger darauf folgender Jahre eben so
viel bunte Tüpfelchen und Striche hier in der Mitte der deutschen Landkarte er¬
blickt haben würde, als seit Menschengedenken darauf vorhanden waren. — Ihr
Correspondent hat, wie Sie sich erinnern, von jeher zu denen gehört, die auch
ganz abgesehn von den phantastischen Voraussetzungen, auf welchen die Pläne zur
Vereinigung der getrennten Glieder der Mutter Thuringia ruhten, sich schlechter¬
dings keine Vorstellung zu machen im Stande waren, was damit für das ge-
sammte Deutschland oder auch für die einzelnen betheiligten Staaten gewonnen
werden sollte. Ein neuer Mittelstaat von 1—1^ Millionen Einwohner im Herzen
Deutschlands ist eine politische Mißgeburt sonder gleichen. Hat er irgend welche
Lebenskraft, so gewinnt der Particularismus einen zähen Vertreter mehr, der nach
allen Seiten hin intriguirt und conspirirt, sobald einmal wieder sich die Möglich¬
keit zeigt, eine feste Gesammtverfassung sür Deutschland zu Stande zu bringen.
Hat er keine, was das wahrscheinliche ist, so erleben wir den badischen Unfug in
vermehrter und verbesserter Auflage, und es bleibt am Eude nichts übrig, als daß
sich die größeren Nachbarstaaten als fortwährende Sicherheitswächter seiner anneh¬
men, um ihn zuletzt ganz unterzustecken. Denn an eine Wiederherstellung der
früheren selbstständigen Fürstentümer ist in einem solchen Falle natürlich eben so
wenig zu denken, als gegenwärtig in Baden, falls dasselbe seine staatliche Existenz
aufgeben müßte.
Wie sich im Augenblicke die Aussichten für die nächste deutsche Zukunft gestal¬
ten, können wir Thüringer uns erst recht glücklich preisen, daß wir immer noch
unsere zehn Herren haben. Nur ein paar Monate Geduld, und Sie werden uns
verachtete Nanbstäätler um den Vollgenuß politischer Freiheit beneiden, die Ihnen
so gut wie uns als Märzerrungenschaft zugefallen ist, von der Sie jedoch wahr¬
scheinlich keinen rechten Gebrauch zu machen wußten, weil Sie Ihnen jetzt wieder
genommen werden soll. Wir haben uns verständiger betragen und vor allen Din¬
gen nicht eine einzige Barrikade für die Reichsverfassung gebaut. Es gab zwar
auch eine Zeit, wo wir so gut wie irgend einer dafür schwärmten; haben wir ja
sogar darauf geschworen, aber freilich mit dem Vorbehalte, erst dann unser Gut
und Blut dafür einzusetzen, wenn überhaupt aus der Sache etwas würde. Da nun
bekanntlich nichts daraus geworden ist, so sind wir mit gutem Gewissen des Schwurs
ledig und haben uns nebenbei nicht so blamirt, wie viele andere. Auch unsere
Regierungen haben sich durchgängig recht umsichtig aus der heikeln Geschichte her¬
auszuwickeln verstanden. Es wäre in der That eine große Ungerechtigkeit oder
noch mehr eine bornirte Verkennung ihrer Lage, wenn man irgend einer von ih¬
nen allen etwa bösen Willen gegen die Frankfurter Verfassung hätte zutrauen wollen.
Niemand wäre zufriedener gewesen als sie, wenn dem gefährlichen Provisorium
ein Ende gemacht wurde. Die Einbuße an Sonveränitätsrechten kam für sie, die
bisher doch nur von der Gnade der Größeren ihr Dasein gefristet hatten, durch¬
aus nicht in Betracht. Darum thaten sie vom Anfang an alles mögliche, — lei¬
der war das eben nicht gar viel — um in Frankfurt und Berlin etwaige Hinder-
nisse aus dem Wege zu räumen. Die Haltung der Bevölkerung unterstützte die
Regierungen besser, als man irgend erwarten konnte. Mit Ansnahme einiger wü¬
thigen Demokraten, waren selbst die sonst ziemlich linken Volks- und Märzvereine
schon vor dem Welcker'sehen Antrag durchgängig für die Idee des engern Bundes¬
staats und der preußische» Hegemonie, und der Beschluß vom 28. März ist in
wenigen Gegenden Deutschlands mit so allgemeiner Befriedigung aufgenommen
worden als hier. Freilich hat denu auch die göttliche Inspiration am 3. April
nirgends verdutztere Gesichter hervorgebracht. In diesem Momente hätten die Ro¬
then anch bei uns das Spiel leicht gewinnen können, wenn sie nur irgend wie
noch organisirt gewesen wären, und der Bürger und Bauer die schweren Einquar¬
tierungskosten vom vorigen Herbste nicht in zu frischem Angedenken gehabt hätte.
Es blieb nichts übrig, als sich entweder ganz stille- zu halten, und höchstens bei
geschlossenen Thüren und einer extra Kanne Bier über große Pläne für die näch¬
sten Monate zu brüten, oder anderswo für die Reichsverfassung mit dreinschlagen
zu helfen. So hat fast jede unserer sechs oder sieben größeren Städte einen Wa¬
gen voll Demokraten nach Dresden geliefert. Meistens konnten sie freilich mit
den mancherlei nothwendigen Vorbereitungen zu eiuer so weiten Reise — es mußte
doch sür Waffen, Munition, Geld, rothe und schwarzrothgoldene Schärpen und
ditto Fahnen gesorgt werden — nicht eher zu Stande kommen, bis die Nachricht
von dem nahe bevorstehenden Ende des Kampfes auch schon in unsere abgelegenen
Winkel gelangt war. Indessen der gute Wille durfte sich ja doch noch immer be¬
thätigen, zumal da man nicht wissen konnte, ob die reactionären Zeitungen nicht
absichtlich Lügengerüchte ausstreuten, um den Zuzug tapferer Freiheitskämpfer mit
nagelneuen rothen Fahnen zu verhindern. Auch traf es sich zufällig, daß die Re¬
dactionen unserer demokratischen Localblätter, die sich außerdem ohne Korrespon¬
denten recht gut behelfen, gerade in jenen verhängnißvollen Tagen Stunde um
Stunde direkte Korrespondenzen aus Dresden empfingen. Darin stand nun in den
energischsten Ausdrücken fortwährend nur vou Siegen der deutschen Sache, von der
Vernichtung der preußischen Mörderbanden :c. Wer hätte da, namentlich wenn
er sich bereits eine Schärpe angeschafft hatte, diesen authentischen Berichten nicht
Glauben schenken sollen, und so kam es, daß ich z. B. gerade in der Stunde
eine ganze Schaar rother Helden in suo an meinen Fenstern vorüberrollen sah —
wie gesagt, des weiten Wegs halber, versahen sie sich vou Anfang an gleich mit
Fuhrwerk — wo ich in der Leipziger Allgemeinen die gänzliche Einnahme der
Stadt, die Verhaftung Bakunin's :c. gelesen hatte. Natürlich sind alle diese Söhne
meiner lieben Heimat wohlbehalten in den nächsten Tagen zurückgekehrt. Einige
Abenteuer mit Bauern abgerechnet, von denen sie Vorspann und Fourrage für
die gute Sache forderten, ist ihnen unterwegs auch gar nichts begegnet, uicht ein¬
mal ein Gensdarm. Diese waren in den Tagen ebenso unsichtbar, wie die ver¬
schiedenen städtischen Beamten oder die verschiedenen Ministerien selbst, unter deren
Augen die ganze Organisation dieser gemüthlichen Expeditionen während einer gan¬
zen Woche ungestört vor sich ging.
Möglich daß sie ihre Landsleute zu gut kannten, um irgend welche Gefahren
dabei zu besorgen. Indessen hat man in Berlin, wo man sich überhaupt von je¬
her von unseren Thüringer Demokraten ganz fabelhafte Vorstellungen gemacht,
diese kluge Taktik unserer Regierungen, namentlich der weimarischen sehr übel ver¬
merkt, und wie es scheint, die Gelegenheit wahrgenommen, ihnen wegen dieser
und anderer Begehungs- und Unterlassungssünden eine recht derbe Strafpredigt
gehalten. Da blieb denn freilich nichts anderes übrig, als ein tief gefühltes
pktor nvcvilvi. — Es ist gewiß uur zu billigen, wenn unsere kleinen Staaten
von diesem Augenblick an sich wieder möglichst an Preußen anzunähern versuchten.
Freilich war die Lage wegen der Antecedenzien für sie unangenehm genug, denn
während man den größeren, wie Meklenburg und Hessen wegen ihres plötzlichen
Abgehens von der wahren und alleinseligmachenden Verfassung keinen Vorwurf
machte, mußten unsere kleinen Regierungen viel Bitteres hören und zwar von bei¬
den Seiten. — Indessen eine Negierung muß ja bekanntlich in jetziger Zeit
einen guten Magen haben und so verschluckte man es denn ganz getrost. Aber
es war ein großer Fehler, daß man den Uebertritt zu dem preußischen Entwurf
von allerlei Bedingungen abhängig machen wollte, namentlich von einer Aende¬
rung des preußischen Wahlgesetzes für das Volkshans. Natürlich erhielt man
in Berlin ein ganz einfaches entweder — oder zur Antwort: „Entweder treten die
kleinen Staaten dem Entwürfe, wie er von uns vereinbart ist, bei, oder sie mögen
zusehen, wie sie allein fertig werden. Freilich dürsten sie dann auf unsere Hilfe
vergeblich rechnen, wenn sich eben auch bei ihnen ähnliche Bestrebungen unter dem
Vorwande der Reichsverfassung kund geben sollten, wie in Baden."
Das weimarische Ministerium war wenigstens nach dieser Antwort der Ansicht,
.von weiteren Verhandeln abzustehnund sich einfach zu füge». Meiningen, Koburg und
die anderen sollen noch immer einen günstigeren Bescheid zu erlangen hoffen, aber
es ist gewiß, daß sie das Geld, das für diese außerordentlichen Ambassaden auf¬
geht, viel besser anwenden könnten, besonders jetzt, nach dem Jahre 1848, das
auch für die Finanzen ein bitterböses Nevvlutionöjahr gewesen ist.
Wenn unsere übrigen Regierungen im Laufe der nächsten Wochen sich vor¬
aussichtlich ohne Ausnahme dem preußischen Projecte anschließen, so fragt sich noch,
was die getreuen Stände dazu sagen werde»? Daß sie gefragt werden, versteht
sich von selbst. In Weimar ist die» Antwort günstig für das Ministerium ausge¬
fallen. — Ich wüßte aber auch in der That nicht was sie anderes thun könn¬
ten, wenn sie nicht einen Ministerwechsel herbeiführen wollten. Daran denken
aber kaum die drei oder vier Repräsentanten der äußersten Linken, die in dem
Weimarer Ständesaal sitzen. Die Leute haben zu viel vou der Thüringer Nüch¬
ternheit, um nicht zu wissen, daß das ganze Ländchen, ihre Committenten und
sie selbst bei einem Ministerwechsel sehr übel wegkommen würden. Denn ans ein
Ministerium Watzdorf-Wydenburgk könnte im gegenwärtigen Augenblick doch nur
wieder ein bureaukratisches nach vormärzlichen Zuschnitte folgen. An ein demo¬
kratisches denkt im Ernst jetzt dort Niemand mehr, abgesehen davon, daß kein
einziger Vertreter dieser Partei im Lande auch uur vou ferueher zu einer practi-
schen politischen Rolle befähigt ist. Uebrigens muß man es ihnen zum Ruhme
nachsagen, daß sie selbst sich über diese ihre totale Unfähigkeit zum Regieren nie¬
mals getäuscht haben. — Selbst in den schwierigsten Momenten des vorigen
Sommers und Herbstes, wo die Partei ohne Mühe das Ministerium sprengen
konnte, hat sie es nicht gethan und sich lieber auf zweckloses Couspiriren und
Declamiren für die abstrakten Principien der Demokratie oder der socialen Re¬
publik gelegt. —
Der Weimarer Landtag ist nebenbei bemerkt, eine nicht üble Probe für die
allerbreiteste Grundlage. Er ist nach dem freisinnigsten Wahlgesetz gewählt, das
meines Wissens in Dentschland existirt, ist gewählt, in einer noch sehr aufgeregten
Zeit, im Anfange des vergangenen Winters, und doch könnte ihm selbst sein ärg¬
ster Feind nichts anders nachsagen, als daß er mitunter recht langweilig wird. —
Das Beispiel des Weimarer Landtags wird hoffentlich gut auf die anderen
neun wirken, denen dieselbe Frage in kurzem vorgelegt werden soll. Ich glaube,
daß man wenigstens in Meiningen und Koburg so vernünftig sein wird, sich ohne
viele Phrasen zu fügen, und die dortigen ganz trefflichen Ministerien nicht durch
kindische Redemontoden in Verlegenheit setzt. In den andern Ständesälen hat
sich freilich eine meist aus jungen Advocaten bestehende radicale Clique dermaßen
eingenistet, daß ich vor allenfallsigen Ausbrüchen des Unsinns nicht garantiren
möchte, insofern nicht etwa das Beispiel Weimars wirkt. Als ein relativ großer
Staat unter ganz miniatnrmäßig gerathenen übt es doch immer einen gewissen Ein¬
fluß auf die innere Politik der thüringischen Länder ans.
Bei allem künstlerischen Schaffen ist bekanntlich einHaupterforderniß, daß die Seele
des Künstlers sich mit Wärme in dem Stoff, welchen sie bearbeiten will, concen-
trire und ihn mit einer gewissen Zärtlichkeit hege, bis er reif geworden ist sür
die Ausbildung im Detail. Es ist nicht möglich, daß der Dichter ein Kunstwerk
schafft, wenn er sich nicht vorher sür seinen Stoff begeistert hat und der Mangel,
an Productivität in der Entwicklungsperiode eines Volkes wie beim Einzelnen
kommt zum großen Theil daher, daß die „Zeit" keine großen Gebiete von Stoffen
darbietet, welche zur Verarbeitung reizen; eben so hängt der ästhetische Kunst¬
werth des Geschaffenen in einer Periode davon ab, ob die Anschauungen, Ein¬
drücke und Stimmungen, welche das lebende Talent in seiner Welt einsaugt, so
stark und auch wieder so ruhig strömen, daß sie eine freie Verarbeitung begünsti¬
gen. Die Geschichte der deutschen Poesie in den letzten zwanzig Jahren liefert
überall auffallende Beispiele zu dem Gesagten, jedes Dichterwerk erscheint als ein
Abdruck der Eigenthümlichkeiten unserer Vergangenheit, als eine Spur, an welcher
wir die Strömung der Wellen unseres Volkslebens erkennen.
Die productive Dichterkraft unserer Nation hatte seit dem Anfang der
dreißiger Jahre einen neuen Anlauf nach dem Epos und Drama genommen, ohne
ans beiden Gebieten große Eroberungen zu machen. Seit der Julirevolution war
die Einwirkung Frankreichs auf Deutschland eine stärkere geworden. Eine nervöse
Reizbarkeit und Unzufriedenheit mit der gemeinen Wirklichkeit unseres Staats¬
und Völkerlebens, regten zur Produktion an, ohne viel von dem zu gewähren,
was die Seele des Schaffenden reich macht. Den dramatischen Dichtungen fehlten
Charaktere und die Weisheit eines starken Lebens, und es blieb bei mehr oder
weniger erfolgreichen Sitnationsstücken. Für das Cpos aber fehlte nicht uur die Freude
und das Behagen am Leben selbst, sondern auch all die souveräne Freiheit, mit
welcher der Dichtergeist über den Gegensätzen der kämpfenden Welt, welche er
darstellt, schweben muß. Die Sentimentalität der Deutschen war in feindlicher
Opposition zu der Gegenwart und ging deshalb auf Reise», sie suchte ihre Stoffe
an den Ufern des Ganges, in den Palmen der Wüste, in den Schrecken der
Meereswogen, in dem Wunderbaren und seltsamen, was fremden Völkern und
fremden Zeiten angehörte; sie suchte die Eindrücke, welche das Schaffen hervor¬
rufen sollten. Da sie schwach und erschlafft war, brauchte sie starke Reizmittel,
und weil sie in ihrem eignen Leben nichts Neues und Originelles fand, fixirte sie
ihre productive Kraft auf dem fremden Origineller und seltsamen, welches ihr impo-
nirte, weil es einen Gegensatz zur Wirklichkeit bildete. Rückert's Dichtungen nach
dem Persischen und Indischen, Immermann's Tnlifäntchen und Hofschulze, die
Oestreicher Lenau und Anastasius Grün und Freiligrath sind die Repräsentanten dieser
Richtung. Sie Alle haben, mit Ausnahme Rückert's, dessen Individualität in
einer früheren Zeit ihre Erklärung findet, sehr viel Gemeinsames. Ihnen Allen
wurde das Produciren nicht leicht, es bedürfte einer starken Anregung, sie zu
reizen. Der Eindruck, welcher in ihrer Seele sich zum Gedicht krystallisirt, ist
fast immer ein Bild, eine Situation, deren Eigenthümlichkeit sie mit weicher In¬
dolenz auf sich wirken lassen, ohne dasselbe mit ihrem Leben zu füllen oder in
Bewegung zu setzen, wo sie das Bestreben äußern, die einzelnen Bilder zu ver¬
binden, oder dieselben in Fluß zu bringen, sind sie ungeschickt; ein Ganzes zu
componiren versteh» sie nicht. Die Entwicklung einer Begebenheit aus dem In¬
nern der Personen sehlt, was sie den einzelnen Bildern zufügen, sind rhetorische
Ergüsse. Weder Lenau, noch Anastasius Grün ist bis zum Epos durchgedrungen,
ihr letzter Ritter, Schutt, Savanarola, Albiugenser ze. sind nichts als einzelne
Bilder, durch einen dünnen Faden verbunden. Aus demselben Grunde aber sind
sie sehr ausführlich in der Staffage und dein Detailschmuck. Die Art und Weise,
wie Freiligrath sein Wüstenbild mit wenig Strichen herausgeputzt, wie Grün die
Schlinggewächse um seine Ruinen bindet und Lenau die allegorische Bedeutung aus
dem Bilde herauszieht, sind höchst interessant und charakteristisch; auch die Formen
ihrer Poesie, ihre Nythmik, ihre Verse haben dasselbe Gepräge, viel Raffinement,
viel Künstelei und doch dabei eine innerliche Rohheit und Unbehilflichkeit. Aus
jedem Gedicht wird eine spätere Zeit bei ihnen erkennen, daß sie die letzten Aus-
läufer eiues großen hundertjährigen Stockes deutscher Poesie waren, welche sich
mühsam neue Luft und neues Licht auf einem Terrain suchten, welches von der
Blätterfülle älterer Zweige bereits bedeckt und ausgesogen war.
Aber die schöpferische Kraft einer großen Nation erschöpft sich nach keiner Rich¬
tung ganz, und was der Abschluß einer Entwickelungsperiode wird, bildet zu glei¬
cher Zeit den Uebergang zu einer neuen. Bei den erwähnten Dichtern ist bereits
eine von den Eigenthümlichkeiten erkennbar, welche die Fortbildung der deutschen
Poesie charakteristren, ihr Instinkt für das Detail, ihr Streben Eigenthümlichkeiten
der Objecte darzustellen. Noch ist ihr Charakteristren oft wunderlich und manirirt,
noch sind es nicht vorzugsweise Menschen, sondern Naturgebilde, starre Massen ze.,
aber die Neigung ist doch schon vorhanden, die große Welt der Objecte zu ver-
stehn und darzustellen. Eine neue Kunstblüthe aber wird bei uns Deutschen ein Käs-
tiges Volksleben, das junge Selbstgefühl einer starken Nation zur Unterlage haben
müssen, sie braucht Augen, welche scharf und sicher das CharakterDische in allen
Formen des Menschenlebens erkennen und einen Geist, welcher über der Verschie¬
denheit des Details das allgemein Menschliche freudig genießt. Die klare ob¬
jective Darstellung, die liebevolle Charakteristik des Individuellen mit freiem Hu¬
mor sind die Entwickelungsstufen, von welchen eine neue Phase unserer poetischen
Literatur beginnen mag. Zu dieser neuen Zeit führen einzelne Individualitäten
herüber, welche hier Dichter des Details heißen mögen, der Bekannteste unter
ihnen ist Berthold Auerbach.
Die Grenzboten haben seit vorigem Sommer oft Veranlassung gehabt, Auer-
bachs dichterische Thätigkeit zu kritisiren, sie haben es immer vermieden. Wenn
man Jemanden persönlich genau kennt, so hat man nicht in allen Fällen das Recht
über ihn zu schreiben. Nicht als ob die Freundschaft eine öffentliche Kritik nicht
überdauern könnte, sondern weil der kritisirende Freund nicht vermeiden kann seine
genaue Kenntniß von der Seele des Freundes, welche sich ihm vertrauensvoll
geöffnet hat, zu benutzen, um dem Publikum seine Ansichten über die Beschaffenheit
und Größe der befreundeten Dichterkraft zu begründen. Es ist immer etwas Ver¬
rätherei dabei, und deshalb möge der Leser auch hier kein specifizirtes Gutachten
über Vergangenheit und Zukunft eines lieben Mannes erwarten, nur einiges Be¬
kannte stelle ich kurz zusammen.
Die Fortbildung, welche die Poesie in unserer Uebergangsperiode durch Auer¬
bach und seine kleine Schule erfuhr, ist eine dreifache. Die Stoffe werden vater¬
ländische, die Darstellung des Details wird genauer und objectiver, die Sprache
wird charakterisirende Prosa. Alles dies ist ein Fortschritt. Zwar sind in den
Dorfgeschichten die vorgeführten Stosse noch aus einer kleinen abgeschlossenen Welt,
welche von dem Strom unseres Lebens und unserer Bildung entfernt liegt, noch
hängt seine Schilderung ganz in Situationen, sie ist eine Genremalerei, bei wel¬
cher er das Leben der Individuum nur aus Momente» charakteristrt, aus einzel¬
nen zusammengereihten Zügen, welche er mit unendlicher Sorgfalt und Liebe her¬
austreibt und zu einem Gemälde zusammengesetzt, wie der Mosaickarbeiter die ge¬
schliffenen Steinchen. Aber seine schwarzwälder Banerngestalten sind doch bereits
künstlerisch idealisirte Menschenbilder, deren Eigenthümlichkeit uns trotz des Gegen¬
satzes der Bildung, in welcher wir zu ihnen stehn, heimathlich und vertraulich
entgegen kommt, und die Zeichnung derselben verräth auch da, wo die künstlerische
Zubereitung der Charaktere uns unvollkommen erscheinen könnte, das ehrliche Be¬
streben künstlerisch treu und wahr zu sein. Dasselbe gilt von der Sprache. Es
kommt hier nicht darauf an, ob man die Benutzung schwäbischer Localtöne zum
Charcckterifiren für vortheilhaft hält, sondern darauf, daß in den Dorfgeschichten
endlich wieder eine poetische Sprache geboten wird, welche ohne Prätension auftritt,
zunächst das Bestreben hat, die Dinge schlicht weg zu erzählen, das Einzelne
scharf und genau zu bezeichnen. Aus dem bunten und grotesken Flitterstaat der
Schildereien von Lenau und Freiligrath ist bei ihm die deutsche Sprache heraus¬
getreten in die plastische Naktheit, wo kein falscher Putz Armuth und Un-
behüflichkcit verdecken könnte. Sollen wir ein neues Reich der poetischen Schön¬
heit schaffen, so kann uns nur eine gute künstlerisch durchgebildete Prosa dazu
helfen, wir müssen wahr werden, bevor wir schön sein können, zur Wahrheit aber
kommen wir nur durch die Prosa.
Es ist bekannt, wie groß der Succeß und die Wirkung war, welche Auer-
bachs Dorfgeschichten machten, sie regten jüngere Zeitgenossen zu ähnlichen Pro¬
duktionen an und stärkten ältere, welche von selbst in eine verwandte Richtung
gekommen waren.
Leopold Kompert gehört derselben Richtung an. Seine Geschichten „Aus
dem Ghetto" (1848) verdienen die Aufmerksamkeit der deutschen Leser nicht nur
wegen ihres Stoffes, sondern noch mehr deshalb, weil in ihnen sich eine wirklich
dichterische Art des Schaffens kund gibt, und weil der Dichter möglicher Weist
eine poetische Zukunft haben kann. Die Anzahl der Dichterkräfte, welchen mensch¬
liches Urtheil in der nächsten Zukunft Förderung unserer poetischen Literatur zu¬
trauen darf, ist bei uns sehr gering. Der größte Theil unserer bekaunten Poeten
scheint abgeblüht zu haben und so wenig dem Menschen erlaubt ist, über die See-
leneutwickluug und geistige Zukunft eines Lebenden in einem Dekret abzuurtheilen,
eben so sehr ist es Recht und Pflicht, mit prüfendem Auge in die Zukunft jedes
Talentes herein zu spähen und den Weg zu beurtheilen, ausweichen es vorwärtsgehe.
Wahrscheinlich hilft solche Betrachtung dem schaffenden selbst nichts, uns aber
fördert sie. Der Kreis der Stoffe, welche Komperr verarbeitet hat, ist das enge
Leben der böhmischen Judengemeinden, welche durch hölzerne Thore, beschränkende
Gesetze, Mißtrauen und Haß und wie alle die mittelalterlichen Schlagbäume heißen,
von ihren christlichen Nachbaren getrennt leben. Er ist selbst ein Kind des Ghet¬
to^ und wie bei Auerbach, sind es Eindrücke aus seiner Jugendzeit, welche sich
ihm poetisch verklärt haben. Auerbach aber war glücklicher. Der jüdische Knabe
schaute als schwäbischer Bauernbursch muthig und treuherzig von den Höhen des
Schwarzwaldes herunter in die deutschen Thäler, pfiff sein schwäbisches Liebet,
prügelte sich mit den andern Bauernknaben und bewunderte den Chorrock des Dorf-
Pfarrers eben so sehr, wie ein anderer seiner Spielkameraden. Der Sohn des
böhmischen Ghetto wuchs mit größeren innern Kämpfen und in größerer Abge¬
schlossenheit von der Welt aus der dumpfen Lust der engen Judenstadt heraus.
Die Anschauungen und Empfindungen seiner Kindheit waren einseitiger und der
Gegensatz, in welchem sich der gebildete Mann zu seiner Vergangenheit befand,
war größer. Ein märchenhafter Duft kam ihm über die Erinnerungen aus seiner
Jugend und überzog ihm die vielen eckigen und seltsamen Gestalten so weit, daß
er sie mit Liebe vor sein poetisches Auge ziehn konnte. Vielleicht haben die ein-
zelnen Figuren, welche sich aus demselben hervorheben, grade deßhalb soviel Por¬
traitähnlichkeit und weniger Kunst als bei Auerbach. Seine Novellenstoffe sind
einfach, sehr einfach auch der Faden, der Verlauf der Handlung. Ein Judenmäd-
chen, welches sich einem französischen General opfert, um von ihrem Geliebten
den Verdacht zu nehmen, daß er ein Angeber seiner Glaubensgenossen sei; Kinder,
welche eine alte Blödsinnige verfolgen und durch die Erzählung ihrer Lebensge¬
schichte gerührt und gebessert werden; ein ungeschickter Bursche, welcher durch un¬
praktisches Wesen zum Verderben kommt; ein Ehepaar, welche sich ohne obrigkeit¬
lichen Conseils geheirathet hat und durch eine Reise der Frau zum Kaiser den
Consens erhält; Märchen ans dem Ghetto und zuletzt als größtes Stück die Ent¬
wickelung zweier jüdischer Kinder bis zu ihrer Emancipation, das sind die einfa¬
chen anekdoteuartigen Stosse, welche er idealisirt. Deshalb haben wir wenig Ge¬
legenheit wahrzunehmen, ob seine Kraft eine Begebenheit zu erfinden, bedeutend
ist oder nicht. Aus der Zusammensetzung der größten Novelle läßt sich nur schließen,
daß der Versasser diese Kraft, wenn er sie auch hat, noch nicht sicher zu gebrauchen
weiß. Und doch hängt von der Größe dieser Kraft, von der Leichtigkeit, poetisch
zu componiren, die Fruchtbarkeit einer Dichterseele ab. Die Franzosen, z. B.
Dumas haben diese werthvolle Begabung in sehr hohem Grade, nur schade, daß
ihnen die zweite Tugend eines erzählenden Poeten, die consequente Darstellung
der Charaktere, nicht eben so gelingt, es ist zu viel celtische Willkür und Gewissenlosig¬
keit in ihren« Wesen. Unsere deutschen Dichter sind grade jetzt in der entgegengesetzten
Lage, daß sie mit Ehrlichkeit und liebenswürdiger Hingebung sich in das Einzelne
vertiefen, die Kunst des Zusammenflusses erst spät und schwer erwerben, weil zur
Erwerbung dieser Fertigkeit das Leben des Dichters selbst viel beitragen muß.
Wenn bei Kompert der Faden seiner Geschichten sehr einfach, oft lose ist, so ist
dagegen die warme Sorgfalt, mit welcher er über den wenigen Figuren schwebt, welche
er darstellt, sehr groß und seine Genauigkeit in der Schilderung eine wahre Erquickung.
Er versteht meisterhaft seine Figuren durch kleine Züge mit kurzen Strichen wirk¬
sam herauszuheben, es ist dabei kein Wort unnütz und jedes Detail lebhast em¬
pfunden und geuau durchdacht. So ist auch seine Sprache. Sie hat das Recht
sich eine künstlerische zu nennen, kein unnützes Wort, kein rhetorischer Schmuck;
sie wirkt durch kurze Sätze, welche ungezwungen einer aus dem andern fließen.
Wir waren in unserer künstlerischen Prosa so tief herunter gekommen und waren
so verstrickt in perciösen Ausdrücken, in Affectation und Manier, daß auch dieser
Vorzug nicht gering anzuschlagen ist. Er benutzt den jüdischen Jargon zum Cha-
rakterisiren mit vielem Geschick, die Erzählung erhält dadurch einen Strich von
dramatischen Leben, der ihr gut steht.
Die Art, wie Kompert den Effect der dargestellten Situation hervorbringt,
hat viel von der stolzen Zurückhaltung, welche wir an Auerbachs Dorfgeschichten
kennen. Der entscheidende Moment wird selten mit dramatischer Lebhaftigkeit dar-
gestellt, über das Ergreifende in demselben werden durch den Dichter selbst keine Reflexio¬
nen angestellt. Wenn das Judenmädchen in einer Unterredung mit ihrem Verlob¬
ten den Entschluß gefaßt hat, bei Nacht den französischen General zu besuchen,
so wird dies Factum kurz, mit einfachen Worten erzählt und dem Leser überlassen,
sich das Tragische dieser Situation auszumalen, wenn der Sohn des Nandars
seine Schwester von ihrem Versucher zurückholt, so wird diese ganze Katastrophe
mit möglichst einfachen, wenigen Sätzen abgemacht, es ist kein Heraustreiben der
Effecte, eher ein Verhüllen. Freilich liegt grade darin ein Hauptreiz dieser De-
taildarstellnng, die Novellen erhalten eine epische Ruhe und einen Schein von
Klarheit, welcher mehr fesselt, als breite Ausführung. Für die künstlerische Fort¬
bildung des modernen Dichters aber kann diese Art zu wirken, wenn seine Seele
sich daran gewöhnt, eine Klippe werden, wenigstens ist es für einen Andern
schwer, sich den Uebergang eines so organisirten Talentes zum Drama zu denken.
Fassen wir zusammen, was der neue Dichter uns bringt: gebildete Empfin¬
dung, Virtuosität in der Darstellung des epischen Details, herzliche Freude am
Schaffen, interessante Stoffe, und eine künstlerische Sprache, so werden wir Ver¬
anlassung haben, ihm zuerst für sein Erscheine» zu danken und zweitens den
Wunsch auszusprechen, daß er seine Phantasie sobald als möglich ans dem kleinen
stagnirenden See des Ghetto herausziehen und lustig in den Strom unseres
Lebens tauchen möge. In der Jugend soll der Dichter seine Kräfte prüfen, das
Genre, und sei es noch so reizend, entfernt jetzt auf die Länge den Schaffenden
von seiner Zeit, die virtuose Form und liebenswürdiges Detail wird uns nicht
mehr befriedigen, unsere Kunst verlangt einen großen Inhalt, mächtige Leiden¬
schaft, für die Form mag dann ein guter Gott sorgen. — Wir hoffen, den
Dichter in der Zukunft da zu finden, wo wir die stärksten Kräfte hinwünschen,
bei den dramatischen Stoffen unseres Lebens.
Der Kampf in Ungarn hat von Neuem begonnen. Von Norden und Süden,
von Osten und Westen dringen besoldete Heere auf das Machtgebot zweier Kaiser
in das blutgedüngte Land, das sich aufrafft zum Verzweiflungskampfe. Im Nor¬
den und im Osten, wo die Mutter Erde natürliche Wälle in Bergessormen auf¬
geworfen hat und spärliche Gebirgspässe durch ein Labyrinth von Thälern in die
große Ebene führen, ward der Natur emsig nachgeholfen. Felsenmassen wurden
in die Schluchten geworfen, Gräben gezogen, Brustwehren gebaut und die nie¬
drigen Plateaus mit Geschütz gekrönt, um dem fremden Eindringling den don¬
nernden Willkomm zu bieten. Wo das Land aber offen ist, wie im Westen und
Süden, da stellten sich Heere auf, die Stelle der Berge zu vcvlreicn und den
Feind von der theuren Heimath abzuwehren.
Bis jetzt hielten die lebendigen Dämme besser Staub als die steinernen Brust¬
wehren. Der Russe hat die Pässe mit Mcnschcnleibern vollgestopft, bis sie die
Höhe der Felfeubarrikadeu erreichten, und über Mineuschutt und Tschcrkcssenleicheu
ist der Kosake eingezogen auf ungarischen Boden.
Jetzt gilt's den Kampf Brust gegen Brust und Manu gegen Mann. Die
Massen und daS Genie ihrer Führer müssen entscheiden. Es ist ein ungleicher
Kampf, so ungleich, daß nur Wenige über die Endentscheidung im Zweifel sind.
Und doch--viel besser stand es nicht, als der große Bombardeur des Westens
dnrch dasselbe Thor einzog, durch das der Türke für ewig ausgezogen war. Noch
ist Ungarn nicht verloren."
Der deutsche Bruder „draußen lauscht begierig dem fernen Kaiivncudonuer.
Sein Herz bebt bei jeder Nachricht vom ungarischen Kriegsschauplatz. „Lebt der
Magyare noch? Glaubt er noch an seinen Gott? Ist Kossuth noch der Mann
des Volkes? Ist Görgcy nicht gefallen? Hat eine verruchte Hand das Mvrdgcld
schon verdient, das auf den Kopf des greisen Bem gesetzt ist? Und hat Dcm-
binsky seinem alten Todfeind von Warschau schon ins Aug' gesehen? O Gott!
Ist wirklich alles, alles ans und hat der Ungar ausgerungen? — Schweig still,
mein wackres deutsches Herz. Du bist der goldne Becher, in den sich mein Ver¬
stand versenken möchte; das Blut in dir, es ist der Wein, der mein Gehirn be¬
rauscht. ES darf uicht sein. Dem Herzen allein darf ich nicht folgen. Es ist
der alte, ewig junge Kampf zwischen Gefühl und Verstand. Ich will ihn ehrlich
bis zu Ende kämpfen." —
Ja, ehrlich bist du ^deutscher Bruder, ehrlich bis zur Selbstverleugnung, bis
zum Selbstbetrugs. Was hindert dich, der großen Völkerhetze auf der ungarischen
Ebene so ruhig zuzusehen, wie einem spanischen Stiergefechte? Der Engländer,
der Franzose' thut's mit beschaulicher Behaglichkeit. Du aber kämpfest in deiner
Stube ehrlich mit. Wenn dn die neuesten Kriegsberichte aus Ungarn des Abends
gelesen hast und dem Herz etwas zu laut pocht und dein Blut zu wallen anfängt,
oder gar eine Thräne herabrolle ans das Zeitungsblatt, dann gibst du deinem
Verstand Ordre, hervorzubrechen ans den Defileen der Gehirnwindungen, um dem
rebellischen Herzen den kalten Umschlag einer politischen Vorlesung aufzulegen.
Auch wir Deutsche in Oestreich sind diesem Zwiespalt unser selbst nicht leicht¬
sinnig aus dem Wege gegangen. Wir haben unser Herz und unsern Verstand
frei gewähren lassen, wenn sie sich kampfgerüstet gegenüberstanden. Wir haben
Wind und Sonue getheilt zwischen beiden Kämpen redlich und unparteiisch. Das
Duell ist vorbei. Es hat anders geendet, als bei euch „draußen." Die beiden
Gegner kamen sich auf halbem Wege entgegen, sie wurden Freunde. ES gab keinen
Sieger und keinen Besiegten. Ihr sagt, euer Verstand habe gesiegt und ihr freut
euch dieses Sieges, denn ein edles Herz freut sich des Opfers, das es bringen
kann. Euer Schmerz und eure Frende aber gleicht den Empfindungen hysterischer
Weiber; sie haben keinen reellen Boden, auf dem sie fußen.
Oestreich ist eine politische, staatliche Nothwendigkeit. Oestreich soll, Oestreich
muß, Oestreich kann bestehn als einheitlicher, mächtiger und — freier Staat,
denn ihm ward eine große Mission zu Theil, die es erfüllen muß. Das ist das
Räsonnement, das man gewöhnlich zu hören bekommt, wenn über die Zukunft
Ungarns und sein Verhältniß zu Oestreich abgeurtheilt wird. Man wundert sich,
daß der liberal denkende Deutsche im Kaiserstaat dieses Raisonnement nicht zu dem
seinigen macht, nud sich von der Romantik des Magyarenlandes oder von dem
Hasse gegen das östreichische Regiment so weit hinreißen läßt, seine Sympathien
für Ungarn offen an den Tag zu legen. Man sollte den Oestreichs nicht so leicht
verdammen. Wie sich Deutschlands, wie sich Oestreichs Zukunft gestalten dürfte,
wenn die Magyaren Sieger bleiben, ist uns, ehrlich gestanden, eben so wenig
klar, wie euch. Desto schauriger weht uns die Gewißheit dessen an, was im ent¬
gegengesetzten Falle geschieht. Es sind die Schauer von Kamtschatka.
Es wird in der Welt viel vom Kaiserstaat Oestreich gesprochen. Es gibt
ein Oestreich, aber der Pole ist in seinem Innern kein Bürger dieses Staates,
der Italiener ist's nicht, der Ungar und der Slave und der Deutsche ist's auch
nicht. Die, welche das Wort „Oestreich" seit dem März dieses Jahres ewig
im Munde führen, sind seine schlechtesten oder beschränktesten Bürger. Sie kennen
ihr Vaterland nicht, oder stehn im Dienste der Regierung, oder sprechen mit der
Zunge anders als sie denken. Wo es aber doch noch einen ehrlichen Mann im
Staate gibt, der Oestreich als Ganzes liebt, der ist sehr zu bedauern. Er
muß die Polen hassen, weil sie sich von Oestreich losreißen möchten, er muß die
Italiener hassen, weil sie sich gegen den Verband mit Oestreich sträuben, er muß
gegen die Magyaren zu Felde zieh», weil diese gegen jede innigere Verschmelzung
mit Oestreich in den Kampf gehn, er muß endlich den deutschen Oestreicher hassen,
dem ein schwarzrothgoldner Traum durch die Seele zieht. Seine Liebe für Oest¬
reich ist identisch mit dem Hasse gegen Oestreichs Völker. — Man wende hier
nicht ein, daß dieser Haß blos Fraktionen in den einzelnen Kronländern trifft.
Wer nach den blutigen Erhebungen in Galizien, nach den Todeskämpfen der Ita¬
liener und Ungarn noch von „rebellischen Fraktionen" spricht, will Andere oder
sich selbst betrügen.
Ich wiederhole es: die Liebe für Oestreich ist identisch mit dem Hasse gegen
Oestreichs Völker. Nur Einen Moment gab es, wo die verschiedenen Stämme
einander trunken in den Armen lagen, von einem gemeinsamen Mit- und Irem-
anderleben schwelgten und die Schranke vergessen konnten, die ihnen bei Babel
gezimmert wurde. Das war im März des vorigen Jahres. Der schöne Traum
war nur zu rasch verflogen.
Die Schranke von Babels Zeiten existirt noch heute. Die Zeit, welche hier
Urgebirge zur Verwitterung bringen, dort Welttheile aus Jnfusorienpanzern zu¬
sammenkleistern konnte, hat über diese Schranke nichts vermocht. Im Gegentheil
hat jedes Jahrhundert einen neuen Holzring um deu bemoosten Baumstamm an¬
schießen lassen. Er ist dickleibig geworden, statt zu verfaulen. Und wäre der
Verwesungsprozeß dennoch möglich gewesen, die Metternich'sche Politik hat ihn
mit allen antiseptischen Kniffen zu hemmen gewußt. Man hoffte viel, man hoffte
alles von den Frnhlingslüsten der Freiheit. Da sie die Schranke nicht zertrüm¬
mern konnten, so sollten sie aus dem knorrigen Stamm einen jungen Trieb her¬
vorlocken, der zum gastlichen Baum heranwachse für alle Nationalitäten. Wir
hofften vergebens. Es ist anders geworden.--
Man hat sich in Deutschland darin gefallen und gefällt sich noch heute darin,
die politischen Anschauungen der liberalen Oestreicher mit einem brüderlich-mit¬
leidigen Achselzucken zu betrachten. Wir hatten »us Jahre hindurch an eine ge¬
gewisse geistige Bevormundung von draußen so gewöhnt, daß wir in unser selbst-
ständiges Auftreten Mißtrauen setzten. Mit Unrecht. Unsere Verhältnisse hat noch
Niemand richtig beurtheilt, der uicht in Oestreich geboren ist, oder durch jahre¬
langen Aufenthalt in den verschiedenen Provinzen der Monarchie den innern Bau
dieser complicirten Staatsmaschine kennen gelernt hat. Viele von uns, die zu
Metternich's Zeiten ein gastliches Asyl außer Oestreichs Grenzen gefunden hatten,
waren bemüht, diesen Mechanismus zu expliciren. Wo sie es thaten, kamen sie
immer zu dem Eudgeständniß, daß das belebende Princip desselben einzig und
allein der abtödtende Absolutismus sei. „Wenn einmal eine Revolution in Oestreich
zu Staude kommt," so haben wir oft gelesen, „dann löst sich dieser unnatürliche
Staatencomplex in seine natürlichen Bestandtheile ans." Die heftigsten Geister
theilten diese Ansicht und vertheidigten sie. Und jetzt, nachdem die Revolution
wirklich über Oestreich gekommen ist, macht sich in vielen deutschen Köpfen die
Ansicht geltend vom Gegentheil. DaS ist eine Inconsequenz, welche durch die
neueste Geschichte am meisten gerechtfertigt wird.
Oestreichs Völker waren im Stande eine Revolution zu machen. Die Re¬
volution war aber uicht vermögend, aus ihnen ein östreichisches Volt zu machen.
Alle Fehler, welche in Oesterreich seit einem Jahre begangen wurden, siud uicht
höher anzuschlagen als die, welche sich das politisch vorbereiteten Deutschland zu
Schulden kommen ließ. Daß letztere am Ende leichter gutzumachen sind, liegt in
den Verhältnissen. Wir tragen die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit
eines starken freien Oestreichs nicht minder lebhaft in uns, als Sie und alle
Well. Die Majorität in Kremsier hat diese Ueberzeugung so warm in sich auf-
genommen, wie die Majorität zu Frankfurt a. M. die Ueberzeugung von der
Möglichkeit eines einigen Deutschlands. Die Nothwendigkeit einer deutschen Eini¬
gung ist aber eine innere, bastrt im Gefühlsleben der deutschen Volker, das
Zusammenhalten Oestreichs dagegen ist lediglich eine äußere Nothwendigkeit.
Für Deutschland kämpft das Volk, gegen Oestreich jeder seiner Stämme. Für
Deutschland wirken seine besten Männer, dagegen steht jede hervorragende Persön¬
lichkeit in Oestreich auf dem Standpunkte der Revolution gegen dieses zu eini¬
gende Oestreich. Wollen Sie diese wichtigen Momente nie vergesse».
lind trotz dem allen wurde in Kremsier die Vereinigung angebahnt. Sie
wäre erreichbar gewesen, für gewisse Zeit wenigstens erreichbar, wenn der Ent¬
wurf des Reichstags zur Geltung gekommen wäre. Der Krieg in Ungarn hätte
dem energischen Zusammenwirken aller Provinzen nickt widerstehn können. Er
hätte seine Lösung ohne russische Hilfe gefunden. Dann, aber auch nur dann
hätten wir dafür gestimmt, uns selbst durch die Bluthvchzeit des Bürgerkrieges
mit Ungarn aus's Neue zu vermählen. Dann, aber auch nur dann hätte das
Gesammtöstrcich seine politische Mission dem Osten Europas gegenüber weiter ver¬
folgen können. Dieser Ueberzeugung hätte sick unser Gefühl für das formelle Recht
der Magyaren, unsere Sympathien für ihre Ritterlichkeit und Tapferkeit beugen
müssen. Aber am 4. März 1849 hat sich die Krone vom Volke losgesagt, indem
sie seinen Vertretern die Thüre wies. Seit diesem Momente hat das Hans Habs¬
burg und das Ministerium Schwarzenberg die Rolle einer strafenden Gottheit über¬
nommen. Alle Plagen, welche der alte Gott der Bibel über die Egypter ausge¬
schüttet, hat diese Ordvnanzregierung gegen die Volker Oestreichs heraufbeschworen.
Die Flüsse haben sie in Blut verwandelt vom Prnth bis zum Po, die Schlangen
der Inquisition und das Raubthier des Völtcrkrieges und der Heuschreckeuschwarm
des Papiergeldes und die Ungeziefer der Russen und die Geistesfiusteruiß von ehe¬
mals wurden dekretirt, contrasignirt und publizirt, und noch immer wird der Erst¬
geborne wie der Jüngstgebvrne hinausgeführt zur Schlachtbank. Zuletzt wird die
yalbocrkohlte Brandstätte an Rußland verkauft.--Deutschland will diese Schätze
der Barbarei wieder entreißen? Deutschland will dem ersterbenden Oestreich wieder
neue Lebenskraft einhauchen? — Ihr überschätzt eure Kraft. Die Ketten konntet
ihr brechen, aber es wird noch lange dauern, bis ihr das Spinn enge webe
der alten Kcrkerstuben von euern Kleidern abstreift. Von dieser Seite wenigstens
geben wir Oestreicher uus keiner Täuschung mehr hin. Das zerfallene, zerbröckelte
Oestreich wird noch immer mehr Lebenskraft entwickeln, als das durch allerhöchsten
Kitt zusammengeschweißte Deutschland. —
Deutschland möge es uus verzeihe», wenn wir uns in dieser Beziehung irren,
vor allem aber muß es uus durch die That widerlegen. Sei» activer Widerstand
gegen die Regierungen konnte uns — weil vereinzelt und mit schmutzigen Elementen
vermischt — keine Achtung abgewinnen. Der passive Widerstand der Demokratie,
wie er jene als zweite verbesserte Auflage in Preußen erscheint, läßt bei der Per-
tinazität pes Ministeriums Manteuffel auch kein großes Resultat erwarten. Zu
erörtern, worin der Fehler liegt, ist nicht die Aufgabe dieser Zeilen. Woher es
aber kommt, daß die bevorzugte deutsche Presse in ihrem Urtheile über Oestreich
und speziell über den ungarischen Krieg in immer mehr verwickelte Jrrgänge der
Spekulation hiueiugcräth, das ist in wenig Worten gesagt. Es liegt der Grund
einfach darin, daß immer von „Oestreich" gesprochen wird. Wir empfehlen be¬
scheiden der deutschen Journalistik, diesen concreten Begriff jedesmal gewissenhaft
in seine Bestandtheile zu zerlegen und statt von „Oestceichern" lieber von „Polen,
Italienern, Czechen, Deutschen und Magyaren" zu sprechen. Geht dadurch anch
die Schönheit und Nundung mancher Periode verloren, die Klarheit des Räson-
nements wird durch dieses einfache stylistische Manöver unendlich viel gewinnen.
Man wirft den liberalen Oestreichern vor, daß sie GesülMpolitik treiben,
und sich hoch im romantischen Sattel so wohl gefallen, daß sie über ihre eigenen
Kornfelder lustig dahingallopircn. Man thut auch hierin den Oestreichern gewal-
tig Unrecht. Wir sind im Gegentheil ganz prosaische, nüchterne Analytiker, und
die Analyse führte uus zur Ueberzeugung, daß der Begriff Oestreich keinen Kör¬
per chemischer Wahlverwandschaft repräsentire, höchstens ein mechanisches Conglo-
merat, das durch einen Stoß in seine Bestandtheile zerfallen muß. Hätte Stadion
die Wage und den Neagenzkasten gewissenhaft zur Hand genommen, als er die
Verfassung octrvyirte, hätte er bei Abfassung seiner Memoires den von uns em¬
pfohlenen stylistischen Kunstgriff angewendet, er hätte nicht vctroyirt, am allerwe¬
nigsten aber hätte das Cabinet den Stoß selber führen dürfen — durch Herbei¬
ziehe» der Nüssen.
Jetzt baut man für dieses octroyirte Oestreich ein prachtvolles Stäudehaus
auf der Bastei. Ein Schalk von Baumeister, der um den Preis des besten Pla¬
nes mitconkurrirte, wollte das Gebände nach Art des schiefen Thurmes von Pisa
ausgeführt wissen, aber mit der Neigung nach Rechts. Sonst, meinte er, könnten
anch die solidesten Quadern das Uebergewicht nach Links nicht auf die Dauer
aushalten. Und berauschen auch Sie sich jetzt einen Augenblick mit östreichischer
Nüchternheit. Denken Sie sich einen goldnen Frühlingsmorgen. Vom Balkone
des neuen Neichstagspallastes flattern schwarzgelbe Fahnen, und schmettern tausend
Trompeten. Das Volk jubelt, deun Ungarn und Italien hat sich für bezwungen
erklärt und die Vertreter aller Nationen ziehen paarweise in das Heiligthum ein.
Der Pole singt stille vor sich hin: „Noch ist Polen nicht verloren," und
setzt sich links.
Der Italiener murmelt etwas von Brescia, schlägt ein Kreuz und setzt sich links.
Der Nord - und Südslave will sich nicht zum zweiten Male narren lassen, er
lächelt hämisch und setzt sich links.
Der Ungar zerdrückt eine Thräne, er denkt an das frische Blut ans der Haide
und setzt sich links. ^
Der Deutsche aber hat in der letzten reichstagslosen Zeit die Politik Habs-
burgs am gründlichsten studirt, er setzt sich links.
Rechts sitzen einige schwarze Herrn aus Tyrol und etwelche Beamte aus allen
Provinzen. Nach drei Tagen ist die Kammer aufgelöst, denn das Ministerium hat die
Ueberzeugung gewonnen, daß sich mit dieser Versammlung nicht regieren läßt. Es
werden neue Wahlen ausgeschrieben. Sie fallen in demselben Sinne ans. Glau¬
ben Sie noch an ein einiges und — constitutionelles Oestreich? -
„Ja wohl" werden Sie sagen „glaube ich daran. Der nüchternseinwollend«
Oestreicher hat an zwei Dinge vergessen. Es kauu ein anderes Ministerium oder
ein anderes Wahlgesetz an die Reihe kommen."
Wir wollen beide Fälle in Erwägung ziehn.
Das Ministerium Schwarzenberg-Bach tritt ab. Es wird angeklagt, ver¬
dammt, exilirt, geköpft oder meinetwegen pardvnirt. An seine Stelle kommt ein
Volksthümliches, d. h. Völkerthümliches, das Ideal eiues Ministeriums, das alle
Nationalitäten zufrieden stellt. Wir wollen Ihnen die Ministerliste entwerfen:
Aeußeres: Bathyany — Lubomirsty — Dobblhof. Inneres: Pillers-
dorf —Mamin. Finanzen: Kossuth. Krieg: Jellachich — Pepe — Dembinsky.
Justiz: Pinkas — Smolka — D^ak. Unterricht: Palacky — Eötwös —
Feuchterslcbek. Handel: ein ruthenischer Banquier.
Sie lächeln über diese Combination, und daß ich so viel revolutionäre Ele¬
mente zusammengeklaubt habe, welche freilich wenig sür el» einiges Oestreich thun
werden, nachdem die meisten von ihnen so lange offen oder geheim die Waffen
gegen dasselbe geführt haben. Aber das ist ja eben der Knoten, daß die großen,
anerkannten, gefeierten, vergötterten Männer, welche die ungeheure Majorität der
nationalen repräsentiren, gegen das octrvyirte Gesammtöstreich stehn, und auf¬
hören würden, populär und mächtig zu sein, sobald sie Oestreich höher stellen als
ihr eigenes Volk. Es ist kein östreichisches Ministerium denkbar, das mit einer
Kammer voll Polen, Italienern und Ungarn östreichisch regieren kann. Oder wol^
kam Sie um Oestreich nicht zu opfern, die Freiheit auf den Biot legen und Met-
ternichs System wieder zu Ehren bringen? Dann freilich ist vieles möglich, aber
auch dann nicht alles. Ein Ministerium Metternich-Haynau wird auch den März
1848 nicht ungeschehen machen können. ' .
Zweiter Fall: Das Ministerium Schwarzenberg - Bach bleibt am N"der.
Bach wird zur Belohnung seiner Verdienste in den Grafenstand erhoben und er¬
hält ein uraltes Hoffräulein zur Gemahlin, für Schwarzenberg aber macht das
dankbare östreichische Volk eine Kollekte, um die 60,000 L. zu zahlen, die er in
England schuldig geblieben ist. Das Ministerium bleibt, und das Wahlgesetz
wird geändert.
Wir nehmen den höchsten Census an: „Niemand ist Wähler und wählbar,
der nicht wenigstens Ein Rittergut und 20 Ahnen hat." Sehen Sie, das hilft
nicht, denn grade in den höchsten Adel Italiens, Polens, Ungarns ist der Dämon
der Revolution gefahren. — Nun so machen wir's umgekehrt: „Niemand darf in
die Kammer kommen, der sich nicht als Proletarier legitimiren oder seine Unkennt¬
nis) des Lesens und Schreibens legal nachweisen kann." Hilft wieder nichts,
denn so loyal der rhutenische und romanische Bauer auch sein mag, so steckt die
Demokratie und der nationale Eigendünkel desto fester in dem gemeinen Czechen,
Magyaren, Lombarden, und in dem deutschen Arbeiter nicht minder. — Wir ge¬
ben also für jedes Kronland ein besonderes Wahlgesetz: „Aus Nhutenien kömmt
der Bauer und aus Steyermark der Adel in die Kammer." Wo bleibt aber da
die viel belobte Gleichberechtigung, und was ist aus dem einen großen Lei¬
sten geworden, der für ganz Oestreich passen soll? — Nun in Gottesnamen, so
verordnen Wir Franz Joseph in. ^c. „daß nur derjenige östreichische Staatsbürger
wählbar ist, der eine Bijouterie- oder Seidenhandlung in Wien ans dem Kohl-
markt hat." Das heißt in die Scheibe geschossen. So allein kann Oestreich
constitutionell regiert werden. „Mein Sohn reich' mir den alten Hirschfänger von
der Wand, ich gehe die rebellischen Ungarn zu bekriegen» Oestreich kann, wird,
und soll besteh»!" —
Von Rußland und seinem künftigen Einflüsse wollen wir hier nicht weiter
sprechen. Es müßte sonderbar zugehn, wenn »ach der Befteguug der Magyaren
Oestreich noch einen Damm gegen Rußland und nicht vielmehr eine Vormauer
des Ostens gegen Deutschland abgeben würde. Vielleicht auch den Vortrab rus¬
sischer Heere. Es ist Wahnsinn jetzt noch an die alte Misston Oestreichs zu denken.
Bessere Federn haben in diesen Blättern über dieses Thema schon gesprochen. Ich
will nur Eines noch berühren:
Es ist die Ansicht ausgesprochen worden, daß der Banquerott Oestreichs un¬
vermeidlich ist, wenn es im Kampfe den kürzern zieht, und daß wir dann auf
einem Punkte angelangt sind, wo die bürgerliche Gesellschaft bedroht ist. Auch
wir verkennen die Gefahren eines Staatsbankerotts nicht, erlauben uns aber in
Bezug aus Oestreich folgende einfache Bemerkungen:
Die Nationalbank hat faktisch fallirt, von dem Momente, als sie ihre Noten
nicht mehr gegen Silber einlöste. Da'ö Fallissement wurde gegen alles Recht blos
deswegen nicht erklärt, weil der Staat nicht mehr im Stande gewesen wäre, seine
Soldaten zu bezahlen.
Es gibt keine Sorte Papiergeld, das nicht in Oestreich curfirte, darunter
die neuen Assignaten in unbeschränkter Ausgabezahl.
Der Cours des Geldes ist heute Z0 pCt. trotz der Siegesberichte der Wiener
Zeitung. Unser Vermögen ist daher heute schon H seines Werthes herabgesunken.
Daneben spricht man von neuen Steuern, von einem Zwangsanlehen und die
Lebensmittel steigen in furchtbarer Progression.
Wir haben endlich Papieranweisungen zu 6 und 10 kr. Diese sind deswe¬
gen mit einer Seriennummer versehen, weil eine gewisse Anzahl Serien alle Vier¬
teljahr gezogen werden sollen. Die Gezogenen werden gegen Scheidemünze 6 kr.
ausgewechselt. — Diese Scheidemünze ist aber notorisch blos 3 kr. werth. Man
muß demnach das seltene Glück haben, in der Lotterie zu gewinnen, um blos
die Hälfte seines Vermögens zu verlieren.
Urtheilen Sie uach dem allen, ob ein offener Banquerott verderblicher sein kann.
Als Ersatz für alles hingeopferte Geld und Blut steht das Protektorat Ru߬
lands dem pazifizirten (!) Oestreich in Aussicht. Wir fühlen's, daß wir verloren
sind, und müssen die schmerzliche Ueberzeugung dazu tragen, daß Deutschland mit
uns verloren ist. Wenn Ungarn siegt, verlieren wir noch das zweite Dritttheil
unseres Wohlstandes, aber die Freiheit des Westens ist nicht bedroht, und wir
dürfen wieder über die Grenze hinüberschielen, und den bescheidnen Wunsch hegen,
ans dem Wrak der Monarchie in den Hafenplatz unseres deutschen Vaterlandes
aufgenommen zu werden. Man sollte den Oestreichs nicht tadeln, daß er sein
materielles Interesse vergißt, wo es die Freiheit eines Welttheils gilt.
Ans einem Bauerwagen, dem gewöhnlichen Gespann der Grenze, flog ich
von Semlin anf Karlowitz zu. Die Fluthen der Donau glänzten mir im Abend¬
licht entgegen und der slavische Postenruf zwang mein Rößlein zum Stehn. Ein
Dutzend Rothmäntel lagerte am Ufer, da, wo die Dampfschiffe anhalten; lustig
flackerte ein Wachtfeuer in die Höhe, und von einem Bündel dürren Nebenholzes
erhob sich majestätisch der Arambassa, mir die Papiere zu prüfen. Er studirte
lange und sah dabei sehr schwermüthig aus, vou Zeit zu Zeit besahen wir einan-
der prüfend die Schnurrbärte, dann warf e r die Augen wieder auf das Papier,
ich auf die gelbe Fluth und den blanken Dämpfer, die Dura, welche die Serben
gleich im Anfang ihrer Erhebung den Magyaren abgenommen haben. Sein Schlot
rauchte und eine Anzahl Grenzer schleppte Gewehre und Munition an Bord,
welche nach einem der Lager im Banat bestimmt waren. Endlich hatte sich der
Dudelsack dazu, die Mädchen fehlen, aber die Burschen drehn sich mit eben so viel
Feuer und Leidenschaft, als ob sie die Würze des Tanzes in ihrer Mitte hätten;
seht, es sind syrmische Bauern, der Landsturm, der mit Lanzen und Sensen in's
Feld zog. Wie die braune Guuja fliegt und die bunten Lappen, mit denen sie
ausgeputzt ist, im Schein des Feuers aufleuchten und wieder verschwinden! Es
ist ein stämmiges Geschlecht mit groben Fäusten, das sich hier dreht, sie haben
die heftigen Bewegungen des Landmanns noch nicht mit dem Aplomb des Solda¬
ten vertauscht. — Noch ein Koko, aber statt des Dudelsacks tönt die Gusle, die
serbische Geige, darein, und die Tänzer singen kurze Liederstanzeu in der Art der
polnischen Krakowiaks dazu. Es sind Semliner Garden, seine Leute; wie schmuck
die blauen Waffenröcke sitzen und so pfiffig haben sie ihre blaue Kappe anf'S Ohr
gerückt. — Dort steht ein Haufen Nochkappen, dicht gedrängt aufeinem Hausen und un¬
geheures Gelächter bewegt von Zeit zu Zeit die Masse, wie in galvanischen Zul-
kungen. Sie hören aus ihren Possenreißer, den Czaus oder Bndala, die unent¬
behrliche Figur bei allen Festen Syrmiens und der Umgegend. Er hat eine bunte
Pferdedecke über dem Rücken und eine hohe Mütze von Fuchspelz auf dem Kopfe,
wie ein vornehmer Geistlicher und singt mit näselnder Stimme parodirte Lita¬
neien der griechischen Kirche. Ich fürchte, mein Bursch, was du singst, würde
selbst ein Feldpater für unmoralisch erklären. — Hier liegt ein Kreis von älteren
Soldaten bei den Resten des Abendessens, er läßt die riesige Feldflasche, voll von
schwarzem Karlowitzer Feuerwein kreisen und singt begeistert aus voller Kehle das
Jnsurrectionslied: „I.?8tirii use-ni Krblino," „Auf auf, Serbe, zu den Waffen, die
Freiheit ruft;" den Refrain dazu hat dies Volk mit Feinheit und Zartgefühl der
Zeit angepaßt, er lautet: Ilocomo im i^rudi, n>ilA^arsI<oM Al»vom. Zu
deutsch: „Spielen wollen wir mit Ungarschädeln" und dieser wohlwollende Wunsch
wird mit solcher Leidenschaftlichkeit herausgestoßen, daß es einem Christen durch
Mark und Bein geht. — Hier laßt uns ruhn, hier sitzen unsere Freunde, die
Rothmäntel. „Ihr erlaubt Arambassa?" Der Unteroffizier macht neben sich Platz,
wir setzen uns zu der Versammlung und mit Hilfe meines Freundes kommen wir
bald in ein kameradschaftliches Gespräch. Der Arambassa sieht von Zeit zu Zeit
auf den Himmel und uach der Brandwache, als ob er den Zapfenstreich erwarte
und zieht endlich langsam und mit Selbstgefühl eine ungeheure silberne Uhr, ein
wahres Schalenthier mit einem Halbdutzend Gehäusen heraus und sieht nachdenk¬
lich auf die Zahlen. „Welch schöne Uhr habt Ihr da, Arambassa?" — „Ja
Herr," antwortete er, sichtlich vergnügt über die Bemerkung, „sie ist groß!" —
„Und wie seit Ihr dazu gekommen, Freund?" Er lacht geheimnißvoll und sieht
seine Kameraden an, es ist Einverständniß und Bewunderung aus ihren Gesichtern
zu lesen. — „Sie ist von Oben her, von Wien, ich habe sie aber nicht selbst
gefunden, ich hatte Unglück. Ich ging in einen Laden, mir eine Uhr zu holen
und fand dort nichts mehr, als eine Menge kleiner, gelber Dinger von Uhren,
die gar keine Größe hatten und kein Ansehn. Ich steckte sie alle zusammen in
einen Sack und ging mürrisch heraus. Da traf ich auf der Straße einen Kame¬
raden, der glücklicher gewesen war, er hatte diese Uhr gefangen. Ich bot ihm
den Sack mit den kleinen gelben gegen diese große, er wollte zuerst uicht, bis ich
ihn, einen Zwanziger zulegte, da ließ er sie mir; er war noch ein unerfahrener
Mann." — Gut, me-uBassa! Du kämpfst für den Ban und plünderst die Oest-
reicher und plünderst die Ungarn. — Wenn man mich in diesem außerordentlichen
Kriege frägt, wofür wir kämpfen, die Köpfe abschneiden, oder uns abschneiden
lassen, so würde es>mir wahrhaftig eben so schwer sein, einen vernünftigen Grund
anzugeben, als einem meiner Serczaner. Aber das ist der Humor des Krieges, man
schlachtet und wird geschlachtet, so lange, bis die Sache einem zur Gewohnheit ge¬
worden ist, die man nicht mehr entbehren kann, ungefähr wie das Tabakrauchen oder
ein g»t,'ö Diner. Die Brutalität ist in der menschlichen Natur mir mit einem sehr dün¬
nen Firniß überdeckt, Blut wäscht ihn ab nud die Bestie ist fertig, ohne viel von
ihrer alten Gemüthlichkeit verloren zu haben. Als im vorigen Herbst Freund
Knicanin die Melonen verboten hatte, weil sie gefährliche Dissentcrien herbrachten,
wurden sie unter anderm einmal in einem Sack eingeschmuggelt, in welchem oben
ein paar Ungarnköpfe lagen; diese Waare war zollfrei. — Und bei alle dem
sind die alten Knaben, unter denen ich hier sitze, als Kameraden, Bekannte, ja
als Freunde, die gutmüthigsten und ehrlichsten Menschen, die mir je vorgekommen
sind, und gegen ihre Sitten im Verkehr mit cultivirten Freunden wird, einige
kühne Redensarten abgerechnet, weniger einzuwenden sein, als gegen die Manie¬
ren deutscher Gardesoldaten; aber in Deutschland wirb der menschliche Firniß vom
Staat auf die Einzelnen gestrichen, hier muß sich ihn jeder selber geben und da
wird die Malerei etwas grotesk.
Der Zapfenstreich wirbelt, das fröhliche Toben hört auf, auch drüben im
zweiten Lager tönt ein Signalhorn in russischer Weise und das Gesumm verstummt.
Ich lege mich vor meine Hütte nud hülle mich dicht in meinem Mantel, die
Nacht wird frisch und perlender Thau hängt sich in mein Haar. — Rings tiefe
Ruhe, man hört nur das Schnarchen der Schläfer und den Ruf, Halt —^ wer
da. Patrouille vorbei! Von drüben aber, vom Nachbarlager tönt von Viertel¬
stunde zu Viertelstunde ein gellender Pfiff und der ermunternde Zuruf der einzel¬
nen Posten „i>v5l,i-! — ^L8i»i»öl>j!" Die Landschaft vor mir deckt tiefes Dunkel,
selbst von dem Strom, der großen Silberschlange, leuchten nur einzelne Schuppen.
Aber ein Rauschen geht durch das Wasser, welches unheimlich klingt, wie ein Kla¬
geruf der Elemente; und fern am Horizont auf das Banat zu glüht der Himmel
an zwei Stellen wie von einem Nordlicht. Es ist kein Nordlicht, was dort glüht,
der rothe Schein ist jetzt im Donauland jede Nacht zu sehe»' geu Süd, wie gen Norden.
Studien zu Goethe's Werken von Heinrich Dnntzer. Elberfeld und
Iserlohn, Vädecker.
Goethe's Kritiker in unserer Zeit haben in der Regel einen Anstrich von
Parteilichkeit nicht verleugnen können, der sich einfach aus der Differenz zwischen
dem Idealismus unserer Generation und dem des vorigen Jahrhunderts ergibt.
Wer die leitenden Ideen, die Probleme, welche jene Zeit bewegten, als die be¬
rechtigten anerkannte, oder sich instinctartig von ihnen bestimmen ließ, mußte auch
für den vorzüglichsten Repräsentanten derselben eine unbedingt Verehrung empfin¬
den; wer sie verwarf, konnte auch dem Dichter nur ein bedingtes Lob ertheilen.
Wie jede Reaction gegen eine populäre Ansicht, trat auch diese kritische Richtung
zuerst in leidenschaftlicher Einseitigkeit hervor und führte eben darum ans der andern
Seite zu gehässigen Entgegnungen. Dort ging man mit allem Pathos einer neu¬
erworbenen Idee Goethe wegen seiner Jmmora'nat zu Leibe, und warf ihm vor,
daß er für das Volk und seine Freiheit kein Herz, für die Geschichte und ihren
Geist kein Verständniß gehabt; hier rang man die Hände über den Mangel an
Pietät, über die Beschränktheit und den niedrigen Sinn, der sich gegen einen so
großen Dichter, den Stolz der Nation, ein so ungebührliches Betragen erlaubte.
Man erklärte Menzel für ein schlechtes Subject im Allgemeinen, Börne für einen
Fanatiker, Gervinus sür einen Spießbürger: eine Abfertigung, die freilich nur die
unbedingten Anhänger der ästhetischen Rechtgläubigkeit beliebigen konnte.
Die Gegner unsers Dichters versehen es in zwei Punkten. Einmal verkannten
sie die historische Berechtigung seines Princips, und wurden dadurch ungerecht gegen
Goethe: um so ungerechter, weil sie sich bei andern Dichtern, z. B. Schiller,
durch einzelne Anklänge an ihre Lieblingsansichten bestechen ließen, sie Goethe als
die Bessergestellten gegenüberzustellen. Ans der andern Seite gingen sie wieder
"
nicht weit genug. Sie griffen den Menschen an und ließen den Künstler gelten,
als ob das Kunstwerk nicht wesentlich durch seine ethische Grundlage bestimmt
würde. Wir sind durch die fortgesetzte Mosaikarbeit der verschiedensten Weltan-
schauungen, wodurch unsere ganze Literatur sich charakterisirt, in unserm natürlichen
Denken und Empfinden so corrumpirt, daß uns die einfache Wahrheit als para¬
dox erscheint, und wenn wir bei deu Griechen lesen, daß sie die Begriffe gut und
schön uur der Form nach, nicht aber im Inhalt zu unterscheiden pflegten, so macht
uns das stutzig, es kommt uns neu vor, während doch die ganze Verschroben¬
heit der romantischen Begriffsverwirrung dazu gehörte, zwischen dem, was das
Wohlgefallen nothwendig erregt (dem Schönen), und dem, was an sich von Werth
ist (dem Gute»), einen Gegensatz aufzufinden. Der gesunde Menschenverstand
der Griechen legte dergleichen Einfälle nur komischen Figuren in den Mund, wie
Plato deu Sophisten, um sie auszulachen.
Wenn also die Freunde Goethe's, die romantische Schule und ihre Epigonen
sich an die Schönheit ihres Dichters hielten, und die Güte als etwas Triviales
den Philistern überließen, und wenn seine Gegner, die Nigvristen für Gott,
Tugend, Vaterland nUd Geschichte, seine Schönheit für einen zweifelhaften
Vorzug ausgeben, weil ihr die Güte fehle, so verfallen sie beide der näm¬
lichen Einfältigkeit. Was von Goethe's Dichtungen schön ist, ging aus seinem
Herzen hervor, das frei und warm für alles Natürliche schlug, nud was ihnen
fehlt — die Energie der künstlerischen Komposition — ist nichts anders als der Aus¬
druck seiner sittlichen Schwäche. Weil das erste hinlänglich gewürdigt ist, so er¬
fordert es die Gerechtigkeit der ästhetischen Kritik, den stärkeren Accent auf das
zweite zu legen. Es ist aber noch ein anderer Grund dafür anzuführen.
Wir haben bei dem schlechten Ausgang unserer neuesten Revolution alles mög¬
liche angeklagt, deu Verrath der Fürsten, die Schwäche der Bourgeoisie, die Ueber¬
treibungen des Volkes. Aber Eines haben wir vergessen. Bei der tiefen und
weitausgreifenden Bildung, die uns anch unsere Gegner nicht absprechen werden,
ist Eine Eigenschaft verhältnißmäßig sehr wenig entwickelt, der gesunde Menschen¬
verstand. Und zwar in den höchsten wie in den niedrigsten Regionen. Die Un¬
sicherheit unsers Urtheils macht sich aber anch in unsern Thaten geltend. So lange
es bei uns noch möglich ist, daß hochgebildete Männer uns ein wüstes Quodlibet
von geistreichen und abgeschmackten Einfällen, wie etwa den Faust und die Wan¬
derjahre als ein Meisterstück künstlerischer Komposition preisen, und daß dergleichen
auch Anklang findet — so lauge haben wir auch uicht die Aussicht, in der objec¬
tiven Form unsers Wollens, im Staatswesen, etwas anderes zu erreichen, als ein
derartiges Quodlibet. Der ästhetische Geschmack steht gar nicht isolirt, und wenn
wir — um ein ganz unscheinbares Beispiel zu wählen — es als eine Schönheit
bewundern, daß in den Wahlverwandschasten die Erzählung durch ein sogenanntes
Tagebuch, — d. h. eine Reihe von Bemerkungen über dies und jenes — unter-
brochcu wird, so werden wir es auch ganz in der Ordnung finden, wenn man
eine Verfassung gibt, und daun sie auf einmal wieder aufhebt, oder sie wenigstens
durch allerlei geniale Einfälle durchlöchert. Gerade weil bei Goethe die angeborne
Unart der deutschen Nation, die subjective Willkür, das charakterlose Verschwimmen
im Meere zufälliger Empfindung, das Auflehnen gegen Negel und Gesetz, ans die
Spitze getrieben ist (womit gar nicht im Widerspruch steht, daß der Dichter bei
seinem seinen Gefühl für alles Schöne unter andern Neigungen — auch die für
Negel und Gesetz sehr lebhast hegte), gerade darum müssen wir ihn, unsern Lieb¬
ling, einer strengen Kritik unterwerfen, nicht seiner Läuterung wegen, sondern der
unsrigen. Wir müssen erst zu der Erkeimtniß kommen, daß der Faust von An¬
fang bis zu Ende ein schlechtes Stück ist, ehe wir berechtigt sind, an seinen wun¬
derbaren Schönheiten uns zu erfreuen. Noch steht der Genius, der in Goethe
seinen vollkommensten Ausdruck gefunden hat, unserm Leben in zu feindlicher Nähe,
als daß wir uns ihm unbefangen hingeben dürften; wir müssen ihn erst vollstän¬
dig überwunden haben, ehe wir ihn lieben dürfen.
Von diesem Standpunkt ans würde sich auch unser Urtheil über die unbe-
dingten Verehrer seiner Richtung bestimmen lassen. Es unterscheiden sich in den¬
selben drei Classen.
Die erste, zu der auch der Verfasser der uns vorliegenden Schrift gehört,
sind die naiven Verehrer des Dichters. Sie sehen es im vollen Ernst als eine
Verleumdung an, wenn man ihm irgend eine der Eigenschaften abspricht, die sie
für gut und werthvoll halten. Sie wollen nicht haben, daß man an seinem Chri-
stenthum, seiner Vaterlandsliebe, seinen sittlichen Gefühlen zweifelt, und es' ist
ihnen Ernst damit. Je unproduktiver in der Negel diese Naturen sind, um so
mehr ist ihnen die Hingebung an eine große Erscheinung Herzenssache. Es ist
charakteristisch, daß man sie in unsern Tagen mehr unter den bejahrten Leuten und in
den höhern Ständen antrifft. Im vorigen Jahrhundert war das anders. Es ist jetzt
nicht mehr die Liebe des unmittelbaren Entzückens, sondern der Pietät. Ich komme
darauf noch zurück, wenn ich an die nähere Besprechung der „Studien" gehe.
Die zweite ist der junge Nachwuchs der romantischen Schule, die seit Heinrich
Heine den moralischen Nigvristen mit eben so viel genialen Selbstgefühl entgegen¬
trat, als die jugendlichen Dichter der Sturm- und Drangperiode den damaligen
„Philistern", den Aufklärer». Für sie ist der Tadel, den eine strenge Aesthetik
gegen Goethe ausspricht, ein Lob. Es ist ihnen ganz recht, daß er das Fleisch
der heidnischen Sinnlichkeit gegen die spiritualistischen Anforderungen des Chri¬
stenthums gerettet, es ist ihnen aber ebenso recht, daß er dem gemeinen Menschen¬
verstand, der überall klar sehn will, mit souveräner Ironie die Räthsel eines ans
besonderer Begabung quellenden Spiritualismus gleichsam an den Kopf geworfen.
Sie theilen ihr Herz zwischen Philine und Mignon, und nehmen es sogar dem
Dichter übel, wenn er selber jene nur einer bedingten Anerkenn ung würdigen poeti-
scheu Gestalten in ihre Schranken zurückweist. In den frühern Werken des Dichters
verehren sie die Kühnheit des genialen Herzens, die mit der Sitte spielt, wie mit
dem Recht, in den spätern die Unnahbarkeit der dichterischen Inspiration, welche den
Ungeweihtcn abstößt und ihn dennoch fesselt. In beiden Fällen heben sie das Irra¬
tionale hervor, die Willkür; für das Maaß dagegen, das bei aller Kühnheit
eine künstlerische Natur stets bewahrt, haben sie kein Verständniß. Sie empfinden
nur den freien Erguß der Seele über die künstlichen, gemachten Grenzen hinaus,
nicht die Selbstbegrenzung der schönen Natur. Und gerade das hebt Goethe über
seine Generation.
Es liegt nnn sehr nahe, im Unmuth über jene Verzerrungen dem Dichter
aufzubürden, was nur seine falschen Apostel trifft. In unserer Zeit tritt uns die
Willkür der Empfindung, die Sentimentalität in allen möglichen Formen, die
Caprice, die sich selber anbetet, von allen Seiten her so zudringlich entgegen, daß
man es der Poesie mit Recht zum Vorwurf macht, wenn sie an dieses unheilige
Treiben ihre Kränze verschwendet. Die Dichtung hat den Beruf, der Menschheit
eine höhere Stufe prophetisch vorzubilden, und sie zu ihr zu erheben; sie ist ver¬
werflich, wo sie wie ein Schlinggewächs sich um die zerfallenden Neste einer er-
storbenen Welt rankt, und ihr den bösen Schein des Lebens leiht. Aber diese
Trümmer waren in Goethe's Jugend die Bausteine einer neuen Zeit. Damals
haben die Poeten es dem Herzen, das zwischen dürren Verstandsabstractionen und
hohlen conventionellen Formen verkümmerte, wie eine neue Botschaft verkündet,
daß es das Recht habe, zu sein, und sich in seiner Freiheit, in seinem Gegensatz
zur Welt zu empfinden. Damals war es eine Kühnheit, Gestalten zu concipiren,
wie Faust, wie Werther, wie Tasso, wie Wilhelm Meister, denen die Alltäglich¬
keit des bürgerlichen Mechanismus eine Quaal war, wenn sie ihm vorläufig auch
nur ein dunkles Gefühl/ ein ganz unbestimmtes Ideal, eine innere Gährung ent¬
gegensetzen konnten, die sie trieb, sie wußte« selber uicht wohin. Diese Unbestimmt¬
heit des Gefühls, und das soll man nicht vergessen, mußte in ihrer künstlerischen
Darstellung ebenfalls zur Formlosigkeit, zur Willkür führen. Jene Periode war
nicht eine klassische; der Eine hat es dem Andern so oft vorgesagt, daß es zuletzt
zu einer Art Glaubensartikel geworden ist; sie war die nothwendige, aber krank¬
hafte Uebergangsphase zu einer neuen Bildungsform, und ihre Productionen sind
in diesem Sinn, und nur in diesem, vollkommen berechtigt. Heute dagegen, wo
in jedem Ladendiener, um von der studirenden Jugend ganz zu schweigen, ein
kleiner Werther, ein kleiner Faust, ein kleiner Wilhelm Meister steckt, heute ist
die Poesie, welche die Sehnsucht ins Blaue feiert, vom Uebel, und es ist nicht
zu umgehen, daß man sich über die Schwächlichkeit dieser Figuren ins Klare setzt.
Damals war es etwas Großes, zu lieben, zu empfinden, unzufrieden zu sein, ich
möchte aber wissen, wer sich heute mit allen diesen Beschäftigungen nicht bereits
so viel abgegeben hätte, daß es gar nicht mehr noth thut, sie ihm poetisch einzu-
schmeicheln. Um den Gegensatz mit einem Wort zu bezeichnen: damals war die
Willkür der Natur, die ihre Berechtigung suhlen lernte, naiv, heute ist sie re-
flectirt und darum verwerflich.
Ich komme auf die dritte Classe des rechtgläubigen Goethecultus. Es sind
das die Philosophen. Bekanntlich hat seit Schelling die Philosophie einen ihrer
frühern Erscheinung entgegengesetzten Charakter angenommen. Damals konnte
Mephisiopheles mit Recht sagen:
Ein Kerl, der speculirt,
Ist wie ein Thier, auf dürrer Haide
Bon einem bösen Geist umhergeführt,
Und rings umher liegt grüne Waide.
Seit dem hat die Speculation das Mögliche gethan, diese grüne Waide mit
ihrem Netz zu umspannen. Man kann kein philosophisches Buch mehr ausschlagen,
ohne in das Sein und Nichtsein, das Ausich und Fürsich, die Transcendenz und
Immanenz, dieses grane Gewebe der Abstraction, die bunten Feldblumen der
Kunst und Natur verwickelt zu sehn, und Antigone wie der Urwald, Romeo und
Napoleon, schlingen sich wie zierliche Arabesken in die mystischen Hieroglyphen
der heiligen Sprache. Wir verdanke» dieser ins Fleisch und Blut zurückkehrenden
Metaphysik die tiefsten Aufschlüsse über die Mysterien des menschlichen Geistes,
und auch der eingebildete Antodidact, der sie um so gründlicher verabscheut, je
weniger er sie kennt, kann sich ihren Einflüssen nicht entziehn, denn sie pflanzt
sich fort mit der Sprache, die sie entwickelt und bereichert hat. Aber es ist auch
uicht zu leugnen, daß sie sich an der Poesie wie an der Geschichte, schwere Sün¬
den hat zu schulde» kommen lassen. Sie sehnte sich ans der Abstraction heraus,
und umschlang mit aller Liebe, die eine lange Entbehrung begreiflich macht, die
Schätze des Geistes, des Herzens, denen sie eine tiefercre Berechtigung verleihen
wollte, indem sie den scheinbaren Erzeugnissen der Willkür den Stempel einer hö¬
heren Nothwendigkeit ausprägte. So hat sie in den Dichterwerken der verschie¬
densten Zeiten und Völker die Symbole der absoluten Idee nachzuweisen versucht,
und mit besonderer Borliebe Goethe bedacht, theils weil er ihr zunächst lag, theils
weil seine Poesie weich und formlos genug war, um unter geschickten Händen je¬
des beliebige Gepräge aufzunehmen. Sie ist dabei nach zwei Seiten hin ungerecht
geworden: einmal, indem sie durch sophistische Deduction anch die handgreiflichsten
Schwäche» der Anlage durch irgend eine allegorische Wendung zu rechtfertigen
und gar als ewig giltiges Muster zu preisen suchte, anderntheils gegen den Dichter,
de» sie aus der schönen, lebendigen Individualität, der er war, zu einem Schema
des reflectirenden Verstandes herabsetzte. Einer der geistreichsten unter diesen Aus¬
legern, Karl Rosenkranz, hat Goethe in einem eignen Werk ans diese Weise phi¬
losophisch zurechtgelegt, und mich damals (eS war vor der Revolution) ver¬
anlaßt, mit alleu Pathos einer beleidigten sittlich-politischen Empfindung gegen
das „scholastische" eines solchen Verfahrens zu Felde zu ziehn Es ist der
gewöhnliche Fehler einer derartigen Entgegnung, daß sie wieder mir die eine Seite
hervorhebt. Wenn Rosenkranz auch aus der Mosaikarbeit der Wanderjahre u. s. w>,
die nur aus der Alterschwäche des Dichters erklärlich ist, ein Kunstwerk machte,
so lag es nahe, daß der Gegner ans das Unkünstlerische des Producirens, das
in Beziehung ans den Gesammtplan der größten Werke allerdings überall nach¬
zuweisen ist, einen zu scharfe» Accent legte, und darüber eine andere Seite der
Kunst, eben jenes Festhalten des Maaßes, aus den Angen ließ.
Man sieht, daß die Verehrung der Philosophen nach einer ganz andern Seite
hin gerichtet ist, als die unsrer jungen Romantiker. Sie finden Regel, Kunst
und Gesetz, wo diese die göttliche Willkür bewundern. Aber in der Voraussetzung,
daß in ihrem Dichter überall die Harmonie sein soll, die man als das Merkmal
des Classischen darzustellen pflegt, gehn sie eben so willkürlich mit ihm um, als
die geniale Liederlichkeit, die in dem, was sie liebt, nichts als ihr Ebenbild
sucht. Goethe hat für alles Schöne ein Ange, für alles Tüchtige eine warme
Empfänglichkeit gehabt, und wenn man ihm in diesem Sinn Universalität zuspricht,
daß wie in einem weiten Spiegel alle bedeutenderen Regungen der Zeit irgendwo
in ihm ihr Bild finden, so würde man nicht Unrecht haben. Hat ja doch Karl
Grün, der Socialist, in den verschiedenen Entwürfen, mit denen sich die Wan¬
derer zur Verbesserung der menschlichen Gesellschaft tragen, ein vollständiges Sy¬
stem seines Glaubens finden wollen. Ein Anderes ist es aber, für das Vortreff¬
liche empfänglich zu sein, ein Anderes, es zu einer plastischen Totalität zu gestalten.
Man hat z. B. in Faust eine harmonische Weltanschauung gesucht, aus keinem
andern Grunde, als weil alle möglichen Richtungen des menschlichen Lebens frag¬
mentarisch darin ihre Berechtigung finden. Es ist auch wohl eine leitende Idee,
ein „rother Faden" nirgend zu verkennen, aber diese Einheit des Princips ist
überall äußerlich herangebracht, sie verwebt die einzelnen Perlen, ohne sie organisch
zu durchdringen. Die Humanität, das große Princip, dem Goethe und seine
Freunde huldigten, ist unendlich in der Fähigkeit zu recipiren, zur wirklichen
Gestaltung fehlt ihr aber die Kraft.
Ich komme bei einer andern Gelegenheit darauf zurück; für jetzt wollen wir
das vorliegende Werk im Einzelnen verfolgen.
Der Versuch, Goethe's politische Ansicht gegen die Vorwürfe des modernen
Liberalismus zu retten, ist nicht gelungen. Allerdings wird nachgewiesen, daß
Goethe in vielen Fällen für die augenblicklichen Regungen des Freiheitsgefühls
ein lebendiges Interesse, zuweilen anch ein Verständniß bewiesen, das mindestens
eben so tief war, als bei Vielen, die sich unmittelbar daran betheiligten. Das
ist aber weiter nichts, als jene ästhetische Empfänglichkeit, die unter andern auch
durch geschichtliche Ereignisse berührt wird. Aber nirgend hat dieses Interesse ihn
so ergriffen, daß es die Totalität seines Geistes in Anspruch nahm, und einen
Wendepunkt in seiner Entwicklung bildete. Das ist aber erst das Kennzeichen
wirklicher Theilnahme. Goethe ließ die Ereignisse an sich vorübergleiteu und ver¬
folgte sie mit verständigem Blick; sein Herz haben sie nicht erfüllt. Es war das
auch unmöglich, denn die sittliche Idee der neuen Zeit, die sich damals nur in
dunkeln, unklaren Regungen verkündigte, war der seinigen entgegengesetzt ungefähr
in dem Sinn, wie der Gott, den Ludwig Feuerbach verkündet, dem historischen
Gott, dem Geist der sich entwickelnden Menschheit.
Goethe hat dem Aberglauben an die Dogmen der Convenienz die Idee der
menschlichen Freiheit entgegengesetzt. Sein Werther verschmähte es, »ach der
Vorschrift zu lieben, sein Götz, nach der Vorschrift sei» Leben einzurichten, sein
Faust, nach der Vorschrift zu glaube», und in diesem Sinu polemisch gegen das
Gemachte einer fixirten Sittlichkeit send sein Egmont, Wahlvcrwandschaftcn, Mei¬
ster u. f. w. Wie hat nun der Dichter diese äußerliche Grenze, welche er mit
der ganzen Fülle eines freien Geistes überschüttet, zu ersetzen gesucht? Durch das
der Kraft immanente Maaß, durch die freiwillige Resignation, welche sich der
Nothwendigkeit freudig unterwirft, weil sie lieben gelernt, was sie als eine Seite
ihres eignen Daseins erkennt. Das ist die Lehre, die er in seinen reifern Werken,
Iphigenie, Tasso, Herrmann und Dorothee, und eben so in seinen spätern ver¬
kündigt hat, das Evangelium seines Lieblings Spinoza, die Idee der griechischen
Sittlichkeit im modernen Gewände. Die Empfindung Gottes war ihm nicht, wie
dem Christen, das erschütternde Gefühl der menschlichen Nichtigkeit, sondern das
wohlthuende Gefühl der menschlichen Bedingtheit.
Diese Religion der reinen Humanität, welche wir künftig als die eine Seite
unsers Glaubens wieder werden hervorheben müssen, steht mit der neuen Idee
in ihrer ursprünglichen, also abstracten Erscheinung, in directem Widerspruch. Die
Freiheit des souveränen Menschen (und in diesem Sinn ist erst der schöpferische
Dichter der vollendete Mensch), widerspricht dem, was wir politische Freiheit nen¬
nen. Ich komme dabei auf einen Ausdruck, den unser Verfasser eben so leicht¬
fertig verwerthet, als es im vorigen Jahr überhaupt Sitte war: die Volks-
souveränität. Düntzer meint, der Dichter habe diese große Errungenschaft des
vorigen Jahres noch nicht gekannt. In dem Sinn, wie unsere Apostel sie aufge¬
faßt haben, hat er sie wohl gekannt und verachtet: er durfte nur Shakespeare's
Coriolan oder Cäsar oder Aristophanes Ritter aufschlagen, um ein vollkommen ge¬
treues und erschöpfendes Bild dieser Volkssouveränität zu finden. Es gehört wohl
unter die sichersten Errungenschaften unserer glorreichen Revolution, daß wir die¬
sen absurden Begriff überwunden haben, diese Fiction, welche der blinden Masse,
die nur getrieben werden kann, nicht blos einen Willen, sondern sogar einen sou¬
veränen Willen verlieh; eine Fiction, die beiläufig noch immer die Idee des kon¬
stitutionellen Staates verwirrt.
Aber die Volkssouveränität hat eine andere, höhere Bedeutung, die zugleich
den wesentlichen Inhalt unsers Glaubens ausmacht: daß nämlich der Mensch seinen
vollen Werth erst als Bürger hat, als integrirendes Glied einer sittlichen Ge¬
meinschaft, deren Inhalt er in sich weiß und fühlt. In diesem souveränen Staat,
namentlich in der ersten Form seiner Erscheinung, als streitende Kirche, findet die
„menschliche" Freiheit, wie sie Werther, Götz, Faust, Meister, Herrmann, Eduard
und Goethe für sich fordern, keinen Raum; mit zwingender Gewalt bannt der
Geist des Staats deu Einzelnen in seine Kreise. Es ist sogar nothwendig, daß
diese Gewalt zunächst terroristisch auftritt; sie darf erst dann liberal werden, wenn
sie sich völlig durchgesetzt haben wird. Dann werden wir zu unserm Dichter wie¬
der zurückkehre».
Man erlaube mir hier eine Zwischenbemerkung. Sollen wir Goethe einen
Vorwurf daraus mache», daß sein Princip dem unsrigen fremd war? Liegt seiner¬
seits eine Schuld darin? — Ich stelle diese Frage, um auf eine Begriffsverwir¬
rung aufmerksam zu machen, an der die neue Philosophie schuld oder nicht schuld
ist, je nachdem man diesen Ausdruck interpretirt.
In frühern Zeiten sagte man, Sokrates, Christus, Huß, Antigone u. s. w.
seien unschuldig getödtet. Mau wollte damit eigentlich nur eine moralische Billi¬
gung des Princips, das sie ihren Richtern gegenüber vertraten, vom Standpunkt
des gegenwärtigen ethischen Bewußtseins aussprechen. Hegel bat nun mit vollem
Recht die Wahrheit hervorgehoben, das schuldig sein zu können, das höchste Recht
des Menschen sei. Wie schon Plato hat er die Straft als ein Recht aufgefaßt,
das der Verbrecher in Anspruch zu nehmen habe, in so fern er ein zurechnungs¬
fähiges Wesen sei. Er hat nachgewiesen, daß Christus, Sokrates, Huß, Anti-
gone u. s. w. sich des Verbrechens, dessen ihre Richter sie ziehen, allerdings
schuldig gemacht haben, indem sie mit aller Gluth einer »enen Idee ein sittliches
Princip vertraten, das mit dem bisher giltigen in unauflöslichen Widerspruch
stand. Man hat das dann weiter ausgedehnt und hat in der Geschichte, wie
namentlich auch in der Kritik poetischer Kunstwerke es verfolgt, wie überall den,
Schicksal eine correspondirende Schuld entsprechen müsse, wenn von einem tra¬
gischen Conflict überhaupt die Rede sein dürfe. Indem man aber dabei die alte
Vorstellung im Sinn behielt, ist man auf die wunderliche Idee gekommen, in je¬
ner Anerkenntniß der Schuld eine moralische Mißbilligung ausgesprochen zu
meine». Man hat der Antigone im Ernst einen Vorwurf daraus gemacht, daß
sie der Brutalität des Staatögesetzes die höhere sittliche Pflicht der Pietät entge¬
genstellte, man hat, um das allersonderbarste Factum anzuführen, Cordelia im
Lear sehr ernsthaft darüber zurechtgewiesen, daß sie sich in die Laune ihres Vaters
nicht besser geschickt habe, und ein Kritiker (ich glaube Forchhammer), hat unum¬
stößlich nachgewiesen, daß Sokrates ein reactionärer Verschwörer gegen das demo-
kratische Grundgesetz seiner Vaterstadt gewesen sei und daher mit Fug und Recht
den Schierlingsbecher getrunken habe.
Wenn ich also von Goethe behaupte, er habe mit vollem Bewußtsein sein
Princip der subjectiven Freiheit im Leben wie in der Dichtung verfolgt, und die
moderne Kritik habe die Pflicht, diesen Gegensatz so scharf als möglich hervorzu¬
heben, so erweise ich ihm damit eine Ehre. Wenn wir seine Werke vom Stand-
Punkt der reinen Aesthetik betrachten, so wird vielleicht kein einziges als vollkom¬
men musterhaft ans dieser Kritik hervvrgch»; betrachten wir sie aber als Ausdrücke
eines zwar einseitigen, aber relativ höchst berechtigten sittlichen Princips, so treten
sie wieder in ihre alte Bedeutung zurück.
Der Verfasser möge mir verzeihen, daß ich sein Werk nur als Veranlassung
betrachtet habe, einen Beitrag zu dem Verständniß Goethes vom Standpunkt un¬
serer Bildung aus zu liefern. Wer sich für den Dichter interessirt, wird in diesen
fleißigen, mit großer Sorgfalt und Unbefangenheit fortgeführten Studien eine
reiche Quelle der Belehrung finden. Ich hebe nur die eine Abhandlung über
Werther hervor, weil sich an sie eine weitere Bemerkung anknüpft.
ES ergibt sich nämlich ans dieser sehr gründlichen Analyse, daß der Roman,
welcher unter allen am meisten als ein freies Werk jugendlicher Schöpfungskraft
erscheint, eigentlich nichts anderes ist, als eine Nachbildung wirklicher Verhältnisse,
zwischen dem Dichter und der wirklichen Lotte und zwischen dem jungen Jerusa¬
lem und einer andern Dame. Die Nachbildung hat sich zuweilen so treu an das
Original gehalten, daß bei dem Erscheine» Werther's von Seiten der Familie
lebhafte Nemonstrationen erfolgten.
Im ersten Augenblicke macht eine solche Section in deu Organismus der
Dichtung eine» unheimlichen Eindruck. ES sieht so aus, als ob mau uicht mehr
mit Uttbefaugener Freude und Hingebung sich einer schönen Gestalt würde nahen
können, in deren Inneres man einmal geblickt. Bei näherer Betrachtung verliert
sich aber diese Furcht. Die Dichtung kann doch in ihrem wesentlichen Kern nichts
anderes sein, als eine Idealisirung des Wirklichen. Die Empfindung, Stimmung
u. s. w., die der Dichter schildert, muß er wirklich empfunden, oder wenigstens
nachempfunden haben; es kommt uur darauf an, für eine Reihe von Stimmungen
den gleichmäßigen, dem erstrebten Eindruck entsprechenden Ton und die lebendige
Gestalt, oder wenn man will, deu ideellen Zusammenhang zu finden. Nur
das macht den Dichter. Wenn Goethe die Empfindung, die er seinem idealen
Helden leiht, unmittelbar der Natur entnehmen durfte, so hat er dem Glück zu
danken, und er ist vollkommen gerechtfertigt, wenn er das empirische Material der
Herrschaft des poetischen Gedankens zu unterwerfen verstand.
Für die Kritik ergibt sich aus solcher Analyse ein wesentlicher Vortheil. Die
Freunde des Dichters haben sich häusig abgemüht, auch aus kleinen Nebenumstän¬
den eine bestimmte Absicht des Dichters herauszufühlen, eine Beziehung auf den
Gesammtzweck. Ein bestimmtes Urtheil darüber gewinnt man nur durch einen
Vergleich der Quellen. Ich bemerke beiläufig, daß in vielen Fällen der Zweck
des Dichters durch einen solchen Vergleich nur noch schärfer herausgestellt wird;
man wird sich z. B. der tiefen Absichtlichkeit in den Charakterwendungcn Ham¬
let's erst dann völlig bewußt, wenn man die frühere Bearbeitung, die der Dich¬
ter vorfand, der seinigen zur Seite stellt.
Goethes Geburt fällt ungefähr zusammen mit dem Erscheinen der ersten Ge¬
sänge des Messias (1748). Hundert Jahre sind seitdem verflossen, und in der
Mairevolution eröffnet sich ebenso eine neue Phase des deutschen Lebens, wie in
jenem merkwürdigen Gedicht. Von Klopstock bis zu Herwegh hin war die Litera¬
tur und in ihr der Idealismus des Herzens das Centrum des deutschen Dichtens
und Trachtens. Selbst die Freiheitskriege tragen einen lyrischen Charakter; sie
liefen in burschenschaftliche Devisen, Elegien im Kerker und Veteranenfeste aus.
Auch die Revolution des vorigen Jahres fing mit dem Idealismus an, und zwar
mit einem sehr groben, aber sie hat sich sogleich verwelkliche, indem sie die Masse
in Fluß setzte und die handelnden Personen vor das Forum der Oeffentlichkeit
zog. Wie es nun auch mit den einzelnen Errungenschaften unserer Revolution aus¬
sehn mag, soviel hat sich herausgestellt, daß unsere Helden die private Charakter¬
maske abwerfen müssen.
Das vorige Jahrhundert, von Klopstock an, war in dem Cultus abstrakter
Persönlichkeiten befangen. Man befleißigte sich, da man in zugleich zweckmäßig
und idealer Beschäftigung sich zu bethätigen keine Gelegenheit hatte, in aller Eile
soviel als möglich zu empfinden, und die Reihe dieser Empfindungen sich und der
Nachwelt zum Frommen aufzuzeichnen. Was ist nicht damals correspondirt wor¬
den! Von den Tagebüchern, die einer schönen Seele unumgänglich nöthig waren,
gar nicht zu reden! Große Männer schilderte man in ihrem „Leben und Meinun¬
gen" oder in ihren Leiden; die Virtuosität in Genuß und im Schmerz machte den
Mann der Zeit. Goethes Werke sind eigentlich nur eine Reihe von Memoiren zum
Verständniß dieser schönen Seele, an deren Bilde die gestimmte Nation sich weidete.
Man interessirt sich jetzt wohl auch noch für die Äußerlichkeiten der Koryphäen
des Tages, ob sie einen starken Bart haben, ob sie in Baß oder Tenor sprechen,
ob sie verliebter Natur sind, viel trinken u. s. w., aber das ist nur nebenbei.
Ein junger Freund von Gervinus hat in diesen Blättern den Idealismus dieses
edlen Mannes bis in sein äußeres Gebühren verfolgt, daß er nicht raucht u. s. w.
Diese Anschauungsweise gehört wesentlich der jetzt abgeschlossenen Periode an. Um
unsere Männer kennen zu lernen, hat man nicht mehr nöthig, sie in ihrem Cabi-
net zu belauschen; Intimität gehört nicht mehr zum Verständniß. Die Redner¬
bühne, der Markt, allenfalls das Feldlager sind offen für jeden Blick; die Her¬
zensgeschichte überläßt man dem Roman.
Daß damit die Kunst einen neuen Styl annehmen muß, ist evident. Früher
mußte man sein überquellendes Herz in einsamer Lyrik ausströmen, jetzt aber ist
es aller Welt verstattet, so laut zu sein, als es die unmittelbare Stimmung mit
sich bringt. Von der Poesie wie vom Leben wird man jetzt nicht mehr Energie
der Stimmung fordern, sondern Energie des Charakters. Man gewöhnt sich, die
Helden des Lebens in ihrer Totalität zu übersehen, man wird auch in der Dich¬
tung in reiner Fassung suchen, was die Wirklichkeit durch äußerliche und zufällige
Zuthaten vermischt: Einheit und Totalität.
Früh genug hat sich Herr v. Lamartine in der Lage gesehn, seine Rolle als
Staatsmann wieder mit der bescheidneren eines Geschichtsschreibers vertauschen
zu können. Die Popularität verbraucht sich in Frankreich unglaublich schnell, der
Wankelmuth der Berliner ist Nichts dagegen. In den ersten Tagen der Revolu¬
tion wie ein Halbgott verehrt — selbst die auswärtigen Nationen beeilten sich, in
diesen Cultus mit einzustimmen — findet er jetzt mit Mühe, in einer Nachwahl, und
auch hier nicht ohne Intriguen, ein bescheidenes Plätzchen in der gesetzgebenden
Versammlung.
Die historische Darstellung eines Zeitalters, dessen Pendelschwingungen noch
fortdauern, kann immer uur in der Form von Memoiren auftrete»; sie wird um
so werthvoller für den spätern Geschichtsschreiber sein, je genauer sie sich an die
eignen, unmittelbaren Erlebnisse hält. Nun sollte man meinen, daß zu einer
gründlichen Auseinandersetzung der Pariser Ereignisse vom Februar bis zum Juni
Niemand geeigneter wäre, als unser Autor. Er stand überall mitten in den Be¬
gebenheiten, hatte alle Fäden in seiner Hand, und ist doch seiner poetischen
Natur nach zu objectiv, um sich durch ein einseitiges Parteiinteresse leiten zu
lassen.
Aber seine persönliche Eitelkeit, die Alles übersteigt, was man in Fabeln
erdichtet hat, läßt ihn zu einer einfachen Darstellung nicht kommen. Der erste
Band seines Werkes, der nur die ersten drei Tage der Revolution umfaßt, konnte
füglich auch die Ueberschrift haben: „Reden und Meinungen des Herrn von La¬
martine, mit historischen Erläuterungen." Unparteiisch ist er freilich bis zur Im¬
pertinenz; es sind lauter vortreffliche Leute, die er auftreten läßt, vom König
herunter bis zum letzten Socialisten, und alle haben in ihrer Art Recht"). Aber
diese Unparteilichkeit ist nicht die Folge eines höhern Standpunkts, sondern sitt¬
licher Schwäche; wer uicht mit Energie das Schlechte zu hassen versteht, wird
auch dem Guten uicht gerecht. Die Charakteristik der Einzelnen wie der Parteien
ist ganz farblos; sie ähneln sich, wie ein Wassertropfen dem andern. Alle haben
ein feuriges Auge, eine vom Deuten gefurchte Stiru u. f. w. u. s. w., wir Deutsche
würden sagen, alle sind Comödianten. Ueberall verschwindet die Gründlichkeit vor
dem Bonmot"). Auch die Thatsachen treten ohne Ausnahme in novellistischen
Gewände auf; die Gesten, die Blicke, die Draperie, das alles wird bis ins kleinste
Detail geschildert, obgleich man sich dergleichen aus der Handlung füglich selbst
construiren kann. Am liebsten verweilt Lamartine bei seinen eignen Grimassen;
sein mildes, verklärtes, humanes und doch spirituelles Lächeln wird drei bis vier¬
mal des Breitern explicire; wenn er über etwas nachdenkt, so wird die Haltung
der Arme, des Kopfes, die verschiedenen Stirnfalten gründlich ausgemalt;
Herr von Lamartine muß mitten in den schrecklichsten Auftritten einen Taschen¬
spiegel in der Hand gehabt haben. Gerade wie er in einem Jugeudiverk, deu
0»liäenc«Z8, in den verschiedenen Perioden seines Lebens die Metamorphosen sei¬
ner Schönheit vom naiv Reizenden bis zum geistreich Verklärten verfolgt. Er war
in der provisorischen Regierung derjenige, welcher das souveräne Volk fortwährend
dnrch Reden unterhalten mußte. Alle 20 Minuten kam ein neuer Pöbelhaufe vor
das Hotel de Ville, von den neuen Machthabern Rechenschaft zu verlangen. Was
man in solchen Fällen sagt, ist ziemlich einerlei, wenn man es nur laut und nach¬
drücklich vorträgt: „Mitbürger! Freunde! großherziges Volk! edelmüthiges Pro¬
letariat! sieggekrönte Sansculotten!" u. s. w. Aber Lamartine erspart uns keine
seiner Reden, wir müssen dieselbe Geschichte zwanzigmal hintereinander mit anhö¬
ren, nur um an dem schließlichen Hurrah! welches dem neumodischen Cicero folgt,
uns mit ihm weiden zu können. Eine solche Eintönigkeit ist auch in den einzel¬
nen Scenen des Tumults; selbst in der Sprache hat für mich die Schule Cha-
teaubriauds etwas Unaiigcuehmcs; es fehlt die Lebendigkeit und die Concinnität,
die sonst die französischen Geschichtsschreiber auszeichnet, es geht in einem bestän¬
digen Pathos fort, und die eigentlich charakteristische» Züge des Volkslebens ge¬
hen verloren, weil Humor dazu gehört, sie zu sehen").
So ausführlich Lamartine in der Beschreibung dieser tumultuarischen Scenen
ist, die doch im Wesentlichen zu allen Zeiten und an allen Orten auf dasselbe
herauskommen, so leicht geht er über diejenigen Umstände hinweg, deren nähere
AnseinanderseKnng wir gerade von einem Betheiligten zu fordern das Recht hätten.
Ich erinnere mir an Eins. Die sogenannte provisorische Negierung hatte sich selbst
ernannt, kraft ihres Patriotismus und ihrer Aufopferungsfähigkeit; die Acclama-
tion eiues Haufens, in dessen Mitte sie sich ankündigte, that dabei nichts zur
Sache. Wie sie nun ihre Aufgabe dem Andrängen der Masse gegenüber verthei¬
digt , hat Lamartine uns erzählt; aber wie sie sich in der ihr ganz fremden Stel-
lung einer wirtlichen Negierung, also in den einzelne» Abtheilungen des Ministeriums
benahmen, davon erfahren wir nichts. Man denke! Herr Ledrn Rollin kommt
ins Bureau der Polizei und erklärt sich zum Minister des Immer», wie verhielten
sich nun die Beamten, wie fand er sich in die Geschäfte u. s. w., das alles ist
vom höchste» Interesse, aber darüber kein Wort. Nur de» allgemeinen Grund,
wie es möglich war, daß eine derartige Regierung augenblicklich die alte Centra¬
lisation Frankreichs fortführe» konnte, hat Lamartine ganz richtig angegeben. Ich
theile ihn mit, den? deutschen Naterlande zu Nutze» und Frommen. Instiuits an'
l'lttstuire et p»r l'expörivuev tlo 1'vmpirv irnsistablv qu',?xvr<:« sur le, Soldat
ir-me-us la >,vns^o Souper-uno do I'nunc do I» natiio, los mombros du Aouvor-
nunent no doutiiient nah Pie «es ordies no fussent obois nartout. — I^of eliun-
Aomeuts de Aouvernenient en ki'iunee sont «los vxnlosions et »on dos cum-
nuxnos; it n^' Ä jiuniU8 doux esnrits ü la lois d<ins ce Aiimä neunlv: los iv-
Volutions ^ sont saudiliues, les lon^nos AULllvs eivilos uns»osiblos. L'ost i> lit
suis la tVilFilite des Aouvernoments et le salut de la Nation.
Während die ganze Darstellung in einem Ton gehalten ist, als ob diese wun¬
derbaren Ereignisse vollkommen in der Ordnung wären, springt dann plötzlich eine
naive Bemerkung dazwischen, in der sich unbewußt die Absurdität der ganzen Ge¬
schichte ausspricht. Ganz köstlich ist die erste Zusammenkunft der neuen Negierung.
Liiaeuu dos moinbies nivsents :ni conseil sortir 8on coeur et so» intolli^once
nour ^ tiouvor I'Initiiltivo do kiuoliiuos Al-antes rolorm?«, on de ^not^nos Al-rndes
irineliorotions legislatives, noliti«jues et soeiillvs. (nos initiatives sont la nlü-
losouliie des revolutions; ce sont ello8 sjui rvtablissent on un seul jour (es
ist aber auch danach!) Jo nive-ni entro Je8 idees itvancees d'u» temps (die zu
finden, die Chefs der Revolution aber erst ihr Herz und ihre Intelligenz müh¬
sam sondiren müssen!) et les tnits arriervs d'u» Aouveinoment. I^es uns nro-
noservnt l'aliolitiou instilntanoe de I'vscluvilAL des noiis, <>ni sonillilit la moialv
INVINV de nos lois (in einem Augenblicke, wo mau noch nicht wußte, ob man auch
mir über Paris verfügen könne!); los »utres, I'-tlwlition des lois de sentemliro
(gegen die Presse); coux-ni, la ti ateroite nioclamee en nrincine entre los ueunles
nour illwlir I.t Auvi-i-v en ubolissunt los consjuetes (in einem Augenblick, wo man
noch uicht wußte, ob man auf irgend ein Regiment zu rechnen habe!); ceux-la
I'abolition du evils oleetoiill; tous, le niincine, non seulement de l'^allee des
dioits, iiuüs oneoro de l-r cliarite (als gesetzliche Bestimmung!) outre les dik-
loi-ondes ol.tsses de cien^eus; nrineine an>»ki«^no nar toutes les institutions d'»s-
sistilnce, de secouis, d'ussociation, de l»ionl aisanco, (gesetzlich organisirtes
Almosen) comnatiblos avoc la liborte du cajiital et ilvec la soeurite des nionrio-
tos (also doch dem guten Willen überlassen): nromiorv cliarito de Gouvernements
sjui veulent conserver la societe et nroteger la samills. — ^ mvsurv csuv ces
g'iitndes volles« demncritti«j»es, runidement herlief nlutüt «^no lioidement dis-
eutees (das kann man sich lebhast vorstellen!), etiüeut couverties en decrets,
eos decrots uussiüvut en nioelitmittions »u n«u>»1e . . d'et-dick i'jmnrovisiUion
d'un siegle lV c>ni I-r revolution venait do kerbte la nurole; I'exjdosion ruisonneo
do tonlos les portes clnetiennes, nlnlosnnlii^ues, dvinocitttiiiues, ljui couviüoiit
douuis an demi-sivcle durs l'esurit des initiitteurs eeluires. A1i»is l'exnerienco
no-ut muri In nensve dos iimnmvs n,ni deoletniont uinsi! biens une science aussi
ins^iioe et zuissi secondo, it n')' out ni une temei'no ni uns exiiAorution durs
los nates et dans les n^rotes do co Aouvorneinout d'vntluisiasiuo!! Aber die
Pointe fehlte noch. Lamartine fand sie, indem er auf Abschaffung der Todes¬
strafe antrug.
Ich habe den Inhalt des Werkes, der viel zu denken gibt, nur oberflächlich
berührt, um ihn wieder aufzunehmen, sobald eine Fortsetzung dieses denkwürdigen
Beitrags zu den Verwirrungen unsers Jahrhunderts uns vorliegt.
Wenn Lamartine nicht seiner ganzen Natur nach zu sanguinisch wäre, nicht
zu geneigt, in die unmittelbaren Zustände und Stimmungen völlig aufzugehen,
um den scharfen Kontrast der Gegenwart und VcrganAcnheit mit dem Ernst zu
empfinden, wie er einem tragischen Conflict geziemt, so müßte die suffisance sei¬
nes Wesens im Verlauf seines Werkes stark erschüttert werden. Die Führer der
Revolution haben sich als unfähig bewiesen, sie zu bändigen, wie sie zu leiten;
das Militär hat dem wilden französischen Gaul Zügel und Gebiß angelegt. Die
Vertreter des Volks, hervorgegangen aus dem allgemeinen Stimmrecht, haben
gegen die Revolution Protest eingelegt, die träumerische rothe Fahne der absolu¬
ten Republik liegt zerfetzt unter den Trümmern des alten Königthums, ihre An¬
hänger weilen im Kerker oder in der Verbannung, und die Tricolore breitet sich
nur uoch wie ein matter Flor über deu Silberglanz der weißen Lilien. Noch hallt
der Kanonendonner von Rom, der die Vernichtung der Republik durch ein fran¬
zösisches Heer, die Restauration des Nachfolgers Christi deu Völkern verkündet.
Vielleicht wird noch der Tag kommen, wo Lamartine sich seiner Jngend erinnert,
wo er als loyaler Edelmann die Sache des alten Hauses vertrat, und er wird
seine Lyra wieder hervorsuchen und ein Lied anstimmen zur Feier der schönen
Frau, für deren mütterliche Rechte er mit so ritterlicher Galanterie in die Schran¬
ken getreten ist, bis er sie im entscheidenden Augenblick der Republik opfert, oder
für die andere, mehr legitime und mehr romantische Fürstin, deren Beschimpfung
durch das Juliköniglhmn er als einen der moralischen Gründe angeführt hat, daß
Louis Philipp gefallen ist. Schon meldete ein Blatt die Rückkehr der Herzogin
von Berry, und die legitimistische Gazette de France begnügte sich mit der Er¬
wiederung : i?-t8 vncore!
Das Blatt hat es vermieden, den ersten Schrei des Unwillens über den preu¬
ßischen Vertrag mit Dänemark zu wiederholen; es ist schwer besonnen zu sein,
wenn die Nöthe der Schaam auf den Wangen liegt.
Die Tagespresse hat ihre Pflicht gethan, die Bedingungen des Waffenstill-
Stands mitzutheilen und vom Parteistandpunkt ans zu kritisiren. Sie sind bekannt
genug und die Bestürzung über dieselben ist allgemein. Von den Forderungen,
welche Friedrich Wilhelm IV. selbst als maßgebend ausgestellt hat, ist sehr wenig
erreicht. Der Waffenstillstand trennt die Doppelsterne Schleswig-Holstein nicht
nur gegenwärtig, sondern ist auch in den Bestimmungen über die Zukunft dieser
Grenzländer so unbestimmt, unklar und vieldeutig, daß voraussichtlich selbst da,
wo der Wille Preußens durchscheint, den Zusammenhang der Herzogthümer zu
wahren, in der Praxis eine vollständige Trennung uicht aufzuhalten sein würde.
Ist doch selbst Holstein's Verbindung mit einem dentschen Bundesstaat unsicher
und zweifelhaft geworden. Alle Schuld dieses unseligen Vertrages wird Preußen
zugeschoben, und die Erbitterung gegen seine Politik ist heftiger, als je.
Wer einen Krieg führt muß wissen, wofür er ihn führt; weder die deutsche
Centralgewalt in Frankfurt, noch in diesem Jahre Preußen haben die Kühnheit
gehabt in die politischen Consequenzen dieses Kampfes einzugehn. — Wenn zwei
Länder durch alte Verträge und Brüderschaft so mit einander verwachsen sind, wie
Schleswig und Holstein, und jedes davon dcmuiigcachtet einem andern Staats-
kövpcr angehört, Schleswig zu Dänemark, Holstein zum deutschen Bunde, so ist
dieses Verhältniß ein unvernünftiges. Jeder vou beiden Staatskörpern wird ver¬
suchen müssen, das Ganze an sich zu fesseln. Dänemark hat dies bekanntlich mit
den vereinigten Herzogthümern versucht und dadurch die Veranlassung zum Kriege
gegeben. Der Krieg wurde von uus geführt, um das vereinigte Schleswig-Hol¬
stein zu dentschen Staaten zu machen. Ja noch mehr, die Existenz Däne- >
marks an der nördlichen Jnselspitze Deutschlands ist mit der Bildung eines
großen deutscheu Bundesstaats unverträglich, denn Dänemark ist ein gefährlicher
Stützpunkt für russische oder englische Macht, welche gegen Deutschland operiren
will, seine politische Existenz ist von dem Sundzoll abhängig, es ist ein Schma-
rotzcrdasein ans Kosten unserer Produktion und Consumtion. Durch die Vereini¬
gung der Herzogthümer mit Deutschland aber wurde das selbstständige Bestehn
Dänemarks unmöglich, es konnte sich einer Capitalisirnng des Sundzolles dann
nicht mehr entziehn, weil es deutschen Händen möglich war, eine Verbindung der
Nord - und Ostsee durch die Herzogthümer zu graben. Durch die Verwandlung
einer jährlichen Revenue in ein mäßiges Capital aber, würde bei den zerrütteten
Finanzen Dänemarks ein Verfall des Staats unvermeidlich und die Folge davon
mußte zuletzt ein Anschluß des gesammten Dänemarks an den deutschen Bundes¬
staat sein, das größte Glück für Dänemark wie für Deutschland. So calkulirte
im Jahr 48 der Deutsche. Die Friedensbedingungen, auf welche wir losgehn
mußten, waren Aufnahme der vereinigten Herzogthümer in den deutschen Bundes¬
staat unter einer Statthalterschaft und der nomineller Oberhoheit des jetzigen Kö¬
nigs von Dänemark, bis zu seinem Tode. Ferner aber Capitalisirnng des Sund¬
zolles für die Schifffahrt deutscher Staaten.
Nie hat es einen Kampf für Deutschland gegeben, welcher vernünftiger
in seinen Motiven war, und nie einen Waffenstillstand, welcher die Hoffnun¬
gen der Deutschen mehr getäuscht hat; — es ist eine Pause im Kampf, welche
jetzt beschlossen worden ist, aber kein Frieden kann darauf folgen. Weder Preußen
noch Dänemark, «och die Herzogtümer können die naturgemäße Entwicklung die¬
ses großen politischen Actes jeht noch auf die Länge aufhalten oder regieren. Wenn
ein solches politisches Problem, so verhängnißvoll für das Gedeihn mehrerer Völ¬
ker, erst einmal in der Geschichte sich herausgehoben hat, so stellt es sich wie ein Fra¬
gezeichen in aller Zukunft den Völkern so lange entgegen, bis es gelöst ist. Das
Verhältniß der Herzogthümer zu Dänemark darf nicht stehn bleiben im Interesse
Norddeutschlands, Dänemark und seine Freunde dürfen die Verbindung mit Deutsch¬
land nicht dulden, so lange Dänemarks Ehrgeiz ist, den Schein eines selbststän-
digen Staates Deutschland gegenüber zu erhalten. Mag der Waffenstillstand,
welcher jetzt geschlossen ist, kurz oder lauge dauern, es muß ihm ein neuer Kampf
folgen, bis die unklare und unvernünftige Situation der Herzogthümer sich ent¬
schieden hat, so oder so.
Wie der Krieg gegen Dänemark bis jetzt geführt wurde, war kaum ein bes¬
seres Resultat sür den Waffenstillstand, eine Lösung dieser Frage aber sicher nicht
zu erwarten. Es ist höchst ungerecht, wenn man Preußen allein die Schuld bei-
mißt, alle deutschen Stämme, das Frankfurter Parlament von 48, die ganze Be¬
wegung des letzten Jahres, die gemüthliche Weise, wie in Frankfurt und in
Berlin und in der Seele des deutscheu Volks die Politik bis jetzt getrieben wurde,
Alles das trägt die Schuld.
In den konservativen Blättern Preußens ist sehr richtig bemerkt worden, daß
die bloße Occupation des gesammten Jütlands, selbst wenn sie für ein Landheer
rathsam gewesen wäre, an sich nicht hinreichen konnte, einen entscheidenden Frie¬
den herbeizuführen. Der preußische General Wrangel erkannte schon im vorigen
Jahre vor dem Waffenstillstand von Malmve, daß die Besetzung einer Halbinsel,
welche in ihrer ganzen Länge von drei Seiten den Schissen des Feindes blos liegt
und in der Mitte kein Terrain für militärische Operationen gewährt, einer ener¬
gischen Kriegführung fast unübersteigliche Hindernisse in den Weg lege. Ihm half
seine damalige Popularität, eine gewisse epigrammatische Derbheit und der verrufene
Waffenstillstand von 48 über die Schwierigkeiten hinweg. Sein Nachfolger Pritt-
witz war nicht so glücklich. Allerdings ist zu beklagen, daß Prittwitz diesen
Krieg mehr als Höfling, wie als Feldherr geführt hat, er kannte die veränderte
Stimmung seines gefühlvollen Königs gegen den bedrängten Herrn von Dänemark,
und seine Jnstructionen waren sicher mehr darauf berechnet zu schonen als zu be¬
schädigen. Aber auch bei anderer Leitung des Kampfes war ein vollständiges Re¬
sultat in der Gegenwart nicht zu erwarte».
Die Deutschen empfanden, daß Dänemark nur zur See zu besiegen sei, sie
machten große Anläufe eine Flotte zu bauen. Daß bei allem Geschrei und in der
fliegenden Hitze des Enthusiasmus die Sache ungeschickt angegriffen wurde, daß
weder Einigkeit noch die nöthige Einsicht vorhanden war, ist uns von Fremden
oft genug gesagt worden. Aber eine Kriegsflotte gegen Dänemark zu schaffen, ist
auf regulären Wege überhaupt nicht möglich. Wir wären im Stande gewesen,
eine größere Anzahl von großen und kleinen Schiffen zu bauen oder zu kaufen,
dieselben zu bemannen, Offiziere vorzusetzen, Uniformen und ein Secgesctzbuch zu¬
recht zu schneiden, aber die Sicherheit und rücksichtlvse Kühnheit, welche die Be¬
mannung eines .Kriegsschiffes im .Kampfe bewähren muß^ konnte uns bei aller
Tüchtigkeit unserer Matrosen nicht mit der blauen Marinejacke und der Disciplin
kommen. Engländer, Franzosen und Nordamerika««' haben den Stolz ihrer Ma¬
rine und die Erfolge zur See nicht durch regulären Dienst, sondern dnrch Kaper¬
schiffe gegründet. Die Anfänge der deutschen Seemacht waren nur durch bewaff¬
nete Privatfahrzcuge zu schaffe», auf welchen einzelne Waghälse ihre Tollkühn¬
heit und ihr Glück versuchten. Die Küstenstädte der Nord- und Ostsee hätten
uns bereits im vorigen Jahre mehr als ein halbes Hundert solcher Kaperfahrzeuge
geliefert, welche die dänischen Inseln, ja den einzelnen blvkircnden Kriegsschiffen
unerträglich lästig gewesen wären. Man hat diesen Weg, den einzigen, wel¬
cher uns gegen Dänemark helfen und den Grund zu einer Kriegs¬
marine legen kaun, nicht eingeschlagen, weil man aus Bonhomie Kaperschiffe
für unwürdig hielt und außerdem anzunehmen beliebte, daß dieselben in dem en¬
gen Fahrwasser der dänischen Inseln sich als unpraktisch beweisen, die Dänen zu
Repressalien reizen, und unsere großen Nachbaren, Nußland und England erbittern
würden. Alle diese Gründe durften nicht maßgebend sein. Der Kampf, welchen
wir führten, war gegen das politische Leben Dänemarks, ein solcher Krieg ist
kein Turniergefecht voll Höflichkeit und Hochherzigkeit. Wer sich dem furchtbaren
Glücksspiel eines solchen Kampfes unterzieht, der muß die äußersten Mittel mit
rücksichtsloser Consequenz durchführen, oder er wird Schmach erfahren, die vor¬
läufig uns geworden ist. Wohl wäre der Kampf mit Dänemark durch dieses
Mittel erbitterter und blutiger geworden, aber er war wahrscheinlich bereits jetzt
entschieden und die Verluste an Menschenleben und an Vermögen waren für uns
wohl geringer, als die, welche uns dnrch die Verzögerungen des Kampfes, ja
selbst dnrch den jetzigen Waffenstillstand und seine Folgen kommen müssen, die
wie ein schleichendes Fieber an unserm Mark zehren und eine verborgene Krank¬
heit anzeigen, deren Ausbruch wir noch zu fürchten haben. Da wir doch Däne^
mark gegenüber der Ausrüstung von bewaffneten Privatkrentzern nicht entgehn wer¬
den, wenn unsere nächste Zukunft uns überhaupt erlaubt, in der Politik einen
männlichen Willen kund zu geben, so war das Gesagte kein zweckloser Tadel der
Vergangenheit.
Ohne Erfolge zur See konnten wir von Dänemark keinen genügenden
Frieden erwarten, bessere Bedingungen aber als der Waffenstillstand gewährt,
konnte Preußen durchsetzen, wenn es nicht grade jetzt die Herzogthümer aufgab.
Wenn die Krone Preußens zum zweiten Male deu Krieg aufnahm und selbststän-
dig, in Opposition gegen die Centralgewalt, als Schützer der Herzogthümer auf¬
trat, so durste sie, um ihrer Ehre willen, den Bertrag nicht vor den Win¬
ter schließen, denn im Winter war die einzige Möglichkeit gegeben, den .Krieg
gegen das Inselreich mit einem Landheer erfolgreich zu führe»; das wußten die
Dänen, das wissen die Herzogtümer. Es ist sogar zweifelhaft, ob Dänemark
den Krieg über den Winter ausgehalten hätte, jedenfalls wäre ihm das Eis ein
furchtbarer Feind geworden. Wohl beliefen sich die Verluste, welche der Deutsche,
zumal der preußische Handel erlitten, auf viele Millionen, wenn es nicht gelang,
vor dem Winter die deutschen Häfen zu öffnen, aber Preußen hatte seine Ehre
eingesetzt und über alle Klagen der Producenten und Consumenten mußte ihm
diese gehn. Wohl hätte Rußland sein Veto darein gerufen, aber der stille Kampf
gegen Nußland hat für Preußen bereits begonnen, und wenn die Ungarn besiegt
sind, werden die Kanonen des Czars ihren Willen gegen Preußen doch geltend
machen. Möge man sich nicht täuschen, nicht in Berlin am Hofe und nicht in
den conservativen Kreisen des alten Preußens. Die Stunde hat geschlagen, wo
die Wege Preußens und Rußlands sich für immer von einander trennen, und
Preußen ist trotz allem Schwanken und Zurückgehen seines Herrschers, trotz aller
loyalen Gefühle seiner Minister jetzt in die Lage gekommen, daß es sich mit
Deutschland und den Massen gegen Rußland vereinigen muß, wenn es nicht zu¬
gleich mit den übrigen deutschen Staaten in tnmrigcr Schwäche verkümmern will,
es hat bereits seiue letzte Karte ausgespielt und sein Alles an das Principal über
die deutschen Staaten gesetzt, weder Nußland kann ihm das verzeih», noch Oest¬
reich, wenn es am Leben bleibt. Für seine Vereinigung mit deu kleinen Staaten
aber hat Preußen keine stärkere Waffe, als die seines Kriegsruhms. Ob kleinere
deutsche Regierungen die Idee Preußens hassen, kann ihm gleichgiltig sein, wenn
es sich das erhält, wodurch es groß geworden ist, seine Soldatenehre. Bei der
Schwäche und Hilflosigkeit, welche in allen Nachbarstaaten immer mehr überhand
nimmt, bei der traurigen Verwirrung, welche durch die verschiedenen dynastischen
Interessen über unser Vaterland gekommen ist, gab es nur einen festen Anhalt
für den Patrioten, die ehrenhafte Starke eines Kriegcrstaates. Konnte Preußen
sich diese bewahren, so mußte es über alle Intrigue» seiner Gegner siegen. Und
auch diesen Ruhm hat die preußische Regierung durch Abschluß des Waffenstill¬
stands verloren; sie hat die Meinung der Völker da gegen sich empört, wo der
Staat Friedrich des Großen am wenigsten eine Einbuße an guter Meinung ver¬
tragen kann. Sie hat einen großen Krieg schwach geführt und mit schmählicher
Schwäche beendigt. Sie hat sich dadurch ihr Vereinignugswcrk von Neuem er¬
schwert und was sie in Baden gewann, in Schleswig doppelt zugesetzt. —
Und doch, wie sehr der Deutsche die Politik Preußens beklagen muß, sie ist
immer noch verständiger, ja auch ehrlicher, als die mancher anderer deutschen
Staaten, z. B. Baierns; es gibt wenig, was so widerlich wäre, als die Mi¬
schung von Hilflosigkeit und Arroganz, welche das Ministerium der Wittelsbacher
zur Schau trügt. Ohnmächtig gegen den Aufstand in der Pfalz, brutalistren sie
den Preußen gegenüber, nachdem diese ihnen das Land gereinigt haben; hilflos
in ihrer Politik, kokettirten sie mit Oestreich, ohne den Willen sich ihm unterzu¬
ordnen, liebäugeln sie mit allen Gegnern Deutschlands der Reihe nach, ohne die
Kraft zu einem Entschluß zu gewinnen; heuchlerisch gegen die Herzogthümer, pro-
testiren sie gegen den Waffenstillstand und ziehen zu gleicher Zeit hastiger ihre
Truppen zurück, als irgend ein anderer Staat; unehrlich gegen alle Parteien in
ihrem eigenen Lande, schwanken sie principicnlos zwischen Ultramontanen und Li¬
beralen. Sehr kläglich ist der Eindruck, welchen die einzelnen deutschen Staaten
machen, und wenn Preußen die bittern Früchte seiner Schwäche nicht vollständig
durchzukosten bekommt, so hat es dies nur dem Umstand zu verdanken, daß seine
deutscheu Gegner so gar jämmerlich send. —
Der Waffenstillstand ist abgeschlossen, der Friede wird nach menschlicher Be¬
rechnung nicht folgen. Die Herzogthümer beharren auf ihrem Widerstand und
werden, da Schleswig durch preußische und wahrscheinlich schwedische Truppen be¬
setzt wird, ihre militärische Macht in Holstein organisiren. Mit ihnen sind die
Wünsche aller Deutschen von Ehrgefühl, auch dem Einzelnen wird jetzt Gelegen¬
heit, zu zeigen, ob er den Willen hat, eine nationale Sache zu unterstützen, denn
die Herzogthümer werden noch andere als ihre eigene Kraft nöthig haben, um
sich schlagfertig bis zum neuem Kriege zu erhalten.
Der Kampf bei Fridericia war eine unglückliche Affaire, wie sie jeder Krieg
bringt, es ist dem preußischen Oberbefehlshaber dabei sehr Unrecht geschehn. Was
auch Prittwitz in diesen: Kampfe verschuldet haben möge, ihm oder Preußen ohne
jeden Beweis eine Verrätherei, ein abscheuliches, todeswürdiges Verbrechen Schuld
zu geben, ist eine Unwürdigkeit, gegen welches die besonnene Presse mit aller
Kraft auftreten muß. Wir fühlen uus gegenwärtig Alle schwach, verstimmt und
gereizt, in solcher Zeit finden die abgeschmacktesten Behauptungen Gehör und leicht
hadert Einer gegen den Andern. Wir haben aber genug Veranlassung mit Recht
über uns und Andre zu klagen, es thut uicht Noth, daß man noch imaginäre
Verbrechen herausfindet, um Stoss zur Anklage zu haben. Wenn Preußen der
große Vorwurf trifft, daß es seinen und seiner Bürger egoistischen Vortheil schwach¬
herzig dem Kampf für ein nationales Interesse vorgezogen hat, so ist schon des¬
halb abgeschmackt zu glauben, daß es das Leben seiner zahlreichen Offiziere und
in der holsteinischen Armee den Dänen verkauft habe. Die Ursache des Unglücks
war, daß die holsteinische Armee selbst die Kraft des Feindes zu gering anschlug.
Die konservativen Blätter in Preußen wissen gegen die zahlreichen Augriffe
nichts für den Waffenstillstand in die Wagschale zu werfen, als die wiederholte
Frage, wie mau den Krieg anders hätte führen sollen? — Weil er anders hätte
geführt werden müssen, durch Belebung unsrer Seckraft, durch Ausdauer bis
über den Winter und durch ein energisches Oberkommando, deshalb macht die
deutsche Presse der preußischen Regierung die bittren Vorwürfe mit Recht.
Ein Trost, welcher freilich sehr bescheiden und deutsch ist, liegt für uns dar¬
in, daß bei der gegenwärtigen Lage Deutschlands auch bei besserer Kriegführung
dieser Kampf im zweiten Jahre seiner Dauer schwerlich mit einem vollständigen
Siege geendigt hätte. Darunter verstehn wir Vereinigung der beiden Herzogtü¬
mer mit dem deutschen Bundesstaat und Ablösung des Sundzolls. Ein besserer
Trost aber liegt darin, daß durch den Waffenstillstand selbst die große Frage in
der Schwebe erhalten wird, bis auf eine mögliche bessere Zeit. In Beziehung
auf Dänemark könren wir diese in naher Zukunft erwarten. Durch den Krieg,
welcher alle Kräfte des Landes in Anspruch nahm, ist die innere politisch,". Bewe¬
gung, der Kampf seiner eigenen Interessen bis jetzt in den Hintergrund gedrückt
worden. Die Fricdensrnhe wird für Dänemark kein Wachsthum der innern Kraft
herbeiführen, der Staat hat noch harte Parteikämpfe zu überwinden und der Zu¬
stand seiner Finanzen ist nichts weniger als hoffnungsvoll. Es wäre traurig,
wenn wir uns nur als Feinde der Dänen darüber freuen dürften. In der That aber
ist die gegenwärtige Schwäche der dänischen Regierung ein Bundesgenosse, welcher
den Dänen und uns dazu helfen wird, das Inselreich an Deutschland anzu¬
nähern, indem sie lehrt, daß ein kleiner Staat in Opposition gegen seine Nach¬
barn und Blutsverwandten den Traum einer souveränen Existenz zu theuer be¬
zahlen muß.
Es ist eine Eigenthümlichkeit Preußens, daß es in seinen Institutionen grö¬
ßere Gegensätze vereinigen kann, als irgend ein andrer, in gesunder Entwicklung
begriffner Staat. Vor dem März 48 eine absolute Regierung und daneben ein
bei aller Bevormundung merkwürdig freies, ja demokratisches Städteleben, und
jetzt ein Ministerium der Belagerungszustände und daneben eine Einkommensteuer,
welche eine entschieden sozialistische Färbung hat. Es ist sehr merkwürdig, daß
solche Gegensätze, welche andre Staatsorganismcn zerrütten würden, dem preußi¬
schen Volk gerade eine gewisse Kraft und Energie, dem Staate Haltung und Ga-
rantien für seinen Bestand geben. Freilich findet anch dieses Schweben in Gegen¬
sätzen seine Erklärung in der Geschichte deö preußischen Staates, und die Person
Friedrich des Großen zeigt uns in einem Manne verbunden, was später in den
Stein-Hardenberg'schen Reformen gegenüber der militärischen Uniformirung des
Staats durch Friedrich Wilhelm 1!!., und jetzt in einem Ministerium von Gene¬
rälen, welche radikale Umänderungen des Staatshaushalts beabsichtigen, ausein¬
ander liegt.
Preußen ist in Beziehung auf seine Finanzen in diesem Augenblick vielleicht
der gesündeste Staat Europa's. Die Schuldenlast ist gegenwärtig etwa 2^ mal
so groß als die Einnahmen eines Jahres, die Schulden selbst sind unter vor-
theilhaften Bedingungen contrahirt und im Durchschnitt betrachtet von niedrigem
Zinsfuß. Die Erhebung der Steuern geschieht prompt und sicher durch einfachen
und wenig kostspieligen Mechanismus.
Seit zwei Jahren ist die Idee rege geworden eine Einkommensteuer in Preu¬
ßen einzurichten, welche in größeren Städten an die Mahl- und Schlachtsteuer,
in kleineren und auf dem Lande an die Stelle der Klassenstener treten sollte. Hin
und wieder forderte man sogar die Aufhebung aller andern Steuern und die Ein¬
führung der Einkommensteuer an aller andern Statt. Bis jetzt ist England der
einzige Staat, welcher eine Einkommensteuer durchgesetzt hat und auch diese erst
seit kurzer Zeit. Es ist unnütz, hier noch etwas zum Lobe des Princips einer
Einkommensteuer sagen zu wollen, die theoretische Vortrefflichkeit derselben wird
auch von ihren Gegnern nicht bestritten und nur die praktische Ausführbarkeit und
Zweckmäßigkeit ans den verschiedensten Gründen angefochten. Niemand kann leug¬
nen, daß eine Steuer, welche die Abgabe des Staatsbürgers nach der Größe
seiner jährlichen Einnahmen, also seiner Leistungsfähigkeit, abmißt, die beste aller
Auflagen sein müsse; aber freilich setzt eine solche Steuer bei dem Volk keine ge¬
ringe politische Bildung und Anhänglichkeit um die Idee des Staates voraus, und
ferner ein kräftiges Selbstregiment der Gemeinden und Kreise. Die Schwierig¬
keiten, welche überall bei derselben zu überwinden sind, liegen erstens darin, daß
die Schätzung des einzelnen Vermögens unerträglich gehässig erscheint, wenn sie
nicht eine Selbstschätzung ist, welche durch die Mitbürger der freien Gemeinde
oder des .Kreises :c. controlirt wird, und weil zweitens die kleinen Einnahmen
des größten Theils der arbeitenden Klassen eine Sclbstschcitzung der Einzelnen sehr
schwierig machen, weil diese sich einer Geldpflicht gern entziehn und bei der Taxe
in eine endlose Groschenrechnung hereinführen müssen, welche eben so kostspielig,
als unsicher wird.
Wenn es Anerkennung verdient, daß das preußische Ministerium überhaupt
den Muth hatte, trotz diesen Schwierigkeiten grade jetzt eine Einkommensteuer
einzuleiten, so kann man vollends der Energie ein aufrichtiges Lob nicht versagen,
mit welcher es das Princip dieser Steuer in seinem Entwürfe heraustreibt. Der
Entwurf ist in der Hauptsache folgender.
An die Stelle der frühem Klassensteuer, so wie der Mahl- und Schlacht¬
steuer, tritt eine Einkommensteuer für diejenigen Einwohner, deren gesäumtes
jährliches Einkommen 400 Thlr. und mehr beträgt, für das geringere jährliche
Einkommen aber eine Klassenstcncr, welche der bisherigen Einrichtung im Ganzen
entspricht, aber einige verständige Modifikationen enthält und deutlich das Bestre¬
ben zeigt, die Steuerlast der untern Klassen zu erleichtern und eine möglichst ge¬
naue und gerechte Schätzung zu fordern. — Die Einkommensteuer beträgt bei
einem Einkommen von 400 bis 1000 Thlr. 3 pCt., von 1000 Thlr. aufwärts
aber steigern sich die Prozente in der Art, daß sür das zweite Tausend 3^ pCt.,
für das dritte und vierte Tausend 4 pCt., für das fünfte und sechste 4^ pCt.,
und sür jedes Tausend über 0000 5 pCt. zu zahlen sind. Die Steuer wird er¬
hoben von fundirtem oder nicht fuudirtem Einkommen ohne Unterschied, der Steuer¬
pflichtige schätzt sich selbst nach bestem Wissen und Gewisse», wenn er will in ver¬
siegelter Deklaration. Die Gemeindebehvrde sammelt alle einzelnen Deklara¬
tionen; und Einschätzungscommissionen, durch die Vertreter der Kreise und Bezirke
gebildet, leiten die Schätzung. Die Steuer wird von den Einzelnen durch die
Gemeinde erhoben, von den Gemeinden in die Staatskassen abgeliefert.
Der Gesetzentwurf zeichnet sich durch Klarheit und Genauigkeit aus, die Be-
stimmungen derselben über die Selbstschätzung, die Controle und die Erhebung
der Steuer sind vortrefflich, mau versteht in Preußen gut zu verwalten; kühn
aber und als Zeichen eines nicht gemeinen Sinnes erscheinen die Prozentsätze und
die Scala ihrer Steigerung. Nur wenig gibt es, was unser Blatt zu der männ¬
lichen Auffassung der Staatsbürgerpflichten zu bemerken hat, welche aus den Pro¬
zentsätzen und ihrer Steigerung zu erkennen ist.
Zunächst ein Bedenken, welches bereits in einem guten Aufsatz der deutschen
Reform Ur. 410 bis 415 ausgesprochen ist. Als Beginn sür die Prozentsätze
der Einkommensteuer sind 400 Thlr. nicht passend, es ist praktischer, dieselbe erst
von dem Einkommen über 500 Thlr. beginnen zu lassen. — Wer 400 Thlr.
jährliche Einnahme hat, müßte 12 Thlr. Einkommensteuer bezahlen, das ist offen¬
bar zu viel. Ist doch ohnedies die Steuer sür den Beamten drückender, als für
jeden Andern, und gerade zwischen 4 bis einschließlich 500 Thlr. schweben die
Revenuen einer Menge der preußischen Subalternbeamten. Jeder Landwirth, jeder
Handwerker wird im Stande sein die Selbstschätzung so einzurichten, daß er,
ohne gegen die Bestimmung des Gesetzes direct zu verstoßen, sich uicht zu nahe
tritt, beim Beamten des Staates ist es unmöglich, daß er seine fixirte Einnahme
nach den Grundsätzen eines gewissen Wohlwollens sür sich selbst beurtheile. Ferner
aber liegt bei dem gegenwärtigen Geldwerth in Preußen nicht bei 400, sondern
bei 500 Thlr. jährlicher Einnahme die Grenze, von welcher ab das Leben einer
einzelnen Familie so viel Behaglichkeit gewinnt, daß dieselbe aus der großen Masse
derer heraustritt, welche durch den Kampf »in die Existenz gedrückt werden. Wer
sich aber dem Staat gegenüber selbst schätzen soll, dessen Leben muß schon einen
gewissen Halt, eine verhältnißmäßige Behaglichkeit haben und im Durchschnitt
ist diese erst von 500 Thalern herauf anzunehmen.
Der Entwurf macht keinen Unterschied zwischen suudirtem und nicht fundirtem
Einkommen, während uach einem früheren Projekt das unfundirte Einkommen
mit 2, das fundirte mit 3 pCt. herangezogen werden sollte. Es bedarf keiner
weitern Ausführung, um zu beweisen, daß eine gleiche Besteuerung aller Arten
von Einkommen bei unseren Bildungsverhältnissen eine große Härte ist. Ein ar¬
mer Lehrer z. B., welcher durch unermüdliche Thätigkeit von früh bis zur Nacht
das Jahreseinkommen seiner Familie auf 000 Thlr. erhält, wo der Bestand von
seiner Gesundheit, seiner persönlichen Kraft und dem launigen Zufall abhängt, hat
14 Thlr. Steuer zu entrichte», ebenso wie der müssige Rentier, der aus einem
Capital von 15,000 Thlr. seine Hypothekeninteressen zu 4 pCt. behaglich ver¬
zehrt. Grade in Preußen ist die Anzahl derer, welche im Staatsdienst arbeiten,
oder auf andere Weise für die Bildung des Volkes thätig.sind, ohne fundirtes
Einkommen zu besitzen, verhältnißmäßig größer als in irgend einem andern Lande,
und grade Preußen hätte Ursache diese Klassen seiner Bürger nicht zu beschweren.
Deshalb muß man fordern, daß bei dem Einkommen von 500 bis 1000
Thlr. ein Unterschied gemacht werde zwischen suudirtem und nicht
fuudirtem Einkommen, daß nicht fundirte Revenuen nur mit 2 pCt.
besteuert werden und daß bei den Classeusteucrsätzen, welche bei einer Ein¬
nahme von weniger als 500 pCt. eintreten sollen, in der Abschätzung eben so
Rücksicht genommen werde, auf die Beschaffenheit der Quellen, aus denen die
Einnahme fließt. Das letztere geschieht in der Praxis schou jetzt, es ist wünschens-
werth, daß das Gesetz diese Rücksicht geradezu anempfehle.
Dagegen ist wider die Steigerung der Prozentsätze von 3 bis 5 bei den hö¬
hern Tausende« des Einkommens in der Theorie nichts einzuwenden. Was man
gegen die Gerechtigkeit eiuer solchen Scala anzuführen Pflegt, ist nicht stichhaltig.
Mau sagt: es ist uicht gerecht, wenn der Reiche, welcher dem Nationalvermögen
größere Summen zuführt, vom Staate dafür durch einen stärkeren Prozentsatz ge¬
straft werde, und bei dem Maugel freiströmcnder zusammengeballter Capitalien,
welche jährlich aus den Revenüen der Reichen zu der productiven Kraft Preußens
zufließen könnten, sei eher eine Schonung als eine Verminderung derselben durch
hohe Besteuerung zweckmäßig. — Dagegen läßt sich bemerken, daß man bei aller
Besteuerung mit der abstracten Rechtstheorie nicht weit kommt. Der Staat hat
von je das Geld vorzugsweise von denen genommen, welche in die Möglichkeit
gesetzt sind, dasselbe zu geben. Und bei den meisten indirekten Steuern wird das
Rechtsgefühl einige Ursache haben sich zu empören. Was ist im Prinzip wider-
sinniger und härter, als eine Schlacht- und Mahlsteuer, welche die ersten Be¬
dürfnisse des Menschenlebens vertheuert? und doch ist diese Steuer in der Praxis
eine der bequemsten, welche wir haben, und wird für Communalzwecke auch
in der Zukunft Preußens nicht entbehrt werden können. Was ist seltsamer als
eine Stempelsteuer von 52 Karteublättern erhoben, mit denen der Mensch in müßi¬
gen Stunden spielt, und wie auffallend ist es, den Gebrauch ungestempelter
Spielblätter für ein Verbrechen zu erklären! Und doch besteht diese Steuer und
die Gewohnheit hat das Publikum vollständig damit versöhnt. — Ferner aber
ist das Princip einer verhältnißmäßig stärkern Besteuerung der Wohlhabende» seit
alter Zeit fast bei allen Staaten in Geltung, bei allen Luxussteuern, bei allen
Erbschafts - und Kausstempelu, deren Prozente mit der Höhe der Summen wach¬
sen, und bei Communalbesteuerungen hat der Grundsatz der progressive» Besteue¬
rung von je praktische Anwendung erfahren. Selbst bei der Klassensteuer ist diese
Steigerung von den untersten Klassen an, welche ungefähr mit 1 pEt. ihres
Einkommens angezogen werden, in allmäliger Steigerung bis zu 2 und 2^ pCt. der
Revenue» vorhanden. Was hindert nun in unserm Fall zu sagen, der normale
Prozentsatz für das jährliche Einkommen beträgt 5 pCt., aus Billigkeitsgrüuden aber,
und um das Leben der Aermeren nicht zu sehr zu belasten, soll für diese eine
Ermäßigung bis zu 3 pCt. stattfinden, welche sich für die untern Schichten des
Volkes, welche durch die Klassensteuer geschätzt werden, sogar bis zu 1 pCt. er¬
mäßigt.
In der Theorie ist gegen die progressive Besteuerung nichts Entscheidendes
zu sagen, und wenn das Ministerium dieselbe durchzuführen im Stande ist, so
wollen wir ihm ehrlich danken. Es möge uns aber verziehen werden, wenn sich
in unsere Bewunderung der ministeriellen Energie einige gute Laune mischt. Der
Grund nämlich, aus welchem das Ministerium die Einkommensteuer grade jetzt
und mit solcher Progrcssivscala einrichtet, ist ein ächter Torygrnnd. Auch hier
kann man sehn, wie die Extreme sich berühren.
Das neue octroyirte Wahlgesetz für Preußen ist bei den jetzigen Steuerver-
hältnissen, grade herausgesagt, ein Unsinn, das hat das Ministerium vielleicht
schon gewußt, als das Gesetz erlassen wurde, jedenfalls ist ihm Gelegenheit ge¬
worden, während der Wahlen allerlei Erfahrungen darüber einzusammeln. Die
Voraussetzung und Konsequenz des Wahlgesetzes ist eine directe Steuer, welche
durch den ganzen Staat geht. Wenn das Wahlgesetz den aristokratischen Grundsatz
ausspricht, daß der Einfluß des einzelnen Staatsbürgers aus die Wahlen wachsen
müsse mit der Größe der Steuer», welche er dem Staat zahlt, so ist es nur ein
nothwendiger Act der Konsequenz und Gewissenhaftigkeit des Ministeriums, auch
die Steuern so einzurichten, daß der am meisten Vermögende ant meisten zahle
und daß bei der ungeheuern Bevorzugung des Capitals in den Wahlen, auch das
Capital am stärksten besteuert werde. So ist die liberale Einkommensteuer nichts
als die Kehrseite eines Wahlgesetzes, welches grade nicht in dem Geruch des Li¬
beralismus steht. Allerdings entsteht jetzt sür das Ministerium die bedenkliche
Frage, ob alle die Vermögenden, welche sich mit Behagen in der ersten Wähler¬
klasse, oft als einzige Urwähler, sahen, jetzt auch geneigt sein werden, die ver¬
nünftigen Consequenzen ihres Wahlrechts auf sich zu nehmen. Wir fürchten, daS
wird nicht geschehn, auch das Ministerium scheint das zu besorgen. Die Pro-
gressivscala -wird vielleicht geopfert werden müssen, möglicherweise das ganze Pro¬
jekt der Eittkommenstcncr. Für das Ministerium aber wäre dies ein tödtlicher
sa lag, denn ohne Einkommensteuer würde auch das Wahlgesetz nicht gehalten
werden können, die schreiende Ungerechtigkeit und Willkür desselben würde der
Nation gegenüber ohne Gegengewicht bleiben und fortwährend verletzen. So ist
nicht unmöglich, daß das Ministerium eine gefährliche Niederlage erfährt, grade
durch die liberalste Institution, welche es einführen will, und daß dieselben Prin¬
cipien, welche es heraufbeschworen hat, ihm selbst verderblich werden.
Wenn die demokratische Partei das Projekt der Einkommensteuer lobt, die
conservative aber es angreist, so folgen beide ihrem Gefühl mehr als politischer
Klugheit. Ob die Einkommensteuer auch unseren conservativen Reichen die Ueber¬
zeugung bringen wird, daß das Princip des octrvyirten Wahlgesetzes falsch ist,
müssen wir abwarten.
Prag —. ein Theben en mimsturo — Wenn ich jetzt auf ländlichem Kar¬
ren hereinfahre und zu dem neunten, nach meiner Heimath blickenden Thore gelange,
ivo der schnurrbärtige Polizist und sein Schatten, der Zollmann, jeden Wagen
durchstöbert, um verbotene Menschen oder Waaren zu entdecken, so wird mir ganz
unheimlich zu Gemüthe. — Nicht als ob ich mich für verboten oder gar vermauth-
bar hielte, — denn ich bin lammfromm und noch ein menschliches Wesen; — aber
weil beim Anblicke der alterthümlichen, einst dreifarbigen Hussitenstadt meiner Phan¬
tasie eine unnatürliche Sphinxgestalt vorschwebt! Es ist kein Ungethüm mit
einem Löwenkopf aus böhmischen Thon, mit einem wellenförmigen Schlangenleib
und häßlichen Pfauenfüßen, mit zweifarbigen Doppeladlerflügeln und dem fette»
Schweif eines baltischen Fisches: solche Märchen sind' alt und verwittert, —
nein, unser Phantom ist der politische Volksgeist von Prag. —
Du liebes Böhmen! Du bist das Räthsel Oestreichs, ein Epos ohne Hel-
den, „nullum elltmaris und u-n-um I-in-^v". — Noch sind Ihrem Gedächtnisse viel¬
leicht nicht die Namen der Horebiten, Taboriten, silmiliter, Japhetiten, Trog-
lodyten entschwunden, bei deren Nennung jede ehrliche Seele zusammen fährt,
wie der Teufel vor dem Franziskaner, der Tyrann vor dem Republikaner.
Dort, wo Ziska'S Name noch von Mund zu Mund geht, wo der breit¬
knochige Czechensohn mit andächtigem Märtyrersinne noch des alten Autodafe von
Constanz gedenkt, da lebt noch jetzt eine Kaste in Dörfern, die sich Adamiter und
Marokkaner nennt. Sie hat Verbindungen mit Adam im Himmel, mit Fourier
in der Hölle, mit Proudhon im Gefängniß, ja mit Abderrhaman in Marokko
angeknüpft, die ihr einst zu Hilfe kommen und ihre Herrschaft auf der Erde be¬
festigen werden. Ihr Meister ist Felzmann, ein nnn eingezogener Webergeselle,
ihr Gott ist das große Alphabet, ihr Lebenszweck: Communismus. Aber
sie haben auch manche gute Ansicht, wie sie nnr wenig solchen ungesetzlichen
Brüderschaften eigen ist. Sie laden nämlich keine Gewehre, weil sie kein Blut
sehen können, ihre Kinder nennen sie Zweige und als Familiennamen gebrauchen
sie ihre Hausnummer. Die haben freilich gut Reden. Wollte man diese Einrich¬
tung in Prag einführen, wo die meisten Häuser ein und dieselbe zweibeinige Num¬
mer aufzuweisen haben, wahrlich alle Menschen müßten hier dann siebenundsech¬
zig heißen.
In Wahrheit ist die Sekte der Adamiter, welche Sie als eine religiöse
und politische Vereinigung mit socialistischen Grundsätzen betrachten können, ein
seltsamer Auswuchs der czechischen Nationalität. Diese Verbindung von barrockem
Idealismus und naiver Rohheit finden Sie sonst nirgend in der Welt, höchstens
bei einigen Jndianerstämmen/— Aus ihrem Glauben machen die Adamiter ein
Geheimniß, ihren eignen Namen dürfen sie nicht aussprechen, Ehe erkennen sie
nicht an, die Frauen gehören der ganzen Gemeinde, und unsre Taufe und alle
Gebräuche des katholischen Kultus verachten sie; dagegen fühlen sie die Pflicht
stets die Wahrheit zu sagen und freundlich gegen alle Menschen zu sein. Diese
Secte ist in dem czechischen Theile Böhmens auf dem Lande viel mehr ausgebreitet
als die Regierung weiß, in einigen Dörfern ist sie vollständig organistrt und von
der Regierung öfter in Untersuchung gezogen worden, weil die Grundsätze ihres
Glaubens und ihrer Moral nichts weniger als gut kaiserlich sind. Allein alles
Verfolgen, Verhören und Einsperren hat nur dazu geholfen, die Mitglieder der¬
selben zu verstockeu und ihre Anzahl zu vermehren. Uebrigens sind die Adamiter
keine Erfindung der neuen Zeit, ans Akte» ist ersichtlich, daß schon vor mehreren
Generationen die Obrigkeit gegen dieselbe Secte eingeschritten ist, und unsre cze¬
chischen Gelehrten werden Ihnen beweisen, daß sie bis in die Zeit der Hussiten-
kriege zurückgehn und die Nachkommen einer Horde von Fanatikern sind, welche
Ziska selbst ihrer gräulichen Moral wegen verbrennen ließ. Ich weiß nicht, ob
diese Ansicht zweifellos ist, unwahrscheinlich ist sie nicht. In der Tiefe des trotzi¬
gen und verschlossenen Herzens, in welches das czechische Landvolk sich allem Frem¬
den gegenüber zurückzieht, liegen noch manche Geheimnisse begraben, welche der
deutschen Welt sehr wenig, unsern gelehrten Czechen nur zum Theil bekannt sind.
Wie ein Räthsel sitzt das czechische Volk selbst unter den deutschen Stämmen und
sein Geist, gebannt durch die verhaßten Zauberformeln der deutschen Sprache hat
sich in sich selbst zurückgezogen und liegt in einem tausendjährigen Schlaf, dessen
Ende wir auch jetzt, im Jahre 4U noch nicht absehn können.
Was die Auffassung der gegenwärtigen Zustände anbelangt, so hat das! Landvolk
gewiß eine weit pfiffigere und gesündere Anschauungsweise, als die gestriegelten,
bevatermörderten und journalistischen Städter, die sich in Allem täuschen lassen.
Ich erinnere mich jetzt noch mit wahrer Befriedigung meiner letzten Wasserfahrt
nach Podol, welches eine kurze Strecke von der Stadt entfernt ist, und am Fuße
von LibussaS Felsen liegt, wo man gute gebackene Grundeln um 38 Kr. bekömmt,
passables Bier und einen zunftmäßig beleibten Gastwirth. Solche Portionen
Deutsche oder Magyaren, dachte ich bei mir, als ich eben ein kleines Kiemcnthier-
chen meinen Gaumen preisgab, die wären für unsern geliebten Hawlizck Delika¬
tessen, die er mit Löffeln speisen möchte. Unterdeß machten sich meine Nachbarn,
ehrliche Bauern, die Freude, mir einige Aufklärung über den ungarischen Krieg
zu geben. So hören Sie und staunen Sie über die schnelle Lösung großer Räthsel.
Es gibt keinen Kossuth und es hat nie einen solchen gegeben; seine Person ist
falsch, sein Name ist falsch, die Bilder find falsch, die Zeitungen sind falsch, Alles
ist falsch; denn der, den man Kossuth nennt, ist kein Anderer, als — Erzherzog
Stephan. Wagen Sie darüber zu lachen, so raunt.man sich Pfiffig in die Ohren,
daß Sie das Pulver nicht erfunden haben, daß nur Unsereiner von den hohen
Herren bei Hofe sich täuschen lasse, welche freilich in ihre Karten nicht blicken
lassen; und daß diese Vermuthung trotz.aller Verstellungskünste des kaiserlichen
Prinzen so wahr sei, als die bekannte Thatsache, daß der alte Pascha von Aegyp-
ten kein Anderer als Napoleon I. ist u. tgi. in. Es liegt traun viel Humor in
dieser Philosophie, welche bei einem großen Theile des böhmischen Landvolkes so
eingewurzelt ist, daß sie durch keine Dokumente und Vernunftgründe aus den harten
Hussitenköpfen gebannt werden könnte.
Aber auch in der Stadt geht es nicht viel besser zu. Der Bauer, wen»
er an etwas zweifelt, kratzt sich erst hinter's Ohr und citirt dann seine hyperkluge
oder simple Staatsweisheit, die er aus den beredten Wirthshanslehren des Schul¬
meisters oder den salbnngsreichen Worten des Pfarrers schöpfte, darum sind seine
Irrthümer und Fehler auch simpler Natur und wenig schädlich. Der Städter hin-
gegen, der über solche Schwerfälligkeiten des Geistes herzlich lacht, fehlt erhabener,
großartiger, nobler. Seine Fehler sind alle reicher dotirt und haben aristokratische
Ahnen, die denen des Landmanns fehlen. Philosophie, Geschickte, Naturrecht,
Ethnologie — das sind seine Rathgeber, seiner Fehler Großeltern, und er balgt
sich mit diesen edeln Räthen so arg herum, daß er nicht zu Athem kommen kann.
Jede Wissenschaft, die er nnr oberflächlich berührt, bereichert ihn mit Ver¬
kehrtheiten , wodurch sein Wissen gerade vor den Kopf gestoßen wird. O Stadt,
o Land! Welche Aufgabe ist euch von dem Schicksale zu Theil geworden! Ab¬
magerung der Errungenschaften und gräulicher Katzenjammer der Stadt; dem
Lande — Blindheit und Ruhe.
Errungenschaften!! Noch einmal faltete mir den Hippogryphen, ihr
Musen, zu reiten ins alte romantische Land. O es waren schöne Zeiten, als
man hier noch ungehindert KcliusolK^ min pico singen durfte, und ganz Czechien
nach der Melodie dieser Ode hüpfte, wie nach Hüons elfenbeinernen Horn der graue
Heide und sein Troß; es waren köstliche Zeiten, als hier die Freiheit blühte und
man zu der schwarzrothgoldnen Farbe am Knopfloch auch blühendes Veilchenblau am
Rücken frei erhalten durste; — es waren süße Zeiten, die Zeiten der Gleichheit^
wo die „Eintrciber" als Complimente galten; — o ich könnte bis zum Morgen
fortfahren, wollte ich alle die schönen Bescheerungen der Freiheit und alle Errun¬
genschaften aufzählen, die in Prag verloren gegangen sind.
Doch keine Ironie, sie tönt wie bitterer, unedler Sarkasmus und ver¬
letzt das Herz. Dennoch weile ich gern in den Gefilden der aufgeregten Ver¬
gangenheit, wo man doch wenigstens die Regierung angreifen durfte, welche jetzt
durch ein mächtiges Amulet sich unangreifbar gemacht hat. Unsere Presse fügt
sich recht artig in das harte Geschick und lernt erstaunlich schnell schwarzgelb zu
werden, schimpft über die garstigen Magyaren und ihren schändlichen Diktator und
bewundert die Tapferkeit der Mvskoviten und ihre herrlichen Pferde. Nur die
Narodni Nowiny, wiewohl von der Nähe dieser Brüder und Stammgenossen aus
panslavistischen Gründen besonders entzückt, lassen ihre frühere Farbe durch das
schwarzgelbe Gitterwerk hervorschimmern, ein grimmiges Ding für die Deutschen
— aber im Käfig.
Bei diesen Betrachtungen sind wir bis auf das Forum der Altstadt ge¬
langt. O heilige Clio! Leihe mir deine Flügel, damit ich mich hinausschwinge in
den Sitzungssaal unserer Herren Stadtverordneten, um zu erforsche,:, ob es leer
sei oder uicht. Denn nicht freundlich sind die Unsterblichen denen, die müßig
gehen und die Zeit nutzlos vergeuden, und mir würden sonst die Helden fehlen.
Hier stehen wir bei der hohen Säule, wo des Abends von Frommen, die be¬
zahlt bekommen, gar viel gebetet und gesungen wird, wie Jedermann bekannt
ist; hier blicken Jahrhunderte ans ein Plätzchen nieder, wo vor Alters, wie die
Sage geht, die böhmischen Anhänger Wilkes's mit den Gliedern der ehrwürdigen
Rathsherrn von Prag gar unsanft verfuhren und ihnen eine Lustfahrt vom Fenster
aufs harte Pflaster verordneten. — Ist's etwa deshalb da oben so ruhig und
leer, weil das Collegium damals so schauerlich endete? Das erinnert an den
Kaufmann, der sich nicht ins Bett legen wollte, weil sein Vater, Großvater und
Urgroßvater im Bette gestorben waren. — Aber Thatsache ist, daß ursere Ge¬
meinderäthe nicht geneigt sind, sich nach römischem Muster mit langen Bärten auf
kurulischen Sessel hinzusetzen und abzuwarten, bis der rauhe Brennus käme, sie
am Barte zu zerren oder beliebig zu färben. Sie bleiben deshalb lieber daheim,
wo es keine Zischer gibt und keine Referenten, die Alles der Welt erzählen; wo
man mit der Glocke dem Diener gebietet, Ordnungsrufe den kleinen Schreiern er¬
theilt und ein Jeder Präsident des Hanfes ist. Auf diese Art geht die Grund¬
lage des freien Staates, die freie Gemeinde, schlafen; es löst sich somit wieder
ein Räthsel der Freiheit und die Errungenschaften gehen auf Reisen.
Sie sind nachdenklich geworden und scheinen von den Marokkanern nicht
loskommen zu können. Ob's auch in der Stadt solche Sectirer gebe? — Se¬
hen Sie dort dieses Männlein mit dem bürgerlichen Sommerrock und militärischen
Czako, mit dem stolzen Gange, martialem Philistergesicht, der patronenlosen Pa¬
trontasche und dem jungfräulichen Gewehre; das Männlein, welches dort heroisch
auf und abgeht und wie ein Pendel hin und herschweift, um militärisch salutiren
zu können, sonst aber kaum weiß, weshalb er gerade aus diesem Posten dem
Vaterlande seine Dienste zu weihen habe, dieses Männlein ist ein Marokkaner.
Sie rufen mir vor dieser unschädlichen, guten Natur ganz entsetzt zu: „Ein Kom¬
munist ohne Gott und Namen, der mit dem Teufel und Abderrhaman in Verbin¬
dung steht!" — Aber so erinnern Sie sich doch auch an die guten Seiten dieser
Secte, die kein Pulver riechen und kein Blut sehen kann. Ja, unsere braven
Marokkaner haben diese ritterliche Tugend im vorjährigen Juniwirrwarr durch die
glänzendsten Proben bewährt und auch gegen den Kaiser nicht gekämpft. Drum
werden sie auch höhern Orts sehr geliebt und ihnen trotz des Belagerungszustandes
die jungfräulichen Gewehre gelassen zu Paraden und Leichenbegängnissen, und weil
sie auch so bescheiden waren, hübsch zu folgen und sich heimgeigen zu lassen, wird
ihnen ein schönes, neues Tempelchen gebaut für ihr Geld und ihre Artigkeit.
Aber es gibt in dieser schönen, alten Königsstadt des Rätselhaften noch mehr
und des Geheimnißvollen. — Welche Thätigkeit herrscht auf der Brnska, dem
Laurenziberze und im Zeughause? — Wie wird dort gemauert und gegraben,
geschanzt und gezimmert? Welche Schießscharten und nie geahnte Pallisaden fan¬
gen dort an, sich so breit zu machen, wo der muntere Kahn hinschwebt, aus den
Wellen der Moldau, wo der fröhliche Schwimmer den Strom durchfurcht.
„Wozu sollen die Verschanzungen dort?" fragte ich neulich meinen Nachbar
im Kahne. „Phe," winkte er mir geheimnißvoll, „dem Türken und dem Kö¬
nig von Preußen, der den Erzherzog Johann fortgejagt hat, gelten sie." DaS
wähnt hier so Mancher, während wir überzeugt sind, daß sie keinem andern
Feinde gelten, als — dem treuen Prag.
Das ist also der Lohn für die Treue, womit man hier Charpie zupft, Ban¬
dagen bereitet, Freiwillige gegen Kossuth in's Feld stellt, und eine so wackere Na-
tionalgarde besitzt. Das ist der Lohn für die reichlichen Sammlungen und Akade¬
mien, die hier veranstaltet werden, mit Gott, für Kaiser und Vaterland!!? —
O über den hochherzigen Patriotismus! Es kehrt sich trotzdem nicht daran, thut
unumwunden seine Pflicht und — schweigt, als ein wahres Vorbild des unbe¬
dingten Gehorsams und unerschütterlicher Treue.
Das Freicorps wollen Sie noch sehen, mein Freund, das böhmische
Freicorps mit dem böhmischen Löwen und den blauen Hosen? Nehmen Sie die
Laterne, mein Diogenes, und suchen Sie es. Und wenn Sie es finden sollten,
woran ich aber sehr zweifle, so senden Sie es Hawliczek, der ihm eine andere
Bestimmung anweisen will, als in den Theißpusten den Ausschlag zu geben; der
es wird an den Rhein schicken, um die Deutschen zu züchtigen, das böhmische Roß
zu tränken in den Wässern des deutschen Stromes und mit weißrothblauer Fahne
dessen Wogen zu durchschwimmen."
Alle Zeitungen haben von diesem Freicorps gefabelt, das der böhmische Pa¬
triotismus seinem Kaiser gegen die Ungarn ausrüstet. Geld für einige bunte Röcke
ist zusammengebracht; aber Corpsleute sind nicht zwanzig Mann zusammen gekom¬
men und darunter, wie man sich erzählt, neunzehn Aspiranten für die Offizier¬
chargen. Es gehört die loyale Gutmüthigkeit unserer Provinzialen dazu, bei jenem
Kriege, dem ungeheuern, völkermordenden, wo eine halbe Million Kerntruppen
gegen eine verzweifelte Nation im Felde liegt, mit einem herausgeputzten Frei¬
corps zu Hilfe kommen zu wollen. Wir haben seit dem vorigen Frühjahr in all
dem bittern Ernst unserer schweren Zeit die Schwäche für ein phantastisches Co-
mödienspiel noch nicht verloren. Auch das Project dieses Freicorps gehört zu den
kleinen Abderitenstreichen unserer loyalen Politiker.
Der Kampf auf dem Schlachtfelde scheint in Oestreich feinem Ende entgegen¬
zugehen, und immer näher rückt der Zeitpunkt, wo der Verheißung nach , die
Gewaltherrschaft einem mehr oder minder verfassungsmäßigen Verfahren weichen
soll. Die Ansichten der Regierung werden nicht länger unfehlbar sein, und statt
Kanonen jeuer ultima i^ein rv^um, werden die Minister wirkliche Gründe in's
Feld führen müssen, was oft weit schwieriger ist.
Die Verfassung vom März soll vom Papier in's Leben übertreten und
kein Belagerungszustand, kein Prcßgesctz wird die Natur der Dinge verhindern,
über sie Gericht zu halten. In solchem Augenblick mag es nicht unpraktisch er¬
scheinen, das erwähnte Verfassnngswerk einer schärfern Beleuchtung zu unterziehen,
und zu erforschen, was in ihr Lebensähiges enthalten ist, was Unmögliches. ES
läßt sich nicht leugnen, daß ein Vorabsprechen über die Gestaltung parlamentari¬
schen Lebens in Oestreich äußerst schwierig ist. Nicht nur ist hier die Verwirrung
in der Stellung der Parteien größer, als irgendwo, weil neben und zwischen den
gewöhnlichen parlamentarischen Interessen,, die Svuderintcrcsscn der einzelnen Na¬
tionalitäten stehen, es tritt hinzu noch die Neuheit des constitutionellen Lebens-
überhaupt, und die Unmöglichkeit, genau zu berechnen, welchen Einfluß die Re¬
gierung sich wird sichern können. Wenn wir es trotzdem versuchen, ein Bild von,
der wuthmaßlichen Gestalt der Dinge unter dem Einfluß der Verfassung vom 4.
März zu entwerfen, so geschieht dies nicht in der Hoffnung den Gegenstand zu
erschöpfen, oder selbst nur etwas Neues von Bedeutung auszusprechen, sondern in
der bescheidenen Erwartung durch eine übersichtliche Darlegung der Verhältnisse
manch irrige oder sorglose Ansicht über die Zukunft zu berichtigen.
Die Verfassungsurkunde ist offenbar ein Werk der Eile. Die Frage der
Octroyirung, obwol zu wiederholten Malen im Rathe der Minister angeregt, war
immer verschoben worden. Als aber der Entwurf der Verfassung vom constitui-
renden Reichstag beendigt war, und die sonst on c-tu-ullo behandelten Abgeordne¬
ten in ihren Parteiclnbs den Antrag in Erwägung zogen, ob man die Verfassung
nicht in Bausch und Bogen annehmen und vom Kaiser Sanction und Verkündi-
gung verlangen sollte, da ließ sich die Sache nicht länger verschieben. Die Jn-
terpellationen konnte man am Ende noch ertragen, denn man beantwortete sie
schlecht oder recht oder gar nicht, und ließ sich in seinem Handeln durch sie nicht
beirren. Aber den Verfassungsentwurf de» Reichstags konnte man weder bei der
Hofpartei, noch vor dem Forum des eigenen politischen Gewissens durchbringen.
Ein Transigiren mit dem Reichstage hätte in jenen Tagen zu keinem Ende ge¬
führt und die allgemeine Aufregung in bedenklicher Weise verlängert. Dazu kam
noch die Nachricht von dem freilich nicht ganz bestätigten Siege bei Kapolna, der
die Aussicht auf baldige Unterwerfung der Ungarn und somit auf die Realisirung
der uralte» Pläne zur Cenrralisirung des ganzen Oestreich zu eröffnen schien.
Unter solchen Umständen entschloß man sich rasch zur Octroyirung. — Die Noth¬
wendigkeit der Eile, die noch immer schwankende Lage des Staats, die Rücksicht,
auf die eigenthümlichen staatsrechtlichen und gesetzlichen Verhältnisse Ungarns,
deren zukünftige Gestaltung man sich zum Theil aus Unkenntniß nicht klar machen
konnte , endlich ein kleines Restchen von Furcht vor der Mehrzahl der Volksver¬
treter und derer, die hinter ihnen standen, bewog das Ministerium, die Materia¬
lien des Reichstags zu benutzen und dem in dem Entwürfe ausgesprochenen Föde¬
rativsystem einige Concessionen zu machen. Diese Concessionen sind offenbar in
der Hoffnung gemacht, durch die starke Ausstattung der Executivgewalt eine voll¬
ständige Centralisation nach und nach einleiten zu können. Man scheint also die
Nestaurirung der Provinzialverfassung für ziemlich unschädlich betrachtet zu haben.
Man behandelte das Institut als ein ausgelebtes, das man zum Theil aus Nach¬
giebigkeit gegen einige aufgereizte Eitelkeiten, zum Theil aus Pietät gegen den
geschichtlichen Rechtsboden (mit dem man selbst dann noch gerne coquettirt, wenn
man schon mit den eigenen Füßen auf dem Boden der Revolution und des Kiön
public steht), zwar aufrecht erhielt, jedoch nur in der sichern Ueberzeugung, daß
es, ohne Nahrung gelassen, in kurzer Frist an der eigenen Erbärmlichkeit ster¬
ben werde.
Ganz verschieden stellt sich aber dieses Verhältniß der tieferen Betrachtung
dar. Die betreffenden Bestimmungen der Verfassungsurkunde vom 4. März, weit
entfernt, ein Institut, von der erwähnten Hoffnungslosigkeit in's Leben zu rufen,
bringen das ganze Verfassuugswerk mit sich selbst in Widerspruch und sind im
Gegentheil der eigentliche lebensfähige Embryo der östreichischen Verfassung, welche
unter dem nach außen schützenden Panzer anscheinender Centralisation heranwach¬
sen und herangewachsen den Panzer sprengen wird.
Dies haben die Föderalisten des constituirenden Reichstags trotz allem Ge¬
schrei recht wohl begriffen und setzen ans die Landtage eine große Hoffnung.
Diese Hoffnung wird sie auch nicht täuschen, wenn sie politisch zu Werke
gehn, wenn sie sich uicht dnrch die Bestimmung des Paragraphen 81 (der
Verfassung vom 4ten März) zu voreiligen Uebergriffen bei den ersten Landes¬
versammlungen hinreißen lassen und so der Negierung, welcher die Staatsstreiche
noch geläufig sein werden, die erwünschte Gelegenheit geben, das Institut der
Landtage, als unvereinbar mit dem Wohle des Staats ganz aufzuheben, die Funk¬
tionen derselben aber deu Kreistagen zu übertragen. Dies würde die Centralisi-
rung vielleicht anch nicht auf immer, aber doch auf lange retten, denn die
Theilungspolilik unserer Minister erhielte dadurch den größten Spielraum. Nicht
auf immer, glauben wir, denn es kann keine Idee von Lebensfähigkeit in der
Geschichte auftauchen, und wieder untergehen, bevor sie sich in ihre Konsequenzen
entwickelt hätte. So ist's in Oestreich mit dem unbefriedigten Drang der Natio¬
nalitäten zu persönlicher Geltung zu gelangen, so namentlich mit dem besonnenen
und berechnenden Nationalitätsfanatismus der Slaven, so mit dem ungestümeren
der Magyaren, die eben den Todeskampf ihrer Selbstständigkeit kämpfen, so mit
dem belebenden Unabhängigkeitsgedanken der Polen und Italiener, die zu wieder¬
holten Malen geschlagen, mit um so größerer Leidenschaft zu ihrer Freiheitsidee
zurückkehren. So endlich wird es mit der deutschen Einheitsidee in Oestreich wer¬
den, wenn wir nur einmal von den unsanften Stößen unserer brüderlichen Nach¬
barn wach gerüttelt werden.
In der Verfassungsurkunde vom 4. März ist dieser Anschauung so wenig
Rechnung getragen, daß dem erwachten jngendkräftigeu Drange der Völker nach
möglichst freier Föderation sogar der Tummelplatz der Gesetzlichkeit gegeben wird.
Wir sprechen es wiederholt aus, wenn die einzelnen Landtage diese Freiheit zu leben
und sich, wenn gleich in engen Schranken zu bewegen nicht in vorzeitigen Uebermuthe
zu erweitern suchen, wird die Verfassung vom 4. März von ihren eignen Konse¬
quenzen verschlungen werden. — Denn bald wird die Schwierigkeit einer Verstän¬
digung auf dem allgemeine» Reichstage die vorhandene Neigung der Landtage ih¬
ren Wirkungskreis zu erweiter», zum Bedürfniß steigern, und wenn die Regierung
nicht immer wieder mit eisernen Banden in's Mittel tritt, zu einer noch laxern
Föderation führen, als sogar die Abgeordneten in Kremsier in ihrem Entwürfe
auszusprechen wagten. Schon der in der Urkunde vom 4. März den Landtagen
zugewiesene Wirkungskreis fällt fast mit dem des Entwurfes zusammen. Wenn
auch die Ausführung der noch zu erwartenden Landtagsordnungen manche Grenz¬
linien enger stecke» sollte , als viele eifrige Föderaliste» wünsche», so ist eben doch
das Princip anerkannt und wird sich selbst weiter durchbrechen.
Am Grellsten sehen wir den eben gerügten innern Widerspruch im System der
Verfass»»gsurku»de im »ten Abschnitt der octroyirten Charte und in dem 8. 68.
des 8ten hervortreten. Bei der Redaction der fraglichen Stellen hat offenbar die
Rathlosigkeit den Vorsitz geführt. Denn hier ist in Beziehung auf Kroatien, Sla¬
vonien, Ungarn und Siebenbürgen eine Ansnahmstellung beliebt worden , welche
der Föderation im weitesten Sinne Thür und Thor öffnet. Wie und zu welcher
Zeit kann die Regierung glaube», die Civil- und Strafgesetzgebung, welche sie
jetzt, bei offenstehender Gelegenheit nicht wagt, diesen Kronländern mit einem kuh-
Wahlbezirke kleiner ausgemessen werden müssen, wodurch der allgemeinen Agita¬
tion größerer Spielraum gelassen ist, sodann aber, weil die Privatagitation sich
vorzugsweise auf die Landtagswahlen werfen wird, von denen sie am meisten
erwartet.
Wir haben also gesehen, daß kein Wahlgesetz auf irgend denkbaren Grund¬
lagen der Negierung die Aussicht auf ein gutgesinntes Unterhaus bieten dürfte.
Nur Eines haben wir gefunden, könnte der Regierung helfen, ihre Kandidaten
ins Unterhaus zu bringen, wenn ein Theil des Volkes selbst sich der Wahlen
ganz enthielte, was jedoch unnatürlich und unhaltbar wäre. Wir haben ferner
gesehen, daß auch das Oberhaus aller Wahrscheinlichkeit nach für die Tendenzen
des Ministeriums durchaus nicht gestimmt sein wird. — Aber selbst abgesehen von
allen Schwierigkeiten, mit welchen die Regierung, nach der ganzen vorhergegan¬
genen Argumentation, bei der Durchführung ihrer Pläne zu kämpfen hätte, liegen
die gewichtigste» Gründe vor, eine Centralisirung Oestreichs mit einheitliches
Parlament für ewig unmöglich zu halten.
Denn unmöglich wird es immer bleiben, für die Nationen Oestreichs eine
gemeinsame Parlamentssprache zu finden. Schon auf dem constilnnenden Reichs¬
tag hat der Mangel einer solchen, die von den verschiedenen Nationalitäten be¬
reitwillig anerkannt würde, zu manchen Reibungen, zu ernsten Befürchtungen für
die Zukunft Anlaß gegeben. Damals war aber noch eine Verständigung möglich.
Mit Ausnahme der wenigen Bauern aus Galizien und der dalmatinischen Abge¬
ordneten gab es kaum einen Deputirten, welcher der deutschen Sprache gänzlich
unkundig gewesen wäre, und obwohl bei der gereizten Eitelkeit der andern Na¬
tionen bei ihrem Widerwillen gegen „die Deutschen," bei der im Princip schon
anerkannten Gleichberechtigung ein Auflehnen gegen die deutsche Sprache als der
parlamentarischen für die spätere Zukunft noch öfters bevorstand, war diese still¬
schweigend wenigstens als die allein mögliche anerkannt.
Der constituirende Reichstag war aber von Nationen beschickt, bei denen
unter dem alten Regime die gelehrten, zum Theil selbst die Volksschulen in deut¬
scher Sprache geleitet wurden. In jenen Provinzen war also die deutsche Sprache
jedem Gebildeten wenigstens mehr oder weniger geläufig. Anders aber wird sich
dieses Verhältniß in dem ersten Reichstag nach der octroyirten Charte vom 4.
März gestalten. Wenn wir im §. 1. dieser Verfassung die Namen der Kronlän¬
der, welche den östreichischen Reichstag beschicken sollen, mit der erforderlichen
Kenntniß der sprachlichen Provinzialverhältnisse überlesen, so müssen uus not¬
wendig mehrere Provinzen auffallen, deren Bewohnern weder irgend eine
Kenntniß der deutschen, noch einer andern der übrigen Kronländer gleich¬
falls geläufigen Sprache zugemuthet werden kann. Wir sprechen von den Lom-
parden und Venedig, von Croatien, Slavonien, Siebenbürgen und Ungarn, sammt
seinen serbischen und slovakischeu Distrikten. Die Bewohner dieser Provinzen sind
niemals in der deutschen Sprache unterrichtet worden, und außer in Kroatien,
Slavonien, der Slovakai und dem serbischen Theile von Ungarn, wo in Folge
des'ehemaligen ZwangssystemS der Gebildete magyarisch spricht, gibt es auch
keine Sprache, die mehrern dieser Länder gemeinsam wäre. Italien steht aber
ganz isolirt da, wenn wir nicht etir-a die adriatische Küste Görz und Wälschtirol
daznrechncn und die wenigen Kaufleute ausnehmen wollen, die mit Wien in ti--
realer Verbindung standen und dort zur Noth deutsch gelernt haben.
Nun wäre es allerdings nicht undenkbar, daß alle genannten Nationen in
ihrem gegenseitigen Interesse eine Verbindung eingehen könnten, zu deren Behufe
sie einen allgemeinen Kongreß beschickten. Für diesen Fall wäre es nicht zu be¬
zweifeln, daß der gute Wille, noch, mehr der eigne Vortheil, auf ein Auskunfts-
mittel der gegenseitigen Verständigung führten. Mau würde sich gewiß über eine
gemeinsame Sprache verständigen und nur solche Abgeordnete schicken, welche
dieser Sprache mächtig sind.
Ist aber dies in unserer Lage zu erwarten? Wird nicht einerseits die Eifer¬
sucht der Nationen untereinander, der Haß und die Gereiztheit gegen die östrei¬
chische Regierung von der andern Seite eine jede Einigung unmöglich machen?
Denken wir uns aber jetzt ein Parlament von 60 Italienern, 80 Deutschen,
50 Magva'en, >70 Slaven verschiedener Zunge tagen, wovon die meisten ein¬
ander so wenig verstehen, wie die Arbeiter am babylonischen Thurmbau? Wo ist
hier el» Ausweg zu finden?
Man ist fast versucht zu glauben, daß die Regierung selbst nie an die Ver¬
wirklichung eines solche» Parlaments gedacht hat, daß sie sich blos um jeden
Preis für den Augenblick Nuhe und freie Hand für ihre Pläne schaffen wollte.
Ist aber dieses eine staatsmämusche Berechnung der Zukunft? Kann man
sich heute noch der Hoffnung hingeben, eine Centralisation im Sinne Metter-
nich'S in Oestreich durchzuführen? Durste man um einer solchen Chimäre
willen die Sympathieen und den Einfluß in Dentschland in die Schanze schla¬
gen? Die Staatsmänner Oestreichs scheinen aber den kühnen Ideen nicht gewo¬
gen zu sein und werden vielleicht noch auf den Trümmern des Staates von der
europäischen Nothwendigkeit eines Oestreich träumen.
Druckfehler. In Heft 31, Seite Zeile 8 ist: für Siebenbürgen zu lesen:
Serbien.
Bei einem Werk, welches noch durch keinen bekannten Namen die Aufmerk¬
samkeit des Publikums erregt, ist es nothwendig, auf das einzelne Vortreffliche
hinzuweisen, wodurch es seinen Platz in der Literatur einzunehmen berechtigt ist.
Bei einer neuen Schrift von Gervinus ist das überflüssig. Statt dessen wollen
wir zwei Punkte i» Erwägung ziehn.
Einmal. Welche Stelle nimmt dieses Werk in der Entwicklungsgeschichte un¬
sers Autors ein? Eine Frage, die bei Gervinus wohl an der Stelle ist, da er
keine seiner Studien als ein Parergon betrachtet, sondern überall Totalität ist.
Zweitens. In welchem Verhältniß steht der bestimmte kritische Standpunkt,
den das Werk einnimmt, zu den übrigen, welche die moderne Wissenschaft sich an¬
zueignen die Pflicht hat?
Nur noch eine Vorbemerkung über die Form des Werks. So viel aus den
beiden ersten Bänden ersichtlich ist, wird das, was aus dem Leben und der äu¬
ßeren Stellung des Dichters erzählt wird,.so wie die Skizzen aus dem künstleri-
schen Treiben seiner Zeit uur insofern hereingezogen, als es zum Verständniß der
einzelnen Stücke und des Zusammenhangs unter denselben unerläßlich ist. Die
neuern englischen Kritiker, namentlich Collier, haben in dieser Beziehung die flei¬
ßigsten Studien gemacht, namentlich über die pekuniären Verhältnisse Shakespeare's.
Sehr bedeutend sind wir, aufrichtig gesagt, dadurch uicht gefordert. Gervinus
hat ganz mit Recht nur einen ganz flüchtigen Umriß davon gegeben. Er hat nicht
verfehlt, in jedem einzelnen Punkt darauf aufmerksam zu machen, wie den einzel¬
nen Momenten der poetischen Entwicklung irgend ein Zug im wirklichen Leben
correspondirt, aber er legt keinen großen Accent darauf. Daß Shakespeare große
Leidenschaften und auch große Schicksale durchgemacht haben muß, sieht jeder Leser,
der nicht gerade ein Kind ist; aber welcher Art diese waren, darüber haben wir
nur unzuverlässige Traditionen. In wie fern Shakespeare durch die großen Ge¬
schicke seiner Zeit influirt ist, darauf hat Gervinus, bei seiner pragmatischen
Richtung, nicht das Gewicht gelegt, welches der philosophische Geschichtsschreiber
fordern würde. Ich werde in dem zweiten Theil meiner Arbeit diesen philosophi¬
schen Standpunkt der Kritik anzudeuten versuchen. Vorher müssen wir aber über
den eignen Standpunkt der Schrift und dessen Berechtigung uns ein Verständniß
gewinnen.
Bei einem Manne, der so ganz aus Einem Guß ist, wie Gervinus, läßt
sich erwarten, daß die Maxime seiner historischen Darstellung mit der seines wirk¬
lichen politischen Lebens zusammenfallen werde. Nirgend ist das so anschaulich
geworden, als in seiner Redaction der deutschen Zeitung.
Ich nannte seinen Standpunkt den pragmatischen. Dieser Begriff, ur¬
sprünglich zur Bezeichnung einer ganz bestimmten Erscheinung gebraucht, hat in
der spätern Anwendung, wie es zu geschehen pflegt, einen allgemeinern Umfang
gewonnen. So viel ich weiß, wurde er zuerst an das Geschichtswerk des Poly-
bius gelegt, um dasselbe von dem epischen oder novellistischen Charakter der frü¬
hern Historie zu unterscheiden: als ein Buch, das auf die Belehrung eines Staats¬
mannes berechnet sei. Der Gegensatz des reflectirten Polybius zu einer naiven
Erzählung, wie der des Herodot oder des Zümophon, springt unmittelbar in die
Auge»; wenn man ihn dagegen mit einem Thucydides vergleicht, so erlangt er
eine höhere, eine formale Bedeutung, welche die Griechen sehr wohl an eine
äußerliche Bezeichnung zu knüpfen verstanden. Denn was den Inhalt betrifft, so
wird der denkende Staatsmann wohl aus dem Thucydides eben so viel Belehrung
zu schöpfen versteh», als aus dem Polybius.
Die Sache ist diese. Die früheren Geschichtsschreiber gaben die Thatsachen
in ihrer bunten Mannigfaltigkeit, wie sie sich darboten, nur mit der Rücksicht
künstlerischer Komposition. Sie suchten sich des innern sittlichen Zusammenhangs
eben so wenig bewußt zu werden, als der Differenz zwischen den verschiedenen
ethischen Weltanschauungen, die in der Geschichte collidiren. Denn ein solches
Bewußtsein tritt erst dann ein, wenn durch eine äußerliche Thatsache der Gegen-
sich fühlbar geworden ist. Selbst die ersten Begebenheiten der Perserkriege hatten
noch einen zu naiven, epischen Charakter, als daß man zu dem lebendigen Gefühl
eines innerlichen Kontrastes gekommen wäre. Herodot erzählt viele Einzelheiten
von den verschiedenen Völkern, die wohl einen wesentlichen Unterschied andeuten,
aber diese Einzelheiten nach einem gewissen Parallelismus zu verknüpfen, konnte
ihm nicht einfallen. Erst der peloponnesische Krieg verursachte diesen Bruch im
Bewußtsein. Hellenen und Barbaren, Athener und Pelopvnnesier, Demokraten
und Oligarchen wußten nnn, daß sie nicht mehr gleichgiltig neben einander her¬
gehen konnten, und der geistreiche Zeitgenosse eines Anstophanes und Sokrates
konnte die Reflexion über diesen Gegensatz nicht umgeben.
Thucydides wußte ihn durch seiue künstlerische Natur zu überwältigen. In
den Reden, die er den Gesandten von Athen und Sparta, die er den Demagogen
und Aristokraten in den Mund legt, gibt er sehr deutlich zu erkennen, wie tief
er von dem Conflict der Principien durchdrungen war. Aber obgleich er als
Mitglied einer bestimmten Partei, und noch dazu durch sehr individuelle Schicksale
in diesen Kampf verflochten war, so läßt er doch mit einer wahrhaft grandiosen
Objectivität jedem Standpunkt sein Recht widerfahren. Um nur an ein Beispiel
zu erinnern — von allen Richtungen war ihm gewiß die wüste Demagogie eines
Kleon am meisten verhaßt, und doch frage ich, ob nicht die Rede, die er ihn bei
der Bestrafung Mytilene's halten läßt, von dem einseitigen Standpunkt aus, den
sie eben bezeichnen soll, ein Meisterstück ist.
So verfährt der Pragmatiker nicht. Er verliert das Princip des allein rich¬
tigen Handelns nie aus den Augen, und steht überall mit seiner höhern Einsicht
den wirklichen Begebenheiten kritisch gegenüber. Nicht daß er sich dem engherzigen
Urtheil einer bestimmten Partei hingebe, denn auch diese wird nie die Reinheit
des Princips vollständig ausdrücken; er wird auch die Handlungsweise, die er
verwirft, motiviren, um so gewissenhafter, je höher seine Bildung ist, und sie
eben dadurch gleichsam entschuldigen, aber er wird überall, in dem vollen Gefühl
der Consequenz seines Princips das Bewußtsein hereinbringen: so hätte unter
den gegebenen Verhältnissen gedacht, geurtheilt, gehandelt werden müssen, und
so unterscheidet sich das, was geschehe» ist, von dem, was hätte geschehen sollen.
Was nnn den philosophischen Standpunkt betrifft, von welchem aus zuerst
Hegel mit großer Energie die p-ragmatische Methode kritisirte, mit der ganzen
Schärfe und Bitterkeit, die ein neu gewonnener Standpunkt dem überwundenen
entgegenträgt, so hat es damit folgende Bewandniß. Die Philosophie betrachtet
die Geschichte der Menschheit, wie die Natur, als Totalität. Sie kann also nicht
bei dem Begriff des Widerspruchs stehn bleiben, des Widerspruchs zwischen dem
„Wirklichen" und dem „Vernünftigen", denn Totalität ist eben Aufhebung des
Widerspruchs. Das ist nun weder so zu versteh«, wie es der einseitige Idea¬
lismus auffaßt, daß nach einer Reihe von allerdings nothwendigen Verirrungen,
die Menschheit durch deren Ueberwindung endlich das goldne Zeitalter erreichen
solle, wo Tugend und Glückseligkeit herrschen — im Gegentheil soll die Idee sich
überall verwirklichen, wenn auch in bestimmten, und daher nur bedingt vollkommenen
Formen; noch so, wie es unsere modernen, verschrobenen Atheisten sich auslegen,
als ob der Unterschied von Gut und Böse, Recht und Unrecht, Vernunft und
Unvernunft, überhaupt nur in der Einbildung zu suchen wäre. Das Gute und
Rechte erscheint der Philosophie nicht als festes, unwandelbares, geschriebenes
Gesetz, sondern als Entwickelung, wie alles Lebendige, das nicht einmal eine
classische Gestalt annimmt, und dann nicht mehr ist, was es ist, sondern in jeder
Metamorphose bei sich selbst bleibt, und das Weltgericht ist ihr nicht eine einfache
Correctur fehlerhafter Exercitien, sondern eS ist ihr mit der Weltgeschichte identisch,
die sich selber aufklärt, indem sie ihre Vergangenheit kritisirt.
Für die neuen Geschichtschreiber ergibt sich die Nothwendigkeit, aus der prag¬
matischen Methode herauszugehn, einfach aus dem großen Umfang der Begeben¬
heiten, die der historische Künstler in seinen Nahmen zu spannen hat. Wer eine
allgemeine Weltgeschichte zu schreiben hat, wird gegen die einzelnen Zeitalter un¬
gerecht und daher unwahr werden, wenn er überall den sittlichen Maßstab seiner
Zeit anlegen wollte; er wird in seinem Urtheil wechseln müssen, und es kommt
nur darauf an, ob er es mit Bewußtsein, oder iustiuctiuäßig thut.
Für die Griechen war ein solches unmittelbares Bedürfniß nicht vorhanden.
Einmal war die Zeit und die Localität, die sie umfaßten, immer sehr begrenzt,
> und dann war auch selbst in Beziehung auf den Inhalt ihre Aufgabe eine viel
einfachere. Thucydides z. B. gibt uns nnr die eigentlich politischen Actionen des
Zeitalters, das er darstellt; wenn man nnn erwägt, wie enge dieselben mit dem
ungeheuren sittlichreligiöscn Umschwung zusammenhingen, der in der allgemeinen Bil¬
dung des Volks vor sich ging, so wird man leicht zu der Ueberzeugung kommen,
daß heute so nicht geschrieben werden konnte. Wenn uns nicht Plato, Aristopha-
nes und die Redner erhalten wären, so würden wir aus Thucydides von dieser
innern Krisis nichts erfahren. Das Streben nach Objectivität ging also bei diesem
Geschichtschreiber nur vou dem künstlerischen Bedürfniß ans; bei der begrenzten
Natur seiner Aufgabe hätte ein pragmatisches Etugehn auf die Gegensätze an dem
wesentlichen Inhalt seines Werkes nichts geändert.
Anders ist es bei der modernen Wissenschaft. Je nachdem ein bestimmter
sittlicher Standpunkt, wie es im 17. und im Anfang des 18. Jahrhunderts zu
geschehen pflegte, oder der constitutionelle, wie bei Rotteck, oder der abstract ra¬
dikale, wie bei Bruno Bauer, festgehalten wird, werden auch die Ereignisse eine
vollkommen verschiedene Färbung annehmen, wenn man sich nicht in die künstliche
Naivität der blos novellistischen Darstellung flüchtet. Philosophische Freiheit von
den Bedingungen des endlichen ethischen Bewußtseins ist hente ein wesentliches
Erforderniß eines echten Historikers.
Damit soll aber keineswegs gesagt sein, daß die philosophische Geschichtschrei--
dung in ihrer ersten Erscheinung ein Fortschritt gegen die pragmatische sei. Ab¬
gesehen von einzelnen geistvollen Umrissen, die Schelling gegeben hat, ist Hegel's
„Philosophie der Geschichte" bis jetzt das einzig bedeutende Werk der Art. Es
wird Niemand dies Buch aus der Hand gelegt haben, ohne durch deu großen
Blick des tiefen Denkens überrascht und gefördert zu sein, aber als Ganzes wird
es einen Kenner der Geschichte schwerlich befriedigen. So vielseitig die einzelnen
Gegenstände angeschaut werden, so drängt doch der logische Parallelismus überall
zu dem willkürlichen Hervorheben einer bestimmten Seite, um der Antithese willen,
und die vornehme Manier, mit den mühseligen Studien der Wissenschaft umzusprin¬
gen, als ob sich das alles von selbst verstünde, hat etwas Beleidigendes. Dazu
kommt, daß mitunter etwas Zweifelhaftes oder geradezu Falsches und Absurdes mit
derselben Sicherheit als ein Evangelium verkündet wird, wie die allgemein anerkannten
Thatsachen, und daß das Buch sich fortwährend die Miene gibt, seine Anschauun-
gen seien nicht positive», empirischen Studien entnommen, sondern der absoluten
Wissenschaft, dem System der Logik.
Ein Zeitalter philosophisch aufzufassen, d. h. als Totalität, ist nur derjenige
berechtigt, der es vorher mit pragmatischen Ernst studirt hat, der also über der
Lösung seiner Widersprüche die wirklichen Widersprüche nicht vergißt. Bei einem
Mangel an allgemeiner Bildung ist daher ein Versuch, die Geschichte nach philoso¬
phischen Gesichtspunkte» zu construiren, geradezu unerträglich, so z. B. die Einlei¬
tung zur Revolutionsgeschichte von Louis Blaue. Das begegnet dem Pragmatiker
nie; er wird nicht selten in der Lage sein, einer genialen Erscheinung gegenüber
sich philisterhaft zu gebärden, er wird, weil er dem Endliche» und Einzelnen zu
nahe tritt, bei. der falsche» Perspektive seines Standpunkts von den: Ganzen ein
wunderliches Bild geben, aber er wird sich nie ius Phantastische verlieren. Ein
gesundes, an politischen Ernst und Gewissenhaftigkeit gewöhntes Volk, wie das
britische, kennt keinen andern Standpunkt als den pragmatischen, während die
»euern Franzosen, Thiers und Lamartine nicht ausgenommen, in ihrer Art noch
ebenso naiv und novellistisch die Geschichte erzählen, als es früher Frvissart gethan.
Die vollste Berechtigung aber hat der pragmatische Gesichtspunkt, wenn die
Verkehrtheit der bisherigen Anschauungsweise eine unerbittliche, radikale Kritik
nothwendig macht. In diese», Sinn gebührt Gervinus eine wesentliche Stelle in
der Entwicklung unserer Literatur.
Wir würden seine „Geschichte der deutschen poetischen Nationalliteratur" nicht
richtig würdigen, wenn wir keinen andern Maßstab daran legten, als den histori-,
scher Vollendung. So groß die Gelehrsamkeit ist, die er darin entwickelt, so
reicht sie doch nicht ans, um überall, namentlich in den dunkleren Parthien unserer
Literatur, z„ völlig sichern und abgeschlossenen Resultaten zu führen. Es ist ferner
ein gewaltsames Verfahren, gerade in Dentschland, die poetische Literatur von der
prosaischen zu trennen. Dadurch verliert man nicht nur gerade in den bedeutend¬
sten Perioden allen Faden der Bewegung, es wird auch das, was übrig bleibt,
in ein ganz falsches Licht gestellt. So sieht z. B. das Zeitalter der Reformation
zu wunderlich aus, wenn Luther nur als Dichter von Kirchenlieder» sich geltend
macht, wenn auf seine sonstige Bedeutung für die Literatur, die doch weit größer ist,
als die von Goethe, als auf ein außerhalb der eigentlichen Darstellung Liegendes
nur hingewiesen wird. Vollends das neunzehnte Jahrhundert muß wie ein wüster
Irrgarten der Mystik erscheinen, wenn der Faden zu diesem Labyrinth, das Ner¬
vengeflecht der neuen Literatur, die philosophische Entwicklung von Kant, Fichte,
Jacobi, Schelling, Schleiermacher, Hegel, Strauß, Feuerbach kaum erwähnt wird.
So verwandelt sich das Bild unsers geistigen Lebens in eine Carriccttur, und
z. B. die ganze romantische Schule erscheint als eine willkürliche Verkehrtheit,
während sie, in den richtigen Zusammenhang mit jener dialektischen Bewegung ge¬
setzt, ihre relative Berechtigung sehr wohl behauptet.
Endlich fehlt auch der künstlerische« Form diejenige Vollendung, die das
Kennzeichen eines classischen Geschichtswerks ist. Schon die Aufgabe, die nur eine
einzelne Seite unsers geistigen Lebens umfaßt, läßt eine ruhige, gleichmäßig fort¬
schreitende Erzählung nicht zu; wir sehen fortwährend die Werkstätte des Schrift¬
stellers in seinem unruhigen Schaffen und Treibe», er nimmt jede einzelne Er¬
scheinung vor, sucht den Zusammenhang mit einer andern, frühern oder spätern,
stellt sie mit einer dritten, die aus einer ganz ander» Periode her auf seinem
Secirtisch liegt, in Parallele, rechtet mit ihr, entschuldigt sie u. s. w. Es ist
das freilich zum Theil Manier, man wird Schlosser's Schule nicht verkennen, aber
auch nur zum Theil, denn die Natur der Ausgabe bedingt diese subjective Form.
Es liegt aber darin, daß eine spätere Literaturgeschichte in künstlerischer Vollen¬
dung das Werk vou Gervinus überholen muß.
Dennoch wird es, so lange unsere Literatur besteht, eine wesentliche Stelle
in derselbe» behaupten. Es ist mehr als ein Kunstwerk, es ist eine That; ein
nothwendiger und bedeutender Schritt zur Befreiung unsers Geistes.
Die Hauptkraukheit unseres Zeitalters war die Unsicherheit im Urtheil, die
sich theils in willkürlichen Paradoxien, in Einfällen, welche zum Theil zu fixen
Ideen verhärteten, kundgab, theils in einem hohlen, trostlosen Jndifferentismus.
Diese Geschmacksverwirrung hing mit der sittlichen Unklarheit zusammen; unser
Leben war ohne Gesetz, wie unser Sinn. Ju eitler Sclbstbeschaulichkeit wechselten
wir mit einer souveränen Ironie gegen alles Große und Gute und einem bequemen
Gcltenlassen alles einmal Existirenden. Es war eine Art Aberglauben geworden,
daß nur ein äußerliches großes Ereigniß uns aus dieser faule» Lethargie wecken,
uns elektrisire», uns ein neues Leben einhauchen könne. Aber die Gunst der Götter
hilft der Trägheit nichts. Ein Volk, welches nicht in eigner Thätigkeit seine
Zwecke zu verfolgen im Stande ist, wird durch Revolutionen nicht gefördert. Die
Thätigkeit des Ganzen fällt aber mit den Thaten der Einzelnen zusammen.
Betrachten wir die „Literaturgeschichte" in diesem Licht, so lernen wir ihren
großen Einfluß begreifen und würdigen. Es ist eine Empörung des gesunden
Menschenverstandes gegen die babylonische Sprachverwirrung der modernen Scho¬
lastik. Die vereinzelte Kritik konnte gegen den herrschenden Unverstand nicht auf¬
kommen, sie wurde hingenommen und vergessen; sobald aber das Ganze unserer
Literatur mit der eisernen Konsequenz eines energischen Charakters dem Schema
des romantischen Katechismus entrissen wurde, mußten der Nation die Augen auf¬
gehn. Wenn Gewinns einem Wolfram von Eschenbach mit unbarmherziger Strenge
zu Leibe ging, so lag ihm nichts an der Enthüllung des mittelalterlichen Poeten;
jeder Schwertstreich, der gegen die alten Nittergestalteu geführt wurde, traf in
das Herz der modernen Romantik. Gervinus war — man verzeihe mir das un¬
edle Bild — der kritische Herkules, der den Augiasstall unserer Aesthetik reinigte.
Nehmen wir an, daß in einem Zeitalter früherer, unreiferer Bildung z. B.
ein Nicolai mit größeren Anlage» und größerer Gelehrsamkeit, aber mit demselben
nüchternen Ernst, als dieser vereinsamte Philister im gelobten Lande verschrobener
Genialität, an eine ähnliche Aufgabe gegangen wäre, so hätte das Unternehmen
einen geringen Erfolg gehabt. Zu einem kritischen Werk dieser Art gehört das
sichere Bewußtsein des Sieges, das Gefühl, daß der Stern des Gegners im
Sinken ist. Die Nicolai waren in ihrer Opposition gegen die neue Richtung
hämisch, gedrückt, ungerecht, weil der Strom der Romantik im Wachsen war.
Erst das Gefühl der Überlegenheit gibt die Fähigkeit und das Recht, liberal zu
sein. Und liberal ist Gervinus, trotz seines sittlich-ästhetischen Ernstes, überall,
wo er mit dem Gegner nicht in unmittelbare Berührung kommt. Die Form seiner
Kritik war eine höhere, als die des alten Rationalismus sein konnte, denn sie
hatte ihren Gegensatz nicht durch einfaches Ablehnen, sondern durch gewissenhaftes
Studium überwunden. Nur wo dieses Studium nicht ausgereicht hatte, hört auch
die Liberalität und Gewissenhaftigkeit auf, und so bleibt es immer ein Mangel
auch der ästhetischen Kritik, daß Gervinus die Schule der philosophisch-theologi¬
schen Speculation nicht durchgemacht hat. Daher z. B. die Ungerechtigkeit gegen
die „herzlosen" Atheisten, denen wunderlicher Weise ein Mangel an allem Gefühl
und an allem Glauben zugeschrieben wird.
In diesem Zusammenhang wird das Motto des vorletzten Theils, das aus
Percy die Ironie gegen alles poetische Floskelwesen entlehnt, und die Schlu߬
ermahnung an die Deutschen, jetzt vorläufig die Poesie eine Weile ruhen zu las¬
sen und sich in einer fruchtbareren Thätigkeit zu ergehen, vollkommen begreiflich.
Lieben, du Händlerin? Ich lieb' dich nicht
Und frage nichts nach dir. Ist dies 'ne Welt
Zum Puppenspielen und zum Lippenfechttn?
Ein seltsames Motto für eine Geschichte der Poesie, als Kunstwerk betrachtet,
aber vollkommen passend als Resultat einer kritischen That, die eine überwundene
Periode abschließen soll. Es wird uns denn auch verständlich, wie der Kritiker,
in der Ungeduld diesem neuen Schaffen Raum zu geben, dem Volke gleichsam
den Trost hinwirft, die classische Zeit seiner Literatur läge hinter ihm, und eine
Dichtung, wie die von Schiller und Goethe, sei nicht wieder möglich, während er
aus seiner eignen Kritik besser wissen mußte, als jeder Andere, daß diese Phase
der Bildung nichts weniger als eine classische gewesen sei,
Die Abneigung gegen die Romantik beruhte zum Theil auf der Einsicht in
ihren Nihilismus. Wer seine Pointen nach der Maßgabe seiner Laune oder Stim¬
mung sucht, wird sich nie zur Verfolgung eines bestimmten Ziels, also auch nie
zu einer eigentlichen That zusammenraffen können. Gervinus glaubte aber die
Ueberzeugung gewonnen zu haben, daß unsere ganze Poesie so weit von Romantik
inficirt sei, daß sie in eine neue Wendung zu leite», eine größere Krastaustren
gnug erfordere, als der kühne Griff nach einer ganz neuen Thätigkeit. Als solche
schwebte ihm die Politik vor, freilich wohl noch nicht in ganz festen Umrissen,
denn der Aufruf zu einer Erhebung war ziemlich allgemein gehalten, und schloß
die Idee einer eigentlichen Revolution aus, ließ dagegen die Vorstellung eines
Nationaltrieges durchschimmern. Es lag eine gewisse nervöse Unruhe in diesem
Verlangen, daß etwas gethan werden müsse. Gervinus selber hatte das Glück
gehabt, eine That zu thun in der einzigen Form, wie sie damals dem deutschen
Politiker vergönrt war: er hatte gelitten für das Recht, indem er gegen das
Unrecht protestirt hatte. Das gab ihm eine bestimmte Position nach beiden Seiten
hin, daun die Anerkennung von Seiten der Konstitutionellen siel zusammen mit
der Verachtung der Radikalen, die von dem reactionären Begriff des Rechts nichts
mehr wissen wollten. Diese Stellung wurde noch weiter bestimmt und befestigt
durch das Verhältniß der Parteien in Heidelberg, wo er seine akademische Laufbahn
wieder antrat.
Indem man nun nach allen Seiten hin ängstlich sich umsah, ob es nicht
irgendwo etwas zu thun gebe, ereignete sich der Vorfall mit dem heiligen Rock in
Trier, der Brief des katholischen Priesters Johannes Ronge in den Vaterlands¬
blättern, die Bildung der deutschkatholischen Gemeinden und gleich darauf die
lichtsrcundlichen Proteste. Hier gab es nun eine That, etwas Positives; nun
wurde nicht mehr abstract negirt, soudern construirt; es war eine Anlage, aus
der sich etwas Reelles entwickeln konnte. — Nur jene Ungeduld nach Thaten
macht es erklärlich, daß Gervinus sich über eine so vollkommen lnhalt- und prin¬
cipienlose Bewegung täuschen ließ, daß er es für möglich hielt, eine kirchliche
Reformation könne sich erneuern in einer Zeit, wo man der unbequemen Kirche
nur den Widerwillen der weltlichen Gesinnung, nicht aber den Feuereifer eiues
erfüllten Glaubens gegenüberstellte; daß er die Nichtsnutzigkeit der Personen, die
sich in den Vordergrund drängten, übersah, seiner Idee zu Liebe; daß er endlich
die tiefen und gründlichen Studien, mit denen damals die theologische Kritik das
Wesen des Christenthums überwand, für etwas Unfruchtbares und Negatives
ansah im Verhältniß zu diesem leeren und wüsten Getreide eines armseligen Restes
des alten Rationalismus.
Endlich gab der preußische Centrallaudtag den Anknüpfungspunkt für die
ersehnte politische Thätigkeit. Die constitutionelle Partei, die bisher in der
kleinstaatlichen Krähwinkelei verkümmert war, hatte in dem größten deutschen
Staate ein festes Centrum gefunden. Es kam nun auf zweierlei an: einmal Preu¬
ßen in einen wahrhaft constitutionellen Staat zu verwandeln, und zweitens die
kleinen deutschen Staaten an den Gedanken zu gewöhnen, für diesen Fall Preußen
die Hegemonie zu übertragen. Dieser Gedanke war es, der die Führer der kon¬
stitutionellen Opposition zu Gründung eines Centralorgans veranlaßte, welches
nach beiden Seiten hin wirken sollte. Es wurde unter Gervinus' Leitung ein
Blatt, wie selbst in England und Frankreich noch keines dagewesen war: doctri-
när, wie kein anderes, denn was es Historisches gab, galt nur als Bekräftigung
jenes Grundsatzes, und doch staatsmäunisch, denn es ging ans sämmtliche Fragen,
die bisher Privatgut der Bureaukratie gewesen waren, mit Gründlichkeit und Sach¬
kenntniß ein. Gleichmäßig angefeindet von der spezifisch preußischen Partei und
deren Organe, wie von dem süddeutschen Partikularismus > den Ultramontanen
und Socialisten, ging es gleichmäßig und fest, ohne einen Augenblick zu schwan¬
ken, seinen ernsten Gang, die Fahne der Zukunft in den Händen.
So kam die Revolution. Es war die Partei der Deutschen Zeitung, welche
nach Beseitigung der Republikaner die Bewegung in ihre Hände nahm. Der po¬
litische Führer derselben, Heinrich von Gagern, sprach die Richtung, welche ihr
zu geben sei, im Sinn jenes Blattes zu Darmstadt kurz vor Zusammentritt des
Vorparlaments auf das Deutlichste aus. Aber die Sachlage hatte sich geändert.
Der 14. März führte Oestreich, ohne die Grundlage seiner Macht, die Armee zu
gefährden, die vielmehr in dem italienischen Kriege hinreichende Gelegenheit fand,
ihren alten Ruhm zu bewahren, in die Reihe der deutschen constitutionellen Staa¬
ten ein, und machte die Einberufung der östreichischen Deputieren zum deutschen
Parlament unvermeidlich, während der 18. März den bisherigen Bau des preu¬
ßischen Staats auf eine Weise erschütterte, daß selbst seine Existenz in Frage
gestellt schien. Es war natürlich, daß die Sympathien für Oestreich sich in
dem Grade vermehrten, als Preußens Stern im Sinken war, daß, wenn man
einmal das Princip der Volkssouveränität proclamirte und damit die Ueberzeugung
aussprach, die Nationalversammlung habe nicht nur das Recht, sondern auch die
Pflicht, Deutschland neu zu constituiren und die von ihm abgefallenen Großstaaten
zu erobern, es war natürlich, daß man auf die Eroberung des gesammten Deutsch-
land ausging. Die Partei der Centren war darin mit der Linken ziemlich einig,
und unterschied sich nur durch den Grad der Macht, die sie den Einzelstaaten
lassen wollte, zu Nutzen und Frommen des Ganzen. Es war ferner natürlich,
daß Gervinus, der die logische Consequenz seiner frühern Prämissen mit der gan¬
zen Energie seines Charakters festhielt, im Kreise der Eiuheitsschwärmer verein¬
samte, und sich endlich von der activen Theilnahme an der Tagespolitik zurückzog.
Diese isolirte Stellung horte keineswegs ans, als im October die Constella-
tion sich wieder dahin änderte, daß man auf den alten Plau zurückging. Denn
Gervinus kam es darauf an, einen neuen dentschen Staat zu gründen, der frei
und unabhängig seine eigne Politik verfolgen könne. Nur darum wollte er die
Trennung von Oestreich. Wenn daher Gagern von einer engen Allianz mit Oest¬
reich sprach, die weiter gehen sollte, als eine blos völkerrechtliche, so wieß Ger-
vinus ganz mit Recht nach, daß damit die Hauptsache, die mau durch jene Wen¬
dung erreichen wollte, verloren ginge. Noch schärfer war seine Opposition (in den
bekannten Korrespondenzen vom Rhein, die schon damals mit der allgemeinen
Tendenz der deutschen Zeitung nicht Hand in Hand gingen) seit der preußischen Note
vom 23. Januar, die ihrem wesentlichen Inhalt nach keineswegs dem Gagern'schen
Programm entgegengesetzt war, sondern die nur nach zwei Seite» hin die weiteren
Consequenzen zog, einmal, indem sie den rechtlichen, so wie factischen Fortbestand
des deutschen Staatenbundes, trotz des „engeren Bundesstaats," der innerhalb
desselben geschlossen werden sollte, behauptete, sodann, indem sie den letzteren von
dem freien Beitritt der einzelnen souveränen Staaten abhängig machte. Es war
nur eine weitere und von diesem Standpunkt aus vollkommen richtige Konsequenz,
wenn sie die von der Nationalversammlung entworfene Verfassung nur als eine
Borlage betrachtete, die erst durch die Einwilligung der betreffenden Staaten
Rechtskraft erhalten könne, denn es schien allerdings inconsequent, daß die von
den Abgeordneten des gestimmten Deutschland gegebene Verfassung nur für einen
Theil desselben, für diesen aber unabweisliche Giltigkeit haben sollte.
Die Erklärung vom 3. April und die weiteren Schritte der preußischen Ne¬
gierung zogen das letzte Resultat. Die Sache hatte sich so gewendet, daß Preu¬
ßen der Fortdauer seiner alten militärischen Kraft sich bewußt geworden war und
nun es nicht mehr für nöthig hielt, in Deutschland aufzugehen, d. h. sich von
Deutschland erobern zu lassen, wenn anch unter noch so ehrenvollen Bedingungen,
daß es' vielmehr deu Versuch wagte, uach seiner alten Anlage, die nur durch vor¬
übergehende Umstände aus den Angen gesetzt war, Deutschland oder wenigstens
von Deutschland so viel als möglich zu erobern. Eine Tendenz, welche der ur¬
sprünglichen Idee des deutschen Parlaments so vollkommen entgegengesetzt war, daß
wohl eine politische Versammlung, wie die von Gotha, auf diese neue Wendung
eingehn konnte, nicht aber der Logiker der Revolution, der bei dem festen Gewebe
seiner Schlußfolgerungen stehn blieb, und nun sämmtlichen Parteien ohne Unter-
schied zurufen mußte: ich Stube für euch keine Stelle mehr in meinem System, ihr
seid sämmtlich gleich werthlos, und ich will mit mal nichts weiter zu thun haben.
Die einzige Aufgabe, die ihm in Beziehung ans die Revolution übrig blieb, konnte
nur die sein, sie in ihrer Totalität noch einmal pragmatisch von seinem politi¬
schen Standpunkt ans zusammenzustellen, und das hat er in seinem nächsten Werk
zu thun versprochen; für den Augenblick mußte ihn seine Neigung in eine ideale
Welt treiben, die er sich' und der schlechten Gegenwart als einen Spiegel vorhalten
konnte, und dies Ideal konnte er nach seiner ans das Concrete gerichteten Natur
nur in einer wirklichen Erscheinung suchen. Er hat es in Shakespeare gefunden.
Man konnte leicht in dieser Darstellung einen ironischen Anflug finden. Einem
so verehrten Mann gegenüber, würde es sich von meiner Seite am wenigsten
geziemen. Niemand kann voller die Berechtigung eines edlen Charakters windigen,
der in dem Umfang seiner Ansprüche ebenso maaßvoll, als unerbittlich in der In-
tensivität derselbe ist. sein Weg war unter allen der allem richtige — wenn
die Mehrzahl der deutschen Nation von der Vernunft, dem Patriotismus und der
großherzigen Hingebung beseelt wäre, wie der Kritiker selbst. Dieses Wenn ist
die Achillesferse des Pragmatismus und der doctrinären Politik, die trotzdem im¬
mer noch viel höher steht, als die Brutalität einer hohlen Abstraction, wie sie
die rothen und die weißen Radicalen lärmend verkündigen. Aber es sei uns
auch verstattet, dieser doctrinären Strenge gegenüber die Berechtigung eines Pa¬
trioten, wie Gagern, zu vindiciren, der darum am Vaterlands nicht verzweifelt,
weil seine Geschicke nicht unmittelbar die Richtung nehmen, wie sie die politische
Logik vorschreibt.
Ich sagte, das Werk über Shakespeare wäre eine Flucht ins Ideal. Ich
meine das in demselben Sinn, wie ich seine Geschichte der deutschen Literatur
als eine Kritik der romantischen Geschmacksvcrwirruug auffaßte. Durch diese Ge¬
schichte geht wie ein rother Faden der Gedanke: in solcher Misere hat sich euer
ideales Leben bewegt! durch das Werk über Shakespeare: seht ihr entnervten Men¬
schen eines confusen Jahrhunderts, so ist ein Maun! Dabei ist nicht zu vergessen,
daß was in der Literaturgeschichte von der deutsche» Literatur Schlechtes ausge¬
sagt wird, wirklich schlecht ist, so wie umgekehrt die guten Eigenschaften Shakespear's
in dieser Kritik wirklich herausgetrieben werde», nicht blos prophetisch angedeutet,
wie es vou der romantischen Schule geschah. Und es ist der gesunde und libe¬
rale Blick zu bewundern, mit dem gerade diejenigen Seiten des Dichters, die dem
dentschen Gemüth am unbequemsten sind, in ihr Helles Licht gestellt sind. Daß aber
der Gesichtspunkt doch ein verschiedener ist, zeigt sich gleich an einigen Beispielen.
So wird die ungesunde, phantastische Sentimentalität in den Sonetten, die leere
Witzspielerei und die offenbar sehr schülerhafte Composition in „Verlorne Liebes¬
mühe" in Schutz genommen, allerdings dadurch, daß Gervinus Seiten auffindet,
die ihre Berechtigung haben, aber ich frage, ob er eine derartige Objectivität bei
den neuern deutschen Dichtern beobachtet hat? Ich komme auf das Einzelne bei
einer andern Gelegenheit zurück. Hier uur noch eine allgemeine Bemerkung.
Eine kritische Bearbeitung Shakespeares wird für die Entwicklung unserer
eignen Kunst uur dann vortheilhaft sein, wenn wir dasjenige, was dem Geschmack
und der Mode jeues Zeitalters, der Einrichtung des Theaters, oder auch geradezu
der Abhängigkeit von den vorgefundnen Quellen angehört, scharf hervorheben, und
überall nachweisen, wie unter den gegenwärtigen Verhältnissen die Aufgabe zu
fassen wäre. Gewinns stellt sich die entgegengesetzte Aufgabe. Es ist eine Apo¬
logie in edleren Sinn: der Nachweis, wie Alles was auf den ersten Augenblick
als Fehler aussieht, wenigstens seine wesentliche Begründung in irgend einem leicht
übersehenen Gesichtspunkt hat. Shakespeare ist allerdings unter allen Dichtern
derjenige, der eine solche Kritik am meisten verdient.
Es gibt noch einen dritten Standpunkt, den philosophisch-historischen, der
in Shakespeare nicht den einzelnen Dichter sieht, sondern den Ausdruck einer be¬
stimmten Weltbildung, der gegenüber das Interesse für die Persönlichkeit und selbst
der ästhetische Maaßstab theilweise verschwindet. Ich kann diesen Standpunkt hier
freilich nur flüchtig und im Umriß andeuten.
Indem wir den Dichter in die Ferne zurückstellen, erweitert und verändert
sich die Perspective. Wir sehen ü< den bunten Bildern, ans denen wir unsere
eignen oder die allgemein menschlichen Schicksale herauszulesen pflegten, blos da¬
durch, daß jetzt ein anderes Licht ans sie fällt, und daß die Detailarbeit unsere
Aufmerksamkeit von dem großen Ganzen nicht mehr abzieht, den Titancnkampf
einer in sich selbst gewaltig ringenden Zeit dargestellt.
Es sind, wenn wir genauer zusehn, drei verschiedene Momente, drei Welt¬
formen, die unmittelbar vor und nach Shakespeare anseinandcrsielen, welche in
dieser Dichtung zwar nicht ihre Versöhnung, aber ihre bestimmte Beziehung zu
einander finden.
Das mittelalterliche Ritterthum mit seinen Liebesabenteuern und seiner katho¬
lischen Frivolität, das in den blutigen Kriegen der rothen und weißen Nose schein¬
bar vollständiger untergegangen war, als auf dem Kontinent, in der That aber in
dem großen normannischen Adel bis zu unsern Tagen wenigstens noch mehr Gel-
tung behauptet, als in irgend einer andern Nation.
Der finstere Geist des Pnritanismns, der, im folgenden Jahrhundert zur
Herrschaft berufen, seinen schwarzen Schatten bereits unheimlich über das Leben
der Gegenwart und die Seelen derer, welche ihr angehörten, ausbreitete.
In der Mitte die derbe Realität des sächsischen Bürgerthums, das sich Spa-
ter mit grandioser Einseitigkeit in Amerika eine eigne Welt gegründet hat,
das aber hier, zwischen das conventionelle Adelswesen und das düster brütende.
Christenthum eingeengt, sich durch Humor und Originalität befreite.
Es läßt sich in den Werken des Dichters nachweisen, wie seine erste Ent¬
wickln ngsstnfe darin lag, daß er sich von dem Mittelalter befreite, während in
seinem späteren Alter der Geist des Protestantismus über ihn kam und ihn mit
eben so tiefen als düstern Gedanken durchschauerte. Seine eigentliche Natur war
jener altenglische Realismus, der aber mit sehr wenig Ausnahmen in seinen Wer¬
ken nirgend rein und unzersetzt von fremden Elementen auftritt.
Ich meine das nicht blos so, daß jene verschiedenen Stufen der Weltbildung
den Inhalt seiner Werke ausmache», vielmehr spricht diese Differenz sich auch in dem
Geist aus, der sie belebte. Verfolgen wir nun diese drei Momente im Einzelnen.
Zuerst das Ritterthum. Bekanntlich war der normännische Adel der
erste der Welt, in der Tapferkeit wie in der Galanterie. Die Zeit der Kreuz¬
züge fand ihren berühmtesten Helden in Richard Löwenherz, und in Beziehung
auf die folgenden Jahrhunderte darf man nur den Froissart aufschlagen, den
Homer des Mittelalters, um über das Uebergewicht der englischen Waffen außer
Zweifel zu sein. Die langen Bürgerkriege hatten zwar diesen Adel ausgerottet,
wie im Gedicht die Häuser der Tybalt und Mercutiv, und ein neues Herrscher¬
haus mußte sich auf deu Bürger stützen, da die alten Barone in die Gruft ihrer
Väter gegangen waren. Aber der Geist dieses Adels war keineswegs gebrochen,
wenn auch die alten Namen an neue Geschlechter vererbt waren, er hatte die
Idee der Lehnstreue und der Legitimität viel tiefer in sich verarbeitet, als in den
romanischen Nationen geschehen war, er sammelte sich von Neuem um den glän¬
zenden Hof der Elisabeth, er trat unter den Stuarts in der Par'dei der Kavaliere
den bürgerlich-puritanischen Runde'öpfen gegenüber, und setzte dann den alten Krieg
der rothen zur weißen Rose in den parlamentarischen Kämpfen der Whigs und
Tones fort, bis endlich der tiefer eingehende Streit bürgerlicher Interessen diese
alten aristokratischen Coterien absorbirte, bis die Tones einen Peel an ihre Spitze
stellten, die Whigs sich mit einem Cobden verbanden. Aber ein Volk, das noch
im 19. Jahrhundert einen Dichter wie Walter Scott hervorgebracht hat, ist mit
dem Adel noch nicht fertig, und das ist keineswegs ein Mangel, denn so ver¬
derblich der Adel für die Entwicklung eines Volks ist, wenn er die Kräfte des¬
selben absorbirt oder wenn er es mit äußerlicher Gewalt unterdrückt, so heilsam
ist er, wenn er mit seinem freien Blick zu deu engern Zwecken des Kaufmanns,
Fabrikanten u. s. w. in ein bestimmtes, bildendes Verhältniß tritt. Englands
Größe liegt nicht lediglich in seinem Handel und Manufacturen, sondern in der
Vermittelung, welche diese Interesse» mit dein kriegerischen Geist der Normannen
aus der Hastingöschlacht und de» Tage» von Cressy und Agincourt gesunde» haben.
Ein bloßes Kräinervolk wird die Weltgeschichte nie fördern; aber merlantileJnteressen,
um deretwillen ein Hannibal Italien erobert, oder ein englischer Feldherr eine
kriegerische Nation in den fernen Bergen von Indien unterwirft, verdienen allen
Respect.
Wie aber der englische Adel zu dieser Einigung mit dem Wesen des Volks
gekommen ist, das lernen wir nirgend besser als aus Shakespeare. Ich will hier
gleich die Bemerkung vorausschicke», daß die drei Momente, die ich in seiner Dich¬
tung geschieden habe, keineswegs in gleichgiltiger Vereinzelung neben einander
hergehen, daß vielmehr die Probleme des spätern sich aus den Resultaten des
frühern Standpunkts entwickeln. Ich hebe hier nur die eine Frage hervor, die
nach Recht oder Unrecht, eines der schwierigsten Räthsel, an denen der Protestan¬
tismus sich abarbeitet. Das Mittelalter hatte diese Frage seinen Pfaffen überlassen,
es hatte sich von naiven Zwecken bestimmen lassen und erst nach der That sich
bei dem Beichtvater darnach erkundigt, was es mit dem Verhältniß derselben
zum Gesetz des Himmels für eine Bemanduiß habe. Der Beichtvater gab dies
Verhältniß an, und zugleich das gute Werk, wodurch man mit dem Himmel ab¬
zurechnen habe und die Sache war in Ordnung.
Im Heinrich VI., dessen drei Theile ziemlich nach den alten Chroniken copirt
sind, findet sich diese naive Auffassung noch ganz, nur daß die kirchlichen Ver¬
hältnisse schon so gelockert sind, daß auch die Buße zurücktritt, obgleich sich in dem
Plan Heinrichs IV., durch einen Kreuzzug sein begangenes Unrecht zu sühnen, so¬
wie in den guten Werken, die sein Sohn und Nachfolger zu denselben Zwecken
verrichtet, noch sehr deutliche Anklänge an diese Weltanschauung vorfinden. Aber
schon zeigen sich in den Reflexionen, die der Dichter hinzuthut, Spuren von der
höhern Rechtsauffassung, die in Richard zum ersten Mal mit dämonischer Ener¬
gie, in Richard II. und Heinrich IV. mit viel größerer Tiefe, endlich in Stücken
wie Cäsar u. s. w. mit dem vollen Bewußtsein eines sittlichen Princips ausge¬
sprochen werden. Die Natur des Conflicts, welcher in der realen Welt zu einer
Ueberwindung des Mittelalters führte, brachte in der Dichtung diese Dialektik
der Idee hervor. Denn es war hier Recht gegen Recht, oder Unrecht gegen Un¬
recht, von der ersten Usurpation des Hauses Laukaster an , das in der einseitigen
Verfolgung seines guten Rechts mit historischer Nothwendigkeit zum Unrecht, zur
Usurpation geführt wird. In der Partei der weißen Rose tritt dann das Princip
der abstracten Legitimität dem Princip der unmittelbaren Lehnstreue gegenüber.
Es sind diese Principien nur zur Hälfte die Ursachen des Kampfes, denn das
Gewicht der angebornen Tüchtigkeit, sowie der persönlichen Anhänglichkeit gibt
eigentlich den Ausschlag. Zuletzt gerathen sie ganz in Vergessenheit, es bleibt
nur die Pflicht der Blutrache, das Zusammenhalten der Familie, bis auch dieses
letzte sittliche Moment, mit dem noch Richard M. begann, in nothwendiger Folge
in dem souveränen Willen des persönlichen Ehrgeizes untergeht. Die Einseitig¬
keit des Rechts ist das Unrecht: «ummum jus «nennen injuri-,,; mit diesem hö-
Herr Standpunkt, der auch im Cäsar maßgebend ist, überwindet Shakespeare die
abstracten Gesetze der mittelalterlichen Ehre. Ganz in diesem Sinn sagt Jago:
>Vb<ZU l1t!vit!i pill ibi-ir >it,'l>5l>»t !>in« p»t VN,
1'>I>!V >l» «Ußgi-se !»t soft >vit>! b«!Ap<rio iilicovs,
und später:
80 will l Arm um- villu«! mir ^neu,
^>ne nut et >><?r non A«it>ein>'«» in.'tlvi? elle n«!>,
l'Jene 8>>»>> VNttIKsIl >Il»!>» !it>.
Vergleichen wir mit dieser Dialektik des Nechtsbewußtseins, wie sie der
Germanische Protestantismus hervorgebrachthat, die fixirte Welt sittlicher Con-
venienz, wie wir sie in dem katholisch-romanischen Drama finden, namentlich in
dem größten Dichter desselben, in Calderon. Die spanische Ritterschaft hat sich
als Ganzes nur äußerlich bethätigt, in den Mohreukämpfen,; die zerstreuten Con¬
flicte zwischen den einzelnen kleinen Staaten konnten kein allgemeines Nechtsprincip
hervorbringen, und mit der Vereinigung Spaniens tritt auch unmittelbar der
volle Absolutismus ein. Der Adel mit seinem Idealismus tritt in den Dienst
des Thrones, das Volk hat keine Gelegenheit, sich geltend zu machen; wenn es
einmal über seine gewöhnliche Stellung von Bedienten und Gracivso's heraustritt,
wie im Alcalde de Zalamea, so muß es den dürftigen Inhalt seiner sittlichen
Berechtigung sich entweder mit dreister Hand von dem Adel entlehnen, oder sich
ihn von der Krone octroyiren lassen. Die Gesetze der Ehre sind, wie die katho¬
lischen Dogmen, so fest, daß sie eine innerliche Vermittelung nicht zulassen; sämmt¬
liche spanische Dramen sind complicirte Rechenexempel, in denen der Conflict der
verschiedenen Pflichten äußerlich, in novellistischer Naivität, dargestellt, und äußerlich,
mit verstockter Pedanterie, gelöst wird Ebenso abstract sind sich später auch die
politischen Parteien, die Progresststen und Moderados, einander gcgenübergetreten,
sie haben sich bekämpft, ohne sich an einander zu bilden, und darum ist es mit
der Verfassung nie Ernst geworden.
Wenn das Rechtsgefühl in seinem Bruch überhaupt schon ein höherer Stand-
punkt ist, als das unmittelbare, so ist Shakespeare noch weiter gegangen. Im
König Johann widerholt sich ein ähnlicher Conflict, wie in den übrigen histori¬
schen Stücken, nur mit der bestimmtere» Wendung, daß die Partei des abstracten
Rechts sich mit deu Ausländern verbindet. Sie kommt später davon zurück, und
der Bastard, eine der am meisten charakteristischen Figuren unsers Dichters, schließt
das Stück mit einer feurigen patriotischen Rede. Die Idee dieses Patriotismus
ist uns jetzt trivial, damals aber war sie eine neue Idee, denn nicht die Natio¬
nen, sondern das adlige Lehnsgefolge der Könige hatte sich im Mittelalter geson¬
dert. Dieser Gedanke: wie auch der König beschaffen sein mag, er ist die Ein¬
heit, an die sich die Idee meines Vaterlandes anknüpft, und ich muß ihm darum
zur Seite stehn, ist ein wesentlicher Fortschritt über die einfache Lehnstreue hin¬
aus. Noch schöner ist im Coriolan der innere Bruch dargestellt, den der Bruch
mit dem Baterlande zur Folge hat, wie verächtlich auch die Form erscheinen mag,
in welcher das Vaterland sich im Augenblick darstellt. Der normannische Edelmann
mit seinen aristokratisch feinen Händen, seinem sichern Schwert und seinem ritter¬
lichen Muth, mochte gerade so auf die Masse herabsehn, wie Coriolan, er durfte
aber mit seinem ebenbürtigen französischen Standesgenossen nicht zusammengehn, denn
trotz seines Stolzes und seiner Rache hatten doch alle Fasern seines Herzens im
Baterlande Wurzel geschlagen.
Den Stoss, den das Mittelalter Shakespeare für seine historischen Dramen
in der Chronik von Holinshed aufbewahrte, überlieferte es ihm für seine andern
Werte in den italienischen oder nach italienischen Mustern zugeschnittenen Novellen.
Es waren Liebesgeschichten und Nvcntnren, so bunt, gedankenlos und frivol, wie
das Mittelalter überhaupt, wenn es poetisch wurde, Geschichten, die am Hofe
Elisabeths noch immer ihre Stelle fanden. In Walter Scott's Kenilwvrth ist eins
dieser Verhältnisse dargestellt, in sehr genauer Nachbildung wirklicher Begebenheiten,
die zum Theil in das Leben Shakespeare's und seiner Familie selber eingrifsen (er
gehörte zu den Urteils, die in ihrer Grafschaft mit den Dudley's, ans denen Graf
Leicester stammte, rivalisirten), und ich frage, ob diese Novelle nicht an Interesse
mit jeder Italienischen wetteifern kann, die Shakespeare dramatisirte. Der Schauspieler
mochte durch seine aristvkraiischen Verbindungen mit dieser ritterlichen Courtoisie ge¬
rade so weit in Berührung geloimnen sein, an, was allgemein Menschlich darin war,
zu theilen — denn der Dichter von Romeo, Antonius, Othello, muß auch in der
Liebe große Schicksale erlebt haben — und doch uicht so nahe, um in dem Ein¬
gehen in dieselbe den höhern dichterischen Gesichtspunkt zu verliere». Schon in
seinen frühern Werken, so leicht er auch mit den Stoffen tändelt, ist das rein
äußerliche Liebesschicksal, wie es in diesen Novellen dargestellt ist, auf tiefere Be¬
züge zurückgeführt. Schon in einem seiner ersten Gedichte ist der Keim der gro߬
artigen tragischen Blüthen seiner spätern Zeit niedergelegt. „Hinfort," so lautet
der Fluch der Venus bei dem Tode ihres Lieblings Adonis, „soll Sorge der
Liebe steter Begleiter sein, sie soll gefolgt sein von Eifersucht, und süßen Anfang,
bitteres Ende haben, nie unter Gleiche getheilt sein, sondern unter Hoch und
Niedrig, so daß der Liebe Lust nie ihrem Leide gleichkomme. Sie soll unstät,
falsch, betrügerisch; knospen und welken in einem Athemzuge; im Grunde Gift,
am Rande mit Süßigkeit umzogen, daß sie auch das treueste Gesicht betrüge.
Den stärksten soll sie am schwächsten machen, den Weisen stumm schlagen und den
Narren sprechen lehren. Das hinfällige Alter soll sie tanzen lehren, den trotzigen
Raufbold in Ruhe bannen, den Niesen niederwerfen und den Armen mit Schätzen
beladen. Sie soll sein rasend toll und albern mild, und den Jüngling alt und
den Greis zum Kinde machen. Sie soll argwöhnen, wo keine Ursache ist, und
nicht fürchten, wo sie am meisten mißtrauen sollte; sie soll erbarmend sein nud
allzustreug, höchst trügerisch, wo sie gerecht erscheint, und störrisch, wo sie schein¬
bar lenksam ist. Sie soll Furcht dem Muthe und Muth deu Memmen verleihen;
soll Ursache werden zu Krieg und schrecklichen Thaten, und Zwietracht säen zwi¬
schen Sohn und Vater, dienstfertig und fordernd jedem Zwiespalt, wie trockner
Zunder für das Feuer ist." Es ist kaum nöthig daran zu erinnern, wie voll¬
ständig sich diese Idee in Antonius, Romeo u. s. w. in Fleisch und Blut ver¬
wandelt hat. Daß er selber die Thorheiten der Liebe, die er mit so großer Vir¬
tuosität schildert, ausgeübt habe, darauf deuten u. a. seine Sonette hin, die sich
auf ein zwar natürliches aber nicht recht gesundes Verhältniß beziehen, ein Ver¬
hältniß, wie es in l'wolt't-ni^Ill zwischen Sebastian und Antonio sehr fein und
zart nachgebildet ist. Ich bemerke beiläufig, wie Gervinus ganz mit Recht ans
die Keuschheit Gewicht legt, mit der Shakespeare, so sehr unser prüdes Zeitalter
sich davor entsetzen mag, die bedenklichsten Gegenstände behandelt hat.
Deu Stoff hat der Dichter, wie er ihn in seinen Novellen vorfand, fast im¬
mer treulich festgehalten. Das unbedingt für einen Vorzug auszugeben, wozu
man gegenwärtig geneigt ist, mochte denn doch bedenklich sein. Es ist immer etwas
Jncommensurables, das der herrschenden Idee sich entzieht, das noch uicht ganz
überwundene Mittelalter. Was aber die Behandlung betrifft, so vertieft sie sich von
dem frühesten Werk an ins Innerliche, obgleich darin von ^it's nell, thut c-uds
voll bis zu Hamlet eine ungeheure Gradation stattfindet. In dem ersteren ist
nur mit kleinen, zarten Zügen ein innigerer Zusammenhang hineingedichtet, im
letzteren ist die ursprüngliche Idee ganz auf deu Kopf gestellt. Davon später.
Hier nur noch ein Beispiel, wie selbst die charakteristische Frivolität der alten No¬
velle, ihr phantastisches gedankenloses Wesen, vergeistigt ist. Der Sommernachts-
traum ist nichts als eine Schnurre, so sehr sich unscie Romantik gegen diese Be-
zeichnung sträuben mag, die Komik ist sogar zuweilen gröber als nöthig, und das
Durchschimmern der (hier ironischen) Idee durch die bunte Wirthschaft der Novelle,
was die Romantiker als einen großen Vorzug bewundern, ist in ästhetischer Be¬
ziehung offenbar ein Fehler, ein Mangel an Kraft, denn die Idee soll in der
Poesie nicht durch die Realität blos durchscheinen, sondern sie soll sich realisiren.
Aber dennoch ist in dieser phantastischen Welt ein großer Idealismus, wenn man
sie mit dem entweder allegorisch zugestutztem oder gedankenlosen Elfen- und Geisterwesen
des Mittelalters vergleicht; derselbe Fortschritt, der von den italienischen Masken,
vom spanischen Gracioso, vom altenglischen Hanswurst, der neben der Tragödie
her, seine Späße macht, zum Clown führt, der wesentlich in die Tragödie ver¬
webt ist, (Falstaff), derselbe Fortschritt vom romanischen Cavalier zum englischen
Gentleman, vom arkadischen Schäfer zu den Waldsamen in z?on lito it —
von der Ironie zum Humor. Dieser Fortschritt besteht darin, daß das Fleisch
und Blut, welches das spiritualtstische Mittelalter mit der Ironie seines uns das
Ueberirdische gerichteten Glaubens in seiner empirischen, unvermittelter Rohheit
läßt, daß mit einem Wort die Natur in der protestantischen Poesie als eigentli¬
cher Träger des Geistes sich idealisirt — wie das englische Bürgerthum sich idea-
lisirte durch den ihm inwohnenden Geist der Freiheit und Originalität, nicht, wie
bei den Romanen (und beiläufig in den südlichen Malerschulen) durch Nachäffung
des ihm entgegengesetzten idealen Standes. Dies sührt uns auf das zweite
Moment in der Shakesspeareschen Poesie.
Es ist dies die eigentliche Grundlage des realen und des poetischen Lebens
bei den Engländern und bei den Deutschen überhaupt. Denn auch wir haben sie
gekannt, diese Natnrwnchsigteit, obgleich uus jetzt keine Ahnung mehr davon ge¬
blieben ist. Wenn man zuweilen fragt, warum wir jetzt keine Humoristen mehr
haben, warum in unserer Malerei wie in unserer BellcNistik ewig der blasse lang¬
weilige Mondschein strahlt, so ist die Antwort eben so einfach als traurig. Wo
soll der Dichter oder der Maler in unserm verkümmerten Leben Figuren finden,
bei denen er mit Behagen verweilt? Figuren, die man prügeln konnte, über die
man aber lacht. Man vergleiche den Jean Paul mit Boz: hier welch überspru¬
delnde Lustigkeit, welch buntes, in frischer Mannigfaltigkeit durcheinander wogendes
Treiben! Dort uur ein Sehnen nach der Natur, die der arme Träumer zuletzt in
Aepfelblüthen, Flötentönen und ähnlichen irrationeller Erscheinungen zu suchen hat.
Und doch hat es eine Zeit gegeben, wo es auch in Deutschland an Ursprünglich¬
keit nicht fehlte. Man nehme ein beliebiges Buch von Luther oder Hans Sachs
zur Hand, und man wird finden, hier ist Stoff genug zu zwanzig Dickens! Warum
unser Leben so in die Misere gerathen ist, kann man leicht erkennen. Zuerst haben uns
die Pfaffen verdorben, und dann die Kleinstaaterei. Die mittelalterlichen Pfaffen
haben mich gegen den Teufel gepredigt, und die Ungläubigen und Ketzer verbren¬
nen lassen, aber wenn es dunkel wurde, warfen sie die Kaputze herunter vom
feisten Gesicht nud tanzten im lustigen Hexen-Sabbat mit den übrigen Weltkindern.
Aber nachdem der heilige Geist in alle Welt gefahren war, stand auf der einen
Seite der mürrische Bruder Lutheraner, und jammerte über das Elend dieser
Welt, auf der andern der gottselige Bruder Jesuit, nud verdrehte die Augen
und lispelte von der Glorie der gebenedeiten Jungfrau Maria. Das ganze Le¬
ben wurde ein Mittelding zwischen einer Betstube und einem Hospital. Und hät¬
ten diese Frommen noch wenigstens aus ihre eigne Faust im Weinberge des Herrn
gewirkt, wie es in England geschah! Auch dort gab es eine Ueberzahl solcher
kurzgeschorner, langohriger, näselnder und augeuverdrehender Heiligen, die mit
Bibelsprüchen antworteten, wenn man sie nach dein nächsten Weg fragte, und mit
Psalmen, wenn man sie gehen hieß. Aber diese frommen Priester dienten einem
starken und eifrigen Gott, und nahmen das Schwert in die Hand, wenn die
Mauern von Jericho vor ihren Psalmgcsängen nicht einstürzten. Einer von diesen
Heiligen war Oliver Cromwell, er hat die Augen verdreht, genäselt und Psalmen
gesungen, wie einer, aber der Geist Alt-Englands ist mächtig gewesen in ihm,
und der Heilige wurde ein Held und ein großer Staatsmann. Znlejzt ward es
auch den Frommen zu unbequem in dem lustigen grünen England, und sie wan¬
derten einer nach dem andern in die Urwälder von Amerika, wo sie in dem
Drang unmittelbar praktischer Beschäftigung gesundeten. Unsere Priester dagegen
spielten das Staatswesen in die Hände der Herren, und so bekamen wir bald so
viel Herren, daß der Deutsche bald nichts anderes kannte, als Hofprediger, Hof-
lakeien, Hofräthe und Hofseifensteder, die Maitressen mit höchstem Gefolge unge¬
rechnet. Und was nicht in diese Kategorie gehörte, wurde Rekrut und später
Feldwebel. Unser Leben war entweder ein Krähwinkel oder eine Kaserne, und
darüber ist der tüchtige deutsche Stamm verkümmert, und wird sich erst wieder
erheben, wenn er aus der neuen Bühne, die ihm jetzt eröffnet ist, mit einiger
Mühe gelernt haben wird, ans eignen Füßen zu stehn.
Warum hat England die beste Verfassung nnter allen Staaten? Weil jeder
Einzelne autonom, selbstständig und bis zum Eigensinn, ja bis zum Spleen un¬
abhängig ist. Ein Volk, in dem jeder Einzelne sich Nasen und Ohren abschneiden
läßt, nur um nicht den Penny Steuer zu zahlen, der ihm unrechtmäßig auferlegt
war, verdient, frei zu sein. Damals uuter der jungfräulichen Königin war das
Recht der Engländer noch keineswegs so fest; sie ließ einmal das Hans der Ge¬
meinen, das eine neue Steuer verweigerte, eine Stunde lang auf den Knien lie¬
gen, und schalt es während der ganzen Zeit ans das Heftigste ans; der Puri-
tanismus mußte kommen, die verschiedenen Momente der freisinnigen Opposition
in einander zu schmelzen. Aber dafür gewann unter ihr der Engländer einen
großen Blick übers Meer hinaus; er konnte sich rühmen, die Macht des stolzesten
Königs gebrochen zu haben, und überall für die Freiheit der Völker einzustehn.
Zugleich kam über das Meer Kunde von dem Wissenswerthen aller Zeiten, nicht ans
einmal, sondern einzeln, so daß es sich organisch in dem Geist der Nation verbreiten
konnte. Die Bühne Shakespeares hat überall eine sehr weite, ja universelle Per-
spective; aber ihr Centrum steht immer fest in der Heimath, nnter den englischen
Eichenherzen, und wenn der britische Gentleman die Welt als bunte Bülme be¬
trachtet, und mit ihr Possen treibt, wie mit sich selbst, so hat er das Recht zu
diesem Humor, denn man kann lange an ihm herumspotten, ehe man den Adel
seiner Natur wcgspotten wird. Das unterscheidet Prinz Heinrich, Percy, Mciculio,
den Bastard u. s. w. von den humoristischen Molusken, wie wir sie in der deut¬
schen Literatur zu D ujzenden um uns sehen. Die niederländische Malerei wie die
Gemüthlichkeit des Kaminfeuers hat nur dann den rechten Werth, wenn es kräf¬
tige Gestalten sind, die einmal mit sich selber spielen.
Von allen vortrefflichen Eigenschaften Shakespeares tritt uns diese am ersten
entgegen, weil wir an einen freien, gesunden Realismus so wenig gewöhnt sind.
Und doch ist sie es nicht gerade, was ihn am meisten vor seinen Landsleuten aus¬
zeichnet. Diese derbe Natur finden wir selbst in den puritanischen Zeiten, selbst
in der sogenannten classischen Geschmacksverbildung in der populären englischen
Literatur überall wieder. Selbst Milton geht in seinem gesunden Realismus so
weit, daß er die Erzengel sich durch derben Appetit, wie durch andere Tugenden,
von den schwächeren Sterblichen unterscheiden läßt, ähnlich den olympischen Göt¬
tern bei Homer: man möge diesen Zug in einem so spiritualistischen Gedicht nicht
genug schätzen. Klopstocks verschwommene, blasse Engelsgestalten sind darum leb¬
los, weil sie diese Grundlage alles Lebens entbehren. Realismus ist in Ben
Johnson, Smollet, Fielding u. s. w. bis zu Marryat und DickeizS herunter
soviel als in Shakespeare, der Unterschied ist nur, daß es hier beim Drolligen,
beim Origineller bleibt, und daß die höhere Vergeistung fehlt.
Ich eile zum dritten Punkt. In Shakespeare's spätern Werken finden wir —
ich erinnere nur an Hamlet, Timon und Lear — vorherrschend eine finstere, tiefsinnige
Stimmung, die gegen den heitern Ton seiner frühern Schauspiele zu auffallend absticht,
als daß man sie nicht mit einer innern Umwandlung in dem Geist des Dichters
in Zusammenhang setzen sollte. Möglich, daß die Veränderung der äußern Ver¬
hältnisse seit dem Tode Elisabeths, das Anwachsen der specifisch religiösen Interessen
der Kunst gegenüber ihn verstimmt hat. Aber das ist nicht die Hauptsache. Wir
haben zu deutliche Symptome, daß der düstre Schatten, der sich in dem purita¬
nische» Wesen über England ausbreitete, anch an des Dichters Seele nicht vor¬
übergegangen sei.
Der Deutlichkeit wegen nehme ich gleich ein bestimmtes Beispiel. Mit einer
gewissen sittlichen Entrüstung theilt Gervinus Voltaire's Kritik über Hamlet mit,
der zu dem Endresultat kam, es sehe ans wie das Werk eines betrunkenen Wil¬
den von großen Anlagen. „Hamlet, so charakterisirt er das Drama, wird im
zweiten Act ein Narr, und seine Geliebte im dritten eine Närrin, der Prinz tödtet
den Vater seiner Geliebten, indem er sich stellt, als tödte er eine Ratte, und
die Heldin stürzt sich ins Wasser. Man macht ihr Grab auf dem Theater; die
Todtengräber sprechen Quodlibets, die ihrer würdig sind, indem sie Todtenköpfe
in der Hand halten; der Prinz antwortet auf ihre widerwärtigen Thorheiten mit
Rohheiten, die nicht weniger widerlich sind. Während dem macht einer der Schau¬
spieler die Eroberung von Polen. Hamlet, seine Mutter, sein Stiefvater trinken
zusammen auf dem Theater, man singt bei Tisch, man zankt sich, man schlägt sich
und ermordet sich."
Bei der Verehrung, die wir schon von Jugend auf wie aus dem Katechis-
Mus gegen Hamlet gelernt haben, wissen wir freilich nicht recht, was wir mit
dieser närrischen Exposition machen sollen. Aber Gewinns versteht doch sonst Spaß.
Wenn er seiner Literaturgeschichte das Motto aus Percy vorsetzte, trotz aller Ach¬
tung, die er vor dem Geist der Poesie empfinden mochte, so hätte er auch deu
Humor haben sollen, Voltaire's Erstaunen über eine ihm absolut fremde Weltan¬
schauung in ihrer relativen Berechtigung zu begreifen. Unter Hunderten, die heut
zu Tage Hamlet im Theater bewundern, und sich über den bunten Wechsel der
Abenteuer amüsiren, ist vielleicht kaum einer, der, wenn man ihn fragt, was
er eigentlich gesehn hat, etwas anderes erzählen wird. Wir freilich wissen aus
dem Wilhelm Meister, daß Hamlet eine Kritik ist gegen den Ueberfluß an Geist,
verbunden mit Mangel an Willenskraft; und wer sich gar zu Börne aufgeschwun¬
gen hat, wird in ihm das abschreckende Bild eines ebenso feigen als gewissenlosen,
verdorbenen Genies wiedererkennen. Daß Shakespeare alles Einzelne mit Reflexion
zusammengesetzt habe, ergibt sich schon aus einer Vergleichung mit der Quelle,
die er zu Grunde legte. In diesem Sinn wird es Gervinus freilich gelingen,
seinem Versprechen gemäß aus Hamlet in allen Punkten ein dramatisches Mei¬
sterwerk zu construiren — er versichert es beiläufig zu meiner Verwunderung auch
vou Cymbeline. Aber abgesehn davon, daß sich von vielen einzelnen Scenen bei
allem guten Willen denn doch wohl nichj wird nachweisen lassen, inwiefern sie zur
Entwicklung der Handlung oder des Charakters nothwendig sind, bleiben immer
Noch zwei Fragen zu beantworten. Einmal, ob die sittliche Idee, die Moral, die
man durch Studium als den innern Zusammenhang eines Kunstwerks herausfindet,
die eigentliche Seele der dramatische» Action ersetzen kann. Ferner, ob der Dich¬
ter seinen Gegenstand so von sich selber fern hält, daß ein kritischer Gedanke die¬
ser Art, der doch eine entschiedene Mißbilligung involvirt, in der That bei seiner
Schöpfung die Hauptsache sein solle. Denn die Räthsel, die Hamlet sich selber stellt,
sie breiten sich so nebelhaft und schauerlich über Alles was geschieht, daß wir leicht in
seine eigne Lage gerathen. Nichts ist gut oder böse, erst unsere Gedanken machen es
dazu. Das Leben wie sein Gesetz — der höchste Verstand kommt darüber nicht besser
ins Reine, als die Tölpel, die in dem Grabe mit den Schädeln spielen. Der
Schauder, der uns über all' diesen Dingen befällt, bezieht sich nicht auf die Ver¬
brechen, die wir vor uns sehn, nicht ans die Geistcrcrschcinnngen, von denen wir
w der That nicht wisse», ob sie wirklich sind oder nur in der kranken Einbildung
^ eben so wenig wie Hamlet es weiß; nicht auf deu Wahnsinn des Prinzen oder
Ophelia's, sondern auf den Wahnsinn, in dem wir die ganze Welt erblicken.
Wie die Seele ihren Verstand, so hat sie ihren Geist, ihren Gott verloren, und
vergeblich sieht sich der Mensch nach ihm um in der Welt des absoluten Scheins,
^iür 18 foul !M<1 l'mil is l'int', dieser Hexensprnch ist das Motto dieses wunder¬
baren Schauspiels.
Wir von der Hegel'schen Schule, wir haben es leicht, uns über die Pro-
bleue des Dichters zu erheben. Wir wissen, daß die Frage des Prinzen nach
„Sein" oder „Nichtsein" eine Schülerfrage war, denn wir sind über die Identität
beider Begriffe aufgeklärt. Aber es wäre eine fade suffisance, wenn wir kein
Gefühl mehr hätten für den erschütternden Ernst dieser Frage, welche die Seele
des großen Wittenberger Reformators und seines dänischen Schülers bewegte.
Man vergleiche folgende Stelle aus Luther. „Wenn wir von dem Bilde Gottes
reden, so reden wir vou einem unbekannten Dinge, welches wir nicht allein nie
versuchet noch erfahren haben, sondern wir erfahren auch ohne Unterlaß das Wi-
derspiel. Das Bild selbst ist durch die Sünde dermaßen gedunkelt, daß wir es
anch mit Gedanken nicht fassen können. Denn die bloßen Worte mögen wir wohl
haben, aber wer ist, der da verstehen könnte, was das sei, fromm und frei von
allem Elend! — Die Vernunft ist wider Gott und Gott am feindesten, der Wille,
da er am ehrlichsten sein will, Gottes Willen zum höchste» entgegen. Die Ver¬
nunft spricht: sollte Gott die Sünde verdammen wollen, so würde er den Unge¬
rechten nicht geschaffen haben. Dem Menschen ist ein Maaß gesetzt, er soll so
und so thun, sein Leben ist endlich, es kann gesaßt werden und hat eine Regel,
Maaß, Weise und Gesetz: so macht es die Vernunft auch mit Gott, sie meinet,
Gott sei wie ein Mensch und will ihn richten. Sollte ich hier meinen Gott mes¬
sen und urtheilen nach meiner Vernunft, so ist er ungerecht und hat viel mehr
Sünde denn der Teufel, ja er ist noch schrecklicher und gräulicher denn der Teufel.
Hierüber möchte Einer thöricht werden, wenn er nicht seine Vernunft gefangen
nimmt und aus dem Kopf ihm treiben läßt alle solche Gedanken."
Die mittelalterliche Kirche warf ganz dieselben Fragen ans, aber sie hatte
sogleich eine Antwort bereit. Entweder gab sie das Haupt der Kirche, oder ein
Concil entschied mit einfacher Majorität, wie es mit dem Wesen Gottes in dieser
oder jener Richtung beschaffen sei, oder die Schriftgelehrten berechneten es durch
scholastische Deductionen, oder irgend ein Wunder, eine Vision kam der Phantasie
zu Hilfe und brachte die Welt in Ordnung. Das Eigenthümliche des Protestan¬
tismus ist dieses, daß er jene Probleme nicht blos im Verstand, sondern im tief¬
sten Herzen trägt, daß er sie flieht, vor ihnen zittert, und doch seiner innern
Natur nach immer wieder darauf zurückkommen muß.
Es kann mir hier natürlich nnr darauf ankommen, ans die innere Verwand¬
schaft hinzudeuten, den diese im Wesen des Protestantismus, welcher die äußere
Vermittelung verschmähend, im Abgrund der Seele nachgrade, liegende Skepsis
mit der eigenthümlichen Richtung unseres Dichters verräth. Er wird darum nicht
kleiner, wenn man ihn als Träger eines Princips begreift, das noch über ihn
hinausreichte.
In der mittelalterlichen Weltanschauung lag der Geist der Natur fern. Die
Religion wie die Dichtung der neuen Zeit suchte ihn in ihr wieder zu finden, sie
suchte den Gott im Reich der Wirklichkeit, und gerade darum mußten sie die
Widersprüche in derselben, mußte sie die Hohlheit und das Scheinwesen des Le¬
bens um so schmerzlicher berühren.
Ein durchgehender Zug in Shakespeare's Gedichten, auf den Gervinus ganz
mit Recht aufmerksam macht, ist der Haß gegen die Lüge, gegen den Schein, der
sich selbst auf Aeußerlichkeiten erstreckt. Nun denke man sich einen solchen Geist,
mit dem energischen leidenschaftlichen Gefühl, das ihm eigen war, auf sein ver^
gangenes Leben zurückblicke», das lediglich dem Schein gewidmet war, das dar¬
stellt, was nicht war, und verbarg, was in ihm lag; man denke sich diese Be¬
trachtung erweitert durch einen Blick auf das Leben selbst, in dem er das Unrecht
des Rechtes, das Böse des Gute», das Häßliche des Schönen so tief durchdacht
hatte, man fasse diesen Blick in eine concentrirte Stimmung zusammen, und man
wird die Todtengräbersccue im Hamlet, das Nachtstück auf der Heide in Lear
zwischen den drei wirklichen und scheinbare» Wahnsinnigen, die Virtuosität, mit
der die dämonische Lust des Bösen z. B. in Jago ausgeführt ist, und die Ge¬
spräche zwischen den Lästerern Timon und Apemantnö — dieses Stück wird we¬
nigstens keiner für ein dramatisches Kunstwerk ausgeben — vollkommen begreiflich
finden. Aber man wird sich eines unheimlichen Gefühls nicht erwehren können,
indem man es begreift.
Es läßt sich diese Nachtseite der Shakespeareschen Poesie noch viel weiter
ausführen, doch muß ich hier abbrechen. Ich bemerke nur noch, daß er iivdieser Dar¬
stellung des Protestantismus einzig geblieben ist. Die Puritaner legten sogleich
Hand an's Werk, ihr Reich Gottes einzurichten, die deutschen Pietisten und My¬
stiker waren zu schwächlich und subjectiv, um überhaupt tief zu empfinden. Milton
legte das Problem des Bösen wieder ins Aeußerliche. Auch in dieser, bisher
noch wenig beachteten Richtung ist er ohne Gleichen.
Beim Beginn des Krieges von 48 war die dänische Armee keineswegs in gehörigem
Stande. In 34 Friedensjahren war es allgemeiner Glaube geworden, daß Däne-
Mark nie mehr in einen ernsten Krieg verwickelt werden könne. Der Militäretat
war als überflüssiger Ausgabeposten dem Volke verhaßt und selbst der so geliebte
König Friedrich V!. (1' I8l!9) entging nicht immer dem allgemeinen Groll, weil er,
der treue Alliirte Napoleons, bis auf seinen Tod Soldat blieb und aus persön¬
licher Neigung die Armee so ziemlich ans Kriegsfuß erhielt. Die Langeweile des
Garnisonslebens in kleinen Provinzialstädten hatte auf den Geist und das Benehmen
der Offiziere keinen günstigen Einfluß, und sie wurden, während die Marine immer
populär war, dort wie einst in Preußen, als müßiggehende „Pntzpüppcheu" ver¬
spottet. Im Gesellschaftsleben waren die Uniformen der Landmiliz fast nicht ge¬
duldet.
Der Nachfolger des alten Königs, Christian Viti. liebte es, Gönner und
Schirmherr der Künste und Wissenschaften genannt zu werden und suchte seine
Negentenideale in der Berliner Romantik und der Friedenspolitik Louis Philipps.
Er war friedliebend und sparsam, wo es nicht den Glanz seines Hofes und seine
Tafelfreuden galt. Die Freundschaft der Höfe von Berlin und Paris dnrch Pri-
vatcorrespondenzen unausgesetzt cultivirend, fühlte er sich glücklich und hinlänglich
gesichert, um alle ConstitntivnSwünsche und Petitionen entschieden ablehnen zu
können. Dennoch war sein Fürstenherz gegen eine mäßige und wohlfeile Popu¬
larität nicht ganz unempfindlich. So geschah es, daß er mit dem Militäretat und
namentlich mit dem Officiercorps eine bedeutende Reduction vornahm. Leider be-
hauptete die Opposition, daß demohngeachtet das Finanzbudget sich nicht wesent¬
lich vermindern wollte. Zur Strafe wurde die Opposition unter diesem König,
der sich selbst bei seiner Thronbesteigung den „wärmsten Freund" der in Däne¬
mark seit 1771 bestehenden Preßfreiheit titulirt hatte, durch sehr viele Preßpro¬
cesse belästigt und beschränkt.
Im Januar 1844 theilte der jetzige König, Friedrich Vk. seinen Constitu-
tionscntwurs mit, der von den Schleswig-holsteinischen Parteiführern nicht geneh¬
migt wurde; aber auch die Ultra-Dänen waren mit seinem Entwurf unzufrieden,
weil er auf die Gesainmtstaatidee basirt war. Die Symptome der Unzufriedenheit
in den, Herzogthümern wurden drohend. Die alte Regierung blieb in ihrem
lethargischen Schlafe, sie war nicht zu bewegen, auch uur ein Regiment nach Rends-
burg zu schicken. Plötzlich kam die.stunde nach Kopenhagen, daß der Prinz von
Noer mit einer Hand voll Kieler Jäger Rendsburg überrumpelt habe. Da ver¬
schwanden alle Parteirücksichten, es galt die Nativnalehre zu vertheidigen, Alle
wurden im Augenblicke der Gefahr von der allgemeinen Begeisterung ergriffen.
Ein Ministerium ans Bürgerlichen wurde erwählt und für verantwortlich erklärt,
ohne daß Dänemark eine Konstitution hatte. Ein Armeecorps wurde von dem
tüchtigen Kriegsminister Scherning organisirt und auf der jütischen Grenze und
der Insel Alsen zusammengezogen. Es zählte zwar uur 8—W00 Mann, war aber
stark genug, den Prinzen von Noer, der mit seinen Truppen und Freischärlern
schon in dem dänischen Theil Schleswigs eingefallen war, bei Bau und Flensburg
den 2. April zu schlagen. Hier hörte man zum erstenmal den Namen N y e nen¬
nen. Von Mund zu Munde flog es, wie der Major immer in der vordersten
Reihe gestanden, im heftigsten Feuer sorglos hin und hergeschritten, sein Batail¬
lon freundlich aufgemuntert und trefflich geleitet habe. In einer so ganz uner-
fahrenen Armee wurde diese Bravour treuherzig und breit als etwas Neues belobt
und bewundert, wandte schon damals die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn, und
wachte ihn zum Liebling der Truppen. Rhe war ein Fünfziger, von rüstigem
aber kleinem Wuchs, mit offnen einnehmenden Gesichtszügen, hellblonden Haar.
Er hatte unter den früheren Militärzuständcu wohl 30 Jahre im Garnisonsdienst
gelebt, unbekannt und unbeachtet. Bon 181!) bis 1842 hatte er in den Herzog¬
thümern garnisonirt; später lebte er, mit einer Hvlsteincrin verheirathet, in der
Nähe von Kopenhagen, in friedlicher Stille sein häusliches Glück genießend.
Von Geburt war er ein Norweger; er verließ mit seinem Freund, dem in der
dänischen Armee hochgeschätzten General Schleppegrell sein Vaterland, als es
1814 von Dänemark getrennt wurde. Die Verbindung mit Schweden war ihm,
>vie Vielen, zuwider, umsomehr, als Norwegen, gegen den Wiener Kongreß re¬
volutionär,, sich schon als selbständiges ^Königreich constituirt und eine
eigne Verfassung gegeben hatte. Mit dem Könige weniger Wochen, dem spä-
tern Christian VIII. in Dänemark, satiet er aus seiner Heimath, die an Berna-
dotte ottroyirt worden war; ging nach Frankreich, wo er mit seinem Freund
Schlcppegrell als Fieiwilliger in der Schlacht bei Waterloo Theil nahm, und
kam von da nach Dänemark.
In den Herzogthümern hatte er, wie sich denken läßt, viele freundschaftliche
Verbindungen angeknüpft. Beim Anfang des Kriegs soll er geschwankt haben,
ob er sich persönlich bei dem Kampfe betheiligen solle. Doch die Soldatenpflicht
und der augenscheinliche Mangel Dänemarks an tüchtigen Offizieren brachten seine
persönlichen Gefühle zum Schweigen.
In der Schlacht bei Schleswig den April 1848 zeichneten er und der
jetzige Obergeneral der dänischen Armee, Bülow sich durch eine geschickte Flanken¬
bewegung aus, welche, wenn auch mit beträchtlichen Opfern, den Kampf eine
Zeitlang zum Stehen brachte. Auch hier bewährte sich sein persönlicher Muth
aufs Glänzendste, und seine Soldaten wußten allerlei davon zu erzählen, wie er
von unwiderstehlicher Müdigkeit ergriffen, sich im lebhaften Geschützfeuer auf die
Erde hingestreckt und durch einem kurzen Schlaf erholt habe.
In den beiden für die dänischen Waffen ehrenhaften Treffen mit den Hanno¬
veranern und Preußen, am 28. Mai und 5. Juni, bestätigte sich sein Ruf als
tüchtiger und zuverlässiger Führer, er avancirte bis zum Generalmajor und mußte
sein Bataillon, welches aus den, selbst in Friedenszeiten von ihren Nachbarn
gefürchteten, seeländischcn Köhlern bestand, abgeben und das Kommando einer
Brigade übernehmen.
Als der Feldzug von 4!) eröffnet wurde, stellte ihm der Kriegsminister, nach
dem Kampfe bei Kolding, die bedeutende und schwierige Aufgabe, die große Halb¬
insel Jütland zu behaupten, und durch Operationen auf eigne Hand dem mäch¬
tigen, vordringenden deutschen Heer möglichst viel Hindernisse entgegen zu stellen.
Von diesem Zeitpunkt an datirt sein Feldherrnrnhm. Er zeigte plötzlich Talente,
die einem alten erprobten Strategiker Ehre gemacht hätten. Er entwickelte mit
seinem kleinen Corps von 7 — 900V Mann — die Hauptstärke hatte sich nach
Alsen gezogen — einen Guerillakrieg, der sich allerdings in seinen Wirkungen,
in dem langsamen Vorrücken des Feindes, in dessen immerwährender Beunruhigung
und in einem Widerstand, der an vielen Punkten hartnäckig, an andern nur schein¬
bar war, bemerkbar machte; und doch über seine wirklichen Pläne und Bewegun¬
gen, seine Stärke und sein häufig wechselndes Hauptquartier eiuen Schleier warf,
der selbst für seine Landsleute lange Zeit fast undurchdringlich war. Bald zog er
sich kämpfend zurück, wie bei Vene, bald machte er aus einem scheinbaren Rückzug
einen ernsten Angriff; während er bei Aarhns den Preußen eine Schlappe bei¬
brachte und den Prinzen von Salm - Salm einfing, zeigten seine Dragoner sich
gleichzeitig bei Warde, an dem südlichsten Pnnkte der Westküste, und nahmen dem
Feinde bedeutende Provianttransporte vor der Nase weg. Den nächsten Tag war
er bei Skanderborg, wo er früher eine uneinnehmbare Position lauge des.uiplet
hatte und weckte eine Schwadron Churhessen ohne Kampf ans ihren Lcrien. Kleine
Neckereien führte er fast jeden Tag ans, er täuschte, ermüdete und schlug sea, mit
dem Feind zwei Monate herum, ohne seinerseits namhaften Verkost zu erleiden.
Den Deutschen wurde er allmälig fast zu einer mythischen Person, sie nann¬
ten ihn unter sich den „fliegenden Holländer."
Daß es dem deutschen Heere nie gelang, einen entscheidenden Schlag gegen
ihn zu führen, soll man keineswegs aus „preußischer Schonung" erklären. Viel¬
mehr ist es erwiesen, daß sie in dieser Heimath des eifrigsten Däncnlhums, wo
keine Spione zu haben waren, nie genau gewußt haben, wo Rye und seine
Hauptstärke sich befanden. — In vielen deutschen Zeitungen war er schon mehrere
Mal abgeschnitten, eingeschlossen mit seinem ganzen Corps — das wohl zu be¬
merken nie in Gesammtheit operirte — vernichtet oder gefangen. Aber immer
wenn man ihn sicher zu haben glaubte, schlüpfte er wie ein Aal unter den Händen
weg, und man „fand das Lager leer," wo er soeben bivouakirt hatte.
Hier kam ihm das Terrain Jütlands, welches für solche Operationen überaus
günstig ist, zu statten. Für einen süddeutschen oder Berliner, ja selbst für einen
schlesweg-holsteinischen Zeitungscorrespondenten ist es allerdings eine Kleinigkeit
das jüdische Land zu erobern; einer feindlichen Operationsarmce bietet es aber
bedeutende Schwierigkeiten dar. Schon Napoleon hat bekanntlich Jütland eine
Mausefalle genannt.
In der Mitte vou Jütland dehnt sich die unabsehbare Heide, unfruchtbarer
Sand, Heidekraut und Moor, darin spärliche Ortschaften, nirgend eine feste Heer¬
straße; im Norden ist ein seltsames Wassergeflecht von Seen und Fivrds die Grenze.
Ein feindliches Heer findet hier wenig für seine Existenz, seinen Gegner aber,
der mit dem Terrain und den Anwohnern vertraut ist, sicher gar uicht; für den
Feind ist ein Zug in die Heide wie ein Marsch in die Praiericen Amerikas. Ganz
anders steht hier der Vertheidiger, das Landeskind im kleinen Kriege. Die Heide
senkt sich von einer beträchtlichen Höhe in so sanften Wellenlinien nach beiden Seiten
abwärts, daß sie fast eine Ebene bildet, und somit einer Guerillareiterei die größten
Vortheile bietet. (Die Hauptstärke des Nyeschen Corps bestand deshalb auch aus
Kavallerie). Sie taucht auf aus dem röthlichen Schein des Heidekrauts, wie der
Delphin aus der Tiefe des Wassers, und verschwindet an der Linie des Hori¬
zontes wie ein fliegendes Gewölk; der Jude liegt im Kraut und verräth den her¬
anziehenden Feind, er führt die befreundeten Reiter zwischen Morast und tiefem
Sand den Fußpfad von Dorf zu Dorf, von Hütte zu Hütte. Wie aus einer Festung
schwärmten die kleinen Abtheilungen des Nye'schen Corps aus der Heide heraus
in das fruchtbare Küstenland der Halbinsel, wo die großen Straßen gehn und die
feindliche Armee sich vorwärts bewegen mußte, auf der einen Seite vom Meer,
auf der andern von der Heide selbst bedroht. — Wo das Land gegen Ost wieder
fruchtbar wird, ist es zugleich sehr coupirt, oft von romantischer Naturschönheit.
Unter den blühenden, gebauten Feldern erheben sich fast überall Reihen von wald-
bedeckten Hügeln und Bergen, deren Wurzeln von kleinen Seen oder von zahl¬
reichen Bächen bespült werden, die in vielfachen Krümmungen zum Meere hinab
eilen. Diese vom Wasser eingefaßten Höhen bilden sür ein Vertheidigungöcorps
sehr günstige Positionen, im Schutz der kleinen Gewässer ist es ihm leicht sich
die Nückzugslinien zu sichern und offen zu erhalten. Aber noch mehr, die
Ostseeküste bietet in ihrer weiten Ausdehnung unzählige Landungspunkte, tief in
das Land schneidende Buchten und Flußmündungen, so daß eine Operationsarmee,
welche ungefährdet gegen Norden vorrücken will, überall an der Küste Besatzungen
zurücklassen oder eine Unmasse von Batterien errichten muß. Die Preußen haben,
wie jeder Feind, der dorthin vordrang, diese eigenthümliche Sachlage anerkennen
müssen. Um nicht jeden Augenblick durch einen Augriff im Rücken genirt, oder
von zwei Seiten bedroht zu werden, haben sie sich bei jedem Schritt vorwärts
zuerst decken müssen, dadurch ist die Hauptstärke immer geschwächt und das so
energisch geforderte Vorrücken gehindert worden. Auch das Belagerungscorps vor
Fridericia war nicht ein dem Untergang geweihtes Detachement, sondern eine
unvermeidliche nothwendige Bedingung des so eifrig ersehnten Vorrückens der
Reichstruppen.
Als endlich der General Prittwitz mit Hinterlassung der nöthigen Observa-
tionscorps so weit nach Norden vorgedrungen war, daß er ernstlich daran denken
konnte, den Nye aufzusuchen, war seine Hauptmacht so stark zusammengeschmolzen,
daß seine Ueberlegenheit schon zweifelhaft scheinen konnte, besonders da er nie ge¬
wußt hat, wie groß das Nye'sche Corps war, welches obendrein, durch seine
Verbindungen mit der See, sich fast jeden Tag »ach Belieben zu vergrößern und
zu verkleinern vermochte. Wäre es auch die Absicht des preußischen Feldherrn
gewesen, jenes Corps zu umgehen und abzuschneiden, er mußte es schon deswegen
bei dem guten Willen bleiben lassen, weil er nie den Feind auf einem Platz ver¬
sammelt fand. Während Nye sich mit einem Theil seiner Truppen ans Narhus
kämpfend zurückzog und die preußische Kavallerie in ein Feld hinauslockte, wo
sie mit beträchtlichem Verlust an Verwundeten und Gefangenen zurückgeworfen
wurde, beunruhigte er gleichzeitig mit anderen Abtheilungen viele Meilen west¬
licher Baiern und Hessen, welche Requisitionen eintrieben, so daß sie sich so ziem¬
lich mit dem begnügen mußten, was von der Bevölkerung freiwillig verabreicht
wurde. Wenn er hier von überlegenen Kräften angegriffen wurde, zog er sich
schnell in die große Heide zurück, wohin ihm die Deutschen nicht folgen konnten,
denn, wie schon anderswo bemerkt, „wenn sie auch einige Lorbeeren dort gepflückt
hätten, läßt sich doch aus Lorbeern und Heidegras keine Suppe kochen," und
immer hatte er von den Ost- und Westoperatiouen den freien Rückzug über Wi-
borg nach Aalborg oder nach Räubers, wo er sich einschiffen konnte, um entweder
wieder bei Acirhus zu landen, oder sein kleines Corps mit der dänischen Haupt-
armee auf Fühnen und Alsen zu vereinigen. Eine Menge Scheintreffen fanden
hier überall statt, die, weil sie der Natur der Sache nach nicht entscheidend wa¬
ren, nicht bekannt wurden oder vergessen bleiben werden. Aber durch die ge¬
schickte Führung in diesem ermüdenden „fliegenden" Krieg, dessen Wirkungen nur
in dem langsamen Vorrücken der Reichstruppen fühlbar wurden, so wie durch sein
liebenswürdiges väterliches Betragen gegen seine Untergebenen, gelang es Nye,
ihre volle Hingebung und Liebe zu gewinnen und der dänischen Armee Zuversicht
nud Unternehmungsgeist zu geben. Von diesem im Dunkel der He-de gehüllten
Feldleben her bildete sich allmälig eine sehr günstige Stimmung in Heer und Volk,
man vertraute dem Glück Dänemarks und Nye galt für den Bürgen desselben.
Niemand wußte wohl recht warum/man konnte keine positiv glänzenden Data an¬
führen, genng es ward Volksmeinung, daß er sich als ausgezeichneter Feldherr
und Strategiker erwiesen habe und die Dänen zum Siege fuhren werde.
Es kam der Tag von Fridericia. Als Commandirendcr von Nordjütland
hatte Nye nicht die Pflicht, der von seinem Corps detachirteu Abtheilung zu fol¬
gen. Er kannte aber die Wichtigkeit des Unternehmens und ging freiwillig mit.
Wann er sich eigentlich eingeschifft hat, weiß noch Niemand, wohl auch nicht einmal
General Prittwitz; denn er ließ die Zurückgebliebnen sich in so gut gewählten
Positionen aufstellen, daß die Beobachter vollständig getäuscht wurden und seine
Entfernung vom Norden nicht bemerkten. Ohnedies hätten die Preußen mit den
Dampfschiffen nicht um die Wette laufen können. Das ganze Gerede von „preu¬
ßischem Verrathe" ist aus der Luft gegriffen, hatten doch die Schleswig Hvlstciuer
bis dahin immer gefordert, daß Prittwitz nur vorwärts gehen und das Land in
Contribution scheu solle; mit den Dänen würden sie schon allein fertig werden.
Die Belagerung war in den letzten Tagen mit zunehmender Energie getrie¬
ben worden. Neue Schanzen und Batterien wurden errichtet und noch am 5.
Juli selbst über 300 Bomben in die Festung geworfen. Diese Thatsache allein
'»acht es begreiflich, daß die. Besatzung den lebhaften Wunsch hegte, dem Spiel
sobald als möglich ein Eude zu machen, und daß sie, unter den krachenden und
blitzende» 108pfündiger Bomben, welche die dänische Artillerie nicht mit demsel¬
ben Caliber beantworten kann, gar nicht an die sittliche Entrüstung dachte, welche
den Ausfall zu Perfidie und Meuchelmord stempeln würde.- Und doch wäre es
für uns Dänen wünschenswerth gewesen, wenn der Ausfall ein paar Wochen
früher stattgefunden hätte.
In der finsteren Nacht öffneten sich die Festungsthore; an der Spitze des
linken Anssallscorps ging Nye ungestüm im heftigsten Kartätschenfeuer ans die
ersten Schanzen los. Auf der rechten Seite commandirte der Obergeneral der
Armee, von Bülow. Der Kampf wurde bald allgemein und von den Festuugs-
wällen aus gewährten der donnernde Hurrahruf, das Blitzen der Geschütze und
die zur Erhellung des Terrains geworfenen Leuchtkugeln ein erschütterndes, gewal¬
tiges Schauspiel. Dem Nye wurde gleich im ersten Anstürmen ein Pferd er¬
schossen. Seine Adjutanten baten ihn, sich zu schonen, er antwortete heiter und
ruhig: Die Kugeln geniren mich nicht. Darauf wurde ihm das zweite Pferd er¬
schossen. Jetzt ging er zu Fuß vorwärts, hinter der Schlachtln'le seiner Batterie,
seiue Soldaten anfeuernd. Wo sich ein Schwanken im Vorrücke» zeigte, sprang
er voran und rief: „Vorwärts Kameraden! heute darf Niemand zurückbleiben!"
Sein fröhlicher Muth elektrisirte Alle, aber das Feuer von der im sichern Verdeck
der Schanzen arbeitenden feindlichen Südbatterie war furchtbar. Der Tag brach
an. Um an ihre Flanken zu gelangen, war eine Strecke Wald und Feld zu passi-
ren, seine Brigade trat in den offenen Raum und hier wurde Nye durch eiuen
Schuß im Schenkel darniedergestreckt. Im Niederstürzen wird er von einem
Flintenschuß von unten nach oben durch den Unterleib tödtlich verwundet. Man
glaubt, daß er entweder von einem in den Kornfeldern versteckten Marodeur zum
Ziel gewählt wurde, oder durch ein zufällig verkehrt abgefeuertes Gewehr den
Tod gefunden hat. Merkwürdig ist, daß er nicht von den Ambulancen gefunden
und fortgebracht worden ist. Schmerz und Wuth ergriff, als die Kunde sich ver¬
breitete, seine ganze Brigade, und in einem Nu waren die nächsten Schanzen in
den „Kohlen" bestiegen und nach wüthendem Widerstand erobert. Als endlich
die Sonne nach vielen Regen- und Nebeltagen prächtig hervorbrach, bestrahlte sie
die 13 erstürmten Schanzen, die verstummten l68pfündiger Mörser und die vielen
gefallenen Braven. Da fand man auch in einem Kornfeld die Freude des däni¬
schen Heeres, den sterbenden General. Seine Gesichtszüge waren ruhig und hei¬
ter wie immer. Im letzten Augenblicke soll er den Sieg der Seinigen erfahren
und seine hinterlassene Familie, wie seinen Freund Schleppegrell, dem Vaterlande
empfohlen haben.
Die östreichischen Obercommandanten in Ungarn haben gewiß eine schwierige
Aufgabe. Wenn dem nicht so wäre, hätte man nicht nöthig gehabt, die Russen
zu Hilfe zu rufen. Und doch haben sie noch freiwillig eine kleine Nebenaufgabe
übernommen und mit dem großen Feldzuge gegen die Ungarn noch einen kleinen
Kreuzzug gegen die ungarischen Juden verbinden zu müssen geglaubt.
Schon Fürst Windischgrätz machte die Juden solidarisch sür einander verbind¬
lich. Wenn ein Jude den Rebellen irgendwie Vorschub leistete, mußte seine Ge¬
meinde dafür zwanzigtausend Gulden Strafe zahlen. Melden, ungeachtet er doch
sonst den ganzen Operationsplan änderte, fand nicht nöthig, diese Verfügung auf-
zusehen. Und Haynaü hält sich vollends gewissenhaft daran, bald wird diese bald
jene Judengemeinde zu einer Geldstrafe oder Kontribution verurtheilt, bald soll
die Naaber 80,000 Fi. zahlen, bald werden der Pesther und Ofncr enorme Re¬
quisitionen auferlegt. Außerdem empfiehlt er die Juden ganz besonders der Auf¬
merksamkeit der Behörden, ihnen vorzüglich sollen nur ausnahmsweise Pässe nach
andern Landestheilen viflrt werden und was dergleichen Zuvorkommenheiten mehr sind.
Warum aber das alles, fragen wir? Die Juden sind Rebellen? Ja freilich,
sind sie es, aber sind es denn nur sie? Wen» es in Ungarn keine andern Rebellen
gäbe als die Juden, wäre man mit dem Aufstande schon längst fertig geworden.
Aber die „wenigen Uebelgestnntcn", wie man sonst offiziell die Insurgenten zu
nennen Pflegte, bilden eben die große Mehrzahl der ungarischen Bevölkerung, und
unter dieser finden sich auch Juden. Treten aber diese als Gesammtheit, als Ju¬
den der östreichischen Negierung entgegen? Keineswegs. Und warum sollen sie es
auch? Welches wahre oder eingebildete Interesse hätten die Juden als religiöse
Corporation oder als besonderer Volksstamm an dem Siege der Ungarn? Hoffen
sie etwa, daß Kossuth ihnen Jerusalem erobern, und den Tempel Salomonis wie¬
derherstellen werde? Die Juden betheiligen sich an derJnsurrectivu durchaus nicht
als Juden, «zu» wies, sondern als Staatsbürger, als Ungarn. Sie sind nicht
Rebellen, weil sie Juden und nicht Juden, weil sie Rebellen sind, zwischen diesen
beiden Eigenschaften besteht durchaus kein Kausalnexus, sondern sie sind blos bei¬
des zugleich, Rebellen wie die Andern und nebstbei auch Juden. Wenn aber das
ist, warum sollen sie sür diese Theilnahme strenger behandelt werden als andere
Insurgenten?
Wenn ein Christ als Spion ergriffen wird, so wird er erschossen und damit
Punktum. Ist es aber ein Jude, so wird er ebenfalls erschossen, aber außerdem
ist noch eine Geldstrafe von 3000 Fi. zu bezahlen. Warum diese Ungleichheit?
Nach welcher strafrechtlichen Theorie ist bei den Verbrechen des Hochverraths oder
des Aufruhrs das Judenthum ein erschwerender Umstand? Verletzt etwa ein Jude,
wenn er eines dieser Verbrechen begeht, seine Bürgerpflicht in einem höhern
Grade als der Christ in gleichem Falle? Hat etwa das Haus Oestreich gegrün¬
detere Ansprüche auf die Treue seiner jüdischen als ans die seiner christlichen Unter¬
thanen? Waren etwa jene besonders begünstigt? War vielleicht wie Preußen ein
christlich-germanischer, so Oestreich ein jüdisch-semitischer Staat?
Oder ist etwa der durch diese Verbrechen verursachte Schade oder die damit
verbundene Gefahr größer, wenn sie von einem Juden begangen werden, als wenn
der Verbrecher einer andern Konfession angehört ? Machtes einen Unterschied, ob ein öst¬
reichischer Soldat von der Hand eines jüdischen oder eines christlichen Insurgenten
fällt? Oder ist es gefährlicher, wenn die Bewegungen der k. k. Armee den Ungarn
von einem jüdischen, als wenn sie von einem christlichen Spione verrathen werden?
Oder haben etwa die Juden mit ihren Psalmen den Generalmajor Puchner mit
seinem Corps aus Siebenbürgen hinaus- und in die Wallachei hineingebetet?
Worin besteht also das „wahrhaft schändliche" Benehmen, das Haynau ihnen vor¬
wirft, und warum der Unterschied zwischen christlichen und jüdischen Rebellen?
Die östreichische Regierung machte sonst in ihren politischen und Civilgesetzen
häusig einen Unterschied zwischen Juden und Christen, aber im Strafgesetze hat
sie es nie gethan und kein verbrechen wird nach östreichischen Gesetze an einem
Juden strenger bestraft als an einem Delinquenten anderer Konfession. Nun sind
die Juden auch bürgerlich und politisch den andern Confessionen gleichgestellt wor¬
den, wie kann sich denn ein General herausnehmen, ihnen solche i>rivil<!A>et oclinsit
i» <:>'lui»!l»it>»8 zu verleihen? Ist das nicht offenbar eine Verletzung der Ver¬
fassung vom 4. März, für die doch eben in Ungarn gekämpft wird?
Und wenn man es schon für nöthig erachtet hat, bei jüdischen ^Rebellen außer
der ordentlichen Strafe noch eine Geldbuße eintreten zu lassen, warum wird diese
nicht ans dem Vermögen des Verbrechers selbst eingebracht, sondern seiner viel¬
leicht sehr loyalen Gemeinde auferlegt? Die Strafe soll stets nur den Verbrecher
treffe». Jede Solidarität in der Beziehung ist ungerecht und am meiste» wenn
sie eine bloße Neligionsgenossenschast trifft.
Es läßt sich allenfalls noch vertheidigen, wenn man eine politische Körper¬
schaft, der eine materielle Macht zur Prävention und Repression zu Gebote steht,
für das Verhalten ihrer einzelnen Glieder verantwortlich macht, und z. B. einer
Stadigcmeinde eine Brandschatzung auferlegt, wenn auch uur aus einem Hause
auf die k. k. Truppen .geschossen wird. Denn hier kann man doch mit einiger
Wahrscheinlichkeit annehmen, daß es der Gesammtheit, wenn sie nnr ernstlich will,
möglich sei, solche Exzesse Einzelner zu verhindern. Aber völlig ungereimt ist es,
wenn man einer blos kirchliche» Corporation wie einer Judengemeinde, die doch
weder Organe, um ihre einzelnen Glieder zu bewachen, noch irgend welche Coer-
cionSmitrcl gegen sie hat, die Haltung sür Verbrechen aufbürdet, die einzelne
Gemeindeglieder, ja sogar in einer großen Entfernung von derselben begehen.
Wenn z. B. ein Preßburger Jude in Kaschau als Spion ertappt wird, muß die
Preßburger Judengemeinde dafür zwanzig tausend Gulden als Strafe zahlen, un¬
geachtet sie vou seiner Spivuerei weder wissen konnte, noch selbst, wenn sie es
gewußt hätte, im Stande war, ihn daran zu verhindern. Und wenn dann wie¬
der irgend ein nngarischgesinnter Christ ans seinem Fenster auf die östreichischen
Truppe» schießt und deshalb der Stadt Preßburg eine Contribution auferlegt
wird, so müssen die Juden auch ihren Theil dazu beitragen. Aber wohlgemerkt,
sie zahlen jedesmal aus einem andern Titel; das eine Mal als Preßburger
schlechtweg, das andere Mal als Preßburger Juden.
Und die Verordnung im Betreff der jüdischen Pässe, wie läßt sich die recht¬
fertigen? Glaubt man etwa, weil vielleicht hier oder dort ein Jude als ungari¬
scher Spion oder Emissär ergriffen wurde, wenn man nnr den Juden das Reisen
erschwert, den Ungarn die Möglichkeit zu benehmen, ferner welche auszusenden?
Aber müssen denn Emissäre und Spione nothwendig Juden sein? Erfahren etwa
diese die Bewegungen der Armeen aus dem Talmud? Oder kann man nicht re¬
volutionäre Propaganda machen ohne beschnitten zu sein? Warum also haben die
Ungarn bis jetzt vorzüglich Juden zu diese» Geschäften verwendet? Weil sie
wußten, daß mau die Juden sonst sür ruhige friedliche Leute hielt, die sich mehr
mit ihrem Handel als mit der Politik befassen, und sie daher viel weniger beob¬
achtete als Andere. Ist man jetzt wieder der entgegengesetzten Ansicht, und hält
grade die Juden für besonders verdächtig, nun so werden sich anch die Insurgenten
darnach einrichten, und fortan wieder mehr Christen verwenden. Wie also z. B.
früher auf je drei Spione immer zwei Juden und Ein Christ kamen, so wird jetzt
das Verhältniß vielleicht ein umgekehrtes sein, aber die Gesammtzahl wird sich
dadurch nicht um einen vermindern. Hätte man dagegen von vornherein Juden
und Christen hierin ganz gleich behandelt, und gegen beide dieselbe Vorsicht beob¬
achtet, so wäre man weit besser weggekommen, als bei dem jetzigen Schaukclsystem,
wo es gestern gewissermaßen zur Empfehlung gereichte, ein Jude zu sein, und
heute wieder besonders verdächtig macht.
Aber das ist ja eben der Unsinn, daß man bei Juden gewohnt ist, von einem
gleich ans die Gesammtheit zu schließen. Weil einmal ein jüdischer Banquier ge¬
sagt „zu was Freiheit, halte Se die junge Leut scharf" galten früher alle Juden
für servil; und weil jetzt ein Paar radikale Blätter von Juden redigirt werden,
gelten jetzt wieder alle als Wühler, beides mit gleichem Unrecht. Die Juden haben
wohl alle dasselbe religiöse aber keineswegs auch ein gleiches politisches Glaubeus-
vekenntniß. Sie haben als Juden keine gemeinsame politische Farbe, sondern es
gibt ihrer wie unter jeder andern Confession schwarzgelbe, Trikolore und Rothe.
Wer das nicht glauben will, der besuche einmal die Wiener Börse, und er wird
sehen, daß es neben den radikalen Doktoren und Journalisten noch Gutgesinnte
gibt in Israel, so loyal wie irgend welcher christliche Stockjobber. Diese Lertte
mit Mahler und Tausenau zusammenzuwerfen, wäre eben so ungerecht, als ob
Man Windischgrätz sür Mazzini, Wrangel für Struve, oder Paskiewitsch für Va¬
kuum verantwortlich macheu wollte, weil sie derselben Kirche angehören.
Darum meine Herrn Generäle in Ungarn laßt die Mücken und die Juden.
Was gehen Euch die Juden an? Sehet warum haben Sanhcrib, T'tus, Holo-
fernes und wie die Feldherrn noch geheißen haben mögen, die in alten Zeiten
gegen die Juden kämpften, die Ungarn in Ruhe gelassen, und warn», macht Ihr,
die Ihr mit die Ungarn Krieg führt Euch so viel mit den Juden zu schaffen?
Der Kaiser hat jüngst die mährischen Juden seine jüdischen Mähren genannt. Ihr
habt es also auch in Ungarn nirgends mit rebellischen Juden zu thun, sondern
höchstens hier und da mit einigen von Sr. Majestät jüdischen Nelcllc». Diese
aber sind durchaus nicht schlimmer und nicht besser als die andern, nur daß sie
sich zur jndnchen Religion bekennen, d. h. sie glauben der Messias sei noch nicht
gekommen, essen kein Schweinfleisch aber desto mehr Zwiebeln. Was aber kümmert
Euch das? Ob die Leute, die Euck gegenüberstehen Juden oder Christen, Heiden
oder Tinten sind, ob sie an Gott oder an den Teufel glauben, das macht keinen
Unterschied. Für Euch sind sie Rebellen, und erwischt Ihr einen, so macht mit
ihm, was Ihr wollt, hängt ihn aus, verurtheilt ihn zu Schanzarbeit oder be¬
gnadigt ihn zu Pulver nud Blei; aber kümmert Euch nicht um seine Religion,
ftagr nicht einmal darnach, das braucht Ihr ja gar nicht zu wissen, Ihr seid ja
keine Missionäre, das fordert man ja nicht von Euch.
Radetzky, von dem Ihr überhaupt manches lernen könntet, hat auch das besser
verstanden. Er ist wahrscheinlich auch kein besonderer Freund der Juden. Na¬
türlich, der alte Marschall war einmal ein junger Lieutnant, junge LieutnantS
pflegen Geld zu brauchen und Leute, die in der Jugend Geld gebraucht haben,
sind dann gewöhnlich im Alter nicht gut auf Juden zu sprechen. Aber habt
Ihr je solche Lieutnantsreminiscenzen aus seinen öffentlichen Acten als Ober¬
kommandant hervorschimmern sehen? Und in Italien gibt es ja auch Juden. In
Padua, Verona und Mantua gibt es Ghetti, in diesen Ghetti wohnen Juden,
und unter diesen Juden gibt es Wühler und Rebellen, ja einer war sogar eine
Zeit lang Mitglied der provisorischen Regierung von Venedig. Aber der Mar>
schall nahm keine besondere Notiz davon, er schlug die Piemontesen, aber er ließ
die Mücken und die Juden. Hättet ihr es in Ungarn auch so gemacht, und statt
Euch so viel mit den Juden zu beschäftigen, lieber die römischen Katholiken Bem
und Dembinski geschlagen, so wäre Oestreich jetzt nicht von der Gnade eines über¬
müthigen und eigennützigen Nachbars abhängig, der Ruhm des Sieges würde
Euch gehören und nicht Euren russischen Kollegen, und für die armen Juden wäre
es ebenfalls besser.
Wer erinnert sich nicht an den Schrei des Entsetzens, der bei dem Wieder¬
hall von jenen Schüssen in der Brigittenau, in denen das siegreiche Oestreich seine
Rache ausübte, durch ganz Deutschland ging? Dieses ekelhafte und abscheuliche
Beispiel wiederholt sich jetzt in Baden, aber unter Umständen, die das Gehässige
eines solchen Verfahrens um das Tausendfache erhöhen. Damals hatte der Mord
an die Thüre geklopft, noch war das Blut von Lamberg, Latour, der Fürstin
Windischgrätz kaum getrocknet. Der Haß war jung, und darum in voller Hitze,
der Gegner stand noch scheinbar kräftig und gerüstet da. Man mußte Robert
BlumS Tödtung verdammen, aber es lag doch etwas kühnes in dieser dreisten
Herausforderung, die der kaiserliche General einem noch immer bedeutenden poli¬
tischen Körper in's Gesicht warf. Jetzt aber, da die Demokratie vollkommen be¬
siegt ist, da kein Feind mehr aufrecht steht, dem mau triumphirend das Haupt
des Verbündeten entgegenstrecken könnte, was soll die Erneuerung dieser Gräuel?
Was ist denn in Baden so arges geschehen, das den Haß auf's Neue auf diese
Höhe treiben könnte? Wird man denn ewig an dem Aberglauben kleben, daß nur
vergossenes Blut das Geschick versöhnt, oder ist es der späte Ausbruch eines
kleinlichen, langen verhaltenen Grolls?
Ich will nicht daran denken, daß einem siegreichen Prinzen, an dessen Namen
sich einst die Zuneigung und das Vertrauen der Nation knüpfen soll, das schöne
Recht der Gnade wohl angestanden hätte; ich will nicht auf die Frage eingehn,
ob die Tödtung des Verbrechers überhaupt ein Recht der Gesellschaft sei. Ich be¬
rufe mich nur auf das Rechtsgefühl, wie es an diesem bestimmten Fall sich ent¬
wickeln muß.
Als General Hirschfeld in seiner ersten Proklamation allen Preußen, die an
der badischen Jnsurrection Theil genommen, den Tod drohte, dachte wohl
Niemand daran, daß eine so schreckliche Verheißung in Erfüllung gehn könne.
Denn in viel höherm Grade hätte in diesem Fall der Großherzog von Baden
Veranlassung gehabt, zwei Drittel seiner sämmtlichen Unterthanen über die Klinge
springen zu lassen. Und doch ist das Unglaubliche geschehe», das erste Opfer der
neuen Burbarei ist nur darum gefallen, weil er, obgleich Preuße, gegen Preußen
gefochten hat. Eine abscheuliche Theorie, die den Krieg zu einem Gemetzel herabsetzt!
Denn um einen Krieg handelt es sich hier, und das sollte man in Berlin,
wo man sich noch vor einem Jahr veranlaßt sah, mit der siegreichen Jnsurrection
zu pacisciren, am wenigsten verkennen. Es ist hier von keinem Verrath die Rede
gewesen, sondern eine Partei in Deutschland, die sich in ihrem Recht gekränkt
glaubte, die wenigstens der Angabe nach für ein im größten Theil des Vaterlan¬
des anerkanntes Recht eintrat, ist von ihren Gegnern im offenen Kampfe besiegt
worden.
Es ist das in einer Zeit geschehen, wo seit anderthalb Jahren die Rechts-
begriffe sich so auf den Kops gestellt haben, daß keiner von sich rühmen kann,
in keinem Augenblick vou dem allgemeinen Schwindel ergriffen zu sein. Solche
Uebergangszeiten werde» nicht dadurch gesühnt, daß man nach einem beliebigen alten
Codex sei»e Macht an dem besiegten Gegner ausübt, und so denselben für eine
andere Wendung der Dinge zu ähnlichen Unthaten auffordert, sondern indem man
den Schleier der Vergessenheit über das Vergangene breitet. Was man unter
Amnestie im weiteren Sinn versteht, ist nicht Gnade, nicht das willkürliche subjek¬
tive Belieben des Herrn, der einen armen Schelm laufen läßt, während er ihn
eben so gut hängen könnte, sondern die feierliche Anerkennung, daß die vergalt-
gene Zeit eine solche war, in der die gewöhnlichen Begriffe eines Verbrechens
nicht mehr ausreichen. Dieses Pfand der Versöhnung wird aber unmöglich, wenn
man damit anfängt, sämmtliche Gegner niederzumetzeln.
Es kommt noch dazu, daß durch solche Strafen in der Negel nicht die Haupt¬
schuldigen getroffen werden. In unserm Falle häuft sich alles Gehässige auf Einen
Punkt zusammen. Max Dorrn war ein ganz junger Mensch, ein feuriger Idealist,
und er nahm an dem Aufstand erst Theil, als er bereits ausgebrochen war. Wenn
man Alle hinrichten will, die in diese Kategorie fallen, so wird daraus eine
Fleischerei, wie in den Tagen des Convents.
Wird man denn nicht endlich zu der Ueberzeugung kommen, daß vergossenes
Blut nicht der rechte. Kitt ist, der die Fundamente der Staaten zusammenhält!
Hier sollte doch einmal die Presse, die bald diese bald jene Verkehrtheit denuncirt,
einmüthig zusammenstehn und gegen Gewaltthaten Protest einlegen, vor denen
selbst Robespierres Trabanten schauderten.
In der Rede, mit welcher der Ministerpräsident Graf Brandenburg die nen-
znsammenberufenen torystischen Kammern eröffnet hat, finde ich dreierlei zu bemerken.
Einmal ist, der jüngsten Vergangenheit gegenüber, derselbe belehrende Ton
angenommen, den Bodelschwingh und seine Kollegen gegen den alten Landtag ge¬
brauchten. Aus die wunderbare Fülle von reitenden Thaten wird ohne alle Be-
sorgniß, daß ihr ungewöhnliche Form Bedenken über ihre rechtliche Natur her¬
vorrufen könnten, mit einem gewissen Wohlgefallen zurückgeblickt, und die Stände
werden darauf hingewiesen, den tieferen Zusammenhang dieser vollendeten Thatsachen
zu studiren, und nicht etwa den gewöhnlichen Maßstab des Rechts daran zu legen.
Von dieser Seite ist also eine erhebliche Achtung vor dem Urtheil der angeblichen
Volksvertreter nicht zu bemerken.
Aber in einer andern Beziehung spricht sich eine gewisse Scheu vor ihnen
aus, in dem, was nicht gesagt wird. Die Negierung erwähnt im Allgemeinen
den geordneten Zustand der Finanzen, und spricht von ihrem Project der Ein¬
kommensteuer kein Wort. Sie scheint diesen Plan also bereits aufgegeben zu ha¬
ben, bevor sie noch mit der Kammer einen Versuch gemacht. Der Erfolg eines
solchen Versuchs war freilich vorher zu sehn! Es war ein sonderbarer Zirkel:
man setzt zuerst theoretisch die Steuerqnote als den Maßstab politischer Befähi¬
gung fest, läßt danach wählen, und findet dann, daß sie es eigentlich in ihrer
jetzigen Beschaffenheit doch nicht ist, daß man daher das Steuersystem verändern
müsse, und diesen Vorschlag will man einer Corporation vorlegen, die aus jenem.
falschen System hervorgegangen ist, und in deren Interesse es liegen muß, daß
es dabei sein Bewenden hat.
Erfreulicher ist der dritte Punkt. Die Ansichten über die Entwicklung der
deutschen Verfassungsfrage sind mit einer Bestimmtheit ausgesprochen, daß an der
Durchführung derselben kein anderer Zweifel hasten kann, als — der über die
Fortdauer des Cabinets. Wenn in dieser Beziehung wenigstens die Kammern
sicher und energisch austreten, und die Negierung ebenso antreiben als unterstützen,
so würde wenigstens von einer Seite diese Session dem Vaterlande zum Vortheil
gereichen.
Wie sich die Demokratie der neuen Lage der Dinge gegenüber zu verhalten
gedenkt, ist uns ein Räthsel — vielleicht ihr selber. Die Aufhebung des Belage-
rnngszustandes von Berlin hat ihr Gelegenheit gegeben, sich als Partei zu rcor-
ganistren; wie sich in der Versammlung zu Köchen herausgestellt hat, trete» nun
die ehemaligen Gemäßigten, Unruh, Nvdbertus u. s. w., an ihre Spitze und es
ist nun die Gesammtheit der alten Constituante, die dem neuen Preußen gegen¬
übersteht. Durch welche Organe sie aber zu wirke», in welcher andern Art sie
über ihre bloße Existenz hinauszugehn gedenkt, als durch Promenaden, Ehren-
Pokale und geburtstägliche Demonstrationen wie die Waldecksche — ist nicht ab-
zusehn. Wenn sie nun dem Project, für Deutschland eine Verfassung vorzubereiten,
ebenso einen passiven Widerstand entgegensetzen wollte, als der Einführung der
preußischen Constitution, so würde sie eine schwere Verantwortlichkeit auf sich laden.
Der erste Theil eines mehrbändigen Werkes, welches sich die Aufgabe stellt,
die Geschichte des deutschen Parlaments in Memoireuform zusammen zu fassen. Das
Interesse, welches der deutsche Leser an diesem Buche nehmen wird, ist ein doppeltes,
der Stoff ist uns wichtig und der Name, velcher ihn verarbeitet, interessant.
Zunächst über den Inhalt des Werkes. Der erste Band, welchem der zweite
wenig Wochen folgen soll, beginnt mit der Reise zum Vorparlament und reicht
^6 zu Gagern'S berühmter Rede über die provisorische Centralgewalt. — Die
Darstellung ist zweckmäßig. Der erste Abschnitt bis zum Eintreten des Verfassers
'N die Nationalversammlung zeigt uus diese» selbst, wie er die bunten ver¬
wirrenden Eindrücke in dieser Zeit der Gährung i» sich aufnimmt, die Erschei¬
nungen beurtheilt und von ihnen bestimmt wird; hier ist Laube selbst der Mittel¬
punkt, »ut das interessante Detail, welches er gibt, besteht großentheils ans
charakteristischen Zügen und kleinen Anekdote», welche ans seiner Umgebung i»
seine Seele fallen. Von dem Augenblicke an, wo er sich einer großen gestalteten
Versammlung als Mitglied einreiht, tritt seine Person bescheiden zurück und seine
Aufgabe wird, die Gestaltung der politische» Parteien, ihren Kampf und ihre
charakteristischen Forderungen in den einzelnen großen Fragen darzustellen. Diese
Behandlung des Stoffes ist ganz richtig. In der ersten Zeit unklarer Währung,
wo die Bewegung noch in den Einzelnen fortläuft und der Kampf in der subjectiven
Empfindung der Massen liegt, ist der Versasser vollständig berechtigt, von sich selbst
ciuözugehu und an seiner eignen Persönlichkeit, mit der er doch am genausten be¬
schäftigt war, zu zeigen, wie ein verständiger Mann sich zu dem Sturm der Ta¬
gesfragen kritisch und bedenklich verhielt. Freilich ist ein Uebelstand dabei. Da
die Memoiren nicht in der Bewegung selbst, sondern später geschrieben sind, als
das Urtheil sicherer und unsere Nevolutiousweisheit größer geworden war, so ist
es bei der größten Ehrlichkeit des Schreibenden unmöglich,' daß er sich in allen
Fällen genau erinnere, welchen Standpunkt er in der Zeit des Sturmes selbst ein¬
genommen und wie er sich damals zu den mächtigen Eindrücken verhalten habe,
welche auf ihn einstürzten. Auch der Ehrlichste wird in Gefahr kommen, absichts¬
los, vielleicht wider seinen Willen, etwas von der Aufklärung, Ruhe und Weis¬
heit, welche ihm der spätere Verlauf und Ausgang der Dinge nachträglich gebracht
hat, in dem Urtheil zu anticipiren, welches er bei solcher Memoirendarstellung im
Drang der Ereignisse selbst zu fällen hat. Laube hat diese Schwierigkeit erkannt
und sich redlich bemüht, ihr aus dem Wege zu gehn.
Wenn ein gewandter Novellist, ein dramatischer Schriftsteller, die Geschichte
einer constituireiiden Versammlung schreibt, so mögen wir von vorn herein zwei
Vorzüge von demselben erwarten. Erstens ein scharfes und genaues Charakteri-
siren der Personen und zweitens eine lebhafte und übersichtliche Darstellung der
politischen Ideen, welche aus der Versammlung herauswachsen, in Kampf ge¬
rathen und sich in einem Resultat, den Beschlüssen der Versammlung, nieder¬
schlagen. Und wenn der Schriftsteller Laube heißt, so können wir serner voraus¬
setzen, daß die Charakteristik der politischen Persönlichkeiten in der geistreichen,
raffinirten, an Bildern und Vergleichen fast überreichen Manier stattfinden wird,
welche dem Kunststyl seiner Richtung eigen ist; und daß ferner die dramatische
Darstellung der parlamentarischen Kämpfe weniger Vollständigkeit und Ausführ¬
lichkeit, el'n starkes Hervorheben des Charakteristischen, Jmpvnirenden und Ent¬
scheidenden erstreben wird. Es ist keine vollständige Geschichte des Parlaments,
welche wir erhalten, sondern eine liebenswürdige genrehafte Darstellung seiner Er¬
scheinung. Wir halten gegenwärtig diesen Umstand für einen Vorzug. Noch ist
die Zeit nicht gekommen, wo der Geschichtsschreiber seinem Volk gegenüber, von
der größten politischen That der Deutschen, dem Kongreß der Paulskirche, mit
Superiorität sprechen darf, und mit jeuer Unbefangenheit, welche wir erst dem Ver¬
gangenen, Abgeschlossenen gegenüber besitzen, noch dauert der Kampf um das Par¬
lament in unsrem politischen Leben fort und bei vielen Probleme», welche uns die
Versammlung hinterlassen hat, fehlt noch die Lösung, welche unser Urtheil über
die Versammlung selbst nothwendig modificiren muß.
Ein Hauptverdienst des Werkes ist, daß der Verfasser den Centren der Na¬
tionalversammlung angehörte, mit voller Seele und ehrlicher Hingebung in seiner
und unsrer Partei lebte, und durch den freundschaftlichen Verkehr und die Ge¬
nossenschaft der Vorversammlungen mit all den bedeutenden und einflußreichen
Menschen in ein persönliches Verhältniß trat. Dadurch erbat' sein Buch eine sehr
wohlthuende Parteiwärme, und sein Urtheil jene Sicherheit, n elche anch der stärkste
Charakter erst dann zu erhalten pflegt, wenn er seine persönlichen Ueberzeugungen
mit den gleichlaufenden Ansichten tüchtiger Freunde und Genossen verglichen hat.
Sehr gut hat Laube es verstanden, die Schilderung der Parlamentsheldeu
selbst mit der Darstellung des parlamentarischen Lebens zu verbinden. Er sührt
die Einzelnen da ans, wo sie das erste Mal bedeutend im Kampfe heraustreten,
porträtirt sie bald mit wenig Strichen, bald in längerer Ausführung, wie er
z. B. mit Nadowitz thut und deutet kurz und mit Menschenkenntniß ihre Meta¬
morphosen und ihre Stellung zu deu Parteien an. In diesen Portraits ist sehr
v'el Schönes und Wahres und wenn den Grenzboten hin und wieder ihre Freude
darüber verkümmert wurde, so war nur der Styl schuld, gegen welchen sie in
Principieller Opposition stehen.
Wenn wir ein ausführliches Urtheil über das Werk bis zum Erscheine» des
letzten Bandes hinausschieben müssen, so wollen wir hier die Gelegenheit benutzen,
dem Verfasser selbst unsern Glückwunsch über die Richtung auszusprechen, welche
sein Leben durch das letzte Jahr genommen hat. Daß Laube das Jahr 48 in
Frankfurt als Mitglied der Nationalversammlung, im Kampfe um die höchsten In¬
teressen der Nation, in menschlicher Verbindung mit den edelsten und besten Kräften
des Volkes verlebt hat, ist grade für ihn, den Dichter, ein unendlicher Vortheil.
Wie Alle, welche in Deutschland als Schaffende lebten, litt Lanbe an der Ver¬
sumpfung des deutschen Lebens, an der schönrcdnerischen Hohlheit einer weichlichen
rafstnirten Zeit, welche sich mit tönenden Phrasen kitzelte, ohne die Kraft zu be¬
sitzen, für klares und einfaches Erkennen, oder energisches Wollen. Laube selbst
war in einer liederlichen Zeit mit burschikoser Leichtigkeit als Schriftsteller ausge¬
treten und hatte alle Anläufe, welche unsere Kunst nach irgend einer Richtung
hin machte, und alle Wunderlichkeiten, in welche sie verfiel, redlich mitgemacht.
All seine geistige Beweglichkeit und ein tüchtiger Fond von Ehrlichkeit waren nö¬
thig, um ihn in solcher Zeit, über dem Wasser zu erhalten. Das vergangene Jahr
hat ihm mehr als jedem andern deutschen Schriftsteller Gelegenheit gegeben, sich
Gesundheit, große Eindrücke und große Interesse» zu erwerben. Es war ein gei¬
stiges Verjüngungsbad, welches ihm geworden ist. Jetzt erst kann das, was er
an poetischen Talent besitzt, seiner Nation zu gut kommen. Er ist größer und
stärker geworden, hoffen wir, daß auch aus dem, was er uns in ZuÜmft schasst,
der Segen des vergangenen Jahres ruhe.
Die Grenzboten genießen das zweifelhafte Glück, ihre Artikel nicht selten in
den Tagesblättern wiederzufinden. Unsere großen Cousinen z. B. die Kölner,
die Deutsche beweisen uns ziemlich häufig die Theilnahme, unsere Arbeit für ihre
Leser zu benutzen. Da sie nicht verfehlen, durch Zufügung der gesetzlichen Klam¬
mer: aus den Grenzboten das Dekorum zu beobachten, so können wir gegen solche
Offenbarungen ihrer Familienzärtlichkeit nicht viel einwenden. Jedenfalls sind
wir nicht unempfindlich gegen die Ehre, welche uns dadurch erwiesen wird. Nur
Mischen sich einige Bedenken in unsre Freude über ein so großes Wohlwollen.
Wir sind nämlich nicht in der Lage, ihnen Gleiches mit Gleichem vergelten, und
unsrerseits auch ihre Artikel nachdrucken zu können und leiden doch an' der kleinen
Unbequemlichkeit, das Eigenthumsrecht an den Aufsätzen , welche wir bringen, er¬
kaufen zu müssen. Nun ist klar, daß für uns das Anlaufen des Eigenthumsrechts
ziemlich unpraktisch wird, wenn das, was wir für uns erworben haben, sogleich
von der ganzen ZeitungSfamilie socialistisch benutzt wird; ferner ist klar, daß unsre
Mitarbeiter kein großes Interesse haben können, grade uns ihr geistiges Eigen¬
thum , unter gewissen Einschränkungen, aus eine bestimmte Zeit ze. zu verlausen,
wenn dasselbe sogleich Gemeingut der ganzen Presse wird, die heut wie über's
Jahr den Artikel ungehindert aus uns abdrucken darf; und endlich ist auch klar, daß
unsre Leser kein Interesse mehr haben werden, die Grenzboten selbst zu halten,
wenn sie aus drei, vier großen Blättern unsrer Partei, das Jnteressanteste jedes
Wochenhcfts ziemlich vollständig zusammen lesen können. Und deshalb scheint das
warme Interesse, welches wir unsern großen Verwandten einzuflößen das Glück
hatten, uns selbst die bedenkliche Aussicht zu eröffne«, daß wir für das Publi¬
kum weniger wünschenswerth werden, als sür die Zeitungen. Ihre Liebe wird
uns erdrücken, aussaugen, auszehren, wir gestehen ehrlich, daß uns das nicht
unbedingt Spaß machen würde. Wir geben gern zu, wenn man uus erzählt,
daß el» gewisses Interesse, ein zeitweiliges Erwähnen der Grenzboten durch die
Tagespreise uns nicht nur ehrenvoll, sondern auch nützlich sein könne, aber die
Freundschaft, welche man uus in den letzten Wochen erzeigt hat, geht über alles
Maaß, über alle Schranken hinaus, und wird wahrhaft beunruhigend. Jede
politische Neuigkeit, welche wir mittheilen, jeden Einfall, welchen man uus lobt,
alle Einzelnheiten, welche wir finden, erfahren, schaffen, geben wir ja gern der
steifem Verwendung preis, aber bei dem Ganzen größerer Aufsätze, welche nicht
nur ihrem Inhalt, sondern auch ihrer Form und Ansdehnug nach Anspruch auf
eine gewisse Bedeutung machen, müssen wir ernsthaft bitten, den Nachdruck nach
den Regeln des gemeinen Anstandes beschränken zu wollen.
Leider sind wir genöthigt, der deutschen Reform einen ernsten Vorwurf zu
mache». Was sie uus gegenüber versehn hat, ist an sich eine Kleinigkeit, aber
wir haben dabei ein Princip und das Interesse eines Korrespondenten zu vertreten.
Sie hat in Nro. 423 unter dem Titel „die Hirten und die Fischer in dem unga¬
rischen Heere" einen Aufsatz ans den Grenzboten Nro. 27." zur neusten Geschichte
Ungarns lV." nicht nachgedruckt, sonder» verstümmelt. Daß sie bei dieser
Art der Mittheilung, die Grenzboten nicht als Quelle genannt hat, ist in der
Ordnung, die Behar^trug des Aufsatzes selbst aber ist ein Unrecht gegen den
Verfasser, wie gegen uus/ Denn es ist keine Benutzung des Inhalts, 'der ihr
unter allen Umständen frei stand, sondern ein wörtlicher Abdruck der einzelnen
Sätze des Aufsatzes, welche uur hin und wieder in ihrer Stellung verändert oder
beschnitten und mit kurzen ungeschickten Zusätzen versehn sind. Eine solche Flick¬
arbeit bleibt unter allen Umständen ungesetzlicher Nachdruck, der für unsere Mit¬
arbeiter besonders deshalb unangenehm sein wird, weil er ungeschickt gemacht
ist. Hätte die deutsche Reform den Aufsatz abgedruckt, ohne die Quelle anzugeben,
so würden wir kein Wort darüber verloren haben, den gut geschriebenen Artikel
aber in einen unbedeutenden und farblosen zu verwandeln, das ist ein Unrecht
gegen den Aufsatz selbst, welches wir uicht unerwähnt lassen dürfen. Und grade
die deutsche Reform muß sich deu Vorwurf eines ungesetzlichen Nachdrucks macheu
lassen! Wir aber sind in die Nothwendigkeit versetzt, solche Uebergriffe der Presse,
auch wo die Sache an sich unbedeutend ist, nicht unerwähnt zulasse», denn grade
einer Wochenschrift find die gesetzlichen Bestimmungen über Nachdruck ein dürftiger
Schutz, wir habe» da durchaus keine Lust, auch noch in den Fällen darauf zu
Der große Stamm der Südslaven beginnt selbstthätig in das Geschick der
europäischen Staaten einzugreifen, er strebt nach staatlicher Ordnung und Einheit
für sich selbst und hat deshalb alte Banden, welche ihn dnrch Jahrhunderte an
Ungarn oder an die Türkei festschnürten und durch Gewohnheit und Verträge ge¬
weiht waren, gebrochen. Auch für Oestreich ist die Zeit nicht fern, wo das Volk,
welches jetzt seinen Signalen in die Schlacht nachzieht, sich feindlich gegen den
Doppeladler erheben wird. — Noch immer ist in Deutschland die Familie der
südslavischen Völker wenig bekannt, ihre gemeinsame Eigenthümlichkeit und ihr
innerer Zusammenhang nicht genügend beachtet. — Die Grenzboten sind nicht ganz
fremd in dem türkischen Grenzland, sie werden versuchen, ihren Lesern einiges
Interessante aus der dämmrigen Ferne der schwarzen Berge und der serbischen
Wälder mitzutheilen.
Der südslavische, oder serbische, oder illyrische Stamm bewohnt in der Türkei
das Fürstenthum Serbien, Bosnien mit der Herzegowina und Montenegro; im
Kaiserstaat: Dalmatien, das südliche Jllyrien, Kroatien, Slavonien, die Grenze und
den südlichen Theil des Bcmats, welcher als Woiwodina im vorigen Jahr eine
Provinzialsouveränität erstrebte. Zu zwei Kaiserreichen gehört dies große serbische
Volk, über 5 Millionen Menschen; auch zu verschiedenen Kirchen. In Bosnien
ist ein Theil des Volkes zum Islam übergegangen. Der Serbe, der Montene¬
griner und der größte Theil der Raja in Bosnien sind nicht nuirte Griechen, in
den östreichischen Landestheilen sitzen uuirte und nicht uuirte Griechen durcheinan¬
der. Aber der Unterschied zwischen den beiden griechischen Kirchen ist durchaus
kein nationaler, er ist ein sehr äußerliches und oberflächliches Popenwerk, um
welches sich das Volk wenig kümmert. Die Union der westlichen Serben mit der
römischen Kirche hat so geringe Bedeutung für die Masse, daß es durchaus keine
Schwierigkeit machen würde, dieselbe wieder aufzuheben. Man legt in Deutsch¬
land so großen Werth auf einen Unterschied, der für die politischen Verhältnisse
gar keiner ist. Unter gewissen Verhältnissen wird der nicht unirte Jllyrier grade
so feindlich gegen Rußland gestimmt sein, als der unirte. — Bei verschiedener
Negierung und verschiedenem Kultus fühlt sich der ganze Stamm doch jetzt als nationale
Einheit; dieselbe Sprache, dieselbe» Helden, dieselben Stoffe für die Phantasie Aller.
Als ein kriegerisches Geschlecht sitzen sie zwischen Türken und Christen, aus dem Zu¬
sammenhange mit den übrigen Slaven sind sie durch fremde Nachbarn gelöst; im
Osten, in der Wallachei, Moldau und Siebenbürgen werden sie begrenzt durch
Nachkommen der alten römischen Grenzer, welche sich mit slavischem Blut und
slavischen Lauten gemischt haben und als Rnmainen oder Wallachen für sich eine
nationale Einheit ersehnen; im Nordwesten gehen sie von Agram ab allmälig in
einen ander» Slavenstamm, die Slovenen oder Svrbv-Wenden über, welcher von
Magyaren und Deutschen vielfach durchbrochen und bewältigt, sich durch eiuen Theil
Illyriens, Steiermark und Kärnthen zieht und in einzelnen Stöcken und Lagern
bis weit hinein in die deutsche Zunge geschleucrt ist, weicher und ohne große Ver¬
gangenheit hat dieser Stamm mit der Zeit fortdauernd an Terrain verloren, wäh¬
rend der serbische sich über die Sumpfebene der untern Donau erst in den letzten
Jahrhunderten ausgebreitet hat. Im Norden begrenzt der Magyar und der Deut¬
sche den Serben, oft in engem Durcheinanderwvhnen, und die Einwohnerschaft
solcher dichten, gemengten Landestheile ließ sich bis vor kurzem mi> einem zusam¬
mengesetzten Gestein, etwa dem Granit vergleichen, der Magyar der Quarz, der
Slave der Feldspat!), der Deutsche der Glimmer, jetzt freilich habe» sich alle
Augen gelöst und die einzelnen Bestandtheile der mächtige» Völkermasse brechen
feindlich auseinander, sich gegenseitig zerstörend.
Von deu Völkern des serbischen Stammes sind die Bosnier am wenigsten
bekannt. Wir wollen mit ihnen eine Charakteristik der Südslaven beginne».
Südlich von der weißen save liegt das türkische Bosnien, ein weiter Land¬
strich, geformt aus Bergreihen und breiten Thälern, aus welchen kurze Flüsse in
schnellem Laufe nach Norden dem Stromgebiet der Donau zueilen. Abgeschlossen
von der Welt und in sich geballt liegt die fruchtbare, wälderrciche Landschaft da,
wie im Schlummer. Am Nordufer der save sperrt eine Kette von zahllosen
Wachthänsern die östreichische Grenze Slavoniens und Kroatiens; im Osten wird
Serbien getrennt durch deu Pcstcordon der fürstlichen Regierung, welche sich von
der türkischen Wirthschaft zu fast souveräner Freiheit abgelöst hat; den Westen
schließen die Felsenberge der dalmatischen Küste und des freien Montenegro. Nur
der Süden nach der Türkei zu ist offen, dort hält der Vezir seinen Einzug in
das Laud, und der Türke reitet hinaus, seinem Großherrn den Ueberschuß des
Landestributs nach Constantinopel zu bringen. Nur selteu überschreitet der Fuß
eines civilisirten Reisenden die Grenze, der Kaufmann aus Agram, ein deutscher
Botaniker, oder ein Maler aus Italien. Die geographische und staatliche Orga¬
nisation des Landes ist wenig bekannt, sehr unbekannt ist die Seele des Volkes,
welches dort wohnt und in diesem Augenblicke einen Ungeschickten Versuch macht,
sich mit seinen Bruderstämmen in Verbindung zu setzen.
Es ist ein seltsames verkümmertes Geschlecht, welches sich in dem einsamen
Lande fortpflanzt. Seit die Enkel des großen Serbenkönigs Stephan Dnschan am
Ende des vierzehnten Jahrhunderts den Türken erlagen und Bosnien eine türki¬
sche Provinz wurde, hat sich dort türkisches Wesen mit serbischer Art in unge¬
füger Weise vermischt. Die Fürsteukiuder, der zahlreiche Adel des Landes gingen
nach n»d nach zum Islam über, ohne ihre Nationalität, ihre Erinnerungen und
ihre Sprache auszugeben. Sie erstarrten in träger Rohheit und Schwäche, wie
das Volk selbst; nur hier und da erhielten sie sich ihre erblichen Wviwodenrechte,
zumeist in der Herzegowina, dem westlichen Theile des Landes, und dort wohl
auch ihren alten Glauben. So ist es gekommen, daß gegenwärtig in dem Lande
drei Parteien durch einander wohnen, ächte Türken, Bosnier muhamedanischen
Glaubens und Christen. Die Türken, die Herrn des Landes sind am wenigsten
zahlreich, sie sind die Nachkommen der Spahi, der Beg und Pascha, welche als
Negierende von Constantinopel in das Land geschickt wurden, oder Handelsleute,
Abenteurer :c. Dem Volk stehn sie noch jetzt fremd gegenüber, und wenn sie
die Raja, die Gemeinden der christlichen Bosnier, drücken und aussaugen, so
hassen sie den muhamedanischen Bosnier noch außerdem als einen unächten Tür¬
ken. Beide, die muhamedanischen Bosnier und die Osmanli, können einander
noch heut nicht ausstehn, der Bosnier schimpft auf den Türken, es gebe keine so
häßlichen Menschen unter der Sonue, und der Türke sagt, die Bosnier seien nur
oberflächlich zum Propheten bekehrt und schlimmer als ungläubige Ehristeuhunde,
man müsse sie drücken und treten, damit sie sich fürchten, diese Halbtürken! Der
muhamedanische Bosnier aber wird wieder von seinem christlichen Landsmann gefürchtet,
denn sein Glaube gibt ihm das Privilegium Waffen zu tragen, was der Christ
nur auf Reisen thun darf; als Beamter der Negierung sich zu spreizen, was dem
Christen nie gelingt; ja sogar den Namen Bosnier für sich allein in Anspruch zu
nehmen, denn der eingeborne Christ darf in Bosnien den Namen seines Bolkes
nicht führen, er heißt als Gemeinde Raja, als Einzelner Wlache"), bei vertrau¬
licher Anrede Giaur (Hund). Bis zu den Formeln der Begrüßung geht dieser
Unterschied der drei Parteien, jede hat einen eignen Gruß i» Anspruch zu nehmen.
Der Zahl nach sind die Christen am stärksten, fast alle sind nicht »nirte Griechen,
im westlichen Theil vielleicht ein Hunderttausend lateinische Cbiisten; die Bosnier
des muhamedanischen Glaubens machen die kleinere Hälfte der Einwohner aus,
aber sie gevehrden sich als Kern der Nation. Wenigstens sind sie der originellste
Theil des Volkes. Allerdings sind sie nur halbe Muhamedaner und haben viel
christliche Ketzerei in Gebräuchen und Sagen behalten. Die großen Helden der
serbischen Sagen füllen ihre Phantasie, wie die ihrer christlichen Brüder, und da
die Heldenthaten ihres Stammes fast immer ans dem Kampf mit den „ungläubi¬
gen" Türken hervorgingen, so sind sie in der eigenthümlichen Lage, grade das
bewundern zu müssen, »räh gegen ihren eigenen Glauben unternommen wurde.
Dadurch kommt zuweilen eine große Confusion in ihre Vorstellungen; man muß
ihnen aber einräumen, daß sie alle solche logische Schwierigkeiten mit großer Nai¬
vität und Gemüthlichkeit durchmachen. Die Sprache aller Bosnier ist serbisch,
sehr Wenige versteh» türkisch, aber viele türkische Wörter haben sich bei ihnen
eingebürgert, und sie behaupten mit großer Zuversicht, daß die Türken diese erst
von ihnen gelernt haben und daß das ganze Türkisch nur verschlechtertes Bosnisch sei.
Aber ihr Zusammenhang mit den übrigen südslaviscken Stämmen ist ihnen nicht
mehr klar, alles was jenseit der weißen save wohnt, selbst ihre Stammgenossen,
Kroaten und Slavonier, nennen sie Schwaben, und da sie entdeckt haben, daß
diese „schwäbischen" Nachbarn dieselbe Sprache reden, wie sie selbst, so schließen
sie mit mehr Selbstgefühl als Wahrheit, daß auch die Schwaben und alle übrigen
Völker die böhmische Sprache reden und daß diese die Hauptsprache der Welt sei.
In Sitten, Wohnung und Lebensweise, welche die Bosnier mit den Serben des
Fürstenthums gemein hatten, hat natürlich der Islam viel Veränderungen ein-,
geführt.
Keine Veränderung zum Guten! Ueberall erscheinen die Formen des einhei¬
mischen Lebens verschoben und zerbrochen, der Zwiespalt im Glauben hat auch eiuen
Riß gemacht durch die Seele des Volkes und viele Entartung und Verdorbenheit
befördert. Im Familienleben, im Geschäft, in der Negierung. In Serbien
wohnte die Familie zusammen auf dem ungeteilten Grundstück, das Haus war
wie ein Bienenkorb, und jeder Sohn und Enkel baute für sich und sein junges
Weib eine neue Zelle an den alten Stock; um einen Heerd versammelte sich die
ganze Familie; beim Tode des Familienhauptes wurde das Gut nicht zerschlagen,
es blieb Familienbesitz, die Repräsentation und das Eigenthumsrecht gingen
durch Geburt, oder Wahl der Familiengenossen an einen der Nachkommen über;
die Brüder und Vettern gehorchten ihm und ehrten ihn. Daher stammt jene
eigenthümliche Ausbildung der Familiengefühle, welche uns befremdet. Das Ver¬
hältniß zwischen Bruder und Schwester ist idealer und zärtlicher, als das zwischen
Manu und Weib, der Bruder folgt seinem Bruder bis zum Tode, der Sohn sei¬
nem Vater, den Tod eines Familiengliedes zu rächen ist heilige Pflicht. In Bos¬
nien dagegen steht das Haus des einzelnen Mannes mitten im Gehöft, von einer
Mauer umschlossen, durch die nur eine kleine Thüre am verriegelten Thorweg hin¬
einführt. In dem Hause sitzt der Herr allein auf dem Polster, hat er Diener,
so lungern diese an den Wänden; für die Weiber ist ein eigenes Gebäude, v?r-
schlössen und unzugänglich neben dem Haus des Mannes gebaut, dorthin ist der
Kochheerd und das kleine Leben der Wirthschaft verbannt. Auch die Hütte des
Aermsten hat zwei Abtheilungen, eine für den Mann, die andere für das Weib,
und beide Geschlechter verbringen den Tag von einander getrennt. Bei solcher
Sitte kann kein starkes, einiges Familienleben bestehn, deshalb theilt in Bosnien
der sterbende Vater sein Hab und Gut unter seine Kinder, von denen Jeder sein
Weib und seinen Haushalt gegen die übrigen abschließt. Für ein unterdrücktes
Volk ging dadurch viel verloren. Deshalb sind in Bosnien die ftböuen poetischen
Stimmungen und Gefühle, welche in Serbien auch das Leben des Aermsten adeln,
ist die zarte Anhänglichkeit an den großen Kreis verwandter Hausgenossen sehr
wenig vorhanden. Auch die Naja hat viel von diesem türkischen Brauch angenom¬
men, das Weib des Christen trägt sich wie die Türkin, um bei ihrem Gange
durch das Dorf nicht Spott zu erfahren, das weiße Tuch hängt ihr vor dem
Kopf und sie hält seinen Zipfel mit den Zähnen fest, um ihr Angesicht zu ver-,
bergen. — Auch die Thatkraft, der Fleiß, die Freude vou der Arbeit ist durch
den Islam verringert. Was die Oswanli in das Land mitbrachten, Indolenz,
Schmutz, ein träges Kauern hinter dem Pfeifenrohr und Verachtung gegen viele
nothwendige und nützliche Handarbeit, das haben die Bosnier ihnen eifrig abgelernt.
Wer Muhamedaner ist, liebt das Nichtsthun und die schnelle Wuth träger Natu¬
ren gegen die Untergebenen. Wer Leute hat, welche ihm dienen, der verdirbt sie,
bald durch Unthätigkeit, bald durch Tyrannei. Die Verachtung gegen die Un¬
gläubigen ist beim Bosnier so groß als beim Osmanli, die Eifersucht ans die
Privilegien seines Glaubens wo möglich noch größer. — Der Serbe hielt sich
und seiue Sitten rein dem Türken gegenüber, er ließ dem fremden Herrn die
Stadt und wohnte fern von ihm in der Landschaft, die der einzelne Moslem oft
nicht betreten durfte. In Bosnien herrscht der Türke in jedem Dorf, Abenteurer
ans allen Gegenden des Reiches, der Auswurf aller Länder, breiten sich als
Herren der Raja auch auf dem Lande, und diese Meuscheu sind es zumeist, welche
türkische Art verhaßt erhalten. Arnauten, Bulgaren, beides cutlasseuene Kriegs-
knechte, beschnittene Zigeuner und wandernde Derwische machen feige Mordthaten
häusiger, als selbst bei der schlechten Regierung des Landes zu erwarten wäre.
Die Raja lebt in dem größten Theil des Landes in steter Demüthigung. Wehe
dem Christen, dessen Hans sich stattlich erhebt neben den türkischen Nachbar¬
häusern, er würde in den Verdacht kommen ein Reicher zu sein und Habe und
Gut an die habsüchtige Macht verliere». Unscheinbar und dürftig muß er einher¬
gehen; wenn er dem Muhamedaner auf der Heerstraße begegnet, muß er sein
Gespann abführen von der Straße und warten, bis sein Herr vorbeigezogen ist;
seine Schweinchen, die unreinen Thiere, darf er im Paschalik Sarajevo nicht auf
der Straße des Dorfes laufen lassen, in der Hauptstadt selbst darf er gar keine
halten; von der Arbeit des Christen lebt der Spahi, der Pascha und der Aga,
und außerdem fast jeder wandernde Türke.
Und deshalb ist das Leben des Bosniers arm geworden, der Fing seiner
Phantasie ist gelähmt, er zehrt an den großen Erinnerungen des Serbcnstammes,
ohne selbst neue Thaten zu erleben, welche seine Sänger feiern könnten. Ja auch
sein Gesang ist verringert worden, denn an die'Stelle des serbischen Sängers
mit der Gusle ist bei ihm der breite türkische Erzähler getreten, und die Dich¬
tungen seines Volkes sind nicht schöner geworden in dem Munde des Märchen-
manncs, welcher auf dem türkischen Teppich mit untergeschlagenen Beinen sitzt und
raucht.
Wohl sind die Bosnier im Verkehr ein gutherziges aber rohes Volk,
auf welches der Serbe mit Achselzucken und mitleidiger Verachtung herab¬
fleht, ihre treuherzige Einfalt hat sie bei ihren Nachbarn in das Renommee
von „dummen Teufeln" gebracht. Daß der Schnitt ihrer Beinkleider gar zu
weit und ihr Gesichtskreis gar zu klein ist, und daß sie ein kleines weißes
Mützchen auf dem kahlgeschornen Kopf tragen und in einem türkischen Fuchspelz
einherziehn und höchst schauderhaft fluchen, das wird ihnen vielfach bespöttelt.
Und doch fehlt es ihnen gar nicht an Scharfsinn und Schlauheit, uur wird er
in der Fremde durch ihr Erstaunen über das viele Unbekannte und Jmponirende
gedämpft. Auch ein behagliches Selbstgefühl haben sie, und jenen Stolz, welcher
isolirten und verkümmerten Menschen und Völkern eigen ist, den Ahnenstolz. Der
Bauer malt sein altes Wappen an die Stubenirand, und sehr viele Adelsbriefe
noch ans Stephans Zeiten her werden in den Banerhütten und den Schlössern der
muhamedanischen Bosnier sorgfältig als ein Schatz verwahrt.
Die wenigen gelehrten Reisewerke, welche wir über Bosnien haben, erzählen
uns sehr wenig von dem innern Leben des Volkes selbst. Das beste Mittel ein
Bild von dieser verkommenen Völkerscele zu geben, wäre, die Bosnier selbst
sprechend einzuführen. Es gibt ein kleines Buch in serbischer Sprache, die Reise
eines kroatischen Handwerkers, welcher um das Jahr 1840 in Bosnien war, dort
Vieles mit gesunden Augen sah und mit großer Genauigkeit in treuer Localfarbe
wieder zu geben wußte. Aus seinem Munde hat Dr. Ludwig Gay in Agram
die Reise wörtlich nachgeschrieben und unter dem Titel „^"^led u üosnu *),"
Blick ans Bosnien, herausgegeben. Wir theilen aus der einfachen Darstellung,
welche überall das Gepräge der größten Wahrhaftigkeit hat, in möglichst genauer
Uebersetzung eine Anzahl kleiner Züge mit, welche schneller als eine Abhandlung
unseren Lesern die Richtungen des böhmischen Lebens charakterisiren werden, auf
welche es uns bei dieser Darstellung ankommt. Der reisende Serbe erzählt selbst:
„Ich kam bis zur Felsenwand des Nopal in dem Nvmanjagebirge (bei Sara¬
jevo). Meine Glieder erstarrten und dennoch überfloß mich ein starker Schweiß,
mein Kopf drehte sich, ich konnte mich nicht auf den Füßen halten und siel von
der Straße hinein in den tiefen Schnee. Der scharfe schneidende Morgenwind
brachte mich wieder zu mir, ich riß mir den Rock auf, den Schweiß zu kühlen.
Da kam ein Mann des Wegs daher, orientalischen Glaubens, welcher mit seinem
Weibe auf drei Saumkleppern Getreide nach dem M,irkt von Sarajevo gebracht
hatte und jetzt die leeren Pferde führend heimkehrte. Die guten Leute sahen mich,
erkannten mich als Fremden und frugen woher ich sei, wo ich gewesen und wohin
ich gehe. — Manu und Weib sahen einander eine Weile gutmüthig an und er
sprach: Nun, Weib, was thun wir mit ihm? El, sprach sie, wirf ihn quer
über's Pferd und nimm ihn mit bis über das Nomaujagebirge, das wird ihm
sehr helfen. Bereitwillig sprang der Manu vom Pferde, trug mich aus die Straße,
schüttelte den Schnee von meinen Kleidern und Haaren und sprach: Milicza,
mein Liebchen, reiche mir die Flasche aus dem Q-uersack, damit sich der Mensch ein
wenig erhole. Sie reichte die Flasche heraus und gab mir dreimal Branntwein
zu trinken, darauf hoben sie mich auf das Pferd und ich kam glücklich über das
Gebirge. — Mein Wohlthäter hob mich vom Pferde, führte mich in den Han
(die Schenke) und empfahl mich dem Daga-Spahia. Der Daga-Spahia brachte
mich in sein Kaffeezimmer, ich legte mich dort auf den Teppich. Sein Hodza
(Geistlicher) trat theilnehmend zu mir. — Türkische Kaufleute kamen zum Nachen
quartier und da sie meinen kläglichen Zustand erkannten, drangen sie in mich, doch
etwas zu essen, sie würden für mich bezahlen. Ich hörte, wie sie unter einander
flüsterten, das müsse man thun, es sei ein großes Sevat (gutes Werk), einem
Fremden in der Krankheit beizustehn. — Ich lag ohne mich rühren zu können
und konnte ihnen kaum ein Zeichen geben, daß ich nichts wolle, nichts brauche.
Da trat der Hodza wieder zu mir, sagte zwei bis dreimal: Bete zu Gott, Ge¬
vatter, bete nach deinem Gesetz! Ich konnte ihm nicht einmal zu verstehen geben,
daß ich dies nicht im Stande sei, er mochte das aber selbst einsehn, nahm den
Koran und begann über mir Gebete zu sprechen. Während er betete, brachte der
Odadzia (Kellner) das Nachtmahl auf das Speisebrett, die türkischen Kaufleute
lagerten sich herum, ohne sich weiter um uns zu kümmern, nur hörte ich sie beim
Essen öfter das Bedauern aussprechen, daß ich Aermster in fremdem Lande krank
geworden sei und wahrscheinlich nicht davon kommen werde. Nach dem Nachtessen
erzählten sie einander Sagen und Märchen. — Mit dem ersten Hahnenschrei er¬
wachte ich, zeitig standen auch meine Türken auf, tranken Kaffee und sagten dem
Kellner: koche ihm zwei Tassen Kaffee mit Zucker, wir werden sie bezahlen. —
„Ich kam nach Sarajevo zum Stadtthor. Die türkischen Wachen visitirten
mich genau und führte» mich zum Pascha, zu Mustafa-Pascha Bahia, genannt
Chrn --Chrnakovic. Dieser frug mich, wer ich sei, welches Gewerbes und woher?
Ich gab ihm zur Antwort: ich bin aus Schwaben, meinem Zeichen nach ein Hand¬
werker und möchte gern in Eurem berühmten Land ein Plätzchen finden, wo ich
mich mit meinem Gewerk' niederlassen könnte. Der Pascha drauf: Ich dachte
schon lange daran, Handwerksmeister aus fremden Landen nach Sarajevo zu laden,
ich wollte ihnen Handwerkszeug geben zum Arbeiten. Ich werde es anch thun,
und dn sollst hier bleiben, bis ich das Zeug bekomme und mehr Handwerksmeister.
Du bleibst indeß hier auf dem Hofe. — „Was soll ich hier ans deinem Hofe
thu», ehrenwerther Pascha?" — Nanchst du? — Ich antwortete: ich rauche. — El,
wenn du rauchst, so setze dich her, wo die Andern sitzen und rauche, wie die An¬
dern rauchen. — So blieb ich in des Pascha Dienst und erhielt von dem Tage an
Brot und Kost. —
„Liegt ein Bosnier muhamedanischen Glaubens in den letzten Zügen, so wird
ziemlich unter den Augen des Verscheidenden ein kupferner Kessel zur Tvdteuwäsche
gewärmt und ein langer hölzerner Waschzuber bereit gehalten. Beginnt der
Sterbende zu röcheln, so eilen und schreien die Angehörigen durcheinander: „Laufe
nach dem Kessel, das Wasser muß heiß sein! schnell deu Waschzuber herbei, damit
uns die Leiche nicht auskühle!" Kaum ist der letzte Athemzug gethan, so wird die
Leiche schnell in den Zuber gelegt und tüchtig mit heißem Wasser abgewaschen.
Das muß geschehen, bevor die letzte Lebenswärme völlig aus dem Körper ge¬
wichen ist, denn ist der Leib verkühle, ohne vorher abgewaschen zu sein, so zürnt
der große Prophet dem Verstorbenen und holt ihn nicht in das Paradies, in wel¬
ches tun Unreiner eingehen darf. Gleich nach der Waschung werden dem Leich¬
nam Ohren, Nasenlöcher, Mund u. s. w. sorgfältig mit Baumwolle verstopft.
Während dieser Operation haben einige Hausleute in aller Eile im Garten oder
im Hofraum oder an einem hübschen Plätzchen an der Heerstraße ein ziemlich
seichtes Grab gegraben, andere den Priester (Hodza) und die Verwandten und
Freunde des Hauses herbeigeholt. Sobald diese beisammen sind, wird die Leiche
in ein großes Liunenlacken eingewickelt und auf die Bahre gelegt. Jeder An¬
wesende hilft den Verstorbenen einige Schritte weit tragen und so wandert dieser
sehr schnell von Schulter zu Schulter dem nahen Grabe zu. Hier wird er von der
Bahre herabgenommen und in's Grab auf die bloße Erde gelegt, mit ewigen dünnen
Brettern bedeckt, und diese mit Erde zugeschaufelt. Bei einem so schnellen und
überstürzten Verfahren wird freilich nur zu oft ein Scheintodter begraben. Mir
wurde erzählt, daß der Verstorbene, wenn man ihn in's Grab senkt, nicht selten
zu mele», zu brummen und „Hin! Hin!" zu schreien anfange; da pflegt sich die
ganze Leichenbegleitung zu verlaufen, nur der Hodza muß bleiben, den unruhigen
Todten mit dem Zurufe „Ku-Ka-! KorKm-lFo!" trösten, und das Grab unter
Segenssprüchen znschaufelu. Will dann der Hodza nach Hause, so muß er rück¬
wärts gehen, das Gesicht immer dem geschlossenen Grabe zugewendet und dabei
immer noch „KorKm-r KorKmaF»!" rufen. Ich fragte, was dies KorKum
KorKmaKo zu bedeuten habe und ward belehrt, es heiße soviel wie: „Sei ruhig,
fürchte dich nicht!" — „Du wunderst dich wohl darüber," fuhr der Befragte
fort — „daß bei uns die todten Leiber so oft zucken und brummen? Ich weiß
wohl, daß dies bei Christen niemals vorkömmt; ein Christ kann sich im Grabe
nicht mehr rühren, weil ihn gleich der Teufel in die Hölle fortschleppt. Wenn
aber ein ehrbarer Muselmann stirbt und zu Grabe gebracht wird, so kömmt
der Prophet und spricht mit ihm und nimmt ihn mit sich in's Paradies. —
„Prag nennen die Bosnier das goldene, es ist der letzte Punkt in ihrem geogriphi-
schen Wissen. In der ganzen Welt gibt eS nach ihrer Meinung nnr einen Kaiser
welcher zu Stambul sitzt. Die übrige Welt wird von sieben christlichen Königen be¬
herrscht. Nur die christlichen Einwohner in Bosnien wissen, daß es außer ihrem
Czar «och zwei Czare gibt, den der Moskowiter und den der Schwaben. Unter
dem Namen „Schwabe" verstehen sie nicht den Deutschen allein, sondern- alle Na¬
tionen jenseits der save, selbst Stamm- und Sprachverwandte, nur die Serben
der Türkei nicht, welche sie näher kennen. Sie erzählen, daß in den Ländern der sieben
christlichen Könige auf allen Hügeln und Bergen große Stangen sind und Pech-
Pfannen daran, und bei jeder Stange eine Karaule (ein Wachthaus). Ans der
einen Seite der Grenze stehen noch türkische Wachen, ans der andern Seite aber
lauter Schwaben. „Dort an der Grenze" — sagen sie, — „darf kein Türke
einen Schwaben anrühren, allein der Schwabe erlaubt sich des' Türken Weib und
Schwester zu schmähen. Wiedersetzt sich unser Einer mit einem Worte, so schießt
der Schwabe von der andern Seite seine Flinte los. Laufen nun Einige von uns
Türken hinüber und schlagen auch nur einen einzigen Schwaben todt, so zündet
der nächste Wachtposten seinen Pechkorb an, und sobald die Lohe davon anfflak-
kert, gehen auch alle übrigen Wachtposten hin und entzünden ihre Pechkörbe. Und
in Verlauf einer Stunde wissen alle sieben christlichen Könige, daß Krieg wird
Mit den Türken. Und wenn man sich dann nicht Mühe gäbe, die Sache in Güte
beizulegen, würde die Türkei von allen Seiten angegriffen. —
„Ost hörte ich, wie sich die Bosnier unter einander erzählten, daß die Chri¬
sten Bücher von der ganzen Welt besitzen, worin Alles geschrieben steht, was sich
von Anbeginn zugetragen. Besonders der Schwabe habe Alles wohl ausgeschrieben,
wie oft er Krieg mit den Türken geführt, wer Sieger geblieben, wie viele Men¬
schen umgekommen. Und dies Alles, sagen sie, schreibt der Schwabe genan und
gewissenhaft ans, wie es war; ist der Türke stärker gewesen, so schreibt er den
Türken als Sieger ans, ist es der Schwabe gewesen, so den Schwaben; dies
gilt ihm alles gleich. „Wozu dies?" fragen die Andern der Erzähler. — „El,
er will, daß man es wisse" — lautet die Antwort, „glaubst du denn, daß es
bei ihnen so ist, wie bei uns, wenn wir die Gnsle nehmen und singen, wie wir
die Christe» geschlagen und ihre Köpfe haufenweise heruntergcsäbelt haben, als waren
es Krautstrünke?" — Da erheben sich die Meisten und schreien: „El seht doch, bei
unserem Glauben, war uicht Kraljewic^ Marko ein Held? und was war erst Vuk
Jaicanin? und Milvs Odilia? MiloS war doch der allerstärkste, welcher einen
Schwur gethan, daß er seinen Fuß auf den Nacken des Czaren setzen und ihn
mit Speck füttern wolle! El gewiß war das ein Held! Er nahm sein Pferd
und ritt über die Ebene von Kossovo, alle Kämpfer zurückdrängend, daß sie ihm
Platz machen mußten. Er ritt bis in des Czaren Zelt und tödtete den Czar mit
seinem Messer. In der Eile hat er, bei meinen Glauben, vergessen, daß er geschwo¬
ren hatte, den Czar mit Speck zu füttern. Er sprengte fort und bahnte sich allein
mit seinem Schwert den Weg durch die Söldner des Czar; er erschlug so, hört eS,
meine Lieben, achtzig lau send Manu! Erst, als er am Ende des Kossovo-
fcldes angelangt war, fiel es ihm ein, daß er geschworen, den Kaiser mit Speck
zu füttern. Sogleich kehrt er um, reitet nach dem Zelt des Czaren, tritt der Leiche
des Czaren auf den Nacken und steckt ihr ein Stück Speck in den Mund. Ein
altes Christenweib, welches eine Zauberin war, verrieth einigen Türken, welche
sich durch die Flucht gerettet hatten, wie sie sich des Milos gefahrlos bemächtigen
könnten. Sie thaten, wie ihnen die Zauberin gerathen; während Milos im Zelte
war, gingen sie hin und steckten ihre Spieße mit gesenkten Spitzen rings um des
Czaren Zelt in die Erde fest. Als uun Milvs, seinen Schwur vollbracht hatte und
aus dem Zelte ritt, spießte sich sein Noß an den Speeren, und Milos stürzte herab.
Die Türken sprangen herbei und banden ihm die Hände aus den Rücken. Milvs
war erstaunt, woher diese Klugheit der Türken gekommen. Diese sagten ihm
ehrlich, daß dies nicht ihr eigener Gedanke gewesen, sondern daß es ihnen die
Zauberin gerathen. Milos bat sie nur, sie möchten die Zauberin vor ihn bringen,
ehe sie ihm das Haupt abschlüge», er mochte sie gar zu gerne sehen. Die Türken
führten die Zauberin herbei. Milos trat vor sie, die Hände auf den Rücken ge¬
bunden, als wolle er mit ihr sprechen, doch plötzlich dreht er sich um, packt mit
zwei Fingern der gefesselten Rechten die Hexe bei der Nase und schleudert sie mit
mächtigem Schwung bis über die weite Ebene von Kossovo, daß sie mit zerschmet¬
terten Gliedern zur Erde fiel und todt blieb, obgleich sie eine Zauberin war.
Unsere Leute aber, da sie dies sahen, schlugen dem Milvs Odilia das Haupt ab,
weil sie fürchteten, er könne ihnen ein Gleiches") thun. —
„Der Pascha hat das Recht — oder naße es sich wenigstens an — Jeder¬
mann das Vermögen zu konfisziren und dasselbe nach Belieben entweder selbst
zu behalten oder an Andere zu verschenken. Die wohlhabenden Leute, beson¬
ders die christlichen Kaufleute, bringen öfter im Jahre dem Pascha oder Vezir
ansehnliche Geschenke, um sich seiner Gunst zu versichern. Will der Pascha Je¬
manden in seinem Paschalik ausrauben, so macht er steh's leicht und bewahrt dabei
einen anständigen Schein; er entbietet das erkorne Opfer seiner Habsucht zu sich
und verlangt von ihm ein Darlehn von so und so vielen Beutels je einen Beutel
zu 500 Piastern. Will oder kaun der Gerufene nicht so viel geben, so wird ihm
in Kürze der Prozeß gemacht; der Pascha läßt ihn als einen Ungehorsamen und
Widerspenstigen einsperren oder hinrichten und konfizirt ihm sein ganzes Hab und
Gut. Wer ihm aber willig das Verlangte vorschießt, erhält mündlich eine Frist
ausgesetzt, in welcher der Pascha das Darlehn zurückzuzahlen verspricht. Naht
jedoch diese Frist ihrem Eude, so läßt der Pascha gewöhnlich seinen Gläubiger
durch seine Häscher gefesselt auf die Burg bringen und empfängt ihn zornig und
wild mit dem Vorwurf: Wie konntest du Schuft dies oder jenes thun? — er
nennt hier ein willkürlich erdachtes Verbrechen, z. B. daß der Gefangene Waaren
nach der Stadt geführt, ohne Zoll zu erkünstelt, oder daß er über die Türken
geschimpft, oder daß er sich gebrüstet, der Pascha sei ihm so und so viele Beutel
schuldig. Unterfängt sich der Aermste zu widersprechen und seine Unschuld zu be¬
theuern, so ergrimmt der Pascha und schreit ihn an: „Willst Dn mich Lügen
strafen, Cbristeuhund? fort mit Dir! Packt ihn, ihr Bursche! Meßt ihm hun¬
dert Streiche über die Fußsohlen." — Der Kaufmann fällt auf die Knie nud
bittet: „Ach, wolle das nicht befehlen, ehrenwerther Pascha, thu' das nicht, bei
dem Leben Deiner und meiner Kinder, thue das nicht, ich bitte Dich, verzeih!
Ich weiß, daß ich mich gegen Dich vergangen, aber ich will zur Buße zahlen,
wie viel Dn befiehlst, nur vergib mir, ich flehe Dich, schone mein!" —
Die Scherge» aber fassen den Knienden und schleppen ihn fort nach dem Hofraum,
wo die Vorbereitungen zur Bastvnuade getroffen werden. Nun erst stellt sich der
Pascha von dem Flehen des Kaufmanns gerührt, und ruft hinab: „Es ist gut,
ihr Bursche, laßt ihn, ich verzeihe ihm, weil es das erste Mal geschah, aber
Strafe muß er mir zahlen, daß er sich's merkt für ein anderes Mal. Jetzt bin¬
det ihn los und führt ihn herauf zu mir." Und zum Kaufmann gewendet fährt
er fort: „Jetzt wirst du mir, Hund vou einem Mvskoviten") für dein Vergehen
so und so viel Beutel zahlen. Daß dn mich jetzt wieder beleidigt hast, will ich
dir verzeihen, aber künftig hin nimm dich in Acht! Du hast mir so viel Beutel
geliehen, so und so viel beträgt deine Strafe, du mußt mir also noch so und so
viele Beutel bringen." — Die christlichen Kaufleute besonders kennen leider
dieses Verfahren nur zu genau und wissen, daß sie für Borgen Stockprügel be-
kommen, für's Nichtborgen aber Leib und Leben verlieren können. Darum bit¬
ten diese auch gleich um Gnade, wenn sie der Pascha, der ihnen Geld schuldig
ist, eines Verbrechens beschuldigt, und versprechen auf der Stelle zu zahlen, was
der Pascha für gut findet. Als der Pascha von Sarajevo, während meines Auf¬
enthalts an seiner Hofstatt zum Kongreß nach Travnik ging, nahm er von den christ¬
lichen Kaufleuten^in Sarajevo 60 Beutel, von den Juden daselbst 3V auf diese
Weise, um auf der Fahrt uicht von seinem eigenen Gelde zehren zu müssen. —
„Wenn ein Fremder auf das Schloß eines Pascha oder Aga kömmt, so bietet dessen
Dienerschaft Alles auf, deu Herrn in aller Macht und allem Glänze zu zeigen. Die
Diener, welche Einen beim Pascha einführen, Pflegen zu sagen, indem sie auf ihn
und seinen Hofstaat zeigen: „Dieser ist unser Pascha (oder Aga), der kann uns
alle umbringen, so viel wir da sind. Auch Fremdlinge kann er umbringen lassen,
wenn er will, er hat das Recht dazu." Der Pascha oder Aga schüttelt aber alle¬
mal unter wohlwollendem Lächeln das Haupt und spricht: „Ach nein! nein! Fürch¬
tet Euch nicht, das werde ich nicht thun! Ich vergreife mich niemals an ehrbaren
Leuten." Die Diener fahren fort, die Macht ihres Herrn zu preisen: „Alles,
was wir haben, gehört ihm, er kann uns Alles nehmen, er kann uns schlagen
und einsperren lassen, wie er will." Der Pascha schüttelt abermals selbstgefällig
das Haupt, streichelt im Bewußtsein seiner Herrlichkeit seinen langen Bart mit
der flachen Hand und beruhigt: Ach nein! nein! Fürchtet Euch uicht, das werde
ich nickt thun! Bei meinem Glauben! ich werde es uicht thun."
Was unser Kroäk erzählt, gilt nicht von dem ganzen Bosnien in gleichem
Grade, wohl aber von der Mitte des Laudes und dem größten Theile. In der
Herzegowina neben Montenegro und diesseit der Unna an der östreichischen Grenze
ist der Blick des Volkes etwas freier, die Stellung der Naja günstiger.
Bosnien als ein politisches Ganze betrachtet, könnte uicht selbstständig sein,
aber es fehlt ihm nur wenig Terrain, um der Lage nach eines der glücklichsten
Länder zu werden. Der schmale Streif des östreichischen Dalmatiens ist das geo¬
graphische und politische Vorland von Bosnien. Selbst in dem gegenwärtigen
kläglichen Zustand producirt Bosnien mehr an Brotfrüchten, Obst und Nutzvieh,
als es braucht, und schon jetzt findet ein starker Viehhandel von der Herzegowina
durch die Bergschluchten nach der unfruchtbaren Seeküste statt. Man berechnet
in Dalmatien die jährliche Zahlung für Vieh nach Bosnien auf mehr als 300,000
Gulden. Dieser Export ist immer noch ein Beweis für die Ueppigkeit eines Lan¬
des, mit dessen productiver Kraft schändlich umgegangen wird. Die politische
Organisation ist ungefähr folgende: Die Pforte ernennt ihren Statthalter, den
Vezir, welcher zu Travnik regiert; unter ihm stehn die Pascha's, Gouverneure
der einzelnen Distrikte, einer zu Sarajevo, einer zu Bihacz, einer zu Gra-
dasacz, zu Trebigue :c. Jedes Paschalik ist in Capitanate eingetheilt, unter dem
Pascha stehn die Ber/s oder Beg's als Beamte. Der Vezir, wie die Pascha ha-
den ihren Hofstaat und ihre Soldateska, unter welchen das roheste und verwor¬
fenste Türkengesindel ist, welches das Land durchzieht, häufig Arnauten; und wie
die höhern Beamten, so haben auch die untern ihre Trabanten, allzeit fertige
Vollstrecker der Regierungsbefehle und der Forderung ihrer Brodgeber. Neben
diesen Beamtenchargen, welche wenigstens zum Theil in naturalisirten Familien
erblich sind, besteht aber im Lande ein doppelter Adel, der der Aga und der
Spahia. Die Ahnen oder Aga's sind größere böhmische Grundbesitzer, größtentheils
Nachkommen des alten böhmischen Adels, sie üben von ihren Schlössern, ummauer¬
ten Häusern, welche oft mit Schießscharten zur Vertheidigung ausgerüstet und hier
und da mit allein verrosteten Geschütz versehen sind, über die Einwohner ihres
Terrains eine Gerichtsbarkeit aus, deren Größe schwerlich genau bestimmt ist; ihnen,
den alten Gutsherrn, ist die Naja zu Nobotdiensten und servitutem verpflichtet,
welche oft furchtbar drückend sind. Sie muß dem Aga das Heu mähen, sein Getreide säen
und einbringen, seine Baumfrüchte für ihn erndten rc. Dieser alte böhmische Adel
versieht seine Privilegien (Berate), seine alten Adelsdiplome aus der Christenzcit
und die Vorrechte, welche der Islam gibt, der Regierung gegenüber mit Eifer¬
sucht. — Außer ihm sitzen die Spahia's als ein neuer Adel in den Dörfern und
Flecken. Die Spahia's sind erst durch die Türken ins Land gekommen, hatten
ursprünglich und haben zum Theil noch jetzt kein Grundeigenthum; sie waren die
freien Reiter des türkischen Heeres, mußten sich in Kriegszeiten mit eigenem Pferd
und Waffenschmuck der Pforte stellen, und waren jeder Einzelne mit ihrem Unter¬
halt auf Naturallieferungen der Naja in einem bestimmten Ort angewiesen. Ans
ihrem erblichen Fideicommiß nationalisirt, sprechen sie höhnisch und nicht türkisch,
und sind die Helfer und die Polizei der Regierung gegen die Naja. Oft haben
sie den Han, das Wirthshaus des Dorfes, in Besitz. Dies bildet den Mittel-
Punkt für die geselligen Zusammenkünfte der Muhamedaner des Ortes , und wenn
im Dorfe keine Moschee ist, wird auch der Gottesdienst in ihrem Hause gehalten
und der Hodza, der Priester, hält zu ihnen. In den größern Städten scheinen
sich im Gemeindewesen hier und da Ueberreste einer alten freien Cvmmuncilverfas-
sung erhalten zu haben, am meisten in Sarajevo, wo eine Anzahl von böhmischen
Patrizierfamilien, welche natürlich Muhamedaner sind, dem Pascha gegenüber das
Regiment der Stadt behauptet hat. Auf dem Lande aber, in dem eigentlichen
Bosnien, hat die Naja von der ursprünglichen Selbstregierung, welche die Serben
durch den Rath ihrer Aeltesten, Kneten, ihrer Dvrfvorsteher, Küche, und Kreisvor-
strher, Bafchknese, zu bewahren wußten, wenig erhalten, sie hat ihre alte Aristo¬
kratie nicht wie die Serben verloren, sondern als privilegirte Feinde behalten, und
es ist ein Hauptunterschied zwischen Bosniern und Serben, daß bei den er¬
stem kein freies Selbstregiment in den kleinen Kreisen des Volkslebens, Muth
und Selbstgefühl erhalten hat. Die Christen find Hörige ihrer einheimischen Ari¬
stokratie und außerdem Diener aller Türken geworden.
Nach altem türkischen Brauch lag die ganze Last der Abgaben ans der Naja,
der Sohn des Islams ist der freie Mann, welcher Waffen trägt und sein Blut
und Leben dem Staat zu geben hat, die Naja darf keine Waffen führen, sie muß
zahle». Zwei Steuern liegen auf der böhmischen Naja, die Kopfsteuer, Haraz,
welche von Jedem bezahlt wird, der nicht Muhamedaner ist, sei er ein Einge-
borner des Landes oder ein Fremder, und die Porez, eine Produktensteuer, der
zehnte Theil von allen Bodenfrüchten. Da zu diesen hohen Steuern noch andre
Naturalabgaben, für den Spcchia sogar die Hälfte von allem Heu und der ganzen
Obsterndte, und dazu noch die Dienstleistungen für den Aga kommen, und da
bei der Eintreibung dieser Steuern jede Art von Druck und Erpressung ungestraft
bleibt, so wird man nicht irren, wenn man die Christen in Bosnien für die un¬
glücklichsten unter ihren slavischen Stammgenossen hüte.
Die politischen Krämpfe dieses Volkes entstehen durch seine Eintheilung in
drei Parteien. Man muß die Stellung derselben sich klar machen, wenn man den
gegenwärtigen Aufstand verstehen will. — Die muhamedanischen Bosnier, obgleich
der Zahl nach die kleinere Hälfte der Bevölkerung, sind die Kaste, durch welche
alle Bewegungen dieses Landes hervorgerufen und entschieden werden. Sie sind
die Freien, die waffentragenden Kinder des Landes, sie besitzen die Schlösser, die
Wälder und mehr als die Hälfte des Grundes. Wenn sie als Äuhamcdauer mit den
Osmanli gemeinsame Sache gegen die Naja mache», wie sie noch in dem Krieg mit
Serbien von 1807 bis 26 thaten, so ist der Sieg der Türken unzweifelhaft, wenn
sie aber einmal dazu kommen, sich als Laudeekinder gegenüber den ächten Türken
zu fühlen und sich mit der Naja gegen die Regierung zu verbinden, so wird die
Lage der Regierungspartei eine verzweifelte. Denn der größte Theil der Beg's,
Aga's, ja der Pascha's ist selbst aus dem böhmischen Adel, den alten Familien
des Landes, hervorgegangen, ja die muhamedanische Bevölkerung gab auch einen
Theil der Soldaten her. Entweder werden diese selbst Lust haben, sich aus die Seite
der Volkspartei zu schlagen, oder wenn sie ans Eigennutz die Treue bewahren,
wenigstens ihren Brüdern und Genossen gegenüber den Muth und die Energie
verlieren. Zwar ist ein großer Theil der alten Schlösser und Herrenhäuser von
solchen bewohnt, welche erbliche Beamte der Pforte sind und das größte Interesse
haben, der Negierung treu zu bleiben, deren verhaßte Werkzeuge sie waren;
aber gerade diesen wird das Unwetter an, stärksten um die Köpfe toben, sie wer¬
den sich hinter die Schießscharten ihres Hauses zurückziehn und angstvoll auf jede
rothe Turbankappe blicken, die sich ihrem Castell nähert. —
Eine solche verhängnißvolle Zeit ist für Bosnien jetzt gekommen; zum ersten
Mal, so viel wir wissen, verbinden sich Muhamedaner und Christen gegen die
Regierung der Osmanli.
Zweierlei war nöthig, um diese große Umwälzung in der Stimmung des Vol¬
kes hervorzubringen. Das allmälige Aufglühen des nationalen Selbstgefühls bei
den Slaven und die politischen Reformen der hohen Pforte. Zwei Systeme mo¬
derner politischer Ideen, welche sehr getrennt in verschiedenen Ländern und Völ¬
kern erwachsen sind und jetzt grade in dem abenteuerlichen, wenig bekannten Grenz¬
lande feindlich zusammenstoßen. Dort haben sie eine Gährung verursacht, welche
wahrscheinlich mit einer chemischen Zersetzung und Umwandlung Bosniens endigen
wird, selbst wenn die Revolution der letzten Wochen schnell gedämpft werden sollte.
Die panslavistischcn Ideale, wie unklar und unpraktisch sie sich auch beim
Slavencongreß zeigten, haben doch auf den großen südslavischen Stamm einen
mächtigen Einfluß ausgeübt, einen größern als auf die Pole», Ruthenen, Slo-
vaken und Czechen. Der serbische Volksstamm hat sich durch sie in Wahrheit als
ein Ganzes, als eine nationale Einheit fühlen gelernt. Er hatte aus den alten
und neuen Heldenthaten der türkischen Serben bei sich selbst eine Fülle von natio¬
nalen Erinnerungen, von Charakteren und Familieuruhm gewonnen, an welchen
sein Selbstgefühl sich sättigen kann. Diese Erinnerungen haben ihm seine Gelehr¬
ten aufgefrischt und ihrer Bedeutung nach erklärt. Die sprachlichen Studien
der Panslavisten aber sind eine reiche Fundgrube für Bildung der Sprache und
des Volkes geworden. Sehr viel ist in den letzten Jahren in Kroatien und Sla¬
vonien, ja selbst in dem serbischen Belgrad geschehen, um den Samen moderner
„slavischer" Bildung in die untern Schichten des Volkes zu werfen, und es vermin¬
dert die Wichtigkeit dieser Bestrebungen nicht, wenn sie uns in Einzelnen ver¬
worren, kleinlich, ja lächerlich erscheinen. Daß sie wirksam sind, hat in dem östrei¬
chischen Serbenland die politische Trennung von den Magyaren und das Hervor¬
treiben des Volkslieblings Jellachich bewiesen, und in dem Fürstenthum Serbien
jenes Freicorps fast von LV00 Mann, welches im vorigen Sommer den Kroaten
zu Hilfe kam, und neben seinen Kopfabschneidern mehr als einen wunderlichen
illyrischen Heiligen zählte, der außer dem Handzar auch die Feder zu führen
wußte. Jellachich verdankt seine Banswürde und seine jetzige Dictatur zumeist der
Sehnsucht der Kroaten nach einem einheimischen Helden. Er selbst hat die süd¬
slavische Bewegung in einer legalen Bahn erhalten und bis jetzt für die östrei¬
chische Regierung verwerthet. Es muß aber hier erwähnt werden, daß ein Theil
der gebildeten Kroaten, grade solche, welche die Feder führen, bereits jetzt in
stiller, aber eifriger Opposition gegen ihn und seine Principien steht. Zumal die
literarische Jugend ist in diesem Augenblick sehr antikaiserlich und gut magyarisch,
die Schlappen, welche Jellachich in den letzten Monaten von den Ungarn erhielt,
haben dieser kleinen aber nicht unwichtigen Fraktion Muth gemacht, daher jetzt
Verhaftungen und Untersuchungen in den slavischen Grenzlanden. Und wenn nicht
die Blutrache für das vergossene Blut hinderte, die Freiwilligen aus dem Fürsten¬
thum Serbien schlügen sich jetzt vielleicht schon auf Seite der Magyaren.
Auch auf Bosnien hat der Geist des neuen Illyriens gewirkt. Gebet- und
Schulbücher für die böhmische Raja werden in Agram gedruckt und über die Grenze
geschafft; das barbarische böhmische Alphabet vertauscht sich auf diesem Wege mit
der neuen slavischen Orthographie; croatische und serbische Zeitungen erhalten dadurch
Terrain und fallen in einzelnen Exemplaren jenseits der weißen save nieder, und
machen die Häupter des Volkes, Muhamedaner und Raja, mit den schwungvollen
Tageöphrasen der politischen Presse bekannt. Immer imponirender wird den Bos¬
niern die Kraft und das freie Leben ihrer christlichen Nachbarn, der Serben, der
Grenzer, der Montenegriner und schmachvoll erscheint ihnen der Druck, mit wel¬
chem der Osmanli sie belastet. Viele von ihnen, Muhamedaner wie Christen,
waren im vorigen Jahre dem serbischen Freicorps, welches den Kroaten zu Hilfe
zog, zugeströmt, hatten einen Kampf „für die Freiheit" angekämpft, Blut ver¬
gossen und die Christen als Brüder begrüßt. Durch Alles das ist das böhmische
Volt in seinen Tiefen aufgewühlt und thatenlnstig geworden.
Die hohe Pforte aber ist selbst in eine Krisis getreten, welche ihr und dem
Islam zuletzt tödtlich werden muß, so unvermeidlich sie auch war. Die Fortschritts¬
partei unter den türkischen Staatsmännern sieht die Nothwendigkeit ein, der schwin¬
denden Kraft des Reiches entgegen zu arbeiten, und versucht einzelne Grundsätze des
europäischen Staatslebens in der Türkei einzubürgern. Alle Reformversuche aber schei¬
tern in der Ausführung. Denn ein Moment ist im Islam, welches ihn unfähig
für staatliche Cultur macht — die Gleichheit der Unterthanen vor dem Gesetz ist
gegen den Karan und gegen das innerste Gefühl des Türken. Er ist Herr der
Welt, die Raja ist ihm unterworfen, sie ist unrein, sie gelangt nicht in Mccho-
meds Himmel, es ist demnach ein Verbrechen ihr hier ans Erden die Privilegien
der Gläubigen zu geben. Der Glaube allein macht frei und adlig, der Ungläubige
ist zum Diener verdammt. Schon damals im serbischen Kriege, wurde ein Ver¬
trag zwischen Türken und Serben lange Zeit unmöglich, weil die Türken nicht
zugeben konnten, daß die Naja ihre Waffen in Gegenwart eines Türken offen
trüge, wenigstens den Zipfel deö Mantels sollten die Christen darüber decken, so
oft ihnen der Türke auf der Landstraße begegne. — In der That dürfen die
Türken nicht darein willigen, sich mit der Raja in eine Klasse geworfen zu sehn, bei
Abgaben, bei Prozessen, im Verkehr; denu diese Gleichheit wird ihr Untergang.
Durch Jahrhunderte gewöhnt die Früchte von fremder Thätigkeit zu erndten, ver-
stehn sie nur im Einsammeln derselben Energie zu zeigen, verweichlicht und un¬
thätig als Genießende, verkommen sie da, wo die freie Concurrenz der Christen
sich gegen sie erhebt. Die Türken in Belgrad sind ein Beispiel von dem schnellen
Untergange dieser Sekte unter freien Christen. Und da sich Alles in der Seele
des Türken empört gegen eine Gleichstellung mit der Raja, da ferner auch den
Handlangern der Negierung, den Veziren und Paschas, jede Spur von Verständ¬
niß für den Sinn moderner Staatsreformen fehlt, so wird auch das Verständige
und Gute, was die leitende» Kräfte des Staates neu einführen wollen, in der
Ausführung so verkehrt, so verletzend und unpraktisch, daß es zum Verderben aus¬
schlägt. Dies ist jetzt auch in Bosnien der Fall. »
Die Pascha'S von Bosnien waren nach Travnik gezogen zur Berathung mit
ihrem Meister, dem Statthalter, Vezir Tahir Pascha. Ein Fernau des Gro߬
herrn war gekommen, welcher gleiche Besteuerung der Türken mit der Naja forderte.
Die Knegörüstungeu der Pforte machen eine neue Auflage nothwendig und von
der Naja mehr zu nehmen war kaum möglich. Der ehrenwerthe Rath der Wür¬
denträger se^te demnach fest, daß fortan auch jeder Türke in Bosnien die Porese,
den zehnten Theil seines Bodenertrages, der Regierung abgeben solle, die Naja
außerdem für die Spahia den dritten Theil der Feldernte, von Heu und. Garten¬
gewächsen aber die Hälfte. >— Ungeheuer war die Entrüstung, welche dnrch solche
Gleichstellung mit den Christen unter den muhamedanischen Bosniern hervorgerufen
wurde. Am größten war sie in dem nordwestlichen Theil des Landes, jener Ecke,
welche Türkisch-Croatien heißt. Dort war die Verbindung mit der Grenze am leben¬
digsten, und Aufregung und Aufsässigkeit am häufigsten, dort ist auch ein zahlreicher
alter Adel den kroatischen Familien verwandt, das Schloß Bnzim gilt für das
Stammhaus des Jellachich'S. Als Pascha Biscevic von Bihacz dort den gro߬
herrlichen Fernau bekannt machte, baten ihn die türkischen Bosnier zuerst um
Aufschub, weil sie eine Abänderung dieser Maßregel von Constantinopel erbitten
wollten. Der Pascha aber befahl den Beamten, in den Capitanaten die Schätzung
der Einnahmen sämmtlicher Türken vorzunehmen. Da brach der Aufstand los.
Ein gewisser Kerle, aus Buzim, nach den Zeitungen selbst ein Muhamedaner,
aber im Hader mit dem Muteselim Arnautovic von Bnzim, der ihm voriges Jahr
sein Haus niederbrennen ließ, seinen Grund und sein Vieh wegnahm, rief zuerst
zur Empörung. Vor dem Schlosse Vranognicza versammelte er am 6. Juli, einem
Freitag, die Türken als sie aus dem Gotteshaus kamen, hielt ihnen eine Rede, erstieg
Mit ihnen die Mauern des Schlosses, steckte seine Fahne auf und löste die Kanonen.
Seine Boten flogen durch das Laud, forderten alle Türken auf, sich ihm anzu¬
schließen und drohten den Säumigen mit dein Niederbrennen ihrer Besitzung. Von
allen Ecken des Paschaliks erhob sich das Volk, die zahlreichen Schlösser der Land¬
schaft wurden die Mittelpunkte der Jnsurrection. Die unabhängigen muhamedani¬
schen Grundbesitzer traten in ihnen zusammen und beschworen mit einem Eide ge^
Meinsames Handeln. Die Christen wurden von Kerle als Brüder und Freunde
begrüßt und ihnen befohlen, sich ruhig zu verhalten, auch ihr hartes Loos solle
durch ihn gebessert werden; Jedem aber drohte er mit dem Tode, der das gute
Einvernehmen mit dem östreichischen Grenzcordon durch eine Gewaltthat stören
würde. Schnell wuchs sein Anhang, die Zeitungen melden von einem Haufen
von 10 bis 15 Tausend Maun, der ihm und zwei andern Anführern folgt. Un¬
aufhaltsam drangen die Empörer nach Bihacz vor und belagerten den Pascha in
seinem Schloß. Umsonst sandte dieser einen reitenden Boten über den andern an
den Vczir, umsonst befahl der Vezir dem Pascha von Sarajevo, unserem Freunde
Mnstapha Bahia Pascha ein Heer zu sammeln; es ist unmöglich in Bosnien selbst
ein Heer gegen den Aufstand zusammen zu trommeln, überall schlagen sich die
waffenfähigen Männer zu deu Empörern. Von Bihacz drohte Kerle nach Buzim
zu zieh», um sich an seinem Feind, dem Muteselim, welcher in jenem Bezirk die
Steuer gepachtet hat, zu rächen. — So weit reichen die Nachrichten, welche wir
bis jetzt aus deu südslavischen Zeitungen erhalten haben. Die türkischen Behörden
sind nickt im Staude, das Unwetter abzulenken, die Empörer haben sich von der
Pforte losgesagt, sie wollen keinem Andern unterstehn, als dem Ban von Croatien,
Jellachich, ihr Schloß Buzim ist ja das Stammschloß seiner Familie, und sie sind
seine Angehörigen, denn auch sie siud Croaten.
Im vorigen Sommer war ein Bosnier Kerle im östreichischen Grenzland, er
wurde von seinem Pascha verfolgt und klagte bitter über das türkische Regiment.
Der war ein kleiner hagerer Mann mit gebeugter Halruug, grauen Augen und
spärlichem Bart, gewandt und einschmeichelnd in seinem Benehmen. Unter seinem
Fuchspelz schlotterten ihm die Glieder, er litt damals hart am Fieber. Er sah
aus wie ein Intriguant, man traute ihm nicht recht und hielt ihn sür einen rus¬
sischen Spion. Vielleicht ist es derselbe; — freilich ist der Name bei einem Bos¬
nier eine sehr unsichere Handhabe, um seine Person festzuhalten. ES heißen in
Bosnien viele Leute Kerle. —
Jedenfalls ist die Erhebung in Bosnien wichtig nicht ihrer Ausdehnung we¬
gen, sondern wegen der Kräfte, durch welche sie gemacht wird. Es stehn hier
bei einer gemischten Bevölkerung Türken gegen Türken, Muhamedaner und Chri¬
sten als Brüder gegen die alten Eroberer ihres Landes. Wohl möglich, daß es
der Pforte gelingt diesen Aufstand ohne große Mühe zu dämpfen, dem ruhigen
Beobachter ist er doch das Symptom einer merkwürdigen Zersetzung des Volkes,
der Anfang einer Ablösung Bosniens von der Türkei.
Es ist jetzt ein Jahr, daß dieses Blatt auf die Wichtigkeit Bosniens für Oese- ,
reich hinwies. Jetzt, ein Jahr später, kann man kaum noch fragen, ob der nächste
Herrscher dieses Landes der „Moskowitc", oder der „Schwabe" sein wird.
In der Zusammensetzung unserer gegenwärtigen Kammer, die man als den
Ausdruck der conservcitiven Partei Preußens betrachten kann, stellt sich folgendes
Verhältniß heraus. Bei weitem das überwiegende Moment macht der Grundbesitz
aus. Es sind, die 17 Schulzen mit eingerechnet, 148 Grundbesitzer in dieser
Kammer, soweit die Wahlen bisher bekannt sind. Darunter sehr viel Vollblut:
ein Herzog, ein Fürst, 14 Grafen, !> Freiherrn und eine unzählige Menge von
Edelleuten. 44 Kreise haben ihre Landräthe geschickt, außerdem find die Ge¬
nerallandschaftsräthe , die Amtsräthe, die Oberamrmänner u. f. w. in hinlänglicher
Zahl vorhanden.
Aus dem Osstcierstand finde ich nur 4 Mitglieder, was eigentlich bei der
Beschaffenheit der Wahlen zu verwundern ist: die Generale Stockhausen und
Reyher, Oberst Griesheim und Major Wallmonth. Die beiden letztern
waren bereits Mitglieder der vorigen Kammer. Major v. V o igts - R h eetz,
der als Vertreter der deutsch-posenschen Interessen in die letzte Session geschickt
war, ist diesmal uicht wieder gewählt. Von königlichen Beamten gehören 45
der Verwaltung, 61 der Justiz an. Unter den letzteren sind diesmal auffallend
wenig Advvcate», aver auch wenig höhere Beamte: eigentlich nnr der Präsident
des Oberlandcsgerichts zu Ratibor, dessen politisches Glaubensbekenntniß die Grenz¬
boten in einem der letzten Hefte besprochen haben. Den Stamm bilden diesmal
die Directoren der Kreisgerichte, was eine sehr angemessene Ergänzung jener 44
Landräthe ausmacht. Die Regierungsbeamten gehören natürlich zum großen Theil
der höhern Classe der Bureaukratie an. Außer den beiden Ministern Manteuffel
und v. d. Hevdt, die schon in der vorigen Kammer waren, und 4 Präsidenten
<v. Patow, v. Ucchtritz, Bvuseri und Kühlwetter) sind das übrige fast
lauter Ncgicrungsräthe, geheime und öffentliche.
Städtische Abgeordnete zähle ich 45; darunter 14 Bürgermeister, 15 Kaufleute.
Von bekannten politischen Notabilitäten ist darunter nnr Beckerath, der ehe¬
malige Finanzminister des Reichs; die Camphausen, Hansemann, Mevissen, Milde
u. f. w. fehlen, sie sind fast alle in der ersten Kammer.
Der specifische Gelehrtenstand, wenn man einen solchen zulassen will, ent¬
hält 32 Mitglieder: 12 Pastoren, 8 Gymnasiallehrer, meist Directoren, 2 Aerzte,
6 Universitäts-Professoren, einen Redacteur (Moecke, von der schlesischen Zeitung
und 2 Individuen mit der unbestimmten Bezeichnung Dr. ni-it. Von den Pro¬
fessoren gehörten 3 der deutschen Nationalversammlung an (Eduard S imson aus
Königsberg, Dunker aus Halle, Tellkampf aus Breslau), 2 der vorigen
Kammer (Keller aus Berlin, Urlichs aus Greifswald), 2 sind neu hinzuge¬
treten (der Philosoph Trendelen bürg, von dein die Grenzboten vor einiger
Zeit ein Portrait brachten, und der Mathematiker Ohm, beide aus Berlin).
Das ist das Verhältniß der Stände zu einander. Was die Parteistcllung
betrifft, so ist darüber bisher wenig Lehrreiches zu sagen. Da die Demokraten
nicht gewählt haben, so ist eigentlich nur Eine Art von systematischer Opposition
vorhanden, die aber nicht blos gegen diese bestimmte Form des Staatslebens,
sondern gegen den preußischen Staat überhaupt gerichtet ist, ich meine die unge¬
fähr 20 Polen, zu denen auch der Pfarrer Schaffrenek, und der Bauer Gor-
zolka zu schlagen sind. Was die übrige Masse betrifft, so zeigt sie zwar eine große
Sehnsucht nach einer Organisation in Fractionen, aber es will ihr nicht gelingen.
Das Programm, welches Herr v. Becke rath für ein Centrum ausgearbeitet hat,
war so allgemein gehalten, daß jeder Konservative sich unterschreiben konnte. Da¬
gegen hat man eine formelle Frage benutzt, um wenigsteus einigermaßen den
Stand der Parteien zu constatiren, die Präsidentenwahl.
Da Herr Grabow, der Präsident der constituirenden Versammlung und
der vorigen zweiten Kammer, sich diesmal an den Wahlen nicht betheiligt hat,
weil er die einseitige Veränderung des Wahlgesetzes nicht für rechtsgiltig erkannte,
so mußte mau sich nach einem andern Kandidaten umsehn. Herr Simson, der in einer
weit größern und weit schwerer zu lenkenden Versammlung so lange mit einer
glänzenden Sicherheit präsidire hat, schien der geeignetste zu diesem Posten. Aber
er hatte im vorigen November als Bevollmächtigter der Nationalversammlung, den
Zurücktritt des gegenwärtigen Ministeriums bewirken wollen, und dieses konnte
seine Wahl also wenigstens nicht für ein Compliment ansehn. Es sprach das aus,
obgleich es „aus der Wahl keine Cabinetssrage machen" wollte, und obgleich das
Piitsi-ministerielle Blatt (das übrigens wie weiland die „ewige Lampe" nach Gut¬
dünken heute vou diesem, morgen von jenem redigirt zu werden scheint) sich ziem¬
lich bestimmt für die Kandidatur der Notabilität aus der Paulskirche aussprach.
Dennoch erhielt Simson 84 Stimmen, und die „Rechte" stellte ihm in der Per¬
son des Grafen Schwerin wenigstens einen Liberalen von altem Datum ent¬
gegen, der sich selber lebhaft für Simson erklärt hatte und sogar bei seiner Denk¬
rede einen Wink fallen ließ, als wäre es ihm lieber gewesen, wenn man ihm
denselben vorgezogen hätte. Schwerin erhielt 17ö Stimmen, dagegen wurde Sim¬
son zum ersten Vicepräsidenten mit l40 Stimmen erwählt, während sein Geg¬
ner, Graf Arnim-Boitzenburg, deren 102 erhielt. Der zweite Vizepräsident,
Canonicus Lensing, ein conservativer Veteran aus dem Landtag, der Constituante
und der vorigen zweiten Kammer, fand keine eigentliche Opposition.
Das Factum, welches sich aus diesem Zahlenverhältniß herausstellt, ist fol¬
gendes : Es existiren 84 Mitglieder der zweiten Kamm er, welchen es nicht darauf
ankommt, gelegentlich der Regierung einen kleinen Streich zu spielen, und es exi-
stiren IV2 Mitglieder, die dem modernen Liberalismus keine Concession machen
wollen. Die ersten wollen wir die Liberalen nennen, die letzteren die Legiti-
misten. In der Mitte bleibt das eigentliche Juste Milieu der conservativen Partei.
Der Unterschied zwischen den Dreien, wenn man nnr auf den unmittelbaren
Ausdruck steht, ist freilich sehr sein. Armin! Schwerin! Simson! Der Unterschied
Zwischen den beiden ersten datirt vom Landtag, zwischen den beiden letzten von der
Nationalversammlung. Im Landtag war Arnim derjenige unter den Royalisten,
welcher am meisten geneigt war, wenigstens in den Formen den Liberalen gefällig
zu sein, und Schwerin in der Opposition derjenige, der ihm in diesem Bestreben
am weitesten entgegenkam. Worin zwischen den beiden edlen Grafen in der letzten
Session der Unterschied bestand, habe ich nur aus einem kleinen Zuge schließen
können; ich beobachtete Schwerin ans der Loge in der ersten Kammer, als Pro¬
fessor Baumstark den Professor Stahl wegen seiner Haller'schen Theorien zu¬
rechtwies, und sah, wie vergnügt er darüber war; er kann also den Haller nicht
leiden, und wird folglich mit der Neuen Preußischen nicht Hand in Hand gehen
wollen. Der Unterschied ferner zwischen dem absoluten und relativen Vereinba¬
rungssystem, welcher in der Nationalversammlung Schwerin von Simson trennte,
ist seit der Versammlung von Gotha zu einem blos historischen herabgesetzt. Wenn
also die politische Stellung jener drei Männer sich nur durch sehr geringe Nuancen
abzeichnet, so gibt ihre Persönlichkeit uoch weniger Anstoß. Alle drei sind nicht
blos anerkannte Ehrenmänner, sondern auch alle von feinen, gebildeten, liberalen
Formen; der Grad ihrer Befähigung war also nur quantitativ zu bestimmen.
Freilich sind sie auch nicht der eigentlich charakteristische Ausdruck ihrer Parteien.
Wenn wir diese genauer ansehn, so fällt uns zunächst aus, daß die eigent¬
lichen Häupter fehlen. Vergebens sehn wir uns nach Bodelschwing!), verge-
gebens nach Vincke um. Der eine ist wunderbarer Weise nicht wieder gewählt,
trotz des neuen Wahlgesetzes, der andere hat die Wahl nicht angenommen. So
sehr das seinem Rechtsgefühl angemessen ist, so kann man es doch nicht rechtfer¬
tigen. Durch die Anwesenheit diaseö Einen Mannes hätte sofort die Kammer, wo
die Opposition durch sehr ehrenwerthe Persönlichkeiten, aber durch schwache Kräfte
Zertreten ist, eine ganz andere Physiognomie angenommen. Was die in der Mitte
stehende specifisch ministerielle Partei betrifft, so liegt es in der Natur der Sache,
daß sie keine hervorragenden Persönlichkeiten an ihrer Spitze haben kaum, da
sonst die geringe parlamentarische Bedeutung der Minister selbst noch greller her¬
vortreten würde.
Wie die Persönlichkeiten in der liberalen Partei beschaffen sind — Alters--
wald, Graf Dyhrn, Simson, Wenzel, Bcckeraih, Dunker — das sind in ihren
Reihen die einzigen Namen von einigem Klang — so wäre eine principielle Op¬
position gegen die Regierung kaum anzurathen. Der Antrag, welcher dieser Partei
allein ihre richtige Stelle verleihen würde — ans Wiederherstellung des durch die
eigenmächtige Abänderung des Wahlgesetzes gestörten Rechtszustandes — würde
nur dann von Gewicht sein, wenn er durch eine bedeutende Persönlichkeit getragen
würde. Wie die Sachen jetzt stehn, würde er die Kammer nur noch weiter in
die Reaction zurücktreiben. — Die liberale Partei hat vielmehr, da die konser¬
vative Tendenz der Kammer mehr aus die unbestimmte Furcht vor der rothen
Demagogie, als gegen bestimmte freisinnige Einrichtungen gerichtet ist, da die
große Mehrzahl jetzt, wo sie keine Radikalen sich gegenüber sehn, vor den Pa¬
radoxen der Nenpreußen, deren Vorkämpfer Bismark-Schönhausen und
Kleist-Retzow nicht verfehlen werden, so herausfordernd als möglich aufzu¬
treten, sich einen hinlänglichen Abscheu aneignen wird — die liberale Partei hat die
Aufgabe, die Majorität diesen legitimistischen Einflüssen zu entreißen. Das kann
sie nur, indem sie eine tiefer eingehende Opposition vermeidet, und indem sie das
Gute, was in der ministeriellen Thätigkeit liegt, mit aller Kraft hervortreibt.
Sie wird das Ministerium bei seinen innern Reformen, namentlich bei der Ein¬
kommensteuer gegen die Vertreter des Junkerparlamcuts unterstützen, sie wird in
der deutscheu Frage die loyalen Bedenklichkeiten, die ans der rechten Seite bei der
großen Schen vor Rußland, Oestreich und dem Ultramontanismus der weiteren
Entwicklung des engern Bnndcostaals entgegen treten möchten, durch ein scharfes
Hervorheben des preußischen Selbstgefühls überwinden.
Was nun die Verfassung betrifft, so muß ihre Nachgiebigkeit allerdings eine
Grenze haben. Sie ka»n es nicht zugeben, daß die Reihe von willkürlichen An¬
ordnungen, durch welche das Ministerium der parlamentarischen Thätigkeit vor¬
gegriffen hat, en gebilligt werde; sie kann es schou darum nicht, weil die¬
selben von Verkehrtheiten strotzen. Ich erinnere nur an das Prcßgesetz. Sie
muß also diese Anordnungen einer gründlichen Revision unterwerfen, und, was
die Hauptsache ist, die Quelle der Willkür verstopfen. Der §. 105 der Verfassung
muß aufgehoben, oder wenigstens so modificirt werden, daß die constitutionelle
Richtung des Staatslebens nicht mehr illusorisch gemacht wird. Ich habe Grund
zu vermuthen, daß die Regierung selbst einer solchen Modifikation nicht abgeneigt
sein dürfte, wenn ihr nnr die Haltung der Kammern dafür eine Garantie bietet,
daß nicht unmittelbar darauf die Menschenfresserei und der Molochdienst zum Cul¬
tus der preußische« Nation erhoben werde.
Wird dieses durchgesetzt, werden außerdem die nothwendigen organischen Ge¬
setze, ucuneutlich über die Anordnung der agrarischen Verhältnisse, zweckmäßig re-
vidirt, wird endlich die Wahl zum dentschen Staatenhause, sowie die übrigen
nothwendigen Vorbereitungen zum Bundesstaat, wirklich vollzogen, wird dem Aus¬
lande, wird der heiligen Allianz gezeigt, daß der conservative Kern des preußi-
schen Volks in diesem Punkt mit der Regierung Hand in Hand geht, daß Preu¬
ßens Schwert noch nicht stumpf geworden ist, so wird die Wirksamkeit dieser
Kammern immer eine segensreiche sei», wie es auch mit ihrer Nechtsl'egründung
beschaffen sein mag. Die mittlerweile ausgeführte Kreis- und Gemeindeordnung
wird dann den spätern Reformen in der Verfassung eine gleichmäßige Basis ge¬
ben. Die Session wird auch noch das Gute haben, daß die wichtige Klasse der
Rittergutsbesitzer dnrch unmittelbare Betheiligung am politischen Leben ein großes
Interesse dafür und auch eine größere Einsicht erwerben wird.
Von dem, was bis jetzt die Kammern gethan haben, ist noch nicht viel zu
sagen. Sie haben der preußischen Armee ihren Dank votirt, und das war um
so mehr in der Ordnung, da durch die aus Schleswig-Holstein zurückkehrenden
bairischen Truppen die schändlichsten Verleumdungen gegen dieselbe verbreitet wer¬
den, die thuen offenbar von ihren Offizieren eingegeben sind. Sie erzählen, die
Preußen hätten nicht auf die Däne» schießen dürfe«, und umgekehrt, und bei
dem in schönster Blüthe stehenden Preußenhaß wird dieser Unsinn überall mit
gläubigsten Ohr aufgenommen. Wenn nur die Kammern sich entschließen möchten,
die Regierung auch darauf aufmerksam zu machen, daß das unter gesetzlichen
Formen angeordnete nachträgliche Gemetzel in Baden durchaus uicht geeignet ist,
den preußischen Waffen einen höhern Glanz zu verleihen.
Außerdem hat die erste Kammer ihre Thätigkeit damit begonnen, daß sie mit
107 : »2 Stimmen auf die allgemeine Suspension der Bürgerwehr angetra¬
gen hat.
Dies Zahlenverhältniß entspricht ungefähr der Stellung der conservativen
und liberalen Partei in diesen Kanunern. Was das Materielle der Frage an¬
geht, so ist so viel augenscheinlich, daß die bisherige Einrichtung der Bürger¬
wehr, namentlich in den größern Städten, ihrem Zweck nicht entspricht. Was
die Bürgerwehr leisten soll, wird dadurch am besten erreicht, wenn die Organi¬
sation der Armee ihrem Princip mehr angenähert wird. Dem Namen nach tst
in Preußen Jeder wehrpflichtig, wirklich aber hat nicht die Hälfte gedient.
Wird es aber so eingerichtet, daß jeder Bürger ein Jahr lang in den Waffen
geübt ist, und daß er jährlich ein paar Wochen in seinem Kreise die alten Uebun¬
gen erneuert, so ist die weitere Spielerei unnöthig, um so mehr, wenn die kör¬
perlichen Uebungen auf den Schulen, die ziemlich allgemein eingerichtet sind, noch
mehr den Charakter einer militärischen Vorübung annehmen.
Die Zusammenstellung des Titels ist wohl sonderbar, und man wird leicht
auf den Gedanken gerathen, daß hierdurch die Aufmerksamkeit der Leser angelockt
werden soll. Wir wollen nicht widersprechen, nur bemerken wir hiezu, wie es in
der ehrlichen Literatur Brauch und Regel wurde, daß es nur eine Nachahmung
ist; das Original ist Eigenthum des k. k. östreichischen Finanzministers!
Die Klagelieder über die östreichischen Finanzen sind bereits zu einem dicken
Gesangbuch angeschwollen; fromm und gläubig erbaut sich die ganze politische
Welt daran, und Freund Brandenburg stimmte als Gegensatz im weißen Saale
ein finanzielles Loblied an, das die preußischen Vertreter „minuinm Fvniinm" mit
großem Beifall begleiteten. Die schwarzgelben Gutgesinnten werden sich diesen
Stich der schwarzweißen Gutgesinnten wohl notiren und bei guter Gelegenheit eine
Retourchaise miethen; ein Vorpostengefecht hat bereits begonnen, zwischen der
Berliner constitutionellen Zeitung und der Wiener „Presse." Jene don¬
nert: Oestreich ist zerfallen, zerrissen, ruinirt, von innerem und äußerem Kriege
durchwühlt, nnr noch von Rußland gehalten, seine berühmte Olmützer Constitu-
tion ein Fetzen Papier, seine Kammern nirgend zu finden, niemals zu berufen.
Krieg, Verwirrung, Finanznoth überall — so steht es Preußen gegenüber.
Diese blitzt dagegen: „Aber Oestreichs Constitution wurde nie ?) so oft
verletzt, wie es in Preußen geschah; Oestreichs Vertreter werden berufen werden,
aber nicht wie in Preußen, wo in allen Theilen des Landes die Majorität der
Bevölkerung das ein zweites Mal vctroyirte Wahlgesetz nicht einmal als bindend
anerkennen wollte. Oestreichs Kammern werden vielleicht (der Schalk!) viel später
zusammentreten, aber ihre Abgeordneten werden ans Wahlen hervorgehen, die
nicht künstlich ans die Partei der Regierung beschränkt sind."
Man hat seine wahre Freude an diesem ministeriellen Zankduell und die Strei¬
tenden geriethen wohl nicht in Verlegenheit, wenn sie «1^ Oro gerufen wurden,
neue Stanzen vorzutragen. Das Wiener und Berliner Cabinet haben Stoss ge¬
nug, einander Vorwürfe zu machen. Ob das deutsche Volk sich dabei amustrt?
ob Deutschlands Einheit, ob Preußens Größe, ob Oestreichs Macht dabei ge¬
winnt? — Das vermögen am wenigsten die Claqueurs, und leider auch die Ca-
binete nicht!
Doch zurück zu Mord und Finanzen in Oestreich.
Wir haben nicht die Absicht, eine ziffervolle Abhandlung zu schreiben; nur
das Jnteressanteste sei, ohne auf Vollständigkeit Anspruch zu macheu, hervorgehoben.
Die Staatsschuld Oestreichs betrug im vorigen Jahre über 1000 Millionen
Gulden in Conventionsmünze. Der Reichstag bewilligte dazu 100 Millionen.
Der große Bedarf, während die Einnahmen sich verringerten, wurde durch An¬
leihen bei der Natiomilbauk gedeckt. Die Nationalbank ist ein mit dem Privile¬
gium der Notenemission versehenes Privatinstitut; dieses Privilegium wurde
vom Staate, nach devoter Katzenl'uckeln der Bankdirektoren dahin mißbraucht, daß
er sich stets Geld auslieh, wahrend diese kein Geld hatte, sondern blos die ge¬
stempelten Papiere. Ohne also ein Aequivalent in Baarcm oder in geeigneten
einlösbaren Effecten zu haben, schnitt die Bank einen Bogen Papier nach dem
andern entzwei und so hatte sie Ende vorigen Monats 258 Millionen Gulden in
Papier in Umlauf gesetzt, in den Kellern aber lagen nur 28 Millionen in Silber.
Also für beinahe 10 Gulden Noten hat die Bank nur 1 Gulden Silber als Be¬
deckung.
Dieses Mißverhältniß drückt seit Jahr und Tag den Werth der Banknoten,
welche 20 bis 25 Prozent an Agio verlieren, wenn man sie gegen Silber umtau¬
schen will. Diesen Verlust muß das Publikum dulden und tragen, denn die Re¬
gierung anberaumte den Zwangscours; das Geschäft treibende Publikum revcmgirt
sich, indem es den Verlust an Banknoten auf den Preis der Waare schlägt, und
die östreichischen Buchhändler erlassen an alle Kunden ein Circular, wonach sie die
außeröstreichischen Werke für den Thaler, sonst 1 Fi. 27 Kr., jetzt mit 1 Fi.
45 Kr. berechnen. Bücher siud jedoch ein Luxusartikel; Fleisch hingegen gehört
zu dem nothwendigsten Lebensunterhalt, und davon kostet gegenwärtig das Pfund
15 Kr. C.-M, das voriges Jahr 10 Kr. kostete. Um nicht eine noch größere
Theuerung hervorzubringen, mußte der Minister die Ausfuhr vou Gold und Sil¬
ber nach der Moldau und Wallachei gestatten, weil die dortigen Ninderlieferanten
keine andere Zahlung annahmen.
Außer den Kaufleuten kann sich kaum Jemand eine Vorstellung machen, wel¬
chen Einfluß die Entwerthung der Banknoten auf das ganze Verkehrsleben Oest¬
reichs ausübte. Der Beamte verliert jedoch mindestens den 5. Theil seines Ge¬
haltes, eben so der Rentier. Wer vorigen Jahrs 1000 Fi. in Silber anslieh, er¬
hält jetzt nur 800 Fi. in Silber zurück u. s. w.
Die Bankactionäre, welche Geld an den Staat liehen, ohne Geld zu haben,
beziehen für ihre entwertheten Papiere die vollen Interessen. Die Bank war ban¬
kerott, denn sie konnte ihre Noten obwohl darauf gedruckt ist, daß der Ueber-
bringer Silber dafür bekömmt, nicht einlösen; dennoch lieh sie neuerdings dem
Staate uneinlösbare Noten, und ließ sich dafür Zinsen zahlen, als hätte sie baa-
res Geld geborgt.
Alle Reden auf der Tribune, die scharmantesten Journalartikel, alle Vorstel¬
lungen der Kaufmannswelt scheiterten — am Bedarf des Staates. Der Krieg in
Italien und Ungarn kostete Geld, und der Minister fand kein anderes Aushilfs-
mittel als immer wieder zur Bank zu gehen. Da die Bank Anfangs nur 5 Fi.
Noten als kleinste ausgab, diese aber für den der Zwanziger entbehrenden Klein-
verkehr nicht paßten, so wurden Noten zu 2 und 1 Fi. ausgegeben, deren tech¬
nische Ausstattung an die Schriftproben der Normalscbnle erinnert. Da auch die
Silberzehner, Silberfüufer und Silbergroschen verschwanden, wende» endlich die
l Fi. Noten in Hälften und Viertel zerrissen. Aber auch nicht genug. Auch die
Kupfermünze wurde von Bauern aufgesammelt, und in eisernen Töpfe» in die
Erde vergraben, und wer sich für einen oder mehre Kreuzer Etwas kaufen wollte,
— mußte es zu Borg nehmen, denn der Händler konnte nickt wechseln, und wollte
es auch nicht, da er sür das Kupfergeld wehr Agio erhielt, als er am Verkauf
verdiente. Die Weiber auf dem Grimzengmart't weinten, denn der kleine Verdienst
wurde ihnen geraubt, da die Einkäuferinnen nnr Papier hatten, und sie nicht heraus¬
geben konnten. Die Briefträger mußten mehrmals wiederkommen, ehe der Brief¬
empfänger sich die paar Kreuzer schassen konnte. In deu Fabriken machten die
Patrone lithographirte Kreuzer mit ihrer NamenSfertiguug. Städte, wie z. B.
Prag gaben solche Papiere aus, und in einigen Districten wurden, da die Ar¬
beiter die Papierstückchen verloren, Holzstücke mit Stempel versehen, und galten
für Münze.
Ein Uebel zieht das andere nach. Die schlechten Banknoten wurden nachge¬
macht, und viele Tausende falsche Viertelguldeuuvteu kamen in Umlauf. Die Bank,
welche die zerrissenen Stücke einlöste, schied nur die kenntlichsten ans, um nicht
die untere Volksklasse, die meist dadurch betroffen wurde, neuerdings zu allarmiren.
Der Finanzminister mißte auch für dieses Uebel kein Mittel; er ließ einige Wu¬
cherer, welche Gold und Silber aufkauften, ans Wien ausweisen, in den Pro¬
vinzen, die sich im glückliche» Belagerungszustände befände», wurde mit Kerker
und Schauzarbeit gedroht, — aber die Theurung wurde dadurch »och größer, und
die Zwanziger wie die Scheidemünze krochen nicht aus ihrem Versteck.
Der Finanzminister ließ Silberbarren, zu hohem Course, im Auslande auf¬
kaufen, und prägte daraus Scchskrenzerstückc, jedoch statt im 20 Fi.-Fuße im
24 Fi.-Fuße; hinter diesen kleinen (Betrug wollen wir es nicht nennen) Vortheil
kam man bald, allein diese geringhaltigere Münze wurde rasch aufgesammelt, denn
sie war doch werthvoller als die Banknoten. Hierauf ließ der Finanzminister
Sechskreuzerstücke von noch geringerem Feingehalt ausmünzen, so daß aus der
Mark von 20 Fi. — 33 Fi. 30 Kr. gemacht wurden. Es bleibt Jedermann über¬
lassen, dieses Verfahren nach Belieben zu nennen; wir geben nur die einzige Folge
zu erwägen, daß diese Münze, in demselben Gehalte, sogleich nachgeprägt wurde,
und sonach vielleicht bereits einige Millionen falschen Geldes circulirt, das doch ächt
ist! Die Nachahmung der Präge ist keine Kunst! Der Staat wird also nach einigen
Jahren diese Scheidemünze gegen den vollen Werth einlösen müssen, und büßt so
eine der gefährlichsten Maßregeln.
Allein auch dies half nicht, und man cmittirtc endlich Papiergeld zu K und
10 Kreuzern!
Haben wir nur ein gedrängtes Bild des Geldverkehrs entworfen, so wollen
wir in wenigen Worten die Staatsfinanzen berühren. Die Gesammtschnld beträgt
jetzt circa 1200 Millionen Fi.; nicht zu viel für den östreichischen Kaiserstaat. Je¬
doch müßte die Aussicht vorhanden sein, daß die Einnahmen die Hohe der Aus¬
gaben wenigstens erreichen; leider ist ans Jahre das Umgekehrte zu prophezeien.
Gegenwärtig hat Oestreich ein monatliches Defizit von 8 bis 10 Millionen
Gulden Silber. Im Zeiträume des Militärjahres, vom l. November l848 bis
30. März 1840, überstieg die Ausgabe um 38 Millionen die Einnahme; letztere
war 38 Millionen, erstere 70 Millionen Gulden.
Das Militäretat ist der Schlund, in den der Wohlstand Oestreichs verfällt,
und da eroberte und unterjochte Königreiche keine Quellen der Einnahmen darbie¬
ten, sondern die Bewachung mehr kostet als man Steuern auflegen kann, so werden
Ungarn und Italien den Staatsfinanzen nicht auf die Beine helfen.
Im Kurzen sei berührt, daß das Gouvernement, obwohl das Privilegium
der Bank dieser allein das Recht vindicirt Noten auszugeben, dennoch Noten nn-
ter dem Titel: ungarische LandeSanweisungeu und bi^lviti «I> t>'«:»«>n, druckte und
cmittirte, und zwar mit Zwcmgsconrs. Außerdem wurden Kassenanweisungen, mit
3 pCt. Interessen, gegen Banknoten eingetauscht, um die Zahl dieser zu vermin¬
dern, hauptsächlich aber, um die Staatsbeamten salariren zu können.
Viel zu weit würde es führen, all' die großen und kleinen Manönvrcs dar¬
zustellen, welche gebraucht wurden, um die Finanzen in günstigerem Lichte zu
Präsentiren und deu Credit zu wecken. Kurzsichtige konnten getäuscht werde», je¬
doch die erfahrenem Geschäftsmänner zogen sich von einem Staate zurück, dessen
Ministerium auch nicht die geringste Garantie darbietet, und zu deu verwerflichsten
und discredilirtesten Ordonnanzen, zu Papiergeld ohne Fond, zur Falschmünzerei
u. dergl. seine Zuflucht nimmt. Mit bekanntem Tact bclenchiete auch die englische
Presse diese Gcldaugelegcnhcit und kam zu dem Resultate, daß eine Finanzkrisis
uuausbleil'lich sei. Wir Deutschen sind schon gewöhnt daran, daß das Ausland
mehr beachtet wird als das Inland, und Oestreich hat ein. besonderes Augenmerk
auf London und Amsterdam zu richten, da dort die meiste» seiner Staatspapiere
aufgestapelt liegen, und jedes »e»e AnKchen von dein Vertraut» der dortigen
Börsen abhängt. Der Finanzminister sattelte daher alsogleich sein Roß, und be¬
wies in offizieller Tnrnei, daß Oestreichs Finanzen nicht gar so schlecht ständen.
Er gesteht zwar, daß die finanziellen Bedrängnisse fortwährend im Steigen sind
und die klingende Münze beinahe ganz aus dem Umlaufe entschwunden ist; allein
die Hilfsquellen seien „unerschöpflich," mit welcher Phrase der Hunger gestillt und
die Kriegskosten bezahlt werden sollen. Der Finanzminister, Freiherr von Kraus,
schlechten Ansehens, embvnpoinlirt mit unerschütterlicher GemürhSnche, glaubt an
Gott und die baldige Schlichtung der östreichischen Finanznoth, und kein Ereigniß
noch so schauerlicher Art, weder der Mord Latours, uoch die Octroyirung der
Konstitution, weder die Niederlage des Feldmarschalls Windischgrätz, noch die
Siege der fürstlich Schwarzenberg'schen Politik vermögen ihn in seinem Glauben
wankend zu machen. Glaubt doch der Freiherr v. Kraus, daß das jetzige östrei¬
chische Ministerium constitutionell regiere, obwohl er selbst eine Ordonnanz nach
der andern octroyirt, die zu den unverantwortlichen gehören, wie der Zwangs¬
cours der ungarischen Landesanweisungen für die außerungarischen Provinzen.
Wir wollen den Finanzminister nicht in seinem Glauben stören, allein mit
Entrüstung las man dabei, daß der Freiherr v. Kraus, um die Finanzzustände
zu beschönigen, sich nicht entblödet, die Anschuldigung eines Mordes zu wiederholen.
Die Stelle lautet beiläufig: „Verläßliche Mittheilungen über Oestreich und
Ungarn zu schreiben, dürste eine Hand am wenigsten geeignet sein, welche das
Blutgeld für die Mörder des edlen Grasen Latour verheißen und bezahlt zu ha¬
ben beschuldigt ist."
Dies ist eine Anspielung auf „Pulszkyden Agenten Kossuth's in Lon¬
don, dem die östreichischen Minister die donnernde Philippika der englischen Jour¬
nale zuschreiben. Ferne und fremd dem magyarischen Parteimann, wissen wir, und
so Viele, daß er zu den gebildetsten Talenten, zu den ehrenhaftesten Charakteren
und zu den sittlichen Männern einer der ritterlichsten Nationen gehört. Seiner
Seele, wie seinem Herzen ist eine That fremd, die zu den verwerflichsten der Ge¬
schichte gehört.
Jedoch das moralische Motiv beseitigend, weil vielleicht die politische Par-
teiung selbst zu Verbrechen flüchtet, gibt es thatsächliche geung, die besonders den
Minister Kraus abhalten mußten, einen solchen Vorwurf auszusprechen. Wenn
das Militärgericht in Wien drei Mörder Latour's aufhängen läßt und sechs an¬
dere Mörder Latour's zu Kerkerstrafe verurtheilt, und noch einige Dutzend als
Mörder Latour's steckbrieflich verfolgen läßt, so ist es eben das Blutgericht, das
seine Opfer haben muß, und da es keine Schuldigen findet, Halb - und Minder¬
schuldige dem Henker überliefert. Niemand ans dieser Erde war oder ist ein
Mörder des edlen Latour, wenn man mit diesem Worte den Begriff einer vor¬
überlegten That verbindet; die aufgeregte Masse hat ihn erschlagen, und die ihm
zunächst Stehenden hieben darauf los. Mögen die Missethäter in aller Strenge
gerichtet werden, sie haben einen braven Mann gemordet und ein vortrefflich Volk
durch diese Blutthat geschändet. Allein eine gleiche Schandthat für's Volk ist die
Anmuthung eines beabsichtigten Mordes, die, ohne Beweis, ohne Beleg, vom
Militärgericht ausgeht, und bei der Besprechung der Finanzen, vom Minister
Kraus sogar einer kenntlich bezeichneten Person angeheftet wird.
Das ist östreichische Ministerialpnblicistik; Kossuth bezüchtigt man des Dicb-
stcchls, Pulszky der Mordanstistung. Gäbe es ein ehrlich Gericht in Oestreich,
oder würden es die östreichischen Minister nicht schenen, vor einem außeröstreichi¬
schen Gericht den Prozeß auszuführen, so müßte sie Pulszky vorladen, der Ver¬
leumdung und Ehrenkränkung angeklagt, und bald — überwiesen. Der Todschlag
Latours war ein zufälliger, und diesen so wie dem ganzen 6. October unseligen
Andenkens standen die Ungarn, wie es alle Eingeweihten bezeugen, ganz fern; er
überraschte die Pesther eben so wie die Wiener. Weder Demokraten noch Reactionäre,
weder die schwarzgelben, noch die Schwarzrothgoldnen, weder die Garden und
Legionäre noch das Militär und Civil, Niemand, Niemand war ans die Vor¬
gänge des 6. October vorbereitet. Das Gewitter schwebte seit Wochen über dem
Horizont, der Blitz schlug ins Kriegsgebäude.
Wir überlassen die Anschuldigung von Seite des Finanzministers gegen Pnlszky
dem Urtheile der Leser; ihr verdanke» sie den Titel dieses Aufsatzes.
GrafLeo Thun ist vom abgesetzten Landeschef Böhmens zumMi-
nister Oestreichs avancirt. Ein wahrer Kaisersprung für einen Staatsmann,
der auf dem schroffen Gestein des czechisch-panslavistischen Charakters so sehr die
Negierungsstraße verloren hatte, daß er erst dnrch Entlassung aus dem peinlichen
Labyrinthe gezogen werden konnte. Mehr als ein Jahr ist dieser Manu, der für
die Sprache und Nationalität seiner Stammesbrüder schon in einer Zeit muthig
wirkte, in welcher seine nachmaligen Ankläger ihre wilden Mähnen noch nicht zu
schütteln wagten, — als Apostat geächtet und als Veiräther der Nation vielseitig
bezeichnet gewesen, bis ihm auf den Trümmern panslavistischer Ideale ein Mini¬
ster sitz erstand. Schwer ist es, noch ein billiges Urtheil über diesen Charakter
zu fällen, Hoffnung und Furcht haben hier gleichviel Chancen für sich, Lob und
Tadel kann nnr die Zeit aussprechen. —
Die „Swornost" würde mir diese Rücksichtsnahme freilich sehr übel nehmen,
und rufen: „Man zweifelt an der Perfidie und reactwnärcn Gestnnnng eines
Mannes, der seine zweite Vaterstadt in Brand stecken ließ, seinen Stamm mit
Schmach bedeckte und die treusten Anhänger des angestammten, glorreichen Für¬
stenhauses in eine fabelhafte Verschwörung verwickelte?" Möglich, daß ihm manche
nicht zu billigende Zweideutigkeit vorzuwerfen ist; allein bedenkt auch, daß über den
ganzen czechischen Freiheitsjubel ein entschieden demokratisches Urtheil nicht leicht mög¬
lich ist. Bedenkt, daß ihr durch nicht minder zweideutige Uebcrgnffe so manchen
frühern Getreuen eurer Partei entfremdet habt; daß zwischen Freiheit und Zügello-
sigkeit die Grenze de- euch nur sehr schmal und locker war, und daß oft selbst
der Freisinnige vom reinsten Wasser, wenn er nnr auch menschlich dachte, in
die Verlegenheit gerieth, ob er z. B. als Deutscher, sich lieber von eurer Be¬
geisterung ohrfeigen, oder von der Regierung Hofmeistern lassen sollte. — Der Feind
geschwollener Wangen und der Mann von Selbstgefühl wählten natürlich das weniger
schmerzliche Uebel. Doch keine Vorwürfe mehr wegen dieser tollen Vergangenheit,
die sich ohnehin nachhaltig gerächt hat; — es waren Zeiten, wo die Ueberlegung
spazieren ging, und die Leidenschaft im Hanse herrschte. Ihr selbst nehmt das
Recht in Anspruch, seitdem weiser geworden zu sein. Seht, und deshalb sollt ihr
anch über Thun erst uach seine» neuen Thaten urtheilen. „Thörichte Furcht," meinte
letzthin eine ehrliche Swornostseele. „Thun hat ja als Unterrichtsminister ohne¬
hin blos mit Professoren und Studenten etwas zu schaffen. Diese Armen werden
es freilich büßen, daß sie ihn gefangen haben und aufknüpfen wollten, aber uns
kümmert er nicht." Und solche Leute nennen sich hier nationalen, und doch
wissen sie nicht, daß in Thun's Ressort jetzt ihr Steckenpferd „die Nationalität"
gehört, daß von seinem Departement die Gestaltung und Cultur der nachwnchsigen
Generation und des Vaterlandes selbst abhängt, und daß anch dem „Professoren¬
minister" eine gewichtige Stimme in allen inneren Staatsangelegenheiten zukommt.
Die Führer der czechischen Partei aber sind von Thun und von dessen Klugheit
eines Bessern belehrt. Diese wissen, wie wir, sehr wohl, daß Leo Graf Thu»,
der czechische Opposirionsmann einst der äußersten Linken in den böhmischen Land¬
tagen, von welchem in diesem Augenblicke eine Brochüre in czechischer Sprache
die Presse beschäftigt, daß er, einst die Hoffnung seines Vaterlandes genannt,
nichts weniger als dem Czechentbnme feind ist, wenn gleich er dem Enthusiasmus
der Panslavisten nicht mehr huldigen mag. Zudem ist der improvisirte Minister,
der bereits den Entschluß gefaßt hatte, seines traurigen Geschickes halber nach der
neuen Welt zu wandern, zu klug, alö daß er nicht deu Czechen alle möglichen
Concessionen machen sollte, um sich mit heilten Landsleuten auszusöhnen, denen er
seine Versöhnlichkeit so oft entgegentrug.
Sie fragen, was die eigentlichen enragirten Panslavisten zu dieser Erhebung
noch immer für Mienen machen? Welche Panslavisten? Ein Königreich für einen
Panslavisten! Hier sind sie verschwunden, wie Klapta, wenn er dem schnurrbärti¬
gen Judenfeind zur Nevange das Vieh weggefangen hat. Ob sie nicht wieder
hervorkommen, wenn's einmal geheuer wird, ist freilich eine andere leicht zu be¬
antwortende Frage. Wen meinen Sie aber jetzt? Etwa deu Maun mit dem ver¬
blichenen Paragraphen? Der ist k. k. Appellativnsrath, ein obligater Gutgcsinuter.
Oder den „Großen" mit dem schmalen Geiste und der breiten Rede? — Man
hat ihn nur bvöhaflerweise „den Großen" genannt, aber glauben Sie mir, er
ruht jetzt sanft ans ans den Lorbeeren seiner siegreichen parlamentarischen Schlach¬
ten und ist ein ganz unschuldiges Ding. Oder den genialen Tadler magyarischer
Bärte? Der lebt fer» von Mutter Slava in Paris. Oder den Verspotter des
„magyarischen Völkleins?" — Der will k. k. Professor des Naturrechts werden.
Oder deu Mann mit dem schönen Mantel und der mystificirteu Nativnalbelvhuuug?
Der trauert über den Undank seiner Nation.
Oder etwa deu furchtbarste», aber zugleich kernigsten aller ehemaligen Pan-
slavisten, den scythischen Escamoteur mit dem schwarzrotgoldenen Sacktnche? —
Ju diesem Manu ist allerdings noch immer ein kaltes, seltsames Geheimniß
verborgen, frostig und starr, w!e die czechische Göttin selber. Und wie diese da-,
sitzt ans weißrothblauem Dreifuß, im Herzen unsäglichen Groll, in den Augen
das deutscheuseiudliche Feuer, mit der Hand das Bild Frankfurts in die Gluthen
werfend, nud mit dem Munde den gräßlichen Fluch vor sich hinmurmelnd, der
das u^slavische Ministerium verdammen soll, so steht er da, ein zweiter Alexan¬
der, groß und unüberwindlich. Was meint Herr Hawljzcek? Er sagt: „Wir
denken zwar, was wir gedacht haben, aber sind weit entfernt, die Erhöhung des
Grafen zum Unterrichtsminister zu tadeln." Das schüchterne Fannnsgesicht wird
Ihnen dabei nicht entgehen, dafür läßt der Mann seine Galle Herrn Schmerling
fühlen. „Dieser, meint er, wird aller Wahrscheinlichkeit nach seine neue Stellung
damit krönen wollen, daß er die Wahlen für .Frankfurt ausschreiben läßt. Die
Czechen werden aber nicht wählen." Du lieber Gott, das verlangt ja Nie¬
mand mehr von ihnen.
Ans die Frage: Hat das Volk Ursache, sich über diese Wahl des Monarchen
zu freuen, so wird die Antwort ungefähr so gesetzt werden müssen. Es ist sehr
unwahrscheinlich, daß der College Schwarzeubergs in einem liberalen Cabiucte
wünschenswert!) oder möglich wäre; aber bei dem Absolutismus Oestreichs, wel¬
cher nur mit constitutionellen Phrasen verblümt ist, ist Leo Graf Thun sicher die
möglichst beste Acquisition. Die Ausklärung, wie wir sie wünschen, wird in Oest¬
reich noch lange Zeit ein frommer Wunsch bleiben, die Jesuiten und Liguorianer
kriechen allmälig ans ihren Nestern hervor, die Kirchenhäupter erlassen grauen¬
erregende Bibelsprüche und Hirtenbriefe, die Consistoria predigen dem Klerus ehr¬
würdige Polizei und die Hvstieusonne der willenlosen Frömmigkeit, leuchtet über
Unserer papiernen Verfassung. ES wäre also thöricht, wenn wir bei dieser neuen
Entwicklung und Reorganisation des Jesuitismns und der geistlichen Polizei von
irgend einem Unterrichtsminister des Cabinets Schwarzenberg große Fortschritte
in der Ausbildung und Erweiterung der wahren geistigen Cultur hoffen wollten.
Würde aber ein Heisere oder ein Professor Naumann (?) dieses Portefeuille er¬
halten habe», so dürften wir gewiß sein, mit Einem Schritte vor, zwei, nein,
wehr sechs rückwärts zu machen, und der Heilige von Loyola hätte noch im Grabe
seine Freude erlebt. Bei derlei Aussichten ist Leo Thun noch immer der leidlichste,
und wir einigen, starken und freien Oestreicher haben an seiner Ernennung dem¬
nach nichts verloren.
Haben wir aber auch etwas damit gewonnen? — Wenigstens eine Cvn-
trasignatur mehr bei k. k. Ukasen. Aber außerdem ist die endliche Besetzung des
so lange Zeit leer gebliebenen und so wichtigen Postens ein Gewinn für uns, an
welche», wenn der Minister mit Ernst aufzutreten geneigt wäre, sich weiterer Ge¬
winn reihen würde. — Es flimmert Einem wahrlich bunt vor den Augen, wenn
man unser verkümmertes Unterrichtswesen ansieht, dieses herrliche, üppige Feld
zur wilden Steppe gemacht sieht. Man gehe einmal in unserer cvlvborriiiui, et
indi«>ni5«im.'l herum und mau wird sich gewaltig wundern über die diversen Stu¬
dien, die da gemacht werden. — Unsere Theologie, halt! die kommt direkt vom
Himmel, mit der ist nicht zu scherzen; — die juridische Fakultät aber dürste
eiuer bedeutenden Kur zu unterziehen sein. Das Zopfthum, das hier seine höchste
Länge erreicht hat, erfordert mindestens eine neue, gefälligere Flechtnug, denn die
uralte ist höchst widerlich und an den Nadikalschuitt dürfen wir doch nicht denken.
Die jungen Herren Nechtshörer sind überdies durch die vielen Octroyiruugeu im
„Rechtsbegriffe" etwas confus geworden. Da studirt der gutgesinnte Jurist
seine Glückseligkeit vom 4. März, der czechische die schwarzrothblaue Verfassung
des Reichstags und den Slavencvngreß, und der Deutsche sogar die schwarzroth-
goldeue Einheit und den Reichsverweser. Wo ist ak-er da das einige Oest¬
reich? In der Medizin, die als Wissenschaft am Besten bestellt ist, sind min¬
destens die Chirurgen zwischen Thüre und Angeln, und die staatliche Stellung der
Aerzte ist ungesund.
Wollen wir weiter gehen und über Lyceum, Gymnasium und die kleinen
Schulen eine Litanei beginnen. — Erbarmen mit den „Grenzboten!" ich will sie
mit dem massenhaften Unkraut nicht betäuben, welches auf diesem Gebiete aufge¬
schossen ist und womit man die Köpfe der armen Jugend anfüllt. Doch glauben
Sie meinem Worte, es gehört ein Menschenalter dazu, um Alles wieder gut zu
machen, was durch ein schändliches Vcrdummuugssystem verdorben wurde. ES
hieße daher die menschliche Kraft überschätzen, es hieße auch den guten Willen
und den liberalen Sinn unseres Ministeriums überschätzen, würden wir eine tief
durchgreifende Reformation zu Gunsten und zum Heil unserer culturfähigen Ju¬
gend erwarten; aber wenigstens neue Schnörkeln werden zuverlässig an dem alten
Culturstaate angebracht werden müsse», ein gefälliger Anstrich, der jetzige ist völlig
verwittert; — und das wird unser Gewinn sein.
Unsere Ansicht ist daher: Mögen die Czechen durch diese Besetzung des Cul¬
tusministeriums sich noch so sehr gekränkt fühlen, der östreichische Kaiserstaat hat
unter den gegenwärtigen Verhältnissen dadurch nichts verloren, aber vielleicht Et¬
was gewonnen. —
Die Broschüre des ersten Ministers der Revolution hat im Kaiserstaat das
größte Interesse erregt, sie wird eifrig gelesen, von der unabhängigen Presse
Oestreichs mit Wärme gepriesen, in Wien selbst sehr verschieden beurtheilt.
Sie enthält auf fünf Bogen zuerst eine faßliche und diskrete Durstellnng der
Politischen Situation, in welcher das Ministerium den Staat vorfand, eine An¬
deutung der Schwierigkeiten und Konflikte, mit welchen es zu kämpfen hatte und
eine Motivirung, Vertheidigung und Kritik seiner wichtigsten Maßregeln; zwei¬
tens aber seit der Abdikation Pillersdorfs eine Beurtheilung der Periode des
Reichstags bis zu seiner Auflösung und endlich zum Schluß ein kurzes politisches
Glaubensbekenntniß.
Viel Stoff für ein so kurzes Memorial! Sicher wird der junge Kaiser das
Buch lesen, denn zumeist für ihn ist es geschrieben. Wer, wie wir,
durch das letzte Jahr zu der — nicht organisirten — Partei des Verfassers ge¬
standen hat, erfährt nicht viel Neues aus dem Buch. Und doch ist es für Jeden,
der Oestreich liebt, interessant, einmal, weil es die verhängnißvolle Zeit vom
Standpunkt eines gebildeten Staatsmannes mit Ruhe und Haltung zu erfassen
sucht, ferner aber, weil es dem Volk zu rechter Zeit das Bild des Verfassers
selbst in das Herz leitet; man lernt den Menschen sehr hochachten, auch wo man
das Thun des Ministers nicht loben kann.
Die erste Hälfte der Broschüre, jener Theil, wo er die Thätigkeit seines Mi¬
nisteriums vertheidigt, befriedigt am wenigsten. Ist doch jede Vertheidigung politi¬
scher Maßregeln, welche aus irgend einem Grunde nicht zum Guten ausgeschlagen
sind, mißlich, ja vergeblich. Pillersdorf und die Patrioten, welche mit ihm Mi¬
nister geworden waren, zum Theil ohne vorher darum gefragt zu sein, haben den
Begebenheiten gegenüber das Unrecht, daß sie dieselben nicht zu beherrschen ver¬
standen; dies Unrecht bleibt ihnen nnter allen Umständen, es ist das Produkt
zweier Faktoren, ihrer eigenen Persönlichkeit und der Verhältnisse, welche sie vorfanden.
Aber wohl gemerkt, nicht der Weiseste, der Reinste und Beste ist zu allen Zeiten
der politisch Berechtigte. Es gibt Perioden, und das letzte Jahr gehörte zu diesen,
welche sich nur einem Lenker von ganz bestimmter Persönlichkeit, und nicht grade
der untadlichsten unterwerfen, etwa einem der halb Fanatiker, halb Schauspieler
und außerdem von Eisen ist, wie z. B. Cromwell war. Wer eine solche Indi¬
vidualität nicht hat, dessen Ministerium wird zwar durch den Lauf der Begehen-
heilen verurtheilt werden, und keine Rechtfertigung wird ihn dagegen helfen, der
Mensch aber, welcher in dem Ministerium saß, kann sich demungeachtet die Liebe
und Verehrung seiner Mitbürger erhalten. Beides ist bei dem Versasser des Bu¬
ches der Fall. Wenn auf uns seine Erzählung aus dieser Periode auch sonst nicht
besonders imponirend wirkt, weil sie uach allen Seiten hin verschweigt und schont,
so mögen wir auch nicht vergessen, daß er als gewesener, und — wenn Gott will!
künftiger Minister des Kaiserstaats in der That Rücksichten zu nehmen hat, welche
uns fremd sind.
In der Periode des Reichstags dagegen, wo der Verfasser von sich, dem
Deputirten, allein zu sprechen hat, charakterisirt er jene unheilvolle Zeit sehr tref¬
fend und wahr. Es wird nachgewiesen, wie der schlechte Erfolg des Reichstags
zumeist daher kam, daß die Regierung ihm weder die nöthigen Gesetzvorlagen zur
Berathung zurecht gemacht, uoch sonst verstanden habe, das Vertrauen der Majo¬
rität in demselben zu gewinnen; wie die isolirte Stellung des Reichstages ihren
Theil Schuld habe an den Octoberereignissen, und auf welche Weise seit der Zeit
die Macht des Staates an diesem gesetzgebenden Körper gesündigt habe. Es ist
Alles wahr, was er sagt und wir wünschen, daß sein Kaiser Augen und Ohren
für seine Wahrheit habe.
Die ganze Wahrheit aber ist es doch nicht. Das Uebel lag tiefer, und weder
das Ministerium Dvblhos und Stadion, noch die Parteien des Reichstages dürfen
in letzter Instanz für die Katastrophe verantwortlich gemacht werden, in welche
Oestreich seit der Zeit gekommen ist. Es gibt für Oestreich nur eine Möglichkeit
parlamentarischen Lebens: Provinzialcongresse, aus denen sich der Staatencongreß
zusammengesetzt, für den Staat der Habsburger nur noch eine Möglichkeit der
Existenz, ein Bundesstaat mit Provinzialsouveränitäten, der nicht durch „Födera¬
tion" der einzelnen Theile, sondern durch eine starke Executive verbunden ist.
Wenn der Name Oestreich nicht verloren geht in dem Blutvergießen dieser Jahre,
so wird der Staat diesen Verjünguugsproceß durchmachen müssen. Alles treibt
dazu, die Lage der Finanzen, der Kampf der Nationalitäten und eben so sehr
die neuste „organische Gesetzgebung." Es ist sehr zu fürchten, daß durch Bach's
neue Einrichtung der Verwaltung und Justiz, bei der schon bestehenden Verwir¬
rung in beiden Branchen eine vollständige Auflösung sehr befördert wird, denn es
wird dadurch das Einzige vernichtet, was jetzt noch das morsche System zusam¬
menhält, die Gewohnheit an das Alte, Feste, oft Gescholtene und doch Bestim¬
mende. Selbst das Gute, was der jetzige Minister des Innern einführen will,
wird schlecht eingerichtet werden und das mürrische und aufgeregte Volk wird ihm
die Schuld auch in deu Fällen beilegen, wo er verständig das Rechte gewollt hat.
Während ein Volkskörper an einer Krankheit leidet, wie der ungarische Krieg
ist, welche alle seine Kräfte in Anspruch nimmt, und sein Blut verdirbt, werden Re¬
formen, d. h. Forderungen an das Volk, seine Kraft in neuen Richtungen zu
entwickeln, schon an sich bedenklich, wenn aber die Negierung mit der einen Hand
eine Masse neuer Neformgesetze uuterschreib', mit der andern Hand nach allen Ge¬
genden höchst tyrannische und blutige Dekrete souveräner Willkür schleudert, wenn
die faktische Gewalt nicht in den Händen der bürgerlichen Obrigkeit, sondern der
Generäle und Soldaten ist, so werden solche constitutionelle Gesetze ein Hohn,
welcher das Volk verwundet und aufregt, statt zu beruhigen. Seit einem Jahr
klafft der Abgrund des Mißtrauens zwischen Regierung nud Volk, immer größer
ist der Riß geworden, immer problematischer seine Ausfüllung. Man wendet ein,
der gegenwärtige Ausnahmezustand sei eben so nothwendig, als vorübergehend.
Das ist unwahr. Die unwürdige Verhöhnung aller Rechtsgrundsätze, welche Per¬
son und Eigenthum schützen sollen, war nicht nothwendig. Die Negierung hat
aufgehört, Herrin zu sei», welche gerecht über Schuld und Unschuld richtet und
mit starker Hand das Recht vertheilt zwischen Geliebten und Mißliebigen, es
gibt kein unparteiisches Recht mehr im Staate Oestreich, keine Ehrfurcht vor
Prinzipien, vor Rechtsbegriffen; eine herrschende Partei rächt mit Pulver und
Blei, mit Erpressungen und Verfolgungen den Schmerz, den sie erfuhr, die Be¬
leidigungen, die sie erlitt. Oestreich ist zurückgesunken in die Schrecken eines
mittelalterlichen Staats, aus dem es jene große Theresia erhob; die ethische Würde
der Gesetze ist geschwunden, die Sittlichkeit des Rechts wird verachtet von der
Regierung, getödtet im Volk. Wie sollen da bogenlange organische Reformen hel¬
fen; jeder Brigadier tritt sie mit Füßen, jede neue Laune der Regierung kann
morgen wieder aufheben, was sie heut befohlen hat. Drei Konstitutionen in
einem Jahr, und die letzte die uubrauchbarste vou Allen, und auf diese Ver¬
fassung stützen sich alle neuen Gesetze! — In einem halben Jahr sind die Verfassung
und ihre Supplemente wieder unbrauchbar geworden.
Aber das Volk ist todtmüde und sehnt sich nach Ruhe, ja es möchte sie kau¬
fen um jeden Preis. Das wenigstens kömmt der Regierung zu Gut. Meint ihr?
Die Negierung selbst sorgt dafür, daß die Ruhe des Volkes uicht so lauge dauern
kann, als seiue Schwäche. In ihren Fiuauzmaßregelu liegt der zweite furchtbare
Feind für die Existenz Oestreichs. Auch hier verhüllt die Gemüthlichkeit unserer
loyalen Freunde das drohende Verderben. Merkt ans eine einfache Rechnung:
Seit Monaten haben wir keine Bilance über Staatseinnahmen und Ausgaben
erhalte», und wir täuschen uns nicht über den Grund des Schweigens. Da¬
mals aber, als man noch den Muth hatte, ehrlich mit der Sprache herauszugehn,
betrug das monatliche Minus der Einnahmen gegenüber den Ausgaben schon
im Anschlage über l0 Millionen Gulden, das war vor der russischen Hilfe, vor
den enormen Rüstungen und Kosten des zweiten ungarischen Krieges. Woher das Geld
nehmen? — Die Bank kann weder von ihrem baaren Vorrat!), noch von ihrem
Credit noch etwas abgeben, sie ist ausgesogen und dreifach bankerott, wenn über¬
haupt noch von einem Bankerott die Rede sein kann, wo dem Gläubiger durch
ein Gesetz das Recht genommen ist, gegen den zahlungsunfähigen Schuldner zu
klagen. Der Staat hat außer den Banknoten bereits Papiergeld gemacht, mit
Interessen, ohne Interessen, ja er zwingt mit Gewalt dasselbe zu nehmen, er
macht es jetzt in die Luft, ohne Maaß, ohne Ende, für seine treuen Völker,
welche durch Banknoten bereits ^ ihrer arbeitenden Capitalien, durch die neue
Scheidemünze sicher eben so viel, durch die Verwendung ihrer Menschen und Ar¬
beitskraft im unproductiven Kriege mehr als die Hälfte ihrer Productionsfähigkeit
verloren haben. Oestreich ist in einem Jahr ausgesogen und vollständig ruinirt^
worden, das soll man erkennen und sich nicht selbst durch Phrasen täuschen. Und
trotz dem, trotz ihren Anweisungen auf die Entschädigungsgelder, welche Ungarn
nach dem Kriege zahlen soll, kann die Negierung nicht bis über den Herbst beste¬
hen, ohne Geld zu schaffen. Woher das nehmen? Der Plan einer freiwilligen
Anleihe im Kaiserstaat ist eine Lächerlichkeit, welche hier nur als Kuriosität erwähnt
werden soll, ohne Zwang kommt nicht eine Million aus dem Volk zusammen,
und vom Ausland geht nicht ein Pfennig „freiwillig" in die Regierungsrassen,
Als Preußen, dessen Finanzen in dem gesündesten Zustand sind, welcher in einem
modernen Staat gedacht werden kann, im vorigen Jahr 15 Millionen gegen 5 pCt.
durch freiwilliges Anleihen auftreiben wollte, hat es ein halbes Jahr gebraucht,
um nur die Hälfte zusammen zu bekommen, erst als die Zwangsanleihe ausgespro¬
chen war, floß das Capital zögernd zusammen, und die preußischen Staats¬
schuldscheine zu 5 pCt. stehen auf den deutschen Börsen um 30 pCt.
höher, als die östreichischen Metalliqnes zu 5 pCt.
Unter den gegenwärtigen Umständen kann die östreichische Regierung weder
auf eine freiwillige Anleihe rechnen, noch auf eine Zwangsanleihe. Eine Zwaugs-
aulcihe wird erhoben von den Wohlhabenden, etwa von 500 Gulden jährlichen
Einkommens aufwärts, die Einnahmen der Einzelnen werden durch Bezirkscommis-
sionen geschätzt, oder die Selbstschätzungen der Einzelnen durch diese Commissionen
controllirt; das Erstere ist eine Riesenarbeit, welche sehr langwierig und das Ge¬
hässigste von Allem ist, was eine Negierung unternehmen kann. Ob die Regierung
z. B. in Böhmen oder gar in der Lombardei das wagen wird? Jedenfalls würde
sie gut thun, nicht ohne Bajonnette eine solche Einschätzung vorzunehmen. Eine
Selbstschätzung der Einzelnen aber setzt ein reges und gesundes Communalleben
voraus, und setzt voraus, daß der Einzelne gewöhnt ist, sich als kleiner Theil des
Staates auch in seinen Pflichten zu fühlen. Davon ist im Kaiserstaat wenig vorhanden.
— Doch das sind nur Schwierigkeiten. Aber wie viel meint man durch solche Zwangs¬
anleihe zu erpressen? Der Handwerker, der Fabrikant, sie fristen kaum ihr Leben,
der große reiche Adel des Grundbesitzes hat im letzten Jahr durch die plötzliche
Aufhebung der Roboten und Zehnten in seinen Einnahmen einen so ungeheuern
Rückschlag erlitten, und ist durch die nothwendig gewordene neue Einrichtung seiner
Wirthschaften in diesem Jahr selbst in so großer Geldverlegenheit, daß entweder
ein völliges Stocken seiner Einnahmen stattgefunden hat, oder jeder Gulden ihm
zur Rettung seines zukünftigen Wohlstandes grade jetzt unentbehrlich geworden ist.
Man verlaßt sich in Oestreich so gern ans die große productive Kraft des Landes,
und verwechselt diese sehr häufig mit Reichthum. Das wird sich jetzt als ein
verhängnißvoller Irrthum ausweisen. Wohl hat Oestreich die Fähigkeit enorme
Summen zu erwerben, sie liegt in seinem fruchtbaren Boden und der aufblühenden
Cultur desselben; in diesem Jahr aber, und darum handelt es sich, ist die
Produktion des Bodens durch das plötzliche Umwerfen der ganzen Agricultnrver-
hältnisse und Entziehung der arbeitenden Hände durch den Krieg grade auf den
großen Gütern, ans die es doch wieder bei einer Zwangsanleihe ankommt, vollständig
gelähmt, und die Verwerthung der gewonnenen Produkte eine schlechte geworden,
folglich sind auch die Einnahmen in erschreckendem Grade verringert. Und in diesem
Jahr wird sich deshalb Oestreich als ein armes Land erweisen. — Und ferner
kann das Ministerium Schwarzenberg es wagen, in die Geldkassen seiner einzigen
Freunde, der Tory's des Geldes und Grundbesitzes, zu greife»? — Und endlich,
was kann der Regierung für Geld gezahlt werden? — Nur Bankzettel und Assig¬
naten, es ist ja kein anderes Geld vorhanden. Durch die Anleihe selbst aber
muß dies Papiergeld nothwendig mehr und zwar sehr beträchtlich entwerthet wer¬
den, denn das Peinliche und Ungewöhnliche dieser Maßregel wird den letzten'
Schein von Vertrauen, den die Regierung etwa noch besitzt, zerstören, das kläg¬
liche Misere der Vermögensverhältnisse des Staats wird offen zu Tage kommen,
und die Regierung wird, wie jener arme Köhler, den ein Geist vexirte, unter
ihren Händen den Geldwert!) in Papierfetzen verwandelt seh». — Das fürchtet
sie, das sieht sie besser ein, als ihre Völker. Nun endlich, so bleibt eine Anleihe
an fremdem Geldmarkt? Ja wohl, das Ministerium sendet jetzt in seiner Angst
nach England, nach Belgien, überall hin, wo reiche Leute wohnen. — Vor Been¬
digung des ungarischen Kriegs aber, vor gänzlicher Pacificatio» des Landes und
der Wiederkehr eines geordneten Zustandes bekommt die Negierung kein Geld,
auf keinem Geldmarkt, nnter keinen Bedingungen, außer unter solchen, die
einem Selbstmord ähnlich sehn. Sie ist vollständig crcditlos. Das ist
eine ernste und peinliche Wahrheit, die östreichische Nation soll sich nicht darüber
täuschen. Kein Geld den Krieg zu führen, keinen Kredit, ja gar keine Möglichkeit,
eine genügende Summe zu erhalten; das ist die Katastrophe, in welche der Kai¬
serstaat getreten ist.
Bald wird das aus Symptomen erkennbar sein. Je mehr sich das Papier
entwerthet, desto größer wird das Mißverhältnis) werden zwischen dem papiernen
Lohn des Tage- und Wochenarbeiters, und zwischen den Preisen der Lebensmittel,
Brot und Fleisch. Denn die Preise dieser Urproducte, obgleich auch gedrückt,
sinken nie in demselben Maße, wie der Werth der übrigen Thätigkeiten. Schon
dadurch entsteht eine relative Theuerung mit all ihren Folgen. Der Producent,
der Kaufmann können diese Stockungen des Consnms ihrer Waaren und deren
Entwerthung nicht mehr lange ertragen, der Kleinhändler in Oestreich ist auf
dem besten Wege zu Grunde zu gehn. Dadurch aber wird das Volk aussätzig, wider¬
spenstig. Es kommt zu Excessen, zu Zusammenrottungen, „die ganz unpolitischer
Natur sind," Bäckerladen werden gestürmt, Juden gehöhnt, bis die Aufregung
der Massen sich endlich an irgend ein Stichwort klammert, gegen eine einzelne
Negicrungsmaßregel erhebt, und eine sociale Empörung ist fertig, deren Dämpfung
durch Truppen so lange möglich ist, als diese bezahlt werden können, aber noth¬
wendig eine fortdauernde Reihe von Belagerungszuständen, Ausnahmegesetzen n. s. w.
herbeiführt. Unterdeß wird das Volk völlig demoralistrt, ein bitterer Haß gegen
die Gewalt frißt sich in ihm ein, und zuletzt kommt plötzlich, aus kleiner Veran¬
lassung eine Explosion, welche den Kaiserthron in Stücken wirft, und den Staat
der Tyrannei und Bestialität freigewordener Slaven Preis gibt. — Ist diese
Schilderung übertriebe»? — Ich versichere Euch, auf dem Wege, welchen die
östreichische Regierung jetzt geht, wird das Furchtbare sich in wenigen Jahren vollen¬
den. Schon steht Oestreich am Anfange des Endes.
Wie schmerzlich auch die Empfindungen sind, welche diese Reflexion begleiten,
sie erlangt dadurch noch nicht das Recht, beachtet zu werden. Ein Unglück pro-
phezeihn, gegen welches menschliche Kraft gar nichts vermag, ist im besten Fall
eine Grausamkeit, oft ein Unrecht. — Wohl aber gibt es für Oestreich eine Ret¬
tung, eine vollständige, schnelle, aber es ist fast die letzte Stunde gekommen, in
welcher davon die Rede sein darf.
Es ist jetzt ein Jahr her, da enthielt dies Blatt ein Sendschreiben *) an den
damaligen Staatsminister Pillersdorf, in welchem die Zukunft Oestreichs besprochen
wurde. Der Brief enthielt einen Theil der Grundsätze, nach welchen ein neuer
östreichischer Bundesstaate zu organisiren sei. Jener Brief ist das Programm der
Grenzboten bis heut geblieben, noch heut steht die Redaktion fest auf den Ueber¬
zeugungen, welche damals für spezifisch östreichisch und reaktionär gehalten wurden,
noch ist Oestreich seiner Bestimmung, den Bundesstaat der einzigen Form seiner
Existenz, welche Dauer haben kann, nicht naher gerückt. — Und doch hat sich so Vieles
geändert. Jetzt lebt Pillersdorf als Privatmann, nicht in der Sonne ministerieller
Gunst, und das grüne Blatt wird in Wien verboten, weil es noch jetzt für sein Ideal
eines östreichischen Staates kämpft, nicht mehr gegen die revolutionären Demokraten
von 48, sondern gegen eine revolutionäre Regierung, welche in kurzsichtiger Thor¬
heit die Völker allen Schrecken einer tödtlichen Krisis überliefert!
Jetzt, wo die Reaktion herrscht und die Bureaukratie stolzer als je ihr Haupt
erhebt, Oestreich einen wahren Polizeistaat bildet und die Preßfreiheit zu einem Phan¬
tom geworden, flüchten sich die Wohlmeinenden, um der allmächtigen Bureaukratie durch
die Presse entgegen zu treten, wieder hinaus, deun Verfolgung droht jedem, der dem
System des Schlendrians zu widersprechen wagt, dem liebenswürdigen System, wo der
Obere infalibel, der Einzelne gegenüber den Behörden Nichts ist, wo felle Blätter von
Amtswegen Alles loben, was von Oben ausgeht und einen Ton anstimmen, den man
vor einem Jahre gänzlich vergessen glaubte. — Man nimmt bei uns nichts auf, was
im mindeste» einem Tadel des Bestehenden ähnlich sieht.
Ist einmal unseren Behörden ein Verdacht erwachse», so wird keine Untersuchung
über den Grund oder Ungrund der Beschuldigung gepflogen, sondern Person oder
Gemeinde mit Bitterkeit verfolgt.
In einem Landstädtchen Steiermarks tobt ein Betrunkener im Wirthshause und
schimpft wegen eines Verlornen Prozesses über das Gericht und wie natürlich, über die
Beamten. Dies horte ein Beamter, berichtete darüber höhern Orts, und alle Bewoh¬
ner des Städtchens galten jetzt als radikal, als schlechtgesinnt und aussätzig. Die Ver¬
folgung dehnte sich auf Viele aus, besonders auf den Gerichtsvorstand, welchen man
entfernte und einen Gesinnungs-Verbesserungs-Commissär dafür hinstellte. Die verwor¬
fensten Subjekte, wenn sie nur die Rolle von servilen und Konservativen gut zu
spielen verstehen, kommen zu offizieller Achtung und zu Ansehen, und die ruhig Den¬
kenden sehen mit Schaudern und Angst einer Zukunft entgegen, die uns eine Menge
Neuerungen und Verbesserungen verspricht, aber beim gegenwärtigen Geiste der Regie¬
rung — wenigstens ihrer Machthaber wenig Gutes erwarten läßt. Vor Allem bezieht
sich unsere Furcht aus die längst ersehnte politische und Gerichtsorganisation des Landes.
Zur Besetzung aller Stellen werden, wie zur Entschädigung der Herrschaftsinhaber,
Commissinen zusammengestellt — Gott erleuchte sie! — Viel ist bei den politischen
Behörden den Vorstehern und vielleicht zu viel dem Statthalter anheimgestellt. Steier-
wark wird in drei Theile getheilt, und das ist zweckmäßig. Obersteier umsaßt das
natürlich begrenzte Hochland — Uutersteier die übrige deutsche Steiermark — der süd¬
lichste Theil wird die windische Mark bilden. Noch lange wird es aber dauern, bevor
slavische Literatur und Sprache sich derart cvnsolidirt, daß von einer juridischen Bil¬
dung der windischen Sprache die Rede sein kann. Sonderbar genug frägt der windi¬
sche Bauer bei Uebergabe der Verordnungen, welche oft mühsam ins Slavische über¬
setzt sind, ob wohl die deutsche Uebersetzung ächt sei? Im bejahenden Fall hat er kein
Bedenken, die Verfügung anzuhören und anzuerkennen.
Das Volk selbst sieht allen diesen Ereignissen ziemlich theilnahmlos zu; eigent¬
liches Proletariat in Masse haben wir noch nicht, der Landmann und der Handwerker
gehen ihrem Geschäft nach und die politischen Kannegießer beschränken sich auf einige
Schänken in der Stadt. Bisher hat durch Alles nur der eigentliche Bauer gewonnen,
dennoch ist er nicht so zufrieden, wie man glauben sollte und die neue Rekrutirung
dürfte bei dem wirklichen Mangel an tauglichen Arbeitern und bei der allgemein als
unzweckmäßig beklagten Kriegführung in Ungarn Anstand haben und viel böses Blut
machen. Jedermann wünscht zwar die baldige und sür Oestreich rühmliche Beendigung
der ungarischen und italienischen Wirren, allein die mörderische Aufopferung, das Preis-
geben so vieler Braven und die Leiden, wovon die w.eiligen Nückkehrenden zu erzählen
wissen, nähren Unzufriedenheit und erregen Bestürzung.
Graf Vikcnl'urg — gesegneten Andenkens! — hat nun als Privatmann in Gratz
ein Quartier gemiethet, von seiner persönlichen Hieherkunft verlautet aber noch nichts;
joder Nachfolger wird im Vergleich zu ihm einen schweren Stand haben, denn die amt¬
liche, bürgerliche und persönliche Achtung zu vereinigen, gelingt, wie ihm, nicht so leicht
Einem hochgestellten Beamten. Wer noch Hieher kommt, ist ungewiß; wir wünschen bei
dem gegenwärtigen besonders schwierigen Stand der Dinge sehr dringend eine glückliche
Wahl und ein schnelles Ende des provisorischen Zustandes, unter dem wir leiden.
Als man vor wenig Jahren hier in Oestreich und uoch mehr in Steiermark jedes
Wort und jedes Lob, das diesen kaiserlichen Prinzen betraf, ans die Wage legen
mußte und unsere Redaktionen sich scheuten, Etwas über ihn aufzunehmen — da dachte
man nicht, daß derselbe einst das Haupt und die Hoffnung Deutschlands werden
würde! -— Es wird nicht uninteressant sein, zusammen zu stellen, was über sein Le¬
ben nud seine Thätigkeit vor seiner verhängnißvollen Stellung geschrieben wurde. Ein
Artikel über seine Persönlichkeit erschien 184!) in der „Europa" und ein anderer, welcher
sein literarisches Wirken besprach, 1846 in den Blättern für Literatur und Kunst von
Schmidt. Besondern Werth hat C. C. Schimmer's „Leben und Wirken des
Erzherzogs Johann," im Verlag von C. G. Kunze in Mainz, besonders des¬
halb,, weil der Erzherzog selbst dazu Material lieferte, deshalb gibt das Buch Auf¬
schlüsse über vieles bisher Unbekannte. Es verbreitet sich über das ganze bisherige
Wirke» des Erzherzogs von seinem ersten öffentlichen Auftreten bis auf unsere Zeit,
und schildert den Herrn als wissenschaftlich und vielseitig gebildeten Menschen, als
Taktiker und Soldaten, als Landwirth nud Techniker, und als Freund und Familien¬
vater, es erzählt seine Reisen und Feldzüge, seine Stiftungen, seine Verbindungen mit
Hormayer und Prof. Müller und endlich seine Beziehungen zu Deutschland.
Vor mehrern Jahren erschien in Gratz bei Lcytom: ein illustrirtes Por¬
trät, seitdem schon in zweiter Auflage, welches sich aus sein väterliches Wirken in
Steiermark bezieht; das Gelungenste bleibt aber immer die Copie des Krieseberg : i»
dem Festgeschenk an die Land- und Forstwirthe zur zwanzigsten Versamm¬
lung in Gratz.
Biographien lieferte noch Fried. Althaus: „das Buch vom d e u thes en Reichs«
Verweser" — Leipzig, bei Otto Spanier, eine kurze aber übersichtliche Skizze mit
Illustrationen und gefälligem Aeußern, dann Dr. Schncidcwind: „das Leben des Erz¬
herzogs Johann, mit besonderer Berücksichtigung der Feldzüge 1800, 1805, 1809
und 1815," Schaffhausen, bei Hurter, wovon die Beschreibung der Feldzüge den
größten Theil einnimmt.
Ein gediegene ausführliche Lebensbeschreibung besonders in Bezug auf sein se¬
gensreiches Wirken für Literatur und Kunst, Landbau und Gewerbe in Jnner-
Das ehemalige Churfürstenthum Baiern besaß noch im vorigen Jahrhundert
neben andern erheblichen Vorzügen auch den, daß es sich von aller Ansteckung
lutherischer und anderer Ketzerei stets frei gehalten hatte. Ein Jahrtausend hin¬
durch war daselbst die katholische Messe die einzige Form der Gottesverehrung,
die nicht mit Staupbesen und Landesverweisung bestraft wurde. Zu derselben
Zeit, wo Jedermann im ganzen heiligen römischen Reiche nach seiner Fa?on selig
werden und Steuern bezahlen durste, wo die ersten geistlichen Fürsten der Chri¬
stenheit, die Träger der Churhüte vou Köln und Mainz, nicht blos ketzerische Pro¬
fessoren an ihre Universitäten, sondern auch ketzerische Räthe in ihre Geheime
Rathscollegien beriefen, wurde in den Städten und Märkten Baierns nicht einmal
ein lutherischer Schneider oder Schuster als Schutzbürger zugelassen.
Zwar sah sich auch Baiern zu der Aufhebung der Jesuiten 1773 genöthigt,
und gleichzeitig erregte» die illumiuatistischen Professoren in Ingolstadt einen nicht
geringen Lärmen. Aber neben den Jesuiten gab es ja auch uoch Kapuziner und
Franziskaner und Dutzende von andern Orden, und sie selbst kamen uuter anderer
Tracht schon wenige Jahre darauf wieder zum Vorschein, um ihr altes Werk wie¬
der aufzunehmen. Der Jlluminatismns aber war nichts als ein Rausch, den sich
einige feurige Köpfe noch dazu in einem Stosse getrunken hatten, der auf die
groben altbairischen Nerven gar keine Wirkung ausübte.
Erst die französische Revolution warf diese altbairische Pfaffenherrlichkeit über
den Haufen. — Zunächst brachte er eine neue Dynastie, die Zweibrückner Linie
der pfälzischen Wittelsbacher auf den orthodoxen Thron. Herzog Max war zwar
dem Namen nach auch Katholik,' aber er brachte von seiner Heimat hart an der
Grenze des antichristlichen Frankreichs allerlei Traditionen mit nach München her¬
über, die sich nicht gut mit der altbairischen Frömmigkeit vertrugen. Sein eige¬
nes Haus war erst seit Menschengedenken katholisch geworden, wie es offen auf
der Hand lag, nur der lockende» altbairischen Erbschaft wegen, und bewahrte uoch
immer einen gewissen protestantische» Familienzng. Ihn selbst hatte der Einfluß
eines burschikos-liberalen Naturells und einer damit vortrefflich harmonirenden
Erziehung dem Katholizismus bis auf eine laxe Theilnahme an den äußern Cul-
tnsformen längst entfremdet. Er führte seine protestantische Gemahlin, seine zum
großen Theil protestantische Umgebung ohne Bedenken nach München, und Dank
sei es dem von der Kirche selbst gepflegten Unterthanengehorsam, es ging diese
unerhörte Neuerung ohne alle sichtbare Volksaufregung von Statten.
Baiern mußte in diesen Jahren den Kriegsschauplatz für Franzosen und
Oestreicher hergeben, und man war dadurch zuviel mit der Sorge, das nackte irdische
Leben zu fristen beschäftigt, als daß man Zeit gehabt, an den Schaden zu deu¬
ten, der durch eine solche Einschmuggelet des Ketzerthums dem Seelenheile be¬
reitet werden könnte.
Die Welt- und Klostergeistlichkeit, die pflichtgemäß zuerst den Allarmruf er¬
heben sollte, war damals den Vexationen des republikanischen Heeres am meisten
ausgesetzt; sie verlor alles, was sie an irdischen Besitzthümern hatte, bis auf die
leeren Kloster- und Kirchenmauern und ihre tief verschuldeten liegenden Güter.
Ihre meisten Angehörige» versteckten sich in entfernte Winkel des Landes, und
ehe noch Jemand an eine Säkularisation dachte, hatte der bairische Clerus, mit
Ausnahme des niedersten, factisch zu sein aufgehört. Von der kecken Allmachts¬
miene besserer Zeit war ihm kein Zug übrig geblieben; der Schlag kam zu plötz¬
lich, zu ungeheuer, und selbst die Erscheinung des Antichrists hätte ihn nicht so
total niederschmettern können, als diese republikanische» Heuschreckenschwärme. Jetzt
brauchte man in der kurfürstlichen Kanzlei zu München nicht mehr wie in den
alten Zeiten sorgfältigst zu erwägen, ob sich die Patres zu Ingolstadt und Strau-
bing nicht durch dieses oder jenes Decret verletzt sühlen möchten, die versprengten,
abgesetzten Mönche dankten Gott, wen» mau ihnen nur nicht auch noch das Leben
abdekretirte.
Daher erregte es bei Geistlichkeit und Volk nichts weiter als dumpfes Stau¬
nen, als sich die Regierung in den Jahren 1801 — Z die herrenlos gewordenen
geistlichen Güter kraft ihrer Souveränität zueignete, und ihre früheren Besitzer
mit ärmlichen Pensionen abfand, die sie buchstäblich nicht vor dem Hunger schützten.
Hatte man sich das gefallen lassen, so war es natürlich, daß man auch die
gesetzliche Einbürgerung jener Protestanten, die mit der neuen Negierung in das
Land gekommen waren, ruhig über sich ergehen ließ. Uebrigens waren es durch¬
aus keine puritanischen Eiferer, wie sich leicht denken läßt; ächte Kinder des 18.
Jahrhunderts, waren sie zufrieden, wenn sie nur selbst uicht in die Messe zu gehen
nöthig hatten, und kümmerten sich nicht darum, wenn es andere thaten.
Der Frieden von Luneville und der Neichsdeputationshauptschluß von 1803
brachte dieser kleinen Schaar bairischer Protestanten bedeutenden Zuwachs. Er
führte eine Anzahl von protestantischen Reichsstädten und kleineren Herrschaften
unter den kurfürstlichen Scepter, die dann in den folgenden Jahren durch noch
größere Erwerbungen, wie die von Ansbach und Baireuth vermehrt wurden. —
Die neuen Unterthanen erhielten die bündigsten und ganz ehrlich gemeinten
Versicherungen der ungestörten Glaubens- und Gewissensfreiheit und bürgerlichen
Gleichberechtigung, und sie befanden sich zum Theil unter der katholischen Regie¬
rung in kirchlicher Hinsicht besser, als unter der Zuchtruthe ihrer Spezialconststo-
rien. Die Oberbehörde in München, der protestantische Kirchen- und Schulrath
kümmerte sich um ihre innern Angelegenheiten nicht viel; nur die äußeren Ver¬
waltungsgegenstände, die Besetzung der Pfarr- und Schulstellen, das Kirchen-
Vermögen :c. wurde von ihm in die Hand genommen. Man war zu sehr an eine
Bevormundung vou oben her gewöhnt, als daß man daran hätte Anstoß neh¬
men sollen.
Alle die zugefügten protestantischen Gebiete waren besser gelegen, bebaut, be¬
völkert und brachten folglich mehr ein als Altbaiern. Ist es daher zu verwun¬
dern, daß man in München bald eine Art von Vorliebe für sie faßte? Auch zeigte
sich bald, daß die dort gebornen und gebildeten Staatsdiener in Folge der grö¬
ßeren Cultur ihrer Heimat brauchbarer und geschäftsgewandter waren, als die
Altbaiern. Natürlicherweise kamen sie in Kurzem überall oben auf: in den Mini¬
sterien, Obergerichten und Verwaltungsbehörden, im Militär und sogar an der
früher so streng katholischen Universität Ingolstadt-Landshut. In München selbst
gewann die eigentliche gute Gesellschaft von Jahr zu Jahr eine mehr Protestantin
sche Färbung.
Seit 1806 und 7 siedelte sich dort eine bedeutende Anzahl literarischer Nota¬
bilitäten ans dem Norden an, wie Jacobs, Niethammer, Schlichtegroll,
F. H. Jacobi ze. und griffen nach allen Richtungen in das geistige Leben der
Hauptstadt mächtig und nachhaltig ein, mochten sie nun zu einer mehr freien
Stellung als Mitglieder der nenerstzndenen Akademie der Wissenschaft oder zu
einer eigentlichen Beamtenthätigkeit in den Oberschnlbehörden und sonst berufen
sein. Sie gehörten ohne Ausnahme der guten Gesellschaft an, und es ist wohl nicht
zu viel gesagt: sie waren die eigentlichen Gründer einer solchen in München. Die
ältern höhern Cirkel winden jetzt mit einem Bildungselemente befruchtet, von dem
bis dahin wenig zu bemerken gewesen war, und sein Einfluß erstreckte sich bis in
die höchsten Regionen hinauf. Nur der unterdessen zum König avancirte Kurfürst
Max wurde innerlich uicht davou berührt. Er duldete die fremden Gelehrten um
sich, weil es sein Montgelas und seine Gemahlin, die wenigstens äußerlich fein¬
gebildete Königin Caroline so verlangten, sonst aber blieben sein Gesichtskreis,
seine Ideale und anch seine Manieren die eines pensionirten Dragonerrittmeisters.—
Diese Protestaulisiruug der früheren katholischen Glaubenscidatelle ging freilich
nicht ohne einige Zuckungen vor sich. Die norddeutsche Schöngeisterei und die
altbairische Derbheit waren zu heterogene Elemente, und außerdem war unterdessen
aus deu Trümmern des alten Katholizismus eine Partei emporgewachsen, die zwar
zunächst noch nicht an eine Restauration der untergegangenen Herrlichkeit dachte,
aber doch alleu weiteren Uebergriffen der Ketzerei zu wehren suchte. In Verbin-
billig mit der Münchner spießbürgerlichen Antipathie gegen die Fremden überhaupt
und der nationellen gegen das norddeutsche Wesen, bereitete sie den genannten Ko¬
ryphäen der modernen Bildung und ihrem Troß von illis nniwrum Fvntium manche
bitterböse Stunde. Damals wurde die verhängnißvolle Liga zwischen dem stock-
bauischen Particularismus und dem Pfaffeuthum zuerst mit vollem Bewußtsein
abgeschlossen, die auf ganz naive Weise Jahrhunderte laug bis zur französischen
Revolution bestanden hatte. Als der Dritte in jenem saubern Bunde, der bis
heute besteht und wohl noch auf langes Leben rechnet, reichte schon damals der
altbairische hohe Adel den beiden andern, wiewohl noch mit einiger Schüchtern¬
heit, die Bruderhand. Montgelas' bnreaukratischer Absolutismus und die von
ihm bevorzugten Protestanten und Fremden hießen die allen dreien gemeinsamen
Feinde. Die starke Hand des allmächtigen Ministers zwang die Verbündeten bald
wieder sich in die Dunkelheit zurückzuziehen. Sie hatten nichts weiter erreicht,
als daß sie manchem von der protestantischen Kolonie das Leben sauer gemacht
und einige schüchterne Seelen, wie Jacobs, aus München vertrieben hatten.
Außerdem schien sich die Stellung der Zurückgebliebenen, die bald durch neue
Ansiedler ihre Reihen ergänzten, durch jene brutalen und heimtückischen Verfol¬
gungen wo möglich noch verbessert zu haben.
Die öffentliche Meinung des Landes, so weit man damals von einer solchen
reden konnte, verhielt sich bei jenen Verfolgungen der Münchner Protestanten ent¬
weder ganz gleichgiltig, oder entschieden mißbilligend. Das Ideal der Aufklä-
rungsperiode, die unbeschränkteste gegenseitige Toleranz, schien in dem noch vor
wenigen Jahrzehnten wegen seines Fanatismus berüchtigten Baiern, wenigstens
zwischen Katholiken und Protestanten, bereits realistrt. In geselligen und Fami¬
lienbeziehungen vermochte kein Confessionsuntcrschied eine Störung hervorzubrin¬
gen; fast in allen größeren katholischen Orten lebten protestantische Beamte in
bester Harmonie mit ihren andersgläubigen Kollegen und der Bevölkerung, und
eben so umgekehrt; von Proselhtenmacherei war nirgends eine Spur zu entdecken.
Vor allem befleißigte sich die beiderseitige Geistlichkeit der freundschaftlichsten Kol¬
legialität und einer humanen Zuvorkommenheit, die beinahe über die kühnsten
Träume eines Nicolai hinüberging. Kurz, wer in jenen Jahren die bairiscken
kirchlichen Zustände beobachtete, konnte mit Fug und Recht nicht blos dies frühere
altbairische Pfasfenthnm, sondern den ganzen exclusiver und specifischen Katholi¬
zismus für immer beseitigt glauben. An eine mögliche Wiederbelebung der Leiche
der protestantischen Orthodoxie war vollends nicht zu denken.
Indessen war doch noch, oder vielmehr wieder eine strengkatholische
Partei vorhanden. Zwar hatte sie sich nach jenen verunglückten Münchner
Barthvlomäusnachtscencn in ihre Höhlen verkriechen müssen, aber dorthin konnte
ihr das Auge des Ministers nicht folgen und ihre weiteren vorbereitenden Opera¬
tionen überwachen. Nach seiner ganzen Art hielt er die Sache, nachdem sie äugen-
blicklich beseitigt war, auch für immer abgethan, und bei seiner grenzenlosen Ver¬
achtung gegen das bornirte Pfaffenthum traute er diesen Leuten höchstens brutalen
Fanatismus, keineswegs aber jene diplomatische Schlauheit zu, welche anch noch
die rohesten heutigen Vertreter des mittelalterlichen Kircheuthums zu immerhin be-
achtenswerthen Gegnern stempelt. Die Partei haßte nun auch ihrerseits Nieman¬
dem mit so tödtlicher Wuth als Montgelas. Allerdings gibt es wohl nur wenige
Minister in jver ganzen Weltgeschichte, die ihr so viel zu Leide gethan hatten.
D«ß er für seine Person an nichts glaubte und unter Umständen als Grvßvezier
regierte, hätte sie ihm so gut wie seinem Erbfeinde Metternich verziehen, daß er
im Wirrwarr der Kriegszeiten unbarmherzig säcnlarisirte, zu deutsch das Kirchen¬
gut vollständig plünderte, konnte anch noch hingehn, aber dieser offene Hohn, den
er bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit gegen die früheren kirchlichen
Würdenträger und den Katholizismus im Ganzen zur Schau trug, dieser conse-
gnente büreaukratische Mechanismus, mit dem er das ganze Land bis in die ent¬
legensten Winkel der Alpe» und des Böhmerwaldes überspann, diese sichtliche Be¬
vorzugung der Protestanten und Bürgerlichen konnte ihm nie vergeben werden.
Es gelang der Partei mit vielem Geschick, sich schon damals dem Kronprinzen
Ludwig zu nähern. Der romantisch-confuse Grundzug seines Wesens fand sich
von der abstracten Nüchternheit des Montgelas'schen Staates höchst unangenehm
berührt, dazu war seine grenzenlose Eitelkeit und Herrschsucht von dem Minister
mehrmals tödtlich verletzt worden. Montgelas duldete einmal keine andern Götter
neben sich, und der Kronprinz galt ihm, der in seinem Herzen von der Legitimi¬
tätsromantik so frei, wie vor jeder andern war, anch nicht mehr als jeder andere
unbefugte Eindringling. Daher der unvertilgbare Haß, den Lndivig sein ganzes
Leben gegen den Staatsmann hegte, welchem sein Hans und er doch schließlich
Alles verdankten. Ohne einen Montgelas'schen bureaukratischen Despotismus im
Innern und seine geschickten Manövers »ach Außen wäre Baiern für immer zu
der Rolle eines armseligen deutschen Mittelstaateö verdammt gewesen, während es
seit 1805 doch unleugbar ein verhältnißmäßig nicht unbedeutendes Gewicht in die
Wagschaale der gi-.into nciliti,juv gelegt hat.
Der Kronprinz stand in einem ganz eigenthümlichen Verhältniß zu seinem
Vater. Max war ein guter Gatte und Vater, überhaupt ein Mann von weichem,
leicht zu rührendem Herzen. Er hatte seinen Ludwig im Grunde herzlich lieb, ob¬
gleich er über dessen wirkliche und vermeintliche Absonderlichkeiten oft genug den
Kopf schüttelte. Seine Neigung zur Kunst und Wissenschaft, sein intimer Verkehr
Mit jüngern und ältern Vertretern derselben, sein deutscher Patriotismus waren
dem guten Max unbegreifliche Dinge, aber er ließ ihn ruhig seinen Weg gehen,
und that ihm auch manches zu Willen, so weit es seine immer sehr leere Klasse
und MontgclaZ erlaubten. In die Staatsgeschäfte dürfte er sich freilich nicht
Mengen, dafür wußte der Minister zu sorgen.
Somit war die Gewinnung des Kronprinzen für die Partei wenigstens augen¬
blicklich ohne besondere Folgen, aber sie war klug genng, nicht blos für den
Augenblick zu arbeiten.
Die großen Ereignisse der Jahre 1813—l 5 änderten in dem Verhältnisse
der bairischen Kirchen nichts Wesentliches. Es kamen durch den Wiener Kongreß
einige neue großentheils protestantische Landestheile, Stücke der ehemaligen Pfalz
am Rhein hinzu, dagegen auch eben so viel katholische, wie das Großherzogthum
Würzburg, und das numerische Verhältniß zwischen den beiden Confesstonen war
somit »och das nämliche, wie auch ihre Stellung zum Staate und unter sich die
alte blieb. Erst der Sturz des allmächtigen Ministers, der 1817 durch den Ein¬
fluß Oestreichs erfolgte, verschaffte dem Katholizismus oder jener Partei freiere
Hand. Wenige Monate darnach errang sie ihren ersten entscheidenden Sieg in
dem berühmten Concordat mit dem römischen Stuhl. Ursprünglich svllre damit
nur der äußere Verwaltungsmechanismus der bairischen katholischen Kirche noth-
dürftig wieder hergestellt werden, so dachte wenigstens Montgelas, der im letzten
Jahre seines Regiments die Unterhandlungen mit Rom wie eine Art nothwendiges
Uebel hatte beginnen lassen. Sein System forderte, daß der Begriff Staat auch
in dieser Hinsicht seine Selbstständigkeit bewahrte, und diese war gefährdet, wenn
etwa fremde Erzbischöfe und Bischöfe bairische Katholiken ihren Sprengeln zuge¬
theilt erhielten. Für die nächsten Jahre ließ sich eine äußerliche Neuordnung der
deutschen Kirche voraussehen, uno der Minister hielt es demnach für gerathen, die
Integrität und Abgeschlossenheit des bairischen Staates gleich im Voraus zu wah¬
ren. In dieser Absicht wurden die Verhandlungen mit Rom begonnen; von wirk¬
lichen Concessionen an den heiligen Stuhl oder an die inländischen Ultramontanen
war bei ihm keine Rede. Diese wurden durch ein sehr schlaues, geschicktes und
energisches Zusammenwirken der letzteren mit Rom und Metternich dem rathlosen
König nach Montgelas Sturz förmlich abgepreßt.
Das Concordat beschenkte Baiern mit zwei Erzbischöfen und sechs Bischöfen,
eine ganz unverhältuißmMge Ueberzahl, besonders wenn man bedenkt, daß die
Gebietstheile, die das Baiern von 18l7 bildeten, selbst in den Zeiten des Reichs
nur mit sieben einfachen Bischofsmützen -- Freising, Augsburg, Regensburg,
Passan, Eichstädt, Bamberg, Würzburg, Speyer — gesegnet waren. So hatte
mau sich denn eine anspruchsvolle Hierarchie künstlich geschaffen, welche der Staat
sammt ihren Anhängseln von Domcapiteln, bischöflichen Seminarien ze. aus seinem
Beutel bezahlen durste.
Aber noch mehr. Das bisherige streng absolutistisch büreaukratische System
wurde dnrch die weiteren Bestimmungen des Vertrags in wesentlichen Punkten
paralysirt. Der Instanzenzug nach Rom, die Selbstständigkeit der Bischöfe in den
inneren Diöcesenangclegenheiten, die päpstlichen Reservatrechte und viele andere
Dinge, die jenem System stets ein Greuel von allem Greuel schienen, wurden
ausdrücklich wieder anerkannt, nachdem sie durch die Gunst der Zeitumstände von
selbst gefallen waren.
Und was sollte man vollends dazu sagen, daß sich der Staat Montgelas' an¬
heischig machte, „einige" Klöster wieder zu errichten?
Kaum wurde das Concordat in Baiern bekannt, so erhob sich von allen
Seiten ein wüthenden Sturm dagegen, und das sonderbarste war es, daß es Nie¬
mand so recht zu vertheidigen wagte. Auch wollte jetzt Niemand dabei thätig ge¬
wesen sein. Die Protestanten und die aufgeklärten Katholiken, welche damals die
Tagespresse des Landes in den Händen hatten, donnerten besonders gegen die
in Aussicht gestellten „nnnimll-l moimstori-i," sie sahen schon im Geiste das ganze
altbairische Pfaffenthum mit Sack und Pack in die verödeten Klostermauern wie¬
der einziehn.
Der Sturm legte sich etwas, als dem Concordate die Verfassungsurkunde
von 1818 fast auf dem Fuße folgte. Sie gewährleistete alle die bisher gesetzlich
oder factisch anerkannten Rechte der protestantischen Unterthanen, d. h. ihre voll¬
kommene Gleichstellung mit den Katholiken. Baiern hörte damit verfassungsmäßig
auf ein katholischer Staat zu sein, was es freilich thatsächlich schon seit 1803 nicht
Mehr gewesen war. Selbst die Dynastie war nach der Konstitution an keine be¬
stimmte Konfession gebunden.
Auf dem ersten Landtag kam zwar das Concordat zu lebhafter Verhandlung,
indessen gab die Regierung so bündige Versicherungen daüber, daß sich die Frei¬
sinnigen beider Confessionen — fast alle Mitglieder dieser ersten Ständeversamm¬
lung scheinen dazu gerechnet werden zu müssen — vorläufig beruhigten. — Die
beste Bürgschaft gegen etwaige Uebergriffe der Hierarchie oder der Ultramontanen
lag aber wohl darin, daß unterdessen Montgelas seinen alten Einfluß auf den
König fast ganz wiedergewonnen hatte. So lange dieser dauerte, konnten die Pro¬
testanten ruhig schlafen, was sie auch in jenen Jahren redlich gethan haben.
Außer der Errichtung und möglichst knappen Dotation der im Concordate
bedungenen bischöflichen Sprengel wurden alle anderen Punkte »6 actu gelegt.
Die katholische Kirche blieb uach wie vor eine Magd des Staates und machte
auch keine äußerlich sehr wahrnehmbaren Versuche, das Joch der Dienstbarkeit
abzuschütteln. Im Stillen wurde dagegen in der ersten Hälfte der zwanziger
Jahre vieles vorbereitet, was in der Geschichte der spätern Zeit fertig ein's
Licht trat.
Die eigentliche pfäffische Clique der bairischen katholischen Kirche verstärkte
ihren alten Bund mit dem altbairischen Particularismus und der katholischen
Aristokratie durch den Hinzutritt eines neuen Spießgesellen, des politischen und
religiösen Mysticismus. Ursprünglich war ihr dieser ganz fremd und unverständ¬
lich, und nur der Drang der Umstände hatte sie genöthigt, sich dem romantischen
Kronprinzen durch dieses Medium zu nähern.
Seitdem jedoch der typische Repräsentant der ganzen Richtung, Görres, nach
München seinen dämonischen Haß gegen alles einfache, klare und begreifliche in
Natur und Geschichte verpflanzt hatte, und damit manchem den Kopf zu verwirren
begann, wurde jene blos exceptionelle Liaison zu einer dauernden und für Baiern
höchst verhängnißvollen umgewandelt. Selbst in München übersah man die Ge¬
fahr der Allianz fast ein ganzes Jahrzehnt, und doch hat sie eigentlich erst der
Partei ihren allseitigen Einfluß gegeben. Auch darf nicht übersehen werden,
daß jene Görres'sche Mystik die Vermittelung zu einer damals nur embryonisch
vorhandenen Fraction des Protestantismus bildete, welche so gut wie die Ultra¬
montanen später zu großen Dingen bestimmt war. Görres und Schelling konn¬
ten damals uoch als Alliirte betrachtet werden. Sie sind es im Grunde auch immer
geblieben und nnr äußere Verhältnisse haben sie etwas auseinander gebracht. So
z. B. Schellings Natur doch zu aristokratisch polirt, als daß er einem Döllinger
und andere plebejische Mönchskutten sich hätte so nahe kommen lassen, wie es
später Görres that. — Unter Schellings Auspicien begann sich damals eine
bairisch-protestantische Philosophie zu entwickeln, die in den nächsten Jahren aller¬
dings noch nicht in's Leben eingriff, weil ihre Jünger als demüthige Kandidaten
des Predigt- oder Schulamts umhergingen, die jedoch bald in Verbindung mit
eiuer audern innerhalb des Protestantismus selbst aufgetauchten Richtung großen
Einfluß auf die innere Geschichte Baierns gewann.
Die protestantische Kirche Baierns, in der so gut wie in allen anderen deut¬
schen Landeskirchen der nlUoimIi«»»!« vulx-n-is und «nliliiui« während der ersten
zwanzig Jahre des laufenden Jahrhunderts ausschließlich dominirte, erfuhr in die¬
ser Zeit die ersten Spuren der Reaction eines tieferen geistigen Elements, das in
der deutschen wissenschaftlichen Theologie damals in zwei Hanpterschcinnngen, Schleier-
macher und Tholuck, aufgetreten und jener behaglichen Plattheit für immer den
Rang abgelaufen hatte. Nach dem ganzen Zuschnitt des geistigen Lebens in
Baiern konnte die erste dort keinen Eingang gewinnen, da man sich dort an der
wissenschaftlichen insbesondere philosophischen Arbeit der letzten Jahrzehnte viel
zu wenig betheiligt hatte. Die zweite lag um vieles näher, dazu befähigte
schon das bloße Verlangen nach consistenterer und nahrhafterer Speise, als sie
die damaligen rationalistische» Professoren der Universität Erlangen zu gewähren
vermochten. Es war aber nicht zu vermeiden, daß die sogenannte orthodoxe Spekulation
Tholuck's, als man sie nach Baiern verpflanzte, allmälig mehr und mehr ihre
Mystisch-poetische Verbrämung abnutzte und bald nur uoch von der haltbaren aber
groben Sackleinewand der altluthcrischen Orthodoxie des 17. Jahrhnnders beklei¬
det war. Jene rein individuelle Tholnckische Zuthat konnte höchstens sich auf
eben so raffinirte Geister verpflanzen; die vom gewöhnlichen Schlag hielten sich
an den Stoff selbst. In pliiloso^ilei« trösteten sie sich überdies damit, daß ihnen
jene Schellingische Philosophie der zwanziger Jahre, vor der sie zwar wenig Ver-
ständniß, aber desto mehr Respekt besaßen, gelegentlich die Nichtigkeit des Ratio¬
nalismus und die vollkommene Harmonie der symbolischen Bücher mit dem mo¬
dernsten Extract des speculativen Geistes in vornehmen Orakelsprüchen kund that.
Aus der andern Seite erfreut sich anch diese Philosophie wesentlicher Unter-
stüjzuugcu der Orthodoxen. Sie erklärten schon damals feierlich, daß jedes an¬
dere System, insbesondere das Hegel'sche, von dem damals hin und her ein
Windstoß aus den Norden ein loses Blatt nach Baiern führte, -für gemeinschädlich
ja gotteslästerlich gehalten werden müsse.
Noch aber waren die Zügel des Kirchenregiments in den Händen des Natio¬
nalismus, das Münchner Oberconsistorium — die Behörde, welche an die Stelle
des Kirchen- und Schulraths getreten war und eine Art von protestantischen Kul¬
tusministerium vorstellte — die einzelnen Proviuzialcousistoncu, die Universität
Erlangen, ja fast alle Pfarrstellen im Lande mit puren Nationalisten besetzt und
die Bevölkerung durchweg ebenso gesinnt und wie ihre geistlichen Hirten sehr mi߬
trauisch gegen die neuen Auserwählten des Herrn, sür welche mau zu der Zeit
den Namen Pietisten aufbrachte. Streng historisch betrachtet war er in diesem
Falle natürlich falsch angewandt, aber der gesunde Instinkt des Weltgeistes hatte
ganz gut nach ihm gegriffen, um deu exclusiver geistlichen Hochmuth dieser Apostel
der Orthodoxie in den rationalistischen Wüsteneien Baierns zu charakterisiren. —
Die Partei, fast ausschließlich ans jüngeren Leuten bestehend, befand sich also
dazumal recht übel zwischen zwei Feuern und mußte sich für mancherlei kränkende
Zurücksetzungen, die sie von oben, und verschiedenen bald humoristischen bald bru¬
talen Verfolgungen die sie von unten her erlitt, allein mit der Hoffnung auf einen
Wechsel im Regierungssystem trösten, der mit dem Tode des Königs Max sicherer
Erwartung nach eintreten würde, und auch ihnen wie anderen Malkontenten zu
Statten kommen sollte. Darin täuschte sie sich auch nicht. Denn kaum hatte der
alte König die Augen geschlossen, so wurde in Baiern auch alles anders, aber
nur weniges z.B. der Staatshaushalt besser und dieser für kurze Zeit. — Auf kirch¬
lichem Gebiete machte sich der Umschwung der Zeit zwar nicht so auffallend, aber
desto nachhaltiger geltend. — Man muß gestehen, daß die Partei, die in Kö¬
nig Ludwig einen offenkundiger Beschützer hatte, ihren Sieg mit anscheinend grö¬
ßerer Mäßigung aber desto größerem Erfolge zu benutzen verstand, als die Pie¬
tisten, die doch nur sehr entfernte Ansprüche auf eine Begünstigung von oben
aufweisen konnten, ihre Hoffnungen ausbeutete». — Die nächsten Jahre brachten
keine Klagen über Unduldsamkeit des strengern Katholicismus gegen den indiffe¬
renten oder gegen deu Protestantismus, geschweige denn über offenbare Eingriffe
in Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die Ultramontanen hielten sich in dieser^
Beziehung noch streng an dem Buchstaben der Gesetze und der Landesverfassung,.'
wie sie bisher factisch verstände» worden war. Hie und da ließen sie wohl einen'
Wink fallen, daß die rechtliche Basis des Katholicismus in Baiern, das Concor-
dat von 1817, ihm eigentlich bei weitem größere Concessionen mache, als er bis
jetzt irgend in Anspruch genommen oder sie nehmen werde, falls man ihm nur
diese oder jene billige Forderung nicht abschlage. Diese Forderungen, die in
ihrer ganzen Tragweite nur von der Partei selbst übersehen werden konnten, be¬
standen in der Begünstigung von Jüngern aus der Münchner Schule, bei der
Besetzung der höheren geistlichen Würden und der bischöflichen Seminarien. Die
präsentirten Kandidaten zeichneten sich, was durchaus anerkannt werden muß,
durchgängig durch größere wissenschaftliche Bildung und lebhaftes kirchliches In¬
teresse vortheilhaft aus, und selbst eine unparteiische Behörde würde ihnen den
Vorzug haben geben müssen. So verstand es sich von selbst, daß die ihnen ge¬
wogene Staatsregierung, d. h> ihr Freund, der König selbst, der anfänglich bis
in's kleinste Detail eine Selbstregierung ohne Beispiel führte, nach und uach alle
uur einigermaßen einflußreichen Posten in ihre Hände gerathen ließ. Dies ge¬
schah in den Jahren 1825—1830.
Das war die beste Vorbereitung für die weiteren Feldzugspläne. Der An¬
fang war so gut gemacht, wie man es eben von so geschickten Strategen nur
immer erwarten konnte.
Was ihm sonst noch der König liebes und gutes im Anfang seiner Negie¬
rung zukommen ließ, z. B. die Errichtung von etwa zehn bis zwölf Klöstern, der
Bau verschiedener prachtvoller Kirchen in München, die Restauration anderer, die
zu Halbruinen geworden waren, kostbare Monstranzen und Kirchenschmuck aller
Art wurde mit stolzer Freundlichkeit nicht als eine Gnade des hohen Gönners,
sondern als der Anfang zur Tilgung der großen Schuld des Staates an die Kirche
in Empfang genommen.
Die protestantischen Pietisten gebärdeten 'sich dagegen um vieles hoffärtiger.
Auf den wenigen Kanzeln, die sie bis dahin occupirt hatten, donnerten sie gegen
Unglauben und Jndifferentismus, und der letztere wurde bereits als eine viel
ärgere Pestilenz wie der erstere geschildert. Die Hand voll junger Leute war keck
genug, deu Kampf mit einigen tausend rationalistischen Kirchenhirten auszunehmen und
diese träge oder furchtsam genug, um sehr vereinzelt und sehr schwach Widerstand
zu leiste«. Einige Stoßseufzer über einreißende Unduldsamkeit waren die einzigen
Waffen, mit deuen sie jene immer häufigeren und maßloseren Angriffe pariren woll¬
ten. Im Stillen verließen sie sich aus die allerdings durchgängige Abneigung des
Volks gegen jene Partei und daß sie selbst noch die Zügel des Regiments in den
Händen hätten, weil Leute ihrer Farbe in den Konsistorien saßen. Aber schon
1828, also nnr drei Jahre nach der Thronbesteigung Ludwigs, wurden sie ihnen
dadurch factisch entrissen, daß ein entschiedener Freund jener Richtung, der be¬
kannte Herr v. Noth, das Präsidium des Obcrconsistoriums erhielt. Von nun
an war der Sieg derselben gesichert, wenn auch noch nicht entschieden.
Noth, der früher nichts mehr und nichts minder als ein mit in Baiern un¬
gewöhnlicher Bildung und Geschäftsgewandtheit ausgestatteter Bureaukrat im Fi¬
nanzsach gewesen war, hatte sich in kluger Spekulation fast allein unter allen
höheren Beamte» protestantischer Confession jenem bairischen Jnngprvtestantismus
seit einer Reihe von Jahren merklich zugeneigt und darüber mannigfache Spötte¬
leien erlitten. Er berechnete die Zukunft desselben nach der Rührigkeit seiner
Vertreter und dem ganzen Weltzuschnitt der Restaurationsperiode und fand, daß
sie eine glänzende sein müsse. Vielleicht eher, als er selbst gehofft hatte, warf
die Negierung, d. h. die katholisch-ultramontane und absolutistische Umgebung des
Königs ein Auge auf ihn, als den richtigen Manu, um ihre politisch-kirchlichen
Pläne im Gebiete der bairischen protestantischen Kirche fördern zu helfen. Denn
sie war natürlich umsichtig genug, um in jener Orthodoxie wenigstens eine einst¬
weilige Verbündete zu erkennen und zu begünstige». — So wurde denn Noth
an jene hohe Stelle geschoben, in der er allen auf ihn gesetzten Erwartungen
vollkommen entsprach.
Seine Strategie war im wesentlichen dieselbe, wie die seiner katholischen
Gönner. Es handelte sich auch für ihn zunächst darum, eine Operationsbasis zu
gewinnen, ehe der eigentliche Feldzug eröffnet werden konnte, indessen hatte er
doch über viel geringere Streitkräfte zu verfügen, als jene, darum ging sein
Werk laugsam genug von Statten und war noch gar nicht weit vorgerückt, als
die Nachwirkungen der Julirevolution in den Jahren 1831 und 1832 auch luden
kirchlichen Fragen sich fühlbar zu machen begannen.
In der damaligen bairischen Kammer, in denen es bekanntlich so stürmisch
wie auf einem polnischen Reichstage zuging, wurde die ultramontane Tendenz der
Negierung ganz richtig als ein Ausfluß ihres Absolutismus bezeichnet und sehr
herb kritistrt.
Der Minister Eduard v. Schenck, selbst ein ultramoutan gewordener
Convertit, nahm sich diese Augriffe so zu Herzen, daß er abdankte und bald darauf
starb. Indessen wurde doch nichts wesentliches erreicht. Es blieb bei dem bloßen
polternden Gezänke vou Seite der liberalen Katholiken in der Kammer gegen die
Gesinnung der Regierung, uno diese konnte sich gegen sie nicht mit Fug und
Recht immer auf das Concordat und die Verfassung berufen, die bis dahin wenig¬
stens nicht nachweisbar verletzt waren. Die katholische Geistlichkeit selbst war
bereits so sehr von dein ultramontanen Netz umstrickt, daß nur sehr einzelne
Stimmen vom Rhein her im andern Sinne lant wurde», sonst stand sie wie ein
Mann sür die verfassungstreue Regierung, und der schon vorher bestandene und
auf beiden Seiten ersprießlich befundene Bund wurde damals ^in dem Sturm
der Zeiten erst recht besiegelt sür alle Ewigkeit. Die Stimmung im Volke war
bekanntlich, wie sich aus den Kammern zeigte, der Regierung entschieden feindselig,
indessen wäre sie es noch mehr gewesen, hätte nicht der Clerus seinen ganzen bis
dahin erworbenen Einfluß für sie aufgeboten, und es ist wesentlich ihm zuzuschrei¬
ben, daß der Aufregung des Jahres 1831 nicht augenblicklich eine allgemeine
Explosion in ganz Baiern folgte. In den Gegenden, wo sein Einfluß gleich null
war, am Rhein und hie und da in Franken erfolgten bekanntlich partielle Aus¬
brüche des revolutionären Geistes, in den andern katholischen Landschaften, die
mit der Negierung als solcher eben so wenig zufrieden waren, z. B. in Schwaben,
Baiern und der Oberpfalz, gelang es ihm, sie niederznerhalten. Die protestan¬
tischen Landestheile lieferten den Reihen der Opposition einige freisinnige Geist¬
liche, die furchtbare Dinge von den Verfinsteruugsplänen des Obercoufistvrimus,
dem Zelotismus jüngerer Kollegen und ihren Kabalen gegen jede aufgeklärte und
humane Richtung zu erzählen wußten, aber auch ohne irgend wie eine eigentliche
Gesetzesverletznng nachweisen zu könne».
Indessen fanden ihre Klagen im Volke größeren Widerhall, als die der frei¬
sinnigen Katholiken. Im Jahre 1832 gelangte eine Ricsenpetition aus Franken
und der Pfalz an die Kammer, um Schutz gegen die Verfiusterungspläne des
Herrn von Noth und seiner Favoriten, um Herstellung einer selbstständigeren Ge-
meindeverfassung, Synvdalverfassung, freisinnigere Berufungen an die Universität
zu Erlangen ze., trug sehr viele und sehr gegründete Beschwerden, denen indessen
eben nur von einer günstig gesinnten Regierung abgeholfen werden konnte. Die
damalige bairische jedoch berief sich auch hier auf den Buchstaben des Gesetzes,
das allerdings von Prcsbyterial- und Synvdalverfassung und von der dogmatischen
Richtung der anzustellenden Geistlichen und Professoren kein Wort sagte.
Natürlich hielten die Pietisten eben so fest, wie die Ultramontanen gerade in
dieser Trübsal zur Regierung; sie versuchten sogar anch Gcgcnadressen zu Stande
zu bringen; freilich fielen sie trotzdem, daß alle jungen Pfarrer monatelang auf
den Beinen waren, sehr dürftig aus.
Das Hochwasser der bairischen Revolution verlief sich bekannter Maßen sehr
bald. Schon 1834 war Alles wieder in's bureaukratisch-absolutistische Geleis zu¬
rückgeführt. Die kleinen Erschütterungen deö Katholicismus waren eben so voll¬
ständig und spurlos vorübergegangen, und auch das protestantische Oberconsisto-
rium erholte sich bald von dem Schreck, den ihn jene Mvnstropetitionen eingejagt
hatten. Eigentliches Terrain war auch hier nicht verloren worden, nur hatte man
sich einige Jahre in vorsichtiger Defensivstellung helfen müssen.
Je fester das Regierungssystem nach den eben bestandenen Stürmen fortlebte,
je kräftiger und rücksichtsloser es in den nächsten Jahren, besonders seit Herr
von Apel, früher ein Vorkämpfer des Julilibcralismus das Ministerium des
Innern in Wahrheit aber alle Ministerien übernommen hatte, nach allen Seiten
um sich griff, desto energischer trat auch jener mit ihm unauflöslich laute Neokatho-
licisinuö und Neoprotestantismus auf, und da ihre Gegner entweder ans dem
Felde geschlagen oder zu ihnen übergelaufen waren, da die Masse des katholischen
Volks entweder für sie äußerlich gewonnen, oder gänzlich indifferent und mit
lahmer Passivität allen Zwang über sich ergehen ließ, da es in den protestanti¬
schen Gegenden zwar etwas aber doch nicht viel besser stand, so schien am Ende
der dreißig Jahre das große Ziel erreicht zu sein, nach welchem beide Parteien
gerungen hatten.
Daher war es sehr natürlich, daß sie von nun an selbst mit einander zerfie¬
len. Denn von Seite der Ultramontanen war die Allianz eben nur zeitweilig ein¬
gegangen worden, als äußerstes Ziel stand ihnen nicht blos die Bekämpfung des
katholischen und protestantischen Indifferentismus, sondern die Vernichtung des
ganzen Protestantismus vor Augen. In diese letzte Kategorie gehörten doch anch
ihre bisherigen treuen Schildknappen, mochten sie sich auch noch so viel Mühe gegeben
haben, das Lebensprincip ihrer Konfession zu verleugnen und zu Boden zu treten.
Im blinden Kampfeseifer gegen den innern Feind hatten sie an diese letzte Kon¬
sequenz ihrer Verbündeten nicht gedacht, oder sich selbst für stark genug gehal¬
ten, sie abzuwehren.
Es zeigte sich bald, daß sie es nicht waren. Dieselbe Taktik, die von dem
Protestantischen Oberconsistorhim innerhalb der eigenen Kirche ausgeübt wurde,
sahen sie uun überall in allen Zweigen des öffentlichen Lebens gegen den Prote¬
stantismus überhaupt, sowohl den orthodoxen wie den rationalistischen angewandt.
Abel verstand es, als Minister des Innern erst alle höheren Stellen in der
Staatsverwaltung, in den Gerichten, ja sogar im Militär in die Hände von
Katholiken zu bringen. Höchstens duldete man noch solche Protestanten, die in
Pflichtschuldigster Devotion alles über sich ergehen ließen, ohne zu mucksen. Bald
zeigte sich auch in den niedern Stellen eine unleugbare Begünstigung der katholi¬
schen Aspiranten als solcher. Selbst bei der Ertheilung vou Gewerbscheiuen und
Heimathsberechtigungen hatten sie den Vorzug, und wehe den Beamten, welche
sich dem nicht etwa aus protestantischen Eifer sondern ans purem Nechtsstnne wi¬
dersetzten. Außerdem, daß ihnen alle Aussichten auf die Zukunft abgeschnitten
wurden, folgte gewöhnlich eine Versetzung in den Böhmer Wald oder in irgend
eine Mvosgcgend von Oberbaiern, wo sie Zeit und Weile hatten, über den in
der Dieustpragmcttik vorgeschriebenen unbedingten Gehorsam gegen die höchste Be¬
hörde nachzudenken.
Kurz in allem und jedem Stücke trat das rückhaltlose Bestreben hervor,
Baiern zu einem katholischen Staate umzuformen, was es weder staatsrechtlich
noch Misch gewesen war. Da mau den Protestantismus nicht mit einem Male
ausrotten konnte, so suchte man ihn wenigstens so viel als möglich rechtlos zu
machen, und im Innern alle Adern zu unterbinden. Bei dem letzten Geschäft
half die orthodoxe Partei treulich mit, gegen das erste erhob sie sich nach langem
stillem Grollen seit dem Jahre zu offener Opposition, die bis 1847 ohne
einen andern Erfolg anhielt, als daß der Katholicismus oder vielmehr Abelianis-
mus nur Schritt für Schritt da5 Terrain zu erobern vermochte.
Es war die Zeit, wo man sich in den Kammern und in Zeitungen und
Brochüren über die dem Militär und sogar der Bürgerwehr beider Konfessionen
plötzlich durch Ministerialrescript anbefohlene Kniebeugung vor dem Sanctissimum
herumstritt, während es die Erlanger und Münchner Pietisten ganz natürlich fan¬
den, wenn der fanatisirte katholische jüngere Klerus gegen die gemischten Ehen, über¬
haupt gegen allen innigeren Verkehr der beiden Confessionen und für eine Absperrung
predigte, 'wie sie die Türken gegen die Giaurs zu üben pflegen; wenn die Schulen
streng nach den Confessionen gesondert, Lehrbücher der katholischen und protestan¬
tischen Geschichte von Rcgierungswegcn verabfaßt und mit Zwangsmaßregeln ein¬
geführt, das Studium der Philologie ohne Theologie verboten, die alten Klassi¬
ker in den castrirten Jesuitenausgaben des 17. Jahrhunderts wieder aufgelegt und
den Gymnasien aufgedrungen wurden. Das nannten die Herren Harleß und
Stahl, die beiden Vorkämpfer des Protestantismus, bloße Präventivmaßregeln
gegen den einreißenden Jndifferentismus, aber in der Kniebeugung wollten sie kein
Haar nachgeben, trotz aller indirecten und directen Drohungen der Negierung, die
sie endlich beide aus Baiern zu entfernen wußte. Ja ein echter königlich bairi-
scher von dem Gifte des norddeutschen Unglaubens nicht angesteckter Protestant
aus dem Anfang der vierziger Jahre durfte es nicht einmal komisch finden, wenn
ein hohes Ministerium des Innern sogar die Züchtlinge und Irren nach den Con¬
fessionen absonderte und um sie vor dem Indifferentismus zu bewahren, besondere
katholische und protestantische Irren- und Zuchthäuser errichtete.
Vom Standpunkt dieser protestantischen Partei aus, hat daher Herr von
Abel vollkommen Recht, wenn er sich, wie er im vorigen bairischen Landtage
gethan, nun zwei l-ni-8 zu« gegen den Protestantismus vorwirft; der eine, sein
Benehmen in der Kniebeuguugsfrage, der andere sein Widerstand, wie er es ge¬
linde ausdrückt, gegen die Bildung neuer protestantischer Gemeinden. — Daß
unter seinem Ministerium über hundert Klöster entstanden und die Jesuiten nicht blos
in's Land kamen, sondern überall auf die unverschämteste Weise Propagande mach¬
ten, daß besondere reich dotirte Stiftungen für Konvertiten errichtet wurden, daß
man aus alle Weise deu katholischen Pöbel in den größeren Städten gemischter
Konfession z. B. in Augsburg und Regensburg, vor allem aber in dem frommen
München gegen die Protestanten hetzte, das baute ihn ja nach jener protestanti¬
schen Ansicht nur eben so viel Stufen in seinen Himmel, den man sich bereits
ebenso nach Konfessionen geschieden dachte, wie die Zucht- und Irrenhäuser.
Außerhalb Baierns pflegte man Abel und die Ultramontanen gewöhnlich zu
identificiren und thut es wohl auch noch jetzt. In Wahrheit hatte er jedoch mit ihnen
innerlich ungefähr eben so viel zu schaffen, wie mit den protestantischen Orthodoxen.
Er war durch und durch »in specifisch weißblauer Staatsmann und Bnreankrat und
in dieser Doppeleigenschaft ging er mit kluger Benutzung der gegebenen Verhält¬
nisse den Bund zuerst mit beiden dann vorzugsweise mit den ersteren ein. Nach der
schon im Mittelalter geläufigen Maxime, daß ein streng kirchlich geartetes Volk
am besten zu regieren sei, begünstigte er jene auf Erweckung der strengeren Kirch¬
lichkeit gerichteten Bestrebungen bei beiden Confessionen. Als weißblaner Staats¬
mann nahm er das Montgelassystem energisch auf, uur daß er sich anderer Fac-
toren bediente. Montgelas glaubte mittelst eines methodischen Staatshaushaltes,
eines starken Heeres und einer pfiffigen auswärtigen Politik Baierns isolirte Stel¬
lung als eine quasteuropäische Macht bewahren zu können. Eine Zeit lang war
es scheinbar gegangen, bald aber kam Baiern ganz in das Schlepptau Oestreichs.
Abel erkannte von seinem Standpunkte aus ganz richtig, daß man noch irgend
eine geistige Potenz in die Rechnung heranziehen müsse. Als eine solche bot sich
der Neokatholicismus dar, der sich bereits fest und klug organisirt hatte. Diesem
war alles daran gelegen sich einem der größeren deutschen Staaten dienstbar zu
machen. Auf Oestreich konnte er so lange Metternich lebte und auch uoch weiter
hinaus nicht rechnen, dort war er zwar als gehorsamer Bediente gern gesehen aber
so lange das östreichische Regierungssystem bestand, war er immer streng in dieser
demüthigen Stellung gehalten worden. In Baiern dagegen schien ihm noch eine
große Zukunft zu blühen, daher ergriff er mit Freude» die vom Minister gebotene
Hand, natürlich mit dem Rückhalte, in nur eiustweilig.es Verhältniß einzugehen,
wie auch Abel nur so lauge Nachsicht gegen die Herrschergelüste der Ultramontanen
zu übe» gedachte, bis er mit ihrer Hilfe im Innern alle Neste liberaler Regungen
vollständig ausgetilgt und nach außen Baierns Unabhängigkeit ganz fest gegründet
haben würde. Für's erste war er den frühern Libertin ein gehorsamer Sohn der
Kirche, aber man wußte von manchen vertraulichen Aeußerungen, in denen der
Unmuth der stolzen Bnreaukratenseele sich Luft machte, wenn er sich von einem
Graf Reisach, dem Eichstädter Bischof, oder einem Stahl, dem Würzburger,
Mit jener vornehmen Herablassung und geschmeidigen Höflichkeit, wie sie nur die
katholischen Kirchenhäupter verbunden besitzen, behandelt sah. Auch täuschten sich
die Ultramontanen niemals über seine wahre Gesinnung und es fehlte nicht an
allerlei boshaften Witzen über seine Betfahrten nach Oettiug, oder seine Kapuziner
in Stamsried, und diese gingen alle von jenen Kreisen aus.
Jeder der beiden Paciscenten gedachte also dem andern, sobald sich die Zeit
erfüllt haben würde, ungefähr ebenso zu behandeln, wie sie beide damals mit den
Protestantischen Orthodoxen, deren sie nicht mehr bedurften, umgingen, und eS
war ein besonderer Humor der Geschichte, daß beide in edelmüthiger Selbstauf¬
opferung für einander zu Falle kommen mußten.
Genau besehen, war durch die Lvlakatastrophe vou 1847 nichts weiter gewon¬
nen, als daß die Verbündeten durch das Unglück nur noch fester aneinander ge¬
kettet wurden, da sie wohl einsahen, daß sie allein ganz verloren sein würden.
Für die kirchlichen Verhältnisse hatte jener so triumphirend ausposaunte Sturz
Adels und der Ultramontanen allerdings keine nachhaltige Bedeutung, indessen ath¬
meten doch die bisher furchtbar geknechteten freieren Elemente in beiden Kirchen
, wieder etwas auf. In der katholischen Kirche war noch ein großer Theil der älte¬
ren Geistlichen aus der Schule der Aufklärungsperiode des vorigen Jahrhunderts,
die in Baiern wie gewöhnlich um ein Menschenalter später als im übrigen Deutsch¬
land angebrochen war. Vor dem finsterem Zelvtiömnö ihrer Bischöfe und ihrer
jüngeren College» hatten sie sich in den, letzten zwanzig Jahren ganz zurückgezo¬
gen, einige auch wohl es für passend gefunden, mit den Wölfen zu heulen. So
fiel es z. B. im Jahre 1845 einem siebzigjährigen Dechant in einer von Katho¬
liken und Protestanten bewohnten Stadt in Franken, der sein ganzes Leben lang
mit seinen andersgläubigen College» auf dem Lande und Nachbarn in der Stadt
im besten Vernehmen gestanden hatte, plötzlich ein, einem Lutheraner das ehrliche
Begräbniß ans dem Friedhofe des Orts, welcher früher ausschließlich katholisch
gewesen war, zu verweigern. Er und viele seiner Amtsbruder mögen sich zu
einem ähnlichen Benehmen mit schwerem Herzen verstanden haben, dessen waren
sie von nun an überhoben. Ebenso mäßigem sich die jüngeren wirklichen Zelo¬
ten doch überall sehr merklich; freilich bedurfte es hie und da eine nachdrückliche
Mahnung zum Frieden von Seite der Localbehörden, aber daß diese jetzt gewagt oder
nicht mit einer Klage beim Minister beantwortet wurde, war allem eine Folge
jeuer Katastrophe. Auch verschwanden die krassen Kundgebungen des katholischen
Eifers, die in den letzten Jahren den Spott des Auslandes besonders erregt hat¬
ten, diese Messen von Kapuzinern und Franziskanern, diese hundertnamigcn und far-
bigen Bruder- und Schwesterschaften, diese scandalösen Missions- und Ablaßpre¬
digten, etwas von der Straße. An der Organisation der Partei und in ihren
Prinzipien änderte sich freilich nichts, sie trat wie gesagt, nur etwas glimpflicher auf.
Die Protestanten waren wenigstens der Vexationen überhoben, die man ihnen in
der Kniebeugungsfrage und sonst bereitet hatte. Ans die innere Entwicklung ihrer
Kirche wirkte jene Katastrophe fast noch weniger als auf die des Katholicismus.
Herr von Noth blieb nach wie vor ihr allmächtiger Gebieter und das neuerrichtete
Cultusministerium ließ ihn ebenso ungestört schalten, wie den früheren Minister des
Innern, wenn er seinen Vertilgungskrieg gegen die letzten Neste des Nationalis¬
mus unermüdlich fortsetzte, treulich unterstützt von den Provinzialevnfistorien, der
theologischen Fakultät zu Erlangen und einer Legion jüngerer uach seiner Vorschrift
zugestutztem Geistlichen.
Die eigentliche Masse des Volkes beider Konfessionen verhielt sich bei jenem
Umsturz sehr passiv. Die fanatisirten Katholiken waren niemals sehr zahlreich ge¬
wesen; außer dem Pöbel der größeren Städte gab es uur einig? Striche von
Altbaiern und der Oberpfalz, die dem ultramontanen Clerus von Herzen und
nicht blos ans Furcht vor seiner weltlichen Macht oder ans anderen äußeren
Rücksichten zugethan gewesen waren, aber auch diese erhoben jetzt keinen Arm für
ihn. Die andern freuten sich nur, daß sie von nun an wieder Nuhe und Friede
vor der zudringlichen Pfaffenwirthschaft haben sollten und dachten nicht an die
Zukunft.
Der orthodoxe Protestantismus hatte noch weniger Proselyten gemacht, als
der ultramontane Katholicismus. Jener alte gemüthlich-behäbige Nationalismus
wurzelte trotz alles Feuereifers der jungen Geistlichkeit noch immer in der unend-
lichen Mehrzahl der städtischen und in der überwiegenden der ländlichen Bevölke¬
rung. Aber er war zu phlegmatisch, um die Umstände zu benutzen und sich nach
oben hiu geltend zu machen. Selbst seine noch übrigen Vertreter unter den älteren
Protestantischen Geistlichen zitterten nach wie vor, wenn sie an das Oberconsi-
storium dachten.
Selbst die viel gewaltigere Erschütterung der Märztage vom vorigen Jahr
hat in dieser Beziehung in Baiern nicht viel geändert. Die Ultramontanen und
die Abelianer siud allerdings durch sie wieder um einige Schritte rückwärts ge¬
schleudert worden, weil die durch die Revolution geborene Staatsregierung an¬
fangs aus den Trümmern der altliberalen Partei und später aus der Erbschaft
Montgelas zusammengesetzt wurde. Die Leute dieses Schlags hielten von dem
Politischen Einfluß der Kirche nicht viel, aber desto mehr von Soldaten und Ka-
nonen. Indessen haben sich die Ultramontanen bei verschiedenen Gelegenheiten
z. B. an der deutschen Frage und bei den Wahlen für die baierschen Kämmen
so gewichtig fühlen lassen, daß man aus sie von Woche zu Woche mehr Rücksicht
nahm, und gegenwärtig ist eine Veibinduug zwischen ihnen und dem gegenwär¬
tigen System so gut wie abgeschlossen. Es läßt sich noch nicht sagen, welche Con¬
cessionen dabei Ordnungen wurden. Doch glaube ich nicht, daß sie sich für den
Augenblick in der Stellung der Regierung zu dem Protestantismus fühlbar machen
werden. Man wird diesem oder die in ihm herrschende Partei ebenso wie früher
vorläufig schönen, dafür überläßt man ihm die Aufgabe, den Rationalismus der
ins Politische übersetzt Liberalismus heißt, niederzuhalten, was sie auch bei der
Rührigkeit und der relativ überwiegenden geistigen Bedeutung ihrer Glieder recht
Wohl zu thun vermag. Auf spätere Zeit behält man sich natürlich auch mit ihr
eine Abrechnung vor, gerade so wie früher. —
Als die östreichische Armee die piemontesischen Grenzen besetzte, forderte die .
französische Nationalversammlung das Ministerium auf, eine entschiedene Haltung
anzunehmen, und ertheilte ihm die Vollmacht, im französischen Interesse einen
Punkt in Italien militärisch zu besetzen. Einige Tage nach diesem Votum, auf
die Nachricht von der Schlacht von Novara, forderte der Conseilspräsident,
Odillon Barrot, von der Versammlung einen Credit von 1,200,000 Fr. für
die dreimonatliche Unterhaltung einer Expedition im mittelländischen Meer (to.
April). Er begründete diese Forderung durch folgende Gesichtspunkte.
„Oestreich verfolgt seinen Sieg; es könnte denselben auch über diejenigen
Staaten ausdehnen, welche in näherem oder entfernteren Verhältniß zu Sardinien
gestanden haben. Frankreich kann dabei nicht gleichgiltig bleiben. Die Sorge,
unsern Einfluß in Italien zu erhalten, der Wunsch, dem römischen Volk eine
gute, auf liberale Einrichtungen gegründete Regierung zu sichern, macht es uns
zur Pflicht, die uns von der Nationalversammlung ertheilte Vollmacht in Anwen-
dung zu bringen. Wir können im Voraus versichern, daß ans dieser Interven¬
tion wirksame Garantien für die Interessen unseres Staats und für die Sache der
wahren Freiheit hervorgehn werden."
„Es ergibt sich aus diesen Erklärungen des Ministeriums, sagte der Bericht¬
erstatter der Commission, daß es nicht in seiner Absicht liegt, Frankreich zum
Sturz der Republik, die factisch in Rom besteht, mitwirken zu lassen; daß es
frei handelt, ohne alle Solidarität mit den übrigen Mächten, nur in Rück¬
sicht ans unsere Interessen, unsere Ehre, und den Einfluß, der uns nothwendig
in jeder großen .europäischen Frage zukommt. Aus einer Revolution hervorge¬
gangen, darf die'französische Republik, ohne sich selbst zu verleugnen, nicht mit¬
wirken zur Unterdrückung einer unabhängigen Nation. Gerade um die Gefahr
einer Reaction in Italien zu vermeiden, muß Frankreich daselbst sein Banner
wehen lassen, damit unter seinem Schatten die Humanität geachtet und die Frei¬
heit wenigstens theilweise gerettet werde. Indem also die Nationalversammlung
die Negierung bevollmächtigt, einen Punkt in Italien zu besetzen, verbindet sie
damit die Verpflichtung, den Anmaßungen Oestreichs eine Grenze zu setzen und
durch einen Schiedsspruch, den nöthigenfalls die Gewalt unserer Waffen unter¬
stützen mag, alle Differenzen zu schlichten, auf die günstigste Weise, wie sie für
die Entwicklung demokratischer Einrichtungen möglich ist."
Der Cvnseilspräsidcnt erklärte seine freudige Zustimmung zu diesen Ansichten,
die durchaus die seinigen wären. Der Credit wurde bewilligt und die Expedition
ging nach Civita Vecchia ab, wo (24. April) durch Herrn Espivent, Chef des
Generalstabs, folgende Proklamation verbreitet wurde: „Die französische Regie¬
rung, stets von einem sehr liberalen Geist beseelt, erklärt, daß sie den Willen der
Majorität des römischen Volks respectiren wird, daß sie mit freundschaftlichen
Absichten diese Expedition unternimmt, um ihren legitimen Einfluß aufrecht zu
halten. Sie ist vollkommen entschieden, dem Volk keine andere Regierungsform
aufzudrängen, als die es selber gewählt haben wird."
In Folge dieser Erklärung wurde Civita Vecchia besetzt (25. April). Der
Dienst wurde zur Hälfte den französischen, zur Hälfte den römischen Soldaten
anvertraut, und die französischen Fahnen flatterten neben der italienischen Tricolore.
Der Befehl der römischen Cvstitnente, die Stadt um jeden Preis zu vertheidigen,
kam zu spät, und sie mußte sich mit einem nachträglichen Protest begnügen. Der
commandirende General Oudinot erließ darauf folgende, ihm vom Ministerin»!
Mitgegebene Proclamation an die Römer.
„Ein französisches Armeekorps ist auf euerm Gebiet gelandet. Sein Zweck
ist weder, eiuen unterdrückenden Einfluß auözuübc», noch euch eine euerm Willen
entgegengesetzte Regierung aufzudringen. Vielmehr will es euch vor größeren Uebeln
bewahren. Die politischen Ereignisse Europas macheu das Erscheinen einer frem¬
den Fahne in Rom nothwendig. Indem die französische Republik mit der ihrigen
den andern zuvorkommt, gibt sie dadurch der römischen Nation ein cclatantcs
Zeugniß vou ihrer Sympathie. Empfangt uus als Brüder! wir werden diese
Benennung rechtfertigen. Wir werden--eure Personen und euer Eigenthum
respectiren! wir werden---Alles baar bezahle»!! wir werden uns mit den be¬
stehenden Behörden (linken'nes) verständigen, damit unsere vorübergehende Besetzung
euch nicht genirt, wir werden die militärische Ehre eurer Truppe» aufrecht halten,
indem wir sie überall mit den n»srige» ge»lei»sa»i zur Aufrechthaltung der Ordnung
Und Freiheit verwenden" (2?. April).
Als es nun aber ersichtlich war, daß Rom Widerstand leisten wolle, erklärte
der General Civita Vecchia in Belagerungszustand, ließ die Garnison entwaffnen,
i5v Gewehrkisten, die uach Rom bestimmt waren, aufheben, und verbot dem
Magistrat, sich mit politischen Dingen zu beschäftige». Der Präfect Mauucci,
der gegen ein solches Verfahren Protest einlegte, wurde verhaftet, und die Expe¬
dition setzte sich, obgleich der römische Minister Nuccoui im Hauptquartier aus¬
drücklich die Versicherung gab, daß mau zu», Kampf entschlösse» sei, gegen Rom
M Bewegung. Sie wurde (.10. April) zurückgeschlagen.
Eine solche Wendung der Dinge kam deu Parisern doch zu stark vor;
Jules Favre fand sich zu einer seiner donnernden Interpellationen veranlaßt.
Der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Drouyn de Lhuys, ver¬
sicherte, daß der Marsch gegen Rom uur unter der Bedingung beschlossen sei, daß
Man keinem ernstlichen Widerstand begegnete, und daß mau vom Volk gerufen
werde. Er stellte es übrigens auf das bestimmteste in Abrede, daß man auf eine Ab¬
setzung der bestehenden Behörden ausgegangen sei. Die Commission war damit
nicht befriedigt. Sie erklärte sich zwar damit einverstanden, daß man Civita
Vechia, allenfalls mit Gewalt, besetzt habe, weiter aber hätte man nicht gehen,
man hätte die Ereignisse abwarten, und nur zur Abwehr einer fremden, reactionä-
ren Intervention die Expedition fortsetzen sollen. Da also „die weitere Richtung,
welche der Expedition gegeben war, ihrem ursprünglichen Zweck nicht entsprach,"
so beschloß die Versammlung, mit 338 : 241 Se., die Regierung aufzufordern,
unverzüglich Maßregeln zu treffen, damit die Expedition nicht länger ihren ur¬
sprünglichen Zweck entfremdet würde. (7. Mai).
Das Mißtrauensvotum war so bestimmt als möglich, allein es verlor an Ge¬
wicht, wenn man in Erwägung zog, daß die Nationalversammlung nicht mehr der
Ausdruck Frankreichs war. Die Wahl des Präsidenten hatte gezeigt, wie wenig
die „honette" Republik im Volke Wurzel geschlagen habe. Die Zeit der Consti¬
tuante war abgelaufen, auf den 13. Mai standen die Wahlen bevor, und es
konnte wenig Zweifel darüber sein, in welchem Sinn dieselben ausfallen würden.
Dennoch durfte sich das Ministerium gegen ein so energisches Votum der bis¬
her anerkannten Volksvertretung nicht in directe Opposition setzen; es hatte nichts zu
thun, als zu temporisiren. Der Conseilsprästdcut machte (9. Mai) die Anzeige,
daß man einen bekannten Liberalen, Hrn. von Lessep s, nach Rom beordert habe,
um die Sache in's Gleiche zu bringen. In der schriftlichen Instruction, die dem¬
selben ertheilt wurde, war folgendes enthalten. „Was im Anfang der Expedition
vorgefallen ist, scheint geeignet, eine Frage zu compliciren, die zuerst sehr einfach
aussah. Die Regierung hat sich deshalb veranlaßt gesehen, zur Seite des militäri¬
schen Chefs einen diplomatischen Agenten zu stellen, der sich ausschließlich mit den
Unterhandlungen und Beziehungen zu deu Behörden und dein Volk von Rom zu
beschäftigen habe. Unser Zweck ist der doppelte: den Kirchenstaat von der Anar¬
chie zu befreien, und zu hindern, daß die Wiederherstellung einer regelmäßigen
Gewalt durch eine blinde Reaction entstellt werde. Das letztere wird um so leich¬
ter, je schneller unsere Intervention andern, minder gemäßigten zuvorkommt. In
der Bemühung, dieses Resultat zu erreichen, haben Sie zweierlei zu vermeiden:
alles, was die jetzige» Gewalthaber glauben lassen kann, daß wir sie für eine
regelmäßige Regierung ansehn; nud alles, was bei den Unterhandlungen mit den¬
selben die Empfindlichkeit des heiligen Stuhls verletzen kann." Nähere Jnstruc-
tionen wurden nicht ertheilt, weil man über das Factische nicht die gehörigen
Aufschlüsse habe; doch wurde LcssepS empfohlen, in allen Schritten mit dem com-
mandirenden General und den Bevollmächtigten beim Papst und bei Neapel, Hrn. v.
Harcourt und v. Nayntval sich im Einverständniß zu halten. Der Präsident der Re¬
publik fügte noch die Bemerkung hinzu, daß mau es um jeden Preis verhüten
müsse, die östreichische und neapolitanische Intervention mit der französischen ge-
meinschciftlich openren zu lassen. Es sagte eigentlich gar nichts, da das Verhält¬
niß zwischen dem Oberfeldherrn und dem diplomatischen Agenten nicht abgegrenzt
war. Lesseps war nichts als der Lockvogel, den man der Nationalversammlung
hinwarf, um sie für den Augenblick zu beschwichtigen. Er nahm aber seine Mis¬
sion im Ernst, daraus erklärt sich der spätere Conflict.
Ungefähr gleichzeitig (10. Mai) wurde folgende telegraphische Depesche an
den General expedirt. „Lassen Sie den Römer» sagen, daß wir uns nicht mit
den Neapolitanern gegen sie verbinden werden. Setzen Sie die Unterhandlungen
fort, und warten Sie die Verstärkungen ab, die man Ihnen schicken wird. Suchen
Sie in Rom einzuziehen, im Einverständniß mit den Bewohnern (!), oder wenn
Sie zum Angriff gezwungen werden, uur unter der positivsten Aussicht auf Er¬
setzung."
Die Absicht des Gouvernements wurde noch bestimmter herausgestellt durch
die Instruction, welche der Minister (<). Mai) an dir Bevollmächtigten am römi¬
schen Hofe abgehen ließ. „Was nus noch tiefer schmerzt als das Mißtrauen,
welches man fortwährend zu Gaeta gegen uns an den Tag legt, und gegen wel¬
ches die Zeit uns bald rechtfertigen wird, ist die Natur der Einflüsse, welche
augenscheinlich in dem Rath des heiligen Stuhls vorwalten. Jemehr man sich
der Lösung nähert, je bestimmter treten sehr gefährliche Neigungen hervor, die
sich im Anfang uuter mehr oder minder scheinbaren Vorwänden versteckten. Um eine
vorläufige Erklärung über die Absichten des heiligen Vaters zu umgehen, haben
seine Räthe eingewendet, daß es unpassend sei, ihm im Voraus die Hände zu
binden. Dieser Einwand hätte einen Sinn, wenn es sich darum handelte, im
Detail die Grundlagen einer neuen Staatsform festzustellen, aber wenn wir nichts
anderes verlangen, als daß man uns den Weg angibt, den man »ach Wieder¬
herstellung der päpstliche» Gewalt einzuschlagen gedenkt — muß da ein absolutes
Stillschweigen nicht auf deu Gedanken bringe», daß man einfach zu den alten
Mißbräuchen zurückkehren, und sämmtliche Concessionen Pius' IX., darunter die
Uebertragung der Staatsämter an Weltliche, .diese erste und wesentlichste Grund¬
lage alter Reformen, zu annuliren beabsichtigt? — Sollten in dem constitutio-
nellen Statut Pius IX. Modificationen nothwendig sein, so können diese nach
Wiederherstellung der Ordnung und des Friedens in Angriff genommen werden,
aber die französische Negierung hält es nicht für möglich, daß das Statut selber
ohne weiteres als nicht gegeben betrachtet werden sollte. Die Achtung vor dem
Papst verbietet uus zu glauben, daß die Institutionen, die er seinem Volk gege¬
ben, durch die beklagenswerthen Ereignisse seit dem November aufgehoben wären.
Der Gedanke, daß die alten Zustände zurückkehren konnten, ist gar nicht in un¬
sre Berechnung eingetreten. — Demnach wird schleunige Auskunft gewünscht.
In unserer Stellung haben wir große Pflichten zu erfüllen; wir werden uns den¬
selben nicht entziehn."
Das klingt sehr energisch; wenn man aber näher zusteht, so verlieren sich
jene Drohungen ganz in's Unbestimmte. Die Stadt zu erobern, und dann dem
Papst zu erklären, wir geben sie dir nicht eher heraus, als bis du unsere For-
derungen zugestanden hast, daran konnte Frankreich nicht wohl denken, weil es
sich, ganz abgesehen von dem Ncchtspunkt, allen Eventualitäten eines allgemeinen
Krieges dadurch ausgesetzt hätte. Freilich hatte General Oudinot, indem er die
päpstlichen Kommissären aus Civita Vechia zurückwies, dem Anschein nach etwas
ähnliches gethan, und die Regierung hatte diesen Schritt gebilligt. Aber der
Umfang und damit die Wichtigkeit beider Schritte war sehr verschieden. Frank¬
reich mußte entweder die Zugeständnisse des Papstes in der Tasche haben, bevor
es zur Execution schritt, oder es mußte, wenn es nicht neutral bleiben wollte,
jede fremde Intervention verhindern. Jeder dritte Weg war weiter nichts, als
das alte Spiel französischer Eitelkeit, wie es schon unter Casimir Perier in der
Besetzung vou Ancona sich gezeigt hatte, eine zudringliche Einmischung, die nur
die Verwirrung steigerte, ohne zu irgend einem Resultat zu führen. —
Herr von Lcsseps kam am l5. Mai im Hauptquartier an, und reiste, nach¬
dem er eine vorläufige Waffenruhe veranlaßt, nach Rom. Er fand ziemlich die
ganze Bevölkerung zum Widerstand entschlossen, und die Römer ebenso zuversicht¬
lich in der Erwartung eines Umschwungs der Dinge in Frankreich, als man es
zu Paris von Rom glaubte. Er entwarf am 16., gemeinschaftlich mit Oudinot und
Harcourt, folgenden Entwurf der Verständigung: I) die französische Armee gibt
die Communication zwischen der Hauptstadt und den Provinzen frei, 2) Rom
nimmt die französische Armee als befreundet auf, 3) die gegenwärtige Negierung
gibt ihre Functionen auf und wird durch eine provisorische ersetzt, welche die Na¬
tionalversammlung erwählt, bis zu dem Augenblick, wo das Volk sich über die
Regierungsform ausgesprochen haben wird. Indeß kam man, da die letzte Klausel
wenig Aussichten zu einer Verständigung bot, über eine neue Redaction überein,
die folgenden Inhalt hatte: l) Der römische Senat veut« ki,,) ruft den brü¬
derlichen Schutz der französischen Republik an. 2) Das römische Volk hat das
Recht, sich frei über seine Regierungsform auszusprechen. 3) Rom nimmt die
französische Armee als befreundet auf, die beiderseitigen Truppen versehen gemein¬
schaftlich den Dienst, die Behörden bleiben in den Functionen, die ihnen gesetzlich
zukommen.
Das Triumvirat erklärte (19. Mai), auf diese Vorschläge nicht eingehen zu
können, da es darin keine hinlängliche» Garantien für die Freiheit fände, und da
die militärische Besetzung der Hauptstadt der öffentlichen Meinung zuwider sei;
es versprach aber andere Vorschläge zu macheu. Die Vorschläge wurden durch
den nordamerikanischen Gesandten, Caß, (2l. Mai), dem General zugestellt. Sie
enthielten folgende Artikel: 1) Die römische Republik nimmt dankbar die Unter¬
stützung der französischen Truppen an, welche nach dem Beschluß der französischen
Nationalversammlung, die fremde Intervention verhindern sollen. 2) Das römische
Volk hat sein Recht, sich frei über seine Regierungsform auszusprechen, ausgeübt,
und Frankreich wird dasselbe anerkennen, sobald die von der Nationalversammlung
entworfene Verfassung durch das allgemeine Stimmrecht bestätigt sein wird. 3) Rom
wird die französischen Soldaten als Brüder empfangen, aber dieselben werden nicht
eher die Stadt besetzen, als bis die Regierung der Republik sie dazu auffordern
wird. Die Behörden der Republik bleiben in ihren gesetzlichen Funktionen. —
Der General sah diese Vorschläge kaum an, und Lcsseps, der einerseits in Rom
manche Verdrießlichkeiten hatte, andererseits täglich von der Ungeduld der Officiere
bestürmt wurde, die ihre am 30. April erlittene Scharte wieder auswetzen woll¬
ten, begab sich am 24. ins Hauptquartier. Der General erklärte ihm mit dürren
Worten, daß dieser Zustand der Dinge ein unhaltbarer sei, und daß Niemand die
Illusionen des Diplomaten theile. Man vereinigte sich endlich dahin, noch eine
Depesche an die cvnstituirende Versammlung zu expediren, in welcher jenen Arti¬
keln eine mögliche liberale Interpretation gegeben, und der vierte hinzugefügt
wurde: die französische Republik garantirt das vou ihren Truppen besetzte Gebiet
gegen jeden fremden Angriff. Mazzini ertheilte (25. Mai) drauf eine Antwort,
die ebenso klar und verständig war, wie alles, was von Lcsseps ausging, unbe¬
stimmt und verworren. Ich bemerke beiläufig, daß einer von den Gründen, durch
welche der letztere die Generale zu bestimmen suchte, auf Scene Vermittelung ein¬
zugehen, die Furcht vor den pvrtcstantischcn Missionären war, mit denen der römi¬
sche Dictator unter einer Decke stecken sollte! und unter den Gründen, womit er
die Römer von den guten Absichten Frankreichs überzeugen wollte, der Höflichkeit
des commandirenden Generals, als ihm von Rom 30,000 Stück Cigarren ge¬
schickt wurden!
„In einer Konferenz der katholischen Mächte, schreibt Mazzini, zu welcher
die römische Regierung nicht einberufen wurde, ist ausgemacht worden, l) daß in
dem gegenwärtigen Zustand der römischen Republik eine Veränderung vorgenom¬
men, 2) daß diese Veränderung zur Basis die Wiederherstellung der weltlichen
Gewalt des Papstes haben, 3) daß dieser Zweck durch eine Intervention durch¬
geführt werden soll. Wenn nun auch Frankreich, dem absolutistischen Oestreich
und Neapel entgegengesetzt, seinen Einfluß in liberalem Sinne auszuüben gedenkt,
s" ist doch der Grundgedanke seiner Expedition der nämliche: die Verfassung, den
gesetzlichen Ausdruck des römischen Volkswillens, aufzuheben. Sie hat außerdem
"°es schädlicher gewirkt als jene, denn sie hat uns verhindert, unsern Feinden
^tgegenzugehen, sie hat, durch eine Belagerung ohne Zweck, unsere Finanzen
ruinirt. Rom wird sich aber, so lange es sich vertheidigen kann, keiner fremden
Gewalt ausliefern. Frankreich hat nur die Wahl, sich für uns zu erklären, oder
für unsere Feinde, oder neutral zu bleiben. Nur das letztere wünschen wir. Die
Besetzung von Civita Vecchia ist ein l'-ut, nccompll; Frankreich hält es für un-
passend, unter den gegenwärtigen Umständen fern vom Schauplatz der Begeben¬
heiten zu sein. Es glaubt, daß stegreich oder besiegt, wir seiner Vermittlung oder
seines Schutzes bedürfen werden. Wir glauben es nicht, aber wir wollen nichts
dagegen thun. Möge es Civita Vecchia behalten, möge es selbst seine Cantonnc-
meuts nach dem Bedürfniß ausdehnen und dort den Ausgang erwarten. Aber
seine Neutralität sei aufrichtig, es gebe uns unsre Waffen wieder, es öffne unsre
Häfen, und vor allen Dingen, es entferne sich von unsern Mauern I" — Ans
diese sehr bestimmte Sprache hatte Lcsseps nichts als hohle Phrasen.
Im Hauptquartier setzte es sehr heftige Scenen, aber es gelang dennoch
dem Gesandten, die vorläufige Aufrechthaltung der Waffenruhe durchzusetzen.
Den 27. kam Herr v. Nayneval, französischer Gesandter in Neapel, ins Haupt¬
quartier. Die Vorwürfe, die er Lesseps machte, waren sehr ernst: er habe, gegen
den ausdrückliche» Befehl der Regierung nirgend die Gesandten zu Rom und
Gaeta zu Rathe gezogen, und dadurch die Republik der Gefahr ausgesetzt, an
verschiedenen Orten eine verschiedene Sprache zu führen; er habe ohne bestimmte
Vorschriften von Seiten der Negierung, nur nach eignen Inspirationen gehandelt;
er habe die Wirksamkeit der Armee paralysirt und Bedingungen gestellt, welche
Frankreich zu einer Art Offensiv- und Defcnstvallianz mit einer Macht verpflichtet
haben, welche die Regierung doch nicht anerkennt. Dadurch habe er den drei ver¬
bündeten katholischen Mächten den Fehdehandschuh hingeworfen, und den Papst
ganz in die Hände Oestreichs gegeben; er habe Neapel dem Einfall der römischen
Banden ausgesetzt. Aus diesen Gründen legte er Protest gegen ein solches Ver¬
fahren ein, und stattete Bericht an die Regierung ab, die ans sehr begreif¬
lichen Gründen ihren Bevollmächtigten bis dahin ganz ohne In-
structionen gelassen hatte.
Den 29. Mai vereinigte sich LesscpS mit Oudinot, als die Oestreicher immer
näher heranrückten, zu einem Ultimatum, welches dem Triumvirat mit der Er¬
klärung überreicht wurde, daß im Fall es nicht binnen 24 Stunden angenommen
wäre, die Verhandlungen als abgebrochen betrachtet und die Feindseligkeiten wie¬
der aufgenommen werden würden. Es enthielt folgende Artikel. 1) Die Römer
rufen den Schutz der französischen Republik an. 2) Frankreich bestreitet dem rö¬
mischen Volk nicht das Recht, sich frei über seine Regierungsform auszusprechen.
3) Die französische Armee wird in Rom aufgenommen; sie wird diejenigen Can-
tonnements beziehen, welche sie für die Vertheidigung des Landes und für den
Gesundheitszustand der Truppen als nöthig erachtet; sie wird sich in die Landes¬
verwaltung nicht einmischen. 4) Die französische Republik garantirt das durch ihre
Truppen besetzte Gebiet gegen jeden feindlichen Angriff. Vor Ablauf der bestimm¬
ten Frist schickten die Triumvirn einen Verbesserungsvorschlag, in welchem die
übrigen Artikel ziemlich beibehalten waren, nur mit dem Zusatz, daß die Stadt
Rom selbst nicht besetzt werden sollte. Der General weigerte sich, und wie man
begreifen wird, nicht in den höflichsten Formen, diesen Vertrag zu unterschreiben,
und bereitete sich zum Angriff. Lesscps ließ nach Rom sagen, man möge sich über
diese Bewegungen nicht beunruhigen, es solle ihnen nicht gelten. Dennoch wurde
in der Nacht eine der wichtigsten militärischen Positionen, der Monte Mario be¬
setzt. Um dem Übeln Eindruck dieser Thatsache zuvorzukommen, eilte der Gesandte
am folgenden Morgen (31. Mai) nach Rom, indem er dem General eine Denk¬
schrift hinterließ, worin er nachzuweisen suchte, daß die Besetzung Roms durch
die französischen Truppen nicht nnr nicht vortheilhaft, sondern selbst bedenklich sei,
theils wegen der ungesunden Luft, theils wegen der leicht vorauszusehenden Con¬
flicte mit den römischen Behörden. Er kam nun mit der Nationalversammlung
über folgende Fassung überein: 1) Der Schutz Frankreichs wird dem römischen
Volk zugesichert. Es betrachtet die französische Armee als eine befreundete Macht,
welche zu der Vertheidigung ihres Gebiets mitwirken wird. 2) In Uebereinstim¬
mung mit der römischen Regierung und ohne sich in die Landesverwaltung zu
mischen, wird die französische Armee die äußeren Cantounements beziehn, welche
für die Laudesvertheidigung und für deu Gesundheitszustand passend sind. Die
Communicationen sollen frei sein. 3) Die französische Republik garantirt das von
ihren Truppen besetzte Gebiet gegen jeden Angriff. 4) Es versteht sich, daß das
gegenwärtige Abkommen der Ratification der französischen Republik unterworfen
bleibt; in jedem Fall tritt es aber erst 14 Tag« nach der offiziellen Erklärung,
daß mau nicht ratificiren wolle, außer Wirksamkeit.
Der General erklärte, diesen Vertrag, den Lesseps in seiner Gegenwart un¬
terzeichnete, nicht anerkennen zu wollen; er notificirte diesen Protest dem Trium¬
virat, dem Lesseps (1. Juni) seinerseits die Giltigkeit zusicherte, bis er noch den¬
selben Tag durch Oudinot eine telegraphische Depesche ans Paris erhielt, datirt
vom 29. Mai, wonach seine Mission als beendigt erklärt und er selber zurückge¬
rufen wurde. Zugleich erhielt der General den Befehl, Rom zu nehmen. Lesseps
kam den 5. Juni in Paris an.
Hier war mittlerweile die große Wendung eingetreten, welche die Regierung
in den Stand setzte, mit ihren eigentlichen Absichten freier herauszugehn. Die
coustituirende Versammlung hatte in der letzten Zeit eine ziemlich entschiedene re¬
publikanische Haltung angenommen. Zwar war sie über die Angrisse, welche Lcdru
Rollin gegen die in Italien befolgte Politik richtete, mit 32» : 292 Se. zur Ta¬
gesordnung übergegangen (11. Mai), und die Anklage gegen den Präsidenten
war verworfen (387 : 138); dagegen halte das fast einstimmige Tadelsvotnm
gegen deu Minister des Innern, Leon Faucher (14. Mai), denselben zur Abdan¬
kung gezwungen, und mit 293 : 210 Stimmen hatte die Versammlung (18. Mai)
erklärt, daß die doppelte Stellung Changarnier's als Befehlshaber der
Truppen und der Nationalgarde ungesetzlich sei. Ein neuer Angriff gegen die aus-
wärtige Politik der Negierung war (23. Mai) nur dnrch die von Cavaignac
vorgeschlagene motivirte Tagesordnung beseitigt worden (436 : 184 Se.), welche
die Regierung energisch an die Beschlüsse vom 7. Mai erinnerte. Aber es war
zu spät.
Die am 13. Mai vollzogenen Wahlen hatten zwar eine bedrohliche Zahl
von rothen Republikanern in die Kammern gebracht, aber die ungeheure Majori¬
tät gehörte den verschiedenen Fractionen der monarchischen Partei an. Die „ho¬
nette" Republik war so gut wie gar nicht vertreten. Der Zusammentritt der
Legislative (26. Mai), war der Anfang eines neuen Frankreich, daraus wird
jene Depesche vom 29. Mai begreiflich. Zwar wurde das Ministerium (2. Juni)
aus Männern der gemäßigten Richtung ergänzt, (Tocqueville auswärtige An¬
gelegenheiten, Dufanre Inneres), aber schon dieser Umstand erregte die Unzu¬
friedenheit der legitimistischen Majorität. Die Botschaft des Präsidenten (7. Juni)
durfte den Kampf gegen Rom als ein und -»ocom^Il betrachten. Die italienische Angele¬
genheit gab der Bergpartei die letzte Haltung; Lcdru Nollin benutzte sie (11. Juni)
zu einer Anklage gegen das Ministerium. Die Sprache des Cvuseilspräsidenten
war diesmal sehr entschieden; er behauptete, daß der einzige Fehler, den man sich
vorzuwerfen habe, zu große Langmuth gegen die römischen Rebellen sei ; er adop-
tirte vollständig die Maßregel des commandirenden Generals, indem er sehr ge¬
schickt die Motivirung der Depesche vom 29. Mai zu vermeiden, und statt dessen
den Lesseps'schen Vertrag vom 31 Mai einzuschieben wußte, von dem er sagte: Jeder
Bürger, der in seinem Herzen eine Spur von Nationalstolz trägt, muß sich gegen
so freche Bedingungen empören, die nur aus unserer Nachgiebigkeit entsprungen
sind u. s. w. Die Versammlung nahm mit 361 : 203 Stimmen die einfache
Tagesordnung an; den folgenden Tag wurde die Anklage gegen den Präsidenten
verworfen, und die übereilten Schritte des Berges verursachten jene letzte Emeute,
mit welcher die vollständige Reaction beginnt. Es gab jetzt diejenige Fraction den
Ton an, welcher eigentlich Papst Pius IV. noch zu liberal war.
General Oudinot hatte am 3. Juni die Belagerung von Rom eröffnet. Die
Stadt der Cäsaren wurde auf eine so rücksichtslose Weise von deu barbarischen
Kugeln verheert, daß (24. Juni) sämmtliche Konsuln sich veranlaßt sahen, Protest
dagegen einzulegen. Die Römer mußten zuletzt einsehen, daß ihnen keine Wahl
mehr übrig bliebe, und so beauftragte (30. Juni) die constituireude Versammlung
das Triumvirat mit der Einleitung von Unterhandlungen, die, nachdem Gari¬
ll alti mit dem Kern der Truppen die Stadt verlassen, zum Einmarsch der Fran¬
zosen führte (3. Juli). Am folgenden Tag erließ Oudinot eine Proclamation, in
welcher der Eintritt einer vorläufigen Militärherrschaft verkündigt wurde. Gene¬
ral Nostolan wurde Gouverneur, Geueral Sauvan Platzcommandant. Von
den ehemaligen Häuptern der Republik flüchteten die Meisten in's Ausland; ge¬
gen die Zurückbleibenden wurden seit der Ankunft des päpstlichen Commissarius
Badini (11. Juli) Verhaftsbefehle ausgegeben. Den 15. Juli wurde die Wieder¬
herstellung der päpstlichen Herrschaft —ohne Bedingungen — feierlich proclamirt, nud
der Papst erließ aus Gaeta (17. Juli) ein Sendschreiben an seine verirrten Unter¬
thanen, in welchem von Reformen oder von einem Festhalten an dem alten consti-
tutionellen System keine Rede war. Im Gegentheil traf den I. August zu Rom
eine geistliche Regierung ein, die im Widerspruch gegen alle Voraussetzungen der
französischen Regierung ans Cardinälen bestand, (della Genga, Vannicelli,
Altieri). Seitdem ist General Oudinot in Gaeta gewesen, und hat von da aus
(10. August) die Ernennung eines neuen Ministeriums mitgebracht (Domenico
Savelli Polizei, Angelo Ginsanti Justiz, Angelo Galli Finanzen, Ca-
millo Ami el Commissär für die Mark. Wie dasselbe sich zu der Constitution
stellen wird, ist noch unbekannt.
In Paris erfolgten der Form wegen von Seiten der Bergpartei noch von
Zeit zu Zeit Interpellationen über die italienische Frage — so von Lagrange
am 2. Juli, von Jules Favre am 7. August — aber sie dienten nur dazu, die
Majorität noch immer fester an das legitime Princip zu ketten. Die Versamm¬
lung votirte (10. Juli) mit 382 : 2 Se. (die Bergpartei stimmte nicht mit, weil
sie doch das Nationalgefühl nicht verletzen wollte) ihren Dank an die italienische
Expedition, und Frankreich schmeichelt sich nun wieder einmal mit dem Bewußt¬
sein, in der Politik ein großes Werk vollbracht zu habe».
Daß die französische Republik eine Schwesterrcpnblik, die einen ganz ahn^
lieben Ursprung hat, wie sie selber, unter dem Schein des Schutzes verrathen Hai,
ist nicht blos daraus zu erklären, daß Frankreich eigentlich vollständig antirepubli¬
kanisch ist; auch die Montagne würde, wenn sie an die Spitze käme, im Geist der
altfranzösischen Politik in den fremden Staaten nicht ein verwandtes Princip, son¬
dern nur den Schauplatz ihres Ruhmes suchen. Das Zweideutige und Schwan-
kende in dem Verfahren der Regierung wird ans ihrer Stellung zwischen zwei
ganz entgegengesetzten Versammlungen begreiflich, und daraus wieder das Schwan¬
kende und Zweideutige im Verfahren ihrer Agenten. Herrn v. Lesseps trifft eigentlich
weiter keine Schuld, als daß er sich einbildete, eine ernsthafte Mission zu haben.
Aber Frankreich tänscht sich anch darin, wenn es nun glaubt, eine günstigere
Position am päpstlichen Hofe erreicht zu haben. Dankbarkeit ist nicht die Sache
der Politik, und hier hat der heilige Vater um so weniger Ursache dazu, da die
Franzosen ihm ungerufen mir das gaben, was ihm ohne dies seine alten Alliirten
verschafft haben würden. Frankreich wird vielmehr dem Papst jetzt höchst unbequem
werden, und er wird mehr als je geneigt sein, sich Oestreich in die Arme zu wer¬
fen, um die ungeladenen Gäste los zu werden. Die Expedition nach Rom, das
man doch auf die Dauer nicht behaupten kaun, wird ein ebenso lächerliches Ende
nehmen, als die nach Ar.coma.
Ludwig Camphausen, in seiner Stellung als preußischer Bevollmächtigter bei
der Centralgewcilt wegen seines verhängnißvollen Schweigens verrufen, hat zuerst
in der deutschen Frage das Wort genommen. Seine Rede wird diejenigen unserer
Freunde, welche noch immer in dem Wahn schweben, die Paulskirche habe nur
aus besonderer Gnade Preußen die Kaiserkrone zugeworfen, uicht befriedigen; sie
ist so spezifisch Preußisch gehalten, als irgend etwas, was bisher die Gefühle des
heiligen römischen Reichs verletzt hat.
Der Inhalt seiner Rede ist folgender. Er macht den Antrag, daß §. 111.
der Verfassung vom 5. December, nach welchem der König diejenigen Abänderun¬
gen in der preußischen Verfassung, welche mit dem Ncichsgesctz im Widerspruch
stehn, selbstständig auszuführen und nur nachträglich den preußischen Ständen zur
Genehmigung vorzulegen hat, auf den Drei-Königscntwurf angewendet werden
soll. Diesen Entwurf stellt er als das Ultimatum dar, welches Preußen dem
Reich bietet. Vou allen Seiten durch lächerliche Intriguen gehemmt, von eben
so lächerlichen Schmähungen überhäuft, habe Preußen allein die Sache Deutsch¬
lands zu der seinigen gemacht; Preußen bedürfe Deutschlands nicht, es bleibe, auch
wenn jener Entwurf uicht in Ausführung kommen sollte, immer eine Großmacht,
und werde, gestützt auf sein tapferes Heer, selbstständig seinen Weg gehen, wenn
Deutschland es im Stich ließe. Der alte Bund, d. h. die Abhängigkeit von Oestreich,
sei zerrissen und dürfe nie wieder erneuert werde».
Wir müssen in dieser Sprache das Crasse im Ausdrucke von dem wesentlichen
Inhalt sondern. Daß wir Preußen einmal des fortwährenden Gebells unserer
deutschen Brüder müde werden und ihnen die Zähne weisen, ist ganz in der Ort^
mung; unter solchen Angriffen wird auch der schlichteste, solideste Mann gelegent¬
lich zum Renommisten. Wir haben uns dem fortwährenden Hohn vom Süden
und Westen gegenüber stets so bescheiden benommen, daß man es uns nicht ver¬
übeln kann, wenn das fortwährend gekränkte Selbstgefühl einmal überquillt.
Wenn Konservative und Radikale darin einig sind, uus zuzurufen: wir wollen
mit euch preußischen Verräthern nichts zu thun haben, wir wollen keine Hohen-
zollern und keine Berliner, so bleibt doch nichts übrig, als schließlich zu sagen:
gut! bleibt für euch, oder alliirt euch mit den Kaiscrthronen in Wien und Se.
Petersburg, aber hütet euch, uus in den Weg zu kommen!
Allerdings besteht eine Partei in Deutschland, und gerade unter den Ge¬
bildeten ist ihre Zahl nicht unbedeutend, welche, nicht aus Vorliebe für Preußen,
sondern aus Einsicht in die historische Nothwendigkeit, nur mit Preußen den Bau
des neuen Dentschland begründen will. Das Programm von Gotha ist ihr Aus¬
druck. Aber diese Partei steht in gar keinem Verhältniß zu den lieben Gro߬
deutschen, d. h. zu denjenigen, die Alles, Republik, Communismus, absolute
Monarchie, russische oder französische Herrschaft für den Nothfall annehmen wollen,
wenn nur Preußen dadurch uuter die Füße kommt.
Diese Partei hat in Preußen selbst ihre Verbündeten: die Demokraten und
die Schwarzweißen! Die letzteren hassen das wirkliche Preußen, das altenfritzische,
aufgeklärte, liberale, gerade eben so, als die Herren Schlosse! und Schmerling.
Die schwarzrothgoldnen Farben, die sie beschimpfen, sind ihnen der Ausdruck der
Freiheit, der Freiheit, ohne die ein wirkliches Preußen undenkbar ist. Die Her¬
ren Stahl, Bethmann-Hollweg, Gerlach — diese ganze unreine Sippschaft, wel¬
chen seit 184V Preußens Schmach zugeschrieben werden muß, sie haben es offen
ausgesprochen, daß sie Preußen nnr im Bunde mit Oestreich, d. h. in der Ab¬
hängigkeit von dem Metternich'schen Stabilitätsprincip gelten lassen wollen.
Nicht Oestreich befehden wir, nicht einmal seine Negierung. Wenn das Mi¬
nisterium Schwarzenberg sein Programm realisirt, wenn es den Staat zu der
neuen Macht umgeschaffen hätte, welche mit dem alten Siegesrnhm des Hauses
Oestreich den schöneren Ruf verbunden hätte, als Culturstaat der Barbarei des
Ostens entgegen zu treten, so hätte es keine leidenschaftlicheren Anhänger gehabt,
als uns, selbst wenn sein Constitutionalismus nicht gerade nacb der Schnur ge¬
gangen wäre. Wir sind von der Nothwendigkeit eines großen, mächtigen Oestreich
für die Entwicklung der europäischen Freiheit und Bildung auf'S Innigste durch¬
drungen, wenn wir anch von Tage zu Tage mehr an seiner Möglichkeit verzwei¬
feln. Aber das alte, Metternich'sche Oestreich, dessen einzige Aufgabe darin be¬
stand, jeden Versuch einer freien Kraftentwicklung in seinem Staat, wie in allen
benachbarten zu unterdrücke», dieses Oestreich hassen wir, und seine großdeutschcu
Trabanten — wir haben keinen Ausdruck für die Empfindung, die wir gegen
sie hegen.
Der bestimmte Ausdruck dieses Metternich'schen Einflusses war der deutsche
Bund. Zwei Adler, aneinander gebunden, sind ohne Kraft, ohne Willen. Löst
das Band, und sie schwingen sich in die Luft! Der unglückselige Gedanke, durch
ein souveränes Parlament dieses Band zu übergolden, muß auf immer aufgegeben
werden, und wenn uns von der Revolution des vorigen Jahres keine andere
Frucht bleibt, als die Lösung dieser Kette, die Freiheit Oestreichs, die Freiheit
Preußens, ihre Constituirung als wirkliche, unabhängige Staaten, so können wir
das weitere der Zeit überlassen, der Gewinn ist reich genng.
In diesem Sinne spricht Camphausen das Programm der Partei aus, deren
Bildung wir in diesen Kammern voraushaben. Tragt sie über die Unschlüssigkeit
der Regierung, über den bösen Willen der sogenannten Schwarzweißen den Sieg
davon, so dürfen wir an der Zukunft eines freien deutschen Reiches nicht ver¬
zweifeln.
Der Monarch ist geheiligt, unverantwortlich, unverletzlich.
Wir erkennen dieses Schiboleth vollständig an, und gestehen dies in dem Mo¬
mente, wo wir darangehen, gerade über die Person des jetzigen östreichischen
Monarchen eine Ansicht abzugeben. Zur eigenen Verwahrung glauben wir noch
ein anderes Bekenntniß voranschicken zu müssen. Wir sind, trotz aller Demokratie
in Gedanken und Gefühlen, vollkommen monarchisch gesinnt — sür Oestreich; ja
wir sind dynastisch gesinnt — für Habsburg - Lothringen. Als ganz unpraktisch
werfen wir deu theoretischen Streit über Monarchie und Republik sür Oestreich
in den Ofenwinkel, wo die Phantasten träumen; dieser Staatencvmplex hat nur
in den vereinten Kronen seinen festen Halt, und die Vereinigung der Kronen ist
ein Glück für die kleinen Völkerschaften, die sich an der Donau zusammenfanden.
Selbst die wackern Magyaren erliegen den Fäusten der nachbarlichen Nationalitä¬
ten, wenn nicht die Krone sie schirmt; ja sie konnten eine Jnsurrection erst dann
versuchen, als die Krone auf dem Haupte eines zu schwachen Königs saß und die
Ccntralregierung durch Fehler nud Verbrechen die liberale Fraction des Gesammt-
staates zu ihrer Genossenschaft trieb. DaS Treiben der Czechen, der Kroaten,
der Serben, der Slovenen, der Ruthcnen, der Romanen ,'c. ist ein kleinliches,
und von der geringsten Bedeutung, sobald die Centralgewalt geordnet ist-; nur
unter dem Schirm des Kaisers vermögen sie in der autonomen Provinz das
Scepter zu führen, sie bleiben aber ein Bruchtheil deö Staates. Hätte Kaiser
Ferdinand das Vorhaben der Kroaten mißbilligt, so läge Jellachich jetzt im Kerker,
statt Louis Bathiany dem ungarischen Premier; die Grenzer und Serben und
Kroaten hätten keine Revolution gegen die Wiener Regierung durchgeführt. Alle
diese Nationen sind ohnmächtig, denn sie sind an Zahl zu gering; deshalb con-
centrirten sich auch ti! slavischen Stämme, obwohl manche sich spinnefeind gegen¬
über stehen, als Panslaven, blauweißroth. Oestreich hat nur drei wichtige nationale
Factoren: die Polen, die Italiener und die Deutschen. Alle übrigen ringen erst
nach Bedeutung, und streiten deshalb unter dem schwarzgelben Banner des Kai¬
serstaates, das sie, als Gegner, sogleich zu Boden werfen würde. Alle slavischen
Stämme (die Polen aus .lndern Grunde) wissen dies gar wohl, und ihre Wort¬
führer, die oft mit Dreschflegeln schreiben, stimmten deshalb — für Oestreich! für
Erhaltung des Gesammtstaates! für die Monarchie!
Wir sind dynastisch gesinnt, aber wahrlich nicht aus dem Grunde, well
wir die Habsburger lieben und schätzen. Wir kennen die Negentengcschichte die¬
ser Familie gar wohl, und wissen nur den ritterlichen Max I., die bürgerliche
Maria Theresia, den freisinnigen Despoten Joseph und den gütigen Ferdinand
als Glanzpunkte hervorzuheben. Allein die Dynastie ist der unverrückbare Felsen
für den Staat; in einen bodenlosen Abgrund verfielen diese Länder, wäre ein
Streit über die Thron^ und Erbfolge möglich. Karl VI. brachte so große Opfer
wegen der pragmatischen Sanction, die leider von seinem Urururenkel zerrissen
wird; sie sollte als ein Palladium heilig gehalten werden.
Nach dieser Darlegung erst gehen wir an die Besprechung des neunzehnjäh¬
rigen Kaisers von Oestreich.
Der Großvater, Kaiser Franz, hatte keinen Einfluß mehr ans die Erziehung
dieses Prinzen; sie wurde ganz von seiner Mutter, der baierschen Prinzessin Sophie
geleitet. Diese wählte den Grafen Bombellcs zum Ajo, und unter dessen Ober¬
aufsicht wuchs Franz Joseph Hera». Bombelles ist ein Jesnitcnfrennd, ein Freund
Jarle's und Konsorten. Graf Coronini hatte die militärische Ausbildung über sich.
Der junge fleißige Prinz, dessen Unterrichtsstunden die Mutter fast immer
beiwohnte, entwickelte ein sprachliches Talent, und wußte bald in den vorzüglich¬
sten Idiomen des Kaiserstaates zu sprechen. Kammerherren der verschiedenen Na¬
tionen gewährten größere Uebung. Allein den militärischen Studien wurde bald
die meiste Vorblicbe gewidmet, und die Uniform war der liebste Nock.
Der kaiserliche Hof, so einfach er lebte, hüllte sich immer in ein undruchdring-
liches Geheimniß; die höchst und niedrigst Angestellten waren zum Schweigen ver¬
halten, und die unzählige Masse Vertrauter hielt ihnen den Mund verschlossen,
so daß selbst die nächsten Augehörigen der Bediensteten nichts über die allerhöch¬
sten Herrschaften erfuhren. Der muthmaßliche Thronerbe Franz Joseph (da Fer¬
dinand keine Kinder hat) trat zuerst in Ungarn in die Öffentlichkeit; er instal-
lirte den Prinzen Stephan als Obergcspan des Pesther Cvmitats, wobei er sich
der magyarischen Sprache bediente und den größten Fanatismus darob hervorrief.
Auch bei der Eröffnung des ungarischen Reichstags in Preßburg 1847 erschien
er, immer in Husarennuiform, an der Seite feines kaiserlichen Oheims.
Bei Beginn der Revolution hielt die Erzherzogin Sophie ihre Kinder immer
um sich; aber im Sommer 1848 eilten sie zu Radetzky, in der Umgebung des
greisen Marschalls den Krieg mitzumachen. Hierauf kamen sie zu den nach Inn-
spruck geflüchteten Eltern, und fuhren mit demselben nach Wien zurück.
Ein einziges Mal erschien Franz Joseph in der kaiserlichen Loge des Neichs-
saals während der Sitzung; nicht einer der Deputirten wollte es bemerken, keine
Zunge rührte sich, keine Hand bewegte sich, und unbeachtet wie er kam, ging er
kurz vor dem Schlüsse der Sitzung wieder weg. Drei Monate darnach bestieg er
den Kaiserthron, und die Ncichstagabgcordueten erschienen vor den Stufen desselben.
Franz Joseph ist schlank gewachsen, mittler Statur. Das Gesicht ist ganz
habsbnrgisch. Der Kopf groß, die Unterlippe hängend, der Mund meist offen, die
Nase lang. Ein trefflicher Reiter.
Zerrüttet und zerrissen war das Reich als der achtzehnjährige Prinz sich, von
Gottes Gnaden, die Krone aufsetzte; die Residenz mit dem Schwerte erobert, in Un¬
garn eine mächtige Revolution, in Italien ein Volk und ein König als Feinde, Frank¬
furt mit volkssouveränen Ansprüchen ^c. Der zurücktretende Kaiser führte seinem
Neffen die Generäle Windischgrätz und Jellachich als Stützen des Thrones zu,
und Minister Fürst Schwarzenberg wurde Rathgeber> Vertrauter und Freund des
unerfahrenen Monarchen. Kein Act der Gnade, keine Amnestie, kein linderndes
Wort wurde den, nnter die Militärherrschaft gestellten Ländern beim Thronbestei-
geu verkündet; das Blutgericht begnadigte zu — Pulver und Blei. Der Depu¬
tation des Reichstags antwortete der Kaiser, die angelernten Worte vergessend,
abgebrochen, kalt und steif; er sah Niemand mehr von dieser Versammlung.
Deputationen aus allen Gegenden des Reichs eilten nach Olmütz; sie wur¬
den in förmlicher Etiquette empfangen »ut entlasse», keine erhielt eine bindende
oder aufklärende Zusage. Von der Beschäftigung des jungen Kaisers wurde uur
der mehrmalige Besuch in den Kasernen bekannt, um die Accnratcsse des Militärs
zu erproben. Ein trengebliebenes ungarisches Regiment wurde iuspicirt, bei
welcher Gelegenheit einige ungarisch gesprochenen Worte den Jubel der Soldaten
erregten.
Nach anfgelösteni Reichstag und dem Siege über Victor Eumnuel erschien
plötzlich der Kaiser in der Residenz, wie man wiederholt, gegen den Willen der
Minister. Windischgrätz war ab - und die russische Hilfe herbeigerufen. Um den
Zwistigkeiten zwischen den beiden Heerführern vvrznbcnge», übernahm der Kaiser
selbst das Armeeoberkommando, und begab sich uach Preßburg, und später nach
Raab. Neigung zum .Kriegswesen zeigte er mit persönlichem Muthe vereint, aber
Vorstellungen wie es nicht geziemend sei, daß ein Fürst gegen seine eigenen Un¬
terthanen die Soldaten führe, und die Besorgniß der Eltern hielten den Kaiser
von weiterer Theilnahme am Krieg ab. Er reiste zum Czar, der seine Armee
persönlich auf östreichisches Gebiet führte.
Noch sind es nicht volle 9 Monate, seit Franz Joseph den Thron bestieg;
aber die Zeit ist reich an Geschichte und Thatsachen, die nicht spurlos an Kopf
und Herz des heute (18. August) in's 1!>. Lebensjahr tretenden Kaisers vorüber¬
gehen konnten. Wortkarg und verschlossen ist er, und doch läßt die ereiguißreiche Zeit ihre
Wirkung in Blick und Miene erkennen. Der Kaiser sieht gedrückt ans, es zeigt
sich wenig Frische in seinem Benehmen, nur, wenn er zu Pferde sitzt, macht er
einen gefälligen Eindruck. Bei der Frohnlcichnamsprocession ging er steif hinter
dem Baldachin, die Kerze in der Hand genirte ihn, und nur unbewußt streiften
die Blicke in die Höhe zu den Frauen besetzten Fenstern. Bei Audienzen ist er
verlegen, die Zunge stockt, die Hand sucht bald dort bald da eine Beschäftigung.
Im Theater reichen die verschlungenen Finger über die Brüstung der Loge, der
Oberkörper lehnt sich auf die gestützten Ellenbogen. Nur selten gebraucht er den
Operngucker, während der jüngere Bruder das Lorgnon kaum von, Auge rückt.
Er nimmt lebhast Interesse am Schauspiel, und conversirt fleißig darüber mit der
danebensitzenden Mutter.
Sollte dieser Jüngling schon ein so verkrustet und versteinert Herz haben, daß
er Gnade verweigert? Man hoffte, daß das Geburtsfest zur Verkündigung einer
Amnestie werde benutzt werden; allein offiziell widersprach man diesem Gerüchte,
„es entbehre jeder Begründung." Nein, und wenn Franz Joseph wirklich den Fer¬
dinanden gleichen sollte, so hat doch diese Strenge ihren Grund mehr in Mißtraun ge¬
gen sein eigenes Gefühl als in kalter Berechnung. Das Ministerium, und vor Allen
Schwarzenberg machen den jugendlichen Kaiser glauben, er dürfe dem Henker nicht in
den Arm fallen, und der soldatisch erzogene Prinz fügt sich dem Rathe der Fürsten.
Das Volk von Oestreich, welche Zunge es auch spricht, steht fremd und ferne dem
Kaiser, der zur Befestigung seines Thrones so viel aufbietet, aber dem Reiche
keine andere Gewähr für eine constitutionelle Entwicklung bietet, als seinen Wil¬
len, während die Minister daneben die Zusagen seines Vorgängers, und die be-
schworenen Verträge mit Ungarn brechen.
Selbst die Minister sind bereits durch eine andere Adelsfraction überflügelt,
denn ihr Rath wird erst genehmigt, wenn daS Cabinet des Kaisers es billigt!!
Der Kaiser hat ein eigenes Cabinet, nnter dem Anschein, die militärischen Ange¬
legenheiten zu leiten; allein wir erinnern uns der traurigen Zeiten, wo General¬
adjutanten die Negierung führten! Sollten diese wiederkehren? — Die Minister
wenigstens rühmen sich, daß nur ihre Kraft ein solches Regiment verhindere, wel¬
ches sicher nach ihnen käme.
Der Stern Habsburgs beleuchtet auch diesen Kaiser, dem zum Angebinde
der Friede Mit Sardinien und die Bezwingung der ungarischen Erhebung, da
Görgey unbegreiflicherweise mit 30,000 Mann bei Arad die Waffen streckte, dar¬
gebracht wird. Der Courier muß nach Ischl eilen, wohin der Monarch fuhr, um
den Geburtstag nicht in der Residenz, sondern bei seinen Eltern und Onkeln zu¬
zubringen. Die Angabe wegen eines Eheprojectes ist voreilig. Man denkt noch
nicht an ein Hauswesen, sondern mehr an gute Cigarren, die der Kaiser gerne
raucht.
Nach dem Berichteten resumiren wir, daß die Macht Oestreichs unter diesem
Kaiser eher wachsen als abnehmen wird, den Völkern werden Rechte und Freihei-
ten gestattet werden, aber mit der Bedingung der Suspension und Zurückziehung.
Die Constitution wird nur eine Form bleiben, und das Militär zum stets be¬
reiten Schutz dagegen den ersten Platz am Throne behalten. Oestreich kann größer,
stärker, reicher unter diesem Kaiser werden; aber--
Wir vergessen, daß der Kaiser eben erst 19 Jahre alt wird. Der Mann
kaun die Prophezeihungen über den Jüngling zu Nichte machen. Die Zeiten' sind
lehrreich und die Erfahrung ändert den Menschen. Der Prinz hat die jesuitische
Richtung überwunden, vielleicht überwindet er noch die Neigung zum Militär und
S. T.
Kossuth tritt die Diktatur an Görgey ab, Görgey aber ergibt sich den Tag
darauf mit seinem ganzen Heer den Oestreichern und sendet Befehle an alle Corps-
suhrer dasselbe zu thun, Arad öffnet seine Thore und das schiefe Krenz der un¬
garischen Krone fällt zerbrochen unter die Fänge des kaiserlichen Adlers. — Das
Alles klingt wie eine tolle lügenhafte Erfindung, und Vieles in uns sträubt sich
noch 'immer zu glauben, was doch nicht mehr zu bezweifeln ist. Wie eine schauer¬
liche Sage, die wir nur halb verstehen und deren Räthsel doch unsere ganze Seele
fesselt, zog dieser ganze ungarische Kampf des letzten Jahres in unser Ohr; räth¬
selhaft und wie eine finstere Sage klingt uus auch sein hereinbrechendes Ende.
Es steht unseren Zeitungen nicht gut an, daß sie jetzt auf einmal so kühl
und weise werden und so wohlwollend für die östreichische Regierung: sie haben
die Ungarn wohl geachtet, aber doch nie verkannt, daß —; sie haben zwar Ge¬
fühl gehabt, für den Heldenmut!) dieses interessanten Stammes, aber ihr Herz
war natürlich doch — Nein, so fühlte man nicht in Deutschland, so empfinden
in Wahrheit auch nicht die Besseren, welche für die Tagespresse schreiben. Unser
Herz war ganz bei den Ungarn, seit diesem Frühjahr, seit der russischen
Allianz waren die Ungarn unsere Freunde und Bundesgenossen geworden. Grade
jetzt, wo sie darniederliegen, soll die Presse das frei bekennen und sich nicht schä¬
men. Wir waren nicht so weise, ein solches Ende des Krieges vorauszusehn, wir
waren nicht so unmännlich, es zu hoffe». Und grade jetzt, wo unsere loyalen
Freunde in Oestreich sich in Siegesfreude berauschen, wollen wir ihnen ehrlich
heraussagen, wir können uns nicht freuen, wir trauern, daß es so gekommen ist.
Und es kümmert uns wenig, ob sie uns deshalb zürnen. Damals als die Un-
garn im Vortheil waren, haben wir nicht gejubelt, sondern an die Pflichten Deutsch¬
lands gegen Oestreich gedacht, dadurch haben wir das Recht erlaugt, jetzt zu
klagen.
Wie kommt es doch, daß die letzten Nachrichten aus den Schlachtfeldern der
Theiß wie eine Trauerkunde durch ganz Deutschland zogen? Und die Männer, welche
trauern, sind nicht nur die „Demokraten" des vorigen Herbstes, welche in Kossuth
einen Helden verloren haben. — Die liberale Fraktion der Ungarn, welche Kossuth
führte, hatte mit der knabenhaften Politik der deutschen Radikalen sehr wenig ge¬
mein; sie war eine staatsmäunisch berechtigte Partei vou Patrioten, die ihren
Tendenzen und Forderungen nach ungefähr mit den Centren der vorjährigen
Nationalversammlung Schritt hielt, und selbst einer Linken gegenüberstand, die
sehr jung, sehr enthusiastisch, sehr entschieden war, aber ihrerseits auch noch sehr
dagegen protestiren würde, mit der ehemaligen Linken in Frankfurt zusammenge¬
worfen zu werden; wenigstens hat sie ihr Vaterland mehr geliebt, als sich selbst;
sie hat Kossuth nicht geliebt, aber sie hat ihn unterstützt und ist für ihn gefallen.
Wenn unsere conservativen Zeitungen den damals möglichen Sieg der Ungarn
als einen Sieg der Demokratie fürchteten, so zeigt das nur, wie wenig sie das
politische Detail Ungarns gekannt haben; Kossuth hatte nicht nöthig, in einem
Memorial an die Höfe sich gegen den Verdacht des Sanscnlvttismus zu verwah¬
ren; wer Ungarn kennt, weiß, daß dort eine „Herrschaft der Massen" vorläufig
ein Unding war, das Land ist seinen Interessen, seinen Sympathien, seiner Ge¬
schichte nach entschieden aristokratisch und wird es noch lange bleiben; Kossuth
repräsentirte selbst die Aristokratie des Geistes, welche sich in ihm gegen die Kaste
des ungarischen Adels auflehnte und zuletzt mit ihr vereinigte, das Volk verstän¬
dig zu regieren. Daß sich Alles aus Europa nach Ungarn zog, was revolutionäre
Gelüste hatte, edle Schwärmer und schlechte Subjekte, war sehr erklärlich und
eben so natürlich war es, daß die Ungarn diese rüstige Hilfe, — eine andere kam
ihnen nicht — für ihre Zwecke benutzten. Aber eben so gewiß ist, daß Polen
und Deutsche, ja selbst die Italiener mit den Ungarn sehr wenig zufrieden gewesen
wären, wenn es zur freundschaftlichen Abrechnung zwischen ihnen hätte'kommen
können.
Auch nicht die Feinde Oestreichs sind es allein, welche diesen Ausgang be¬
klagen. Wer besonnen urtheilt in Deutschland, muß das Leben und Gedeihen des
Kaiserstaats wünschen, trotz der russischen Allianz; er wird es wünschen, auch
wenn er es nicht mehr hoffen kann; aber dieses Ende des ungarischen Krieges
erscheint für die Zukunft des Kaiserstaats nur ein sehr zweifelhafter Gewinn. Die
Feldherrn haben gesiegt und der rohe Zwang des Krieges, nicht die Erkenntniß
des verständigen Vortheils von beiden Seiten; und Haynau heißt jetzt der Retter
Oestreichs. Eine solche Rettung ist nur Hilfe für deu Augenblick, hinter welcher
neue tödtliche Gefahren drohen: der grimmige Haß der Zerschlagenen, der Ueber-
muth der slavischen Bundesgenossen, die Despotie der Prätvrianer. Wir haben
uns mit der Hoffnung geschmeichelt, daß Oestreich die russische Hilfe als unzu¬
reichend und lästig erkennen und in dem Kriege selbst Veranlassung finden werde,
eine Versöhnung mit Ungarn auf friedlichem Wege zu suchen. Es ist nicht so
gekommen, Paskewitsch hat die Maschen des Netzes so gut gehalten, in denen das
ungarische Wild gefangen ist, daß Rußland einen Anspruch auf jede Art von
Dankbarkeit gewonnen hat. Das ist sehr schlimm, für Oestreich und Deutschland
ein großes Unglück.
Nein, was uns Alle mit den Ungarn befreundet, Viele von uns zu enthusia¬
stischen Verehrern ihrer Sache gemacht hat, war etwas ganz Anderes. Die that¬
kräftige Begeisterung einer ganzen Nation, welche mit Anspannung aller Kräfte
ein politisches Ideal zu realistren sucht, hat unsere Sympathie erzwungen; denn
sie verursacht die größten und imponirendsten Aeußerungen des Volkslebens, deren
das Menschengeschlecht fähig ist.
Jedesmal, so oft ein ganzes Volk mit Einigkeit und Ausdauer für eine
Idee kämpft und stirbt, so oft der Einzelne, auch der Kleine, der Schwache er¬
füllt und geadelt wird durch den politischen Idealismus seines Stammes, empfin¬
den wir freudig und gerührt aus allem Blutvergießen und allen Sünden einer
solchen Zeit die Majestät und Schönheit der Menschennatur und vermögen die
höchste Individualität dieser Erde, die Persönlichkeit einer Nation, als ein ge¬
schlossenes, imponirendes Ganze zu empfinden und zu bewundern. So oft ein ganzes
Volk sein Leben daran setzt, um seine Ideale lebendig zu machen, geht durch das
ganze Menschengeschlecht ein Zucker der Frende und Bewunderung und in der Ge¬
schichte werden solche Kämpfe zu glänzenden Episoden, auf welchen das Ange späterer
Geschlechter mit Ehrfurcht und Andacht ruht, wie der Blick eines wilden Häupt¬
lings auf der Stätte, wo einst Männerblut geflossen ist. — Ju der Schweiz, den
Niederlanden, in Tyrol und jetzt in Ungarn ist eine solche Geschichte aus dem Boden
des Landes gewachsen, und merkwürdig, alle vier sind Grenzländer des alten oder
neuen Oestreichs! dreimal haben Oestreich und die Habsburger gegen die Freiheit der
Völker gekämpft, zweimal haben sie das Spiel verloren; einmal hat die enthusiastische
Treue eines ehrlichen Volkes sür sie Blut vergossen, auch damals haben sie ver¬
loren. Und jetzt gewinnen sie in einem solchen Kampf, gerade jetzt, wo Alles, was
sie ihr Eigenthum nennen, in gefährliches Schwanken gekommen ist, jetzt, wo ihre
eigene Noth am größten war. Es ist aber das erste Mal, daß sie ihre Seele
einen Dämon verschrieben, um Glück zu haben auf der Erde.
Ungarn ist besiegt, so weit man aus der Ferne seinen Kampf beurtheile» kann.
Oestreich aber hat durch diesen Sieg eine große Pflicht übernommen, die Pflicht,
der ungarischen Nation an die Stelle seiner zertrümmerten Nationalität ein höheres
Glück zu schaffen: ein freies Leben in einem vernünftig organisirten Staat. —
Erfüllt es diese Aufgabe, so wird sein Kampf gegen Ungarn ein gerechter werden;
wo nicht, so wird die Niederlage Ungarns das Verderben für Oestreich sein.
Aus dem Kampf und der Leidenschaft der brennenden politischen Gegensätze
soll sich die Zukunft des Kaiserstaats entwickeln. Die Negierung ist bis jetzt Un¬
garn gegenüber eine Partei gewesen, welche neue Forderungen gestellt hat; die
Ungarn unter Kossuth standen beim Ausbruch des Krieges fest auf den staatlichen
Privilegien der magyarischen Nation, denn selbst die Erweiterung, welche sie den¬
selben in der letzten Zeit vor dem Kriege gegeben hatten, war durch die kaiser¬
liche Sanction legalisirt worden. Die kaiserliche Regierung war vom Standtpunkt
deS Rechts in der bedenklichen Lage, daß sie den bestehenden, durch Gesetz und
Verträge geweihten Zustand gegenüber einseitig ändern wollte, „im Interesse des
Gesammtstaats, sür die Vernunft eines modernen Staats." Ihr theoretisches Recht
war das Bedürfniß des Gesammtstaats, welches sie als ein höheres dem bestehen¬
den Gesetz gegenüberstellte. Es ist sür uns nie zweifelhaft gewesen, daß das Recht
der Regierung an sich besser war, als das Recht der Ungarn, obgleich eS diesem
gegenüber ein Unrecht sein mußte; eben so wie die Ablösung der Roboten, die
Aufhebung der Standesprivilegien ein Recht des modernen Staatslebens und -
gleich ein Unrecht gegen die Privilegirten ist.
Aber die Sache stellte sich anders, als die Regierung eclatante Beweise gab,
daß sie nicht den Willen oder die Einsicht habe, an die Stelle des gebrochenen
Magyarenrechts eine höhere politische Organisation zu setzen. Die octroyirte Ver¬
fassung ist für die Verhältnisse Ungarns entschieden unbrauchbar, nicht weil sie
die Sympathien des Volkes nie gewinnen wird, sondern weil sie bei den Bil-
dungsverhältnissen Ungarns an die Stelle eines sehr rohen und mangelhaften,
aber männlichen und freien Selbstregiments, nothwendig — selbst gegen den
Willen des Ministeriums — zu einer schlechten Beamtenherrschaft führen wird,
wie wir sie in den alten Provinzen beklagen. Diese Verfassung gab den Ungarn
ans einmal ein höheres Recht, als sie bis dahin hatten, die russische Hilfe that
das Uebrige.
Es ist unnütz, die Maßregeln der Vergangenheit zu tadeln. Aber Eins soll
gesagt werden. Damals, als Wien gefallen war und Stadion die Regierung
übernahm , war es der Regierung noch möglich, ohne Todeskampf den Stolz der
Magyaren zu bewältigen. Hätten Stadion, der Graf, und Schwarzenberg, der
Fürst, die Größe gehabt, gradezu und mündlich mit dem bürgerlichen Rebellen
Kossuth zu verhandeln, ihm ehrlich zu sagen, Beide wollen wir das Wohl der
Völker, Ungarn und Oestreich gehören politisch zusammen, sehen wir zu, wie wir
unsere Ueberzeugungen ausgleichen können, Ungarn muß sich uns fügen, wie wir
dem Recht Ungarns, hätte man damals so zu der Intelligenz des Landes gespro-
chen, mündlich, männlich und mit hoher Gesinnung; es wäre Anders gekommen.
Aber Kossuth war ein „frecher Parvenu". Die Aristokraten waren zu einseitig,
die französische Bildung des schwärmerischen Diktators für etwas anders, als für
einen Hochverrath zu erklären, und die Magyaren zu übermüthig, um den halben,
ungeschickten und zweideutigen Maßregeln des Ministeriums mehr als Verachtung
zu gönnen.
Es ist zur Krisis gekommen; wir gestehen, daß sie uns schmerzt.
Noch ist keine Zeit zum Siegesjubel für den loyalen Oestreicher, noch lassen
sich die Folgen von Görgey's Uebergabe in ihrer ganzen Ausdehnung gar nicht
übersehen, noch starren von allen Seite» die Klippen um das kecke Fahrzeug des
östreichischen Staats.
Wie sich der kolossale Bau retten will bei der Richtung, in welcher er segelt,
sehen wir auch jetzt noch nicht ab. Mehr aber als je thut ihm jetzt Eines Noth,
die große, gestaltende Kraft eines friedlichen Helden.
Die czechische Literatur, welche wie eine aufgeschossene Koralleninsel mitten
in dem Wogenschwall des deutschen Geistes liegt, hat durch ihre Lage und den
Weg ihrer Ausbildung einige Eigenthümlichkeiten erhalten, die nicht immer ein
Schmuck derselben sind. Erinnern Sie sich, daß die ganze czechische Literatur der
Gegenwart aus zwei Richtungen hervorging, ans den historischen, antiquarischen
und sprachlichen Studien der Gelehrten und aus den einfachen, aber frischen Lie¬
dern der czechischen Volksseele. Nach beiden Richtungen hat das deutsche Ausland
anregend gewirkt. Die grammatischen und literarhistorischen Studien seit Anfang
dieses Jahrhunderts, die Hagen, Grimm, Pertz u. s. w. haben einen wesentlichen
Einfluß aus den Styl, auf die Behandlung des Stoffes schon bei unseren ältern
Gelehrten gehabt, die romantische Passton der Gelehrten für das Volkslied, wel¬
ches man zuerst in Deutschland als eine naive Offenbarung der schöpferischen
Volkskraft auffaßte, hat auch bei uus die Gelehrten zuerst zu Herausgebern alter
Gedichte, dann zu Sammler» von Volksliedern und zuletzt selbst zu Poeten gemacht.
So geschah es, daß der größte Theil unsrer Literarhistoriker nicht damit zufrieden
war, die alten Schätze czechischer Poesie abgestäubt und lesbar gemacht zu haben,
sondern daß er auch den treuherzigen Entschluß faßte, die Poesie seines Stammes
wieder aufleben zu machen, dadurch daß er Neues zu dem Alten schuf. Sehr
viel Schlechtes ist dadurch in unsere Literatur gekommen, ja die ganze „gebildete"
Poesie unserer Czechen erhält dadurch etwas Unausstehliches. Es ist so viel
Fadeö, Gemachtes, Gestohlenes in diesen Gedichten, so wenig echte Kraft, solcher
Ueberfluß an Phrasen, an Pedanterien und gespreizter Unfähigkeit, daß einem
unbefangenen Leser all diese Epopöen, dialogisirten Dramen und Cyklen von Ro¬
manzen u. s. w. höchst widerlich werden. Diese ganze Gelehrtenpoeste wird ver¬
achtet und vergessen sein, bevor die jetzige Generation vergangen ist. — Von
unserem Volksliede und seinen Dichtern rede ich hier nicht, sie erhalten ein beson¬
deres Capitel.
Die Physiognomie unserer Gelehrten ist dnrch diese amtliche Beschäftigung
mit der Poeterei mehrfach bestimmt morden, im Allgemeinen können sie unter ihnen
zwei Klassen unterscheiden, den reinen Gelehrten und den Gelehrten mit schönen
Wallungen; ich gestehe, daß mir die Pedanterie der erstem viel lieber ist, als
die der zweiten. Hier ein Beispiel von diesem Gegensatz in zwei Männern.
In der Strahlensonnc der Polackyschen Autorität wärmen sich vor Allen seine
zwei Trabanten Wocel und Tönet, alle beide gewesene Reichötagsdeputirte der
slavischen Rechten. Herr Tönet ist nächst Palacky wohl der fleißigste und streb¬
samste böhmische Geschichtsforscher, dessen historische Schriften: seine kurze Ge¬
schichte Böhmens, seine Geschichte Prags, die allgemeine Weltgeschichte, die öst¬
reichische Staatengeschichte, alles jsehr wackere Sammelwerke in klarer, ruhiger
und glatter Darstellungsweise, sich eines sehr großen und wohlwollenden Leser¬
kreises erfreuen. Von dem Comitv zur 800jährigen Jubelfeier der Prager Uni¬
versität ward Tönet mit der Abfassung einer ausführlichen Geschichte dieser Hoch¬
schule betraut. Schade, daß mit Tonal's eisernem Fleiß und seiner großen Rou¬
tine nicht auch geistiger Scharfblick, originelle und tiefe Auffassung verbunden ist.
Er ist ein Mann in den dreißiger, Beamter am'Nationalmuseum, seine Persön¬
lichkeit hat so wenig Auffallendes, daß seine Beschreibung unseren Polizeibeamten
große Schwierigkeit mache» müßte, doch ist Hoffnung, daß er als loyaler, fried¬
licher und stabiler Herr fremde Späheraugen nie in die Verlegenheit setzen wird,
ihn aus seinem Signalement zu erkenne«. Der echte Repräsentant unserer natio¬
nalen Vielschreiber, leidet er an dem bitteren Fluch der Gewöhnlichkeit, welche
sein Wesen, sein Leben und seiue Schriften, wie ein Nebelschein umgibt. Man
läßt ihn immer gelten, achtet seine Thätigkeit und seine Leistungen so lange, bis
man irgendwo das Bessere hat. Ob solche Männer eine wirkliche Bereicherung
für die Wissenschaft sind? Vielleicht doch, aber sie wirken als Masse, der Einzelne
ist wie die Ameise ohne Bau ein unvollständiges Wesen.
Herr Wocel hat eine viel markirtere Persönlichkeit, mittelgroß, untersetzt, ein
Antlitz, das in Farbe und Zügen mongolischer Abstammung verdächtig wird, star¬
ren Schnurr- und Backenbart — auch eine MärzerrungensHaft! — Er bildet
einen offenbaren Gegensatz zu Tönet, dem stets verständigen und stets langweili¬
gen, er hat einen Tick auf das Phantastische, wenn es auch nicht gerade erhaben
ist, er schwärmt gern in großen Gefühlen, wenn sie ihm auch nicht immer gut
stehe«. Damals in den schönen Tagen des Slaveukongresses ließ der gute Herr
sich auch fortreißen, ein klein wenig den Renommisten zu spielen. Er trug einen
ganz fashionablen polnischen Schnurrock, hatte eine Pudelmütze über beide Ohren
gezogen, eine breite Schärpe wie eine Cholerabinde um den Leib gewunden, und
einen mächtigen Sarras umgeschnallt — jeder Zoll ein Tamerlan! — Wocel ist
Custus am Nationalmuseum zu Prag und Safarik's Nachfolger in der Redaction
des „e»8opis ceskelio an8eum," laut Michels Geschichte der ezechischen Literatur
zu Kuttenberg im Jahre 1803 geboren. Er gehört unter die bekanntesten, leider
aber nicht unter die besten Dichter seines Vaterlandes. Seine eigenen Freunde
haben ihm durch unmäßiges Lob sehr geschadet, namentlich die Partei der Zeit¬
schrift „Ost und West," welche zur nicht geringen Langeweile des Publikums Wo-
cel's vermeintliches Hauptwerk: „Labyrinth Slavy" (das Labyrinth des Ruhm's) zu
einem Drittheil in einer Uebersetzung vom Professor Wcnzig mitgetheilt hat. DaS
Gedicht ist eine verunglückte Nachahmung des Faust, sehr dürr, ohne Geist, ohne
Leben, dafür übervoll von unreifen Reflexionen. Besser schon sind ihm zwei Bände
Balladen, wovon der erste die Thaten der böhmischen Fürsten aus Przmysl's Stamm,
das zweite die Hussiten besingt, gelungen.
Ein dramatischer Versuch Wocel's „die Harfe", ein Trauerspiel, mißlang
gänzlich; glücklicher war er in der Novelle; sein novellistisches Bild: „der
alte Orebite" gehört unter seine besten Leistungen und ist ins Deutsche und Ma¬
gyarische übersetzt. In den letzten Jahren hat er sich auf das archäologische Feld
geworfen und da manches Verdienstliche gethan, obgleich ihm auch hier Tiefe und
der ästhetische Takt fehlt. Seine archäologischen Aufsätze sind in der von ihm ge¬
leiteten Museumszeitschrift zerstreut. Auch schrieb er ein sehr brauchbares Kompen¬
dium: Grundzüge der böhmischen Alterthumskunde.
Die preußische Negierung hat den beiden Kammern die Aktenstücke, welche
sich auf die seit der Auflösung der vorigen Kammer gepflogenen Unterhandlungen in
der deutschen Verfassungsfrage beziehn, vorgelegt, und sie dnrch eine Denkschrift,
so wie durch mündliche Erklärungen ihrer Commissarien näher erläutert. In der
ersten Kammer hat der Unterstaatssecretär im Departement der auswärtigen An¬
gelegenheiten, Grc.f Bülow, in der zweiten General v. Radowitz die Ansichten
der Regierung ausgesprochen. In Folge dieser Erklärungen hat zunächst die erste
Kammer (27. August) mit 96 : 14 Stimmen (die Stahl'sche Partei) den Antrag
Camphausen's zu dem ihrigen gemacht. Sie hat damit der Regierung die Voll¬
macht ertheilt, mit dem auf Grund des Entwurfes vom 26. Mai einzuberufenden
Bundesparlament ohne Zuziehung der preußischen Kammern die Reichsverfassung
zu vereinbaren.
Dieser Schritt, der von sehr großer Wichtigkeit wäre, wenn die Kammern
der übrigen deutschen Staaten, namentlich die von Sachsen und Hannover, ihm
nachfolgten, verliert durch die Erklärungen des Ministeriums freilich sehr an Be¬
deutung. Es nimmt ihn als eine Art Vertrauensvotum an, behält sich aber vor,
davon Gebrauch zu macheu oder nicht, je nach den Umständen. Ja es zeigt sich,
namentlich aus der Rede des Grafen Bülow, daß die Negierung auf den guten
Willen selbst ihrer nächsten Verbündeten nicht viel Vertrauen setzt, und daß sie
sich ganz bestimmt den Fall ausmalt, aus der ganzen Sache könne nichts werden.
Die Rechtfertigung der Regierung in Beziehung auf das, was sie gethan,
geht nach zwei Seiten hin. Einmal gegen die unitarische Partei, welche von ihr
die Annahme der Reichsverfassung, wie sie aus den Berathungen der deutschen
Nationalversammlung hervorgegangen war, gefordert hatte, sodann gegen die Le-
gitimisten, welche schon in dem preußischen Project eine mehr oder minder gewalt¬
same Alteration der bestehenden Rechtsverhältnisse erblicken.
Was das erste betrifft, so hält sich die Regierung in den allgemeinen Redens-
arten, die uns schon zur Genüge bekannt sind. Im Wesentlichen kommt sie darauf
hinaus, daß die Demokraten mit dem Frankfurter Project zufrieden waren, und
daß es also wohl nichts getaugt haben wird: eine Behauptung, die sowohl in
ihrer Basis als in ihrer Folgerung eine irrige ist.
Der einzige Grund, den Preußen für sein Verfahren anführen konnte, war
der, daß der neue Bundesstaat nur unter der Bedingung eines freiwilligen und
offenen Anerkenntnisses von Seiten seiner sämmtlichen Mitglieder zu einem wahren
Gedeihen hätte kommen können, und daß dieses durch eine schonende Form sowie
durch möglichste Mäßigung in den Opfern, die man von den Einzelnen für das
Wohl des Ganzen verlangte, erkauft werden mußte.
Dieser Grund wäre aber nur dann stichhaltig, wenn zweierlei nachgewiesen
wäre. Einmal, daß eine freiwillige Anerkenntniß der Verfassung vom 28. März
nicht zu erlangen gewesen sei; sodann, daß man dnrch die neue Form eine bessere
Grundlage gewonnen habe. Das erste ist freilich nachträglich nicht mehr zu er¬
weisen, allein es spricht dagegen die Erklärung der 28 Regierungen, denen Wür-
wnberg folgte, es spricht dagegen die Stimmung sämmtlicher Kammern. Das
letztere hat sich endlich durch die Aufschlüsse der Regierung selber am besten wie¬
derlegt: sie ist mit ihrer Diplomatie um keinen Schritt weiter gekommen, sie hat
sich mit dem Volk wie mit den Regierungen in einen nicht abzuleugnenden Con¬
flict gesetzt, ohne damit etwas gewonnen zu haben.
Allein geschehene Dinge sind nicht ungeschehen zu machen. Die Ablehnung
der Reichsverfassung war ein l-ut uecomnli, und es ist jetzt eine müssige Spielerei,
darüber nachzudenken, was hätte geschehen können, wenn sie nicht erfolgt wäre.
Nach der andern Seite hin dagegen müssen wir den preußischen Regierungen
überall Recht geben, und nur bedauern, daß sie in der Nachgiebigkeit gegen ihre
Gegner viel zu weit gegangen ist. Folgende Betrachtungen werden unsere Behaup¬
tung rechtfertigen.
Das Streben des deutschen Volkes im März des vorigen Jahres ging auf
die Verwandlung des bisherigen Staatenbundes in einen konstitutionellen Bundes¬
staat. In diesem Streben wußte nur eine Partei, was sie wollte: die republi¬
kanische; die gemäßigte Partei wußte es nicht.
Denn das Wesen eines constitutionellen Bundesstaats ist die einheitliche Re¬
gierung, welche die volle Souveränität nur mit der Volksvertretung theilt, der
sie verantwortlich ist. Dies war für Deutschland nur unter der Bedingung mög¬
lich, daß die außerdeutschen Provinzen von Oestreich getrennt und daß die Sou¬
veränität der einzelnen deutschen Staaten, Oestreich und Preußen mit eingeschlossen,
aufgehoben würde. Schon das Fortbestehen der Personalunion zwischen Ungarn
und Oestreich war eine Concession, die eigentlich das Wesen der Sache aufhob.
Es war im Wesentlichen einerlei, ob man die Negierung einem der bestehen¬
den Staaten oder einem neu zu bildenden Kaiserthum oder geradezu dem Paria-
neue übertrug; in allen diesen Fällen hätte die einheitliche Regierung mit Gewalt
die bestehenden Mächte unterwerfen, und sie geradezu vernichten müssen.
Die gleichzeitige Existenz Oestreichs und Preußens in einem Staate ist mit
einer einheitliche» Negierung unverträglich. Sie ist es aber auch mit einem
Direktorium, wenn dasselbe auch nur um einen Schritt über die blos völker¬
rechtlichen Beziehungen des alten Bundestags Hinausgehen sollte, denn das Direc-
torium hätte, Preußen gegenüber, nicht mehr Macht gehabt, als Oestreich allein,
und umgekehrt.
Sie ist ferner unverträglich mit einer Nationalrepräsentation:
denn eine Volksvertretung ohne eine entgegenstehende, ihr verantwortliche einheit¬
liche Negierung ist eine Absurdität. Dieser Satz kann nicht oft genug wiederholt
werden, eben weil er durch den souveränen Unverstand des vorigen Jahres fort¬
während verkannt ist: der Complex der 38 deutschen Monarchien kann nur in der
losen Form des Staatenbundes existiren. Nur bestimmte gleichartige Zwecke
können eine positive Thätigkeit desselben erzeugen: z.B. gemeinsame Abwehr eines
äußern Feindes, aber auch nur so lauge, als nicht der eine oder der andere
Staat es für nützlicher erachtet, mit dem Feinde zu contrahiren; ein Zollverein,
so lange sich dem einzelnen nicht günstigere Bündnisse darbieten u. s. w. Die
günstigsten Chancen hat noch ein Wechselcongreß, aus Sachverständigen zusammen¬
gesetzt.
Aus diesem bewußten oder unbewußten Gefühl von der Unmöglichkeit, Deutsch¬
land in einen Bundesstaat zu verwandeln, kam man auf einen andern Gedanken.
Man erlaube mir, denselben so kraß als möglich auszudrücken, weil man in der
liederlichen Phrasenwirthschaft unserer Tage starke Farben auftragen muß, wenn
man überhaupt verstanden sein will. Während man im Anfang Oestreich und
Preußen hatte zerschlagen wollen, um einen neuen aus lauter Kleinstaaten zusam¬
mengesetzten Föderativstaat hervorzubringen, nahm man, sobald man zu der Ein¬
sicht kam, daß beide Staaten doch auf zu festen Füßen ständen, die Wendung,
Oestreich und Preußen bestehen zu lassen, und die Kleinstaaten dadurch aus ihren
unpolitischen Wesen herauszutreiben, daß man sie dem einen oder dem andern
dieser Großstaaten einverleibte. Aus sehr begreifliche» Gründen zog man Preußen
vor, hauptsächlich seiner geographischen Lage wegen: weil es ein Staat ist, der
nothwendig ebenso der Ergänzung bedarf, als die kleinen Staaten, während Oest¬
reich dergestalt abgerundet ist, daß es eine bedeutende Ausdehnung gar uicht er¬
tragen würde. Außerdem führen die materiellen Interessen den größten Theil
Deutschlands — ich will uur Baiern aufnehmen, und auch dieses nur zum Theil -
dem Norden zu.
Freilich hat die Partei Gagern nicht gewagt, diesen Gedanken auszusprechen,
sie hat nicht einmal gewagt, ihn zu denken. Aber das ist doch der einzige ver-
unnötige Sinn ihrer Programms: Deutschland sollte preußisch, und dafür Preußen
deutsch werden, d. h., das specifische Preußenthum, das nur im Gegensatz zu
einer Reihe eifersüchtiger, mehr oder minder feindlich gesinnter Kleinstaaten be¬
stand, sollte mit der Aufhebung dieses Gegensatzes zugleich fallen.
Die preußische Negierung hat das Programm aufgenommen; ans der einen
Seite hat sie ihm einen schärferen Ausdruck gegeben, indem sie den preußischen
Kriegerstaat bestimmter als Mittelpunkt des neuen Ganzen hinstellte; auf der an¬
dern hat sie es abgeschwächt, indem sie der Gewalt der einzelnen Dynasten grö¬
ßern Spielraum ließ. Das erste war eigentlich nur ein Streit der Eitelkeit, das
zweite nur ein quantitativer Unterschied, der mit der Zeit sich aufheben mußte,
denn daß der Eintritt der kleinen Staaten in den constitutionellen Bundesstaat
der erste Schritt zum Aufgeben ihrer freilich nur chimärischen Souveränität ist, wird
wohl aller Welt einleuchten. Ich bemerke beiläufig, daß der augenblickliche Ein¬
tritt Baierns und Würtembergs in den neuen Bundesstaat mir weder nothwendig
noch selbst in allen Beziehungen wünschenswert!) erscheint.
Es ist den deutschen Dynasten und ihren nächsten Angehörigen nicht zu ver¬
denken, wenn sie sich gegen einen solchen Schritt sträuben, so lange es geht. Es
ist vom preußischen Cabinet ganz in der Ordnung, wenn man diesem Schritt die
mildesten Formen zu geben sucht. Vor allen Dingen ist die politische Nothwen¬
digkeit ins Auge zu fassen. Ueber kurz oder lang wird doch Preußen in irgend
einen Krieg verwickelt werden. Entweder lassen sich dann die kleinen Souveräne
ins Schlepptau nehmen, und dann ist ihre Lage um nichts gebessert, oder sie tre¬
ten auf Seite des Gegners, und dann werden sie von Preußen erobert. Es bleibt
freilich noch der Fall, daß Preußen selber untergeht; das ist möglich aber nicht
wahrscheinlich, und auch dann ist die Lage Kleindentschlands keine beneidenswerthe.
Außerdem könnten die Fürsten aus den letzten Ereignissen wohl gelernt haben, daß
sie sich in dem eignen Lande ohne Preußen auf die Länge nicht behaupten werden.
Die Frage ist also nur, ob man mit Freiheit und Würde ein großes Opfer bringt,
das dem Ganzen wie dem Einzelnen förderlich ist, oder ob man es sich von der
Noth abdrängen läßt.
Ich komme jetzt auf das Verhältniß Oestreichs zu Preußen, dem eigentlichen
Knotenpunkt der Frage. Die der Kammer vorgelegten Actenstücke geben darüber
sehr interessante Aufschlüsse.
Oestreich hat in Beziehung ans Preußen ein doppeltes Interesse. Einmal
daß es enge mit ihm verbündet bleibt, sodann, daß Preußen nicht zu mäch¬
tig wird.
Ueber den ersten Punkt könnte jetzt freilich, da Oestreich dnrch seine letzten
großen Siege die alte Macht wieder gewonnen, ein Zweifel erhoben worden. Aber
das wäre eine Illusion. Der Sieg selber hat sein Bedenkliches, denn er macht
Oestreich von Rußland abhängig, und verwandelt den ganzen Staat eigentlich in
eine Reihe eroberter Provinzen, die unwillig dem siegreichen Joch sich beugen, so
lange sie uicht durch ein wirkliches Interesse an den Kaiserstaat gefesselt sind.
Außerdem concentrirt sich das wahre Interesse Oestreichs auf die slavischen Ost-
seeprovinzen und auf Italien. Auch die schlechteste Regierung wird das auf die
Länge nicht verkennen können. Die eigentlichen Gegner Oestreichs sind Frankreich
und Rußland. Um im Süden und Osten freies Spiel zu haben, bedarf es im
Norden einer mächtigen Hilfe. Diese kann ihm nur Preußen gewähren, um so
mehr, da seine Interessen in jenen Punkten nirgend collidiren. Eine enge, völker¬
rechtliche Allianz mit Preußen ist also für Oestreich eine politische Nothwendigkeit.
Zu dem Wunsche, Preußen nicht zu mächtig werdeu zu lassen, treibt es
ein doppelter Grund. Einmal die natürliche Eifersucht. Am liebsten möchte es
freilich die Hegemonie in Deutschland führen, wie in Italien und der türkischen
Grenze. Es hat dabei freilich mit einem diplomatisch sehr ungeübten Gegner zu
thun, aber auf die Länge wäre es doch ein gefährliches Spiel. Ich ehre die
ruhmreichen Waffen des alten Oestreich; aber die Klingen aus den Zeiten Fried¬
richs sind auch noch uicht geröstet, und Rußland ist eine zweideutige Stütze, die
eine veränderte Richtung der politischen Ereignisse leicht nach einer andern Seite
hintreiben kann. Außerdem kauu Oestreich sich der sehr einfachen Reflexion nicht
entziehen, daß man, wenn man nach allen Seiten hin complicirte und bedenkliche
Spekulationen treiben will, doch einmal nach seiner Tasche zu greifen hat. Spe-
culationen ohne allen Fonds haben keine Dauer.
Viel größer» Grund hat ein zweites Bedenken. Oestreich fürchtet in dem
cvnsolidirten preußischen Deutschland einen zu starken Magnet sür seine deutschen
Provinzen. Aber es kann die Nachbarschaft eines starken Preußen nur dadurch
vermeiden, daß es einem viel gefährlichern Nachbar seine Thür öffnet: der Revo¬
lution. Nur die Stärke Preußens verhütet die Wiederkehr der Scenen des vori¬
gen Jahres im westlichen Deutschland, und es bedarf nur eiues neuen Stoßes in
Frankreich, den man doch in keiner Weise berechnen kann, um eine neue Flamme
im Westen Oestreichs anzufachen, deren es sich schwerlich würde erwehren können.
Außerdem könnte ihm die Einsicht in die Nothwendigkeit seines Zusammenhangs,
vorausgesetzt, daß den vereinigten Staaten größere Garantien politischer Freiheit
geboten werden, was ich wenigstens durchaus nicht für unverträglich mit der Fort¬
dauer des Kaiserstaats halten kann, eine bessere Bürgschaft sein gegen den Abfall
seiner Provinzen, als das macchiavellistische Spiel mit Dentschland.
Die im Mai durch den General v. Canitz in Wien geführten Unterhand¬
lungen drehen sich nnn um folgenden Punkt. Preußen sagt: wir wollen die Re¬
volution allerdings unterdrücken, das können wir auf die Dauer aber nur so, daß.
wir den vernünftigen Wünschen des Volks in einem engern Bundesstaat Befriedi¬
gung verschaffen, der mit Oestreich in einer innigen, sogar durch gemeinsame Ge-
sandschaften vertretenen Allianz stehn soll. Deutschland durch ein gemeinsames
Directorium zu regieren, geht darum nicht, weil die Verschiedenheit der Inter¬
essen eine überall hin sicher austretende Regierung unmöglich macht.
Oestreich erwiedert darauf: Es kommt uns garnicht darauf an, für Deutsch¬
lands gemeinsame Interessen eine Regierung in der Form eines Directoriums zu
finden, das sind Dinge, über die man hinreichende Zeit hat, sich genauer zu
orientiren. Wir wollten das Directorium nur für einen bestimmten Zweck: Be¬
kämpfung der Revolution. 'In, diesem Punkt sind alle Interessen gemeinschaftlich,
und es ist daher eine Einheit sehr wohl zu erwarten. Ueber das Andere haben
wir noch gar kein Gutachten abgegeben, da man uns die Allianz mit einem Bun¬
desstaat vorschlägt, der noch gar nicht besteht, und dessen Existenz anch in der
Zukunft wenigstens sehr fraglich ist.
Das ist der Refrain aller Unterhandlungen. Betrachten wir nun die Erklä¬
rungen der preußischen Minister.
Nachdem Graf Bülow als das wesentliche Kriterium des Bundesstaats
die einheitliche Leitung und die gemeinsame Volksvertretung auseinandergesetzt,
fährt er fort: „diese Forderung wird nicht erfüllt, so lange zwei Großmächte in
dem neu zu gründenden Verein nebeneinander dastehen sollen. Weder Preußen
noch Oestreich können ihre Diplomatie, ihre Heeresmacht, ihre europäische
Stellung aufgeben und sie in eine Gesammtheit hineinwerfen, aus welcher sie nur
einen pro i-ten Antheil herausbekommen würden. Jede dieser Mächte kann es nur
Meer der Bedingung, daß sie an die Spitze des Ganzen gestellt wird. Eine solche
Stellung allein kann ihr die Möglichkeit gewähren, auch serner in Gemeinschaft
mit dem Bundesstaate als dessen leitende Macht ihre Stellung als europäische
Großmacht geltend machen zu können, der sie nicht entsagen kann noch darf. Es
ist klar, daß keiner von beiden Staaten, wenn ihm nicht eine solche Ausgleichung
geboten wird, die Verfügung über sein Heer und seine Politik einem Kollegium
aller deutschen Fürsten abtreten, noch der andern Großmacht überlassen könnte.
Es gibt keine vermittelnde Lösung. — Die Regierung Oestreichs ist die einer
Monarchie, welche ihren Hanptschwerpuukt außerhalb Deutschland findet, sie hat
anßerdeutsche Interessen zu vertreten, und selbst bei dem redlichsten Willen würde
sie niemals im Stande sein, die oberste Gewalt in einem rein deutschen Interesse
auszuüben. — Ihre Provinzen sind ferner durch die Verfassung vom 4. März
dergestallt unauflöslich verbunden worden, daß die Zulässigkeit einer fremden ge¬
setzgebenden Gewalt im Bereiche dieses Staatskörpers durchaus unmöglich gewor¬
den ist. — Kann nun Oestreich an die Spitze des neu zu bildenden Bundesstaats
nicht berufen werden, so folgt daraus, daß nur Preußen diese Stelle einzunehmen
hat. Es ist damit die Frage eng verknüpft: ob der Bundesstaat überhaupt zu
Stande kommen kann. Die Frage der preußischen Vorstandschaft fällt lediglich
zusammen mit der Frage: ob überhaupt ein Bundesstaat geschaffen werden kann
oder nicht. Hier ist nur nothwendige Konsequenz, keine freie Wahl. — Baiern
verlangt eine vollständige Verlegung der ganzen Executiv- und Legislativ-Gewalt
in das ganze Fürstencollegium. Dies heißt nichts anderes, als die einheitliche
Spitze in einen verengerten Bundestag umwandeln. Auf Forderungen dieser Art
kann Preußen nicht eingehen. Nichts kann es bewegen, seine Selbstständigkeit,
seine europäische Stellung, aufzugeben, um eine Institution zu begründen, von der
man nicht einmal die Ueberzeugung haben könnte, daß durch sie die Macht und
Einheit Deutschlands gefährdet werden würde. Will man in Deutschland den Bun^
desstaat wirklich, so kann man ihn nur haben mit der Vorstandschasr Preußens, wo
nicht — nicht! (Bravo.) — Es hat sich der Negierung die Ueberzeugung auf¬
drängen müssen, daß es uicht möglich sei, deu Zustand der Ungewißheit in der
Krisis, in welcher die deutsche Angelegenheit gegenwärtig befangen und unsere
Interessen mit befangen sind, länger sich hinziehen zu lassen. Sie wird daher die
Frage stellen müssen: Entweder — Oder! (Bravo.) — Sollte der Fall eintreten,
daß ihre Verbündeten nicht gleich ihr entschlossen blieben, den betretenen Weg aus¬
harrend bis zum Ende zu verfolgen, so würde sie sich die Frage stellen müssen,
ob sie nicht die Sorge für die nächsten politischen und materiellen Interessen Preu¬
ßens dem Erstreben eines Ziels voranzustellen haben, welches ohne ihre Schuld
etwa von Neuem in eine ungewisse Form gerückt und welches von heute die Ge¬
stalt eines unlösbaren Problems annehmen würde. — Es bliebe dann Preußen
nur die Rückkehr zum Princip des Staatenbundes übrig. Es liegt nichts zwischen
beiden in der Mitte, und es ist wichtig, daß dies anerkannt, daß dies laut und offen
ausgesprochen werde.
Die Rede des Herrn v. Radowitz hat überall größern Beifall gefunden.
Sie ist geistreicher, feiner, diplomatischer; sie besticht, indem sie die Erbärmlich¬
keit des alten Bundestages offen an den Tag legt, was freilich sür einen alten
Faiseur der Bnndestagsregierung heroisch genug ist, indem sie mit Wärme dem
Nationalgefühl das Wort redet. Aber ich finde nicht, daß sie bestimmter ist.
Denn auch der folgende Passus: „Die Einsetzung einer neuen provisorischen Be¬
hörde zur Verwaltung der Geschäfte des Bundes von 1815 ist jedenfalls noth¬
wendig , und die Regierung hat sich bereit erklärt, über deren zweckmäßigste Ein-
richtung sich mit den andern deutschen Regierungen zu verständigen," enthält keine
bestimmte Anschauung.
Deutlicher würde folgende Stelle fein. „Preußen hat die größten Gefahren
bewältigt u. f. w., als es allein stand, es wird es ferner vermögen, wenn der
deutsche Bundesstaat nicht gelänge, nach dem wir mit allen Kräften ringen werden,
die uns zu Gebote stehen, sei es im Verein mit allen deutschen Staaten, oder
mit vielen, oder mit wenigen!"
Aber es ist doch eine Lücke darin. Wenn die Regierung zu dem letzteren,
d. h. zum Abschluß des Bundesstaats, so viel oder so wenig Mitglieder sich fin¬
den mögen, wirklich entschlossen ist, was hindert sie daran, sofort an die Aus¬
führung des Werkes zu gehen, da außer Sachsen, Hannover und Baden noch 17
andere Regierungen das Bündniß ratistcirt haben, und von den übrigen ein
großer Theil sich bereit erklärt hat?
Sollte durch die Vereinigung einer Anzahl von Staaten, möge dieselbe im
Verhältniß zu den übrigbleibenden auch uoch so gering sein, ein reales Verwach'
sen sämmtlicher Interessen ermöglicht werden, sollte, setzen wir von unserm Stand¬
punkt hinzu, dadurch der constitutionelle Geist und die nationale Tendenz Preu¬
ßens gekräftigt werden, so ist in dem, was die Negierung angegeben hat, kein
Grund vorhanden, warum der Bundesstaat nicht zu Stande kommen soll; es ist
ferner, sobald nur das constitutionelle Leben des Vororts über den bloßen Schein
hinausgeht, die sichere Aussicht vorhanden, daß dieser Bundesstaat sich in kurzer
Zeit über ganz Deutschland ausbreitet.
Nur Eines kann ihn hindern — die blasse Furcht, und die gegenwärtigen
Machthaber in Preußen werden gerade vor diesem Vorwurf sich am meisten zu
scheuen habe», weil das Einzige, was sie noch in der Meinung hält, der krie¬
gerische Geist ist, den sie entwickelt haben.
Als Friedrich II. im Hubertsburger Frieden mit Schlesien dem Königreich Preußen
einen Flächenraum von 742 Quadratmeilen hinzugefügt hatte, war die Provinz von
wenig mehr als 1 Million Einwohner bewohnt; Handel und Gewerbe lagen danieder,
den Zustand des Landes beschreibt der Eroberer selbst als einen traurigen. Der größere
Grundbesitz befand sich in den Händen eines verschuldeten, heruntergekommenen Adels,
der vom fürstlichen Standesherrn bis zum Dorfjuuker herab sich viel von dem Wesen
des famosen Hans von Schweinichen und alle Abstufungen feudaler Titel bewahrt
hatte. Das kleinere oder bäuerliche Grundeigenthum war im lassitischen Besitz
eines von Spann- und Handdiensten und den mannigfaltigsten Gutsabgaben ge¬
drückten Bauernstandes. Zwar hatte das Hörigkeitsverhältniß bereits die mildere
Form der Erbunterthänigkeit angenommen und drückte wenig in den Händen eines
wohlwollenden Grundherren, aber es öffnete dem Geiz, der Brutalität, dem
übertriebenen Diensteifer herrschaftlicher Rentbeamter Thor und Thür zu tausend
Plackereien. Rittergüter mit einem Areal von Tausenden von Morgen hielten oft
nicht ein Zugthier, außer etwa zum persönlichen Gebrauch, denn der Bauer mußte
nicht nur das Feld bestellen, die Producte verfahren u. s. w., sondern er mußte
auch den Gerichtshalter, den Arzt, oder wen sonst die Geschäfte des Grundherrn
aufs Land riefen, herbeiholen; mit seinem Gespann die Straßen bessern, Vor¬
spann leisten und gelegentlich auch wohl die Frau Amtmännin in die Kirche oder
sonst wohin fahren, kurzum zu jeder mit Recht oder Unrecht geforderten Dienst¬
leistung bereit sein, wollte er sich nicht die Ungnade seines Grundherrn, oder
was oft noch gefährlicher, eines seiner Satalliten zuziehen.' Neben einem in der
Regel nicht sehr beträchtlichen Erb- oder Grundzins hatte der Bauer dabei die
verschiedenartigsten Naturalien an die Gutsherrschaft zu liefern, die in späterer
Zeit fast sämmtlich in Geldbeträge umgewandelt, uns ein ziemlich treues Bild
eines grundherrlichen Hausstandes geben. Da wurden Eier, Hühner, Gänse,
von Fleischern ganze Schweineschultern, von Krämern Kolonialwaaren und der¬
gleichen geliefert, da mußten die Müller Jagdhunde füttern, ja wohl gar Schweine
mästen und oft daneben noch sehr beträchtliche Mühlenzinsen entrichten, die weib¬
liche Einwohnerschaft aber hatte die Verpflichtung, den auf herrschaftlichen Grund
und Boden im Schweiße ihres Angesichts erbauten Flachs zu verspinnen, um der
gnädigen Herrschaft das Material für ihren Bedarf an Wäsche oder zur Ausstat¬
tung der „Fräuleins" zu liefern.
Trotz aller dieser für die Gutsherrn scheinbar so günstigen Verhältnisse brach¬
ten die Güter doch nur geringe Erträge, wie ihre damaligen Preise zeigen, theils
weil man es liebte, einen Schwarm von Müssiggängern im herrschaftlichen Haus¬
halt zu füttern, theils weil der passive Widerstand, welchen der träge und un¬
willige Roboter dem Gebot des Vogts oder Amtmanns entgegensetzte, keine andre
als eine vernachlässigte, düngcrarme Schlendrianswirthschaft gestattete, deren ge¬
ringe Erträge, neben Saat-, Futter- und Brolkvrn, zum Verkauf in der Regel
wenig übrig ließen. Mit diesem Feldbau hielt natürlich die Viehzucht gleichen
Schritt, war die Erndte schlecht, so verhungerte die halbe Heerde, ja selbst wohl
ein Theil der Einwohnerschaft.
Wie der Herr, so der Knecht! Von Kindheit auf an den Grundsatz gewöhnt,
in der Hofarbeit so wenig als nur immer möglich zu leisten, verwendete der
Arbeiter auch die Zeit, welche er für die eigne Wirthschaft übrig hatte, sehr schlecht.
Der Bauer — so nannte man vorzugsweise den Gespann haltenden Landmann —
sah der Rvßrobvt wegen gewöhnlich sein Grundstück mit der doppelten Gespann¬
zahl belastet, was den kümmerlichen Ertrag aufzehrte; und wenn seine Felder
sich vor den mit ihnen vermengt liegenden, in der Regel etwas breiteren Strei¬
fen der Herrschaft in Etwas auszeichneten, so war es durch noch größere Ver¬
nachlässigung. Der Gärtner aber, der zu Handarbeit verpflichtete Landmann, lebte
von dem Ertrage seines Erndteanthcils und den statt des Lohnes empfangenen Na¬
turalien; fiel die Hütte, in welcher er wohnte, zusammen, so mußte der Grund¬
herr wohl eine andre, wenn auch eben so schlechte bauen, wollte er der Hühner
und Eier, der Bedürfnisse seines Haushaltes nicht verlustig gehen.
Der neue Landesherr war nicht müßig, dem mit dem Schwerte eroberten
Lande Gesetze und Einrichtungen zu geben, welche die Wunden des Kriegs wieder
heilen sollten. A» die Stelle der unter der verschiedensten Benennung erhobnen,
und trotz aller Nevcrsalien, daß hierunter die Privilegien der schlesischen Stände
nickt leiden sollten, stets erhöhten landesherrliche» Abgabe», war eine einfache und
nicht übermäßige Grundsteuer getreten. Zinn Wiederaufbau abgebrannter Städte
hatte der König bedeutende Summen hergegeben, und nach den staatswirthschaft-
lichen Begriffen jener Zeit suchte man gewerbliche Industrie im Lande ans jede
Weise zu befördern, schützte sie durch Eingangszölle und Ausfuhrverbote und be¬
günstigte den Handel, der vorzugsweise in der Hauptstadt, und in einigen Theilen
des Gebirges seinen Sitz aufgeschlagen hatte.
Auch der Landbau wurde nicht vergessen. Für den geld- und kreditarmen
Adel wurde unter dem Namen der schlesischen Landschaft eine Kreditassociation er¬
richtet, die in raschem Fluge die Hälfte des adeligen Grundbesitzes mobilisirte.
Gewiß war das Mittel vortrefflich, aber seine Anwendung eine verderbliche. Man
war damals noch nicht zu der Einsicht gelangt, daß der Kredit nur in intelligenten
und gewerbfleißigen Händen neue Werthe schafft, und diese Hände fehlten. Der
Gutsbesitzer benutzte den Kredit zu immer neuen, größeren Erwerbungen, ohne
die landwirtschaftliche Industrie zu heben, die immer nach wie vor uoch in den
Banden des Robotwesens verkümmerte. So wuchs die Verschuldung, aber uicht
der Ertrag der Landgüter, obschon dieselben gleich einer Handelöwaare zu immer
höhern Preisen rasch aus einer Hand in die andre gingen, so daß von der alten
Patriarchalischen Einrichtung der Gutsherrlichkeit bald nichts mehr übrig blieb, als
die Last des Dienstzwanges, welche das Band feudaler Anhänglichkeit nicht mehr
wie früher milderte. — So faud uus im Jahr 1806 der Krieg mit Frankreich, so
die Nefornigesctze, welche ihm folgten.
Frei sollten der Grund und Boden und seine Bebauer werden, das verhieß
die preußische Agrar-Gesetzgebung in den Verordnungen vom !>. October 1807
und 14. September 18 it. Doch die Gerechtigkeit verlangte volle Entschädigung
der berechtigten Grundherren, und deutsche Gründlichkeit verfehlte nicht, das Ab¬
lösungsgeschäft so in die Länge zu ziehen, daß es bis heut, also nach 40 Jahren
noch nicht beendet werden konnte. Und andere Bedenken mischten sich herein, Viele
fürchteten, man habe dem Volke schon zu viel Freiheit gegeben, man müsse suchen,
die Zügel wieder etwas straffer anzuziehen, man könne das Verhältniß der Guts-
Herrlichkeit nicht vernichten, ohne deu Thron zu erschüttern, die Aristokratie sei
die Stütze der monarchischen Gewalt. In diesem Sinne suchte auch die provin-
zialstäudische Verfassung, welche man nach langem Zögern dem preußischen Volke
gönnte, die ländlichen Verhältnisse zu ordnen. Man spaltete die ländlichen In¬
teressen in zwei große aber ungleiche Theile: Ritter- und Bauernstand, zierte den
ersten mit Viril-, Cnrial- und Gott weiß noch was sonst für Stimmen, zu denen
der Reichthum an aristokratischen Titeln und Würden, dessen Schlesiens Adel sich
erfreute, eine vortreffliche Gelegenheit bot, und ließ den letztem dnrch 14 bäuer¬
liche Stimme» gegenüber der dreifachen Zahl der ritterlichen vertreten. Dadurch
drängte man sogleich die Vertreter gleicher Interessen und Wünsche auseinander
Und trieb deu Bauernstand zu einer Verbindung mit dem dritten, dem Bürger¬
stande, weil der Bauer nur erwarten durste, in Verbindung mit diesem seiner
Meinung hin und wieder Geltung zu verschaffen. Wohl sprach mau viel von
der Kräftigung des Bauernstandes, doch vergebens wiesen seine wenigen, aber
zum Theil sehr tüchtigen Vertreter darauf hin, daß die ganze Zusammensetzung
der Kreisversammlungen, die Art der Landrathswahlen und manches andre offen¬
bar eine Verhöhnung der Interessen des Bauernstandes sei; vergebens baten sie,
daß auch ihr Kredit durch Associationen gleich den ständischen gesichert werde;
vergebens hatten aufgeklärte Juristen längst auf die klägliche Unlmltbaikeit der
Patrimonialgerichte, so wie des cximirtcn Gerichtsstandes hingewiesen; der Stand
der Ritter hielt starr und sest an seinem formalen Recht und erbitterte den Vancrn-
stand hierdurch nur um so mehr, als das ungünstige Stimmenverhältniß ihm jede
Möglichkeit abschnitt, sich auf gesetzlichem Wege Geltung zu verschaffen. Dabei
gingen die Ablösungen ihren gewohnten langsamen Gang, als sei die General¬
commission bestimmt, das Heer der auf dem Bauernstande ruhenden Lasten mehr
aufzudecken, als sie wo möglich mit einem Schlage zu vernichten. Es konnte
nicht fehlen, daß hierbei die Entstehung, die Rechtsbeständigkeit mancher dieser
Lasten zur Sprache kam; die Prozeßsucht bemächtigte sich dieser Gegenstände und
mußte bei der großen Verwirrung, in welche ein Heer von Provinzial- und Local-
rechten und Gewohnheiten sie gestürzt hatte, die verschiedenartigsten Rechtsansprüche
herbeiführen. So lud der Ritterstand in wahrhaft thörichter Verblendung den
Haß des vierten oder Bauernstandes auf sich, nicht etwa um sich auf Kosten des
letztern zu bereichern, sondern um einige prunkende Lappen feudaler Herrlichkeit,
die ihrem Wesen nach längst im Grabe moderte, nicht aufzugeben, um den Schein
einer Schutzherrlichkeit zu rette», welche er auszuüben kaum den Willen, gewiß
aber nicht die Kraft hatte. So erwuchs auf den Trümmern der Erbunterthänigkeit
ein Junkerthum, das nichts lernen und nichts vergessen mochte.
Die gewerblichen Zustände des Landbaues waren kaum erfreulicher als die
politischen. Bis zum Jahr 1806 war Schlesien in der Hand eines von der Cen-
tralbehörde fast unabhängigen Provinzialministers. Es geschah wenig für den
Landbau. Zwar waren besouders in Niederschlesien, Dank der Verschwendung
einiger adeligen Geschlechter! — soweit Majorat- und Fideicommißstistungen
dies zuließen, mehrere große Gutscomplexe in kleinere Vorhäute oder in ein¬
zelne Rittergüter zerfallen, zwar fehlte es nicht ganz an Männern, die landwirth-
schaftliche Bildung aus der Fremde nach Schlesien zu verpflanzen suchten, wie die
Grafen Magnis in der Grafschaft Glatz, Hochberg im schlesischen Gebirge u. A.,
zwar hatte sogar schon im letzten Jahrzehent des verflossenen Jahrhunderts sich
unter einem Grafen Burghauß ein landwirthschaftlicher Verein gebildet, der nicht
wirkungslos geblieben ist; allein alle diese Erscheinungen waren vereinzelt aufge¬
treten, und hatten an der Untüchtigkeit der ausführenden Beamten, an dein ge¬
ringen Grade der Ausbildung der meisten Landwirthe Schwierigkeiten gefunden.
Der größte Theil der Rittergüter war im Besitz verabschiedeter Offiziere, oder
alter Familien des Landadels, die Gutsbeamten waren oft alte treue Diener, die
sich vom Stallknecht zum Verwalter aufgeschwungen hatten, und an die Spitze
ihrer dürftigen Vettern und Basen gestellt wurden; oft auch wurden größere Gü¬
ter durch Vorzeitpachtung benutzt, ohne daß der Pächter den Weg wirthschaftlichen
Schlendrians zu verlassen wußte, woran ihn in den meisten Fällen schon der Pacht-
contract hinderte. Als Muster derartiger, jede freie Bewegung hemmender Con-
tracte konnten vor Allem die Domänen-Pachtverträge gelten. — Wer in der
Schule gar nichts lernen wollte, den schickten die verdrießlichen Eltern aufs Land,
in jenen Beamten sollte er einen geeigneten Lehrherrn für die Geheimnisse des
Landbaues finden. Diese Verhältnisse waren wenig geeignet, den Uebergang aus
einer veralteten, auf großen Wiesenreichthum und maßlose Arbeitöverschwcnduug
gegründeten Dreifelderwirthschaft, in ein auf freie Arbeit und die Natur der Ver¬
hältnisse gestütztes Wirthschaftssystem vorzubereiten, und die Lehren eines Thaer,
Schmerz u. A., nutzbar ins gewerbliche Leben einzuführen. Und doch war dies
die Aufgabe der größeren Landwirthschaft, nachdem die Gesetzgebung den Dienst¬
zwang aufgehoben, und nachdem die Dienstablösungen, wenn gleich langsam, doch
immer weiter, fortgeschritten waren. Diese Aufgabe vermochte sie nicht zu lösen;
arm an Industrie und Kapital, irrte sie lauge bald hier bald dorthin, vernach¬
lässigte die Rindviehzucht, den Wiesen- und Futtcrbau, und hat im Allgemeinen auch
jetzt noch nicht verstanden, sich aller der Fortschritte zu bemächtigen, die von einzel¬
nen tüchtigen Männern gepredigt, aber selten praktisch zur Ausführung gebracht wur¬
de». Wem dies Urtheil hart und ungerecht scheint, den verweisen wir auf die
umfangreiche Literatur, welche das Abschätzuugsweseu größerer Landgüter hervor¬
rief, und auf den Gebrauch, den die schlesische Landschaft im Jahre 1824 und end¬
lich im Jahre 1846 davon zu mache» verstand; auf die geringe Wirksamkeit unsrer
landwirthschaftlichen Vereine, und endlich auf die laue Theilnahme des landwirth-
schaftlichen Publikums in Schlesien an allen den von der Staatsregierung mit
rühmlichem Eifer hervorgerufenen Anstalten zur Hebung landwirthschaftlicher In¬
dustrie, die man endlich als Bedürfniß anzuerkennen genöthigt war, und bei deren
Errichtung der Staat dem ausgedehnten Ackerbau der Provinz Schlesien vollstän¬
dig Rechnung trug"). Auch die sehr rühmlichen Ausnahmen bestätigen unser Ur¬
theil, es sind bis heut noch Ausnahmen.
Wie hätte es unter solchen Umständen im Bauernstande besser aussehen kön¬
nen? Seine landwirthschaftlichen Kenntnisse waren noch ungleich mangelhafter,
als die des größeren Gutsbesitzers, und die Gelegenheit, sie zu erwerben oder
zu bereichern, ihm ungleich mehr erschwert als jenem. Die Lehrmeister sei¬
nes Kuabeualtcrs waren der Ortsgeistliche und der Schulmeister. — Der Geist¬
liche sollte ja nicht von den gleichen materiellen Interessen Erfüllt werden, als der
seiner Seelsorge vertraute Bauer; er sollte nicht etwa ein Landmann von höherer
geistiger und gewerblicher Bildung unter Äaueru, sondern der auf ganz anderm
Standpunkte stehende Theologe gegenüber dem Laien sein. Wie hätten ihm auch
die Geheimnisse der Dogmatik Zeit für die Geheimnisse der Natur übrig ge¬
lassen? er sorgte für den Himmel des Bauern, gegen die irdische Noth des Beicht¬
kindes hatte er mir das alte verkehrte Mittel, die Hinweisung auf eine Ver¬
geltung in jener Welt. Der Schulmeister aber war sein Gehilfe in einer Thätig¬
keit, die auch uicht für diese Welt war. Durch 8 mühselige Kinderjahre wurde
^
von seiner unermüdlichen Hand dem Bauernknaben so viel Kirchenzucht beigebracht,
als irgend möglich; aber vom Bau und Leben der Pflanzen und Thiere, mit denen
er künstig verkehren, von den Wirkungen der Arbeit durch die er künftig sein Brot
verdienen, von dem Wesen des Staates, dessen Bürger er werden, den er mit
Gut und Leben vertheidigen sollte, von dem Allen konnte der Knabe in der
Schule nichts lernen, denn von all diesen Dingen wußte sein Lehrer so wenig
wie er. Wohl lehrte man die armen Jungen lesen nach schönen pädagogischen
Regeln, aber durch das Gelesene sich zu belehren, das Denk- und Fassungsver¬
mögen zu schärfen, das lernte in unsern Dorfschule» unter Tausenden nicht einer!
„Wozu soll der Bauer Bücher lesen? das macht ihn nur unzufrieden mit seiner
Lage, und verleidet ihm die Arbeit!" Die neueste Zeit hat streng gerichtet! der
Bauer lernte wirklich nicht lesen, noch weniger das Gelesene verstehen, aber zu¬
friedener mit seinem Loose wurde er auch uicht. Vielmehr machte ihn die Unzu¬
friedenheit mit seiner Lage zur leichten Beute des nächsten Gauklers, dem er so
gern glaubte, weil er so sehr wenig wußte.
So kam es denn, daß die Provinz, welche die Natur mit seltnen Reichthü¬
mern ausgestattet hatte, deren Bevölkerung bis auf 3 Millionen gestiegen war,
auf dem Gebiete der Landwirthschaft, mit. Ausnahme eines einzigen Zweiges, der
zur noblen Passion erhobnen Schafzucht, fast unverändert auf der Kulturstufe
verharrte, die sie bereits vor 50 Jahren, eingenommen hatte, und daß die länd¬
liche Bevölkerung derselben, welche 3 oder 4 mal so zahlreich als die städtische
ist, sich in zwei große feindliche Heerlager spaltete, von denen das eine mit un-
glaublicher Zähigkeit das formale Recht der Vorzeit vertheidigte, während das
andre im Kampfe gegen oft eingebildete Bedrückung, die durch Aufhebung der
Erbuuterthäuigkeit, durch Ablösung der Realdienste frei gewordenen Kräfte nicht
zu nutzen verstand. Beide Parteien aber konnten die Vorzeit nicht vergessen, denn
sie hatten die Gegenwart nicht begriffen! —
Man hat der preußischen Regierung hänfig den Vorwurf des Zuvielrcgierens
gemacht; in der Landwirthschaft aber kann sie ein solcher Vorwurf nicht treffen.
Seit Friedrich II. hatte derselben kein preußischer Regent eine besondre Aufmerk¬
samkeit geschenkt; bei der Centralverwaltung war.sie unvertreten, und wenn bei
der Reorganisation der preußischen Behörden im Jahr l8I2 an die Herbeiziehung
praktischer Landwirthe zu deu Verwaltungsbehörden gedacht wurde, so kam diese
Idee doch, so viel wir wissen, nirgends zur Ausführung, ja selbst die G?neral-
commission, welche beim Beginn ihrer Wirksamkeit einige praktische Oekonomen
angestellt hatte, fand es bald bequemer, sie nach und nach dnrch Juristen ^«.er¬
setzen, von denen sie höchstens verlangte, daß sie, um mit den Worten des^Schle-
sischen Landschaftsreglements zu reden — „eine landwirthschaftliche Teinture sich
aneigneten." Erst im Jahre 1835 gelang es dem verstorbenen Minister von Alten¬
stein, einen Theil des Fond der wenig besuchten Universität Greifswald einer
landwirthschaftlichen Lehranstalt zuzuwenden; die Unterstützungen des Staates, deren
sich schon früher unser Thaer zu erfreuen hatte, galten mehr dem genialen Mann,
als dem praktischen Landwirthe. Ein regeres Interesse sür die Landwirthschaft
machte sich zuerst unter dem Ministerium Arnim-Boitzenburg bemerklich, und wir
glauben nicht zu irren, wenn wir annehmen, daß es vorzugsweis den Einfluß
dieses Ministers zugeschrieben werden muß, daß der Staat im Jahre 1842 be¬
stimmte Fonds zur Hebung der landwirtschaftlichen Interessen auf sein Budget
brachte, und einer eigenen Behörde, dem Landesökonomie-Collegium, die zweck¬
mäßige Verwendung dieser Fonds übertrug. Unter Mitwirkung dieser Behörde
entstanden nnn auch wirklich mehrere höhere, und niedere landwirtschaftliche Lehr¬
anstalten, Musterwirthschaften und Gewerbschulen, deren Existenz indeß noch zu
neu ist, als daß ihr Einfluß schon ein allgemeiner hätte werden können. Doch,
wir halten uns sür ermächtigt, von der größeren oder geringeren Theilnahme der
einzelnen Provinzen an derartigen Instituten, auf die größere oder geringere
Strebsamkeit derselben zu schließe»; und mit Beschämung müssen wir in dieser
Beziehung bemerken, daß Schlesien auch hierin den andern Provinzen nachsteht;
denn für die Errichtung sogenannter Ackerbauschuleu — bei dem umfangreichen
Nustiealbesitz und der großen Vernachlässigung seiner Bewirthschaftung grade hier
ein so dringendes Bedürfniß,— fehlte es der Provinz Schlesien bis jetzt entweder
an Neigung, oder an geeigneten Privatunternehmern, so daß Schlesien mit seinen
12—15 Millionen Morgen Acker, Wiese und Weideland, sich zwar seit dem Jahre
1847 einer vom Staat errichteten höheren landwirtschaftlichen Lehranstalt in
ProScan in Oberschlesien, also eines Instituts für den größeren Grundbesitz er¬
freut, für den Unterricht des der Fläche nach mindestens eben so umfangreichen
Czechten ist wie eine Wolke, die vom Winde getrieben, bald zerrissen und
bald wieder zusammengeballt wird. Dunkler Schatten und unheimliches Licht dicht
bei einander; eben so viel Naivetät als Intrigue, Lächerlichkeit und finstrer Trotz,
Furcht und Uebermuth, kurz — alle mögliche« Elemente von politischer Unmündigkeit
und künstlich erzeugten Fanatismus siud -hier zu einem Körper geballt, der nach
Außen nicht immer schön, nach Innen für die Deutschen den bittern Kern getäusch-
ter Hoffnung einschließt. Wohl hat das Slaventhum dem modernen europäischen
Absolutismus die ersten und wichtigsten Dienste geleistet, aber mit der Einheit
anderer Nationen hat es auch seine geträumte Einigung zu Grabe getragen und
die slavischen Nationalcongresse fallen derselben Parze anheim, wie die verhaßten
Parlamente von Frankfurt und Debreczin. Nun wähnt der Bourgeois den Frie¬
den befestigt, das Vertrauen hergestellt, die Nuhe und Ordnung in Flor und die
Opposition mit der Wurzel ausgerottet, denn die Völker sind gedemüthigt, die
Magyaren bezwungen und alle republikanischen und föderalistischen Träume in ein
Nichts zerflossen; sieh! da erhebt sich wie ein letztes Fünkchen, das am Zunder
sich verspätet, das Land der Zivio's und ritterlichen Panduren, macht seine Oppo¬
sition ruft i'öftren, und der Bürgerausschuß vou Prag sagt als feierlichen Epilog
der Freiheit ein patriotisches Amen darauf.
Wir und die Slaven sind an einer bedeutungsvollen Crisis angelangt; wir
wissen es beiderseits; die Ordnung hat gesiegt, aber das Volk hat ver¬
loren. Und während wir die Nothwendigkeit einsehen lernen, daß die materiellen
Interessen der Gesellschaft im Interesse des monarchischen Princips über alle andern
in dieser Periode den Sieg davon tragen mußten, während wir mit blutendem
Herzen eine heldenmüthige Nation glorreichen Andenkens fallen sehen, welcher wir
leider anch den Sieg nicht wünschen konnten: so erinnern wir uns unwillkürlich
an die Opposition der Slaven und der Czechen, die in das Getriebe unserer Zeit
nachhaltig mit eingegriffen und zu diesem allgemeinen Ausgange das Meiste bei¬
getragen haben.
Wenn ich jetzt zurückdenke an die schönen Märztage des verflossenen Jahres,
wo die europäischen Nationen ihre Wiedergeburt zu feiern träumten, und an die
ersten Ausflüsse eines Freiheilsjubcls, der Alles zu verjüngen schien; wie ward
selbst ich Deutscher freudig bewegt durch die lebenskräftigen Erscheinungen des
durch Jahrhunderte verpuppten Nationalsinns, der damals befreit wie mit Schmet¬
terlingsflügeln die Blume des Czechenthums umschwärmte, und Honig aus ihrem
Kelche sog. Wohl ist es begeisternd, dieses Bewußtsein einer historischen Nation, wie
es auf den Einzelnen wirkt, ihn veredelnd und erhebend. Es ist etwas Großes,
wenn die Seele eines ganzen Volkes zum Menschen spricht, sein Geist umfaßt in
solchen Augenblicken Jahrtausende. Herrlicher, als sie je bestand, empfindet
der Enkel die Welt seiner Vorfahren, sie idealisirt sich ihm zu reiner Schön¬
heit; und alle idealen Gefühle, Vaterlandsliebe, Patriotismus hängen sich an
das heilige Ideal, das der Einzelne von seinem Stamm im Herzen trägt. Jeder
Zoll Heimath wird ihm eine Welt, jedes Blatt, das im Winde lispelt, jede Ranke,
jede Welle, jedes Sandkorn, Alles, was zur Heimath gehört, ist ihm theuer;
jedes Wort, von seinen gefeierten Landsleuten gesprochen, reiht er der glorreichen
Geschichte seines Volks an, und jeder vergossene Tropfen Blut gibt der vaterlän¬
dischen Erde neue Weihe und gesellt in seinem Gedächtnisse neue Helden zu den
verewigten Heroen der Vorzeit. — Kaum wird in einem Menschen von edlerer
Gesinnung dieses schöne Gefühl so sehr abgestumpft oder erloschen sein, daß er
nicht häufig sich die Wonne bereiten sollte, die Vergangenheit seines Volkes mit sei¬
ner eigenen Gegenwart in Verbindung zu setzen. Die Menschennatur ist darin überall
gleich, überall hat sie Etwas von dieser Beseligung, von dieser sentimentalen
Schwärmerei für die Heimath aufzuweisen. — Wir wollen darum auch den Cze-
chen gern ihre Geschichte gönnen, die von ihnen und uns geehrt wird; wir wollen
Uns mit ihnen erhoben fühlen, wenn wir die Großthaten der Hussiten lesen, und
wieder elegisch gestimmt sein, wenn wir am „weißen Berge" vorüberziehn, der
gar trübe Erinnerungen in dein Herzen jedes slavischen Patrioten erweckt; wir
wollen mit ihnen die Größe Wlasta's besingen und Ottokars Tod beklagen. —
Allein selbst dieses Gefühl hat seine Grenzen, über die hinaus eine verderbliche
Schwärmerei droht, die der Göttlichkeit ihres Ursprungs entkleidet ist. Und die
Czechen sind davon nicht frei geblieben. —
Ihre gegenwärtige Bedeutungslosigkeit, welche von der Regierung bei jeder
passenden Gelegenheit fast sarkastisch ihnen vor die Angen gehalten wird, wäre
eine heilsame Lehre für jeden andern Träger einer Doppelrolle, wie die Czechen
es waren; für diese aber ist sie so wenig eine Lehre zu nennen, daß ich gar nicht
zweifle, die Czechen würden nach all den gemachten Erfahrungen bei irgend einer
neuen Gelegenheit dieselbe Bahn in ihrer Politik befolgen, wie in der Reitschule
von Wien. Oeffentlich vor dem deutschen Publikum spielten die Czechen die
erste Liebhaberin der Regierung, hinter den Konlissen waren sie der erste Intri-
guant gegen beide. Aber zwei so schwierige Aufgaben gleichzeitig zu lösen, dazu
bedürfte es wahrlich einer minder tückischen Nebenbuhlerin, als Dame „Camarilla"
es war; die Czechen bemerkten die heillose Natur ihres Dualismus gar nicht oder
zu spät, verwickelten sich sammt ihrer Freiheit immer mehr in denselben, beriethen
daun und beriethen wieder und lioma «lvliberuntv LitAimtum periit. — Und die
gelehrten Koryphäen der slavischen Literatur? — Wohl verließen auch diese die
Zurückgezogenheit ihrer stillen Bibliotheken und traten überhäuft mit den Hul¬
digungen einer jüngern sanguinischen Generation in das öffentliche Leben hinaus,
um ihre Nation zu umformen und zu kräftigen — selbst auf Kosten der Form
und Kraft anderer gleichberechtigter Nationen. — Doch die Erfahrung dieser Zeit,
welche gelehrt hat, daß selbst die Phantasie eines Lamartine, die Gelehrsamkeit
eines Gioberti, die Energie eines Kossuth und die Grammatik deutscher Professoren
nicht ausreichten, um ihre Ideale in der Welt verkörpert zu macheu, mußte auch
die Führer der Czechen überzeugen, daß es bei Weitem leichter und dankbarer sei,
eine gelungene Geschichte Böhmens zu schreibe», als eine solche zu machen.
Diese tragische Art, allseitig Opposition machen zu wollen, und sie dadurch
allseitig zu verderben, liegt in dem durch die Zeitverhältnisse und die Geschieb!?
hyperbolisirten Charakter der Czechen begründet. Als Angebinde tausendjährigen
Drucks und Unglücks ist in diesem ein eigenthümlicher, geheimnißvoller Trotz heimisch
geworden, der verbunden mit dem, von seinen slavischen Vorfahren als Erbstück hinter¬
lassenen Mißtrauen gegen heterogene Stämme, für diese sehr unheimlich ist. Klima,
Lebensweise und andere Verhältnisse haben überdies dem Czechen einen geringern
Umfang von Passtonen bestimmt, als andern Nationen Europas und als selbst
seinen slavischen Brüdern im Süden. Dagegen ist die Jntensivität der ererbten,
von dem Czechen einmal adoptirten Ansichten, Launen, Stimmungen und Passionen
desto größer und stärker. Mag das Temperament der letzte Grund davon sein,
gewiß hat auch die frühere Regierungsweise und das Entnationalisirungsystem
selbstsüchtiger Autokraten viel dazu beigetragen. Was diese verschuldet, das sollte
in den Augen der zurückgesetzten Czechen derjenige büßen, welcher ihnen, wenn
auch blos um ein Minimum, vorgezogen wurde; was die Fürsten gesündigt,
legten sie den Völkern zur Last. Soweit führte nationales Mißtrauen und Ei¬
fersucht, daß sie nicht blos ungerecht wurde», sondern sogar die eigenen Vor¬
theile und Interessen verkannten. Der Czeche ist lieber unter einem despotischen
Tyrannen, selbst wenn in dessen Adern das Blut eines verhaßten Stammes rollt,
ein Sklave, als unter dem Schutze einer ganzen Nation ein freier; weil er
dieses für schimpflichere Knechtschaft hält, als jenes, dem Wort eines Einzigen,
mag dieser ihn auch noch so oft hintergangen haben, würde er mehr vertraut, als
dem Versprechen einer Nation, mag diese ihrem Worte treu bleiben, wie
sie wolle. Es ist dies eine Uebertreibung, die im Herzen jedes nationalgestnnten
Czechen unerschütterlich wurzelt, und sich an ihm durch die Katastrophe vom 4. März
dieses Jahres bitterlich gerächt hat.
Aus diesem bedauerlichen Verhältnisse floß die große Schwierigkeit, wenn
nicht die große Unmöglichkeit ihrer aufrichtigen Versöhnung mit den gehaßten
Nationen. Im Herzen des Czechen wurde weder ein solches Bedürfniß gefühlt,
noch die Ehre der Nation für würdig gehalten, und wenn man auch bisweilen
hie und da von einem Vcrbrüdernngsfeste zwischen solchen nachbarlichen Feinden
hörte, so konnte man gewiß sein, daß sie keinen andern Zweck hatten, als buntes
Fahnenwehn, hübsche Musik, gute Restauration und nicht selten während der Ver¬
söhnung noch obendrein eine neue Beschämung. Es war ihnen bei dem besten
Spiel nicht möglich, die Rolle zu Ende zu führen, ohne auch nur ein einziges
Mal aus ihr zu fallen; und das Hinderniß dabei war eben — ihre Natur.
Ihr leidenschaftliches Uebertreiben täuschte sie auch über die Mittel, welche
ihnen zu Gebot standen. Mittel ist Kraft; wer diese überschätzt, kann sein Ziel
nicht erreichen und unterliegt. Das war hier der Fall. Selbstüberschätzung
war die eigentliche Haupttriebfeder bei den panslavistischen Entwürfen und Unter¬
nehmungen unserer nationalen; die Anzahl der Millionen Slaven, die in Oest¬
reich leben, gab ihnen lebendige Dokumente, sie brüsteten sich mit Ziffern, mit
ungenannten Zahlen, und verloren den Werth derselben, die Culturstufe der Völker
aus den Augen.
Wohl rühmten sie sich eines praktischen Blickes und Griffes, der sich nicht
mit Pedanterien und Theoremen wie der Deutsche abgäbe, sie überlegten und be¬
rechneten Alles klug voraus, und dennoch war ihr Facit falsch; nicht etwa, weil
sie schlecht addirt hatten, sondern weil ihr Ansatz schlecht war. So griffen und
folgten hier Fehler und Leidenschaften in- und auseinander und stellten die czechi-
sche Nation als compakte Phalanx der Regierung an die Seite, um die Gegner der
letztern zu bekämpfen und zu bezwinge.,. Da hierin die Pläne der Hofpartei mit
denen der Czechen Hand in Hand gingen, so stieß ein solches Bündniß auf keinerlei
Schwierigkeiten.
Es klingt aber wie Ironie, wenn man uns die Loyalität der Czechen vor¬
führt, weil ihr Wahlspruch ein „großes, freies, einiges Oestreich" war. Deutsche
und Magyaren erschienen ihnen nur als Treibhauspflanzen, die in Oestreich exo¬
tisch wären; daher der Uebermuth und der Spott, deu diese Nationen von ihnen
zu erfahren hatten.
Durch alle diese Mißverhältnisse sowohl im Charakter als in der politischen
Anschauungsweise der Czechen geschah es, daß ihr Ideal, das Föderationssystem,
eines slavischen Oestreichs in Trümmern zerfiel. Wie dieses geschah, ist bekannt,
zur Zeit des constituirenden Reichstags, durch Schuld der Czechen. — Jetzt,
wo wir die Nachwehen tief empfinde», wo der Staat auf einem Zerrbild von
Verfassung gebant wird, und nach Besiegung der angefeindeten Stämme auch die
Slaven und die Czechen sich getäuscht sehen, jetzt klirren sie freilich scheu mit den
Ketten, knirrschen erbittert mit den Zähnen, aber ob sie klüger geworden sind?
Zum 19. Geburtstage unseres Kaisers wurden in Prag, wie in jeder ehr¬
samen Stadt große Festlichkeiten vorbereitet. Ich hatte unter andern von einer
Neichskrone etwas munkeln gehört, welche der Director der hiesigen Gasanstalt
am Altane des Rathhauses in 1000 Gasflammen darstellen wollte, weil auch die
ganze Stadt beleuchtet werden sollte. Menschenmassen stehen an allen Plätzen ge¬
drängt beisammen, da erscheint in der Dämmerung die telegraphische Depesche
von Görgey's Kapitulation an den Ecken. — Der Psychologe hätte da wahrlich
reichlichen Stoff zu den tiefsten Forschungen gefunden. Man sah kaum Ein An¬
gesicht, das nach der Lesung der Depesche seine frühere Miene behalten hätte.
Und welche Aeußerungen hörte man da mitunter! Der Lithograph Hennig, das
Prototyp unserer deutschen Gutgesinntenznust, rief verzückt: „Hoch das Ministe¬
rium! Nieder mit Palmerston! Nieder mit der Londoner City!" Ein reicher Jude
wiederholte neben mir mit besonderem Wohlgefallen den Haynau'schen Fluch „Re¬
bellenhäuptling" wohl ein Dutzeudmal. Die czechisch-nationalen Patrioten hin¬
gegen machten lange Gesichter, an denen die erzwungene Heiterkeit, wenn sie mit
einem psauenartig aufgeblasenen Gutgesinnten sprachen, leicht zu erkennen war,
und finster zog sich manches Auge zusammen, das vor einem Jahr schielend auf
Magyaren und Deutsche gesehen hatte. — Jetzt können die Kaiserlichen auch gegen
Agram marschiren. Indessen war die Stadt beleuchtet; aber die Reichs kröne
war nicht zu sehen. Warum? Das Stadtverordueteucollegium hatte in Hochweisen
Rathe den Beschluß gefaßt, dieses Projekt zu verwerfen: n>o nrimo: „Weil es
blos eine deutsche Rcichskrone gebe, welche der allgütige Schöpfer niemals über
Prag verhängen möge. ?i o secnnilo: Weil eine Darstellung der kaiserlichen Haus¬
krone (?) in Gas so viel als eine Huldigung der octroyirten Verfassung wäre.
?lo dorein: Weil der ehrsame Senat sich nicht mit fremden Federn schmücken
wolle." —
In dem Augenblick, wo der blutende Leib des Magyaren sich selbst den vier
Adlerköpfen zum Zerhacken hinreckt, in demselben Augenblick macht unsere Stadt¬
behörde auf ihre Weise auch eine kleine Opposition gegen die mächtige Regierung,
eine recht gelehrte, mit czechischer Heraldik versetzte Opposition; nun, jedes Volk
hat so seine eigene Art, zu bäumen. Der Magyar macht Opposition, indem er
mit dem Säbel haut, bis ihm der Arm vom Leibe springt, in Böhmen macht
man Opposition, indem man aus Zärtlichkeit für Ottokar oder irgend einen andern
Phantasten aus uralter Zeit die loyalen Gasflammen anfeindet. — Czechien ist
noch manchmal unartig, meine Herren vom Ministerium, aber seine Unarten sind
die Launen eines verkümmerten Pedanten und nicht die Leidenschaften eines Krie¬
gers; sie werden noch manchmal lästig sein, aber sie sind nicht gefährlich.
Als im vorigen Jahre der Sturm der Revolution die festestgewnrzelten Staats¬
männer, sogar den Fürsten Metternich wegfegte, und die Regenten sich einer neuen
Ordnung der Dinge willfährig zeigten, suchte mau in allen Gauen und Winkeln
Deutschlands wie Oestreichs nach Männern, denen man die junge Saat anver¬
trauen könne. Das Volk kannte die Leute so wenig wie die Fürsten. Man griff
meist aufs Geradewohl hiuei», und oben war man zufrieden, wenn Stammbaum
oder Beamteucarrivre des Erlösten eine kleine Garantie gegen allzustarkes Ueber-
strömen der Demokratie darbot, und unten vertraute mau, wenn nur ein neuer
Name mit schönen Phrasen empfohlen wurde. Alle diese Männer des Revvlutious-
srühliugs fielen gelb und verdorrt ab, als die Sonne höher stieg, und mit dem
Altenweibersommer der Reaction spornen sich Fäden um ihren Ruf und ihren
Charakter, kalt bereift und sich überall cmnestelnd. Pillersdors, der befackelzugte,
wird jetzt als Revolutionär verschrieen, und Brandenburg sitzt auf der äußersten
Linken in Opposition gegen seine ultraministericlleu Freunde. Die Staatsmänner
des ganzen heiligen römisch-deutschen Reichs erwiesen sich als unfähig und so
wenig wie die Parlamente vermochten sie die Reform durchzuführen, zu lenken
und zu leiten. Die Minister aller Staaten, die Excellenzen und Durchlauchten
sind lebendige Zeugen, wie die besten Geisteskräfte und der aufopfernde Patrio-
' tismus durch das bundestägliche System verkrüppelt und entnervt winden, und
weder dem Fürsten und Volke, noch dem Lande und Reiche in Zeit der Bewegung
einen ersprießlichen Dienst zu leisten vermochten. Mit betrübtem Herzen müssen
die Deutschen sich dieses tostimmiinm p-mportirtis ausstellen lassen.
Desto sonderbarer ist es, daß man die Regierung, für die man keine Staats¬
männer fand, in die Hände der Soldaten legte. Bei aller Achtung vor den
Offizieren vermögen wir uns doch nicht zu überreden, daß mit dem Range im
Heere zugleich eine Kenntniß der Staatsmaschine errungen wird. Was die Ge¬
lehrten, die Beamten, die practischen Geschäftsmänner nicht zu leisten im Staude
waren, wurde den Herren zugemuthet, welche die meiste Zeit auf dem Exerzier¬
platz zubrachten.
Wir wollen uns in kein Raisonnement über das Geschehene einlassen, ja.wir
anerkennen sogar die Umstände, durch welche das Szepter in ein Schwert umge¬
wandelt und mittelst Kanonen Ruhe, Ordnung, Gesetz und Freiheit hergestellt
wurde. Die regierenden Generale sind eine uralte Erfindung, und so wie in
jedem Korporalstock der Marschallstab steckt, steckt in jedem Kommandirenden ein
kleiner Korporal.
Wir wollen nur einen kurzen Blick darauf werfen, was Oestreich dem System
der regierenden Generale zu verdanken hat.
Windischgrätz, der Prag aus freiem Willen bombardirte, ohne dafür vom
damaligen Minister Pillersdorf zur Rechenschaft gezogen werden zu können, erhielt
im October von Wcssenberg die Vollmacht, Wien zu bombardir-in. Er that es
fleißig und mit gutem Erfolg. Ueber Nacht zum Feldmarschall avancirt und mit
kaiserlicher Plenipotenz ausgerüstet, glaubte man, daß der regierende General,
nach Herbeiziehung von beinahe 100,000 Mann, die Residenz schonen und nur
die Bekämpfung der Nevvltanten beabsichtigen würde. Mit Umgehung des bera¬
thenden Reichstags proclamirte der Fürst vorerst die Belagerung und setzte sich
dann erst in Konferenz mit dem Parlament; ohne Wissen und Kenntniß des Vor¬
gefallene» stellte er Forderungen, die wenig Respect vor seiner Negieruugsweisheit
einflößen konnten. Nicht blos daß 80,000 bewaffnete Menschen ihre Waffen able¬
gen und Geiseln stellen sollten, forderte er die Auslieferung bezeichneter Volks¬
männer. Die Wirkung war auch eine umgekehrte, der Gemeinderath und der
Rcichtstag mußten, obwohl beide jeden Kampf vermeiden wollten, in Opposition
treten, damit ihnen nicht von den Rädelsführern alle Autorität entwunden werde.
Die Schätze der Kaiserstadt, das Leben zurückgebliebener Bürger und ihr Eigen¬
thum wäre Preis gegeben gewesen, wenn diese beiden Korporationen sich vertagt
oder aufgelöst hätten; die Anarchie hätte erst ihr Medusenhaupt erhoben. Alle
Vorstellungen, die man dem Fürsten in wohlmeinendster Absicht und Loyalität machte,
scheiterten am Soldaten, der nur von Unterwerfung hören wollte. Seinem Eigen¬
sinn, oder vielmehr seiner Regierungskunst verdankt Wien den Schrecken und die
Verwüstung des Bombardements, die Gräuelscenen der Soldateska und die Blut¬
befleckung der kaiserlichen Burg. Unter den Lügen in den damaligen Proclama-
tionen befindet sich noch jene, daß die Burg durch Proletarier oder Studenten
angezündet worden sei; notorisch erwiesen aber ist es, daß die Kugeln jener Ge¬
schütze, welche vor dem Burgthor aufgestellt waren, den Brand veranlaßten.
Der regierende General, welcher immer von einer kleinen Partei Unruhstifter
gesprochen hatte, hätte i» den ersten Tagen die mildeste Form des Belagerungszustandes
handhaben können, und die ganze Bevölkerung, erlöst vou dem Treiben unreifer
Burschen, wäre ihm jubelnd entgegengekommen. Der Mord Latour's hatte die
Wiener erzürnt, und die Flucht des gütigen Kaisers war den Oestreichern schmerz¬
lich. Windischgrätz aber ließ die Studenten, Legionäre, Fremde, Garden und wer nur
im Geringsten auffällig erschien, zu Hunderten einfangen und in die Gefängnisse
werfen, das Spitzelweseu begann, — und die Hinrichtungen nahmen ihren Anfang.
Blum's Erschießen electristrte ganz Wien, und erschrocken über die Barbarei und
Unklugheit zugleich, wandten sich alle Einsichtigen gegen den Marschall. Frucht¬
los blieben alle Vorstellungen, trocken, steif und ledern regierte der General wei¬
ter, zu Pulver und Blei begnadigend. Das neue Ministerium: hatte nicht die
Macht, die Plenipotenz des Marschalls aufzuheben, und er ließ erschießen und ver-
urtheilen trotz ihrer Einrede. Der Keim schwerer Erbitterung und vielleicht un-
verlöschbaren Hasses wurde durch diese Unthaten gelegt; der Wiener verschmerzt die
Verschanzungen auf seinen Basteien und die drohenden Geschütze so wenig, wie
die standrechtlichen Urtheile, und Niemand hat der Monarchie eine tiefere Wunde
beigebracht als dieses blutige Schreckenssystem.
Fürst Windischgrätz ritt nach Ungarn, und den Proclamationen mit Andro¬
hung von Vernichtung der Rebellen folgte eine schmähliche Niederlage. Der regie¬
rende General verlor eine ganze wohlausgerüstete Armee und gab den Anlaß, die
Nüssen zu Hilfe zu rufen. Die Vergeltung ereilte den aristokratischen Kurzsich¬
tige», als er zu Gunsten der ungarischen Aristokratie eine Vermittlung versuchte;
vielleicht war dies der glänzendste Punkt seines Wirkens, und Oestreich hätte sich
seine Erniedrigung vor dem Czaar und viel tausend Menschenleben erspart, wenn
die Versöhnung angebahnt worden wäre. Windischgrätz aber fiel, und die Ach¬
tung der Welt folgte ihm nicht.
In Wien trat der Baron Melden an seine Stelle. Er ließ auch erschießen,
einsperren, wegweisen, und was sonst die Staatskunst regierender Generäle erfor-
dert. Eine besondere Erwähnung verdienen seine, von ihm selbst stylisirten Kund¬
machungen; sie haben bereits Berühmtheit erlangt, so weit die deutsche Zunge
reicht. Melden ist ein Proclamator des „Clubs böswilliger Buben, die die Kano¬
nen vernageln wollen." Eines Tages publicirte er: „nachdem die schärfsten Ma߬
regeln nichts gefruchtet habe», sieht man sich zur Verschärfung veranlaßt." Selbst
die Wiener, bekanntlich keine Meister des Styls, kritisirten die Sprachfehler und der
Spitzname „schwarzgelb" wurde auf diese Welden'schen Proclamationen ausgedehnt.
Der tapfere Gouverneur aber, ein fleißiger Botaniker, ließ auf dem Glacis drei
Galgen aufpflanzen, und Mörder Latour's daran hängen; nicht auf dem gewöhn¬
lichen Richtplatz außerhalb der Residenz wurde die Execution vorgenommen, son¬
dern inmitten der Stadt. Diese Heldenthat wurde mit der Denunciation beglei¬
tet, daß die Aula den Mördern ein Blutgeld versprochen habe; seitdem wur¬
den aber wieder 6 Mörder Latour's verurtheilt, und nahe an 3000 Menschen
wurden theils eingesperrt, theils vorgerufen, um über diese Missethat Auskunft zu
geben, ohne daß irgend ein Anzeichen die Denunciation bestätiget.
Melden ließ auch die Reichstagsmitglieder auf Denunciationen hiu nach der
Auflösung des Reichstags durch Militär einfangen «Zischof sitzt schon im 7. Monat)
und Andere, unbescholtenen Characters, wenn sie anch in politischen Affairen sich
schlecht benahmen, steckbrieflich als Mörder verfolgen. Einen frühern Minister
(v. Schwarzer) ließ er wegen Journalartikel ins StockhauS setzen. Das Verbot
des Tragens politischer Abzeichen wurde so weit ausgedehnt, daß die rothen Bän¬
der an den Hauben der Wickelkinder von der Polizei abgerissen wurden.
Mitten aus dieser Thätigkeit wurde Melden nach Ungarn gerufen. Früher
hatte er bei einer Visitation des Belagerungscorps von Kanonen proclamirt: „er
werde so lange schießen, als er Pulver habe." Er reiste nach Ofen, aber in weni¬
gen Tagen war er wieder in Preßburg mitsammt den Resten des Heeres; nur
Hentzi blieb in der Hauptstadt der Magyaren, ein verlorener Posten.
Weidens Unfähigkeit war alsobald erwiesen. Der regierende General Hentzi
bombardirte, barbarisch weil nutzlos, fest und fiel als tapferer Soldat. Der Un¬
wille war aber gegen Melden gerichtet, und er reiste zur Erholung nach Gratz.
Haynau, der Despot von Brescia, bekam mit Uebergehung älterer Generäle,
das Obercommando, und schießen, hängen und brennen, war die Parole dieses
regierenden Generals. Dörfer wurden niedergebrannt, Magnaten und Geistliche
an den Galgen geknüpft, Contributionen solidarisch auferlegt, und Proclamationen
erlassen, wie sie das Mittelalter nicht scheußlicher kannte. Selbst die officielle
Wiener Zeitung enthielt sich des Wiederdrucks dieser Schandmale unserer Cultur
und Zeit. Ein Schrei des Entsetzens ging darüber durch ganz Europa, und als
letzte Folge streckt Görgey lieber vor dem russische» General die Waffen, als vor
dem östreichischen, und die kaiserliche Negierung erlebt die Schmach, daß Ungarn
ZV den Füßen des Czaars gelegt wird, wie sich Paskewitsch in seinem Bericht,
nicht ohne Absicht, ausdrückt. Der kaiserliche Hof ist roth vor Scham über diesen
Zug, der von andern Führern der Magyaren nachgeahmt wird.
Wir wollen die kleinen regierenden Generäle: Hammerstein in Lemberg,
Kempen in Preßburg, Kheveuhiller in Prag, Castiglione in Krakau u. a. nicht
die Revue passiven lassen. Dieselbe Uniform, derselbe Geist. Sie haben die
theresianische peinliche Hals - Gerichtsordnung hervorgesucht, und darnach ihre be¬
liebigen Urtheile gefällt; und wer gar nicht schuldig befunden werden konnte, den
steckte man unter's Militär, als Stückknccht, oder wenn er zu alt war, als Kran¬
kenwärter. Die Presse wurde mit dem Stock censunrt, und jede Regung des
Volkes durch Patrouillen niedergehalten. Daß eine solche Generalrcgierung weder
das Vertrauen noch die Liebe der Nationen und der Parteien erwerben konnte,
hat die Erfahrung gelehrt, denn obwohl fast H des Reiches, also 28 Millionen
Menschen unter Kricgsgesetz gestellt waren, und das Blut in den Stadtgraben
Bachweis floß und alle Festungen und Kerker überfüllt sind — ist dennoch die
Opposition gegen die Regierung gewachsen, und am Geburtstage des Kaisers
mußte man die Festlichkeiten absagen, weil offene Gegendemonstrationen befürchtet
wurden.
Ein einziger unter den regierenden Generälen hat sich die Achtung und Ver¬
ehrung Aller erworben: Radetzky. Auch in Italien haben die Blutgerichte ihre
Opfer genommen; es wurden erst jüngst 12 Galgen gleichzeitig errichtet. Allein
Radetzky verherrlichte durch Heldenthaten den Ruhm der Armee, er rettete den
Kaiserstaat und kräftigte ihn zugleich; und eben jetzt verkündigt er eine Amnestie
für alle politischen Verbrechen!
Jellachich hat sich als General keine Lorbeeren geholt, und noch ist zweifel¬
haft, ob er mit Ziviv vom Schauplatz seiner Thätigkeit abtreten wird. Kroatien
bereut schon seiue Revolution gegen Ungarn, und sein Vertrauen in einen „regle-,
reuden General" wird es mit dem Verlust seiner Konstitution bezahlen.
Wir übergehen alle Details. Oestreich ist unter der Regierung der Generäle
nicht frei geworden, und all die erfochtenen Siege werden den Kaiserstaat bei
Fortsetzung der Generalregierung nicht zur Ruhe bringen. Der Ruhm der Waffen,
den die gemeinen Soldaten erfochten, wurde von den Generälen durch Wandalis¬
mus beschmutzt.
An der Spitze des Ministeriums befindet sich ebenfalls ein General: Fürst
Schwarzenberg, der den blutigen Tag bei Goito tapfer anfocht. Ob dieser
regierende General eine Ausnahme von den andern macht, ob dieser dem Kaiser
die Liebe seiner Völker wiedergewann, ob dieser dem Staate die freie Entwick¬
lung konstitutioneller Verfassung bereitete, ob dieser der Monarchie neue Anhän¬
ger erwarb, ol-. dieser die Revolution blos hemmte oder für längere Zeit er-
drückte, ob dieser zur Ehre, zum Ruhme und zur gesetzlichen Freiheit des großen
Oestreich wirkte — — sollen wieder parteiische Richter beurtheilen, also die
Zukunft.
Unter den östreichischen Journalen hat unleugbar die „Presse" die größte
Verbreitung. Wer aber aus dieser Thatsache den Schluß ziehen wollte, daß sie
auch zugleich die öffentliche Meinung selbst nur einer relativen Majorität reprä-
sentirt, würde mehrere wesentliche Momente der Beurtheilung außer Acht lassen.
Er würde vergessen, daß die „Presse" nicht nur das billigste unter den Journa¬
len ist, sondern auch, daß fast in allen Theilen der Monarchie und namentlich im
Hauptquartier der Journalistik, in Wien, die oppositionelle Presse gänzlich unter¬
drückt wurde, während das Bedürfniß nach Tagesblättern in Oestreich außeror¬
dentlich ist, daß ferner in unsern Tagen der politischen und nationalen Aufregung
jeder Zeitungsleser selbst aus den Blättern der entgegengesetzten Richtung nur die
Bestätigung der eigenen Ansicht herausliest, und endlich, daß sich der Gebildete
jeder Meinung, angezogen von dem anständigen Ton dieses Journals, welcher von
dem seiner Gesinnungsgenossen sehr vortheilhaft absticht, bei der geringen Auswahl
an Organen, gerne für dieses Blatt entscheidet. Ueberdies vertritt die „Presse"
bisher trotz aller Protestationen unter einigen Reserven immer die jeweilige Ne¬
gierung, was sie „gouvernemental" nennt, und gewinnt dadurch für den Leser
an Bedeutung und Interesse. Möglich, daß die Redaction der „Presse" von der
aufrichtigen Ueberzeugung geleitet wird, wie unter den heutigen Verhältnissen eher
die Wohlfahrt des Landes als die Freiheit seiner Bürger in den Vordergrund
treten müsse. Aber es wird noch jedem Leser der „Presse" erinnerlich sein, daß sie
unter dem Ministerium Stadion mit allen Waffen der Beredsamkeit die Theilung
Deutschlands in Nord- und Süddeutschland verfocht. Seitdem ist Stadion abge¬
treten und die „Presse," welche sich in der Uebergangsperiode auf die reine Nega¬
tion verlegte, fängt jetzt an, auf den Bund vou 1815 zurückzugehen, obwohl ihr
schmähliches Theilungsproject von ehemals gerade heute mehr Chancen böte, als
früher.
Der Standpunkt, von welchem die Redaction der „Presse" den Staat selbst und
jede Negierungsmaßregel betrachtet, ist wie sie sich rühmt der „nationalökonomische."
Es läßt sich uicht leugnen, daß diese Anschauungsweise ihr anscheinend hinlängliche
Berechtigung gibt, ihr Streben für vorzugsweise „praktisch" zu halten. Staaten,
wie Frankreich und England werden allen Theorien zum Trotz die letzten Gründe
der politischen Erscheinungen zum großen Theil auf diesem Gebiete suchen müssen.
Das nächste Postulat dieser Anschauungsweise ist die Erzielung einer vollständi¬
gen Centralisation. Wir finden also die „Presse" auf dem Wahlplatz in den Rei¬
hen der Kämpfer für unbedingte Centralisation. Ob nun dieses Beginnen, und
mit ihm das ganze nationalökonomische Gebäude der „Presse" auch -bei uns ein
wahrhaft praktisches ist, ob namentlich die Mittel, welche sie für den Bau vor¬
schlägt ehrbar und zweckmäßig sind, wird ein großer Theil ihrer Leser sehr
bezweifeln.
Nach dem October vorigen Jahres war die „Presse" das Organ des Hrn.
von Stadion. Dieser Staatsmann scheint in seinen vor- und nachmärzlichen Be¬
strebungen die Negierungsthätigkeit des Kaiser Joseph mit einigen zeitgemäßen
Schnörkeln vor Augen gehabt zu haben. Sein Streben war gewiß ehrlich, allein
die Reaction ging über ihn weg. Man sagt, und es hat die größte Wahrschein¬
lichkeit für sich, daß er seinen Posten in dem Augenblick verließ, als die russische
Intervention wider seinen Willen im Cabinet durchgesetzt war. Er mochte fühlen,
daß nun seine Pläne für Oestreichs Wohlstand und Kraft zu nichte würden, und
daß seine ganze Politik ihren Halt und Werth verloren. Wir sind zwar der
Ueberzeugung, daß die russische Intervention nach den taktlosen Maneuvres des
Fürsten Windischgrätz eine unvermeidliche Folge der Centralisationsbestrebungen
war, denn wir sehen, die Unzufriedenheit der übrigen Provinzen ungerechnet, wel¬
cher Aufwand von Macht erforderlich war, den ungarischen Aufstand bei der kur¬
zen Zeit, welche seinen Häuptern zur Organisirung gegönnt war, niederzudrücken.
Wäre sie aber nicht nöthig gewesen, so hätte allerdings die Politik des Grafen Stadion
viele Chancen des Neussirens gehabt. Denn unter dieser Voraussetzung hätte der
östreichische Staat Kraft genug besessen, nach innen und nach außen seine national-
ökonomischen Interessen zu wahren. Diese Kraft wäre zugleich das Resultat und
der Beweis der Thatsache gewesen, daß die Negierung eine constitutionelle und
auf ihrer Seite, den stolzen Magyarenadel ausgenommen, die Mehrheit der öst¬
reichischen Bevölkerung stehe. Daß sich aber die Negierung diese Kraft nicht zu¬
traute, und nicht zutrauen konnte, würde schon an sich, ohne andere Gründe den
Beweis liefern, daß sie auf die Unterstützung im Volk nur wenig rechnen kann.
Doch gleichviel — der Minister Stadion trat ab, als er einsah, daß seine Poli¬
tik unmöglich wurde. Die „Presse" aber trat nicht ab.
Die Thatsache der russischen Intervention fällt freilich nicht der „Presse" zur
Last, allein sie sollte begreifen, daß ihre Politik von früher in keinem Fall mehr
„praktisch" ist. Denn bei der bekannten Richtung der russischen Politik, läßt sich
kaum erwarten, daß Kaiser Nikolaus auf die Theorie der „Presse" bezüglich des
Donaubeckens viel Rücksicht nehmen wird. Er betrachtet vielmehr die Centrali¬
sation als gutes Mittel, die Unzufriedenheit im Innern, welcher nun kein über-
riebenes Maß von Wohlstand in den Mund gestopft werden kann, zu nähren,
und die Regierung für immer zu schwächen.
Die „Presse" hat an die Spitze ihres Blattes „Gleiches Recht für Alle" gesetzt.
Sie nennt ihr Streben ein constitutionelles und versteht darunter die gleiche Berech¬
tigung sowohl in politischer als nationaler Beziehung. Um zu zeigen, wie sehr
die Centralisationspvlitik in ihrer schönsten Form in die schmutzigsten absolutisti¬
schen Konsequenzen ausartet, wie selbst die reinliche Presse in unbewachten Au¬
genblicken den Vorhang vor. dem ekelhaften Hauswesen dieser Politik lüftet, wollen
wir einen kurzen Artikel hier folgen lassen, der sehr unschuldig klingt und der doch
so perfid ist.
„Von der Theißmündung, 14. Aug. Das bekannte Auftreten des Baual-
rathes hat hier in den besonnenen und intelligenten Kreisen der Gesellschaft viel Mi߬
vergnügen erregt. Zum Glück geht dieses Wagniß nur von einer Fraction aus, die,
nachdem sie in der Octroyirung für ihre föderalistischen Tendenzen allen Boden verloren,
noch in Agram ihre letzten Versuche macht, um einiges Terrain zu gewinnen. So weit
wir diese Partei kennen, so ist es eben jene demokratische Fraction, die von den Ten¬
denzen der Prager Slowcmska lipa influenzirt, auch in der Grenze durch Filialen
Pflanzschulen zu gründen gesucht, und gegenwärtig den älteren Theil des Banalrathes
ins Schlepptau genommen hat. Wir fürchteten diese Opposition schon lange, trösteten
uns jedoch mit der Hoffnung, daß der Gährungsprozeß, der in Kroatien vor sich ge¬
gangen, denn doch mehr Einsicht in die eigene Sachlage zur Geltung bringen, und daß
Kroatien am allerwenigsten bei der Constituirung der Monarchie ein Autvnomicmvnopol
beanspruchen werde, ja im Geiste der Gleichberechtigung nicht einmal beanspruchen dürfe.
Dieses letzte gewagte Auftreten erscheint uns auch ganz im Wider¬
sprüche mit der Loyalität, die so wortreich von Agram ausposaunt
wurde, während jetzt der nackteste, politische Egoismus zu Tage
kommt.
Wir wiederholen, es ist blos die demokratisch föderalistische Partei,
die ihre letzten Anstrengungen macht, und zu deren Organe' sich der Banalrath unbe¬
greiflicher Weise gemacht hat. Zum Glück hat diese Sondcrbündclei geringen Anhang.
Nicht sowohl lächerlich als vielmehr bemitleidenswerth erscheint uns der ö. Puukt des
revolutionären Plakates, wo den Abgeordneten der Militärgrenze der große Einfluß auf
die Beschlüsse des letzten Agramer Landtags vindicirt wird. Mit gleichem Rechte könnte
man den galizischen Bauern den Hauptcinfluß auf den Kremsirer Reichstag zuerkennen.
Wer waren die Ablegatcn der Grenze zu Agram? Größtentheils Grenzer, Han¬
delsleute und Verwaltungsosfiziere. Die Ersten ganz unfähig, die Sachlage
aufzufassen, die Zweiten voll Haß gegen die Militärregierung und selbst regierungssüchtig
und die Dritten voll Mißmuth gegen die Vormundschaft des Hofkriegsraths, der sie in
eine drückende Stellung gebracht. Die wenigsten hatten östreichischen Pa¬
triotismus in die Sectionsberathuugen gebracht; die demokratische
und separatistische Tendenz war bei den Intelligenteren aus ihnen am
meisten vertreten, während die Uebrigen bloße Figuranten abgaben. Manches redliche
Streben mag hier wohl zum Vorschein gekommen sein, aber es ging in den allgemei¬
nen separatistischen Tendenzen nnter. Wie wir übrigens die Stim¬
mung und die Zustände der Grenze kennen, so wäre es nicht einmal
gewagt, staatsgefährliche Tendenzen der Provinzialkroat en und
Slavonier blos durch Grenzer zu bekämpfen, da der Grenzer in
seiner Anhänglichkeit an den Kaiser und seinen Befehl durch Nie-
mand, selbst durch den galizischen Bauer, übertroffen wird, so sehr
man sich auch Mühe gegeben, ihn in die Tendenzen einer gewissen Partei mit hinein¬
zuziehen. Dies die wahre, aus der Stimmung abgeleitete Stellung des Grenzvolkes
zu den Provinzialistm."
Welche Ansichten werden hier über Volksvertretung ausgesprochen! Jeder¬
mann außer dem Mitarbeiter der „Presse"*) weiß, daß die Bevölkerung der Grenze
nur allein aus Grenzern, Handelsleuten und Verwaltnngsoffi-
zieren besteht. Es ist also natürlich, daß auf den Landtag und anfeinen etwai¬
gen Reichstag nur solche geschickt werden können. Wenn nun die „Presse" keinen
Austand nimmt, der Bevölkerung eines Landes sammt ihren Vertretern Unfähig¬
keit, Haß und Rachsucht zuzumuthen, weil sie nicht centralistisch gesinnt sind, wenn
sie die „Redlichkeit" nur in dem Eingehen auf ihre Platte findet, so läßt es sich
schwer erklären, wie sie das mit konstitutionellen Grundsätzen in Einklang bringen
kann. Wenn sie den „Intelligenteren," welche freilich dort durchweg föderalistisch
deuten, den Weg in die Kammer abschneiden möchte, wenn sie den Banalrath
desavouirt, weil er „unbegreifleicher Weise" nicht ihrer Meinung ist, wenn sie
unter Loyalität das Ausgeben seiner innersten Ueberzeugung für die vorgefaßte
Meinung der Regierung versteht, wenn sie einerseits den Grenzer dem galizischen
Bauer an Unverstand gleichstellt, und weiter unter mit durchschossenen Let¬
tern die trostreiche Versicherung gibt, daß die „Intelligenteren" mit echt galizi-
scher Bauerntreue von den Grenzern selbst im Falle einer Meinungsdifferenz. mit
der Negierung bekämpft werden können — dann läßt es sich leicht ermessen, welche
Hoffnungen uns die konstitutionellen Ansichten der Presse in Aussicht stellen, be¬
sonders, wenn man die Thatsache vor Auge» hat, daß auch in einem Theile Böh¬
mens sowohl, als in Galizien, in Italien wie in Ungarn, in der Slovakai wie
in der Wojewodina die „Intelligenteren" föderalistisch gesinnt sind.
So spricht also die Repräsentantin der Centralisation von einem Lande, ohne
dessen vergossenes Blut das Haus Habsburg jetzt schon um eine Krone weniger be¬
säße. Eine solche Politik ist allerdings sehr praktisch, sie hat ihre Brauchbar¬
keit im Jahre 1846 in Galizien bewährt, aber sie ist nicht dauerhaft und vor Allem
nicht constitutionell. **)
Ich bereise das östreichische Sibirien „die Perle der Krone", unser altes
Tirol. Mit Verwunderung pilgert Ihr Freund über die gesegnete Erde deutscher
Treue und katholischen Ultramontanismus, wohin unsere Staatsverbrecher, unsere
liberalen Beamten und Geistlichen zur Straft geschickt werden in Festungen, Kanz¬
leien und Klöster. Ist das noch mein altes Tirol? — Verrufen in den übrigen
Provinzen, bei den Corps als ein starres separatistisches Volk, gegen dessen Ei¬
gensinn Palacky und die Banalräthe Kroatiens noch weiches Wachs sind; bei den
Liberalen als ein Felsennest des Absolutismus und der Priesterherrschaft liegt es
da, an der Ecke Deutschlands als ein Sphinx; — still und dauerhaft, es spricht
nicht viel, aber es hat in der Stille seine eigenthümlichen Gedanken. —
Eine Reise durch Tirol jetzt, wo die großen Begebenheiten in kleineren Wellen
bis in das entfernteste Alpenthal dringen, wo die Erscheinung einer Viertelbanknote
da, wo seit Jahren kein solches Papierzeug gesehen wurde, den Scharfsinn heraus¬
fordert und eine Kette von Ereignissen erklärt, wo der Freimuth in Rede und
Gedanken wenigstens von keiner Polizei beengt wurde, wo die vier großen Stra¬
ßen ihre Reisenden und vieles Andere an den Mündungen der Seitenthäler schnell
vorüberführen, eine Reise in dies Land ist jetzt wohl der Mühe werth.
Die Tiroler haben unter uns Oestreichern das lebhafteste und stolzeste Proviu-
zialbewußtseiu, sie blicken sämmtlich aus ihr Innsbruck als ihren Centralpunkt und so
verschieden Tracht und Dialekt der einzelnen Thäler sich darstellen mag, das Ge¬
meinsame wird überall im Lande empfunden, sie sind fast alle Einer Religion,
stellen nur Eine und zwar zusammengehörige Waffengattung mit dem Bewußtsein,
eigentlich nur für die Vertheidigung des Landes in Waffen zu dienen und erzäh¬
len von einem großen nationalen Kriege, dessen Thaten alle begeistern. Sie wer¬
den weise von Landeskindern administrirt, mit einer in Deutschöstreich früher sel¬
tenen Unabhängigkeit der Gerichte, mit einer Spur von Vertretung des vierten
Standes, ohne Proletariat und Luxus volkreicher Städte. Der Dorfbewohner
sitzt hier zumeist als freier Herr auf eignem Hofe, einzeln steht sein Gehöft, wie
das der alten Deutschen, er hat keinen Groll gegen reiche Ritter, nicht das Gefühl
seiner politischen Kleinheit zu überwinden, wie es in Böhmen, Mähren und in den¬
jenigen Theilen Oestreichs auf den Landleuten liegt. Mehr als irgendwo, wird
hier der Ruf „des guten deutscheu Wortes" hochgehalten, die Söhne der Berge
nehmen daher eben so rasch und fest Jemanden beim Worte, als sie selbst den
Wortbruch tief und dauernd empfinden. Wir haben viele Versprechen allerhöchster
Personen „im Drange der Umstände" ad -»et» gelegt, wir klagen, aber wir be¬
scheiden uns; der Tiroler bringt die bittere Wahrheit, daß so vieles Lüge war,
noch nicht hinunter, so viel auch Mittel aufgeboten werden, um ihm das Schlucken
zu erleichtern. Man kann diese einfachen Politiker in allen Wirthshäusern, auf
den einsamen Almen und Sennen raisonniren hören; an dem Wortbruche, wie sie
es nennen, nagen sie sehr eifrig; sie tragen meist im dumpfen Bewußtsein Hin - und
Wiederrede mit sich herum nud kramen ihre Wünsche dem willigen Ohr unablässig
aus. Eines ist ihnen doch klar geworden, daß sie die Freiheit nicht erlaugt ha¬
ben ; daß ihr Tirol gar nicht gefragt wird, was man auch Oben beschließe. Sie
wollen alle mitreden durch ihre Männer, welche man nach Innsbruck rufen müsse,
sonst werde ihre Geduld nicht mehr lange ausreichen. Kaiser Ferdinand erfahre
das schon jetzt, und der junge Kaiser könne dies gar leicht empfinden.
Sie, mißtrauen dem fremden Militär in Tirol — es sind dies bekanntlich
lauter einige, freie und ganze Oestreicher — obwohl sie es mitsammt der Fran¬
zensreste zu erdrücken im Stande wären. In der Nähe steht diese Sprache nicht
ganz prahlerisch aus; ihre Berge und engen Pässe stehen noch, die Geschichte ist
nicht vergessen und endlich schießen die Leute gern und sehr gut. „Und im Noth¬
falle wählen wir uns einen andern Kaiser" rief ein alter Mann und ich habe
dabei bemerkt, daß die Leute weder unter der Herrschaft ihres rothen Rabenstandes
waren, noch auch sich ängstlich umblickten, ob etwa ein Unberufener das kühne
Wort gehört. — Sie wollen allerdings einen Kaiser behalten, wie sie ihr Wälsch-
tirol behalten wollen, aber sie sind sehr mißtrauisch geworden, betrachten sich als
eine Einheit, die weit ab liegt von den übrigen Provinzen; sie bereiten sich in
Innsbruck nachdrücklich zu sprechen. — Unterdessen bauen sie den Tabak auf eigene
Faust an, indem sie alte vergessene Rechte wieder in Anspruch nehmen. In sol¬
cher Stimmung greift jeder Sterbliche etwas weiter, als sein Recht und seine
Absicht war, halb aus Plumpheit, halb aus trotzigem Selbstgefühl. Alles dies ist
im Munde des Einzelnen, treuherziges Geschwätz, das nicht viel zu bedeuten hätte.
Aber es wird ein lauter Ruf, sobald irgend eine Veranlassung — etwa ein Pro-
vinziallandtag die einzelnen Stimmen vereinigt und privilegirt. Eins steht dem
Volk fest, sie wollen von Innsbruck abhängen, nicht von Wien, von ihrer eigenen
Negierung nicht von kaiserlichen Beamten; sie sind Föderalisten. Die Stützen
des Thrones: Geistlichkeit, Gutsbesitzer und Beamte werden mir Recht geben
müssen, wenn ich behaupte, es steht mit ihnen nicht ganz so fest, als sie es our-
schen. Die Innsbrucker Zeitung ist gewiß in jedem Thal zu finden und wenn sie
auch jetzt die Segel einzieht und wahrscheinlich beim Falle Ungarns zu den ver¬
blichenen der östreichischen Presse eingeht, so hat sie doch mit frischem Hauche
manchen Kopf aufgeweckt.
Ich finde darin den einzigen Trost für das liberale Oestreich. Was auch
immer der Rest unserer Hoffnungen sein wird, wenn die Völker ihre Errungenschaf¬
ten an den Fingern herzählen werden. Die Bahn zu einer freieren Entwicklung
der Volkskräfte ist gewiesen und geht durch die Völkerseelen Oestreichs.
Und kommt die Zeit, wo an allen Enden der Monarchie die Landtage an
den straffen Seilen zerren, welche ihnen die projectirte Farbe anlegt, beginnt der
Wetteifer der vielgestaltigen Provinzen, dann wird der Tiroler nicht zurückbleiben
und sein Gedächtniß für gehaltene und gebrochene Worte wird gut sein.
Unter den wilden Gesichtern des serbischen Lagers war das seine am auf¬
fallendsten, so sehr, daß er von den Andern gemieden wurde..—
Nur Wenige mochten unter den serbischen Männern sein, welche dem Tode nicht
schon ins Auge geschaut und ihn andern gebracht hatten, Keinem von ihnen war
Blutvergießen etwas Neues, und oft hatte ich mich gewundert, daß man in den
edlen Zügen des serbischen Stammes so wenig von der Vergangenheit des Ein¬
zelnen ausgeprägt findet. Bei uns verwandeln die Leidenschaften das Gesicht
offenbar mehr als bei den Enkeln des alten Türkentödters Marko, es ist noch
mehr Race und weniger Individualität in den Gesichtern der Südslaven. — Er
aber war eine Ausnahme. Das Haar war dunkel und kurzgeschoren und der
lange Schnurrbart gespitzt wie bei deu Andern, er trug den Kops eben so stolz,
wie seine Kameraden und sein Leib war, selbst nach dem riesigen Maß seines
Stammes, ungewöhnlich groß und athletisch. Von weitem erschien er als ein
stattlicher Krieger, in der Nähe aber erkannte man, daß er ein Verbrecher oder
Wahnsinniger war, vielleicht beides. Die großen Augen lagen tief im Gesicht,
wie in einer braunen Höhle, unheimlich und zur Seite, wie ein Wolf, sah er die
Menschen an, und tiefe Furchen zogen sich um deu Mund, der edel angelegt war,
wie sein ganzes Gesicht, aber grimmig und zusammengekniffen nach beiden Seiten
herabhing. Er sprach sehr wenig, seine Worte klangen hohl wie aus einem zer¬
brochenen Instrument. Der so erschien war ein gewöhnlicher Haiducke, aus tür¬
kisch Serbien, sie nannten ihn Wule, den Namen seines Vaters hatte er verloren.
Im vorigen Jahre war er mit einem Haufen von Schicksalsgenossen aus den Näu-
berbergen der serbischen Grenze über Belgrad als Freiwilliger zu uns gekommen;
der größte Theil seiner Kameraden war seitdem verschwunden oder fortgeschickt
worden, er hatte mit wenigen seiner Art den Krieg und das Sumpffieber bis zu
diesem Sommer überstanden. Aber selbst unter den trotzigen Gesellen, welche mit
ihm das Räuberleben geführt hatten, stand er allein, sie fürchteten ihn und mieden
seine Nähe. Und er wußte das; wenn er sich auf einem Stein setzte, oder auf
einen Holzblock, mitten unter die lärmenden Banden des Lagers, dann verwan¬
delte sich das Geschrei in Flüstern und Stille und nach einer Weile saß er allein
wie ein Uhu unter beweglichen Dohlen, die Sitze um ihn herum waren in großem
Kreise leer. Er war gezeichnet auch in den Augen seiner Kameraden. Aber auch
gefürchtet war er, denn lange konnte ich auf mein neugieriges Fragen nach ihm
nur ausweichende Antworten erhalten, finsteres Schweigen oder bedeutsames Kopf¬
schütteln. Damals wußte ich noch nicht, daß ich selbst in einer Katastrophe seines
zerrütteten Lebens mitzuspielen bestimmt war, ich hatte aber schon ein sehr moti-
virteö Interesse für ihn, denn er hatte im vorigen Herbst einem meiner Freunde
eine Kugel vor der Brust weggefangen. Es war in einer Nachtscene, wie sie dieser
unglückliche Krieg in Menge auszuweisen hat. Ihr Journal mag zunächst dieser
Geschichte, die characteristisch genng ist, einigen Raum gönnen. —
An einem Septemberabend des vorigen Jahres war das Lager der Serben
unruhig wie ein Ameisenhausen, Boten und Adjutanten flogen ab und zu, Pferde
wurden gestriegelt, Sattelgurte festgeschnallt; die Serben schmückten sich zum
Kampfe, und manch respectabler Arambassa sah wohlgefällig auf seine geordnete
Korpvralschaft. General Kiß mit den Ungarn lag damals gegen die Serben, er
hatte sich in den Dörfern der Ebene vor unserm Lager vielfach unnütz gemacht,
hatte sich endlich in Lazarfeld und Ernesthaz festgesetzt und wurde uus in dieser
Position sehr unbequem. Unsere Leute sagten ihm nach, daß er das Wesen grau¬
samer triebe als nöthig und anständig sei. Jetzt galt es Lazarfeld durch nächtli¬
chen Ueberfall zu nehmen, und während der Zeit die Besatzung von Ernesthaz
zu beschäftigen,' was in diesem Kriege ungefähr so viel hieß, als sie zu tödten,
damit sie dem Hauptcorps nicht zu Hilfe komme« könnte. Einige sechszig Frei¬
willige hatten sich zur Razzia nach Ernesthaz gemeldet und bei einer mächtigen
Eiche aufgestellt, deren herbstliches Laub der letzte Sonnenblick, welcher aus Wol¬
ken herausschielte, noch gelber färbte. Knicanin stand in seinen Fuchspelz gehüllt
uuter der Eiche, nahe bei dem grünen Feldherrnzelt, in sehr kriegerischer Stim¬
mung und gab einem Buljubassa und zwei Arambassen, dem Führer und den
Unteroffizieren der Razzia, den nöthigen wohlwollenden Befehl. Der Zug war
ein Spiel um Kopf oder Schrift mit dem Teufel, denn es galt, sich durch mehrere
Magyarenposten unsichtbar, wie ein Elf, durchzuschleichen und an Ort und Stelle
wieder durch massives Austreten einen Feind in Entsetzen zu jagen, dessen Stärke
unbekannt, aber jedenfalls um vieles größer war, als die der Angreifer. Wurde
man nicht schon unterwegs von den Magyaren erschlagen, so hatte man allerdings
die Aussicht, sich von einer großen Uebermacht mit mehr Energie, als freundlicher
Nachsicht empfangen zu sehn. Die Elfen, welche sich zu dieser Nachtparthie ge¬
meldet hatten, sahen freilich auch darnach aus. ES waren meist Söhne der tür¬
kischen Berge mit Niesenleil'am und verzweifeltem Sinn, Haiducken und ähnliche
Herren, wie Stephan Jzabaran, der Gurgelabschneider; aber anch unser Freund
Bogislaw war von der Parthie.
Die Kolonnen des Hauptcorps formirter sich, die Freiwilligen zogen unter
dem Zuruf derselben zum Lager hinaus. Schnell legte sich das Dämmerlicht des
Abends über die Ebene, eine finstere sternlose Nacht folgte, lautlos schlich der
Haufe durch die schwarze Landschaft; Bogislaw neben dem Arambassa, welcher den
Zug führte. Da glitt eine große schattenhafte Gestalt ans dem Zuge heraus bei
ihnen vorbei, voraus auf den Weg, welchen sie zogen. Bogislaw stieß den Arambassa
an. „Was läßt Du ihn voransgehn?" — „Es ist Wille, der Haiduck," murmelte der
Arambassa, „der läßt sich uicht halten, ich wollte er wäre bei seinem Oheim, dem
Teufel, es hat noch keinen Segen gebracht, wo er dabei war." — „Wer ist der
Mann?" — „Er wird es Dir nicht sagen, wenn Du ihn fragst, und es ist
nicht gut von ihm reden, so lange der Handzar noch nicht blutig ist."
Es war Mitternacht, als in der Ferne die Wachtfeuer von Ernesthaz auf-
lenchteten. Von Ohr zu Ohr flüsterte das Kommando „halt." Jovan, der
Arambassa, ging die Reihe herunter und zog die Schleichpatrouille heraus. Sie
verschwand der Schaar Plötzlich aus den Angen, der Boden hatte sie verschlungen.
Wie Schlangen glitten die Späher längs der Erde durch Gräben und Maisfelder
dem nächsten Feuer zu. Eine Viertelstunde stand der wartende Zug unbeweglich,
man horte nur den leisen Ton der Luft, welcher durch die Maisfelder strich. End¬
lich ein leises Geräusch und ans dem Graben tauchte eine serbische Kappe aus,
welche dem Buljubassa zumurmelte: „Alles in Ordnung." Vorsichtig setzte sich
der Zug in Bewegung. An der Feuerstätte saß Bogislaw, was die lakonische
Anzeige zu bedeuten hatte, die Schleichpatrouille hielt im Schatten eines niedrigen
Busches und zwei Magyaren lagen getödtet an dem Feuer. Es waren Pesther
Mobilgarden, schmucke kräftige Jungen, ihr Blut floß aus den braunen Attila'S,
die Flamme knisterte über einem der Kvssuthhüte. Das Bajonnet und der Hand¬
zar hatten das nächtliche Werk gethan, kein Schuß war gefallen, ja kein Laut der
überraschten Opfer war gehört worden. — Rasch rückte man vor, der Aram¬
bassa trat wieder zu Bogislaw und raunte ihm zu: die Arbeit war fertig als wir
kamen. „Wer hat's gethan?" — „Er," sprach der Arambassa und wies mit dem
Kopfe auf einen finstern Mann, der seinen Handzar an der braunen Kotze ab¬
wischte, die Leib und Waffen des Haiducken umhüllt. — Durch die Reihen aber
summte die Nachricht: zwei Compagnien Pesther und etwa dreißig Husaren liegen
im Dorfe, in der Hauptwache trinken und spielen sie. — Vor der Thür der
Wache macht der hcrangeschlichene Hause halt, und mit Erstaunen sieht unser
Freund eine serbische Nothkappe vor der Thür Schultern, es war diesmal Stephan
Jzabaran. Ein behagliches Grinsen des Burschen wurde in dem Lichtschein sicht¬
bar, der durch das Fenster fiel; zu seinen Füßen lag der Rumpf des ungarischen
Postens. Er hatte einen Scherz nach seiner Art gemacht, allen; hatte er sich in
das Dorf geschlichen und durch einen Wurf mit dem Messer, Kehle und Leben
des Mobilgardisten zerschnitten. Das Bajonnetgewehr des Todten hielt er den Her¬
anziehenden entgegen.
Für einen sentimentalen Mann war der Augenblick grauenhaft. Vor der
Thür der Tod mit geschwungenem Messer und drin in der Stube der fröhliche
Lärm der Unglücklichen, über welchen das Verhängnis; schwebte. Man hörte deut¬
lich das Schnarchen der Schlafenden, mau hörte wie die Trümpfe kräftig auf
den Tisch geworfen wurden und wie das Geld der Spieler rollte. — Der Bul-
jnbassa stieß mit mächtigem Tritt die Thür aus und stand mit hochgezücktem
Handzar plötzlich vor dem Spieltisch. Starr vor Schrecken blieben zwei der
Spieler sitzen, einer sprang entsetzt auf und schrie: .s«i istonem, ki-lox - vinitor!
riß den Spieltisch um, Geld und Karten rollten am Boden; er, der Rufende,
aber sank vom Handzar des Buljubassa auf den Tod getroffen mitten unter sie
auf die Diele. Die Serben füllten die Stube, das Gemetzel begann. schlaf¬
trunken, halb im Taumel, fallen die Meisten ohne Gegenwehr. Plötzlich fleht
unser Freund einen Flintenlauf gegen sich blinken, zwei Fuß von seiner Brust
droht die Mündung, da springt schnell wie der Blitz eine dunkle Gestalt, ihn deckend,
zwischen ihn und das Gewehr; ein Schlag, ein Schuß, das Gewehr und der
Schütze liegen ihm zur Seite und der Mann vor ihm hält die Hand an die ge¬
troffene Schulter. Bvgislaw springt vor und sieht seinem Retter ins Gesicht, es
ist Wille, der Haiduck.
Unterdeß dauerte das Gemetzel an den Wänden fort. Wie toll stürzten
sich die Serben auf die jungen Magyaren und erwürgten die Entsetzten, wie der
Wolf die jungen Ziegen. — Endlich schlug einer der Ungarn mit starkem Kolben¬
hieb an die Hängelampe, welche von der Stubendecke die blutige Scene erleuchtet
hatte, das Licht schwankte und flackerte. — Und merkwürdig! sogleich wurde es
still in der Wachtstube. — Zischend ertrank die Flamme des Dochts in dem über¬
strömenden Oel, eine dichte Finsterniß fiel auf das Zimmer, Keiner sah den
Andern. Keiner sprach, Keiner regte sich. Denn Keiner kann zustoßen, der Waf¬
fenbruder könnte den Waffenbruder erschlagen, Freund neben Feind stehn sie dicht
neben einander, starr und regungslos, und Jeden überrieselt ein Schauer von
Sorge, Jeder muß fürchten bei der ersten feindlichen Bewegung den Stahl
seines Nachbars zwischen den Rippen zu fühlen, vielleicht den Stahl seines Bru-
ders und Freundes. Nur das Wimmern und Röcheln der Sterbenden unterbricht
durch einige Secunden die Stille tu dem Zimmer deö Todes. — Da knallten
draußen zwei Schüsse, ein dritter kurz darauf. Einige Mobilgarden waren im
Anfang des Kampfes dnrch das Hintcrfenster der Stube entsprungen, sie schlugen
sich draußen mit unsern Leuten und riefen das Dorf wach. Zugleich sprang ein
Serbe mit brennender Fackel in das Zimmer. Ihr rothes Licht siel grell auf die
Stätte der Verwüstung und beleuchtete eine Gruppe von Figuren, welche mit zu-,
sammengezogencn Brauen, die Hand um den Handzar gepreßt, dastanden, wie
durch einen Zauber in Stein verwandelt. Unter der Lampe aber stand noch der
Bnljubassa und rief jetzt mit tiefer Stimme: es ist genug, ergeht Euch! — Selbst
in diese rauhen Krieger war Verwunderung über das Geschehene und eine ge-,
wisse Versöhnlichkeit gekommen. Daß sie in der Finsterniß durcheinander gestanden
hatten, Freund und Feind, Jeder von ihnen hilflos in der Macht des Andern,
das hatte für den Augenblick ein menschliches Band zwischen den Parteien geknüpft.
Die Magyaren dachten nicht mehr an Widerstand, die sert'en zögerten mit dein
Angriff, die Mobilgarden streckten die Waffen und erhielten Quartier. Spät genug,
es waren nur noch sechs übrig.
Unterdeß war's im Dorfe lebendig geworden, die letzten Schüsse hatten Alles
aufgestört, und die Serben drangen von der Wache aus im Dorfe vor. Es folg¬
ten die Scenen, welcher jeder Ueberfall bringt. Die überraschten Feinde liefen hin und
her, mit Waffen, ohne Waffen, halb bekleidet, ohne Willen, ohne Entschluß. Die
Meisten flohen zum Dorf hinaus, vou dem kleinen Häuser der Serben nicht ver¬
folgt, zwischen den Fliehenden und Verfolgern rannten die Einwohner des Dorfes
umher, mit gesträubtem Haare und glotzenden Augen, welche vor Furcht tcllcrgroß
geworden waren, sie schrien ihr: .Ilü istenem und taumelten unter die verfolgen¬
den Serben. Einige Züge Garden sammelten sich endlich in der Mitte des Dorfes
und versuchten sich zu stellen, aber sie waren zu gut überrascht um einen starken
Widerstand leisten zu können. Das scharfe Feuer und ein Sturmangriff der Unsern
trieb einen Haufen uach dem andern zum Dorf hinaus. Zwei Stunden nach Mit¬
ternacht war Ernesthaz vom Feinde geleert. Und im Mvrgcngrau sammelten die
Serben die Federn der gescheuchten Vögel zusammen, eine Fahne, Waffen, Mon-
turen und 32 todte Magyaren, die größtentheils unter dem Messer und Jatagan
der Haidnckcn gefallen waren. Beim ersten Sonnenstrahl ging unser Freund durch
das Dorf, und sah mit Verdruß ans die Spuren des siegreichen Kampfes. Er
war in der unangenehmen Stimmung, welche mit der Abspannung zu kommen
Pflegt. Diese Abspannung ist bekanntlich am peinlichsten nach dem Rausch, den
das Blutvergießen des Kampfes über den thätigen Theilnehmer bringt. Es wurde
stiller im Dorf, überall suchten sich die müden Serben im Lager auszuruhn, nur an der
Wache stand noch der ehrenwerthe Herr Stephan Jzabaran und schritt mit dem Gewehr
des getödteten Mvbilgardisten bewaffnet, an dem kopflosen Rumpfe gemüthlich auf und
ab. Es war eine Ader von eigenem Humor in dem Burschen, der reguläre Krieg
freute ihm wenig, er war kaum ein Soldat zu nennen; wie der Marder, ging er
am liebsten allein den Kriegspfad über die gefährlichsten Stellen. Er schlich sich
tief in's Feindesland hinein, bestand haarsträubende Abenteuer, überfiel, raufte
und wurde gerauft, alles um einer Liebhaberei willen, welche allerdings unbequem
für Andre wurde; denn seine Liebhaberei war das Kopfabschneiden. Abgesehen von
dieser Schwäche, welche er mit einer gewissen cannibalischen Laune verzierte, war
er ein zwar roher, aber erträglich gutmüthiger Mensch. Wahrscheinlich anch ein
früherer Haiduck, war er mit dem General aus Türkisch-Serbien herübergekommen;
seine Treue, seine ungewöhnliche Schlauheit und eine Kühnheit, die selbst unter
den Serben beispiellos war, hatten ihn dem Feldherrn nützlich, im Lager zu einem
populären Charakter gemacht. Er war halb Profoß, halb Vertrauter des Gene¬
rals, und je nach Umständen Spion und Abenteurer. Seine Gemüthsruhe war
unerschütterlich, seine Laune unzerstörbar, sein Körper von Stahl. Er sah den
vorübergehenden Culturmenschen, unsern Freund, wohlwollend an und zwinkerte
vergnügt mit den Augen. — „Hast Du den Wule gesehn?" frug Bvgislaw^ —
„Dort liegt er," antwortetete Stephan, mit Anmuth alt sein Gewehr fassend. —
Hinter der Wache, das Gesicht nach der ausgehenden Sonne gerichtet, lag der
Haiduck, das Haar struppicht von Nachtthau und geronnenen Blut, im Gesicht
erdfarben, wie ein Todter. Die zerschossene Schulter wM noch nicht verbunden.
'
Bogislaw trat zu ihm, faßte ihn bei der Ha»d nud sprach seinen Dank und
die Sorge aus, daß er gefährlich verwundet sein müsse. Der Haiduck schüttelte
mit dem Kopf; als aber der Freund ihn weiter frug, wie er dazu gekommen sei,
sich zwischen den Gewehrlauf und eine fremde Brust zu werfen, sah ihn der Hai¬
duck mit halb erloschenen Blick an und sprach trotzig: nicht für Dich, sondern
für mich hab ich's gethan, und wandte sich ab von dem lästigen Frager.---
Seit dem Tage war er uns ein Räthsel, dessen Lösung wir suchten. — Knicanin
nahm mit dem Hauptcorps in derselben Nacht Lazarfeld. (Forts, folgt.)
Drei Tage lang nahm er Anstand auf die Welt zu kommen. Als er endlich
heut vor hundert Jahren in Frankfurt erschien, war er scheintodt und sah recht
schwärzlich und unansehnlich ans; sie hasten ihn mit Wein, bis er anfing zu
schreien. — Später hat sich das Unansehnliche an ihm auffallend verloren. —
Keines Menschen Leben ist so viel begutachtet, gefeiert und beneidet worden,
als das seine; mehr als ein Gott, denn als ein Staubgeborner wurde er verehrt!
durch den Zauber einer großen und schönen Persönlichkeit unterwarf er sich Dorf
und Stadt, Schlafzimmer und Hof; fast 50 Jahre hat er jede Thätigkeit im Reich
des deutschen Geistes geleitet, gefördert, bestimmt; er ist der gelehrteste und doch
der gesündeste Dichter jener wunderbaren Periode gewesen, wo man durch schöne
Gelehrsamkeit und subtile Gefühle die Privilegien der Aristokratie erhielt, das Recht
über dem gemeinen Leben des Volkes in reiner Höhe zu stehn und sich anstaunen
zu lassen.
Das Gemisch von edler Schönheit, jugendlicher Sentimentalität und absto¬
ßender Pedanterie, welches die künstlerischen Erscheinungen jener Periode charakte-
risirt, ist durch Goethe auch auf uns übergegangen, noch sind wir Alle unter dem
Einfluß seiner Bildung erzogen und die Geschichte der letzten Zeit lehrt, wie die
deutsche Volksseele geformt wurde durch die letzten hundert Jahr, deren vollkom¬
menste Blüthe er war. ,
Deutsche Nation, mein vielbesungener, vielbeschäftigter Herr Geheimer Rath,
seit dem Jahr 48 spielst Du Goethe's Dichtungen in der Politik ab. Wie daS
Schauspiel Götz vou Berlichingen, so war Deine Erhebung von 48 eine Reihe
von kleinen Scenen, Episoden, plastischen Momenten und wie dem Dichter jenes
Theaterstücks sehlte Dir die Kraft der dramatische» Concentration; Dein Frank-
furter Parlament war wie Egmont, ein Held ohne Thaten, mit brillantem Costüm
und edlen Gefühlen, zuletzt ein Opfer der höfischen Intrigue und eigener Ueber¬
schätzung und jener Römer ist das knorrige Klärchen dieses Egmonts; und wieder
die Stimmung unsrer Patrioten in diesem Jahr entspricht genau dem Leivcn des
jungen Werthers, der sich und seine Zukunft aufgibt, weil ihm ein geliebtes
Ideal verloren ist. Jetzt ist die Politik in die Hände der Höfe gekommen, wie
Göthe, als er den Werther geschrieben hatte. — Ob das Leben der deutschen
Nation unter dem Einfluß der Höfe so weit kommen wird, wie Göthe in Weimar,
wollen wir abwarten. —
Bei allen deutschen Poeten ist der kleine Klatsch aus ihrem Leben unaus-
stehlich, selbst bei Schiller. Bei Goethe aber muß man schon entschuldigen, wenn
anch der honnette Mann stellenweis eine rechte Sehnsucht bekommt nach dem pikan¬
ten Detail seiner wirklichen Existenz. Nicht mir deshalb, weil sie ihn so sehr
zum Götzen gemacht haben, sondern aus einem bessern Grunde. Goethe's Wesen
ist mehr und zuweilen besser ans seinem Leben, als ans seinen Schriften zu erkennen.
Es ist wunderbar, wie der geniale Mensch überall, wo er dazu kam, einen epi¬
schen Ton, einen gewissen Idealismus in daS Treiben seiner Mitmenschen her¬
einbrachte, wie Allen der Theil ihres Lebens, den sie mit ihm gemeinsam ver¬
lebten, noch in später Erinnerung geweiht und mit einem heiligen Schimmer ver¬
blutet erscheint. Und geschah den Männern grade so, wie den Frauen. — Alle
empfanden etwas Besonderes, Juipoinrendes in ihm, dem sie sich Hingaben, daS
befruchtend und verändernd auf ihr Leben wirkte; sie nannten das entweder un-
ividerstehliche Liebenswürdigkeit, oder erhabene Menschengröße und lassen doch mit
diesem Lob, Wesen und Wirkung von Goethe's Natur sehr wenig erklärt. Er
war unwiderstehlich, nicht weil er in der That liebenswürdig und groß sein konnte,
sondern weil er die Eigenschaft hatte, Liebenswürdigkeit und Größe in Andere
hereinzudichten und deshalb aus ihnen herauszulocken. Er idealisirte sich mit poe¬
tischer Schnelligkeit die Persönlichkeit jedes Menschen, den er anschaute, und setzte sich
mit diesem Ideal in Rapport, nicht mit dem wirklichen Kauz, den er dann gar
nicht mehr sah. Da er aber dabei ein so scharfes Auge für das Charakteristische
hatte, passirte es ihm nicht, daß er Ungereimtes und Ungehöriges in die Perso¬
nen hineindichtete; es war allerdings ein Theil ihres Wesens, deu er sich erfaßt
und poetisch zugerichtet hatte, und da er ferner mit merkwürdiger Ausdauer an die¬
sem geschaffenen Ideal und dem Rapport festhielt, in den er sich mit dem idealisie¬
ren Geschöpf gesetzt hatte, so erhielt er sich seine Beziehungen zu den Andern ent¬
weder dauernd groß und rein, oder sie hörten plötzlich und ganz auf; er brach
mit ihnen, sobald ihm irgend eine Seite ihres Wesens in die Seele fiel, die nicht
zu dem idealen Bild paßte, das er von ihnen brauchen wollte. Ans Andere
wirkte er daher zunächst erhebend und befreiend, es schmeichelte und that so wohl,
einem Menschen zu begegnen, der so „rein" auffaßte, die starke elektrische Spannung
Goethe's rief die entsprechende Spannung in dem Wesen Aller hervor, die er an¬
zog; sie gebehrdeten sich möglichst sein und subtil, so wunderlich das auch zuwei¬
len den Einzelnen stand, sie empfanden in seiner Nähe mit Befriedigung sich selbst
als anders, und bei Vielen entwickelte sich kräftig und dauerhaft die geforderte
künstliche Persönlichkeit als ein Theil ihres Wesens. — Aber die Sache hatte
gleichwohl ihre Bedenken. Die Angezogenen empfanden oft mit Befremden und
Schrecken, daß sie mit Goethe über eirie gewisse Linie hinaus nicht menschlich
verkehren konnten, daß manche und berechtigte Seiten ihrer Persönlichkeit sür
ihn nicht vorhanden waren, die er doch vielleicht an Anderen gelten ließ; sie woll¬
ten ihm näher treten, mehr von sich geben und mehr von ihm haben, das war
unmöglich; unverändert sah der Angebetete nicht auf sie selbst, sondern auf das
Zeichen, das er ihnen ans die Stirn gedrückt hatte, das störte und verstimmte
die selbstständigen, und machte die Schwächeren zu seinen Sklaven. Das
hat ihm viele harte Urtheile zugezogen, er sei furchtbarer Egoist, ein übermüthi¬
ger Aristokrat, ein herzloser kalter Diplomat. — Er war das Alles uicht, er
war uur ein Dichter mit merkwürdiger Spannung seines Idealismus; und diese
Dichtercigenschaft war seine Schönheit, seine Schwäche und sein Verhängniß.
Die größte Dichtung, welche wir von ihm besitzen, fast die einzige künstlerisch
fertige und vollendete, ist sein eigenes Leben. Er hat sich sein ganzes Le¬
ben selbst gedichtet, seine Poesien sind nur die erklärenden Noten dazu, seine
Selbstbiographie ist eine kurze Beschreibung schöner Stellen aus dem großen Ro¬
man. Von seiner Kindheit an, wo er sich seinen Gott idealisirte, ihm einen
Altar baute und Räucherwerk verbrannte, und wo er seiner Seele die alten Ori¬
ginale aus der Frankfurter Bürgerschaft poetisch zurichtete; über das Verhältniß
zu Gretchen, Friederike, Lotte, zu Lavator, Basedow, Jakobi, zum Herzog
und seinem Hofe, zur Vulpius und zum Theater in Weimar hinaus bis zu dem
schönen Höhepunkt seines Lebens, der Freundschaft mit Schiller, bis in sein Grei¬
senalter, wo Bettine seine Art das Leben zu erfassen in chargirter Weise fortsetzt,
überall ist ihm die Wirklichkeit nichts als Stoff, den er sich heranzieht, in Ideale
umformt und wieder aufgiebt, wenn er ihm nicht mehr paßt. Ueberall diese Weise
eines halb künstlerischen, halb dämonischen Schaffens. Damals als er Gleichen
und ihre Genossen sich idealisirt hatte, litt er noch bittere Schmerzen, indem er den
Gegensatz zwischen seinem Bild, das er liebte, und den wirklichen Menschen erfuhr;
später hat er diese Schmerzen getäuschter Liebe auch oft Anderen bereiten müssen. —
Er liebte das Ideal sehr, das er sich von Friederiken gemacht hatte; aber als sie
in seinen städtischen Kreis gekommen war, empfand er aus der Unbehilflichkeit ihrer
Schwester eine Differenz zwischen dem wirklichen Leben des Mädchen n»it dem,
was er sich daraus gemacht hatte, und er verließ sie; man kann nicht sagen, daß
er ihr untren wurde, sie selbst hatte er nie geliebt und dem Bild, das er liebte,
hat er die Liebe bewahrt. Sein Verkehr mit Lotte und Albert war durch seine
Persönlichkeit schon so künstlerisch zugerichtet, daß er fast noch während seinem
Liebesrausch wirklich geschriebene Briefe der Beiden in Theile des Romans, den
er leidend und entzückt in seiner Phantasie durchspielte, abdrucken konnte. Als er
nach Weitnar kam, und den jungen Herzog und Hof in seligem Uebermuth poetisch
behandelte und umformte, wurde allmälig anch er durch große Verbindungen und
große Pflichten gegen das wirkliche Leben gefesselt, und es ist sehr belehrend zu
untersuchen, wie er sich im Lauf eines langen Lebens zu der unpoetischen und
unbezwinglichen Wirklichkeit des weimarischen Staates stellte. Ein Mal entfloh
er ihm aus innerster Angst nach Italien, als die Prosa der höfischen Verhältnisse
mächtiger geworden war, denn seine Kraft. Als er aus Italien zurückkam, verführte
ihn das Behagen, mit dem er die schöne Sinnlichkeit Italiens sich idealisirt hatte,
(die Elegien), sich die kleine Vulpius in sein Gartenhaus in Weimar zu ziehen,
ste gebar ihm einen Sohn und er fühlte die Verpflichtung, auch in ihr die ge¬
meine Wirklichkeit bei sich zu dulden, nachdem ste ihm unbequem geworden war.
Und doch, wenn jenes kleine Gedicht wirklich auf sie gemacht ist, konnte er noch
als sie starb, von ihr sagen: „meines Lebens ganzer Gewinn ist deinen Verlust zu
beweinen"; und man kann vielleicht selbst aus der geistreichen Antithese in dieser
herzlichen Klage schließen, wie frei er der Todten gegenüberstand, und doch wie
liebevoll seine Seele noch an dem selbstgemachten Bilde von ihr hing.
Die schönste Zeit in seinem Leben war seine Verbindung mit Schiller. In
allen andern Verhältnissen zu Männern und Frauen, welche er eingegangen war,
selbst seinem Herzog gegenüber, war ihm die Reaktion ihres wirklichen eigenen
Wesens gegen die Seiten ihrer Persönlichkeit, welche er sich in sicherem Stolz ver¬
klärt und an ihnen herausgebildet hatte, wohl hier und da bemerkbar geworden
und hatte ihn verstimmt und abgekühlt; jedenfalls hatte er bei seiner Auffassung
der Menschen ihnen mehr gegeben, als er von ihnen zurückerhielt. Bei Schillern
war das ganz anders. Hier trat ihm eine mächtige schöpferische Kraft, welche
sich schneller und stärker als er selbst concentriren konnte, allmälig nahe, mit ahn»
lieben Bedürfniß für ideale Freundschaft, aber zugleich mit einer ungewöhnlichen
Fähigkeit, sich das Fremde durch Reflexion verständlich zu mache». Der Anfang
ihrer Freundschaft war kein schnelles Hingeben, sondern ein sorgfältiges Beobachten
und Studiren der gegenseitigen Persönlichkeit, wie sie sich im Leben und in ihren
Werken aussprach, darauf ein Ausschließen des eigenen Innern und ein fortdauern?
des Vergleichen der beiderseitigen Urtheile. Wie Schiller erst durch die Verbin¬
dung mit Goethe ein kunstvoller Dichter in der besten Bedeutung des Wortes
wurde, so' hat Goethe erst durch ihn das Verständniß über die Tragweite, die
Höhe mW den Adel seiner dichterischen Kraft und über das Verhältniß des poe¬
tischen Schaffens zum wirklichen Leben erhalten. — Die Stunde, in welcher Goethe
die Nachricht von Schiller's Tode erhielt, war die schwerste in seinem Leben, für
uns eine sehr rührende Katastrophe. Wohl war er verwaist und einsam seit der
Zeit, von da an begann er alt zu werden. Jene eigenthümliche Begabung, die
Menschen seiner Umgebung zu idealisiren und dadurch umzuformen, wird seit der
Zeit oft lästig und drückend. Der stolze Greis sucht nur heraus, was ihm bequem
ist, ihm schmeichelt und wohlthut; er wird seiner Zeit fremd, deren unreifes
Streben uach neuen Gestaltungen er nicht achten, noch weniger beherrschen will.
Und da er in den Sarg gelegt wird, noch immer schön und kräftig, wie ein Götter-
sohn, ist es den Ueberlebenden wirklich so, als wäre ein Gott geschieden., einer
der herniederkam aus den Wolken, um unter uns zu leben, zu schaffen, und der
doch nicht ganz so gelebt und geschaffen hat, wie die Besten der Andern; es war
etwas sehr Ungewöhnliches und schwer Vcrstäudliches in ihm; oft nennen wir eS
wunderschön, zuweilen dünkt es uns ein Mangel. Wohl hat er die Menschen
gekannt und geliebt, aber anders als wir; wohl hat er alle Dinge dieser Welt
mit scharfem Ange betrachtet, aber was er ansah, erfuhr unter dem Strahl seiner
Augen eine Veränderung, es wurde, so weit es konnte, ihm selbst ähnlich.
Wir feiern jetzt sein Gedächtniß durch Rede und neue Schriften über ihn.
Ein Buch fehlt uns noch immer, sein Leben. Wer uns Deutschen das reichen
könnte, wie es geschrieben werden muß, ohne Diplomatie und Schonung, mit
großem Blick und genauer Kenntniß des Details, dem wollten wir sehr danken.
Der letzte Artikel wegen Mangel an Raum im nächsten Heft.
Als sich im März des vorigen Jahres in Leipzig der deutsche Verein bildete,
zunächst im Gegensatz gegen die radicalen Clubs, die schon damals in wüste De¬
magogie verwilderten, wollten einige alte Herren ausdrücklich in die Statuten
aufgenommen wissen, daß der Verein keine republikanischen Gesinnungen unter sich
dulde. Der Punkt wurde damals beseitigt, theils weil die Anerkennung des mo¬
narchischen Princips in Bausch und Bogen mit dem Zweck, den wir uus alle ge¬
setzt hatten, der Einheit Deutschlands, nicht recht stimmen wollte, theils weil
ein großer Theil der gemäßigten Partei, so sehr er gegen die prononcirten Repu¬
blikaner Opposition machte, dennoch das Bild der Republik im Herzen trug. Man
rechtfertigte damals das Festhalten an der konstitutionellen Monarchie nicht durch
die Vernunftmäßigkeit dieser Staatsform an sich, noch viel weniger durch eine
eigentlich royalistische Gesinnung, man war nur gegen den gewaltsamen Sprung
vom Absolutismus zur unbedingten Demokratie, man wollte durch die Uebergangs¬
form des Constitutionalismus allmälig erst die Selbstregierung des Volks vermit¬
teln. Wenn einmal ein intensiver monarchischer Enthusiasmus losbrach, so war
das ein vereinzelter Fall. Ich erinnere mich an einen Redner, der damals häufig
und stets mit „fortlaufenden" Beifall sich vernehmen ließ, wie er einmal in einer
Berathung über das Zustandekommen der deutscheu Flotte plötzlich in einen leb¬
haften Jammer gerieth, daß man über der deutschen Flotte die Unterthanentreue
gegen den allergnädigsten König und Herren aus den Augen setze. So etwas
wurde damals als ein vloßes Curiosum angesehn.
^, Seitdem ist der Royalismus nach 'allen Seiten hin so bestimmt und laut
hervorgetreten, daß mau sich über sein Dasein und folglich seine Berechtigung
nicht verblenden darf. Es ist nützlich für unsere weitere Entwickelung, sich über
seine Natur ins Klare zu setzen.
Zunächst fällt uns die Bemerkung auf, daß von den verschiedenen constitui-
renden und gesetzgebenden Versammlungen eine einzige einen royalistische» Charakter
trug, und zwar diejenige, von der man es am wenigsten hätte erwarten sollen,
die Paulskirche. Alle übrigen, die Ocstreichische und Preußische, wie die dor kleinen
Staaten, waren trotz aller Schonung des monarchischen Princips, ihrer wesent¬
lichen Richtung nach republikanisch, d. h. antimonarchisch.
Der Grund davon liegt nicht allein darin, daß in Frankfurt bei weitem mehr
Bildung und Besonnenheit vertreten war, als in irgend einer der übrigen Con-
stituauten. Das Bewußtsein eines Princips tritt erst hervor an seinem Gegensatz.
In Wien, in Berlin, in Dresden n. s. w. hatte man zunächst mit der Beseitigung
der Mißbräuche zu thun, die sich an das bisherige Staatswesen knüpften und die
alle ihren letzten Pfeiler im Königthum fanden. Das Positive desselben festzuhalten,
war kein Grund vorhanden, denn es gab keinen äußerlichen Feind, der es an¬
fachte. Anders in Frankfurt.
Welches war der Moment, in dem sich der Royalismus zuerst Lust machte?
Als Brentano die Unverschämtheit hatte, den Prinzen von Preußen mit den ba-
tis-hen Rebellen in eine Kategorie zu werfen. Damals drang der größere Theil
der preußischen Abgeordneten auf die Tribune, um deu Redner herunterzureißen,
ihn herauszufordern oder auch allenfalls ihn unmittelbar zu züchtigen. Die Sache
wurde in der Weise beigelegt, daß der Präsident gegen Brentano einen motivirten
Ordnungsruf aussprach, weil er einen edlen Volksstamm beleidigt habe.
Auf den ersten Anschein ficht diese Motivirung sonderbar genug aus; wenn
sich z.B. eine ähnliche Redensart auf Heinrich 72. oder aus eine» hessischen Prin¬
zen bezogen hätte, so hätte man es wohl als eine Verletzung fürstlicher Personen
rügen können, aber den edlen Volksstamm hätte man aus dem Spiel gelassen.
Dennoch war in jenem Ausdruck etwas Richtiges. Es war das erste Zugeständniß
der Vertreter des deutschen Volks, daß man das specifische Preußenthum zu re-
specnren habe und daß dieses mit dem monarchischen Princip in einem wesentlichen
Zusammenhang stände.
Daß die Oestreicher mit ihrem Royalismus viel weniger hervortraten, hatte
einen sehr einfachen Grund. Trotz aller Versicherungen von Seiten der Linken,
daß man Oestreich von Frankfurt aus so gut regiere» wolle, als die kleinen deut¬
schen Staaten, hat man doch nie deu Versuch dazu gemacht. Eigentlich drückte
immer uur das preußische Königthum auf der Demokratie, ja man fand es sogar
höchst bequem, Preußen durch Oestreich in Schach zu halten; man schmeichelte
der östreichischen Gemüthlichkeit, u»d diese fand es — natürlich mit Ausnahme
der eigentlichen Staatsmänner — ebenso angemessen wie angenehm, ihrerseits mit
der Republik zu liebäugeln, die gegen den fernen Doppeladler immer viel weniger
einzuwenden hatte, als gegen den bekannteren Königsvogel.
Dennoch fand auch der specifische Patriotismus Oestreichs Gelegenheit, sich
auszusprechen. Es war, als Rüge, der Kosmopolit, den Sieg der Italiener
über deu Tyrannen Radetzky wünschte. Es erfolgte ein Auftritt, wie damals von
Seiten der Preußen gegen Brentano, und der Präsident, Herr v. Gagern, fand
sich veranlaßt, den Redner des halben Vaterlandsverraths zu zeihen, obgleich jener
Krieg in Italien anerkannterweise ein östreichischer Privatkrieg war. Aber wo
war der Mittelpunkt der Monarchie in Oestreich? Nicht in der Person des Kai¬
sers, den man wohl den guten Willen hatte, zu lieben, vor dem man aber keine
sonderliche Ehrfurcht empfand, nicht in der Negierung, denn diese war vom Libe¬
ralismus inficirt und schwach nach beiden Seiten hin. Er war in der Armee,
dem einzigen wirksamen Bande, das die verschiedenen Nationalitäten zusammen¬
hielt und das die getrennten mit eiserner Klammer wieder aneinander gekettet hat.
Denn die realistische Gestnnnng äußert sich am bestimmtesten im unmittel¬
baren Dienst, und zwar im ehrenvollen. Das Heer ist der klarste Ausdruck der
nationalen Einheit, des gemeinsamen Ehrgefühls, des gemeinsamen Gehorsams
gegen eine höhere Macht. Darum richtete sich in Deutschland die realistische
Gesinnung immer gegen Preußen, dem die Heere folgten, nicht gegen den Reichs-
verweser, das Erzeugniß friedlichen, parlamentarischen Bestrebens; selbst nicht
gegen die einzelnen Fürsten. In Deutschland ist überhaupt von dem eigentlichen,
specifischen Royalismus nnr in Oestreich und Preußen die Rede, allenfalls in
Baiern. Freilich muß man in diesem Begriff die verschiedenen Momente ausein¬
ander halten.
Ich unterscheide nämlich diesen specifischen Royalismus, den ich nur in krie¬
gerischen, geschichtlichen Staaten finde, sowohl von dem egoistischen der conserva-
tiven Gesinnung als von dem doctrinairen der Legitimität.
Es ist bekannt, wie für die conservative Partei im vorigen Jahre die Mo¬
narchie das letzte Symbol des Bestehenden überhaupt war. In einem Leipziger
Kaffeehaus erschien einmal mit allen Zeichen eines verwilderten Gemüths ein ehr¬
licher Philister mit der Schreckensbotschaft, in Hamburg habe man die Republik
ausgerufen. Das war ganz ernst gemeint, denn unter Republik dachte mau sich
nicht eine bestimmte Staattform, sondern Terrorismus und Anarchie. Ich sah
einen Frankfurter Weinreisenden — diese Classe wurde insgesammt sehr loyal,
weil in der Revolution ihre Geschäfte schlecht gingen — auf das Wohl des Kö¬
nigs von Preußen anstoßen, und Nadoivitz tadeln, daß er uoch uicht weit genug
„rechts" wäre.
Dabei muß man aber zwei Umstände nicht ans den Augen lassen. Eine
Menge adliger Familien in Schlesien, so wie so mancher wackere Geschäftsmann in
Leipzig, war entschlossen, um den republikanischen Umtrieben, von denen das Va¬
terland zerrissen wurde, zu entgehen, nach Amerika auszuwandern. Eine Flucht
in die Republik vor deu Republikanern! Nicht an der Monarchie war ihnen ge¬
legen, sondern an der Stabilität des ordnungsmäßigen Geschäftsganges; nicht die
Republik fürchteten sie, sondern die werdende Republik, das hitzige Fieber einer
Uebergangsperiode. Wäre ihnen die Republik fertig präsentirt worden, ohne ein
erhebliches Fallen der Renten, sie hätten sich schnell genug mit ihr ansgesölmt.
Ein zweiter Umstand ist folgender. Unter den beiden Hauptparteien, welche
aus der Revolution hervorgingen, war die crbkaiserliche, trotz ihrer royalistischen
Haltung, nicht minder feind dem Bestehenden, als die demokratische. In der ersten
Form dieses Bestrebens, in der Reichsverweserschaft, trat dieser Gegensatz noch nicht
so unmittelbar hervor, theils weil diese Würde provisorisch war, theils weil sie in
ihrer nächsten Wirksamkeit vortrefflich dazu diente, die Revolution zu bekämpfen.
Dennoch wurde dieser Erzherzog, der erste deutsche Manu, nicht weil sondern ob¬
gleich er ein Prinz war, bei jeder Gelegenheit den legitimen Monarchen entgegen¬
gehalten, die demokratische Partei betrachtete ihn als einen Keil, den preußischen
Staat auseinander zu treiben, und gutgesinnte Liberale verfehlten wenigstens nicht,
durch Toaste auf die „erste deutsche Frau" — die Baronin Brandhof, eine ge¬
borene bürgerliche, conservativen Zirkeln zu imponiren.
Als nun aber aus dem Provisorium ein definitiver Zustand werden sollte,
wurde die Sache ernsthafter. Es half nichts, durch Zurückgehn auf die Reminis¬
cenzen des heiligen römischen Reichs dem neugewebten Kaisermantel einen altfrän¬
kischen Anstrich geben zu wollen, es blieb doch ein moderner Rock. Einer neuen
Familie die höchste Würde des Reichs zu übertragen, dagegen hätten sich sämmt¬
liche Dynasten vereinigt, und eben so wenig gönnte es einer dem andern. Zwar
erklärte der Freiherr v. Vinke, Preußen würde nichts dagegen haben, daß auch
die definitive Centralgewalt an das ältere Haus Oestreich übertragen würde, falls
dieses — — Aber was nun dahinter kam, drückte eben die Unmöglichkeit der
Bedingung aus. Jedenfalls konnte die erstrebte einheitliche Regierung des Bun¬
desstaats nicht als der Totalansdrnck sämmtlicher deutschen Dynasten gelten, son¬
dern als eine neue, aus der Volkssouveränität hervorgegangene und dieselbe reprä-
sentirende Gewalt, die wesentlich gegen jene Dynasten gerichtet war. Darum hat
sich die specifisch royalistische Partei in Preußen selbst am heftigsten gegen die An¬
nahme der tricoloren Kaiserwürde gesträubt.
Diese Gesinnung, die am Königthum hält, weil der Stand der Actien davon
abhängt, hat keine» positiven Werth. In den deutschen Kleinstaaten ist kein an¬
derer. Selbst in Sachsen, Würtemberg und Hannover ist die Anhänglichkeit an
das Königshaus nur der Ausdruck der wirklich vorhandenen Stammesparticulari-
tät, die sich um so mehr scheut, im allgemeinen Deutschland ihre Eigenthümlich¬
keit aufzugeben, weil sie wohl einsteht, daß das charakteristische Moment dieses
deutschen Wesens anderwärts hergenommen werden muß. Sie wollen nicht
Preußisch werden; sie würden sich ebenso dagegen sträuben, in Oestreich aufzu¬
gehen, wenn die Möglichkeit dieses Gedanken ihnen irgendwie näher getreten wäre.
Darum äußert sich diese Art specifischen Staatenthums bei den Demokraten we-
wigstens eben so stark als bei der conservativen Partei, und sie würden gegen
eine Republik nur dann nicht abgeneigt sein, wenn der Typus ihrer Volkseigen¬
thümlichkeit an die Spitze gestellt würde.
Diese Gesinnung ist unproductiv und unberechtigt. Sie geht von keiner ge-
schichtlichem Totalität ans, und sie kann auch zu nichts Gedeihlichem führen. Po¬
sitiv ist sie eigentlich nur in den kleinen Residenzen vorhanden, wo die gesammte
Einwohnerschaft vom Hofe lebt. Aber die Existenz derselben ist eben ein Unglück
für Deutschland, weil sie den kleinstädtischen Geist, und damit das Philisterthum,
den Erbschaden Deutschlands, auf eine unnatürliche Weise festhält und fortpflanzt.
Auch in den Großstaaten findet sich dieses negative Moment des Royalismus.
Ich erinnere nur an die Rheinprovinz, die von dem eigentlichen Preußenthum so
wenig als möglich in sich trägt, im Gegentheil dem Berliner fast eben so schroff
gegenübersteht, als unsere lieben Landsleute im Königreich Sachsen oder auch in
Baiern. Aber der vermögende Theil ist dennoch gut königlich gesinnt, ans ein¬
facher Speculation; die Papiere des preußischen Staats stehn immer noch besser
als die irgend eines andern, und die Schwingen des preußischen Adlers decken
das Eigenthum mit mächtigeren Schutz, als die benachbarte» kleinen Königsvögel.
Das ist aber nicht der specifisch preußische Royalismus, der in allen übrigen
Provinzen noch immer bei Weitem den größten Theil der Bevölkerung erfüllt.
Als im Anfang der Bewegung von Seiten der Demokratie den schlesischen Bauern
goldene Berge versprochen wurden, wenn die ungerechten Bedrückungen der Edelleute ab¬
gestellt wären, so gingen diese guten Muthes darauf ein, und die Provinz kam
in die größte Gefahr. Als aber das Rumpfparlament die Steuerverweigerung
aussprach, wurde» die Bauern stutzig; davon wollten sie nichts hören, daß dem
König das Seinige nicht mehr zu Theil werden sollte. Von dieser Zeit datirt
die merkwürdige Umstimmung in der Gesinnung der Provinz.
Sehr viel thut dazu die Militärpflicht. Das ist die Zeit, in welcher der
Bauersohn lernt, sich fühlen, ans sich etwas halten. In dieser lernt er zugleich
Gehorsam und Treue gegen den König.
Dieselbe Empfindung lebt im Grundadel; sie ist aber viel lebhafter und inhat!-
voller, als bei den kleinen Staaten. Der preußische Adel hat seine kleine Geschichte, sie
ist durchaus mit den Hohenzollern verwachsen. In einem kleinen Staat reicht der Blick
des vornehmen Mannes über die Grenzen des dynastischen Territoriums hinaus,
darum sind die Gagern u. s. w. tricolor; nur der ganz unbedeutende Adel geht
in die Hofinteressen auf. In Preußen ist das anders; ein Mann wie Vinke
wird preußisch bleiben, anch wenn er noch viel unzufriedener mit der augenblick¬
lichen politischen Entwicklung des Staats werden sollte, als er es jetzt ist.
Zudem hat die preußische Geschichte so vieles, was sie nicht nur dem Gefühl,
sondern auch der Phantasie einprägt. Namentlich die glücklichen Kriege, eine Ge¬
stalt wie Friedrich der Große und die Periode des preußischen Liberalismus, der
Stcinschen Zeit, die sich auch an sehr bestimmte Erinnerungen knüpft. In den
alten Provinzen ist durch diese Tradition eine größere Gemeinsamkeit hervorge¬
bracht, als selbst in Oestreich, wo die nalivlen Differenzen immer einer völligen
Verschmelzung im Wege stehn.
Es ist eine eigene Sache mit diesem Gefühl, einem anständigen Staat an¬
zugehören. In Residenzen concentrirt, und mit aller Ueberlegenheit des Spie߬
bürgers, der mit Hosschneidern und Hoflakaien zu verkehren gewohnt ist, den
Provincialen gegenüber ausgebeutet, hat es etwas sehr Wiederwärtiges. Aber
dieses Berlinerthum ist auch nicht mit dem Preußenthum zu verwechseln. Man
lacht in Deutschland häufig über dieses Selbstgefühl eines Preußen, der persönlich
gar nichts davon hat, daß sich an den Namen seines Staats große Erinnerungen
knüpfen. Aber Niemand fällt es ein, über den Franzosen und Engländer zu la¬
chen, der sich im gleichen Falle befindet. „Wir" haben die Seit's besiegt, „wir"
beherrschen die Meere. Mr. Smith und Mr. Jenkins gewinnen dadurch keinen
Shilling, auch hat von ihrer Verwandtschaft keiner an den Indischen Schlachten
Theil genommen. Und doch ist dieses irrationelle Gefühl die erste und die ein¬
zige Quelle der Nationalität, und gerade weil Preußen allein es besitzt, ist in ihm
der Kern der deutschen Nationalität.
Lacht immerhin, wenn ihr drüben singen hört: „Ich bin ein Preuße, will
ein Preuße sein!" Oder das Arndt'sche Blücherlied:
Da schwur er beim Eisen gar zornig und hart,
Den Franzen zu weisen die preußische Art.
Und Juchhcirassassa, und die Preußen sind da,
Und die Preußen sind lustig und rufen Hurrah!
Freilich ihr singt nicht: ich bin ein Sachse, will ein Sachse sein! nicht: ich
bin ein Hannoveraner, will ein Hannoveraner sein! nicht: ich bin ein Schwarz¬
burg-Nndolstädter, will ein Schwarzburg-Nndolstädter sein! Ihr seid weniger
stolz uns euern Particularismus — mit Recht —, wenn ihr aber glaubt, darum
weniger particnlaristisch zu sein, so les't die Verhandlungen eurer demokratischen
Kammern nach, verfolgt die Wendungen eurer Frankfurter Abgeordneten, die Intri¬
guen eurer aristokratischen Ministerien, und. vor allem belauscht euch selber in
euern Bierkneipen, wo ihr jenes Prenßenlied mit eben so großer Energie, aber
ungleich geringerem Inhalt in das Gegentheil umdrehet: Ich bin nicht ein Preuße,
will uicht ein Preuße sein. NichtPreuße ist eure höchste Kategorie, damit seid ihr
freilich etwas, aber noch uicht viel.
Das Recht, wie das Unrecht dieses Svndcrgefühls könnt ihr im Kleinen schon
in dem Studentenfasching verfolgen. Wenn sich ein Corps aufgethan hat mit recht
tüchtigen Schlägern, so singt es sein: Vandalia heißt mein Vaterland! mit eben
so großer Inbrunst, als der Preuße das seine. Vergebens setzt ihm der Burschen¬
schafter die abstracte Idee der Allgemeinheit entgegen; sind in der Burschenschaft
tüchtige Kräfte, so werden sie sich doch wieder zu einem „Kränzchen" consolidiren,
pder wie sie es sonst nennen, sie werden wieder specifische Farben auf die Mütze
stecken, wenn auch dem tricoloren Bande auf der Brust ein Plätzchen verstattet
wird. Die allgemeine Studentenschaft wird unter den besonderen Verbindungen
so lange nicht leiden, als das Corpsgefühl dem Ausländer, den Barbaren — hier
dem Philister gegenüber ein gleiches bleibt.
Diese burschikosen Reminiscenzen werden in uns geweckt, wenn wir die Art
und Weise verfolgen, wie Herr v. Gerlach, Chef der Ultra's in der ersten
Kammer, die Kategorie des Schwarzweißen dem Tricoloren gegenüberstellt. Be¬
kanntlich fürchtete man, ein Ministerium Gerlach an die Stelle Manteuffel's treten
zu sehen. Nach dieser Rede furchten wir es weniger. Herr v. Gerlach gebärdet
sich wie ein Tntthahn, der auf den rothen Lappen losstürzt, weil seine Nerven
die Farbe nicht vertragen. Eine so nervöse Empfindlichkeit qualificirt sich nicht
für ein Portefeuille. Herr v. Gerlach erklärt, wenn ihm die Wahl zwischen einem
schwarzweißen Pfennig und einem trikolorcn Thaler freigestellt wäre, so würde er
den Thaler erst zehnmal umdrehen, um zu sehen, ob er nicht ein falscher wäre.
Wenn sich das auf Papiergeld bezieht, so würden wir dasselbe thun, Fud selbst
die am meisten Deutschgesinuten rothen Republikaner würden nicht einstehn, unserm
Beispiele zu folgen; sie würden gern hundert Brentano'sche Kassenanweisungen
gegen eine Preußische eintauschen. Aber wenn wir von jenem Thaler die rothe
Farbe abwischten, so daß nichts übrig bliebe, als schwarzgelb — eine Farbe, die
Herr v. Gerlach im Stillen weit mehr verehrt, als seine offizielle Litze — würde
er weniger bedenklich sein über den augenblicklichen Cours? Ich dächte nicht!
Herr v. Gerlach ist ein Royalist der dritten Classe, ein Royalist aus Doctrin,
aus religiöser Reflexion. Er ist nicht Anhänger des Königs, weil er ein Preuße
ist, sondern er ist Preuße, weil er das Königthum verehrt und vor Allen die Re¬
volution haßt. Diese Sorte hat Preußen seit zehn Jahren unendlichen Schaden
gebracht, weil sie diesen Staat seine beste Grundlage, die Solidität entzogen hat.
Nicht als einseitige, eingefleischte Praktiker hassen sie den liberalen Doctrinarismus,
sondern als umgekehrte DoctrinairS; sie sind „Professoren," Schulmeister, Schola-
stiker oder wie man es nennen will, in zwanzigster Potenz; aber sie schwärmen
nicht für die theoretische Religion des Vernünftige», des Rationellen; ihr Ideal
ist das Jrratiouelle, das Particulaire, das Unklare, Mystische, Verschrobene als
solches. Sie lieben Oestreich, nicht wegen seines tüchtigen Fonds, sondern wegen
seines unentwickelten Staatswesens; sie möchten eigentlich Rußland vorziehen, weil
es dort noch irrationeller, unklarer und mystischer zugeht, nur daß der Kaiser von
solchen doctrinairen Dithyramben, die ihrem Herzen ein Bedürfniß sind, nicht viel
hält; sie halten an Preußen nicht ii-irco «jro, sondern «moi,>>le; sie würden es
bei Weitem vorziehn, wenn sie neben den absoluten König noch einen absoluten
Adel und einen infalliblen Papst stellen könnten.
Es ist immerhin ein gutes Zeichen für deu gesunden Kern Preußens, daß die
Zehnjährige Herrschaft dieser Sorte nicht im Stande gewesen ist, es vollständig ver¬
schroben zu machen. Ihr Einfluß hat nur die Oberfläche berührt; sie haben Mann-
chen darauf ausgeschnitzt, Harlekine, Mönchskutten, mittelalterliche Junker, schein¬
heilige Pietistengehülfen; aber der Bau des Staats selber ist zu solide, als daß
ihr Federmesser tief hätte eindringen können. Ein tüchtiger Hobel, und die Rococo-
Schnörkel sind abgewischt, ohne daß das Haus Schaden leidet.
Mit einem gemischten Gefühl sehen wir Hecker zum zweiten Mal ans seinem
Vatevlande scheiden. Der Augenblick unsers Lebens, in welchem wir die letzten
Illusionen der Jngend von uns werfen, ist nothwendig und heilsam, aber «ehe
ohne Schmerz. Hecker war das fixirte Bild unserer politischen Jugend, die edelste
Gestalt jener verwegenen Richtung, welche die Freiheit, wie wir sie in der Stu¬
dentenzeit uns vorstellen, durch einen raschen Handstreich gewinnen wollte.
Sein Abschiedsgruß an Deutschland ist bitter. „Mit wahrer Sehnsucht,"
schreibt er von Havre an einen Freund in Baselland „schaue ich hinüber nach dem
fernen Westen und meiner Waldeinsamkeit; ekelerfüllt und bitter enttäuscht, seit ich
die Erde des alterschwach gewordenen Europa unter meinen Füßen fühle. Im
Eilfluge legte ich die 6000 englischen Meilen zurück, um eine Revolution, der so
gewaltige Mittel zu Gebote stauben, niederwerfen zu sehen. Aber gerade daß
Baden trotz diesem, von allen andern Stämmen im Stiche gelassen, einsam ver¬
blutete, gerade der Umstand, daß alle Häupter der republikanischen Partei zur
Verfügung standen, und doch in vier Wochen Alles zu Ende ging, gerade dieses
Alles zeigt, daß es der Masse des Volkes an wahrem revolutionären Enthusiasmus
und wildenergischer nothwendiger Kraft, den Führern an Genialität und jenem
eisernen Willen fehlt, mit welchem man die Begeisterung und Anstrengung zur
That hervorruft. Mit bitterem Gefühle nehme ich den umgekehrten Griffel und
wische 12 Jahre des redliche«, rastlosen Wirkens und Kämpfens aus den Tafeln
meines Lebens, um mit 38 Jahren von Börnen zu beginnen, und in dem kleinen
Kreise eines westlichen Bauern zu wirken und zu schaffen. Das Scheiden wird
mir aber leichter, wenn ich das, was ich seit meiner Ankunft auf dem Continent
erfahren habe, zusammen nehme. Ich selbst von der Polizei als ein Vagabund
behandelt und fortgejagt, und so lange ich geduldet wurde, Nichts hörend als
lediglich Anklagen des Einen gegen den Andern, Jeder den Andern aller Infamie,
des Verraths, der Feigheit, der Schurkerei beschuldigend, bin ich dieses widrig-
wüsten Treibens, dieser verkommenen Polizeistaaten so entsetzlich müde, daß ich den
Tag glücklich preise, an welchem ich wieder meine Axt nehmen und Waldland
klaren kann. Meine Rechnung mit der alten Welt ist abgeschlossen. El/ nicht
dieses Geschlecht vergangen ist, wird ein vernünftiger haltbarer Staat nicht erste¬
hen, und kein genialer, kräftiger, redlicher Mann das Steuer führen, weil, sobald
ein solcher auftaucht, gleich eine Meute jede seiner Thaten wie seinen redlichen Wil¬
len verdächtigt, und so Mißtrauen säet, wo Vertrauen der Energie die Dauer und
die Stärkung verleihen soll. Das Geschick hat es wohlwollend mit mir gemeint.
Wäre ich in dieser abermals verunglückten Bewegung einer der Leiter gewesen,
mein guter Name wäre jetzt eben so tief in den Pfuhl getreten: denn keine Epoche
der Weltgeschichte weist in einer so gewaltig bewegten Zeit einen so offenbaren
Bunterutt an Genie's oder großen Charakter» auf, als die jetzige. Mittelmäßigkeit,
Großrednerei, Schwätzerei und Maulheldenthum aller Ecken, links wie rechts; nur
wie eine Oase leuchtet uns Ungarn ein Kossuth aus dieser schlammigen Wüste,
und der Schlüssel dieser einzigen Größe: Kossuth leitet ein durch Uebercivilisation
und Afterweisheit nicht entnervtes, halbwildes Volk, gewohnt von Jugend auf
wilde Rosse zu bändigen und das krumme Schwert zu tragen und arm und be¬
dürfnißlos, ein Fremdling in der Genußsucht und sinnlicher Verweichlichung, zu
jagen über die weiten Steppen der Heimath. Wäre Kossuth in Deutschland auf¬
getreten, er wäre längst niedergeworfen und niedergenagt."
So ungefähr mag „der Sohn der Wildniß" gefühlt haben, als seine Liebe
zu der schönen Parthenia nicht mehr ausreichte, ihn über die Nichtswürdigkeit der
civilisirten Welt, der er selber angehören sollte, länger zu verblenden. Einen Marat
nur zum Dictator eines Monats! Die steche Generation wäre ausgerottet, und
der jungen Saat die ollula ruf-l geöffnet, auf der ein neues Heldengeschlecht das
Reich des fünften Weltalters aufrichten könnte. Jetzt muß die Axt, die nach Ty-
rannenblnt dürstete, Holz fällen zu den Blockhütten, und der Geist, in dem die
Ideen eines neuen Staatslebens sich wälzten, wird verbraucht in der Berechnung
der Bilance zwischen Einnahme und Ausgabe, in der Aufsuchung von Communi-
cationsmitteln für Getreide und Kartoffeln, von Weideplätzen für Ochsen und Schafe.
Der große Häuptling der rothen Republikaner kann nun im Verkehr mit den wirk¬
lichen Rothen die reine Natur studiren, die in der faulen Bildung der alten Welt
verloren ging.
Ich nannte Hecker den Edelsten nnter unsern Republikanern; ich hätte ihn
auch als den Glücklichsten bezeichnen könne». Ausgewachsen im kleinen, senden-,
lischen Kriege gegen die kleinstädtischen Machthaber seiner Heimath und gegen die
„Philister," welche in die Prosa der gesetzlichen Opposition verstrickt waren, ein
schöner, kräftiger Mann mit jungdeutschen Locken und Bart, dem die Jugend lei¬
denschaftlich anhing, durch eine günstige äußere Lage der kleinlichen Bemühungen
überhoben, die dem republikanischen Streben der meisten seiner Parteigenossen
immer einen gehässigen Anstrich gaben, hatte er das Glück, durch ein wohlfeiles
Martyrium einen Namen für ganz Deutschland zu erwerben. Die preußische Ne¬
gierung trieb ihn aus Berlin, gerade in einer Zeit, wo das nationale Bewußtsein
in der jungen Lyrik erstarkt war.
Dieses Ereigniß war nicht ein geringes Moment, ihm in seiner Stellung zu
der „am weitesten vorgeschrittenen Partei" dasjenige Gewicht zu geben, welches
die Würde eines Führers erheischt. Zudem war er reiner Republikaner; es kam
ihm nur darauf an, daß die Welt frei würde, das Detail war ihm gleichgültig,
darum hat er sich um socialistische Theorien nicht bekümmert. Von denen, die ihm
zunächst standen, war Itzstein zu alt und zu vorsichtig, Struve zu verschroben, die
Uebrigen zu unbedeutend und meist mit einem gelinden Anstrich von Gemeinheit.
Er war also im Vorparlament der anerkannte Chef der äußersten Linken. Die
Jugend umschwärmte ihn und brachte ihm Fackelzüge, und die allgemeine Stim¬
mung in Deutschland war der Art, daß er wohl hoffen konnte, aus dem freiwil¬
ligen Zusammentritt „anerkannter Volksmänner" werde der Convent hervorgehen,
der durch einen raschen Entschluß in Deutschland den Zustand allgemeiner Gleich¬
heit unmittelbar herbeiführte, was in der französischen Revolution jahrelange An¬
strengungen und Aufopferungen nöthig gemacht hatten.
Aber in der Versammlung selbst machte sich schon die Reaction geltend. Sie ging
nicht ganz in die revolutionäre Leidenschaft auf, und gab der Entfaltung der fried¬
lichen politischen Partei freien Spielraum. „Jede Revolution, sagt Hecker, welche
vom Gebiet der That (des unmittelbaren, schrankenlosen Wollens) hinübergleitet
auf den Boden der Discussion (des verständigen Plans), zehrt sich ans und wird
von derjenigen Macht, welche durch die Revolution gestürzt werden sollte (und das
sind die bestehenden sittlichen Verhältnisse überhaupt), ausgebeutet und zu Grunde
gerichtet."
Als daher das revolutionäre Vorparlament Anstand nahm, sich für permanent
zu erklären und die Negierung Deutschlands ohne Weiteres in die Hände zu neh¬
men, als es sogar Anknüpfungspunkte mit dem Organ der bisher anerkannten
gesetzlichen Gewalt suchte, gab es seine ursprüngliche Gewalt auf, und Hecker ver¬
ließ eine Versammlung, die nicht mehr die souveräne Revolution vertrat. Er er¬
richtete neben dem Füufzigerausschuß eine zweite revolutionäre Behörde, die noth¬
wendig mit jenem in Conflict kommen mußte. Die Kinder der Revolution desa-
vouüten einander, der entschiedene Fortschritt wurde auf den Weg der rohen Ge¬
walt gedrängt. Hecker war nun ein Hochverräther, selbst in den Augen derjenigen
Partei, die kraft der Volkssouveränität das bisher giltige Recht über den Hau¬
fen zu werfen gedachte. Denn er bewaffnete die Minorität gegen die Mojorität;
daß freilich die Paulskirche die Mehrheit des Volkes hinter sich habe, beruhte
vorläufig auch nur auf ihrer einfachen Versicherung.
Jetzt beginnt die eigentliche Romantik. „Gebt mir tausend Mann wie ich,
ruft Carl Moor, und ich will Deutschland in eine Republik verwandeln, gegen
welche Rom und Sparta Nonnenklöster gewesen sein sollen!" Eine wunderbare
Republik müßte das gewesen sein! mehr ähnlich den Rändern der göttlichen Vor¬
sehung in den böhmischen Wäldern, als jenen alten Freistaaten, in denen doch
immer die spießbürgerliche Gesetzlichkeit vorwaltete.
Im Kalabreserhut und der Bluse, Pistolen im Gürtel und den Stutzer in
der Hand, sammelte Hecker seine Gesellen im Nebel der Berge, um von da aus
das Gebiet der Philister zu erobern. Aus dem Land der Freiheit führte ihm der
Dichter Herwegh andere Abenteurer zu; ganz Baden war bereit sich zu erhe¬
ben. Im übrigen Deutschland sah man den Aufstand mit einer gewissen Verwun¬
derung an. Wie aus den Freischaaren sich das neue Regiment Deutschlands ent¬
wickeln sollte, das kümmerte ihren Führer nicht; sie begnügten sich, in burschikosen
Uebermuth gegen die Nüchternheit dieser Welt zu protestiren.
Die Nüchternheit trug den Sieg davou; ein paar militärische Schläge, und die
Republikaner stoben auseinander. Der Tod Gagern's bei Kandern war das einzige
Unglück, das Hecker zugestoßen ist, denn es discreditirte seine Sache. Er selber
schüttelte den Staub des undankbaren Vaterlandes, das nur Feiglinge und Ver¬
räther enthielt, von seinen Füßen, und ging nach der Schweiz, von da nach Ame¬
rika, seit alter Zeit der Znfluchsort geschlagener Patrioten.
Mit dieser Entfernung beginnt sein eigentlicher Ruhm. Er wurde nun der
Messias der Republik in Süddeutschland; man wählte ihn ins Parlament, man
sang Lieder auf ihn, man trug sich mit dunkler Prophezeihung über seine Rück¬
kehr. In jeder Hütte hing das Portrait des schönen Mannes mit dem unterneh¬
menden Bart, dem Kalabreserhut und den Pistolen im Gürtel. Wäre er wirklich
ins Parlament gekommen, so hätte ihn die Inhaltlosigkeit seiner politischen Ueber¬
zeugung bald beseitigt; selbst gegen Talente, wie Vogt und Ludwig Simon wäre
er in Schatten getreten. So blieb er nur der Held, dem seine Niederlage keine
Schande machte; warum hatte das feige Volk sich nicht unter seinen Schaaren
gesammelt?
Es brach der zweite, große Aufstand in Baden aus; diesmal ernsthafter,
denn das Militär ging zum Volke über. Allgemein erscholl der Ruf nach dem
mythischen Heros der früher» Revolution; man berief ihn aus Amerika zurück,
um die Dictatur über Deutschland zu übernehmen. Seine übrigen Gefährten hatte
man nun lange genug kennen gelernt, um sie gering zu schätzen. Man übertrug
ihnen wichtige Posten, weil eben kein Anderer da war, aber provisorisch und mit
Mißtrauen.
Damals circulirte ein Brief von Hecker, worin er, glücklich in seinem Far-
merlcben, aller politischen Freibeuterei entsagte. Dennoch folgte er dem Ruf des
Volkes und kam nach gerade zeitig genug, um den Fall der Revolution zu sehn.
Er nimmt nun das glückliche Bewußtsein mit sich: dieses Volk war eines Helden
nicht werth, du thatest Recht daran, es im Stiche zu lassen.
Man hat von Seiten der liberalen Partei Hecker eigentlich keinen Vorwurf
gemacht, als daß er leichtsinnig den rechtlichen Weg übersprang, daß er unzeitig
das Spiel äußerlicher Gewalt versuchte.
Dieser Vorwurf trifft doch nicht den Kernpunkt. Es gibt Fälle, wo man
mit dem Princip der Vereinbarung nicht ausreicht, weil die gegenseitigen Inter¬
essen oder auch Stimmungen keine Ausgleichung verstatten. In solchen Fällen ist
der passive Widerstand eine bequeme, aber nicht eben fördernde Maßregel. Zuletzt
entscheidet doch die Gewalt, wie es in allen großen Krisen, wie es zuletzt auch
in Deutschland geschehen ist.
Man hat dann die Berechtigung einer Revolution — nach links oder nach
rechts hin — aus dem Erfolg herleiten wollen. Der Erfolg ist viel, wenn er
nicht gerade aus einer Eskamotage hervorgeht, denn das materielle Uebergewicht
beruht in der Regel auf einem geistigen. Wenn Cromwell, wenn Napoleon, wenn
das Ministerium Brandenburg — obgleich ich es durch diesen Vergleich nicht in
den Verdacht bringen will, irgendwie von Napoleonischen Geiste inficirt zu sein —
der gesetzlich bestehenden parlamentarischen Regierung durch militärische Gewalt ein
Ende machten, so lag ihre Berechtigung in der Hohlheit ihrer Gegner. Das
blos juristische Recht hält vor ernsthaften Kollisionen nicht Stich.
Aber der Erfolg ist nicht alles. Die Geschichte wird im Allgemeinen das
Vernünftige zur Geltung bringen, denn sie corrigirt sich fortwährend selber, aber
in jedem einzelnen Fall ein unmittelbares Walten des Weltgeistes wahrzunehmen,
ist Thorheit und Frivolität. Die Hauptsache bleibt immer der wirkliche Inhalt,
den ein neues Princip in die Geschichte bringt.
Und da wird jetzt wohl kaum mehr ein Zweifel darüber obwalten, daß die
sogenannte republikanische oder demokratische Partei ohne alle Berechtigung war.
Ihr Sieg wäre die Herrschaft des Unsinns, der Gemeinheit gewesen, und der
alte Absolutismus stand bei weitem höher. Republik, Demokratie sind an sich bloße
Namen; eine Perhorrescenz des Königthums und des Adels. Damit ist aber
noch nichts gethan. Hecker, die glänzendste Erscheinung unter diesen Freiheits¬
propheten, war ein roher Naturalist, der mit ein paar studentischen Phrasen die
schwierigsten Probleme abfertigte. Wenn ein Haufe Studenten die Nachtwächter
prügelt, die Wegweiser einreißt, die Klingelschnüre vor den Thüren zerschneidet,
ein paar Fenster einwirft, so ist es zwar ganz in der Ordnung, wenn sie dafür
bestraft werden, aber es ist sonst nicht viel dagegen zu sagen; ein wenig Unord¬
nung hält das Gesetz in Athem. Und wenn sie ihren Muthwillen im Namen der
Freiheit oder der Republik ausüben, so wäre der Staat sehr lächerlich, der daraus
einen Verschärfungsgrund der Strafe entnehme.
Ein anderes ist es aber, wenn dieser studentische Muthwille sich in einer
Periode allgemeiner Entkräftung und Anarchie als politisches Moment geltend
macht. Darin bestand beiläufig der große Irrthum in Berlin zur Zeit der
Constituante. Als damals die Souveräne der Straße ihre Vertreter mit
Stöcken und Knitteln bedrohten, meinten die Herren Jung u. s. w., man
sollte sich durch solches „Schaumspritzen der aufgeregten Wogen" nicht irre machen
lassen, in England bombardirten auch die Gassenbuben den Herzog von Wel¬
lington mit Koth und Steinen, und der edle Pair wende keine andere Ma߬
regel dagegen an, als daß er seinen Wagen mit stärkern Wänden versehen ließe.
Aber der Fall ist ein ganz anderer. Der Herzog von Wellington ist Manns genug,
solche Demonstrationen der Volkssouveränität auf das Gründlichste zu verachten,
er bleibt ein Tory nach wie vor, und solche Männer sind sämmtliche edle Lords
und Gentlemen im Parlament ihrer großbritanischen Majestät. Wenn aber in
einer Versammlung, die berufen ist, die neue Verfassung eines Staats zu ent¬
werfen, zwei Drittel der Mitglieder so inhaltlos und unselbstständig sind, daß sie
sich von der Staatsweisheit, die auf der Gasse gemacht wird, inspiriren lassen,
dann sind solche „Rückschläge des Vertrauens" allerdings bedenklich, und die Ne¬
gierung hat das Recht und die Pflicht, einer solchen Wechselwirkung ein Ende
zu machen.
Freilich hängt der Erfolg mit dem Werth der Sache zusammen. Nur eine
so vollkommene Verwirrung der Principien, wie sie in den Köpfen Hecker's und
seiner Parteigenossen herrschte, macht den Weg begreiflich, auf dem er dieselben
ins Leben führen wollte. Man ruft einen Haufen Bummler zusammen, steckt die
rothe Fahne auf und damit soll dann die Republik fertig sein. Natürlich wird
die Schaar durch das erste Regiment, das ihnen begegnet, auseinander getrieben,
wie Spreu vor dem Winde, und wird Zeter gerufen über das knechtisch gesinnte
Vaterland, das seinen Retter im Stich gelassen.
Wohl ist im Lauf des vorigen Jahres Vieles vorgekommen, was uns über
die Reife unserer Nation, von der die Poeten so viel Schönes gefabelt, in Zwei¬
fel setzen kann. Aber diese Republikaner haben kein Recht, es uns vorzuwerfen.
Von allen Phänomenen unserer Unreife war ihr Auftreten das handgreiflichste.
Mögen sie in der Fremde die Gesundheit wieder finden, die sie in der Hei-
math durch ein künstliches Festhalten der Jugend über das Maß der Natur hin-
aus verscherzt haben. Keine Kraft ist verloren, die sich einen Boden realer
Thätigkeit zu schaffen vermag.
Deutschland war gegen das Ende des Mittelalters berufen durch seine Lanz¬
knechte, die es nach allen Gegenden Europas ausschickte, wo es irgend Krieg gab,
Beute und Gefahr. In neuerer Zeit haben die Polen diese Rolle übernommen;
abgelöst von allen sittlichen Banden des realen Lebens, von dem Einen Traum
ihres Vaterlandes verzehrt, glauben sie ihrer Sache zu dienen, wenn sie in irgend
einem unbekannten Winkel Enropas die Fahne der Revolution erheben. Es liegt
zu nahe, daß die cosmopolitischen Freiheitshelden sich in einfache Condottieri
verwandeln.
In Deutschland ist die Erscheinung seltener geworden. Sie war häufiger im
Lager der Legitimisten als unter den Republikanern. Fürst Lichnowski und Fürst
Schwarzenberg, der Landsknecht, sind Bilder von diesem adeligen Cosmopolitimus.
Ludwig v. Rango ist ein Beispiel auf der andern Seite. Der 56jährige Mann
hat der Revolution gedient, uicht aus Freihcits-Enthusiasmus, wie Hecker, sondern
— aus Nahrungssorgen. Die Revolution hatte ihm sein Einkommen geraubt,
und er nahm bei den badischen Rebellen Dienst, um seine Familie zu erhalten.
Er hat es vor Gericht selber ausgesagt.
Ein Leben, reich an Abenteuern und seltsame» Schicksalen! Sohn eines preu¬
ßischen Offiziers, der früh starb, im Kadettenhaus erzogen, machte er die Feld¬
züge von 1812—15 in Rußland und Frankreich ehrenvoll mit, wurde Lieutenant
und Lehrer an der Kriegsschule. Familienverhältnisse, die ihn auf zwei Jahre
nach Brasilien führten, dem Geburtsland seiner Mutter, entfremdeten ihn dem
Dienst. Vielleicht trug auch die langsame Carriere im preußischen Friedensmilitär
dazu bei, daß er den Abschied nahm. In Amalienlmrg bei Grimma (Sachsen) 1826
gründete er eine Lehranstalt, und versteht die ziemlich bedeutende Einnahme mit der
Lebhaftigkeit eines Lebemanns zu verwerthen. Wir finden ihn wieder als Hofmarschall
und Major im Dienst Heinrichs I^XXll. Er wird nach München geschickt, ge¬
rade als König Otto im Begriff ist, nach Griechenland zu gehn. Der alte Sol¬
dat regt sich, er schließt sich der Expedition an und wird griechischer Offizier.
Drei Jahre darauf treibt die nationale Reaction des griechischen Volks sämmtliche
Philhellenen nach Deutschland zurück. Er gründet in Berlin ein Institut zum
Einüben für's Fähndnchsexamcn, aber ohne Erfolg. Vergebens sucht er in Preußen
wieder Dienst. In Frankreich öffnen sich ihm bessere Aussichten; der Tod des
Herzog von Orleans zerstört dieselben. Doch erhält er in Algier eine Anstellung
als Hauptmann in der Fremdenlegion. Er kann das Klima nicht vertragen und
kehrt zurück, zuerst nach Straßburg, dann uach Offenburg, wo er eine neue Lehr¬
anstalt anlegt, diesmal mit besserem Erfolg. Da „verstopft ihm die Revolution
alle Erwerbsquellen." „Hilfsbedürftiger denn je stand ich da, ein geliebtes Weib
an meiner Seite, fünf unerzogene Kinder riefen mich um Brot, um Rettung an.
Welcher Vater würde unter solchen Umständen gezögert haben, seine Dienste einer
Regierung anzubieten, die damals im ganzen Lande als die rechtmäßige Vertre¬
tung des fernen Großherzogs angesehen wurde!" u. s. w.
Höchst prosaisch gegen den Enthusiasmus eines Hecker! Er hat sich nachher,
wie es fast durchgehends der Fall war, mit den neuen Volksführern überworfen,
ist abgesetzt und selbst arretirt worden. Trotzdem hat das Kriegsgericht den alten
Mann zu zehnjähriger Zuchthausstrafe verurtheilt. Das Gesetz will es so, aber so we¬
nig er ein Gegenstand unserer Bewunderung sein kaun, so sehr nimmt er unser Mitleid
in Anspruch. Zehn Jahre Zuchthaus! — Möchte es nicht so kommen, daß wir
Preußen uus mit unserer Strenge vor den so heftig angefochtenen Oestreichern zu
schämen haben, die in der neuesten Zeit den einzigen Weg einzuschlagen scheinen,
der den Abgrund der Bürgerkriege schließt — den Weg der Gnade und des Ver-
gessens.
Die erste Auflage dieser Karte und der dazu gehörigen Erläuterungen ist
1843 erschienen. De>ß in verhältnißmäßig kurzer Zeit eine zweite nöthig wurde,
ist ein erfreulicher Beweis für die fortschreitende Verbreitung einer fruchtbarem
Ausfassung der geographischen Studien, als sie früher gewöhnlich war. Seitdem
Ritter dieser Disciplin wissenschaftliches Leben eingehaucht hat, kounte sich anch
die Kartographie nicht mehr mit bloßen Post- und Sitnationskarten genügen lassen.
Der nächste Schritt vorwärts waren bildliche Darstellungen der natürlichen Ver¬
hältnisse der Erdoberfläche und ihrer einzelnen Theile, der großen oro- und hydo-
graphischen Erscheinungen, der Vertheilung der physikalischen Einflüsse, der Wärme,
der Electricität, des Vulcanismus 2c. Es sind das die Vorbedingungen, die na¬
turhistorischen Grundlagen, auf denen sich das geschichtliche Leben der Menschheit
entwickelt, und die Geographie hat, indem sie ihre Aufgabe so stellte, sich zu dem
Range einer einleitenden historischen Wissenschaft erhoben.
Als Zwischenstufe zwischen ihr und der Geschichte im weitesten Sinne des
Wortes steht die Ethnographie gleichfalls erst ein Kind der neuesten Zeit da. Wie
es gewöhnlich bei neugeschaffenen Wissenschaften geht, so hat auch sie sich noch nicht
scharf und reinlich von den beiden anderen verwandten gesondert, und wird na¬
mentlich in Deutschland gewöhnlich uoch als ein integrirender Theil der Geographie
behandelt. So uinfass-n z. B. die bändereichen Forschungen Carl Ritters sowohl
eigentlich geographisches als auch eigentlich ethnographisches Gebiet, ja sie greifen
nicht selten in das historische herüber, wozu die Ethnographie die Brücke bildet.
In diesem Sinne läßt sich die Betrachtung der Spracheuvertheilung allenfalls
als ein Moment der Geographie fassen, während sie streng genommen einen der wich-
tigsten Bestandtheile der Ethnographie bildet. Sprachgrenzen und Völkergrenzen
sind ja identische Begriffe. — Es ist eine bekannte Erscheinung, daß in unserer euro¬
päischen Cultnreutwicklnng Volks- und Staatengrenzen ohne Ausnahme auseinander-
fallen. So ist es in England, wo große von Celten also Nichtengländern bewohnte
Landestheile innerhalb der Staatsgrenze liegen, ebenso in Frankreich, Spanien u. s. w.
Mit Deutschland verglichen, wo dasselbe stattfindet, befinden sich freilich alle ge¬
nannten und nicht genannten Länder in dieser Hinsicht in großem Vortheile. Ent¬
weder sind dort die fremdartigen Bestandtheile unbedeutend an Zahl und an cul¬
turhistorischer und politischer Wichtigkeit, wie jene Ueberreste neidischer Bevölkerung,
die in Wales und "Hochschottland bis heute ihre Existenz fristen oder sie sind ver¬
möge ihrer geographischen Stellung genöthigt, sich in allen Dingen an die Ent¬
wicklung des Hauptvolkes anzuschließen, wie die celtischen Bewohner der Bretagne,
die auf drei Seiten vom Meere und auf der vierten von der compacten Masse
des französischen Volks umschlossen, schon dadurch keine Befähigung zu irgend einer
selbstständigen Entfaltung haben.
In Deutschland dagegen ist einmal die Masse der nichtdeutschen Bevölkerung
wenigstens in seiner östlichen Hälfte numerisch sehr bedeutend. Zieht man eine
Linie von Trient nach Lübeck, die Deutschland in zwei ziemlich gleiche Hälften zer¬
legen wende, so enthält die rechts oder östlich davon gelegene,, die deutschöstreichi¬
schen Lande eingerechnet, fast ein Drittel nichtdeutscher, slavischer Bevölkerung, und
wollte man Oestreich davon abziehn, so würde doch noch das Verhältniß der einen
zu der andern immer wie eins zu vier sein. Feruer hängen diese Slaven fast
ohne Ausnahme mit der compacten Masse ihres Volkes zusammen, und erhalten
durch diesen imposanten Hintergrund eine Bedeutung, welche die Celten Englands
und Frankreichs oder die Basken Spaniens niemals erhalten würden, wäre auch
ihre Zahl drei oder viermal so groß als sie ist.
So lange die Slaven ein passives Glied in der Reihe der europäischen Na¬
tionen waren, mochte es für unsere deutschen Staatsmänner erlaubt sein, das be¬
denkliche dieses Verhältnisses zu übersehen. Gegenwärtig jedoch, besonders nach
den Ereignissen des letzten Jahres, ist ein solches Uebersehen nicht länger statthaft.
Man muß sich wenigstens über den Thatbestand und über die nächsten Folgerungen
derselben klar werden.
Ein Blick auf unsere Sprachkarte lehrt, daß einer der Hauptsitze deutscher
Cultur im Nordosten, Ostpreußen, fast wie ein detachirtcs Fort mitten in das
Slaventhum hineinragt; im Osten, Westen und Süden davon umgeben steht es
nur durch die See und durch eine sehr schmale und langgedehnte Zunge vou deut¬
schem Lande, im Südwesten mit dem übrigen Deutschland in unmittelbarer Ver¬
bindung. , , > ' , , ,
Südlich davon dringt das Slaventhum keilförmig zwischen den ganz deutschen
Netz-District und Pommern aus der einen und Niederschlesien ans der andern
Seite bis auf wenige Meilen von der Oder heran. Im Rücken lehnt sich dieser
Keil an die breite Masse der polnischen Slaven und ist daher seinerseits ganz
anders gedeckt als jenes vorgeschobene ostpreußische Land.
Von da an zieht sich die Grenze ohne große Bogenlinien ziemlich gerade durch
Oberschlesten hindurch auch nach der Grenze des östreichischen und preußischen
Staates in der Gegend von Troppau, nur dann desto merkwürdigere Brechungen
zu beginnen, die wir für's erste unberücksichtigt lassen wollen.
Bei der gegenwärtigen Lage Deutschlands, wo Oestreich durch die Natur der
Verhältnisse und jedenfalls auf lange Zeit hinaus zu einer Sonderstellung be¬
stimmt ist, interessirt uns zunächst nnr, was Kleindeutschland, in diesem Falle Preu¬
ßen angeht.
Es ist unleugbar, daß sich jene deutsche Landzunge nur dann gegen Angriffe
von Osten her wirksam schützen läßt, wenn man im Besitze der westlich und süd¬
lich davon gelegenen Landestheile ist. Daß ein solcher Angriff über kurz oder
lang stattfinden wird, dürfte wohl Jedermann als eine ausgemachte Sache ansehen.
Rußland muß um jeden Preis in den Besitz der Weichselmündung kommen, und
sollten sich die politischen Verhältnisse im Osten von Europa so umgestalten, daß ein
neues polnisches Reich aus der Westhälfte des russischen Ländercomplezes empor¬
wüchse, so würde auch dieses demselben Zuge nach der Küste folgen. Ans die Fa¬
seleien polnischer Aventuriers, die in ihrer politischen Romantik von einer Wieder¬
herstellung Polens innerhalb der uralten Grenzen des Lechenkreises träumen und
im vorigen Jahre auf verschiedenen sauber illuminirten Karten ihren Lustschlössern
Leben und Gestalt verliehen, ist freilich nicht viel zu geben, desto mehr aber auf
die^ natürliche Schwerkraft der Entwicklung, die das ehemalige Polen Jahrhunderte
lang nach dieser Richtung fortgetrieben hat und das künftige eben so forttreiben würde.
Deutschland, wie sich von selbst versteht, kann unter keiner Bedingung sich
eines so wichtige» und um seine Cultur verdienten Gliedes berauben lassen. Es
kann dasselbe aber auch nicht behaupten, ohne eine feste Basis im Westen und
Süden. Unmöglich läßt sich diese gewinnen, wenn die Nationalität der Bewohner
jener Landschaften sie von vorneherein zu Verbündeten unserer Feinde stempelt,
die einem deutschen Heere, das Ostpreußen decken wollte, beliebig den Rückweg
ganz zu verlege» oder wenigstens sehr zu erschweren vermöchten. Der nationale
Fanatismus ist einmal bei den Slaven aufgelodert und «ach ihrer ganzen Natur¬
anlage und der Culturstufe, die sie einnehmen, ist er der energischsten Aeußerungen
fähig. Durch die Rücksicht auf die materiellen und politischen Vortheile, die ihnen
eine Verbindung mit Deutschland gewährt, kann er nur auf kurze Zeit und nur
dann beschwichtigt werden, wenn er an irgend einer Stelle isolirt aufflackert, wie
es bis jetzt bei den nationalen Kämpfen an der deutschen Ostgrenze der Fall war.
Laßt nur einmal Rußland oder das Polen der Zukunft das Banner des Slaven-
thums ergreifen, und ihr werdet sehen, wie jene posenschen Bauern, jene eassn-
bischen und oberschlesischen Söldner, an deren Lauheit die blutige Erhebung des
vorigen Jahres scheiterte, auf einmal ganz Feuer und Flamme werde», und alle
eure Robot- und Zehntenablösung, alle eure unparteiische Justiz und eure sorg¬
same Administration vergessen, über den einzigen Schrei „Tod den Wienern."
Es gibt also kein anderes Vertheidigungsmittel als eine Beseitigung dieser
Feinde im voraus, d. h. mit andern Worten eine durchgreifende Germanisirung
jener Gegenden. Nicht nationaler Fanatismus, nicht maßlose Eroberungssucht,
sondern eine nüchterne, kaltverstäudige Erwägung der Thatsachen und die bloße
Nothwehr führen zu diesem Resultate, das die Maxime jedes deutscheu oder preu¬
ßischen Staatsmannes sein muß. Bei dem vorläufigen gänzlichen Mangel an sol¬
chen hat glücklicherweise der Vvlksiustinkt diese Aufgabe selbst übernommen und sie
in dem slavischen Westpreußen und Posen wenigstens thetlweise schon entweder ge¬
löst oder der Lösung nahe gebracht. Aber der Vvlksiustinkt allein kann nie eine
große cultu historische Aufgabe genügend lösen, dazu bedarf es immer der mit
vollem und reifem Bewußtsein eingreifenden und nachhelfenden Hand des Staats¬
mannes, und es wäre auch in dieser Beziehung für Preußen und Deutschland hohe
Zeit, wen» sich eine solche baldigst der Leitung des Staates annähme.
Aehnlich ist es in Oberschlesten. Wer Schlesiens commercielle und industrielle
Lage kennt, weiß, daß gerade jene von dem classischen Geblüte der Kiolbassas
und Michel Mrvsse bewohnten sogenannten Wasserpollackischen Gegenden noch einer
unendlich reichen Culturentwicklung sähig sind. Dort sind unermeßliche Wälder und
Kohlenlager und große Metallschätze, so wie ein für den Ackerbau sehr geeigneter
Boden. Es ist ein Land, das bei einigermaßen verständiger und großartiger
Handelspolitik für Deutschland eine Art Belgien werden kann. Bis jetzt befindet
sich dort freilich alles noch in den ersten Entwicklungsstadien. Sollten wir solche
Schätze, an denen wahrlich in Deutschland kein Ueberfluß ist, und dazu den be¬
sten Raum für eine innere Kolonisation den Sarmaren oder Russen überlassen, oder,
bei cuicm zukünftigen Zusammenstoß es dem Belieben der dort wohnenden Halb¬
barbaren anheimstellen, ob sie unsere großen Etablissements vernichten, unsere
Eisenbahnen zerstören, unsere Oder sperren wollen?
Dagegen wäre es im höchsten Grade abgeschmackt, wenn wir den Bewohnern
der slavischen Sprachinsel, die sich mitten im deutschen Gebiete innerhalb der säch-
sisiuen und preußischen Lausitz das Leben gefristet hat, nicht den Spaß gönnen
wollte», in einem barbarischen Patois zu Hause, auf der Straße, in Kirche und
Schule und allenfalls auch vor dem Amtmanne und dem Richter zu reden. Wenn
es ihnen Vergnügen macht, ihren Kindern anßer dem Deutschen, womit sie allein
in der Welr fortkommen können, auch noch jene starren und rohen Trümmer ihrer
Nationalsprache einzulernen, so mögen sie es immerhin haben. Diese zweihundert-
taufind künstliche und natürliche Wenden — denn auch hier gibt es jene überall
höchst possirlichen, hier aber doppelt und dreifach lächerlichen Slavomanen, deren
Väter und Großväter sich noch bei Menschengedenken als ehrsame deutsche Schnei¬
der und Schuster im Wendenlande niedergelassen haben — werden uns niemals
eine ernstliche Diversion machen können in unseren Vcrtheidignngökncgen gegen
den Osten, selbst wenn sie wollten. Ueberdies führt das natürliche Uebergewicht
des deutschen Cnltnrmeeres, in dem sie als ein von der slavischen Kaste
weitabgesprengtes Eiland liegen, wohl binnen hundert Jahren zum gänzlichen
Untergang dieser culturhistorischen Kuriosität. —
Bis zu der Grenze Oestreichs ist die internationale Scheidelinie Deutsch¬
lands nud des Ostens, allerdings vielfach noch einer vernünftigen Nachbesse¬
rung bedürftig. Indessen läßt sich doch auch die Möglichkeit dazu wahrnehmen
und mancherlei erfreuliche Vorarbeiten sind schon vollendet. Aber von der östreichi¬
schen Grenze an, beginnt ein solches völlig willkürliche Schwanken dieser Linie,
eine solche Verzettelung und Jneinandermeugung der im Norden sast überall com-
pact einander gegenüberstehenden Nationalitäten, daß sich kaum sagen läßt, wie
die feste Regulirung dieser Verhältnisse, die aber doch auch geschehen muß, wün¬
schenswert!) und noch weniger wie und wann sie möglich sei.
Das in sich selbst Widersinnige und Unnatürliche des ganzen östreichischen
Staatswesens oder Unwesens ergibt sich für einen denkenden Beobachter schon
ans einer solchen Erscheinung wie die oben berührte. Und an Abhilfe wird na¬
türlich nicht zu denken sein, so lange nicht die Grundprinzipien der allgemeinen
Politik des Staats total sich geändert haben, wozu gegenwärtig weniger Aussicht
als je ist. Allerdings müssen wir die Erfahrungen des letzten Jahres schon vergessen
haben, wenn wir uns nicht geduldig gleichmüthig zu alle» jenen Widersinnigkeiten
des östreichischen Staatsorganismus verhielten. Sie mögen einstweilen dort selbst
sehen, wie sie damit zu rechte kommen und uns auch die gleiche Nachsicht ange-
deihen lassen.
Aber für die weiteren Geschicke Deutschlands und Oestreichs, deren haupt¬
sächlichste Interessen wenigstens in der auswärtigen Politik und vorzugsweise in den
slavischen und orientalischen Fragen zusammenfallen, und trotz aller momentanen
Irrungen bei uns und dort in ihrer Zusam»le»gehörigttit begüsse» werde» müsse»,
sind jene confusen Gren^verhälluisse der Slaven und Dents.ren ein Gegenstand
von allergrößter Wichtigkeit. Dieser breite und stumpfe Keil von Slave», der
zwischen dem Niesen- »ut <»r<geblrge und der Donan helcindnngr und eine unmittel¬
bare Verbindung der nordöstlichen und lüdöstlichcn Deutsche», der Oder und Elbe und
der Donau-und Dravelandschaften aufhebt, ist zwar von drei Leite» von Deutschen
umgebe» und an der vierte» vielfach mit dentscven Adern durchflochte», aber es
ist cire Masse von vier bis fünf Millionen Menschen, die begünstigt durch die
geographische Stellung ihrer Heimath nud wen» sie sich nur einigermaßen ihre
Verbindungslinie mit dem Kern des Slaventhums in ihrem Rücken zu sichern ver-
steht, für eine Zeit lang sehr leicht eine unabhängige und was das nämliche ist,
eine der nationalen deutschen und östreichischen Politik der Zukunft feindselige
Stellung einnehmen kann. Ein ganz unabhängiges czechisches Reich in Böhmen
und Mähren oder auch nur eine Selbstständigkeit, wie sie Ungarn im vorigen
Jahre gesetzlich gewann, wäre ein großes Unglück für den Fortbestand Oestreichs,
wie für die Sicherheit Deutschlands, das dadurch in seiner rechten Flanke auf die
gefährlichste Weise bedroht würde.
Fast noch bedenklicher steht es im weiteren Lauf der Grenzlinie. Von der
Grenze Ungarns und der Steiermark biegt sie plötzlich fast in gerader Linie nach
Westen und zieht so fort bis an die heutige politische Grenze Krains und der
Lombardei. Jenes Plateau, welches von den Ausläufern der Alpen gebildet wird
und einen Theil Ungarns, sowie das adriatische Meer beherrscht, Krain und Jstrien,
fällt außerhalb den Bereich deutscher Zunge, und nur einige wenige Punkte tauchen
wie kleine Halme im Meere des Slavismus auf, auf denen deutsche Cultur fest¬
wurzelt. So ist uus also die Verbindung mit dem adriatischen Meere, die natür¬
lichste und fruchtbarste Straße zum Süden, durch feindselige Elemente verlegt, die,
weil sie wie an anderen Punkten der Grenze Blutverwandte im Rücken haben,
bei dem ersten Signal des Kampfes zwischen Deutschland und dem Osten sich zu
unseren Feinden schlagen werden. — Die rechten wunden Stellen Deutschlands
liegen also hier, und traurig genug, es ist keine Aussicht auf eine Heilung vor¬
handen. Könnte man auf eine vernünftige östreichische Politik hoffen, die ihre
richtige Stellung zu Deutschland, die nothwendige Selbständigkeit beider auf der
einen Seite und ihre unauflösliche Verbindung auf der andern Seite, begriff und
darnach nach innen und außen manövrirte, so wäre sie freilich gegeben. Oestreich
hätte dann den Beruf, die eigenthümliche Entwicklung seiner nichtdeutschen Ele¬
mente mit Hilfe der deutschen Cultur innerhalb und außerhalb seiner Grenzen
freisinnig zu überwachen und allem Nativnalfanatismus, der in einem Bund mit
der Barbarei des Ostens seinen rohen Haß gegen die deutsche Cultur etwa zu
kühlen versucht wäre, mittelst seines ewigen Bundesgenossen, des deutschen Bun-
desstaats, niederzuhalten. Das jetzige östreichische System beschwört jedoch recht
eigentlich jene finsteren Mächte herauf, theilweise dnrch seine Bornirtheit, theil¬
weise aus Heimtücke gegen die Entwicklung Deutschlands, und aus unserem natür¬
lichen Verbündeten gegen den Osten ist bereits die erste feindliche Angriffscolonne
geworden.
Auf der ganzen Ostgrenzlinie ist alles noch im Werden, geht noch alles trüb
und confus durcheinander, wie es nicht anders sein kann, wenn ein Culturvolk
mit Barbaren zusammenstößt. Zwischen Culturvölkern, die auf gleicher oder ähn¬
licher Höhe der Gesittung stehen, kann dagegen eine derartige schwankende und
gebrochene Scheidung höchstens in den politischen Grenzlinien, niemals aber in
den ethnographischen möglich sein. Dies ist der Grund, warum unsere Karte im
Süden und Westen eine fast ganz gerade und nur nach gewissen geographischen
Motiven hie und da ihre Richtung verändernde Linie zeigt.
Der Verfertiger der Karte hat sich sorgfältigst bemüht, im Innern unsers ge¬
stimmten Sprachgebiets die einzelnen dialectischer Unterabtheilungen abzugrenzen,
welche den deutschen Stämmen der Vergangenheit und Gegenwart entsprechen.
Das Resultat dürfte für manche romantische und perfide deutsche Politiker besonders im
Süden sehr ärgerlich sein, denn es stellt sich hier auf einem Blick deutlich dar,
daß keine einzige dieser Grenzen einer heutigen politischen entspricht. Was die
Augen sehen, glaubt das Herz; ich denke, eine Betrachtung der Karte könnte
manche Stammeseigenthümlichkeitsschwärmer besser belehren, als lange und gründ¬
liche historische Deductionen. Ueverdies sind auch diese zur Genüge in den An¬
merkungen gegeben.
Eine zweite hieher gehörige Betrachtung mag ebenfalls von Nutzen sein. Der
Verfertiger und Erläuterer der Karte hat sich, wie eben erwähnt, mit wahrhaft
deutschem Fleiße bemüht, jene Grenzlinien zwischen den einzelnen Dialecten und
Stämmen mit Benutzung der vorhandenen Hilfsmittel und eigener Localkenntniß
möglichst genau zu ziehen, aber, wie er an verschiedenen Stellen der Anmerkungen
sagt, mit durchaus unvollständigem Erfolg. Die Ursache davon ist, daß diese
Grenzen an vielen Orten ganz verwischt, an andern nur durch die allersubtilstcn
Lvcalforschungen aufzudecken sind. Ein schlechter Trost für die, welche darauf eine
Neugestaltung der deutschen Staatencomplexe gründen möchten, wie es z. B. in
einem naiven Schaffrath - Hagen'scheu Antrag im October 1848 in Frankfurt be¬
absichtigt wurde. Gewiß werden sie auch für die Zukunft so wenig wie jetzt und
damals mit einem solchen Plane reussiren und seine unmittelbare Gefährlichkeit
ist es nicht, gegen die man sich zu erheben hat. Das einzige Bedenkliche
dabei ist, daß eine neue Contusion zu den zahlreichen vorhandenen in die Köpfe
vieler unserer lieben Landsleute gekommen ist, die um so mehr Berechtigung und
Befestigung gewinnt, je gelehrter die Gründe scheinen, auf die sie sich stützt. Am
Eude wird sie denn doch nur von allen schlechten Speculanten, den Particularisten
im Allgemeinen, den Preußenfressern insbesondere ausgebeutet. Und es ist schon
traurig genug, wenn irgend etwas im Stande ist, den künstlichen Borg der par-
ticularistischen und antipreußischen Vorurtheile im Süden und Norden Deutschlands
noch um einige Schichten höher emporzuthürmen.
Australien und seine Kolonien, ein Handbuch für deutsche Auswanderer von
I. K. Haßkarl, mit Tabellen und Karte. Elberfeld und Iserlohn, 1849.
Julius Bädecker.
Nach den renommirten englischen Werken von Wilkinson und Westgarth prak¬
tisch und verständig zugerichtet. Wenn man die 25 Bogen dieses Büchleins durch-
gelesen hat, so ist mau in Australien — das große Neuholland ist gemeint —
ganz zu Hanse; man hat das Land bereist, sich über den wunderlichen Baumschlag
gewundert, ist von einem Känguruh umarmt worden, hat beobachtet, wie das
famole Schnabelthier keine Eier legt, sondern etwas ganz anderes, höchst wahr¬
scheinlich kleine Schnabelthiere; hat mit Eingebornen Brüderschaft gemacht, hat
Laud gekauft, Städte wachsen sehen, hat in zwei Tagen ein Fanncrhaus gebant,
Rindvieh und Schafe in ungeheuren Quantitäten gezogen und ist durch dies Alles
ein sehr reicher Mann geworden. — Alls auf 25 Bogen in kleinem bequemen
Format! Ein nützliches praktisches Buch; mau findet Belehrung darin über Alles,
was einem ehrlichen Ansiedler zu wisse» nöthig ist; über die Capital- und Boden^
Verhältnisse des Landes, über die Kosten der Reise und des Aufenthalts in den
einzelnen Kolonien, über Acker- und Gartenbau, Viehzucht, Handel und Ge¬
werbe; ein brauchbares, sehr verständiges Buch, welches Einem die Reise in das
ferne Land, wie sich's gebührt, sehr leicht und lockend darstellt, kurz ein Buch,
dem wir guten Erfolg und viele Freunde wünschen. — Damit nichts fehle, sind
am Ende mehrere Briefe treuherziger Auswanderer angehängt, welche sämmtlich
ihre Freude über das herrliche Land aussprechen, und unter vielen andern Grün¬
den der Glückseligkeit auch den Mangel an groben Paßofficianten hervorheben. Es
sind Sachsen, welche diese Briefe geschrieben haben, denn sie citiren von Australien
aus das Pirnaische Wochenblatt.
Wir Grenzboten hätten sicher dem Drange nicht widerstehen können, sofort
ebenfalls nach Australien zu ziehn, aber für uns hat die Sache ihren Haken.
Denn grade gegen uns protestirt das Buch, Schreiber und Ltnbcnsitzer können
sie dort nicht brauchen, nur wer die Arme tüchtig rühren kann, ist ihnen a»g^
nehm. Wir gehören zu dem unnützen Luxus der neuen Welt, und in den Schlaf-
rock der Resignation gehüllt, müssen wir uns begnügen, von unserem Stuhle ans
das seltsame Land zu bewundern und seine Reize in der Phantasie durchzukosten-
Ja, es ist ein kurioser Welttheü und wenn uicht Alles in ihr gemüthlich ist,
so hat es wenigstens das Verdienst originell zu sein. Z. B. die eingebornen
Menschen. Gegen Europäer sind sie möglichst artig, aber der Umgang mit ihnen
wird allerdings durch einige lokale Angewohnheiten unbequem. Sie verspeisen z. B.
ihre Kinder und ihre Aeltern, wenn der Transport derselben ihre Wanderungen
erschwert, aber sie scheinen das mit einem Raffinement von Zärtlichkeit zu thun;
es gereicht ihnen nämlich, wie das Buch mit humanen Wohlwollen hervorhebt,
zu einer großen Beruhigung, die lieben Ihrigen ganz in sich aufzunehmen und
durch den Magen aufs Genaueste mit sich zu verbinden, von Drillingen fressen sie
Zwei, von Zwillingen eins, aber zuweilen anch ihre Jllinge, besonders wenn es
Mädchen sind. Die Greise aber haben das Vorrecht, sich selbst ihrem Stamm
zum Verspeisen offeriren zu dürfen. — Die literarische Ausbildung ihrer Sprache
ist leider noch unvollständig, wir haben keinen Grund anzunehmen, daß sie Ro¬
mane und Trauerspiele schreiben; dagegen verwandeln sie sich poetisch ihre Sprache
selbst. Sie haben nämlich die Gewohnheit, sich und ihren Kindern die Namen
von beliebigen Gegenständen: Thieren, Bäumen n. s. w. beizulegen; so oft nun
ein Mitglied ihres Stammes stirbt oder vou ihnen gefressen worden ist, wird es
ihnen zu schmerzlich, das Wort auszusprechen, mit dem sie ihn gerufen haben;
das unglückliche Wort wird von dem Stamm in den Bann gethan, und der Ge¬
genstand, von welchem sie dasselbe genommen haben, mit einem andern neuen
Wort feierlich belohnt, und behält bei den folgenden Generationen diese Bezeich¬
nung so lauge, bis er sie aus ähnlichem Grunde mit einer andern vertauschen
muß. — Gesetzt ein Häuptling hieße „Schnupftabak," er wird gefressen, der
Stamm versammelt sich schmerzvoll nud tauft den Schnupftabak um, er hieße von
da ab z. B. Mütze, oder Stiefelknecht, oder sonst ähnlich. — Diese große Senti¬
mentalität bei einem ungebildeten Volk ist ebenso merkwürdig, als verhängnißvoll
für das Studium ihrer Sprache, deun uach einigen hundert Jahren müssen sie
ganz andere Substantive habe», eine ziemlich neue Sprache. — Welch ein unge¬
heures Feld für die Combinativnskraft unserer Sprachforscher! Heut heißt das
Känguruh: Bu, morgen Ba, und in einigen Jahren Hoho! oder Tamtam. —
Ebenso merkwürdig aber, wie ihre Sprachwendungen, deren Ursache wir in ihrer
Sentimentalität finden, sind ihre Zahlenbildungen. Als Rechenkünstler sind sie
nicht groß, aber als Geschäftsmänner offenbar sehr solid. Sie können nur bis
drei zählen, aber sie wissen sich zu helfen; denn alle höheren Zahlen zerlegen sie
sich in ihre Bestandtheile 2 und 1 und setzen diese in der Rede so oft hinter ein¬
ander, als nöthig ist, um die geforderte Zahl zusammen zu addiren. Da nun
Knko bei ihn zwei und Ki eins bedeutet, so heißt bei ihnen „sieben" Kuko Kuko
Knko Ki, 2 -l- 2 -j- 2 und 1. Eine klare und einfache Rechnung. Es muß des¬
halb eine wahre Freude sein, zwei Eingeborne ein Geldgeschäft mit einander
machen zu sehn, die Kuko's und Ki's würden Tagelang hin und her rollen, ehe
sie über hundert Sixpense einig werden könnten; Schwindelgeschäfte zu machen, sind
sie nicht im Stande.
Die Schönheiten des Landes sind anerkannt und da die Menschen sich dort
so glücklich fühlen, wäre es unrecht sie zu bezweifeln. Für einen verweichlichten
Kulturmenschen sind allerdings einige kleine Bedenken dabei. In den meisten Ge¬
genden eine flache Ebene, die Berge kahl, die Flüsse und Bäche ohne Wasser, die
Bäume fast ohne Blätter, an größern Thieren großer Mangel, im ganzen Haus¬
halt der Natur eine gewisse bizarre Dürftigkeit. Offenbar ist das Land verkom¬
men, weil es so lange und so weit von allem Verkehr mit gebildeteren Landstrichen
entfernt war. Daß der Sommer um Neujahr, der Winter um den Juli trifft, daß
der Norden des Landes die Palmenvegetation der Tropenländer, der Süden unge¬
fähr unsere hat, daß die Kirschen dort ihre Kerne an der Spitze der Frucht haben,
die Schwäne schwarz und die Krähen weiß sind, daß die Vögel dort durchaus
nicht singen, die Sängethiere gleich nach der Empfängniß geboren, von den Eltern
in einen Beutel gepackt und herumgeschleppt werden, bis sie fertig geworden sind
und courfähig für diese Welt, das Alles ist Jedem bekannt, auch das Beutelthier,
das Schnabelthier, das Opossum und die Sckmarozerpflanzen, in welchen die Göttin
der Natur gleichsam im Traum alle möglichen erstaunlichen Thierformen, Krebse,
Schmetterlinge, Käfer und Schnecken nachgebildet und mit einer Stecknadel an
alte Baumstämme angestochen hat. Alles das wundert uns gar nicht mehr, es ist
uns bereits gleichgiltig; selbst jene kleine Fliege, welche die blödsinnige. Neigung
hat, sich an das Auge des Menschen zu setzen, und aus demselben, wie aus einer
Wassermelone die Feuchtigkeit herauszufangen, auch diese Fliege ärgert uns nicht
mehr; das Auge geschonte uns nach einer solchen Fliege und wir werden temporär,
oder für immer blind, aber man kann ja auch als Blinder glücklich sein, selbst
diese Fliege stört uns nicht in unserer Freude über Australien. — Aber ein an¬
derer sehr großer Uebelstand ist daselbst vorhanden; man kann durchaus keinen Löffel
Sahne zu seinem Kaffee erhalten, ohne die größte und furchtbarste Lebensgefahr.
Diese Sache geht so zu:
Der Ansiedler, welcher Rindviehpächter werde» will, miethet große Strecken
Regiernngsland gegen jährlichen Zins, baut sich von Baumrinde und Spänen eine
Hütte, kauft eine Anzahl Rinder und zwei Pferde, brennt den Kühen sein Zeichen
ein und läßt sie im Freien grasen. Bei dieser zwanglosen Existenz verwildern
Kühe und Ochsen eben so heftig, als sie sich schnell vermehren. Das Leben eines
Farmers gleicht daher auffs Haar dem eines Farmers in Texas, Mexiko oder
Südamerika; seine Hauptsorge ist füglich zu ermitteln, wo der Böse sein Vieh
hingetrieben hat, und wenn er'S endlich gefunden hat, so ist seine zweite Sorge,
nicht von ihnen gespießt, ertreten oder auf andere Weise umgebracht zu werden.
Kochen Sie deshalb auf einer Rindviehfarm Ihren Kaffee, so spricht Ihre Fran
zu Ihnen: „Mann hole Sahne!" Sie werfen noch einen Abschiedsblick auf Ihre
schlummernden Kinder in der Wiege, stürzen zum Pferde, welches im glücklichsten
Fall einige tausend Schritt vom Hause frißt, werfen ihm den Sattel und dann
sich selber aus und jagen mit ihm über Felsen und Wasser, durch Busch und Sand
ins Land hinein, 3 bis 4 englische Meilen vom Hause entdecken Sie Ihre Heerde
am Rand des Horizontes, Ihr Pferd wiehert freudig. Aber die Heerde hat ihrer¬
seits auch Sie selbst entdeckt und reißt aus, Sie hinterher. Jetzt beginnt eine
tolle Jagd über Berg und Thal, durch Schluchten und Moor, was stürzt, bleibt
liegen; endlich kommen Sie näher, Sie erreichen die Heerde: furchtbarer Staub,
teuflisches Gebrüll, Hörnerwetzen; — Ihr Pferd ist wild geworden und stürzt
mitten uuter die wilde Heerde; Sie haben jetzt die Aufgabe, eine nette Kuh in
dem Chaos zu entdecken, dieselbe mit einer eigenthümlichen Peitsche, einer Art
Kasfo zu fangen, von der Heerde zu trennen, umzuwerfen, zu knebeln, zu melken
und diese Milch 3 bis 4 englische Meilen nach Hanse zu reiten. Wenn Sie nicht
erquetscht, zerstampft und todtgestochen werden, so ist es wohl möglich, daß Sie
am Abend mit einigen Tropfen Milch nach Hause kommen, wenn sie nicht unter¬
wegs durch das Schütteln in Butter verwandelt ist. Freilich gewöhnt man sich
an Alles.
Wir empfehlen das obige Buch allen Auswanderern, alle Auswanderer aber
ihren Schutzengeln, und erklären feierlich: wenn die Australier uns , die Grenz-
boten, nicht brauchen können, so mögen auch wir unsrerseits nicht in das beglückte
Australien ziehn; das Leben dort ist uns zu einförmig, zu ruhig und gar zu
friedlich.—
Ein neues Stück, welches in Berlin einen gewissen Succeß erlangt hat, wird
anf den übrigen Bühnen noch immer mit Aufmerksamkeit entgegengenommen, ob¬
gleich man über den Geschmack des großen Berliner Publikums nachgerade in'S
Reine gekommen sein könnte. Wir haben „Peter im Frack" nun in Leipzig
gehabt, und müssen eingestehn, daß uns noch nie ein schaaleres und abgeschmack¬
teres Machwerk vorgekommen ist. Ein auf dem Lande erzogener junger Mensch,
der als Sohn eiues verstorbenen Generals in die Stadt gebracht wird, dort ein¬
steht, daß das Stadtleben nichts taugt, und daher auf's Land zurückkehrt, ein
alter General alto, seine Tochter <1ita, dabei ein fortwährendes sentimentales Ge¬
heul, Theater-Evenements von der Sorte, daß der verkappte General dem be¬
stimmten Schwiegersohn erklärt: ich bin ein vornehmer Mann, und nun wirft ex
den Bauernkittel ab und steht in Generals-Uniform mit obligaten Orden da u. tgi.
Den eigentlichen Werth sucht das Stück wohl nicht in dieser Fabel, nicht
den Charakteren , die aus den bekanntesten A.-B.-C.-Büchern theatra-
lischer Composition genommen sind, sondern in den zeitgemäßen Anspielungen.
Unter den bösen Menschen, dnrch welche Peter der Aufenthalt in der Residenz
parlait.t wild, l'cftudet sich nämlich auch ein Demagog, der sämmtliche Stichwör-
ter des Tages in einer mehr oder minder unzweckmäßigen Weise vorträgt. Er
setzt die gesänuuikten Wangen einer Hofdame in Belagerungszustand, er octroyirt
Nldni u. s. w. Man könnte ihn für eine Persiflage auf die Demokratie über¬
haupt nehme», und so ist es auch an manchen Orten geschehen, aber er ist eigent¬
lich nur der Lakai eines Marquis — Theatermarqnis von der nöthigen Schänd¬
lichkeit, Hofmarschall Kalb — der dem jungen Peter Geld abnehmen will, war
fniber S<i>une> junge und ist Spener i» der Küche beschäftigt, zuletzt Kutscher. Um
so ni znsammeichüiigent'es Zeug zu faseln wie dieser — übrigens »u kundt ziemlich
gutherzige Patro», braucht mau kein Demokrat zu sein.
Wen kommt es doch, daß die ungeheure Menge närrischer Käuze, welche die
Welle u»Serer Revolution nach oben getrieben hat, noch so wenig Gelegenheit ge¬
geben haben zu poetischer Komik? Bis jetzt hat sich diese in einzelnen Karrikaturen,
wie die von Picpmeher erschöpft. Wir sind noch zu verdrießlich, um über unsere
eigene Abgeschmacktheit zu scherzen.
Und Herr Langen schwarz, der Verfasser unseres Stücks, hatte es doch
so bequem! Er durste nur sein Conterfty im Spiegel nachzeichnen, und die präch¬
tigste Karrikatur war fertig. Den Leipzigern wird es noch erinnerlich sein, wie
Herr Dr. Langenschwarz im vorigen Jahre einen Club organisirt hatte — ich
glaube einen socialistischen — der an Dummheit, Gemeinheit und Lächerlichkeit
alle übrigen übertraf, und das wollte in Leipzig viel sagen. Der Vorsteher reizte
durch die kindlichsten Lügen die Arbeiter auf, ließ jeden hinauswerfen, der noch
neben ihm reden wollte, versprach jeden Einzelnen ein vollkommen sorgenfreies
Auskommen, und herrschte als unumschränkter Dictator, bis die Sache sich in
einer allgemeinen Prügelei auflöste. Daß ein solches Subject später Karrikaturen
auf die Demokratie macht, nachdem die Reaction gesiegt, ist ganz in der Ord¬
nung; nnr sollte man erwarten, daß er bei dem reichhaltigen Material, das ihm
zu Gebote stand, die Sache besser anzufangen gewußt hätte.
Wozu überhaupt diese Bemerkung über ein Stück, das keiner Bemerkung
werth ist? Ans zwei Gründen.
^ Einmal. Die deutsche Kritik ist sehr streng gegen die strebsamen Talente,
welche die Entwicklung der neuen Zeit poetisch zu fördern suchen, gegen G utz-
kow u. s. w. Sie hat ein Recht dazu, denn in einer Periode deö Werdens
kann nur aus einem beständigen Ringen gegen die Forderungen der Theorie die noch
unsichre Productivität eine bestimmte Form und einen festen Halt gewinnen, und
man kann sagen, jene Dichter haben ebenfalls ein Recht auf strenge Beurtheilung,
wie empfindlich auch ihre Dichtereitclkeit dadurch verletzt werden mag. Dennoch
ist ein Uebelstand dabei. In der Regel verschmäht eS die bessere Kritik, sich mit
Sudeleien, wie das vorliegende Stück, an denen man nichts lernen kann, über¬
haupt abzugeben, und so fällt die Beurtheilung derselben der Winkeljonrnalistik
anheim. Das Publikum verliert znlejzt alles Bewußtsein des, Unterschieds, und
stellt am Ende Gutzkoiv, die Birch, Langenschwarz u. s. w. auf gleiche Höhe.
Darum hat die Kritik die Pflicht, von Zeit zu Zeit es auszusprechen, daß der
Abstand zwischen Gutzkow und unserm Poeten noch immer ziemlich so groß ist als
der zwischen Schiller und Gutzkow. Dieser Pflicht wollen wir uns hiermit ent¬
ledigen.
Zweitens. Es handelt sich hier um eine literarische Gaunerei, die zu ergötz¬
lich ist , um nicht einmal angeführt zu werden.
In einem Theaterblatt vom 27. August 1847 lesen wir folgendes.
„Ein deutscher Shakesspeare! Einer, uns soeben zugehenden Nachricht
zufolge, sollen sich schon vor längerer Zeit (einem Jahre) bei einer, (,-no liiclwlii-ii)
stattgefundenen Auction mehrere Paquete deutscher Schriften und Papiere, und darun¬
ter etwa fünfzehn dramatische Originalpiccen, die meisten mit dem
Jahre 1684 bezeichnet, vorgefunden haben. Einige davon sind vermodert, und
fast unleserlich, die andern sämmtlich noch in brauchbarem Zustande. Der Ver¬
fasser nannte sich Zw eng sahn. Die nunmehr eigends dieserhalb niedergesetzte
Commission hat über dessen näheres Leben, Stand oder Verhältnisse nichts erfor¬
schen können, es sei denn, daß er zu Oedermühl, (das wir aber vergebens
auf der Karte suche») geboren ward. Jedoch leben einige arme Nachkommen dessel¬
ben, zu deren Vortheil die Commission jene Werke versenden will. Ueber den
classischen dramatischen Werth ist bei Allen, die sie prüften, nur eine Stimme, und
selbst Engländer von Bedeutung — (wir nennen blos James Hatton und Ro¬
bert Bildiugson) sollen manche, ihnen daraus überschte Stellen weit über Shakeö-
speare erhoben und den Verfasser geradezu für einen deutsche» ShakeSspeare er¬
klärt haben!--Das wäre denn doch endlich ein Mal ein wissenschaftlicher
Fund von Bedeutung."
Gleich darauf folgt: (8. October)
„Zweite Nachricht über Zwerghahn. Französische Arroganz.
Ueber den „deutschen Shakespeare," Carl Zwerghahn enthalten nun auch
französische Blätter Notizen. Das Vorhandensein der Manuscripte wird constatirt,
aber eines dieser Journale wundert sich, „wie man vor dem Resultate der in's
Werk getretenen Nachforschungen den Verfasser einen deutschen Shakespeare habe
Nennen können, indem es ja nicht erwiesen sei, ob Carl Zwerghahn nicht ein
Franzose gewesen, und jedenfalls, ob er nicht, (ii«um loro-leis -unici) blos ans
französischen Manuskripten übersetzt habe!!!" — Weiter ist wohl nie
ein arroganter, französischer Journalist gegangen. Die Deutschen sind aber durch
ihre Uebersetzuugswuth aus dem Französischen selbst Schuld an derlei Anmaßungen
des Auslandes. Die kleine, noch lebende Anverwandte, in nächster und direkter
Linie von Carl Zwerghahn abstammend, ist ein Mädchen von acht Jahren, Na-
mens ^tltzlo (Adelheid.) Dies Kind ist einer wackeren Familie s^nich A-mea) an¬
vertraut, und die sämmtlichen, aus der Aufführung und dem späteren Drucke der
Stücke gelösten Gelder sind dazu bestimmt, dem gänzlich armen, vermögenslosen
Kinde eine Zukunft zu gründen, (^e lui liürv ni» hin-t.) Es wird nun an Deutsch¬
land sein, den Franzosen zu beweisen, daß wir allerdings noch Herz und Aner¬
kennung für unsere großen Männer besitzen."
In ähnlicher Art ging es im Lauf des folgenden Jahres unermüdlich weiter.
Als erstes Stück des deutschen Shakespeare ging darauf Tiphonia über die
Bühne. Noch nachdem er es gelesen, war der große Berliner Kritikus,
Herr Rötscher, Dupe dieser Charlatanerie. Welcher Grad von Unwissenheit
dazu gehört, erhellt ans dem „Fragment der Zueignung," welches des Verfasser
mit folgender Anmerkung seinem Stück vorgesetzt hat. „Die Bedeutung dieses,
von des Verfassers Hand niedergesehriebenen Fragments, wird durch die späteren
Nachträge einleuchtend werden. Ausgemacht ist, daß Carl Zwerghahn in
Deutschland, und zwar in dem Bereiche des gegenwärtigen Großherzogthums
Hessen geboren ist. Ueber seinen Todestag herrscht noch das undurchdringlichste
Dunkel. Obschon der angegebene Ort Oedcrmühl sich auf keiner Karte Deutsch¬
lands vorfindet, so können wir doch schon jetzt mit Bestimmtheit sagen, daß wir
im Stande sein werden, später die gewisseste Aufklärung darüber zu geben. Carl
Zwerghahn lebte gegen die Mitte des Jahrhunderts in Paris, wo er ,-»« av
Ricllelisu Ur. 74. wohnte."
Das Fragment lautet:
Zögernd rollt der kühne Bau vom Stapel!
Rasch ins Meer! er trägt Tiphonia!
An den Borden flaggt des Schiffers Zeichen,
Wo euch freundlich grüßt des Namens Zug —--
Hörst du Schiffer, jenes Weibes Stimme?
Clio ruft den stolzen Segler an!
Sausend treibt es dich durch Sturmgctof
Nach dem hoben, wallumthürmtcn 1l?c*)>
Eile hin! — Erzittre nicht und steh!
Gleicher Flaggenwerth ist Kliipmilu» uro.
Nur vor Gott stehst du gerichtet da !
Aus den Sternen ruft der co'ge Führer:
Licht ist Land, und Anker sei dein Herz!
Entworfen 1K84.
Der Inhalt des Stücks ist Müllner-Houwald'sche Sentimentalität; die Form
ein Puppentheater. Eine Königstochter erhält von ihrem Vater, dem zweiten Lear,
die Krone, sperrt ihn dafür ein und regiert tyrannisch. Ein Prinz, um sie zu
heilen, heuchelt eine noch raffinirtere tyrannische Gesinnung, sie verliebt sich des¬
halb in ihn, wird gedemüthigt, bereut und stirbt, nachdem sie noch zuletzt ver¬
sucht, den geliebte» Prinzen von seiner vermeintlichen Tyrannei zu bekehren.
Eine Probe vom Dialog:
Seid ihr einmal von hier hinweggezogen,
So wißt, es liegt der Pfeil auf dem gespannten Bogen,
Und sprecht nicht, daß ich schuldig bin,
Fliegt er in's Herz der Königin!
Entsetzlich! Dulgirock!
Es ist gesprochen! n. s. w.
Letzter Monolog der Verzweiflung, im hellen Wahnsinn und leidenschaftlichem
Pathos gesprochen:
Stürzet ein ihr hohen Hallen!
Stirb, du stolze Königin!
Deine Allmacht ist zerfallen!
Deine Größe ist dahin!
sist dein Senf der sich verkündigt!
Meine Stunde nahet sich!
Gegen dich hab' ich gesündigt!
Tödte mich! — o tödte mich!
Ich könnte eine bekannte Leiermelodie dazu empfehlen.
Später kam man freilich darauf, daß Carl Zwerghahn ein Anagramm von
Langenschwarz sei, und daß der deutsche Shakespeare kein anderer sei, als der
alte Jmprovisator, der später im Socialismus Geschäfte gemacht, und der sich
uun in dieser neuen Sorte versuchte. Aber es wäre doch Schade, wenn man die
unmuthige Historie ganz vergessen sollte.
Wir fangen an, die Bitterkeit des russischen Bündnisses durchzukosten. Ja
sogar unser Hof empfindet diesen Unwillen über die Feldherrn der Bundesgenossen.
Frägt man nach den Gründen dieser Reaktion, so findet sich allerdings nur ein
wirklicher, consistenter Grund zum Aerger, zur offenen Beschwerde kaum einer; aber
von je waren es die kleinen Leiden, welche am meisten geschmerzt haben. Es ließ
steh voraussehen, daß 150—200,000 Mann Russen nicht durch unsere Länder zie-
heil und sich in denselben erhalten würden, ohne hier und da Veranlassung zur
Klage zu gebe»; sie haben Administrationsbeamte in Galizien gekränkt, hier nud
da entfernt, sind unhöflich, bald gegen einen östreichischen Svbalternvffizier, bald
gegen einen General gewesen; kurz der potriotische Wiener argwöhnisch gegen den
großen Bundesgenossen seiner Regierung, sagte ihm nach, daß er sich höchst will¬
kürlich und hosfartig benehme, und der östreichische Offizier gab sich deu Anschein
die russischen Snbalternoffizicre zu verachten, verglich aber eifersüchtig die Aus¬
rüstung, Haltung und Bravour der russischen Truppen mit dem Zustand der
eigenen. Reibungen und MißHelligkeiten uuter Offizieren und Soldaten waren
unvermeidlich. Es ist darauf gar kein Gewicht zu legen, dergleichen ist immer
vorgekommen, und wird ewig stattfinden, so oft zwei verschiedene Staaten ihre
Heeresmassen zu einem gemeinsamen Unternehmen combiniren, zumal wenn dies
Unternehmen anf dem Grund und Boden der einen Macht vor sich gehn soll. Ja,
wenn wir ehrlich sein wollen, so müssen wir zugeben, daß im Ganzen genom-
men die russische Armee in Oestreich eine Haltung, Mäßigung und militärische
Würde behauptet hat, welche für uns Oestreicher zuweilen unheimlich wurde. Die
Animosität der Schwäche flüsterte deshalb in die östreichischen Ohren: die Russen
spielen falsch, sie wollen das Vertrauen der Nuthenen, der Wallachen, der Süd¬
slaven, ja sogar der Ungarn gewinnen; kurz wie die Russen sich auch benehmen
mochten, human oder böse, artig oder unartig, sie gaben Veranlassung zu Klagen.
Will man denn nicht einsehn, daß solche Beschwerden nichts sind, als ein Zeugniß
von dem Ungesunden dieser Alliance und dem Gefühl der Schwäche Oestreichs?
Allerdings führt der russische Czaar den Krieg in seinem Interesse und nicht in
dem unsern. Aber er halte bereits seinen Zweck erreicht, als die russischen Heere
siegreich in Ungarn eindrangen. Es galt ihm nicht nur die Revolution in Europa
zu bekämpfen, wie er in seinen Proclamationen sagte, sondern eben so sehr, die
furchtbare kriegerische Kraft Rußlands dem erstaunten Europa zu zeigen, und die
Völker des Südvstens zu lehren, daß die staute und Majestät nur bei ihm zu
finden sei. Wenn unsre Politiker das ärgert und wenn der unselige Staatsmann,
welcher einst so eifrig die russische Hilfe für uns anwarb, jetzt selbst darüber be¬
troffen ist, so fragen dagegen wir, wie war es möglich, etwas Anderes von der
russischen Hilfe zu erwarten? All- diese Uebelstände waren eine nothwendige Folge
der Födcrat'on selbst, eine traurige Folge der Abhängigkeit, in welcher jetzt Oest¬
reich zu Rußland steht.
Aber es kam ärger. Die Magyaren streckten die Waffen, plötzlich, unver-
hoffr und in Masse», — und sie ergaben sich den Russen; Görgcy, die Besatzung
von Arad, die kleineren Corps, und voraussichtlich.auch Komorn und Peterwar-
dein suchen russische Corpsführer auf, um vor ihnen die Waffe» niederzulegen,
und PMewitsch zeigt nach russischer Kricgsetikette dies seinem Kaiser in der schwung¬
vollen Phrase an: Ungarn liegt zu Euer Majestät Füßen. Wohl liegt in dieser
Thatsache etwas, was die Nöthe der Scham auf die Wangen unseres jungen Kai¬
sers und seiner Generäle treiben muß, es gab nichts was mehr demüthigend für
Oestreich war, als dieses Manöver der ungarischen Revolutionäre. Und sogleich
hat die kluge Presse und der gutgesinnte Wiener gegen den russischen Helfer einen
kleinen Verdacht zu erheben. „Die Nüssen haben heimlich mit Görgcy verhandelt,
es ist eine abgekartete Sache zwischen den Magyaren und Russen, nud um uns
zu ärgern ist das so von den Magyaren angezettelt worden." — Auch das ist
nichts als Geschwätz. „Kaiser Nicolaus unterhandelt nicht mit Empörern," wer sich
aber ans Gnade nud Ungnade ergibt, streckt die Waffen vor dem Feind, von dem
er die beste Behandlung zu erwarte» hat. Und wenn wir Oestreicher uns schä¬
men, daß nicht unsere Generäle, sondern fremde von den Magyaren „bevorzugt"
werde«, so hat diese Schaam allerdings ihren guten Grund, aber er ist wo anders
zu suchen, in unseren Generälen, in unserer Armee. Seit vorigem Jahre hat die
östreichische Armee sich in ihre» Führern, als die grausamste und blutdürstigste Sol¬
datenmasse gezeigt, welche seit dem dreißigjährigen Kriege in Europa gewüthet hat.
Die empörenden Greuelthaten, welche dnrch die gereizten Soldaten und beschränkten
Generäle in Italien, Wien und i» Ungar» verübt worden, siud fast ob»e Beispiel
in der neueren Kriegsgeschichte. Und diese rohe Nachsucht und Brutalität hat vo»
alle» Seiten die Erbitterung gegen die östreichische Armee, ja gegen die Person
unseres jungen Kaisers genährt, fast jede Heldenthat unserer Waffen ist beschmutzt
und entweiht durch einen Akt gemeiner Grausamkeit, welcher darauf folgte. Wie
man auch den nationalen Stolz der Italiener und Ungarn betrachten möge, der
Mäßigste Verstand wird sich nicht überzeugen können, daß massenhafte Hinrichtun¬
gen, persönliche Kränkungen und rüde Quälereien der Besiegten, dazu helfen können
uns den Geist dieser Völker zu versöhnen. Es gab, kein besseres Mittel uns noch
als Sieger ihnen verächtlich zu machen, den grimmigsten Haß »ut alle Tücke ihrer
Natur gegen uns aufzustacheln, als das Benehmen unserer Feldherrn gegen sie.
Kaum haben wir die bittere Empfindung über eine solche Ungeschicklichkeit vernom¬
men, so kommt eine neue. Beim Geburtstag des Kaisers, entsteht in Mailand
ein Straßentumult, der commandirende General läßt die Arretirten, welche meist
der besseren Classe der Gesellschaft angehören, öffentlich durch Stockschläge züch¬
tigen. Und unter den so Geschlagenen sind zwei Sängerinnen von 18—20 Jah¬
re». — Wahrlich es ist weit gekommen mit unserer militärischen Rechtspflege, und
es ist Zeit öffentlich dagegen aufzutreten, wenn nicht Alles zu Grunde gehen soll,
was in den Völkern Oestreichs noch von Selbstgefühl und Loyalität lebt; wenn
die Jngend unserer Majestät uicht durch das Brandmahl gemeiner Grausamkeit
auf ewig entweiht werden soll, so ist es hohe Zeit, gegen die jetzige militärische
Regierung Front zu machen. Sie ist der Zukunft Oestreichs eben so verderblich
als sie für seinen Ruf schmachvoll ist.
An Ihnen ist es jetzt, Minister Bach, zu zeigen, daß das Recht noch einen
Vertreter in der Nähe des Thrones hat. Ein großer Theil der Oestreicher hat
kein unbedingtes Vertrauen zu Ihrer Person und Thätigkeit, dies Blatt selbst hat
Ihnen oft stark widersprochen und an Ihrem Thun gemäkelt, jetzt aber ist die Zeit
gekommen, wo Sie alle Vorwürfe widerlegen und der Nation zeigen können, daß
vielleicht Ihre Einsicht Sie irre leiten konnte, daß aber Ihr Charakter sich Ach¬
tung zu verdienen weiß. Jetzt ist für Sie der Tag gekommen, wo Sie zu bewei¬
sen haben, daß Sie ein Mann sind. Treten Sie auf vor Ihrem Kaiser, machen
Sie ein Ende diesen barbarischen Grausamkeiten, welche sich unter der Firma von
Kriegsgerichten und Ausnahmezuständen zu einem alltäglichen Leiden gemacht haben.
Beschränken Sie die Willkür der Soldatentribunale, ändern und beschränken Sie
die militärischen Gerichte, fordern Sie ein menschliches Recht, wie streng es auch
sei, für die Besiegten, dulden Sie nicht länger, daß das Schwert der Gerechtigkeit
verwechselt werde mit dem blutigen Degen eines rohen Generals; bewähren Sie
sich, wir beschwören Sie, als ein Mann des Gesetzes und der Sittlichkeit. Jetzt
ist der Tag für Sie gekommen das östreichische Volk mit der Vergangenheit zu
versöhnen, alle Vorwürfe, welche Ihnen je gemacht wurden in Segenswünsche zu
verwandeln, und Ihre Gegner zu überführen, daß nicht der Ehrgeiz allein Ihnen
das Portefeuille in die Hand gedrückt hat, sondern das berechtigte Gefühl Ihres
Werthes.
Der Kaiser wird es Ihnen einst danken, die Völker Oestreichs schon jetzt!
Aehnlich einem riesigen Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger liegt' die Halbin¬
sel der Herzogthümer und Jütland in dem grünen Spiegel zweier Meere. Dem
deutschen Wanderer, der von Süden komm« und nach Norden pilgert, will sich
die Brust mehr und mehr verengen, je näher er der Grenze kommt, welche daS
ihm fast unbekannte, sagenhafte Jütland von den vielbefreundeten mcerumschlunge-
neu Landen trennt, auf welche ein heißer Krieg die Augen der ganzen Welt ge¬
richtet hat. Jütland — wem war es ehedem, wenn dieses Land genannt wurde,
nicht, als ob ein schwerer Meeresnebel sich vor die freie Aussicht lagere? Wer
wußte mehr davon , als das nothdürftige, welches der Geographieunterricht in
der Schule eiugebläut hatte, wer bekümmerte sich darum, ob und welche Menschen
dort lebten? Hatte man doch eine unbestimmte Vorstellung von einer Verwandt¬
schaft der Jütländer mit den Lappen und Samojeden — jedenfalls dachte man,
wenn einmal ganz zufällig die Rede auf dies nordische Volk kam, zuverlässig an
Thran und Heringsfang. Aber jetzt ist das anders geworden. Zum erstenmal
seit den halb fabelhaften Kriege der jütischen Könige Sicgfrid, Gottfrid und Hem-
mieg mit Karl dem Großen, drangen deutsche Krieger ein in das seit dem Ende
des 9. Jahrhunderts ununterbrochen dänische Land; mit Staunen hört der ruhige
Bürger zu, wenn ihm seine heimgekchrte Einquartirung/von dem Leben und den
Leuten in Jütland erzählt, und wenn er hnlbweg ein Mann des Fortschritts ist,
schlägt er die Hände über dem Kopf zusammen und ruft: Ist es möglich? Eine
Tagereise von der deutsche» Grenze entfernt, gibt es solch ein Land und solch ein
Volk?
Ein schmaler Fluß, vielmehr ein Bach, die Königsan, scheidet Schleswigs
dänisch redende Marken von Jütland. Unmittelbar nach ihrem Ueberschreiten be¬
merkt man noch durchaus keine Aenderung der Landschaft und ihrer Bewohner.
Aber schon in wenigen Stunden tritt dieselbe deutlich geung vor's Auge des Rei¬
senden. Die Zahl der angebauten Ländereien vermindert sich, die Culturen dieser
selbst scheu ärmlich und vernachlässigter aus, die Hecken oder Knicken der Koppeln
sind zerrissen und ungepflügt, die Waiöcthiere kleiner und struppiger als nördlich
in den Herzogtümern. Der freundliche Bau stattlicher Landhäuser verschwindet
mehr und mehr, abscheuliche Erdhütten, mit faulem Stroh und Haidckrantrasen
gedeckt, mit blinden, vielfach zerbrochenen und verstopften Fenstern, lassen schon
von Außen auf einen furchtbaren Aufenthalt in ihrem Innern schließen — und
vor den Thüren spielen Kinder, deren aufgedunsene, mit Aussatz bedeckter Körper
die Erzählungen der Soldaten von Jütlands Schmutz und Elend in grauenhafter
Weise bestätigen. Es ist im Ganzen ein entsetzliches Volk, das Jüdische. Schlanke,
kräftige Gestalten, wie sie das reiche Angelnland und die holsteinischen Marschen
erzeugen, darf man hier nicht mehr suchen, eben so wenig, wie das Noth der
Gesundheit auf den Wangen und frische Lebensfreudigkeit im Blick. Die Juten
sind durchweg von kleinem, untersetztem Körperbau, alle blond und selten hager.
Ihre Beleibtheit erinnert an die der unglückseligen Cretins, welche unter ihnen auch
häufig genug vorkommen, und der blöde, stiere Blick der hellblauen Glasaugen
erschreckt förmlich durch seine fast thierische Stumpfheit. Schönheit und Anmuth
sind hier nirgends zu Hause, wenigstens auf dem Lande nicht, wenn auch die
Städte hier und da Ausnahmen bieten mögen; auf dem Lande ist das weibliche
Geschlecht sogar kaum durch den Anzug von dem männlichen zu unterscheiden,
^in kurz verschnittenes, verfilztes Haar entstellt selbst junge Mädchen, Lumpen
Und plumpe Holzschuhe tragen ebenfalls nichts bei zu der ländlichen Grazie, die
der dänische Novellist 'Binder seinen jütischen Landsmänninnen zuschreibt. Die
Unsauberkeit dieses Volks ist wirklich großartig. Ob sich die jütischen Landleute
jemals in ihrem Leben wasche», ist höchst zweifelhaft, gewiß ist, daß sie ihre
Kleidungsstücke weder reinigen noch ausbessern, ja, daß sie die unentbehrlichsten
derselbe» so lange aus dem Körper tragen, bis sie wie mürber Zunder nach und
nach von selbst sich ablösen. Eine große Vorliebe zu allem möglichen Ungeziefer
macht den Juden in seiner Art besonders interessant. Wollte man darüber in be¬
schreibende Details eingehen, so würde selbst der stoische deutsche Studiosus der
Medizin sich bei deren Anhörung eines gelinden Schauders nicht erwehren kön¬
nen. Die bekannte Aussatzkrankheit se-chies ist eine Eigenthümlichkeit des jütischen
Volksstammes, ohne welche derselbe gar nicht gedacht werden kann. Alle Kinder
sind von ihrer Geburt an gewöhnlich bis in's to. und 12. Jahr damit behaftet;
aber auch die Alten trennen sich selten von diesem liebgewordenen Anhängsel.
Aber geung davon! Wer einmal in die Stube eines jütischen Bauernhauses ge¬
treten ist, wird sich, falls er in Wahrheit noch ein Mensch ist, sehr hüten, dies
Wagestück zum zweitenmale zu unternehmen. Jedermann kennt die schauderhaften
Gemälde der irische» Hütten, in welchen eine ganze, dermaleinst stolze und kräf¬
tige Nation, einem langsamen Hungertode entgegenschmachtet. Schlimmer kann
es in jenen nicht aussehen, wie in den meisten Bauernhäusern Jütlands. Kind
und Kegel, Vieh und Meuschen wälzen sich darin in brüderlicher Eintracht in dem
jahrelang aufgespeicherten Staub und Schmutz, welcher Boden, Wände und Ge¬
rätschaften oft handhoch bedeckt; eine erstickende Atmosphäre versetzt mit absehen^
lieben Brodem jedem Ungewohnten den Athem und selbst der Hungrigste würde
es verschmähen, die Kost der Insassen zu theilen. Diese sollen gastfreundlich ge¬
gen alle Fremde sein — gegen Deutsche, und namentlich gegen deutsche Krieger
sind sie es nicht, und das ist vielleicht zu entschuldigen. Eine größere Mannig¬
faltigkeit an Nahrungsmitteln kennt der Jude nicht, als den Wechsel zwischen
Buchweizengrütze mit Wasser und Buchweizengrütze mit Milch, Kartoffeln, Speck
und Brot, das mit Kleien und Mühlstaub gebacken, schwarz ist wie Ruß, und
schwer wie Kieselstein. Als Getränke wurden saures Dünnbier und sehr fusel¬
reicher Branntwein in bedeutenden Quantitäten consumirt.
Das seither Gesagte gilt insbesondre von der Bevölkerung im Innern des
Landes, welches auf jede seiner 450 Quadratmeilen 1333 Einwohner zählt.
Längs der Küsten sieht es schon besser ans, insbesondre an der Ostküste, welche
das Cattegat bespült. Hier tritt der Landbau als Erwerbsquelle in den Hinter¬
grund und macht der Schifffahrt, hauptsächlich der Fischerei Platz. Der Verkehr
mit der launischen See kräftigt und hebt die Menschen, und verleiht ihnen eine
ganz andre Consiitution, wie das dumpfe Häuslerleben des Landes. Die Juten
sind gute Matrosen und Seefahrer, aber sie stehen doch bei Weitem den Schles¬
wigern und Holsteinern nach. Die der ganzen jütischen Nation angeborne Träg¬
heit und Gleichgiltigkeit verleugnet sich auch nicht bei ihren Seefahrern, aber sie
ist auch vielleicht gerade die Ursache, daß dieselben oft kühn und unerschrocken ge¬
nug sind, um Bewunderung zu verdienen. Mit ihren Barkschissen ziehen sie weit
hinaus auf's neblige Meer zum Heringsfang, zum Kampf mit den Walen und Robben;
aber nur in den nördlichen Meeren, an Islands vulkanisch zerrissenen Gestaden
und in den Straßen der Faröer, wo die Eidergans in Schwärmen von Millionen
flattert und die Robbe sich auf den Klippen sonnt, ist ihr eigentliches Fahrwasser;
selten schiffen sie nach Süden oder Osten. Die Küstenbewohner leben bei Weitem
besser als die Bauern im Innern, sie haben Fische vollauf und kennen recht wohl
den englischen Rum und die französischen Weine. Wenn auch keineswegs reinli¬
cher, sind sie doch größtentheils gesunder und kräftiger wie jene, und abschreckende
Häßlichkeit ist unter ihnen seltener.
Die Bildung der gelaunten Nation steht auf einer sehr tiefen Stufe, das
Unterrichtswesen ist außerordentlich vernachlässigt, und kläglich sieht es mit den
Kenntnissen der Schullehrer und selbst der Pfarrer ans. Die ersteren werden
heutzutage noch, wie früher in Deutschland, aus Invaliden und unfähig gewor¬
denen, niederen Staatsdienern gewählt; letztere kennen von der Welt wenig mehr,
als ihren Sprengel und halten Kopenhagen für die größte und mächtigste Stadt deS
Erdenrunds, Dänemark für ein Reich, welchem eigentlich das übrige Europa, das
in ihrem Kopf sehr klein ist, tributpflichtig sein sollte. Es ist die jüdische Bar¬
barei die Folge, aber auch wieder die Ursache, der fast chinesischen Abgeschlossenheit
des Landes, welches mit der civilisirten Außenwelt weder durch Handel einigen
Verkehr unterhält, noch durch Reisende und Literatur von ihr Kunde erhält. Da¬
her kommt auch der tief eingewurzelte, fast tückische Haß gegen alles Fremde.
Nichts ist gut und brauchbar, als was aus Jütland selbst, oder zur Noth doch
aus Dänemark stammt. Alle mächtigen Hebel der Civilisation sind sür dieses be-
klagenswerthe Land bis heute noch gar nicht vorhanden und große Ereignisse,
welche der ganzen Welt ein anderes Ansehen verliehen, sind an ihm und seinen
Bewohnern spurlos vorüber gegangen. Und doch ist nicht zu leugnen, daß die
letzteren einen gewissen Grad von Bildungsfähigkeit besitzen, der nur der Pflege
bedarf, um dermaleinst die schönsten Früchte zu bringen. Die Poesie ist dem Volte
nicht fremd. Es weiß von alten Sagen genug zu erzählen, von dem starken Kö¬
nig Gora Gammut, der von Norwegen aus in grauer Vorzeit dies Land eroberte,
von den Seezügen der Vorfahren und ihren Kämpfen mit den Kraken und Nor-
männern; es bevölkert Haiden und Lachen mit Geistern und Feen, und weiß
manches hübsche Lied in eintönig klagender, wehmüthiger Melodie zu singen.
Die Staatskunst des dänischen Regiments hat aber diese Keime nicht weiter her-
vorzulocken gewußt. Jütland war von jeher für Dänemark lange nicht so wichtig,
wie Schleswig-Holstein, und obgleich das erstere einige Producte nach Seeland
ausführt, so konnte es sich doch weder hinsichtlich der Staatseinkünfte, noch der
Ausfuhr der deu Jnscldänen nothwendigen Lebensbedürfnisse jemals mit der letz¬
teren Kornkammer Scandinaviens messen.
Das Land selbst ist nicht Schuld an der Versunkenheit und Barbarei seiner
Bewohner; es bietet vielmehr Gelegenheit genug zur Eröffnung eines großartigen
Handelsverkehrs, zur Ausbildung einer geregelten Industrie, zum Aufschwung einer
lohnenden Landwirthschaft. Die ganze jüdische Halbinsel besteht ans einem nach
beiden Seiten hin sich in die Ebene abdachenden niedern Höhenrücken, welcher von
der Eider beginnend, sich fast bis an das Skagenshorn erstreckt, und der im Him¬
melberg zwischen Räubers und Alborg mit 1200 Fuß überm Meer seinen höchsten
Punkt erreicht. Das Plateau dieses Höhenzuges ist die sogenannte Alhaide, eine
weite, sandige, durch Hügel coupirte Ebene. Hier wächst meilenweit nur das braune
Haidekraut, und traurig steigen die schwarzen Hütten der zerstreuten Ansiedler, die
sich nur selten zu einem kleinen Dorf versammeln, wie große Ameisenhaufen empor
ans der Haide. Diese wird höchstens hier und da durch ein paar Buchweizenfel¬
der unterbrochen, oder durch niedriges Gebüsch, welches die Sumpflachen um¬
wuchert. Eine traurigere Gegend kaun es kaum geben, wenn die Winterstürme
wehen. Aber einen eigenthümlichen Reiz erhält die Landschaft, wenn das Haide-
kraut blüht uno ein leiser Wind das rothe Blumenmeer in tausend kleinen Wellen
durchfurcht und ein süßer Duft die Lüfte füllt. Welcher reiche Erwerb könnte hier
durch eine geregelte Bienenzucht und Schafhaltung eröffnet werden; wie leicht
wären hier, da insbesondre an Torf ein großer Ueberfluß ist, mancherlei Fabriken
gegründet, abgesehen davon, daß es dem Juden nicht einfällt, durch Plaggen, Bren¬
nen und Wiesenanlegcn die sandige Scholle zu binden und erträglich zu machen!
Hier in Alhaide erheben sich in unzählbarer Menge die Hünengräber, welche dem
Landstrich fast das Ansehen geben, als sei er der ungeheure Begräbnißplatz aller
nordischen Völker gewesen. Oft ist in der Lage derselben eine gewisse Ordnung
unverkennbar, welche einen sehr großen Grabhügel zum Centrum eines Kreises von
vielen kleineren macht, weshalb jener gewöhnlich für die Ruhestätte eines Häupt¬
lings gehalten wird. In der Nähe der Königöan sind mehrere solcher Hünengrä¬
ber geöffnet worden. Ungeheure Quadern, von welchen man heute noch nicht
weiß, wie sie in das steinarme Land gekommen sind, bilden in roher Schichtung
ein enges Kämmerlein, in dem man außer Aschen und Knochen mancherlei sehr
rohe irdene Geräthe und allerlei Waffen und Schmuck fand. Dieser Steinsarg ist
bis auf 15 Fuß Höhe mit Erde überschüttet und ein kreisförmiger Grabhügel dar¬
aus gebildet worden. Die Anzahl dieser Hügel ist so groß, daß man von einem
derselben herab im Umkreis der Blicke manchmal über 500 zählen kann. Das
Landvolk kennt wohl ihre Bedeutung und hat eine abergläubische Scheu vor ihrer
Oeffnung. Daher wird auch ein Hünengrab, und wenn es der Feldbestellung noch
so sehr im Wege liegt, niemals geöffnet.
Die westliche Küste Jütlands besteht großentheils ans einem Boden, welcher
durch Dämme und Kooge dem Meere abgerungen worden ist. Hier haben die
Wellen theils fruchtbare Erde von der Höhe dereinst herabgeschwemmt, theils später
im Meerschlamm angespült und somit erhält das Land den Charakter der Marsch¬
gegenden. Schifffahrt und Fischfang sind hier minder bedeutend, als Ackerbau und
hauptsächlich Weideviehzucht, weil beide ersteren nnr in ganz kleinen Fahrzeugen,
die vielen Sandbänke, welche die flache Küste gefährlich machen, betrieben werden
können. Der östliche Küstenstrich des Landes ist zum großen Theil sehr fruchtbar
und bildet eine zusammenhängende Reihe entzückender Landschaften. Die Fiorde er¬
strecken sich tief hinein in's Land, rauschende Buchenwälder säumen ihre grünen
Ufer, niedere, reich bewaldete Hügelkette» bilden wunderschöne, reich bewässerte
Wiesenthäler, viele freundliche Städtchen liegen an der Straße, die armseligen
Dörfer erhalten in ihrer lachenden Umgebung einen romantischen Anstrich, und
jeder Augenblick bietet eine neue Fernsicht auf das blaue Meer mit seinen fernen
Inseln und den weißen Segeln, die wie Möven in der Luft, sich auf seinen Wo¬
gen schaukeln. Die herrlichste Gegend Jütlands ist die Umgebung der Stadt
Beile, welche man das dänische Paradies zu nennen pflegt. Auch Nauders liegt
sehr schön, Wiborg hingegen, die Hauptstadt und der Sitz des Landtags, nicht.
Hoch im Norden zerreißt der Lymfiord, ein großer Meeresarm, das Land in
vielgcbuchtete Stücke, so daß dessen nördlichste Spitze, die in das Skager Nak hin¬
einragt, eine völlige Insel ist, die nur bei niederem Meeresstaud durch eine Bank
mit der Westküste zusammenhängt. Hier ist schon rein scandinavische Landschaft
»ut die Erinnerung an die Wikiugerfahrten werden wach, wenn die Springflnth
über die Dämme tobt und die Fischer mit ihren Kopf'"s mitten in die Gehöfte
schleudert, wenn gestrandete Wale und Schiffstrümmer das Volk zu Beutezügen
sammeln. Es muß ein wunderbarer Standpunkt sein auf dem Cap Skagcnshorn,
das als äußerste Spitze Dänemarks hinüber »ach Norwegen deutet; dort muß
alle Erhabenheit und jeder Schrecken des Meeres in überraschender Wirkung vor'ö
Auge trete». Und gefährlich ist der Boden — denn die Zeit wird kommen, in
welcher die Springflnth das nordische Jnseljütland begraben wird mit Land und
Leuten — kurz oder lang.
Sie thun uns Unrecht, ich sage Ihnen, himmelschreiendes Unrecht. Die Grenzboten
Woriren uns." Hassen Sie uns, fürchten Sie uns, verspotten Sie uns, aber erkennen
^'e uns an. Auch wir machen Geschichte. Es ist wahr, es gab eine Zeit, wo wir
idyllischer Behaglichkeit alle Freuden des patriarchalischen Regiments genossen. In
^ser Zeit der politischen Unschuld war es ein Ereignis;, wenn Serenissimus einen an-
hin? Schnitt der Uniformen vorschrieb, die bei den höchst exclusiveu Hoffesten getragen
Wurden. Wurde aber vollends eine neue Hofdame angestellt, so geriet!) das Land in
iberische Aufregung. Mit Politik befaßte» wir uus nicht, außer daß wir die Dienst-
Uachrichtcn unsers Negierungsvlattcs mit Heißhunger verschlangen. Zwar hatten wir
"und eine Ständeversammlung, aber Niemand bekümmerte sich um dieselbe; sie war
'»lin'sterU'it, kein Mensch sprach von ihr; sie wurde liberal, man ignorirte sie. Erlau¬
en alten Reactionär, eine Thräne im Auge zu zerdrücken, wie Karl Moor
« der Erinnerung an seine schuldlose Kindheit; ich spreche von einer nie wiederkeh¬
renden Zeit. Es kam der März: Bürgcrwehr, Volksversammlung, Katzenmusik, Bauern-
lrawall — es war geschehen. Das alte Ministerium tritt ab, unter dem wir ein so
ruhiges und stilles Leben geführt in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit. Von da an
fingen wir an Geschichte zu machen. Der neue Minister ist ein Ehrenmann, liberal
lange vor dem März, energisch, voll Umsicht und des besten Willens. Er beruft einen
neuen Landtag ein, ohne die mittelalterlichen Ständcunterschiede nach einem neuen
Wahlgesetz. Der Landtag leidet an allem Andern mehr, als an einem Ueberfluß von
Intelligenz: l) sehr viele Bauern, gute Leute, aber schlechte Musikanten, 2) einige
Juristen, die im Lande der Blinden für sehend gelten können, 3) einige Lehrer und
Geistliche mit obligatem Pathos und auswendig gelernten Reden, 4) eine sehr kleine
Minorität von politischer Einsicht. Das Ministerium ist, wie gesagt, durchweg konsti¬
tutionell, es ist wohlwollend, es ist liberal. Die Majorität müßte blinder sein, als
sie ist, wenn sie das verkennen wollte. Aber man hat Versprechungen gemacht: „Komme
ich zum Landtag, der Regierung will ich's sagen; alles muß anders werden; man muß
dem Ministerium imponiren." So gibt der Landtag dem Ministerium ein Vertrauens¬
votum uach dem andern und raisonnirt dabei das Blaue vom Himmel. „Die unglück¬
selige Mäßigung der reactionären Nationalversammlung" — die Nationalversammlung
wird gesprengt, und nun donnert es gegen „die absolutistische Verschwörung" der Re¬
gierungen. Das Reichsministerium wird möglichst schlecht gemacht; Preußen erkennt
die Reichsverweserschaft nicht mehr an, und nun kommt ver hohe Landtag auf sein
eigentliches Thema: „Preußen verräth uns." Die deutsche Frage liegt dem Landtag
vor: ein donnernder Ausschußbericht und die Sache ist entschieden. Wir schließen uns
nicht an, der preußische Bund ist vernichtet und die Weltgeschichte dreht sich hinfort
um das Landschaftsgebäude auf unserm Markte. Die Börseuwclt erzittert, alle Com¬
binationen der preußischen Staatsmänner und der Gothaer Versammlung scheitern an
dem Beschluß des hohen Landtags: Was kümmert das Alles den Großstaat von 43
Quadratmeilen und 160.000 Einwohnern?
Denken Sie sich, ich bitte Sie, zu dem Allen noch die interessanteste Form der
Verhandlungen. Der Präsident, dessen Lispeln kein Mensch versteht, vermehrt die ur-
anfängliche Confusion der Ideen durch falsche Fragstellungen. Die Mitglieder der
Majorität schnurren ihre eingelernten Reden hinunter und stottern, da sie nicht extem¬
pore sprechen können, sobald die Discusston beginnt. Diese ist übrigens kurz; denn
die Majorität weiß genau, wie sie zu stimmen hat, und läßt die Minorität reden; sie
fühlt in sich die Festigkeit, sich nicht überzeugen zu lassen. Gibt es ein schöneres
Spiegelbild der Berliner Constituante, nnr heiterer, harmloser, naiver?
Interessant ist es auch, das Publikum zu beobachten, welches diesen Verhandlun¬
gen bei.-ohne. Der Präsident klingelt: der Abgeordnete X. hat das Wort. Das ist
unser größter Redner, seines Glaubens ein Lehrer. Seine Feinde behaupten, er stot¬
tere seine Reden mehr, als er sie spreche; aber auch seine Feinde können ihm den
Sammlerfleiß nicht absprechen, mit dem er aus Vogt's, Simon's, wohl auch Würth's
Reden die Kualleffecte zusammenträgt, sowie ein Bienlein den Honig, um seine eigenen
0>in8<:u>i>, damit herauszuputzen. Er erhebt sich — allgemeines Schweigen. Die eine
Hand in dem Busen geschoben, die andere ans die Tafel gestützt, gleicht er dem alten
Cato mit seinem ceterum censeo. Noch ein verlegenes Hüsteln und die Rede braust
einher, von einigen Kunstpausen unterbrochen, lange, sehr lange; denn Herr L. me-
morirt vortrefflich. Das Publikum hört schweigend den Donnerworten zu, die irgend
einen unglücklichen Reichsminister, den König von Preußen oder zur Abwechslung auch
unser eignes Ministerium vernichten. Einige Böswillige unter den Zuhörern schauen
ironisch darein und es kommt ihnen vor, als hätten sie das Meiste schon einmal gelesen;
aber sie lassen ihre Gedanken nicht laut werden, denn so eben schließt Herr X. unter dem
einstimmigen Bravo der linken Ecke des Zuhörerraums. Die Rede hat das Vaterland gerettet.
Jetzt frage ich Sie: Ist das politisches Leben oder nicht? Werden Sie auch fer¬
ner die Naivität haben, einen Staat ignoriren zu wollen, um dessen Landschaftshaus
sich die Weltgeschichte dreht? Zwar ist unser hoher Landtag aufgelöst worden, weil er
das Vaterland rettete, indem er der Krone Preußen seinen Beistand versagte. Aber so
sehr auch einzelne böswillige Reactionäre darauf hinarbeiten, eine andere Volksvertretung
zu Stande zu bringen: Das Volk wird diese Machinationen zu würdigen wissen und die
Retter des Vaterlandes nicht verlassen. Oder wäre keine Gerechtigkeit mehr in Genua?
Französische Blätter bringen folgende interessante Zusammenstellung der politischen
Ereignisse mit den Schwankungen der Course an der Pariser Börse.
Es ist sowohl zur Zeit des abstracten Radicalismus, in welchem vor 1848 im
Wesentlichen die Revolution bestand, als besonders seit der Revolution, gegen diese
Materielle Auffassung politischer Entwicklungen, wie sie Geschäftsmännern geläufig ist,
lebhafte Einwendung gemacht worden. Gewiß darf die materielle Rücksicht wahrhaft idealen
Forderungen nicht im Wege stehn; so gut man sein Leben opfert, wenn es das Wohl des
Vaterlandes gilt, so gut und leichter wird man den Geldbeutel ziehn. Aber schon aus
dem Grunde, um zu Zeiten des Aufschwunges nicht höchst unangenehm überrascht und
dadurch deprimirt zu werden, wie es in Deutschland im vorigen März einem großen
Theil unserer deutschen Kaufleute, Buchhändler u. s. w. ging, ist eS gut, diese eine
Seite der Politik nie aus den Augen zu lassen. Der Britte schlägt, wenn er die
Times zur Hand nimmt, zuerst die Seite auf, in welcher die Course verzeichnet sind,
und doch ist England das freieste Land Europas. So wenig man im Mittelalter die
Messe dadurch entheiligt glaubte, daß man sie zugleich zum Centrum und zum Zeichen
deö Großmarkts verweltlichte, so wenig wird der wahrhaft politische Idealismus dadurch
verkümmert, wenn man ihn in die realen Beziehungen des Weltverkehrs verflicht.
Der Friedenscongreß zu Paris. Es war eine seltsame Genossenschaft,
welche sich in Paris im Saal der heiligen Cäcilie zusammengefunden hatte, außer den
französischen Faiseurs: Coquerel, Emile Girard in und Bastiat, welche die Ge¬
legenheit benutzten, um von sich reden zu machen, von Parisern der Narr Jean Jou-
vcu et, jener Schüler Fouriers, welcher sich sür den Sohn Gottes hält, Victor Hugo;
von Amerikanern All an und ein orthodoxes Geschlecht von Puritanern, welche den
ewigen Frieden ans der Bibel motiviren wollten; ferner eine Anzahl englischer Sonder¬
linge, unter ihnen Cobden, der Frcihandclsmann. — Victor Hugo, der Präsident, er¬
öffnete den „Kongreß" mit einer Rede, worin er versicherte, es scheine Vielen abgeschmackt, für
einen ewigen Frieden zu arbeiten, ihm scheine aber das gar nicht, der ewige Friede sei wohl
möglich, ja er habe die Ueberzeugung, daß er eben so nothwendig als möglich sei. Und nach¬
dem er mit großer Emphase die begeisterte Versanunlnng darüber belehrt hatte, daß seine
Ueberzeugung auch die ihrige, folglich die richtige sei, eröffnete er die Sitzung. In drei
Sitzungen wurde der ewige Frieden vorbereitet; die Franzosen drechselten Phrasen und
glänzende Antithesen; die Amerikaner predigten, die Jrländer schlugen mit Arm und
Bein zusammen und die Engländer brachten mit unzerstörbarer Energie und Ausdauer
ihre parlamentarischen Hort's und Applause an. — Am Besten sprach Cobden, bei
dem der fromme Wunsch eines ewigen Friedens wenigstens den realen Hintergrund
einer commerziellen Allianz der Cultmstaaten hat, aber auch seiue Worte fielen als
dürres Laub zu Boden; es war nichts Gescheutes über die Realisirung einer Idee zu
sagen, welche nicht nur zu dem gegenwärtigen egoistischen Staatsleben der Völker in
scharfem Gegensatz steht, sondern die gesammte Existenz des Menschengeschlechts in sehr
bedenklicher Weise alteriren müßte, wenn sie je rcalistrt werden könnte. Denn der Krieg
ist eben so gut eine Bedingung für das Gedeihen deS Menschengeschlechts, wie der Kampf
entgegengesetzter Principien für die Wissenschaft; es kommt nnr darauf an,, wie er ge¬
führt wird. — Das größte Aufsehn machte in deu Sitzungen des Kongresses die Rede
von Jean Jouvenet, dem Erleuchteten. Nachdem er sehr beweglich die jammervolle Lage
der gegenwärtigen Menschheit geschildert hatte, zeigte er, wie in einer Gruppe von ben¬
galischer Flamme beleuchtet, die Segnungen des schönen Friedens, er hatte gezürnt,
nun wurde er begeistert. Plötzlich kam die große Ruhe der That in sein bewegtes
Antlitz; er erklärte, so könne die Sache nicht bleiben, er ,— der Redner — habe sich
entschlossen, er werde die Sache ändern, den ewigen Friede» bringen; denn von je habe
der Einzelne, als Gesandter der Gottheit, das Größte gebracht, Jesus, der Nazarener,
sein ein Beispiel, er, Jean Jouvenet — rasch bewegte sich Victor Hugo auf seinem
Präsidentenstnhl, entsetzt Vor der Blanc, welche den Kongreß die nächsten Ncdesätzc treffen
mußte, und entzog dem Redner das Wort. — Nach drei resultatlosen Sitzungen war
die Sache zu Ende, Paris hatte sich amüsirt. — Wenn ein Deutscher sich, wie Victor
Hugo, zum Präsidium in solcher Farce hergäbe, sein Renommee wäre für immer dahin.
In Paris thut das wenig, er hat doch wieder von sich reden gemacht und den Parisern
Gelegenheit gegeben zu sagen: er ist doch ein excentrischer Kopf, unser Hugo! — Dies
gemachte geniale Wesen, dies Kokettircn und Buhlen um Ruhm und Ruf ist bei den
modernen Franzosen sehr widerlich; am widerlichsten vielleicht bei dem Vater der mo¬
dernen französischen Romantik. Er verdient in Deutschland eine gründliche Kritik. —
Als der alte Feldmarschall Radetzki am 15. Januar 1848 zu Mailand jenen
berühmten Tagesbefehl an die Armee erließ, in welcher er Europa verkündigte,
daß Oestreich noch nicht untergegangen sei, war man eigentlich überrascht; man
hatte sich noch gar keine Vorstellung davon gemacht, daß so etwas in Frage ge¬
stellt werden könnte. Freilich war bei der allgemeinen nationalen Bewegung in
Italien die Stimmung in der Lombardei schlimm genug; sogar durch Enthaltung
der Cigarren griff man Oestreichs Hilfsquellen an (Ligue vom 2. Januar), man
machte Mordanfälle auf einzelne Soldaten, man trug Calabreserhüte und die ita¬
lienische Tricolore, und die Aufregung ging so weit, daß, abgesehn von einer
Menge Verhaftungen, endlich (19. Febr.) das Standrecht verkündigt werden mußte.
Aber ein Aufstand in Italien war nichts neues, und mau war an den Wankel¬
mut!) der Italiener zu sehr gewohnt, um sie besonders zu fürchten.
Auch in Ungarn gab es zwar eine lebhafte Bewegung, aber sie schien sich
in den Schranken des Gesetzes zu halten. Das Ständehaus war den 7. Januar
zu Preßburg eröffnet; die Magnatentafel hatte sich populär gemacht, indem sie
gleiche Besteuerung aller Klassen (17. Januar) und die Ablösung der bäuerlichen
Giebigkeiten (4. Februar) beschloß; man hatte sich selbst den slavischen Stämmen
genähert, indem man (5. Februar) den Kroaten für ihre innern Angelegenheiten
den Gebrauch ihrer Sprache bewilligte.
Die Finanzen des Staats waren zwar in der alten Verwirrung, allein auch
hier hatte eine durch Hofrath Frenzel in Petersburg negociirte Anleihe von
5« Millionen Gulden (28. Jan.) einige Aushilfe gegeben.
So kam die Februarrevolution.
Eine Bittschrift, von Seiten der Universität eingereicht (12. März, Professor
Hye und Endlicher), war zwar etwas Neues, konnte aber noch immer in
der alten Weise behandelt werden. Auch der gleichzeitige Zusammentritt des nieder¬
östreichischen Landtags (in welchem damals Montecuculi, Schmerling und
Dobblhos die populärsten Namen waren), hatte an sich noch wenig zu bedeuten,
obgleich das Volk, unter D>. Fisch Hoff Leitung, demselben einen unmittelbaren
Impuls zu geben suchte. Denn theils war es unbestimmt, was man eigentlich
wollte — es müsse anders werden, darüber war man freilich einig, und Met-
ternich müsse fort, — theils konnte man auch noch gar nicht die Mittel über¬
sehn, über welche mau zu disponiren habe. Als freilich am folgenden Tage die
Unruhen sich bis zu Barrikaden steigerten, ohne daß das Militär einschritt, wurde
die Sache bedenklicher, und als am Abend verkündigt wurde, Metternich habe in
Folge vielfach erneuerter Petitionen sein Amt in die Hände des Kaisers nieder¬
gelegt, erregte es kaum mehr Ueberraschung.
Uns ist jetzt freilich Vieles dabei unklar. Was war deun eigentlich geschehen,
ein 33 Jahre lang mit wunderbarer Energie festgehaltenes System in Einem
Augenblicke zu stürzen? — Der Grund war wohl ein doppelter. Metternich hatte
einen Aufstand in Oestreich nicht in seine Rechnung gezogen, nicht überlegt, was
in solchem Fall zu thun sei, und war nicht genial genug, dem Unerwartetem zu
begegnen. So sehlte der eigentlich conservativen Partei alle Leitung; ein Jeder
handelte nach Gutdünken. Zweitens aber gab es am Hof selbst eine sehr wichtige
Partei, die des alten Mannes müde war, und sie benutzte die Aufregung, sich
seiner zu entledigen, im übrigen überzeugt, daß es auf die alte Weise, mit leid¬
lichen Reformen, weiter gehn würde.
/ Die drohende Haltung der Proletarier näherte die gemäßigten Parteien ein¬
ander. Die akademische Legion wurde genehmigt, Preßfreiheit proclamirt, und
eine Nationalgarde eröffnet, über welche der Befehl dem Oberstjägermcister Gra¬
fen Hoyos anvertraut wurde (14. März). Ein Maueranschlag, in welchem der
Feldmarschall Alfred Fürst Windischgrätz die Stadt in Belagerungszustand
erklärte, verstärkte, weil sie ohne Folgen blieb , nur uoch die Macht der liberalen
Partei. Ein Patent (>!). März), gegengezeichnet von den Hvfkanzlern Karl Graf
v. Inzaghi, Franz Freih. v. Pillersdorf und Joseph Freih. v. Wein¬
garten, verkündigte für Oestreich eine auf liberalen Erweiterungen der bisherigen
Stände basirte Verfassung für Oestreich. Seitdem beschäftigte man sich mit Feier¬
tagen. Der Polizeiminister Graf S edln itzky mußte Wien verlassen, Ungar»,
erhielt ein selbstständiges Ministerium unter Bathyany, und der Erzherzog
Stephan eine ausgedehnte Vollmacht als Reichspalatin. Die ungarischen Stände
beschlossen eine constitutionelle Volksrepräscntativn (18. März), und erhiel¬
ten dafür (I I. April) die kaiserliche Sanction. In den Provinzen fand die neue
Wendung der Dinge überall freudige Anerkennung; die Czechen hatten ihre For¬
derungen schon in der Versammlung in Wenzclsbad (12. März) formulirt; sie
schickten (20. März) eine neue Deputation; ebenso die Kroaten (30. März). Es
wurden den ersteren (8. April) Concessionen gemacht, Graf Leo Thun (13. April)
an Stelle Stadion's zum Regierungspräsidenten von Böhmen ernannt. Der Kanz¬
ler Inzaghi dankte ab (17. März), und es wurde ein verantwortliches Ministe-
rinn ernannt: Auswärtiges Graf Fiquelmont, Inneres Pillersdorf, Ju¬
stiz Graf Taaffe, Finanzen Kübeck. Der provisorische Ministerpräsident Graf
Kolowrat dankte schon am 4. April wieder ab. In einer Rundfahrt durch
Wien (l8. März) fraternisirte der Kaiser mit dem Volk, das ihm die Pferde aus¬
spannte, Windischgrätz mußte seine militärischen Maßregeln zurücknehmen, es
wurde eine allgemeine Amnestie ausgesprochen (20. März), ein Ministerium des
Unterrichts gegründet (24. März, Freih. v. Svmmaruga), das Kommando der
akademischen Legion dem Trafen Colloredo-Mansfeld übertragen, (?l.März).
Ein gleichzeitiger Erlaß eines provisorischen Preßgebvts genügte der jungen
Presse nicht mehr, die mit der Schnelligkeit von Pilzen aufschoß; es wurde von
den Studenten feierlich verbrannt und in Folge dessen zurückgenommen (9. Ayrt).
Am 2. April schwang der Kaiser aus einem Fenster der Hofburg die schwarzroth-
goldene Fahne, am ti. April wurden die. Ligorianer vertrieben, am 11. April die
Ablösung der Robot und der Zehnten verheißen, endlich am 25. April eine oc-
troyirte Verfassung proclamirt. Die künstliche Aufregung, in die man Wien gegen
ein derartiges kaiserliches Gnadengeschenk zu setzen suchte, fand diesmal noch kei¬
nen Boden; als die Regierung den Urheber derselben, Schütte, aus Wien
entfernte (18. April), stand die gesammte Bürgerschaft auf Seite der ersteren.
Eben so allgemein war der Patriotismus der Wiener in Bezug auf den ita¬
lienischen Krieg. Hier war der Ausbruch zu Mailand am 18. März erfolgt.
Man hatte eine provisorische Regierung eingesetzt (19. März) und nach NadetMs
Abzug die Republik proclamirt (20. März). Dasselbe geschah am nämlichen Tage
zu Venedig, wo Tomasseo und Man in an die Spitze traten. In den kleinen
italienischen Staaten siegte überall die Revolution, die Römer schickten einen frei¬
lich unfähigen Geueral (Durando) den Lombarden zu Hilfe, und König Carl
Albert, gedrängt durch die kriegslustige Partei, die von seinem eigenen Minister
Pareto geleitet wurde, überschritt den Ticino (24. März) und zog am folgen¬
den Tag in Mailand ein, indem er sich in einer Proclamation gegen alle ehr¬
geizigen Absichten verwahrte. Oestreich erklärte ihm den Krieg (1. April).
Eine andere Verwickelung ergab sich für Oestreich durch die deutsche Bewe¬
gung. Das Vorparlament beschloß, indem es den Fünfziger Ausschuß einsetzte
(3. April), 7 Oestreicher hineinzuwählen. Die Theilnahme Oestreichs an dem
neu zu errichtenden Bundesstaat erschien als ausgemachte Thatsache. Die Wahl
traf Wiesuer, v. Schwarzer, v. Andrian, Bach, Schuler, Franz Pa-
lacky und Schuselka (5. April). Gleichzeitig hatte man aber in Wien, von
Seiten der Studenten, eine Deputation erwählt, die (9. April) dem Ausschuß
den Eintritt Oestreichs verkünden sollte. Durch einen Kompromiß blieben nun
Wiesner, Schuselka, Schilling, Hornbostel, Kuranda, v. Mühl¬
feld und Hübner im Ausschuß. Palacky, Haupt der czechischeu Opposition, lehnte
die Wahl ab, weil er die Vereinigung mit Deutschland für unvereinbar hielt mit
der Integrität des östreichischen Kaiserstaats. Gleichzeitig entsendete die Regierung
vt Schmerling und v. S onnnaruga als Vertrauensmänner an den Bundes¬
tag (10. April). Die Oestreicher traten mit großem Enthusiasmus auf, nud wur¬
den mit gleichem Enthusiasmus empfangen. Sie traten in allen Fragen, die sich
auf ihren Staat bezogen, als compakte Masse ans, namentlich in der italienischen,
wo sie den bis dahin ziemlich cosmopolitisch gesinnten Ausschuß gänzlich umstimm¬
ten. Man hatte den Antrag gestellt, eine Adresse an die Italiener zu erlassen;
statt dessen wurde sie an die Tiroler gerichtet, welche einem Einfall der Piemon-
tesen tapfern Widerstand entgegengesetzt hatten. Ein Versuch des Bundestags,
sich selber durch eine Concentration auf 5 Personen, von Oestreich, Preußen und
Baiern ernannt/ zu ergänzen, ging von Oestreich aus; er scheiterte diesmal, ob¬
gleich man die Majorität des Fünfziger Ausschusses in das Interesse gezogen
hatte. (8. Mai). Im übrigen that die Regierung Alles, was in ihren Kräften
stand, sich Frankfurt geneigt zu zeigen; sie ordnete sofort die Wahlen zur Na¬
tionalversammlung an, (l6. April) ganz wie sie das Vorparlament vorgeschrieben
hatte. Bei den Czechen, die ihre Nationalität jetzt dem reformirenden Oestreich
entgegensetzten, wie früher dem absolutistischen, sand sie darin Widerstand; nur
in einigen deutschen Kreisen wurden die Wahlen vollzogen und auch da vou einer
sehr geringen Minorität. Die Abgeordneten, welche der Fünfziger Ausschuß nach
Prag schickte, um eine Sinnesänderung zu veranlassen, wurden verhöhnt (28t
April), und die Regierung fand sich nicht veranlaßt, einzugreifen, um so weniger,
da ihr selber das Verhältniß des neuen Bundesstaats noch nicht klar war. Ein¬
mal sah sie sich sogar in der Lage, in einem offiziösen Artikel der Wiener Zei¬
tung (17. April) gegen den Eintritt Oestreichs in denselben zu Protestiren, salls
dadurch die Selbstständigkeit des Staats alterirt werden sollte. Das störte aber
das gute Verhältniß keineswegs, und als die deutsche Nationalversammlung zu¬
sammentrat (!8. Mai), war die Nothwendigkeit, für Deutschland und Deutsch¬
östreich eine gemeinsame constitutionelle Verfassung zu entwerfen, entschieden, um
so mehr, da alle Welt an eine Trennung Ungarns von den deutschen Erbländer
glaubte.
Mittlerweile waren in Oestreich selbst bedeutende Veränderungen eingetreten.
Gegen die oktroyirte Verfassung erhob sich eine ernsthafte Opposition, vornämlich
wegen der darin enthaltenen ersten Kammern. Graf Fiquelmont erhielt eine un¬
geheure Katzenmusik (3. Mai), und dankte in Folge dessen ab; Pillersdorf wurde
Conseils-Präsident, Frhr. v. Lebzeltern Minister der auswärtigen Angelegen¬
heiten (5. Mai). Das Ministerium wurde ferner ergänzt durch Dobblhof (Han¬
del und Industrie) und Bau eng artn er (öffentliche Arbeiten; 11. Mai). Die
Jesuiten und Redemtoristen wurden aufgehoben (8. Mai), ein neues Wahlgesetz
verkündet (11. Mai). Dadurch wurde aber die Demokratie nicht beseitigt, der man
noch immer keine Aemter anvertraute, und der man sogar den politischen Central-
ausschuß der Nationalgarde nehmen wollte. Eine Stnrmpetition (15. Mai) be¬
wirkte, da die Negierung es sich zum Gesetz gemacht zu haben schien, Emeuten kei¬
nen Widerstand entgegenzusetzen, eine zweite Revolution. Der Reichstag sollte nun
ein constituirender sein, das Wahlgesetz revidirt und die erste Kammer entfernt
werden. Die Nationalgarde sollte gemeinschaftlich mit dem Militär die Stadtthore
und die Bürgerwachen besetzen. Die Nachricht von der Entfernung des Kaisers
aus Wien (18. Mal) nach Innsbruck, rief unter den Bürgern eine lebhafte Reaktion
hervor, das Ministerium, welches sich durch Wessen berg ergänzte (20. Mai),
fand wieder Sympathien, und konnte daran denken, das Centrum der Bewegung,
die akademische Legion aufzulösen. Als aber Colloredo diese Maßregel militärisch
ins Werk setzen wollte (26. Mai), erhoben sich in allen Straßen Barrikaden, das
Militär wurde entfernt, die Concessionen des 15. Mai in allen Punkten bestätigt.
Es bildete sich ein Sicherheitsausschuß (nnter Fischoff's Vorsitz) ans Studenten und
Bürgern, und dieser leitete seitdem eigentlich die Negierung.
Die Wiener waren deutsch gesinnt; die Tricolore war Zeichen der Freiheit,
aber mit einer nationalen Nuance. Die Ungarn gingen darin mit den Demokra¬
ten Hand in Hand; eine Auflösung Oestreichs schien »nvermeidlich. Anders war
die Stimmung der Slaven, die ihr numerisches Uebergewicht uur erhalten zu kön¬
nen glaubten, wenn der Kaiserstaat in seiner Integrität erhalten und möglichst
vom deutschen Einflüsse gelöst ward. Um gemeinsam operiren zu können, wurde
(4. Mai) ein allgemeiner Slavencongreß nach Prag einberufen und dieser am
1. Juni eröffnet, nachdem sich im Namen des Kaisers (29. Mai) eine provisorische
Regierung unter Graf Leo Thun gebildet hatte. Die versammelten Nationen —
viele Polen und auch einige Russen waren dabei — conspirirten mit einiger Mühe,
da sie einander nicht verstanden; in Ermangelung eines bessern kamen sie endlich
darauf, Barrikaden zu errichten (12. Juni, Pfingstwoche); der Commandant, Fürst
Windischgrätz mußte sich auf den Hradschin zurückziehn; von hier aus bombar-
dirte er die Stadt (15. Juni), und machte nach nicht erheblichem Widerstand
der blutigen Comödie ein Ende (17. Juni). Die Wiener Demokraten wußten nicht
recht, auf welche Seite sie sich schlagen sollten, hier die nationale Sympathie,
dort die principielle; doch entschieden sie sich endlich für das Princip der Barri¬
kaden und gegen den Tyrannen Windischgrätz.
Ernsthafter waren die Bewegungen der Südslaven, weil es sich hier um ein
unmittelbares Interesse handelte. Joseph Freiherr v. Jellachich, der auf
die Veranlassung einer kroatischen Deputation zum Baums von Kroatien und Sla¬
vonien ernannt war, leugnete die Gewalt des ungarischen Ministeriums über seine
Provinzen, und weigerte sich, eine andere Oberhoheit anzuerkennen, als die Oest¬
reichs. Nachdem ihn der Palatin vergebens aufgefordert, zu seiner Pflicht zurück¬
zukehren, wurde General Hrabowski (Mitte Mai) als bevollmächtigter Commissarius
nach Agram geschickt, um den Barus allenfalls zu entsetzen. Seine Sendung hatte
aber keinen andern Erfolg, als eine allgemeine Erhebung der Kroaten. Gleich¬
zeitig begannen im Banat und in Siebenbürgen jene greuelvollen Kämpfe zwischen
den Ungarn und den slavischen Stämmen, die seither ununterbrochen fortgedauert
haben. Die Kanonade von Karlowitz (ig. Juni) und das Blutbad von Wei߬
kirchen (22. Juni) sind die bekanntesten Episoden aus diesem wüsten Krieg. — Es
beginnt jetzt das falsche Spiel der östreichischen Camarilla. Ein kaiserliches Hand¬
schreiben an Jellachich vom 10. Mai, der ungarischen Negierung zu gehorchen,
blieb ohne Erfolg. Darauf erfolgte von Innsbruck ein drohender Erlaß, in wel¬
chem der vom Bau aufgeschriebene Landtag für nugiltig erklärt, Jellachich selbst
aber aufgefordert wurde, binnen 24 Stunden wegen Ausgleichung der kroatischen
Wirren am kaiserlichen Hoflager zu erscheinen. Er trat am 12. Juni seiue Reise
an, begleitet von einer zahlreichen Deputation, nachdem er vorher die Angelegen¬
heiten Kroatiens als einer von Ungarn unabhängigen Provinz geordnet. Der
Kaiser wurde völlig umgestimmt, der Bau in seinen Würden bestätigt, und ihm
zugleich eröffnet, daß Erzherzog Johann ans Ansuchen der Ungarn mit der Lei¬
tung der Unterhandlungen beauftragt sei. Er kam am 24. Juni nach Kroatien
zurück, wo er eine große Unruhe vorfand, weil in einem von Pesth am 10. Juni
datirten Befehl der Baums wegen Hochverraths seiner Würden entsetzt war. An
demselben Tage hatte der Kaiser die Vereinigung Siebenbürgens mit Ungarn ge¬
nehmigt. — Die Verhandlungen nahmen ihren Verlauf, aber ohne Resultat, und
wurden durch die Abreise des Erzherzogs »ach Frankfurt (30. Juli) unterbrochen.
Schon hatte das Kriegsministerium zu Wien (4. Juli) dem rebellischen General
eine Hilfe von 100,000 si. Co.-Mze. zukommen lassen.
Als die Frankfurter Deputation, welche dem Erzherzog Johann die Wahl
zum Reichsverweser überbrachte, in Wien ankam (7. Juli), war der tricolore Jnbel
auf seiner Spitze. Zugleich war die Demokratie bereits so weit im Zunehmen, daß
Pillersdvrf seine Entlassung gab. Unter der Vermittlung des Erzherzog Johann
wurde ein neues Ministerium gebildet (8. Juli): Inneres Dobblhvf, Auswär¬
tiges Wessenberg, Finanzen Kraus, Krieg Latour, Justiz Alexander
Bach, Handel Hornbostl, öffentliche Arbeiten Schwarzer. Der Reichverwescr
ging (0. Juli) nach Frankfurt ab, empfing die Bestätigung seiner provisorischen
Gewalt vom Bundestag, der am 13. Juli seine letzte Sitzung hielt, übertrug
Schmerling, der zuletzt als Bundes-Prästdialgesandter fungirt hatte, den Vorsitz
im Reichsministerium, nud kehrte daraus auf kurze Zeit nach Wien zurück, um
seinem Versprechen gemäß den constituirenden Reichstag zu eröffnen (22. Juli), zu
welchem außer den deutschen Erbländer auf Galizien und Dalmatien sein Contin¬
gent gestellt hatte. Die Stellung der Parteien in demselben richtete sich nach der
Ansicht über die Integrität des Kaiserstaats; die Czechen, die gegen alle Trennung
waren, bildeten die Rechte, die Deutschen, welche die Erdtaube an Frankfurt an¬
schließen wollten, und die Polen die Linke. Obgleich nun ein östreichischer Prinz
an der Spitze Deutschlands stand, hielt es die Regierung doch nicht für ange¬
messen, die vom Reichsministerium auf den 0. August aufgeschriebene Huldigung
zu vollziehn und die Truppen die deutsche Cocarde aufstecken zu lassen. So stan¬
den die Sachen, als der Kaiser nach Wien zurückkehrte (12. August).
Die Sache des .Kaiserstaats hatte indeß in Italien glänzende Erfolge erfoch¬
ten. Im Anfang sprach man nur davou, einen günstigen Frieden zu erkämpfen,
und dann die Lombardei freizugeben Es war eine Art Concession für Oestreich,
daß in der Paulskirche Geueral Radowitz die Erhaltung der Minciolinie
als eine militärische Nothwendigkeit für Deutschlands Vertheidigung zu erweisen
suchte. Mit dem ersten Erfolg änderte sich aber die Sprache. Radetzki sammelte
und verstärkte seine Armee, und schlug die Piemontesen l el Somma - Campagna
und Villafranca (26. Mai). Zwar fiel Peschiera (M. Mai) in die Hände
Carl Albert's, dafür aber wurde Vincenza von den Oestreichern besetzt (ki). Juni,
Durando's Verrath), Padua (17. Juni), Palmanuova (22. Juni). Der große
Sieg bei Costuzzo (24. Juli) entschied den Krieg; die OestreiKer nahmen Cremona
(30. Juli), rückten über den Oglto und zogen (6. August) in Mailand ein, wäh¬
rend gleichzeitig Melden und Lichtenstein Ferrara, Modena, Bologna und
Parma besetzten. Der am 9. Juli mit Carl Albert abgeschlossene Waffenstillstand
gab wieder ganz Oberitalien, mit Ausnahme Venedigs, in die Hände Oestreichs,
und die neue Wendung der Dinge in Frankreich seit der Juniinsnrrection schnitt
jede Aussicht ab, daß von dort aus eine Diversion erfolgen könne.
Auch die Hoffnungen der Ungarn wurden dadurch niedergeschlagen. Von
Frankfurt aus, wohin sie (l5. Mai) eine Deputation abgesendet, hatten sie ohne¬
hin jetzt nichts zu erwarten. Der Reichstag zu Pesth beschloß in Folge der be¬
rühmten Rede Kossntl/s (11. Juli) eine Aushebung von 200,000 Rekruten und
40 Millionen Gulden, von denen ein Theil (Beschluß vom 21. Juli) für den
italienischen Krieg verwendet werden sollte, denn noch hielt sich Kossuth immer
loyal. Der Kampf gegen die Serben und Walachen war zwar blutig, aber nicht
gefährlich; allein jetzt kam die Zeit, wo Jellachich sich offen erklärte. Er ließ
(20. August) Fiume im Namen des Königs von Kroatien besetzen, die drei kroati¬
schen Comitate einverleiben, und erklärte in einem merkwürdigen Schreiben an
Hrabowski (1. September), der Ordnung wegen müsse er jetzt den Oberbefehl
über dessen Truppen übernehmen. Die Magyaren sahen sich jetzt zu ernsteren
Maßregeln genöthigt. In einer stürmischen Verhandlung (4. September) bewilligte
der Reichstag neue 80 Millionen, Ladislaw Teleky ging als Abgeordneter nach
Paris und eine Massendeputation kam (7. September) in Wien an, mit der For¬
derung, der Kaiser möge den Reichstag in Person schließen, den von beiden Häu¬
sern angenommenen Gesetzvorschlägen die Sanction ertheilen, den aufrührerischen
Bestrebungen in Kroatien und Süd-Ungarn entschieden in den Weg treten, und
die im Ausland verwendeten ungarischen Truppen in ihre Heimath zurückschicken.
Der Kaiser gab eine ausweichende Artwort, erklärte aber, er werde stets bereit
sein, die Gesetze des Reichs und die Integrität der ungarischen Kronländer auf¬
recht zu erhalten. Gleichzeitig aber richtete daS östreichische Ministerium an den
Palatin eine Denkschrift, in welcher die den Ungarn im März gewährte Selbst-
ständigkeit als im Widerspruch mit der pragmatischen Sanction erklärt wurde.
Den 9. September that Jellachich den entscheidenden Schritt, er ging über
die Drau. Sogleich traten einige Truppen zu ihm über, und sämmtliche Slaven
hatten nun das Signal zum Aufstand. Das vermittelnde Ministerium Bathycmy-
Deak gab seine Entlassung (14. September) und Kossuth übernahm das Präsidium.
Der Reichstag schickte eine neue Deputation (Wessclenyi an der Spitze), diesmal
an den Wiener Reichstag; sie kam am 18. September an, wurde aber uicht an¬
genommen. Kossuth begann nun sein Banknotensystcm; er wich, «is der Palatin
sein Veto einlegte; aber dieser verließ heimlich die ungarische Armee (24. Sept.),
und nun wurden überall die Honvcds aufgeboten. Schon stand Jellachich in Stuhl¬
weißenburg, das ganze Banat war in den Händen der Serben. Jetzt hielt es
Oestreich für zeitgemäß, zu interveniren. Graf Lamberg wurde (26. Sept.) als
Conuuissar nach Ungarn geschickt, mit dem Auftrage, sich in das ungarische Haupt-
quartier zu begeben, und daselbst alle Feindseligkeiten einzustellen, so wie den
gleichen Befehl an den Baums zu erlassen. Der Reichstag erklärte dies Manifest,
das von keinem Minister contrasignirt war, für ungesetzlich, und Lamberg wurde
gleich nach seiner Ankunft in Pesth (28. Sept.) vom Volk erschlagen. In Folge
dessen wurde in einem Manifest vom l!. October das Königreich in Kriegszustand
«rklärt, der Reichstag aufgelöst, und Recsey zum Premierminister, Jellachich,
der am 4. in Raab einrückte, zum »Itvr ox» ernannt. Die Lage desselben war
aber seit der Niederlage der Generale Roth und Philippowich (!Z0. Sept.) eine
bedenkliche.
In Wien war die Stimmung sehr trübe. Schon hatten mehrfach Zusammen¬
stöße zwischen den Arbeitern und Bürgern stattgefunden (so am 2!5. Angust, 1!5.
September); der Reichstag hatte zwar manche liberale Gesetze gegeben (so Ablö¬
sung der Unterthänigkeitslasten gegen Entschädigung durch den Staat, 30. August),
man wußte aber nicht, inwieweit sie zur Ausführung kommen würden. Die De¬
mokraten setzten auf die Ungarn ihre vorzüglichste Hoffnung; in diesem Sinn war
die Sache (1. October) in einer stürmischen Volksversammlung im Odeon behan¬
delt worden. Als nun die Regierung Truppen nach Ungar» abschicken wollte,
widersetzte sich das Volk; aus dem Kampf (6. October) wurde eine Revolution,
Latour erschlagen und gehängt, die Proletarier bewaffnet. Der Reichstag, aus
welchem die czechischen Abgeordneten, die in der Bewegung eine nationale deutsche
sahen, entflohen, erklärte sich in Permanenz und erließ ein Manifest an die
Oestreicher, der Kaiser entfloh (7. September), diesmal nach Olmütz. In einem
schnellen Marsch benutzte Jellachich den Waffenstillstand, der ihm von den Ungarn
bewilligt war, rückte über die Grenze und vereinigte sich (10. October) mit Auers-
perg, dein Commandanten von Wien, bei Simmering. Gleichzeitig rückten
Truppen aus Böhmen und Mähren gegen Wien an, Windischgrätz wurde zum
Feldmarschall und aller «z^o des Kaisers ernannt. Ihrerseits rüstete sich die
Stadt, die nun von allen Seiten umzingelt war; Messenhauser wurde Ober-
commandant, die eigentliche Leitung der Vertheidigung dem polnischen General
Bem anvertraut. Die Frankfurter Linke schickte Blum und Fröbel (18. Octbr.)
den Wienern ihre Sympathien auszudrücken, während sich die Reichscommissaire
Welker und Mosle in's kaiserliche Lager begaben, und hier eine ziemlich mü¬
ßige Rolle spielten. Windischgrätz erklärte die Stadt in Belagerungszustand (20.
October), und stellte die maßlosesten Forderungen, welche der Reichstag für un¬
gesetzlich erklärte (24. October). Dennoch wurde, nach einigen sehr heißen Käm¬
pfen, die Kapitulation abgeschlossen (29. October), aber gebrochen, als in diesem
Augenblick die Ungarn vorrückten. Diese wurden an der Schwechat geschlagen,
Wien bombardirt und erstürmt. Den 1. November waren Stadt und Vorstädte
entwaffnet und besetzt. Der Reichstag wurde vertagt und nach Kremsier verlegt,
und es begannen die Hinrichtungen. Blum wurde den 10. Novbr. erschossen,
trotz seiner Unverletzlichkeit als Reichstagsabgeordneter, Messenhauser den 16.,
Becher und Jellineck den 23. Novbr. Ein militärischer Terrorismus waltete
über der unglücklichen Stadt.
In Frankfurt hatte man bis dahin vermieden, die östreichische Frage, die doch
den Knotenpunkt der ganzen deutschen Revolution ausmacht, näher in's Auge zu
fassen. Erst den 27. October kam es zur Entscheidung. Nachdem das Parlament
eine Reihe von Gesetzen für das Reich gegeben, legte es sich die Frage vor, wel¬
chen Umfang denn dasselbe haben sollte. Die Antwort war: das Gebiet des deut¬
schen Bundes. Gleich bei dem ersten K. der Verfassung ergab sich aber für Oest¬
reich eine unüberwindliche Schwierigkeit. Derselbe sollte feststellen, daß keines
der Reichsländer mit einem außerdeutschen in Realunion vereinigt sein dürfe. Die
konservativen Oestreicher unebenen für ihren Staat eine Ansncchmestellung in An¬
spruch, aber die große Mehrheit der östreichischen Abgeordneten selbst verwarf die¬
selbe, in der Ueberzeugung, die Trennung des Staats in zwei nur durch Perso¬
nalunion verbundene Gebiete sei das nothwendige Facit der Revolution. Nur
39 Mitglieder protestirten gegen diese Beschlüsse, die Andern standen wesentlich
»uf dem Standpunkt der Wiener Radicalen, den auch die Berliner Nationalver¬
sammlung annahm, als sie (1. November) die Centralgewalt zur Intervention in
Oestreich aufzufordern beschloß. Die östreichische Regierung hatte sich noch nicht
erklärt, doch mußte es jetzt geschehn, als das neue Ministerium (Schwarzenberg,
Inneres Stadion, Justiz Bach, Finanzen Kraus, Krieg Cordon, Handel Bril et,
Ackerbau Thienfeld, kroatische Angelegenheiten Knlmer), sich definitiv gebil¬
det hatte (2V. November). Der Reichstag trat trotz seiner frühern Proteste zu
Kleinster wieder zusammen (22. November), und das Ministerium legte ihm
(27. November) sein Programm vor, in welchem es ein constitutionelles Staats¬
leben verhieß, und eine Erklärung über das Verhältniß des Kaiserstaats zum
deutschen Reich erst dann in Aussicht stellte, wenn der erstere sich selbstständig con-
stituirt haben würde. Die alte, revolutionäre Zeit wurde vollständig abgeschlossen
durch die Abdankung des Kaisers Ferdinand, der seinen Aufenthalt in Prag nahm,
und die Thronbesteigung seines Neffen Franz Joseph, Sohn der Erzherzogin
Sophia (2. December).
Während nun in der That ganz Oestreich, soweit es nicht abgefallen war,
durch den Belagerungszustand militärisch regiert wurde, fuhr der Neichtag fort,
in scheinbar constitutioneller Freiheit weiter zu berathen. Er war reich an Inter¬
pellationen, Angriffen gegen das Ministerium und Gesetzen; nur ließ sich in der
Regel die Negierung gar nicht darauf ein, ihm zu antworten. Er bewilligte
eine Anleihe von 80 Millionen Gulden (17. December), und ging darauf an eine
Berathung der Grundrechte, deren erster Paragraph (das Volk ist die Quelle der
Staatsgewalt) aber bereits der Regierung zu einem energischen Protest Veran¬
lassung gab (4. Januar 1849). In Folge dessen Allianz der czechischen Rechten
mit der Wiener Linken und Mißtrauensvotum gegen das Ministerium angenom¬
men mit 196 : 99 Se. (8. Januar), das aber das Ministerium uicht weiter an¬
focht. Den Paragraph selber ließ man fallen (10. Januar). Der wachsende Libe¬
ralismus zeigte sich auch in der Wahl Smolka's zum Präsidenten (20. Januar)
an Stelle Strohbach's. Die Todesstrafe wurde mit 197: 100 Se. abgeschafft
(29. Januar), während in Wien fort und fort Begnadigungen zu Pulver und
Blei vorkamen. Den 1. März war der Ausschuß mit dem Entwurf der Verfas¬
sung fertig und der 10. März zur ersten Lesung derselben bestimmt, und da gleich¬
zeitig von der Linken sehr heftige Angriffe gegen die Regierung erfolgten, nament¬
lich wegen des Einmarsches der Russen in Siebenbürgen, so octroyirte die Regie¬
rung eine Verfassung (4. März), in welcher ein einheitliches Oestreich, freilich
zunächst nur auf dem Papier, constituirt wurde, publicirte dieselbe, jagte den
Reichstag auseinander, und verhaftete einige von den bedeutendsten Mitgliedern.
Viele Andere machten sich aus dem Staube. Die octroyirte Charte änderte übri¬
gens an den Belagerungszustande uicht das mindeste, nur erfolgte von Seiten
der Regierung eine Reihe von Gesetzentwürfen; so das provisorische Gemeindege¬
setz (17. März); Negressivgesetz gegen die Presse und Associationen (21. März);
Organisation der politischen Verwaltungsbehörden (21. Juni); Justizreformen
(26. Juni); Ablösung der Urbarialschnldigkeiten 7. Juli. Die Protestationen
gegen die octroyirte Verfassung, die diesmal von den Slaven selbst ausgingen
(Klov.'miiKil lipa in Prag 29. März; slvvakische Deputation 20. März; die Ba-
nattafel zu Agram 24. April; kroatisch-slavonische Deputation (6. Mai.); Ro¬
mainen 26. Juni; — wurden nicht beachtet. Der Kaiser kehrte wieder nach
Wien zurück (5. Mai), das mittlerweile sehr schwarzgelb geworden war, Stadion
trat wegen Krankheit ans dem Ministerium (28. April); an Cordon's Stelle trat
Gyulai (4. Juni); Bach erhielt das Departement des Innern, Graf Leo Thun
den Unterricht, Schmerling die Justiz (20. Juli). Der Mittelpunkt der östreichi¬
schen Geschichte wird jetzt Ungarn.
Der ungarische Reichstag hatte einstimmig den Thronwechsel verworfen (15. De¬
cember 1848), der ohne sein Zuthun geschehn war. Der Feldzug begann im De¬
cember, Schlick siegte bei Budomir (11. December), Windischgrätz, der Oberfeldherr
alter exn des Kaisers, zog in Preßburg ein (18. December), in Raab (27. De¬
cember). Indessen hatten die Ungarn, durch polnische Generale verstärkt im Süden
Fortschritte gemacht, und Bem vollendete (29. December) durch die Einnahme von
Klausenburg die Wiedereroberung Siebenbürgens. Dagegen beschloß der Neichörag,
Ofen und Pesth aufzugeben, und sich nach Debreczin zu verlegen (30. December).
Jene beiden Städte wurden durch Windischgrätz besetzt (5. Januar 184!)), und
durch eine militärisch-politische Centralcommission organisirt (15. Januar). Von
den Deutschen in Siebenbürgen gerufen, drangen russische Truppen (uuter Geueral
Engelhardt) aus der Wallachei in Siebenbürgen ein (31. Januar) und besetzten
Kronstäbe (1. Februar). Das russische Cabinet legitimirte seine Intervention durch
eine Circnlardepesche an die europäischen Mächte (21. Februar). Mittlerweile bra¬
chen zwischen dem Oberfeldherrn und dem Ministerium MißHelligkeiten ans über
die Emission ungarischer Banknoten (24. Februar und 10. April); auch die Unter-
handlungen des Fürsten mit der ungarischen Aristokratie waren nicht im Sinne der
Regierung. Seine Stellung wurde unhaltbar, als plötzlich die Ungarn, die ihr
Heer mittlerweile vollständig organisirt hatten, die Offensive ergriffen. Schon am
8. März mußte sich Windischgrätz nach Ofen zurückziehen, gleichzeitig trieb Bem
die Russen aus Hermannstadt und besetzte die Stadt (12. März); ebenso Kron¬
stäbe (20. März), worauf die Russen und Oestreicher sich nach der Wallachei zu¬
rückzogen. Die Regierung schickte Melden dem Fürsten zu.Hilfe, den bisherigen
Gouverneur von Wien, der am 30. März nach Komorn aufbrach, und es mit
glühenden Kngeln bombardirte (2. April). Auch an der serbischen Grenze erfoch-
die ungarischen Waffen Erfolge, sie nahmen die Festung Se. Thomas (3. April),
^u>d überschwemmten die ganze Baczka. Windischgrätz erlitt noch die Niederlage
^i Erlan (5. April), und wurde dann, da über seine Unfähigkeit kein Zweifel
Mehr blieb, uach langem Sträuben Schwarzenbergs auf das Dringen Stadion's
^us Ungarn zurückberufen (12. April). Er kam den 16. April in Ollmütz an,
A^chzeitig übernahm sein Nachfolger Melden den Oberbefehl; das Commando in
erhielt Böhm. Im Süden wurde Jellachich bei Gyöugyös geschlagen (6. April),
siegten die Serben unter Stratimirowich bei Peterwardein (13. April).
Der Reichstag zu Debreczin wagte jetzt den entscheidenden Schritt; er erklärte
am 14. April das Haus Habsburg für abgesetzt, und ernannte Kossuth zum Prä¬
sidenten. Ihm zur Seite wurden Emerick Szacway und Stephan Gorove gestellt;
das Oberhaus trat diesen Beschlüssen bei. Der Präsident bildete ein neues Mi¬
nisterium (2. Mai): Krieg Kasimir Bathyany, Inneres Bartholomeus Szemere,
Justiz Sigismund Perenyi, Finanzen Franz Dusel, Cultus Michael Horwath Bi¬
schof von Czanad. Der General Arthur Görgey überschritt die Gran (18. April),
schlug die Oestreicher bei Veebely (19. April) und entsetzte Komorn. Pesth wurde
von den Kaiserlichen verlassen (20. April), worauf Dembinski seinen Einzug hielt
(24. April). Ofen, welches durch Oberst Henzi vertheidigt wurde, ward seit dem
4. Mai belagert, und den 26. Mai durch Görgey erstürmt. Mit Ausnahme von
Preßburg war ganz Ungarn von den Kaiserlichen geräumt, und man sing an,
für Wien zu fürchten.
Da entschloß sich die Negierung zu dem schweren Schritt. Den 1. Mai wurde
in der Wiener Zeitung officiell angezeigt, mau habe in Rußland um eine große
und energische Intervention nachgesucht, und schon am 8. Mai rückte die russische
Hauptmacht unter Feldmarschall Paskewitsch, Rüdiger und Tscheodajcff über Kra-
kau nach Ungarn ein. An demselben Tage erließ der Kaiser zu Se. Petersburg
ein Manifest, worin er den Kreuzzug Rußlands gegen die Anarchie verkündete.
Der östreichische Kaiser selbst reiste ins Lager zu Preßburg (10. Mai), begleitet
von Schwarzenberg und dem russischen General v. Berg, er begab sich mit dem¬
selben nach Warschau (21. Mai), wo eine Art Kongreß abgehalten wurde. Schon
ergriff (14. Mai) die kaiserliche Armee die Offensive. Die Russen drangen in Sie¬
benbürgen ein, und forcirten den Paß von Colacz (17. Mai). An Stelle Wei-
dens, der sich auch keiner großen Erfolge rühmen konnte, wurde Haynau gesetzt
(30. Mai), der Eroberer von Brescia (General Schlick nahm in Folge dessen sei¬
nen Abschied); Baron Gchringer wurde an Jostca's Stelle mit der Leitung der
Civilverwaltung Ungarns betraut (2. Juni). Die östreichische und russische Armee
feierte zu Preßburg ein Verbrüderungsfest (6. Juni). Auch im Süden wäre» die
Kaiserlichen wieder glücklich; Jellachich siegte an den Römerschanzen (7. Juni) und
nahm Neusatz und Fünfkirchen (18. Juni). ^Ein allgemeiner Angriff der Ungarn
an der Waag (16. Juni) schlug fehl, und die Kaiserlichen gingen nach einem Siege
über Görgey (21. Juni) über den Fluß, und zogen, den Kaiser an der Spitze, in
Raab ein (28. Juni). Die Russen unter Lüders nahmen Kronstäbe (22. Juni);
Hermannstadt (20. Juli) und Siebenbürgen wurde der Leitung des Feldmarschall
Wohlgemut!) anvertraut (11. Juli). Zwar fiel Arad den Magyaren in die Hände
(I.Juli), aber der Reichstag mußte Pesth wieder verlassen und sich nach Szegedi"
verlegen, denn selbst in Debreczin rückten die Russen ein (3. Juli). Ofen wurde
von den Kaiserlichen ohne Widerstand besetzt (11. Juli), die Ungar» bei Komorn
zurückgeworfen. Nach einer dreitägigen Schlacht bei Waitzen (15. bis 1«. Juli)
wich Görgey vor Paskiewitsch, der am 29. Juli die Theiß überschritt und Szegedin
besetzte (31. Juli). So verewigten sich nun sämmtliche russische Armeekorps (1. Aug.);
ein Ausfall Klapka's aus Komorn, bis nach Raab (3. Aug.), brachte keinen dauern¬
den Gewinn; auch Haynau ging über die Theiß (4. Aug.), schlug Bem und Dem-
binski bei Temeswar und besetzte die Stadt (9. Aug.) und gleichzeitig drang Jel-
lachich vom Süden vor. Schlick, der wieder in Dienst getreten war, warf Görgey
bei Arad zurück (10. Aug.), und Kossuth sah ein, daß Alles verloren sei, um
so mehr, da unter den Insurgenten selbst Uneinigkeit ausgebrochen war. Görgey,
der wohl schon vorher, vielleicht unter englischer Vermittelung, mit den Russen
unterhandelt hatte, übernahm die Diktatur (11. Aug.), streckte bei Vilagos (l3. Aug.)
mit 30,000 Mann und 144 Geschützen vor dem russischen General Rüdiger die
Waffen, und forderte auch die übrigen Befehlshaber auf, ein Gleiches zu thun.
Kossuth, Bem und Dembinski flohen nach der Türkei (12. Ang,), wo sie bei dem
Pascha von Neu Orsova eine Zuflucht fanden. Arad ergab sich an Pcmiutin
(17. Aug.), dis Bem'sche Corps an Lüders (18. Aug.), die Reste der Armee in
Siebenbürgen an Rüdiger et'1. Aug.). So konnte Paskiewitsch an seinen Kaiser
schreiben, daß ganz Ungarn zu den Füßen Sr. Majestät liege, und Haynau konnte
für die ungarischen Truppen, vorläufig mit Ausschluß der Offiziere, Amnestie
verkünden (Temeswar, 18. August). Doch kamen noch immer Hinrichtungen vor
(so Baron Aussenberg zu Arad, 23. August).
Der ungarische Krieg ist also zu Ende; Komorn, das letzte Asyl der Ma¬
gyaren, kann sich in seiner Vereinzelung nicht lange mehr halten. Ob damit die
Charte vom 4. März für Ungarn anwendbar wird, steht dennoch sehr in Frage;
vielmehr läßt die Wendung, welche das Cabinet in der deutschen Angelegenheit
genommen hat, so wie der mächtige Einfluß des russischen Alliirten erwarten, daß
irgend ein Compromiß zu Stande kommt, der Ungarn, vielleicht mit Abtretung
der slavischen Comitate und Siebenbürgens eine eigene Verfassung gibt, die con-
servativer ist, als die absolutistisch-revolutionäre des Cabinets. — Wir wenden
uns nun nach Italien.
Den 14. März 1849 überbrachte ein piemontesischer Offizier die Aufkündigung
des Waffenstillstandes und gleichzeitig begab sich Carl Albert ins Hauptquartier
zu Alessandria. Mit der gesammten Truppenmacht, ohne irgend eine erhebliche
Besatzung zurückzulassen, brach Feldmarschall Radetzki von Mailand auf, überschritt
den Gravellone (20. März), schlug die piemontestsche Vorhut bei Mortara (21. März)
und vernichtete die feindliche Armee in dem glänzenden Siege bei Novara (23. März).
Noch in derselben Nacht legte Carl Albert seine Krone zu Gunsten seines Sohnes
Victor Eman u el nieder und entfloh nach Oporto, wo er (28. Juli) starb. Mit
dem neuen König wurde den 26. März ein Waffenstillstand abgeschlossen und bald
darauf (7. April) zu Mailand dnrch den Minister Brück die Friedensunterhand-
lungen eröffnet, die (24. April) wegen der eigenmächtigen Besetzung AlessaudriaS
durch die Oestreichs abgebrochen, den 18. Juni wieder aufgenommen wurden und
endlich den K. August zum Abschluß führten (Brück, Palormo, da Bormida, Bon-
campagni). Sardinien leistete auf seine Ansprüche ans die Lombardei Verzicht und
zahlte eine Entschädigung von 75 Mill. Fr. (20 M. Thlr.). Die Ratification
erfolgte am 17. August.
Gleich nach dem Siege begann die Restauration in den kleinen italienischen
Fürstentümern. Brescia, die einzige lombardische Stadt, die sich empört hatte,
wurde durch Hayuau eingenommen und gezüchtigt (l. April). In Parma zogen
die Oestreicher unter d'Aspre am 5. April, in Modena am 28. April ein; in
Lucca am 5. Mai, in Livorno den 10. Mai. Bologna wurde deu 18. Mai,
Ancona deu 10. Juni zur Kapitulation gezwungen. Rom selbst mußte sich deu
Franzosen ergeben. So blieb nur noch Venedig übrig. Die Blokade begann
am 4. April, die Belagerung durch Haynau am 21. April. Das Fort Mal¬
st, Hera wurde am 27. Mai gestürmt, und nach langem Bombardement am 22.
August die Capitulation in der Art, wie sie durch die Proclamation Nadeizki's
vom 14. August vorgeschrieben war, unterzeichnet. /'0 Jncriminirte, darunter
Pepe, Mamin und Tomasso, mußten die Stadt verlassen; das Papier der Repu¬
blik wurde auf die Hälfte des Werths herabgesetzt, und die Stadt verpflichtete
sich zur Amortisation desselben, wurde dafür aber von weiteren Belästigungen be¬
freit. Mit dem Einmarsch der Truppen nnter Gorzkowski (24. August) begann der
Belagerungszustand; den 29. hielt Radetzki seinen Einzug.
Auch Italien ist wieder unterworfen, damit aber die italienische Frage keines¬
wegs erledigt. Als am Geburtstag des Kaisers (l8. August) der Feldmarschall
zu Mailand eine theilweise Amnestie verkündete, kam es doch zu nicht unerheblichen
Unruhen, in Folge deren eine ziemliche Anzahl Aufwiegler ausgepeitscht wurden.
Ans Verdruß über Mailand scheint Radetzki den Sitz der Regierung uach Verona
legen zu wollen.
DaS Ende der italienischen und ungarischen Kämpfe gibt nun Oestreich auch
in Beziehung auf die deutschen Bundesstaaten eine günstigere Position. Ans diese
Verhältnisse werfen wir noch einen Blick.
Das Programm von Kremsier veranlaßte den Rücktritt Schmerling's aus dem
Ncichömiuisterinm und die Bildung des Ministeriums Gagern (17. December).
Dieses kam, wie wir nun durch Herrn von Beckerath erfahren haben, mit dem
Reichsverweser über folgende Punkte überein: 1) daß Deutschland sich als Bundes-
staat eonstituire, 2) daß Oestreich sich daran nicht betheiligen werde, 3) daß das
Verhältniß Oestreichs zu Deutschland der künftigen Bestimmung nach der defini¬
tiven Constituirung beider Zwillingsreichc vorbehalten bleibe, 4) daß der Reichs¬
verweser von seinem Standpunkte aus mitwirken wolle, dieses Verhältniß in po¬
litischer und materieller Beziehung so eng als möglich zu gestalten, und 5) daß
Oestreich der Constituirung Deutschlands keinerlei Hindernisse in den Weg lege,
wie sie auch ausfallen möge, namentlich für den Fall, daß der Inhaber der
Preußischen Krone als erbliches Oberhaupt an die Spitze Deutsch¬
lands gestellt werde; 6) daß sofort eine Gesandtschaft nach Olmütz oder Wien
gehe, die bundesgenössischen Verhältnisse zu kultiviren. — Gegen diese Auslegung
des ministeriellen Programms legte Schmerling, der nun (!>. Januar 184») als
östreichischer Bevollmächtigter nach Frankfurt zurückkehrte, Protest ein, nud bildete
die großdentsche Partei, deren Zweck es war, den Bundesstaat überhaupt zu
hintertreiben. Das Wiener Cabinet brachte darauf in einer Note an die könig¬
lichen Regierungen (l7. Jan.) eine Mediatisation der kleinen Staaten zu Gunsten
der Königreiche und die Bildung eines Bundestags ans denselben in Vorschlag.
Als Preußen seinen eigenen Weg verfolgte, eröffnete Schwarzenberg (4. Februar)
dem Ministerium, daß ihm ein Bild der Einheit Deutschlands „vorschwebe," und
malte dasselbe (22. Februar) dahin aus, daß es den gesammten Kaiserstaat um¬
fassen, und kein Volkshaus, sondern nur ein Staatenhaus enthalten solle, wozu
Oestreich die größere Hälfte der Mitglieder zu stellen habe. Die gemeinsame
Regierung solle eine Art Directorium führen. — Nach der Kaiserwahl berief
Oestreich seine Deputirten aus Frankfurt ab (5. April), forderte aber den Reichs¬
verweser, der nun wieder ganz östreichischer Prinz war, auf, zu bleiben. Ans
die Einladung Preußens zu einem Fürstencougreß brachte Prokesch-Osten eine
Note nach Berlin (8. April), die im Wesentlichen auf die alten Vorschläge zurück¬
ging. Dagegen überbrachte (». Mai) Kanitz die Vorschläge des Berliner Cabinets,
die Oestreich aufforderte, der Bildung eines engeren Bundesstaats unter preußi¬
scher Hegemonie nichts in den Weg zu legen und mit demselben eine Union abzu¬
schließen, welche sogar durch gemeinsame Legationen und Consulate im Auslande
vertreten sein sollte. Schwarzenberg lehnte diese Anträge ab (is. Mai), und for^
derte Preußen aus, statt sich mit der weiteren Constituirung Deutschlands zu be¬
schäftigen, wobei doch nicht viel herauskomme, lieber einen unmittelbaren Bund
gegen die Revolution zu schließen, und die Leitung dieser Operationen, bei denen
das Interesse aller größern Fürsten gleichmäßig betheiligt sei, einem Directorium
zu überlassen. Die Verhandlungen dauerten bis zum 25. Mai, wo Taues ab¬
berufen und dem Wiener Cabinet ziemlich unumwunden erklärt wurde, man bleibe
bei seinen Absichten. Zwei Tage vorher war der Reichsverweser zur Abdankung
aufgefordert worden; einen Tag darauf wurde das Bündniß mit Hunuover und
Sachsen abgeschlossen und dem preußischen Gesandten zu Wien in seinen allgemeinen
Umrissen mitgetheilt (28. Mai). Am 10. Juli erließ nur Schwarzenberg ein Schrei-
ben an Prokesch, das sehr ernst und drohend gegen Preußen gehalten war, und
in welchem die Argumentation Preußens, daß durch Auslösung der Nationalver¬
sammlung der provisorischen Centralgewalt der Rechtsboden entzogen sei, dahin
umgekehrt wurde, daß erst seit dieser Auflösung die Centralgewalt im Stande sei,
rechtlich die Angelegenheiten des Bundes zu leiten. — Weiter reicht unsere Kennt-
uiß der diplomatischen Verhandlung nicht; was sich aus der Zusammenkunft des
Reichsverwesers mit dem Prinzen von Preußen zu Frankfurt (3. September), des
Kaisers von Oestreich mit dem König von Preußen zu Töplitz (7. September) etwa
ergeben mag, muß die Zukunft lehren. So viel ist factisch, daß Erzherzog Albrecht
bereits als Gouverneur der Bundesfestung Mainz installirt ist, und es ist ziemlich
gewiß, daß wenigstens in Süddeutschland der östreichische Einfluß den Preußischen
verdrängen wird.
Woher kommt es doch, daß der Bauer von Alters her immer hinter dem
Bürger geht? — Gewerbetreibende sind doch beide, nur daß man den Bauer
gewöhnlich noch die menschenfreundliche Bestimmung vindizirt, die andern Ge¬
werbetreibenden, die oft so vornehm gegen sie thun, satt zu füttern. Und den¬
noch ist man ziemlich allgemein damit einverstanden, daß an die Landschule ge-
ringere Anforderungen zu machen sein, als an die Elementarschule des kleinsten
Städtchens, mau schreibt dem Bauer alle Tölpelei zu u. s. w., der Handwerks¬
mann ist gesitteter, wird besser unterrichtet, -ist besser gekleidet, wird überall auch
ohne Armeebefehl mit „Sie" angeredet, und sWt mit einem Worte aus der durch
Gewohnheit geheiligten Stufenleiter gesellschaftlichen Ranges, die keine Verfassungs-
urkunde umzustoßen vermag, höher als der Bauer. Ist denn aber mehr Intelli¬
genz, mehr Kapital, mehr Arbeit erforderlich, um Schuhe zu machen oder Röcke,
als um Waizen oder Roggen auf unfruchtbaren Boden zu erbauen, und um die
Hindernisse zu besiegen, welche sich in hundert Gestalten den Bestrebungen des
Landmanns entgegenzustellen, oder die Natur in ihrer Werkstatt zu belauschen,
und unsern Zwecken dienstbar zu machen? Und doch, meine Herren Gewerbsge-
nossen, geht der Bauer bescheiden hinter dem gewerbetreibenden Bürger her, der
Rittergutsbesitzer aber schreitet nicht mehr vor dem Bürger und Bauern. Nach¬
dem das recht fatale Gesetz vom 5. Decbr. 48 den Standesunterschieden, und
dem bevorrechteten Grundbesitz den Krieg erklärt hat, da ist es mit dem Erb-,
Lehrs- und Gerichtsherrn von, ans und zu Eiselendors, der freilich wieder vor
dem Bürger einherging, nichts mehr, sondern er wandelt nun mit seinen Bäuer-
lein und mit Gevatter Schneider und Handschuhmacher Arm in Arm auf der ge¬
werblichen Lebensbühne, sich gegenseitig die Cigarre zum Anbrennen reichend,
wenn dem einen oder dem andern das Feuer ausgegangen. Lesen Sie die Arti¬
kel 4, 88, 4N, der Berfassungsurkunde vom 5. Decbr. 48. — Doch nein, wir
irrten, nicht alle Vorrechte des Adels, oder eigentlich des Nittergutsbesitzes, wur¬
den vernichtet, es blieb ungekränkt das Vorrecht größeren Reichthums, der er-
mulhigeren Form, der humanistischen Bildung, der gründlicheren landwirtschaft¬
lichen Kenntnisse, das Vorrecht des Vertrauens, welches Wohlhabenheit gepaart
mit ächter Humanität sich fast immer erwirbt. Wenn Sie also diese Vorrechte
nicht etwa früher schon verscherzten, dann wohl Ihnen! Jene famosen Artikel
konnten Ihnen wenig rauben, nud Bauer und Bürger werden Ihnen den Vor¬
rang nicht streitig machen, den sie selbst in Anspruch zu nehmen weder Geschick
noch Neigung haben!
Ehe das Jahr 1848 eine so heillose Verwirrung in alle Rangverhältnisse ge¬
bracht hatte, da war es freilich anders. Sprach man von dein Betriebe der
Landwirthschaft, von den „immensen Fortschritten, welche sie, durch Thaer und
Andere zur Wissenschaft erhoben, gemacht habe, von der Nothwendigkeit ihr
Lehrstühle zu erbauen, u. s. w." so meinte mau eigentlich immer nur eine
gewisse Art des landwirthschaftlichen Betriebes, nämlich die Großwirthschaft, die
Bewirthschaftung der Rittergüter und Herrschaften, deren Schlesien von allen
Graden der Freiheit besitzt, nicht aber die Bauern, um deren Wirthschaft man
steh eigentlich wenig bekümmerte, obschon sie in Schlesien die Hälfte alles artbaren
Landes bebaue». Zwar hatten die letzten Provinziallandtage von der „Kräftigung
des Bauernstandes" gesprochen, man suchte aber diese Kräftigung nicht etwa in
einem besseren landwirthschaftlichen Unterricht, oder in der Verbesserung der Dorf¬
schulen, oder in der Ausdehnung des landwirtschaftlichen Kredits auf den bäuer¬
lichen Grundbesitz, sondern in veränderten Crbfolgegesetzen — eine väterliche Für¬
sorge des Nitln'Standes, die aus einem der letzten Provinziallandtage einen bäuer¬
lichen Abgeordneten zu der nicht üblen Bemerkung Veranlassung gab, warum denn
der Ritterstand, wenn das vorgeschlagne Erbfolgegesetz so gar vortrefflich und con-
servativ sei, es nicht für sich selbst annehme!" — Man begnügte sich, landwirth-
schciftliche Schaufeste zu veranstalten, ja sogar Banernrennen, und bewilligte Prä¬
mien für diese nud jene lobenswerthe Leistung. Kurz, man verleugnete nicht
eben deu Bauernstand, aber freilich — ihn emancipiren, das konnte, das wollte
Man nicht, dazu ist er noch nicht reif! —
Ja wohl! dazu ist er nicht reif! — doch, daß er es nicht ist, daß er an
gewerblichen Kenntnissen, an Einsicht in das öffentliche Leben, in den meisten
theilen der Provinz sogar weit hinter seinen, wahrlich auch nicht sehr vorge¬
schrittenen, ritterlichen Gewerbsgenossen zurücksteht, daß er noch gar uicht einmal
^greifen gelernt hat, was er zu seinem Emporkommen selbst thun könne, daß
einige schlechte Erndten ihm dem Hungertode in seiner scheußlichsten Gestalt Preis
geben konnten, daß eine pflichtgetreue, aber ohnmächtige Verwaltung, der man so
gern vorwirft, daß sie sich um Alles kümmere, die Auflösung aller socialen Ver-
Hältnisse unter ihren Angen sich vorbereiten und entwickeln sah, und erst Hilfe zu
bringen vermochte, da es zu spät war, wer trägt die schwere Schuld? — Wir
möchten nicht gerne sagen: die Regierung, die Kirche, die Schule! — Wir glau¬
ben, daß die erste das Beste des Landes wollte, und erkenne» es gern an, daß
die Kirche, als der Oberschlefler in Branntwein untcrzugehn drohte, die Mäßig-
keitssache mit rühmlichem Eifer in die Hand genommen und manches Gute be¬
wirkt hat; — es mochte auch verzeihlich sein, daß man von einem Pariser Pro¬
fessor sich überreden ließ, die deutsche Volksschule sei vortrefflich; aber was soll
die deutsche Volksschule da leisten, wo man nicht deutsch versteht, wo man eine
Sprache redet, die halb deutsch, halb polnisch, weder von dem Deutschen noch
von dem Polen verstanden wird!
Und als der Landesherr, gerührt von dem länger nicht mehr zu verbergen¬
den Elend eines Landes, welches er kurz vorher noch mit seinem Besuch erfreut
hatte, einen seiner treuesten Diener hinsendete mit vollen Händen und wohlwollen¬
dem Herzen — da war es zu spät! Unaufhaltsam kosten die Märzereignisse des
Jahres 1848 auch die letzten Bande der Gesetzlichkeit auf. Ein Ministerium nach
dem andern versuchte vergebens, hier durch Nachgeben, dort durch Strenge, wie¬
der festen Boden zu gewinnen, das Schreckenswort: „zu spät!" war der Wie¬
derhall jedes Zeitungöblattes, welches uns Tagesneuigkeiten brachte. Da bemäch¬
tigte sich die niedrige Leidenschaft der allgemeinen Verwirrung, ohne Maß und
Ziel. Hier wiederwärtige Rathlosigkeit und feige Furcht, dort brutale Frechheit
und Verhöhnung der Sitte! — Der unheilbare Riß zwischen Armuth und Reich¬
thum, zwischen Negierung und Regierten, zwischen dem Volke und seinem Fürsten,
war geschehen, und vergebens sucht man die klaffende Wu'ide zu verhüllen.
Es schien bei alledem unerklärlich, daß ein so wohlgeordneter Staat wie der
preußische, dessen Verwaltung in den Händen pflichtgetrener Beamten richt, dessen
innere und äußere Sicherheit ein Heer stützt, das sich als tapfer und treu be¬
währte, im Straßenkamps wie in der Feldschlacht, dessen Volk im Laufe eines
langen Friedens in unausgesetzter Progression um mehrere Millionen sich vermehrt
hat, dessen Gewerbsamkeit durch Kreditanstalten aller Art, und ein Netz von
Eisenbahnen und Kunststraßen gefördert wird, wie fast kein anderes Land des
Festlandes, — welches wie wir so gern hören, an der Spitze deutscher Bildung und
Civilisation steht, daß ein Staat wie der preußische in dem Zeitraum weniger
Monate so ans allen seinen Fugen weichen konnte? Wir wollen versuchen, «uf
diese Frage eine genügende Antwort zu geben, und fühlen ganz wohl, daß dies
die Hauptaufgabe dieser Zeilen, daß die Lösung dieser Frage aber das EinM
ist, was möglicherweise diesen Blättern einigen Werth geben könnte, wir fülM
die große Schwierigkeit der Lösung dieser Aufgabe, und bitten den geehrten Leser'
bei Beurtheilung dieses Versuches auch dieser Schwierigkeit Rechnung zu trage»'
In dieser Voraussetzung stehen wir nicht an, den Versuch zu wagen.
Das Beamtenthum des preußischen Staates hatte immer etwas gegolten, der
Richterstand erfreute sich einer genügenden Unabhängigkeit, und auch den Vcrwal-
tnngsl'cantem schichte das Herkommen in den meisten Fällen gegen Willkür von
Oben. Die freisinnige Gesetzgebung Friedrich Wilhelms III. war nicht von Volks¬
repräsentanten, sondern von dem Landesherrn und seinen Beamten in's Leben ge¬
rufen, und an den Ereignisse» von >8U!-l'> gebührt dem Beamtcnstande kein
unrühmlicher Antheil. - - Eine ziemlich umständliche Rangordnung weiset einem
jeden Staatsdiener seinen Platz, so wie Stickerei und Abzeichen seines Dieust-
klcideü mit großer Genauigkeit an; abgesehen von der Unzahl der geheimen, wirk¬
lichen, und Titularräthe aller Art herrscht jedoch in der gesammten Beamten-
Hierarchie eine ziemlich unübersteigliche Kluft zwischen dein höheren und dem sub¬
alternen oder niederen Staatsdienst. Zum ersteren befähigen in der Regel nur
«cademische, d. h. juristische Studien, und die bekannten 3 Staatsprüfungen; zum
zweiten theils Prüfungen, theils anerkannte Brauchbarkeit und Dienstzeit. Tritt
ausnahmsweise ein Individuum der letzten Kategorie, welches blos seine Brauch¬
barkeit und keine Staatsprüfungen vorzuweisen hat, in die Reihen des höheren
Staatsdienstes, so wird es gern nicht recht für voll angesehen, und mit dein
Subalternen verkehrt das Mitglied des Kollegiums nur in Dienstaugclegcnhciteu.
Daher sucht der zurückgesetzte und oft schlecht bezahlte Subalterne die Fehler sei¬
nes Vorgesetzten gern aufzudecken, und oft genug trieb ihn das Gefühl ungerech¬
ter Zurücksetzung, oder kränkender Anmaßung in die Reihen der Demokraten. —
Viele haben dies den Zopf des Beamtenthums genannt; mag sein! kurz, bis zur
provinzialständischen Verfassung leistete der Beamtenstand manches Gute, er er¬
freute sich der nicht unverdienten Achtung des Publikums, und galt unangefochten
als der Repräsentant staatswirthschaftlicher Bildung, was ihm durch die Heimlich¬
keit, in welche seine Thätigkeit sich hüllte, durch die Unverletzlichkeit des AmtS-
eides, und vor Allem, durch die unglaubliche Unkenntnis) des Publikums in allen
Verwaltnugssachcn sehr erleichtert wurde.
Ob der Beamtenstand auch in neuester Zeit mit den allgemeinen Fortschritten
geistiger Bildung gleichen Schritt gehalten, d. h. ob mit Bezug ans allgemeine
oder philosophische Bildung, auf wissenschaftliche Errungenschaft, der Beamten¬
stand anch heut «och eine eben so hervorragende Stellung zu beanspruchen berech¬
tigt sei, als dies früher der Fall war, mögen wir nicht entscheiden. Die immer
strenger überwachten Studien der gelehrten, sowie der Hochschulen, die immer
"nerläßlicher gewordene» 3 Staatsprüfungen selbst da, wo sie früher nicht erfor¬
derlich, lassen es glauben, mauche andre Erscheinungen machen es zweifelhaft.
Gewiß ist es, daß man den Natur- und Staatswissenschaften, so wie den techni¬
schen Fachstudien, bei der Ausbildung der Verwaltungsbeamten nicht die erforder¬
liche Aufmerksamkeit schenkt, und oft die juristische Bildung für den Prüfstein
allseitiger Brauchbarkeit hält. Das aber ist nicht gut, denn schon durch die Ein-
führung der Provinzialstände, wie unbedeutend diese auch auftraten, hat sich nach
und nach eine genauere Kenntniß des Verwaltungswesens in immer weiteren Kreisen ver¬
breitet. War die Stimme der Provinzialstände auch nur eine berathende, und selten beach¬
tete, so mußte ihnen nichts desto weniger zuweilen Einsicht in den Verwaltungs¬
mechanismus gestattet werden, und für befähigte Köpfe, an denen es nicht fehlte,
wurde es uicht schwer, so manche schwache Seite des Verwaltnngswcsens zu er¬
kennen. Da es aber in der Regel nicht darauf ankam, es besser zu machen, und
Halbwisserei immer unduldsam ist, so pflegte man mit wenig Schonung die be¬
merkten Fehler aufzudecken, und es gehörte zu den beliebtesten Schlagwörtern der
neuen Senatoren, „daß man die Fesseln der Bureaukratie nicht länger ertragen,
die Verwaltung strenger controlliren, dies und jenes Geschäft selbst in die Hand
nehmen müsse, u. s. w." Natürlich wurde das Beamtenthum hierdurch mißliebig
und mißgestimmt, und die Allgewalt, mit welcher das immer weiter ausgebildete
Ccntralisativnsprincip die höchsten Verwaltungsstellen (Ministerien) den Local- und
Provinzialbehörden gegenüber bekleidete, konnte nichts dazu beitragen, Mißliebig¬
keit und Mißstimmung derselben zu mindern. Ueber die unbedeutendsten Dinge
muß in Berlin angefragt werden, und oft ereignet es sich, daß die Entscheidung
den Loe^lverhältnissen schnurstracks entgegen ist. Dadurch ist ein langsamer und
schleppender Geschäftsgang unvermeidlich geworden, der sich besonders in allen
Ablösungs-, Dismembrations - und ähnlichen Geschäften sehr lästig erweiset. Wo
der Privatmann nicht Anstand nimmt, dem Belasteten gegenüber, keine Zugeständ¬
nisse zu machen, recnrrirt Alimtl-re-liius llsci auf richterliche Entscheidung; der
leichteste Weg sich gegen Verantwortung, oder doch gegen Nasen des Hohen Mi¬
nistern zu schützen. Dadurch aber wird die Gegenpartei oft ohne allen Noth er-'
bittere. — Was Wunder, daß ein so von allen Seiten verdächtigtes und einge¬
schüchtertes Beamtenthum sich nach den Märzereignissen rathlos nach Information
in Berlin umsah, daß der erste Beamte der Provinz Schlesien ihr den Rücken
kehrte, als er den herannahenden Sturm nicht mehr glaubte beschwören zu
können! —
Das steheude Heer ist in Schlesien, etwa mit Ausnahme der Befreiungskriege
wohl niemals populär gewesen. Auch die ihrem Wesen nach so volksthümliche
Landwehreinrichtung hat es nicht populärer gemacht. Der Linienosfizier belächelt
gern die mangelhafte technische Ausbildung seines Landwehrkameraden, und der
letztere — an allgemeinem Wissen wie an Jahren dem Linienosfizier oft überlegen,
klagt gern über Zurücksetzung und Anmaßung der Kameraden der Linie. Ohne
sonderliche Mühe erlangt der einjährige Freiwillige die Qualifikation zum Land¬
wehroffizier, doch fast unübersteigbar ist die Kluft, die ihn von der Linie trennt,
wenn seine Verhältnisse es vielleicht wünschenswerth machen, die Löwenhaut nicht
wieder abzulegen, oder wenn der Freiwilligendienst ihn zum Soldatenstande nn-
wiederstehlich hinzog. Daher ist die Linie nicht eins mit der Landwehr, es ist
nicht blos der rothe Streifen am Rock, der beide Heerestheile trennt, der Geist
der Landwehroffiziere ist ein anderer als der der Linie; die Erziehung der Ka-
dettenhäuser, wenn gleich in mancher Beziehung verbessert, doch immer einseitig,
gilt auch heut noch als die beste Vorbereitung für die militärische Laufbahn, und
sie steht, wenn auch anderen Ständen nicht gerade verschlossen — vorzugsweise
nur Offizierssöhnen offen, denn diese uur nehmen an den bedeutenden Vergün¬
stigungen Theil, wodurch die Erziehung in jenen Anstalten erleichtert wird. Erst
um längerer Krieg, und die damit nothwendig verbundene Vermischung wird die
Kluft zwischen Landwehr und Linie ausfüllen können, uur Pulver ist der Kitt,
der sie zu schließen vermag. Bis dahin gilt — gleichviel ob es mit Recht oder
Unrecht — die Linie für die Stütze der Reaktion, die Landwehr für die Beschü-
herin der Volksrechte. Daher entschloß man sich ungern, die Landwehr unter die
Waffen zu rufen, daher schrieb man die Ungeschicklichkeit mancher Führer auf
Rechnung des wiedersetzlicheu Geistes, den die Landwehr in sich aufgenommen
habe, und that ihr einen Augenblick lang manches Unrecht. — Daß min die März¬
ereignisse das Heer uicht populär machen konnten, begreift sich leicht, daß aber
Maßlose Schmähsucht mit ihren wiederlieben Geifer, die Gesinnung, die Ehrenhaf¬
tigkeit eines Heeres besudeln dürfte, welches stets seinem König tren ergeben ge¬
wesen war, und welches vom alten Zopf eben auch nicht mehr behalten hat, als
der Held auf der Bierbank, wird stets den Vaterlandsfrenud mit Wehmuth, viel¬
leicht, mit bitterm Grolle erfüllen.
Der lange Frieden hat nicht verfehlt auch für die Cultureutwicklnng Schlesiens
wohlthätige Früchte zu tragen. Preußen und die mit ihm durch eine verständige Ver¬
einbarung verbundenen Zollvereinsstaaten haben nicht unrühmlichen Antheil an den
industriellen Bestrebungen genommen, durch welche mau sich von England zu eman-
cipiren hoffte. Die preußischen Finanzen bewähren sich selbst in der Zeit der Noth.
Der Bergbau war wieder aufgeblüht, und beschäftigte, wenn gleich um kärglichen
Lohn, Tausende von Arbeitern; die Wollen-, ja selbst die Baumwollenindustrie,
bietet den englischen Mitbewerbern auf deutscheu oder andern Märkten die Spitze,
und dem Hütteubetrieb und Maschinenbauwesen gelingt es immer mehr, den Triumph
Moderner Industrie, die Eisenbahnen, von dem Auslande frei zu machen. Große
Kapitalien haben sich in den Händen reicher Kaufherrn oder Grubenbesitzer ange¬
häuft, der Zinsfuß war in Folge dieser Kapitalansammlungcn herunter gegangen,
und hatte die Reduktion der Zinsen der Staatsschulden, so wie der Pfandbriefe
Möglich gemacht, und wenn gleich es eine Zeit lang.schien, als wolle ein immer
nu größeren Ausschweifungen hinneigender Papier- und Effektenhandel, die rasch
gewonnenen Reichthümer andern gewerblichen Zwecken entziehen, so fehlte es doch
den collossalsten Bauwerken unserer Zeit, den Eisenbahnen, weder an Geld, noch
an Unternehmern, städtische und ländliche Grundstücke stiegen zu immer höheren
Preisen, und überall hatte sich Glanz und Wohlhabenheit, oft zum schwelgerische»
Luxus ausartend, verbreitet. Neben diesen erfreulichen Erfolgen industrieller Thä¬
tigkeit, konnten indeß auch bedenklichere nicht ausbleiben. Der überraschend schnelle
Zuwuchs der Bevölkerung, sonst der Stolz der Regierungen, hat in Schlesien
einen Reichthum an Arbeitskraft hervorgerufen, die nach allgemeiner Ansicht noch
nicht überall hat Verwendung finden können. Die menschliche Arbeit findet diese
Anwendung hauptsächlich in der Fabrikenindustrie, im Gewerbsleben und
im Land bau; daß die ersteren beiden trotz ihres Aufschwunges doch nicht in
dem Maße sich erweitert hätten, als die Bevölkerung angewachsen, wird vielfach
behauptet. Jedenfalls waren die Barrikaden und Belagerungszustände keine geeig¬
neten Mittel die industrielle Thätigkeit zu fördern. Denn die geringste Stockung
des Verkehrs, die mindeste Stockung des Kredits, häuft Waaren aus Waaren in
den Magazinen der Fabrikanten, und nur allzubald find die Geldvorräthe erschöpft,
aus denen die Arbeit bezahlt werden soll, sobald der Absatz der Waare auch nur
kurze. Zeit ausbleibt, oder sich vermindert. Fast in allen Fabrikaten steckt ungleich
mehr Arbeitslohn, als der Werth der Rohstoffe beträgt. Welch geringen Werth
haben die Rohstoffe, aus denen ein Centner Eisen zusammengesetzt ist! Noch nicht
den vierten Theil des Werthes von Schmiede- oder Stabeisen, der Käufer oder
Verbrancher bezahlt daher in jedem Centner Eisen wenigstens drei Viertheile Ar¬
beitslohn. Durch welche Thätigkeit aber auch der Arbeitslohn verdient wurde,
immer mußte der Fabrikant ihn vorschießen, denn der Arbeiter kann keinen Kredit
geben. Versiegen aber die Quellen des Fabrikanten, so muß er die Arbeit ein¬
schränke», nur halbe Schichten arbeiten lassen ze., kurz die Produktion vermindern.
Sofort vermindert sich aber anch der Verbrauch des Holzes, der Kohlen, der Fuhr-
lohne aller Art, und alle diese Dinge müssen im Preise fallen, da das Angebot
sich mehrt, und die Nachfrage sich mindert. Kann irgend ein Arbeitsministerinm,
und sei es das wohlwollendste, den Waareuverbrauch dadurch heben, daß es hö¬
here Arbeitslöhne zahlt, d. h. die Produktionskosten erhöht? Die Vorgänge in
Berlin und Paris haben diese Frage zum Theil in blutiger Schrift beantwortet.
Ungeheuer war nach dem März 1848 die Verminderung des Waarcnconsnms in
Schlesien; so groß, daß sie allgemeine Bestürzung erregte. Denn war anch die Aus¬
fuhr gestört, der innere Verbrauch bestand doch fort; die Leute trugen doch vor
wie nach Röcke, Stiefeln, Hüte, fuhren vor wie nach mit Wagen :c. Wahr! doch
die Waareufabritation liefert weniger dringende Bedürfnisse als der Landbau, es
ist daher viel leichter, darin Ersparnisse zu machen, als an den Erzeugnissen des
Landbaues; und wie viele sahen sich in den letzten zwei Jahren veranlaßt, ihre
Ausgaben zu beschränken? Wie viele verschoben den schon beschlossenen Ban eines
Hauses, die Anschaffung irgend eines Gegenstandes des Luxus, oder doch des
weniger dringenden Bedürfnisses? Dieterici*) berechnete schon für das Jahr ,l83<>
den Bedarf an Bekleidnugs- und Lur.nsgegenständen aller Art auf 12 Thlr. pro
Kopf der Einwohnerzahl; wenn im Jahr 1848 und 1849 jeder Einwohner des
Preuß. Staates 2-3 Thlr. zu sparen suchte, so entstand daraus eine Verminde¬
rung des Waarenverbrauchs von 32—48 Millionen Thalern. In dieser Summe
steckt noch manch schöner Groschen Arbeitslohn! Rechnen wir nun hierzu den un¬
geheuren Eisenverbrauch, welchen der Bau der Eisenbahnen veranlaßte, und der
mit dem Jahr 1848 fast auf allen Punkten, entweder still stand, oder beendet
wurde. Im Jahr 1831 halte Preußen noch keine Eisenbahnen, jetzt 350 Meilen,
mit einem Anlagekapital von mehr als 100 Millionen Thalern. Und wie viel mag
wohl hierin Eisen, wie viel Arbeitslohn stecken? das Jahr 1848 und 184!» baute —
wenigstens in Schlesien — so viel wir wissen, auch uicht eine Meile, und die alten
Schienen werden noch eine Weile ausdauer», der Ban neuer Waggons nicht über¬
eilt werden. Wir dürfen uns daher wahrlich nicht darüber verwundern, wenn Fa-
brikenindnstrie und Gewerbsleben - also der gewerbliche Betrieb der Städte —-
eine Masse von Arbeitskraft unbeschäftigt läßt, und bei dem steigenden Angebot
derselben die tüchtigste, beste auswählt. Ja blickt man auf die aufgehäuften Vor-
räthe in den Speichern der Industriellen, anf die Tausende von Centnern Eisen,
die vergebens ihrer Verwendung harren, so müssen wir vielmehr den Muth der
Unternehmer bewundern, die grade mit den entgegengesetzten Leiden des 8ich,Il»s
kämpfen. Und das nennt der Unverstand die Tyrannei des Kapitals! —
Aber nicht weniger, wie die städtische, wuchs die ländliche Bevölkerung, welche
jene um das drei- oder vierfache übersteigt. Begrenzter noch, wie in der Fabri
datur ist hier die Verwendung der Arbeit, denn das Land wächst nicht mit der
Bevölkerung. Dagegen ist die Absatzlosigkeit der Produkte des Landbaues viel weniger
zu fürchten, denn der Mensch kann seinen Nahrungsbedarf nnr wenig beschränken,
und ißt sich gewiß lieber im alten Rock satt, als daß er im neuen Hunger leidet.
Nun ist in jüngster Zeit auch auf dem Lande gewaltig über gedrückte Arbeitspreise und
Mangel an Arbeit geklagt worden, ja es haben die Behörden diese Klagen als
wohlbegründete anerkannt und durch öffentliche Bauten Gelegenheit zu Arbeits¬
verdienst gegeben. Ein solcher Arbeiterüberschuß würde auch aus dem Steigen
der ländlichen Bevölkerung von selbst folgen, wenn das zu bedauerte Land sich
wirklich nicht vergrößert haben sollte. In diesem Falle wäre das Angebot länd¬
licher Erzeugnisse unverändert geblieben, während die Nachfrage im Verhältniß
der zunehmenden Bevölkerung hätte zunehmen müssen; d. h. die ländlichen Erzeug-
nisse hätten theurer werden müssen. Dies ist aber uicht der Fall, denn als nach
den Mißerndten der Jahre 1846 und 47 in den beiden darauf folgenden Jahren
günstigere Erndten eintraten, haben die Preise der Brotfrüchte bereits wieder
einen so niedrigen Stand erreicht, daß er von den 100jährigen Durchschnittspreisen
bedeutend übertroffen wird. Wir sind daher berechtigt anzunehmen, daß Angebot
und Nachfrage sich noch die Wage halte und ein Mißverhältniß zwischen
Lebensmitteln und Bevölkerung nicht eingetreten sei. Ueber die
Vermehrung des ackerbaren Landes fehlen uns nnn zwar zuverlässige Nachrichten
eben so, als über das quantitative Verhältniß der mit dem Ackerbau beschäftigten
Einwohnerzahl. Es ist aber die erstere nicht zweifelhaft, wenn wir auf die große
Menge von neuen Culturen blicken, welche durch Waldrodungen, Anbruch von
Wiesen und Separationen von Gemeindehntungen in den letzten 4«) Jahren dem
Ackerbau überwiesen wurden. In einer kleinen Schrift: „Ueber Zweck und Wirk¬
samkeit landwirthschaftlicher Lehrinstitute ze. Vreslan 1847." findet sich im sechsten
Briefe die Vermuthung aufgestellt, daß das uach älteren Angaben auf 7,900,000
Morgen angenommene Ackerland der Provinz Schlesien sich mindestens auf 8,783,250
Morgen, oder um fast vermehrt habe. Diese Vermehrung ist allerdings geringer,
als die der Bevölkerung, bedenkt man indeß, daß seit den letzten 40 Jahren der
Kartoffelbau sich allgemein verbreitete, daß keine andre Frucht auf einer be¬
stimmten Fläche so viel Nahrungsstoff liefert, als eben die Kartoffel, so erklärt
sich die Anskömmlichkeit der Nahrungsmittel auf einer relativ kleineren Fläche
vollkommen.
Die angeführte Schrift sucht ferner durch Zahlen nachzuweisen, daß bei einem
jährlichen Verbrauch von 12 Arbeitstagen für den Morgen Ackerland und 4 Arbeits¬
tagen für den Morgen Grasland und der dort vorausgesetzten Zahl der Landbauer
(^4,575! Familien), !) der schlesischen Landwirthschaft die nöthige
Handarbeit nicht fehle, 2) daß vielmehr die Culturen noch erhöht
werde», also größere Arbeit skr äste verwendet werden könnten,
und daß ein landwirthschaftliches Proletariat für Schlesien
keine Nothwendigkeit sei.
Dies alles vorausgesetzt — und es wurde, so viel wir wissen, nirgends wi¬
derlegt — muß geschlossen werden, daß wenn wirklich Arbeitskraft durch den schle¬
sischen Landbau unbeschäftigt bleibt, wie vielfach behauptet wird, nicht 12 und
resp. 4 Arbeitstage auf den Morgen Acker- und Wiesenland verbraucht werden,
sondern weniger, und daß mithin, da der Verbrauch vou Arbeitskraft
mit der Zunahme der Cultur steigt, und mit der Abnahme dersel¬
ben fällt, der schlesische Ackerbau sich nicht auf einer befriedigen¬
den Cnlturstufe befinden könne, da er die hierzu erforderliche und
eben nur ausreichende Arbeitskraft nicht beschäftigt.
Und dieser Vorwurf trifft ihn hier mit vollem Recht. Noch immer liegt der
größte Theil des schlesischen, zumal bäuerlichen Ackerbaues in den Fesseln einer
ermüdenden Dreifelderwirthschaft, obschon die Bedingungen, unter denen allein sie
so lange bestehen konnte, nämlich Reichthum an Grasland und Werthlosigkeit der
Arbeit, schon längst nicht mehr vorhanden sind. Noch immer sprechen landwirth-
schaftliche Schriftsteller selbst ersten Ranges mit mehr Schonung als Wahrheit von
der Möglichkeit einer sogenannten „verbesserten Dreifelderwirthschaft," obschon sie
selbst einräumen müssen, daß die einzige mögliche Verbesserung eben das Aufgeben
ihres Princips ist; noch immer stellen uns ihre geistlosen Nachbeter, deren die
landwirthschaftliche Literatur so viele zählt, Hunderte von Recepten zu Frucht-
wechselwirthschasteu ans, ohne daß das Wesen des Fruchtwechsels und die Gründe,
auf denen eine jede Feldeiutheiluug beruhen muß, der Mehrzahl der ausübenden
Landwirthe deutlich geworden wären; noch immer verlassen neunzehntel von ihnen
eine vernünftige Buchführung — die allein über die Resultate unserer landwirth-
schaftlichen Bestrebungen Rechenschaft zu geben vermag, als eine unnütze Pedan¬
terie, und verarmen, weil sie nicht zu rechnen verstehen; noch immer wird Vieh¬
zucht und Futterbau als ein nothwendiges Uebel, aber nicht als die Grundlage
jedes rationellen Wirthschaftsbetriebes angesehen, und während wir über die nie¬
drigen Kornpreise jammern, holen wir aus dem Auslande Zug- und Schlacht¬
vieh. Wohl bringt der Bauer, selbst bei mittelmäßiger Erndte, noch immer so viel
Brodgetreide auf den Markt, daß der Preis kaum seine Mühe deckt, aber wahr¬
lich, nicht aus christlicher Liebe für deu Gevatter Schneider und Handschuhmacher,
sondern weil er nichts anderes anzubauen versteht, als Kartoffeln und Halmfrucht,
weil er — durch die unselige Theilung seines Ackers in drei Felder, gezwungen,
oder doch verleitet - - in wahnsinniger Verblendung keine andere Fruchtfolge kennt,
als: Kartoffel», Winterroggen, Winterroggen, Kartoffeln, Winterroggen und Hafer
oder Buchweizen, weil er nicht begreift, daß er auf diesem Wege verarmen, seinen
Acker zur trostlosen Wüste machen und sein Vieh verhungern lassen muß.
Doch freilich, das sagten seine Lehrmeister im Jahr 1848 ihm nicht, sie
wußten es nicht, oder wenn sie es wußten, sie hätten es ihm doch nicht gesagt.
„Die Feudallasten sind es, die euch erdrücke», ihr armen Leute! Während ihr
mühsam im Schweiße eures Angesichts euren Acker baut, habt ihr nicht einmal
Futter für eure magern Kühe! -..... Seht die fetten Rinder des Gutsherrn, seht
seine feinwolligen Schafe, die ernährt ihr nebst dem faulen Herren selbst, dnrch
eure Dienste, eure Zinsen, eure Laudemien, während er euch den Wald verschließt,
auf euren Feldern jagt, eure Saaten zerstampft und eure armen Weiber pfändet,
wenn sie dem hungrigen Vieh gestatten, einige Schritte über die Grenze zu gehn.
Lange genug trugt ihr den ungerechten Druck, jetzt ist es Zeit, ihn für immer
abzuschütteln! — Daher wählt uicht etwa eure Gutsherr», eure Dränger zur
Nationalversammlung, sondern wählt uns, die wir ein Herz haben für eure Lei¬
den, oder geht selbst hiu und schmauset die selten Tagegelder, während eure Ka¬
meraden Steuern und Abgaben verweigern und jedem Beamten die Zähne weisen,
der ihnen etwas anhaben will! Seht, wie sie es dort und dort machten! sie zer¬
trümmerten die Schlösser ihrer Dränger, ja sie erschlugen sie, wenn sie sich wieder-
setzen wollten! Gott hat nicht gewollt, daß es Reiche gebe und Arme, daß die
einen müßig gehen, während die andern kam» vermöge», durch schwere Arbeit den
Hunger zu stillen, daß der eine Tausende von Morgen besitze, während der andere
nicht hat, wo er sein Haupt hinlege! Auf! Folgt uns, und wir werden euch
glücklich machen!"
In Hunderten von Flugschriften überschwemmten diese und ähnliche Lehren das Land,
und wo irgend ein liederlicher Schulmeister oder ein davon gejagter Schreiber den
Vorleser oder Erklärer dieser Schriften machen konnte, der hatte sreie Zehrung
in den Wirthsstuben, oder wo sonst die Mißvergnügten zusammen kamen. War
es da wohl zu verwundern, daß der in Aberglauben und Unwissenheit aufgewach¬
sene Bauer, der wie jeder Kranke seinen eigenen Zustand am wenigsten kannte,
den neuen Lehrmeistern Glauben schenkte? Das begriff auch trotz dem schlechten
Schulunterricht jeder, daß es ein Vortheil sei, keine Steuern und Abgaben mehr
zu bezahlen! — Wußte er doch nun, warum es mit seiner Wirthschaft so gar
nicht vorwärts wollte; das unbestimmte Gefühl des Unbehagens war ihm mit
einem Male klar geworden. Darum hatte der Rittergutsbesitzer auf den Provinzial-
landtazen immer gegen den Bauer gestimmt, weil er von seinem Fette zehren
wollte. — Kam der Bauer aber gar uach der Stadt, da hörte er in jeder Volks-
Versammlung, die an keinem Wochenmarkt fehlen durfte, daß es dem Gevatter Schnei¬
der nicht um ein Haar besser gegangen war. Den hatte der Kaufmann, der Fabri¬
kant, der Magistrat, kurz jeder geknechtet, der einen bessern Rock trug, als er.
Der unzufriedenen Elemente gab es dort in allen Schichten der Gesellschaft. —
Freundlich sprach jeder mit dem Bauer, jeder erzählte ihm, daß das alles besser
werden müsse, wenn nur erst der Volksmann N. oder X. zur Nationalversamm¬
lung werde gewählt sein! — Scheu zog sich das kleine Häuflei» der Angefeinde¬
ten zurück, und trat verduzt in die Reihen der „Bürgerwehr," ja selbst hier war
so mancher, der zwar grade nicht mit dem Staate brechen, mit der aufgewühlten
Meuge fraternisiren mochte, aber doch im Stillen die Demüthigung irgend eines
ungeliebten Vorgesetzten oder Vornehmen nicht eben ungern gesehen hätte, und
der wohl gar von einem bequemen Sitz am grünen Sesstonstisch, hohen Reise¬
diäten u. tgi. Dingen träumte. Kurz: „Es muß anders werden!" Die Erschei¬
nungen, welche diese Aufregung in Schlesien hervorriefen, sind bekannt. Bis zur Auf¬
lösung der Nationalversammlung war der Zustand Schlesiens jammervoll, aus der
allgemeine» Widersetzlichkeit des Landvolks schien sich eine große demokratische Bauern¬
verschwörung zu entwickeln und ein Krieg ländlichen Proletariats drohte alle Scheu߬
lichkeiten des rohsten Bürgerkriegs über uns zu bringen. —
Da nahm endlich ein Ministerium mit Kraft und nicht ohne Geschick die Zü¬
gel des Staates in seine Hände, und begann offen den Kampf mit der immer wei¬
ter um sich greifenden Auslösung. Es hat diesen Kampf bis jetzt mit Muth und
Ausdauer geführt, es hat große Hindernisse besiegt, es hat Gewaltschritte nicht
vermeiden können, hat dem Lande und unserer Provinz wesentlich genützt und hat
erklärt sie nicht weiter auszudehnen. Kurz der Feind scheint besiegt, wenigstens
hat er das Schlachtfeld geräumt, vernichtet ist er nicht!
Die Zeitungen, und vor Allem die Schlesische, erzählen uns viel von einem
gänzlichen Umschwunge der öffentlichen Meinung, der wir die wiedergewonnene
Ruhe, die Zuversicht auf deren Fortdauer verdanke» sollen. Das Volk soll zu einer
klareren Anschauung seiner Zustände gelangt sein. Wir glauben daran nicht! Wir
wollen uicht behaupte«, daß es in der langen trüben Zeit gar nichts gelernt haben
sollte, aber — es ist gewiß reckt wenig gewesen. Das Volk im engern Sinne, d. h.
der weniger gebildete, der ärmere Theil desselben, hat an den politischen Bestre¬
bungen seiner Parteiführer nie großen Antheil genommen. Die deutsche Frage, die
Verwandlung der absoluten Monarchie in eine constitutionelle, ja selbst der Begriff
der Volkssouveränität haben in diesen Kreisen nie Boden gewonnen — nur das
Bewußtsein so mancher schwachen Seite der Verwaltung ist bis in die untersten
Schichten des Volkes gedrungen. „Der König ist gut, er will nicht haben, daß
wir gedrückt werden, aber er erfährt nicht wie es uns geht, er wird von seinen
Umgebungen hintergangen!" Diese und ähnliche Aeußerungen hörten wir oft in
der ärgsten Zeit, die Anhänglichkeit an die Person des Königs, verleugnet der
Schlesier nur selten! — Er hat aber gesehen, daß bereits zwei Dcputirtenver-
scimmlungen seinen noch immer unbehaglichen Zustand nicht verbessert haben, er
hat daher wenig Vertrauen zu der dritten. Daß seine Wahlen nicht immer glück¬
liche waren, fühlt er wohl, aber wie soll er es ansaugen, um sich besserer zu ver¬
sichern? Kennt er die Leute, denen er seine Stimme gibt? selten! Er wird daher
immer Wahlagitationen zugänglich sein, und dies Gefühl verleitet ihm das ganze
Wahlgcschäst. — Ja käme der aller absoluteste König mit einigen Gesetzen in der
Hand, etwa wie Steuerbefreiung des Bauernstandes, Landvertheilung an alle die-
ieuigen, welche keins haben, freie Zehrung für diejenigen, die nicht arbeiten mögen,
Schutz, auch für den aller erbaulichsten Handwerksbetrieb :c. ze., das schlesische
Bauernvolk jagte Republikaner und Demokraten, Eonstitutionelle und Reaktionäre,
ja Kammern und Minister zum Lande hinaus und riefe: Es lebe der Absolutismus!
Es ist charakteristisch für unsere Kammern, daß die verschiedene» Nuancen in
denselben — Parteien kann man sie nicht nennen -— vorzugsweise darüber mit
einander wetteifern, wer am meisten ministeriell gesinnt sei. Das hat sich vorzüg¬
lich so in der deutschen Frage herausgestellt.
Wenn in dieser Frage die Männer von Frankfurt und Gotha durch die Vorlagen
des Ministeriums, und namentlich durch die Rede des königlichen Commissarius,
Herrn v. Nadvwitz, so umgestimmt sind, daß sie der seit dem Mai befolgten
Politik ihre unbedingte Billigung geben, und sie dringend ernähren, auf dem
betretenen Wege zu verharren, so konnte das Wunder nehmen, denn weder in
den Vorlagen, noch in jener Rede ist etwas Neues enthalten, was man ans den
bekannten Verhandlungen nicht wenigstens hätte schließen können. Dennoch ist
diese Umstimmung sehr begreiflich, einmal aus der veränderten Luft — es ist doch
ein Unterschied, ob man in Frankfurt, dem Centrum eines blos in der Einbildung
vorhandenen Staats, oder in Berlin, mitten im Markt des wirklichen Lebens, zu
Rath sitzt — dann auch ans den veränderten Zeitumständen. Die Niederlage des
Aufstandes in Baden, Sachsen, anch in Ungarn, verrücken freilich den Gesichts»
Punkt sehr wesentlich.
Auf der andern Seite ist es eben so wunderlich, wenn die Großdeutschen
aus jenen Ackerstücken die Hoffnung schöpfen, die preußische Negierung habe ihren
Plan fallen lassen und rede ihm nur uoch >„o den-nur das Wort, um nachher die
Hände in Unschuld waschen zu können, als ob sie daS Ihrige gewissenhaft gethan
habe, und nur durch die Intriguen der Uebclgesiuutcu an der Vollendung ihres
Werkes gehindert sei. Von einer solchen Resignation finde ich in den Erklärungen
des Ministeriums doch keine Spur.
Um ein richtiges Urtheil zu gewinnen, muß man zweierlei unterscheiden. Ein¬
mal das absolut Vernünftige, das sich in deu verschiedenen Plänen mehr oder
minder bestimmt aussprechen und endlich nothwendiger Weise zur Geltung bringen
muß, und dann das Verhältniß, in der jeder einzelne bestimmte Entwurf zur
augenblicklichen Lage der Dinge steht.
Das absolut Vernünftige ist: Trennung der politischen Monstrosität, die man
früher heiliges römisches Reich, später deutscher Bund genannt hat, in zwei sou-
veräne Staatsgebiete, von denen jedes eine wirkliche, d. h. eigene oder selbststän¬
dige Politik verfolgen kann.
Die Nothwendigkeit dieser Trennung — welche die Revolution des vorigen
Jahres, ihrem romantischen Charakter gemäß, in der umgekehrten Form der Ein¬
heit anstrebte — ergibt sich aus der Existenz zweier souveräner, europäischer Staaten,
die ihrer geographischen Lage wie ihre Geschichte nach eine verschiedene (nicht
etwa eine feindliche) Politik verfolgen müssen und seit dem 30jährigen Kriege
auch immer verfolgt haben, und der Lage einer Masse unberechtigter Klein- und
Mittelstaaten zwischen ihnen, die den beiden Großstaaten entweder willenlos ge¬
horchen, wie es seit der Bundesacte der Fall war, oder dem Auslande dazu
dienen, einen Keil in das Gefüge Preußens und Oestreichs einzuschieben, um
dieselben zu zertrümmern. In beiden Fällen befriedigt die Existenz dieser Klein¬
staaten weder ihren eignen Bürger — denn sie können keine freie selbstständige
Politik verfolgen — noch können sie Preußen und Oestreich aus die Dauer dulden,
denn sie siud wildes Fleisch in ihrem Organismus.
Freilich wäre es möglich, daß einmal eine Revolution käme, die Oestreich,
Preußen, Baiern n. s. w. zertrümmerte, und eine allgemeine deutsche Republik
einführte. Aber abgesehn davon, daß eine so totale Revolution einen eben so ge¬
waltsamen, als in Beziehung auf den Ausgang zweifelhaften Charakter haben
müßte, gingen dadurch in jedem Fall diejenigen politischen Errungenschaften, welche
die Geschichte durch die Gründung der Großstaaten Oestreich und Preußen der
deutschen Natiouund der Cultur im Allgemeinen hat zu Theil werden lassen, zu Grunde.
Eine Rückkehr zu den alten Zuständen ist aber nicht möglich. Restauration
des alten Bundes hieße nichts anderes, als Neutralisation der deutschen Politik
durch Festhaltung von zwei entgegengesetzten Willenskräften, und vollständige Ab¬
hängigkeit der kleinen Staaten von dem Einfluß ihrer mächtigeren Bundesglieder.
Einem Bundestag, der in irgend einer Beziehung eiuen größern Einfluß ausüben
wollte, als derjenige, der dem alten factrsch zustand, kann weder Oestreich noch
Preußen sich unterwerfen; einen allgemeinen deutschen Reichstag, der mehr als
eine blos berathende Stimme in Anspruch nähme, kann weder Oestreich noch
Preußen anerkennen. Ein Bundestag, wie ihn Oestreich vorschlägt, d. h. ein
Bündniß der Fürsten gegen die Revolution unter den Auspickn Oestreichs und
Preußens, ist allerdings möglich, ist aber weiter minds, als Vertagung des Pro¬
blems , das doch einmal gelöst werden muß, auf eine unsichere Zukunft.
Die Scheidung Oestreichs vom deutschen Nvrdwestrcich muß mit der consti-
tutionellen Centralisation beider Staatsgebiete zusammenfallen. Ein Mittelreich
'se nicht möglich. Die schwerste Frage, aus die man bisher noch viel zu wenig
Aufmerksamkeit verwandt hat, ist die: wo ist die Grenzlinie beider Gebiete? Ge¬
hört Baiern (mit Ausschluß der Pfalz), Würtemberg und Baden zum südlichen
oder zum nördlichen? Daß nämlich diese drei Staaten in Ein Gebiet gehören,
ist außer Zweifel.
Bei der Erwägung dieser Frage darf der Ehrgeiz Oestreichs oder Preußens
nicht gehört werden. Preußen möchte gern jene Staaten unter seinen Einfluß
zieh»; ob es Oestreich seinerseits begehrt, wage ich kaum zu behaupten; auf keinen
Fall aber will's dieselben Preußen überlassen. Man vergesse es aber nicht, daß
die Macht eines Staats nicht nach seinem Umfang sich bestimmt, sondern nach
seiner wirklichen Einheit.
Gegen den Anschluß jeuer Staaten an den preußische» Bund spricht folgen¬
des. Obi^e sie kann Norddeutschland sich leichter einige», denn durch sie kommt
ein den Norddeutschen ferner liegender Stamm, komme» dynastische Interesse» hin¬
ein, die immer ein fauler Fleck in dem neue» Bundesstaat bleiben werden. Die
militärische Lage des Bundesstaats ist günstiger, wenn er Süddeutschland nicht
in seinen Rayon ziehen darf. Er kann einen guten Theil seiner Kräfte ans die
Flotte werfen, mit der er im Lans der Zeiten Dänemark und Niederland in sein
politisches System zu zwingen hat; er kann Oestreich einen Theil der französischen
Grenze überlassen. Seine Macht wird concentrirt, während sie durch das Hin¬
einziehe» Süddeutschlands sich zersplittert.
Für den Anschluß sprechen eigentlich nur negative, aber doch erhebliche
Gründe. Einmal wird dadurch den norddeutschen Mittelstaaten der Anschluß an
Preußen leichter gemacht. Zweitens ist es sehr fraglich, ob es Oestreich mit sei¬
nem Interesse vereinbar hält, in eine nähere Einigung mit diesen Staaten zu
treten, und umgekehrt. Die noch immer fortdauernde Grenzsperre spricht wenig¬
stens dagegen.
Von diesem Gesichtspunkt aus kann ich die Verhandlungen der preußischen
Regierung nicht unbedingt billigen. Um einem möglichen Mißverständniß vorzu¬
beugen, muß ich aber vorher noch eine andere Betrachtung einschieben.
Daß die Annahme der Kaiserwürde von Seiten des Königs von Preußen der
kritische Augenblick in der Geschichte Preußens war, hat wohl Jeder gefühlt. Ein
jeder Preuße wird im Kleinen in sich den Kampf und die Zweifel durchgemacht
haben, welche die Entscheidung des Königs so lange verzögerten. Für die An¬
nahme sprach die Erkenntniß, daß der Augenblick eines großen Enthusiasmus, der
mit einem Sprunge die Hindernisse überschreitet, die sonst eine Arbeit von Jahr«
Hunderten nicht hinwegräumen, nicht wieder käme. Dagegen die Gefahr einer
Auflösung derjenigen Einrichtung, die bisher Preußens Größe ausgemacht, der monar¬
chisch-militärischen Concentration, in einem Augenblicke wo ein Bruch mit Rußland und
Oestreich drohte; eine Gefahr, welche durch die Persönlichkeit des Königs noch ge¬
steigert wurde. Dennoch habe ich in der Hitze des Augenblicks mich für die An¬
nahme entschieden, und kann diese Meinung anch jetzt nicht zurücknehmen. Ich
halte es noch für möglich, daß damals dnrch ein liberales Ministerium eine voll¬
ständige Versöhnung mit den gemäßigte» Demokraten in ganz Deutschland, ohne
Aufopferung der eben erst wiedergewonnenen militärischen Kraft erreicht wurde.
Allein diese Reflexionen gehören der Geschichte an; praktisch haben sie keine
Bedeutung mehr. Nachdem Preußen mit der Revolution auch in ihrem gemäßig¬
ten Ausdruck definitiv gebrochen hatte, nachdem es eben dadurch auch in der
Reaction gegen seine eigene constitutionelle Entwickelung zu einem sehr bedenk¬
lichen Schritt — der einseitigen Veränderung des Wahlgesetzes — getrieben war,
mußte seine Aufgabe die sein, im Einverständniß mit Oestreich die deutschen An¬
gelegenheiten zu ordnen — freilich nicht in der Art der altpreußischen Politik,
sondern wie es dem Gleichmächtigen zukommt. Damals war aber Preußen we¬
nigstens gleichmächtig.
Die Verhandlungen mit dem Wiener Cabinet haben mich nicht über-
zeugen können, daß Preußen den richtige» Weg zur Verständigung eingeschlagen
hat. Ich kann mich darin täuschen, denn möglicher Weise hätte Oestreich auch den
richtigen Anforderungen den Eigensinn seines bloßen Negirens entgegengesetzt; aber
dennoch wird der Vorwurf gegen die preußische Regierung, daß sie deu Versuch
unterlassen hat, nicht aufgehoben.
Der Gegenstand der Verhandlungen mußte sein l) Scheidung der östreichi¬
schen und preußischen Hegemonie nach einer bestimmten geographischen Grenze,
2) eine Form der Einigung beider Staatsgebiete bis zu einer gewissen Grenze.
Nach meiner Ansicht ist die preußische Regierung in dem ersten Punkt in ihren
Ansprüchen, im zweiten in ihrer Nachgiebigkeit zu weit gegaugen.
Das zweite wird mir Jedermann zugeben; die Regierung selber hat es indi-
rect anerkannt. Das Vereinsproject, welches Canitz aus Wien brachte, hätte all
die Vortheile, welche aus dem „engen Bundesstaat" resultiren sollten, wieder auf¬
gehoben. Gemeinsame Gesandten, von zwei verschiedenen Staaten bevollmächtigt,
sind eine Lonttt^ieüo in illhscto. Zur Ehre der preußischen Regierung kann ich
Nur hoffen, daß es ihr mit diesem Project nicht Ernst war, daß sie eine abschlä¬
gige Antwort voraussetzte. Aber wozu daun unterhandeln?
Was das erste betrifft, so spricht die preußische Regierung zwar immer von
dem Festhalten an dem alten Bunde, der dnrch den engen Bund nicht gestört
werden sollte, aber sie unterläßt es, den Umfang des letzteren genau zu bestim¬
men , sie setzt im Stillen immer voraus, daß derselbe mit dem ganzen Deutschland,
Oestreich ausgenommen, zusammenfallen müsse. Warum hat die Regierung ihrem
alten Alliirten nicht offen folgende Alternative gestellt?
„Preußen kann die souveräne Existenz verschiedener kleiner und mittlerer Staa¬
ten, durch die es zersplittert und in aller seiner Thätigkeit gehemmt wird, auf die
Loge nicht dulden. Der Augenblick ist gekommen, wo durch Auflösung der
alten, unvernünftige» Verhältnisse die Bildung eines neuen, naturgemäßen, mög¬
lich geworden ist. Preußen will diesen Augenblick benutzen. Es will in denjeni¬
gen Staaten, die ihrer Lage nach mit ihm in enger Verbindung stehn, eine durch
föderative und constitutionelle Formen beschränkte Hegemonie ausüben. Es über¬
aßt Oestreich, mit den Staaten, welche zu ihm ein ähnliches Verhältniß cinnch-
wen, dasselbe zu thun, und fordert es auf, sich über die Demarkationslinie zu
verständigen. Beide Staaten dürfen sich uur eine moralische Unterstützung leisten,
sie dürfen nur offen erklären, daß sie es so wollen; im übrigen bleibe alles der
friedlichen Vereinigung überlassen. Was den weitern Bund betrifft, so
garantiren sich Oestreich und Preußen in ihrem nud ihrer Verbündeten Namen
die Integrität der beiderseitigen Staatsgebiete.
Will Oestreich darauf nicht eingehn, so sieht sich Preußen in der Lage, defi¬
nitiv aus dem Bunde von 1815 aufzutreten, und lediglich seine eigenen In¬
teressen zu befragen."
Vielleicht hätte damals vor Beendigung des ungarischen Kriegs — eine
so offene Sprache Oestreichs zu einer bestimmten, verständigen Erklärung ge¬
trieben. Ju diesem Falle wäre die friedliche Verständigung mit den übrigen un¬
zweifelhaft gewesen. Vielleicht hätte Oestreich in seinem eignen Interesse es für
passend gefunden, daß auch Süddeutschland dem Bundesstaat beiträte; vielleicht
hätte es für dasselbe vorläufig eine mittlere Stellung gefordert, d. h. ein Bünd-
niß desselben mit Oestreich ohne constitutionelle Formen. Auf alles dieses hätte
Preußen eingehn können.
Ich sage vielleicht. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls war es des Versuches
werth. Wie die Sachen jetzt stehen, ist der günstigste Augenblick versäumt, und
ein klares Bild von dem Zustande, der gewonnen werden soll, nirgends vorhan¬
den. Daß mit der Zeit die vernünftige Idee, die sich ebenso in dem Gagern'schen
Progamm wie in dem Berliner Entwurf, in beiden freilich gebrochen aussprach,
Realität finden wird, davon bin ich freilich überzeugt. Für den Augenblick aber
kann ich kaum darauf rechnen, daß sie durch das Votum der Kammern wesentlich
gefordert werden sollte.
Ju dem Urtheil der Kammern scheiden sich folgende Gruppen. 1) Die Polen.
Die Sache gehe sie nichts an, die Deutschen mögen es unter einander ausmachen.
2) Die Ultramontanen, bestehend aus drei Individuen, den einzigen Repräsentan¬
ten der Großdeutschen Partei in beiden Kammern. Der Plan der Negierung ist
ein Attentat gegen das angeborene Recht der Häuser Oestreich und Baiern,
und namentlich gegen den Papst. Die Legitimisten, >4 in der ersten, 75 in
der zweiten Kammer. Eigentlich gefallen uns die Schritte des Ministeriums in der
deutschen Frage ganz und gar nicht, sie coquettiren viel zu sehr mit dem Libera¬
lismus und dem Zeitgeiste, sie setzen sich viel zu sehr gegen Oestreich in Oppo¬
sition, das als Hort der Legitimität verehrt werden muß, Aber das Ministerium
hat die Concessionen an den Liberalismus, die ihm immer nur die Noth des Au¬
genblicks abdrang, zur rechten Zeit stets so geschickt zurückgenommen, daß wir fest
davon überzeugt sind, es werde diesmal ähnlich verfahren. In dieser Ueberzeu¬
gung geben wir ihm eine unbedingte Vertrauensadresse, verwahren uns aber ent¬
schieden dagegen, es durch dieselbe auf seinem bisherigen Wege festhalten zu wol¬
len. — Herr v. Gerlach, Stahl, v. Bismark-Schönhausen haben das offen ausge¬
sprochen, letzterer mit der Schroffheit, die seiner Natur eigen ist; die Andern
B. Graf Strachwitz) haben sich zwar gegen die Conseguenzen verwahrt, weil
es wahrhaft vornehmen Leuten nicht geziemt, sich anf Consequenzen einzu¬
lassen, aber sie sind doch zuletzt auf dasselbe herausgekommen. 4) Die streng Mi¬
nisteriellen in beiden Kammern, bei weitem die große Majorität. Was Gott thut,
das ist wohlgethan! Das Ministerium muß am besten wissen, was es thut. Wir
gebe» ihm unsere Zustimmung zu seinen bisherigen Schritten, obgleich das ganz
überflüssig ist (Scherer) und wir ertheilen ihm Vollmacht, die Reichsverfassung
ohne unsere weitere Theilnahme zu Stande zu bringen; wollen damit aber gar
nicht gesagt haben, daß es von dieser Vollmacht auch Gebrauch machen soll. 5) Die
Liberalen — Camphausc», Graf Dyhrn, Beckerath u. s. w. Wir sind eigentlich
sehr erstaunt darüber, daß die Regierung noch so lebhast für den engern Bundes¬
staat und gegen den Einfluß Oestreichs gearbeitet hat, wir freuen uns darüber,
trauen aber der Sache noch nicht ganz, und ertheilen ihm daher jene Vollmacht
unter der Voraussetzung, daß es sich durch dieselbe auch gebunden fühlt. — Es
ist, beiläufig gesagt, von dieser Partei bei der Gelegenheit etwas mehr Pathos
aufgewendet worden, als unbedingt nöthig gewesen wäre.
Da das Zustandekommen der wirklichen Reichsverfassung schon durch die Ver¬
tagung z.B. des sächsischen Landtags weiter hinausgeschoben scheint, so ist eigentlich
die Verhandlung der Kammern über die eigene Verfassung, wenigstens für den
Augenblick von größerer Wichtigkeit.
Es handelt sich hier um zweierlei: ulu nachträgliche Genehmigung der
exceptionellen Ncgieruugsmaßregcln und um Revision der Verfassung. Was das
erste betrifft, so gestattet der K. WI', einen so ausgedehnten Gebrauch ministeriellen
Beliebens, daß bei irgend gutem Willen auf Seiten der Regierung das ganze
Geschäft der Kammern auf Einregistrirung fertiger Edicte herauskommt. Ich bin
nun keineswegs der Ansicht, die im letzten Jahr bei uns ziemlich geläufig winde,
daß die Kammern nicht nur formell, sondern auch materiell die gesetzgebende Ge¬
walt ausüben sollen. Im Wesentlichen wird, wie es auch in England der Fall
ist, die Regierung, so wie sie im Mittelpunkt der Geschäfte steht, auch in der
Gesetzgebung die Initiative haben, und die Kammer, so lange sie mit der all¬
gemeinen Politik deS Ministeriums einverstanden ist, sich damit begnügen, sie
Zu überwachen. Sobald ein neues Princip sich geltend macht, wird auch eine
«cuc Negierung zur Ausführung desselben berufen werden. Aber die Form ist
hier wesentlich. Sobald die Regierung bevollmächtigt ist, Gesetze mit unmittelbar
wirkender Kraft zu erlassen, wird dadurch später den Kammern ein moralischer
Zwang angethan und die parlamentarische Thätigkeit wird zur Illusion. 8. 1,05
>"»ß ganz wegfallen. Zwar verkenne ich nicht, daß es einzelne Ausnahmsfälle
Side, in denen die Negierung unmittelbar eingreifen muß, aber dazu bedarf es
keines Gesetzes; sie nimmt für ihre Uebertretung der Regel die völlige Verant-
wortlichkeit auf sich, und verlangt dann Dvcharge. Wenn aber die Ausnahme
M Regel gemacht wird, so wird sich die Kammer, wie es die preußische thut,
damit begnügen, zu untersuche», ob das eigenmächtig erlassene Gesetz an und für
A) zweckmäßig war; nicht, ob seine Dringlichkeit so groß war, daß es den Bruch
der gesetzlichen Form unvermeidlich macht. Eine solche Auffassung widerspricht aber
dem Wesen des konstitutionellen Staats.
Hier galt es aber noch eiuen viel ernsteren Fall. Das Ministerium hatte,
G
unter Allegirung jenes Paragraphen, in das Fundament der Verfassung eingegriffen,
sie hatte das Wahlgesetz eigenmächtig verändert, und damit den Factor des kon¬
stitutionellen Lebens, welchem sie Rechenschaft ablegen sollte, willkürlich aufgehoben.
Daß die zweite Kammer nicht im Staude war, diesen eigenmächtigen Schritt zu
recrificiren, liegt in der Natur der Sache, denn sie konnte ihren Ursprung nicht
verleugnen, ohne den sie nichts war. Aber auch die erste Kammer befand sich in
einer eigenthümlichen Lage. Selbst die äußerste Linke, unter der Führung des
Herrn Gierke, ehemaligen Ministers, glaubte die Verantwortung nicht überneh¬
men zu dürfen, auf Anüulliruug des Schrittes anzutragen. Ganz mit Recht be¬
merkte Herr Gierke, daß auch die Minorität bei jeder Abstimmung die Eventua¬
lität ins Auge zu fassen habe, daß ihre Ansicht den Ausspruch der Kammer bestimmte.
In diesem Falle müsse er aber fürchten, das eben beginnende constitutionelle Leben
gewaltsam zu unterbrechen. Er begnügte sich daher mit dem Antrag, die erste
Kammer solle sich für incompetent erklären, da der eine Factor der Gesetzgebung
weggefallen sei,'einseitig über die Maßregeln der Regierung zu entscheiden. Herr
Gierke hat dabei nur Eines übersehn. Diese Jncvmpetenzcrklärung konnte sich
nicht auf diesen einzelnen Fall beschränken, sondern müßte sich auf die ganze legis¬
latorische Thätigkeit der ersten Kammer ausdehnen. Dann aber handelten allein
diejenigen consequent, welche geradezu aus der Kammer auftraten. Zum Antrag
der Kammer erhoben, hätte jeuer Beschluß keinen Sinn gehabt; dagegen war die
Forderung der Kammer, die Regierung solle auf den Rechtsboden der Verfassung
vom 5. December zurückkehren, zwar bedenklich, aber nicht sinnlos.
Die Ansicht der Majorität ist nun von der Art gewesen, daß sie sich vor
Revision der Verfassung noch eben so wenig in einem constitutionellen Staate be-
fände, als vor dem 5. December. Sie hat beschlossen, daß »ach der Revision
eine neue Verfassungsurkunde ausgegeben werden soll. Sie hat also in dem octroyir-
ten Wahlgesetz nicht einrn Bruch der Verfassung, sondern nur ein? neue Initiative
der Vereinbarung gesehn. Freilich ist sie dadurch mit ihrem Volum im März, durch
welches sie die NechtSgilligkeit der Verfassung anerkannte, in starken Widerspruch
getreten.
Die Revision wird zuversichtlich die demokratische Färbung, welche anch die
Verfassung vom 5. December noch immer an sich trägt, vollständig verwischen.
An sich wäre das kein Unglück, wenn sie dafür nnr den geringeren Umfang der Rechte
bestimmter feststellte. Ich muß hier beiläufig bemerken, daß ich im Princip die
Ansicht des Herrn v. Gerlach vollkommen theile, daß eigentlich eine Verfassungs¬
urkunde nicht tlo reizn« omiiibns et Piibusd-im -»Ins handle», daß sie nie eine lü-
llül-l i-ils-i voraussetzen soll, auf der ein ganz neuer Staat aufgerichtet wäre, son¬
dern daß ihre einzige Aufgabe die ist, das neu eintretende Nechtssubjcet in seinen
Functionen genau zu umgrenzen; daß es hier nicht darauf ankomme, die Rechte
des Königs festzustellen, die ja schon ohnehin vorhanden, sondern die Rechte der
Kammern, die einen neuen Factor des Staatslebens bilden. Herr v. Gerlach
hat dabei nur, wie es seine Schule zu thun pflegt, die Unterbrechung des bis¬
herigen Staatslebens durch die Revolution, welche das bestehende Recht in Frage
stellte, und die bisher unbedingt geltende Gewalt zu einem Gegenstand der Dis-
cussion machte, vollständig ignorirt. Man hebt aber ein geschichtliches Factum
nicht dadurch auf, daß man die Angen davor verschließt.
Ich muß gesteh», daß dies kleinliche Feilschen um Recht und Unrecht nicht ge¬
rade einen erhebende» Eindruck macht. Die Kammer fühlt das selbst. Sie wirst
sich mit einer gewissen Hast aus der eigentlich constituirenden Thätigkeit in ihren ver¬
meintlichen Beruf, durch materielle Reformen den politischen Idealismus zu däm¬
pfen. Sie fragt nur zu wenig darnach, ob sie zu diesem Beruf auch die nöthige
Einsicht habe. Sie will einmal populär sein, in der Politik wird ihr das durch
ihre torystische Richtung unmöglich, also frischweg in die socialen Fragen. Wird
darin auch uicht viel practischer Verstand aufgeboten, so kann doch das gute Herz
sich geltend mache». So ungefähr kam es bei dem Antrag heraus, eine Com¬
mission niederzusetzen, die sich mit der Lage der armen öde'rschlesischeu und wcst-
Phälischen Spinner und Weber, nud den' Mitteln, ihrer Noth abzuhelfen, beschäf¬
tigen sollte. Ein Ostpreuße, der an Gemüth nicht uachstehn wollte, fügte noch
die arme» masurischen Bauern hinzu. Vergebens machte der Minister darauf auf¬
merksam, daß ähnliche Anträge zu laufenden kommen würden, daß und einer
Untersuchung in'ö Blaue hinein, ohne bestimmte Vorlagen und Anträge, Nichts
gethan sei, wie ein ähnlicher Ausschuß der Nationalversammlung bewiesen habe,
der nach viermonatlicher angestrengten Arbeiten zu dem Resultat kam, er könne
das Material nicht übersehen ! Schadet nichts! erwidert der Antragsteller, wenn auch
nichts dabei herauskömmt, das Laud sieht doch, daß wir uns mit seinen
Interessen beschäftigen. — Auf diese Weise wird freilich die Lösung der
socialen Frage zu einem noch viel bequemeren Geschäft, als die politische Reform,
und die Kammer ist in der Lage, spielend das Vaterland zu verwalten.
An einem heißen Nachmittag hatten wir uns aus der ungesunden Atmosphäre
Von Titel herausgeschlichen und im Schatten eines Gebüsches gelagert. Nicht gerade
mit gutem militärischem Gewissen, denn solche Spaziergänge waren wegen der Nähe
der Magyaren streng verboten, aber sehr erfreut den frische» Zug der Luft einzu-
athmen,'welcher über die Theißebeue strich, und auf eine Stunde den Typhus und
die Lagerpest zu vergessen. Corpora! Jovan hatte unsern Führer gemacht und eine
große Flasche von schwarzem Serbenwein mit uns ans dem Lager geschmuggelt.
Wir lagen ans dem Grase, Jovan machte den Kammerdiener und sein gut-
wüthiges Gesicht lachte behaglich als er sich aus einen Baumstamm setzte, den Ka¬
rabiner zwischen die Beine, den Griff des Handzar's vorsichtig in deu Bereich seiner
Auge» rückend. Er war ein alter Soldat, in alle Geheimnisse des kleinen Grenz¬
krieges eingeweiht, hatte den serbischen Revolutivnskrieg gegen die Türken miega-
"weht, hatte den schwarzen Georg noch gekannt, bevor dieser Fürst wurde, und
an der Seite des Milosch Obreuvwitsch gefochten. Schon vor vielen Jahren war
er als Diener eines serbischen Woiwoden in Oestreich gewesen und hatte von daher
ein schönes Wohlwollen für die Schwaben bewahrt. Unter seinen Landsleuten
war er berühmt als einer, der die Geheimnisse schwäbischer Bildung vollständig
ergründet habe, dieser Ruhm hatte ihn zu unserem Freunde gemacht.
Er sah uns vertraulich an, entkorkte seine Flasche, that einen tiefen Zug,
schnalzte vergnügt mit der Zunge und sprach nachdrücklich: hier streicht die Luft,
wir sind hier sicher vor der weißen Frau (der Pest).
Ist es das erste Mal, daß Du sie in der Nähe siehst, Arambassa?
Wallach, nein, sie hat vor Jahren auch bei uns in der Schnmadia ihr We¬
sen getrieben. In manchen Dörfern gab es kein Hans, in dem sie nicht ihren
Schleier geschüttelt hat und viele Leute hat sie angeredet.
Und was spricht die Pest, wenn sie ihren Besuch macht?
'
Gutes ists nicht, manchmal frägt sie nach dem Wege, ein andermal bittet
sie um die Erlaubniß sich hinten auf das Pferd oder den Karren aufzusetzen, es
leben Manche, die sie gesprochen haben, die meisten haben freilich nicht weiter er¬
zählt, was sie ihnen gesagt hat, denn sie sind nach dem Anblick gestorben. Ich
selbst sah ihren Schleier im Winde flattern. Es war dort an den'Berge» gegen
Osten. Wir lagen zwölf Mann in einer Höhle nud unterhielten Tag und Nacht
ein Feuer von harzigem Holze, meine Brüder wurden doch krank einer nach den
andern. Drei hatten wir begraben, die andern waren schwach und es fehlte uns
an Nahrung. Denn die Gegend war wie verzaubert, kein Vogel flog über daS
Gebirge und kein Wild kam in die Schußlinie, es lag ein Fluch anf den Bergen,
und wir waren schwach und fürchtete» uus in das Thal herunter zu steigen. Zu¬
letzt schärfte ich meinen Feuerstein und ging hinab in das nächste Dorf Lebens-
mittel zu holen. Der K»es des Dorfes packte mir ans, was ich tragen konnte,
aber keiner von den Dorflentcn wollte mich begleiten. Als ich zurückkam zu un¬
serer Schanze am Berge, triefend von Schweiß und keuchend unter der Last, war
es Abend geworden, mein Fuß strauchelte über die Wurzel» der Bäume. Da
huschte i»? Mondenschein eine weiße Gestalt bei mir vorüber, klein und uiager, und
hob den Finger gegen mich anf, ich aber rief meine» Heilige» und ging vorwärts
ohne mich umzusehn. Es flüsterte neben mir in mein Ohr, ich habe nichts ver¬
standen, denn mein Haar sträubte sich aus dem Kopfe. Als ich zur Hohle kam,
lebten nur noch zwei vou meinen Brüdern, und keiner vo» ihnen sah das Licht
des nächsten Morgens. Ich begrub sie alle, und i» das Grab des Letzten warf
ich das Krenz, welches ich am Hals getragen hatte, zerbrach meinen Handzar, den
mir der Aelteste von den Brüdern geschenkt hatte, als ich zu ihnen in die Berge
kam, stieg wieder in das Thal hinab, a» die bös»ische Grenze, wo man mich nicht
t'annee und nahm Dienste bei ehrlichen Christemueuscheu. '
Im Lager ging das Gerücht, daß auch Freund Jovan einst Haidnck gewesen
war, hier hörten wir die Bestätigung. Und vergnügt über die Offenherzigkeit des
würdigen Herr» frug ich ihn leichthin, um welche Zeit warst Du in den Hai-
duckenbergcn, Freund Jovan?
Er sah mich spähend an: Es ist lange her und ich kann wohl darüber reden,
ich habe mich des Grundes nicht zu schäme». Es siud mehr als zwanzig Jahre,
damals als unser Krieg gegen die Türken durch den schlechte» Frieden been¬
digt war und die Türken wieder in das Land kamen, die fünf Festungen besetzten,
und an der Grenze sich als Herren geberdete». Damals erschlug ich eine» Spahi,
der mir einen Ochsen von der Heerde, die ich nach Bosnien trieb, nehmen wollte.
Es war im ehrlichen Kampfe und der Todte war ein Ungläubiger, aber die Hand
der Türken lag wieder anf dem Lande, die Pandnre» (Polizeisoldaten der serbischen
Regierung) suchte» mich und ich mußte in die Berge entfliehe».
U»d'denkst Du gern an Dein Haiduckeuü'be»'zurück?
Der Arambassa stieß einen complicirten Laut aus, der halb ein Räuspern,
halb ein Seufzer war und antwortete ablenkend: Viele bessere Männer siud Hai-
duckeu gewese», Fürst Kara Georg war selbst el»er. Wißt ihr nicht, daß sie
damals vor vierzig Jahren, als der 'Freiheitskampf mit den Türke» losbrach, ih» zum
Führer über die Serbe» gemacht haben, weil er ein Haiduck gewesen war. Sie kamen
zusammen, die Vornehmsten ans der Schumadia und sagten damals: Es ist kein
Haus im Lande, welches nicht seinen Herrn hat, dem die Brüder und Vettern
dienen und dem die Frauen seinen Rock mit Schnüren besetzen, auch das Volk muß
sein Haupt haben, dem zu dienen Ehre ist, und der das Hans Serbiens verthei¬
digt gegen den Türken. Und sie sprachen zuerst zu Glawasch, dem Haiducken: sei
Du unser Haupt. Glawasch aber stand auf in der Versammlung und antwortete
den Herren: Der Haidnck ist wie ein einzelner Adler über den Thälern, er hat
kein Nest, keine Burg die er sein nennt, ans dem kahlen Felsen wohnt er und
wenn er über das Thal fliegt, schnauben die Rosse und die Kälber fürchten sich.
Die Geschöpfe in der Ebene scheuen ihn, aber sie gehorchen ihn nicht. Keiner,
der Haiduck ist, kann ein Führer des Volkes werden,' er hat keine Verwandtschaft
und keine Brüder und seiner Momken (Anhänger) sind wenige. — Da boten sie
die Fcldherrenwürde dem Kres Thevdost aus der Landschaft Kragnjewatz, weil er
ein angesessener Mann und Richter war. Aber auch der stand auf und sprach:
Wer in der Gemeinde steht als Oberhaupt, der hat Hänser, von denen er die
Flamme abhalten muß, und Frauen, welche seine schützende Hand festhalten. Er
selbst braucht jetzt die Haidncken, daß sie sein Dorf schützen, wenn aber die Tür¬
ken wieder in's Land kommen, werden die Türken das Dorf, das er schützen soll,
verbrennen und seine Frauen und Kinder fortführen. Der Kres ist ein Mann des
Friedens, er kann nicht Führer im Kriege sein, wählt einen der ein Haidnck war
Und jetzt im Thale lebt im eigenen Hofe. Und der den ihr wählen müßt, ist
Kam Georg, der heftigste und stärkste unter den Führern des Landes. So wurde
Sr. Excellenz der Fürst Kara Georg zum ersten Führer der Serben, weil er Hai¬
duck gewesen war. Und doch war er der Wile verfallen und hatte das den Herren
selbst gesagt, sie aber wählten ihn trotzdem, denn sie wußten, daß ihnen ein Mann
nöthig war, den die Geister liebten.
Wir jähen den Sprecher verwundert an. Was hat das mit der Wile zu
bedeuten, Arambassa?
Still, sprach er feierlich, darüber ist nicht zu sprechen. Aber der Fürst wußte
selbst, daß er den Geistern verfalle» war. Saß er nicht tagelang vor der Thür
seines Hauses, schweigend und an seinen Nägeln kauend, während sein Roß
stampfte und die Freunde ihn riefen? dann sah er nichts, er hörte nichts, er mur¬
melte vor sich, dann war die Fee unsichtbar bei ihm und sprach mit ihm; und
wenn sie ihm etwas eingegeben hatte, so sprang er ans, stieß in sein Horn, schwang
sich auf sein Pferd und' schlug Jeden nieder, der ihm begegnete. Es war sein
Schicksal, daß er in solcher Wuth auch die tödten mußte, welche ihm lieb waren,
später hat er dann über ihren Tod geweint. — Hat ihn nicht die Wile getrie¬
ben, daß er seinen eigenen Vater tödtete? ES war ans der Flucht vor den-Tür¬
ken, lange vor dem letzten Kriege. Er zog der save zu und wollte in das
Schwabenland herüber. Seinen Vater und seine Heerden führte er mit sich. Als
sein alter Vater die weiße save blinken sah, wurde er bang und zornig und
wrach zu dem Sohne: Gehe nicht zu den Schwaben, mein Sohn, gehe nicht, auf daß
dir dein Brot gedeihe im Hanse deines Vaters. Und Kara Georg zog die Schwär¬
en Augenbrauen herunter und sprach: ich gehe und du gehst mit,' denn wir sind
Serben und keine Hunde. Da wurde der Vater immer mehr bange und zornig und
stieg vom Pferde und sprach: so gehe denn allein hinüber in das'fremde Land, nun
Gebein bleibt hier, und die Türken werden Gnade üben an meinem Leibe. Da
nes Kara Georg im bittrem Grimm: so willst du bleiben? der Vater sagte: es
gesprochen. 'Da klagte Kara Georg: soll ich leben, indeß die Türken dich mit
Martern tödten. Es soll nicht sein, 'daß unser Geschlecht in die Hände der Un¬
bändiger fällt, besser ist's, und rühmlicher für dich, daß ich dich selbst tödte.
Aer ^ter sprach kein Wort und setzte sich ans einen Stein. Da nahm Kara
^eorg seu, Pjstol, schoß seinen Vater nieder und sprach zu seinem Diener, gib
ihm den Todesstoß, damit er nicht mele. Darauf ging er in das nächste Dorf,
rief die Leute zusammen und sprach zu ihnen: mein Alter liegt draußen an der
weißen save, begräbt ihn, ich darf nicht, und trinkt ihm' auch zum Segen
seiner Seele das Tvdtenmahl. Und als er das gesprochen hatte verließ er all
seine Habe, ohne sie wiederzusehn, und sein Vieh schenkte er seinen Begleitern
und den Leuten im Dorfe, er selbst ging über die save. Dort wurde er
Arambassa im Schwabenland, aber es litt ihn nirgend, er mußte hinauf ans die
Berge, wohin ihn die Wile habe» wollte. So wurde er Haiduck und auf dem
Grabe seines Vaters machte er Bnndesbrndcrschaft mit der Wile. — Das ist
wohlbekannt, allen Männern ans jener Zeit, aber die Wile machte ihn zum gro¬
ßen Herrn und zum Fürsten des Landes und deshalb spricht mau made gern
davon. Aber als er gestorben war, hat man im Lande ein Wimmern und Klagen
gehört in der Luft, seine schöne Bnndesschwester hat um deu Herrn getrauert, den
sie geliebt hatte.
Das Alles erzählte Jovan mit dem ernstem Pathos, welches jedem Serben
zu Gebot steht, wenn er in der Stimmung ist, seine Sagen heranszuspinnen. —
Die Wilen aber sind die eidlichsten unter den vielerlei Geistern, dnrch welche die
Serben vexirt werden. Es sind schöne Franc», welche dnrch die Luft fliegen mit
langem Haar und weisem Hirn, sie wissen die Zukunft und viele Geheimnisse des
Lebens, machen Gewitter, regieren Wolken und Wind und verrichten andre
Hexeuarbeit, aber sie verstehen auch an heimlicher Stelle sich zu amusiren und
den Koko zu tanzen, sie sind die Lehrerinnen und Freundinnen großer Helden,
und verleihen ihnen Rath und Sieg. In der Regel hat die Sache freilich einen
Haken, es bringt den Helden kein Glück mit ihnen zu verkehren. Der ehrliche
Christ aber muß sie scheuen, obgleich sie es lieben, sich Schüler unter den sterb¬
lichen Männern zu suche«. Mit deu Walkyrien der deutschen Stämme haben sie
noch in ihrer jetzigen Gestalt große Aehnlichkeit, und waren früher, ehe das
Christenthum sie deu Serben unheimlich machte, wahrscheinlich noch näher alt
den deutschen Schlachtjungfranen verwandt.
Als der Arambassa seine lange Rede beendigt hatte, konnte ich mich nicht ent¬
halten, sein Haidnckenthum und seine geschichtlichen Kenntnisse zu benutzen und ihn
nach unserm misantropischcn Lagergenossen, Herrn Wule, zu fragen. Da ich wußte,
daß diese Frage eine delikate war, machten wir d'.n Umweg über seine eigene Hel¬
denpersönlichkeit , indem wir ihm wohlriechenden Weihrauch auf sein Haupt und in
seinen Schnurrbart streuten. Und als er strahlend dasaß im Glänze seines Ruh¬
mes, rund und behaglich, wie ein Bär, sprang die Frage nach dem finstern Haiducken
vorsichtig heraus.
"
Diesmal biß er in den Köder, ja er wurde redselig. Der Arme hat viel
Unglück gehabt, er hat seinen Wahlbrndcr erschlagen, sprach er theilnehmend. —
Wie die meisten Serben pflegte er die Unthat eines Menschen sein Unglück z»
nennen. Er hat ihn hinterrücks erschlagen, ein Bewaffneter einen Waffenlosen.
Freilich war er sehr im Zorn, aber der Fluch kam doch über ihn. — Er stammt
aus dem Hans eines Dorfes in der Nähe von Negotin, sein Bater war einer von
den Krieken (Aeltesten) des Ortes; mit einem Knaben ans der Verwandtschaft des
Wviwode» Adam Nikitsch, hatte er im Namen des heiligen Jovan die Wahlbrüdcr-
schaft beschworen, auf dem Grabe seines Vaters hatte er sie beschworen; die Kna¬
ben hatten grüne Kränze geflochten, jeder einen, die Kränze nebeneinander gehalten,
sich zwischendurch auf den Mund geküßt und dann die Kränze mit einander ver¬
tauscht, so waren sie Brüder in Gott geworden. Alle Jahre hatten sie nach Ostern
die Brüderschaft ernenet, bis sie Männer waren und Waffen trugen, und beide
wurden von den Leuten des Dorfes junge Helden genannt. Wille, der damals
anders hieß, war finster und still, der Andre ein leichter Gesell mit hüpfender
Zunge und freundlichen Augen. Dann kam's, wie's zu kommen pflegt, sie »er¬
zürnten sich um ein Weib, die Tochter des Vorstehers, und gingen wochenlang
an einander vorüber, ohne ein Wort mit einander zu sprechen. Das war schlimm,
denn zwischen Brüdern darf keine Wolke stehn bleiben, das hat von je Unglück
gebracht.
Und der Haiduck erschlug seinen Freund nud ging zu den Räubern? warf
ich ein. Hört, Freund, es ist' bei Euch Serben nicht selten, daß ein Mann „Un¬
glück" hat und irgend wen tödtet, ihr sagtet selbst, Kara Georg hat seinen eigenen
Vater erschlagen und ist doch Fürst geworden; wie kommt's, daß der arme Haiduck
unter Euch werden mußte, wie ein Uhu, da er doch nur eiuen Fremden getödtet
hat? — Einen Fremden? rief der Arainbassa entrüstet und sprang auf, war es
nicht sein Wahlbruder, der erste in seiner Liebe? Mußte der ihm nicht gehn über
seine Eltern, ja sogar über das Haupt seines Hauses, ja sogar über seine Schwester?
Den Vater und die Brüder hat jedem das Schicksal zugetheilt, er kann sie sich
nicht nehmen und nicht geben, aber seinen Wahlbrnder hat er sich selbst gegeben,
hat ihm sein eigenes Leben geschenkt und das Leben des Bruders dafür erhalten;
was hat er noch auf Erden, wenn er sich sein Bestes erschlägt? er hat nichts mehr,
er hat sein eigenes Leben mit erschlagen und der Nest gehört dem Todten. — Viel
Großes und Schweres ist geschehn in unserm Freiheitskriege, fuhr der Sprecher
ergriffen fort, aber wer hat je gehört, daß ein Bruder den andern verrieth? Das
that auch nicht Herr Milosch Obrenvwitsch, der verbannte Fürst f den Gott er¬
halten möge. Denn als Herr Milosch, nachdem die Türken den schwarzen Fürsten
Georg vertrieben hatten, von neuem den Krieg für die Freiheit begann, da war
er selbst in Vundesbrüderschaft mit Aschin Beg, dem türkischen Mnteselim von Rubrik.
Es war an einem Palinsvuntage, da ritt Herr Milosch, der Obertncs von Rubrik
war, vor das Hans des Türken und schlug mit dem Griff des HandzarS dreimal
an seine Thür. Und der Muteselim trat heraus, die Pistolen im Gurt und in voller
Rüstung. Da sprang Herr Milosch von seinem Pferde und küßte den Türken auf
die Wange, führte ihm ein gesatteltes Pferd ans seinem Gefolge vor die Hausthür,
hielt ihm selbst den Steigbügel, hob ihn ans das Roß und geleitete ihn durch die ganze
Landschaft, welche dem Ungläubigen den Tod geschworen hatte; und Niemand wagte
diesem ein Haar zu krümmen, weil Herr Milosch neben ihn ritt. — Kein Serbe
konnte seinen Wahlbruder tödten, außer der eine. — Es war in einer finstern
^acht, wo der Haiduck seinem Bruder auflauerte und ihn in Eifersucht erschlug.
Er floh in die Berge nud wurde grimmig, aber sein Unglück fraß an ihm und er
lst seit der Zeit oft außer sich. Oft hat er den Türken getrotzt und sich mitten
ins Feld gestellt, wo ihre Kugeln dicht fielen, wie Regentropfen, aber es hat ihn
reine getroffen. Es gibt für ihn nur eine, welche ihn tödten kann. ^ —
^ Ein Kuall unterbrach den Redner, wir sprangen erschreckt auf: die Magyaren!
^ovau selbst fuhr erschüttert zur Seite. Aber Alles um uns war still, kein Feind
zu sehn , kein Laut zu hören. Eine Kugel war dicht am Haupt des Arambassa
vorbei in einen Baumstamm gefahren. Wir sprangen in den Busch, vertheilten
»us und suchten tiraillirend, hinter den Bäumen gedeckt, eine ziemliche Strecke des
Holzes ab, aber nirgend war die Spur eines Menschen zu finden; freilich war es
N>r den Schützen kein großes Kunststück in dem dichten Unterholz unsern Blicken
M entschlüpfen. Als wir zu unserm Lagerplatz zurückkehrten und in sehr begreif¬
licher Unruhe unsere Ansichten über den Schurken von Schützen austauschten, stand
^zovan bereits am Baum und hatte die Kugel mit seinem Messer herausgeschnitten,«ornam und finster steckte er das ce» uns «Ivlieti in seine Tasche und gab aus unser
Befragen keine andere Auskunft, als die Worte: es ist eine Pistolcukngel. —
Das machte uns nicht klüger.
Kleinlaut schliche» wir ius Lager zurück. Offenbar wußte der Arambassa mehr
von dem Schuß, als er uns sagen wollte. Bevor wir uns trennten, frug ich ihn:
Ist es uicht eine Schande, daß ein Schuß, der Keinen von uns getroffen' hat, vier
Männer so in Bestürzung setzen konnte? Irgend ein Spaßmacher ans dem Lager
hat uns erschrecken wollen.
Der Arambassa schüttelte mit dem Kopf: ich kenne den Hund, welcher schoß,
jener ist's, von dem ich sprach — Er? frug ich und versuchte ungläubig auf-
zusehn, aber wir Alle hatten offenbar im Stillen denselben Argwohn gehabt, ohne
es einander zu sage». — Und welchen Grund kann das Unthier haben, einen von
uns anzufallen? — Der Schuß galt mir, sagte Jovan feierlich, war's nicht Grund
genug für ihn, daß einer seine Schande erzählte, die er täglich von aller Men¬
schen Lippe zu hören fürchtet. Aber so wahr mir Se. Johannes mein Leben ge¬
legne, ich will ihn wieder treffen, wo es auch sei, und sobald ich ihn sehe, ver¬
suche ich, ob mein Pistol ihm nicht den letzten Dienst thun kann, so gut wie ein
andrer Lauf, an den er gezaubert ist. — Und welcher Gewehrlauf ist's, der allein
Macht über ihn haben soll? frug ich deu Arambassa.'
Das ist die Pistole seines Wahlbruders, des todten Prvta von Negvtin,
antwortete der Arambassa nachdrücklich.
Wir suchten den Haiduckcn an diesem und den folgenden Tagen im Lager, er
blieb verschwunden. Kurz darauf erfuhren wir seinen Tod. Er war so ungewöhn-
lich, als sein Verbrechen und der Aberglaube meiner serbischen Freunde erhielt
durch ihn eine willkommene Bestätigung.'
Einige Tage nach unserer Unterhaltung sandte nämlich Graf G., ich glaube
im Auftrage des Barus, einen Offizier aus dem Hauptlager bei Numa nach Titel,
und von da als Kourier nach Belgrad. Unfern von der Donau fand der Offizier,
ein Bekannter unseres Kreises, eine verwüstete Gestalt am Wege liegen, welch
ich weiß nicht wodurch, sein Mitleid erregte und ängstlich, wie ein Sterbender bar,
ihn über die Donau in das serbische Gebiet mit herüber zu nehmen. Der Haupt-
mann that den Fremden den Gefallen und wunderte sich, daß sein Schützling nich!
nach Belgrad herein ging, sondern sich unweit des Strandes, wie erwartend, ans
den Boden setzte. Der Kourier gab seine Briefe ab und traf den Kriegsminister
Wntchitsch gerade, wie er im Begriff war, auf'S Pferd zu steige». Aus die Auf¬
forderung des alte» Haudegeus schloß er sich dein Gefolge desselben an. Bor dem
Thor der Stadt führt der Weg bei der kleinen Anhöhe vorbei. Auf dein H>'^'
dicht an der Straße stand Wule der Haiduck aufgerichtet, von der gelben Abe'
sonne beschienen. Er hatte sein Gewand aufgerissen, die haarige Brust entblöß-,
und hielt die Hände, wie ein Soldat auf dem Posten an den Leib. In demsel-
ben Augenblick trieb ein serbischer Offizier ans dem Gefolge sein Pferd mit ein-''»
Sprunge aus der Reihe, ein Schuß fiel und der Haiduck sank ohne einen Laut
leblos zusammen. — Der Serbe war ein Vetter des getödteten Wahlbrudcrs Pr>
gewesen, er hatte die Blutrache sür den Tod seines Verwandten am Mörder g'"
nommer. — Natürlich behaupteten die Serben, daß die rächende Pistole dieselb
gewesen sei, welche früher der Wahlbruder des Haiduckeu in feinem Gurt getra
gen hatte.
Als ich auf einer meiner letzten Reisen die Nähe Warschau's erreicht hatte,
der Stadt, welche vor kaum einem Jahrhundert im nördlichen Enropa noch mehr
war, als heut' Berlin, Wien oder Petersburg, weckte mein Reisegefährte, der
Professor Schulz, mich ans dem Schlummer mit deu Worten: „da ist sie ja schon
die blühende Ruine, die Werkstätte der moralischen Vernichtung eines herrlichen
großen Volks!"
Ich schlug die Augen auf. Vor mir lag Warschau mit seinen prangenden
Kuppeln. Warschau war mir bereits einen langen Zeitraum hindurch eine Art
Heimath gewesen; jetzt mußte ich's abermals kennen lernen. Was ich früher mit
den harmlos flüchtigen Blicke eines gut bürgerlichen, mehr mit sich selbst als sonst
etwas beschäftigten Einwohners angesehen, hatte ich auf's Neue durch das Glas
z» betrachte», welches mir I. Schulz durch seine Behauptung vor's Auge gedrückt.
Die Kirche der deutscheu Protestanten, die köstliche Nachahmung Se. Peters
zu Rom, verbarg sich immer mehr hinter dem vor ihr liegenden Häusergebirge;
eben so die hohe russische Kirche, deren fünf byzantinische, mit einer Saat von
goldenen Sternen überstreuete blaue Kuppel» leuchtend über die weite Stadt hin¬
blickte», wie wenn die russische Herrschaft aus göttlicher Bestimmung hervorgegan¬
gen wäre.
Bald befanden wir uns am Schlagbäume. Aus dem Thorcontrolhause zur
Rechten stürzten fünf bis zehn grün uniformirte Männer, die Hand offen, den
Blick voll Verlangen nach freundschaftlichem, wen» anch unverdienten Trinkgeld,
ZU uns herau. Aus dem Wachthanse zur Linke» näherte sich uus ein ganzer Haufe
von Soldaten mit gleichen Rechten, Geberden und Wünschen. Die Leute von
Rechts und Links waren Russen.
Ich ließ nach Brauch aus meiner Hand auf dieser Seite, mein Gefährte aus
der seinigen auf der anderen Seite ein kleines Geldstück fallen; hier und dort
waren die Russen befriedigt, sie verbeugten sich tief und ließen uns fahren. Eine
lange Strecke hin begleiteten uns zu beide» Seite» kleine Hütten, auf deren
Schwellen »ackte Knaben, das Haupt mit Sammetkäppchen bedeckt, spielten, und
große Haufen von Juden sperrten allenthalben die Straße, um unserem Fuhrmann
einige Metzen Hafer oder einige Bunde Hen aufzunöthige».
Die Firmen der langen Electoralstraße, deren meiste mich an irgend einen
Bekannten im Vaterlande erinnerten, machten mich aufmerksam aus ein drittes
Element der Warschauer Gesellschaft. Die Deutschen bilden dies.
Die Electoralstraße hinter uns, befanden wir uns auf dem Platze der Bank.
Ihr gegenüber liegt das Palais der Fürsten Zamoiski. Aber man sah es dem
Gebäude wohl an, daß seit langer Zeit kein Zamoiski in ihm gewohnt hatte.
Gellende Hammerschläge verkündeten, daß im Erdgeschoß Kupferschmiede ihre Werk¬
stätte aufgeschlagen hatten, und lappcnhafte Vorhänge in den Gestock«"' bezeugten
den Wechsel, welchen hier die glänzenden Tummelstätten der pvlnisuM Magnaten
hatten erleiden müssen. Weiterfahrend zogen ähnliche Paläste mein Auge auf sich.
Sie waren öde und ihre Fensterscheiben zum Theil ausgefallen, und ähnliche Pa¬
läste und Häuser, welche von ihren Besitzern bewohnt waren, waren so düsterer
Miene, so ungeputzt und in ihrem Innern so hohl, still und traurig, wie sie es,
nach tausend noch vorhandenen Zeichen zu urtheilen, früher nicht gewesen waren.
Ich brauchte nicht erst zu fragen, um zu erfahren, daß diese Häuser Polen gehörten.
Dieselben vier Elemente besaß die Warschauer Volksgesellschaft schon vor den
Jahren 1830 und 183l. Allein das Verhältniß, in welchem sie zu einander standen,
war ein anderes. Das polnische war vorherrschend, es war das Kernelement,
an welches sich die übrigen anschlössen, wie Feuer, Luft und Wasser an die Erde.
Das Verhältniß war ein natürliches, da die Eingeborenen, die Ureinwohner, den
Stamm bildeten. Die Natürlichkeit des Verhältnisses machte, daß alle übrigen
Theile der Gesellschaft sich willig, innig und fest an sie anschlössen, gleich wie
Zweige an den Stamm. Die Gefühle der verschiedenen Theile waren sich ver¬
wandt geworden. Das Streben wurde gemeinsam. Ein wundersames Gedeihen
schien allem inne zu wohnen, was jene Periode für die Gesellschaft hervorbrachte.
Das Schulwesen gewann einen so hohen Grad der Gediegenheit, als es ihn in
Polen bis dahin niemals erreicht gehabt hatte. Es bildete sich eine Gesellschaft
von Freunden der Wissenschaften, Vereine von Technikern, Künstlern ?c, traten
in das Leben, gewannen Größe und mächtigen Einfluß aus den Geist der Bevöl¬
kerung. In diesen Vereinen und Gesellschaften zeigte sich keine Sonderung irgend
eines ihrer elementarischen Theile, eben so wenig eines Standes. Die Theilnahme
war eine allgemeine. In der „königlichen Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften"
saßen Generäle neben schlichten Gewerbsleuten, Grafen neben armen Bürgern; ja
selbst die jüdische Bevölkerung war nicht ausgeschlossen von der Theilnahme an
diesem und jenem Vereine. Allenthalben bildeten die Polen das Grundelement.
Selbst die Russen, in geringer Zahl vorhanden, folgten dem Strome des
allgemeinen Dranges. Entweder ging ihnen ans gefunden Gefühl Achtung vor
der Natürlichkeit des Verhältnisses hervor, oder sie fühlten sich uuter der Corset-
ludion, welche der Wiener Kongreß dem Königreich gegeben hatte, unfähig eine
andere, als eine secundäre Stellung in Anspruch zu nehmen. Die willkürlichen
Eingriffe des Großfürsten Constantin in den rechtlichen Gang des Staatswesens
brachten keine Hemmung in der Entwicklung des gesellschaftlichen Zustandes hervor,
denn sie trugen alle das Gepräge seiner Individualität, reichten nicht weit und
wurden kaum außerhalb der politischen Sphäre gefühlt. Heiterer als je war das
Leben, gleichwohl veredelte sich die Sittlichkeit. Die Polen waren bessere Bürger,
die Deutschen mehr als Spekulanten, die Juden Besseres als Schacherer, die
Russen weniger geworden, als zu sein sie sich vielleicht im Jahre 18l4 berechtigt
gewähnt haben mochten. Wer zu Warschau in jener Periode gelebt, bezeugt, daß
damals eine zum schönsten Glück entwickelte Volksgesellschaft bestanden habe, und
Zeuge dessen ist selbst die damalige Warschauer Literatur. Sie hatte einen außer¬
ordentlichen Aufschwung gewonnen. Wie hätte es anders sein können? Die Freund¬
lichkeit des Lebens hatte alle geistigen Kräfte geweckt, und ihnen entsprangen un-
zähliche Schöpfungen, welche als Monumente nicht blos darauf hindeuten, wessen
die Vergangenheit schon fähig geworden, sondern auch, wessen die Zukunft bei
gleicher Fortentwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse noch fähig werden konnte.
Das natürliche Verhältniß der gesellschaftlichen Elemente zu einander war der
Urquell des gesellschaftlichen Glückes, aber dieses Verhältniß änderte sich gänzlich
durch den unglücklichen Ausgang der polnischen Revolution im Jahre 1831, durch
welchen Polen der Willkür des Czaren anheimfiel, seiner Konstitution verlustig
ging und das Recht verlor, ein Besitzthum seiner Eingebornen zu sein. Von da
ab übernahmen die Russen die Rolle, welche vor der Revolution die Polen gespielt
hatten. Jede Annäherung an sie erinnert die Polen schmerzlich an den Verlust
ihrer Rechte. Darum weichen sie lieber zurück und entzögen sich gern ganz der
öffentlichen Gesellschaft. In gleichem Maße aber drängen sich die Russen von den
Polen ab. Doch fühlend, daß sich darin gerade die Ungerechtigkeit des Besitz-
thums ihrer gesellschaftlichen Rechte bekunde, bäumen sie sich in isolirter Stellung
desto höher auf, um ihren Rechten einen Schein der Gerechtigkeit zu verleihen,
wobei sich aber ihre natürliche Verlegenheit anf vielfache unvermeidliche Weise
sichtbar macht.
So finden sich schon die beiden wichtigsten Elemente der Warschauer Gesell¬
schaft von einander getrennt. Jede ihrer Berührungen ist fugaler Natur. Drängt
die Nothwendigkeit sie aneinander, so weichen sie von einander desto weiter zurück,
so bald die Nothwendigkeit verschwunden ist. Das eine Element ist voll von fal¬
schem Streben, das andere ohne Streben, das eine wirkt verderblich für die Ge¬
sellschaft, das andere gar nicht. Die Gemeinsamkeit ist durch die widernatürliche
Stellung beider Elemente verhindert. Schlösser sich nun auch der dritte und vierte
Hauptbestandtheil der Warschauer Gesellschaft den Russen als dem Stamm noch
eng an, so würde jener Spalt nicht auszufüllen und das aus ihm hervorgehende
Uebel nicht zu verhindern sein. Aber wie wäre das möglich? Der Pole in seiner
Zurückgezogenheit weist den Juden von sich ab, der Russe sucht ihn darin zu über¬
bieten. Der Jude soll der rechtlose Diener, ein Wesen sein, welches man benutzt,
um sich gnädig und als Herr zu zeigen. Allein der Jude fühlt sich zu eiuer etwas
besseren Rolle berechtigt. Seine Reichthümer und die Zahl, in welcher er sich am
Orte befindet, sagen ihm, daß er nicht gerade unter den Schuhsohlen irgend Je¬
mandes zu liegen und kriechen brauche. Es drängt ihn, sich mit senkrechter Stirn
neben Jemandem zu stellen. Aber neben wen? weder hier noch dort ist der An¬
schluß möglich. Auch der Deutsche hat seiue feste Stellung verloren und sucht
einen Anhaltepunkt. Zweifelnd steht er zwischen dem Polen und Russen. Das
sittliche Gefühl zieht ihn an diesen, dem er als den Ureinwohner und Eigenthümer
des Landes in dem Herzen das Recht, den Stamm der Gesellschaft zu bilden, zu¬
erkennt. Allein der Pole, im Jammer um seinen Verlust, hat eine Stellung ein¬
genommen, die jedes gesellschaftliche Ansinnen zurückweist. So bleibt ihm nnr
der Anschluß an den Russen. Gleich diesem weist er den Juden von sich ab, als
der Russe, um vor diesem seine Würde nicht zu schmälern. Ans solche Weise ist
der Jude so isolirt als der Pole, nur mit dem Unterschiede, daß er sich nicht
seines freien Willens rühmen kann wie Jener. Die Gesellschaft bilden in War¬
schau zum Theil aber nur noch die Fremdlinge, die Deutschen und Russen, und
zwar in einer Weise, wie sie eben aus der Unnalmlichkcit der Stellungen hervor¬
gehen kann.
> Lange Zeit nach der Revolution fanden in Warschau gar keine geselligen Zu¬
sammenkünfte statt. Unter dem Schwunge der politischen Knute, stand alles ver¬
dutzt, ängstlich, nicht wissend wie viel es wagen dürfe. Die Polen wußte» natür¬
lich am raschesten woran sie waren. Die Deutschen kamen um spätesten zum Be¬
griff, nämlich erst, nachdem die Russen ihnen manchen Beweis der Zuneigung und
des Vertrauens gegeben hatten. Obschon diese Beweise stets etwas stolzer Art
waren, genehmigte sie der zähe Deutsche doch gern und ließ sich durch sie Lust
und Muth machen, etwas für sein gesellschaftliches Bedürfniß zu wagen. So ent¬
standen die beiden Ressourcen, welche gegenwärtig bestehen.
Die „kleine" enthält mehre Hundert, die „große" oder „kaufmännische" über
tausend Mitglieder. Sie sind die beiden einzigen Gesellschaftszirkel und die bei¬
den einzigen Beweise von Drang zur Geselligkeit in dieser Stadt. Ju ihnen
selbst läßt sich das beste Studium des Warschauer Gesellschaftszustaudes machen.
Ich war in beiden Ressourcen mehr als einmal. Die kleine, im Hotel de Drahte,
ist wöchentlich mehre Male für ihre Mitglieder geöffnet. Am Sonnabend ist der
Besuch vorzüglich stark. Zunächst tritt man in das Garderobezimmer, wo eifrige
Diener sogleich nach Mantel, Hut und Stock, vorzüglich nach dem Stocke greifen
und einem im Nothfalle erklären, daß ein strenges Gesetz, hier den Stock zurück-
zulassen, fordere. Wer fürchtet denn in der Ressource die Klinge so sehr, die
möglicher Weise in diesem oder jenem Stocke verborgen sein könnte?
Man muß in dem Garderobezimmer oder dem nächsten Saale weilen, um die
Gesellschaft kennen zu lernen. Es erscheinen einige Männer von verschiedener Ge¬
stalt. Ihr Benehmen ist selbst vor den Garderobedienern mehr als herablassend,
fast demüthig. Sie fragen flüsternd, ob Der oder Jener schon da sei. Das Auf¬
fallendste in ihren Fragen sind die russischen Namen. Man erkundigt sich, wer
die drei Herren sind: „der Lohgerbermeister Nitzschke, der Seilermeister Arndt und
der Bergrath Lampe." Ganz hübsch, wenn die Stände keine Spaltung macheu.
Sie treten in den ersten Saal, schreiten vor bis ans den Punkt, wo sie mehre
Säle durchblicken können, halten eine schüchterne Beobachtung, und ziehen sich
nach dieser oder nach jener Seite, um sich in einem Winkel niederzulassen und die
Karte oder das Bierglas zu ergreifen.
Bald darauf erscheint ein magerer grauköpfiger Herr, der trotz der strengen
Winterkälte eiuen Frack trägt und den dünnen Hals in einem ungeheuren weißen
Halstuche verbirgt. Seine ganze Miene ist von Aristokratie erfüllr; gleichwohl
steht man ihm in jeder Bewegung seines eckigen Wesens den demüthigen Deutschen
an. Er scheint ein Künstler oder ein Narr zu sein. Wer ist er? Der Gesellschasts-
cassirer Minder, der als Maler in Deutschland uicht das Brot sür sein kleines
Leben gewinnen konnte, als Fabrikant in Warschau aber, und zwar durch die En¬
terprisen beim Festungsbau, ein Millionär geworden ist.
Endlich erblickt man Uniformen. Die Namen sind russisch. Die Leute dieser
Gattung scheinen sich schon dnrch ein späteres Erscheinen auszeichnen zu wollen.
Sie schreiten hoher Stirn dnrch alle Säle, grüßen mit einer gewissen Freundlich¬
keit nach allen Seiten hin, und die Deutschen, welche bereits Platz genommen
hatten, erheben sich so hoch als möglich, um sich desto tiefer beugen zu können.
Die Dreistigkeit, mit welcher sich die Russen hier bewegen, die Schüchternheit, in
welcher sich die Deutschen zeigen, die Freundlichkeit jener, die Verlegenheit dieser,
gibt sogleich Aufschluß über das Verhältniß, in welchem sich diese beiden Gesell¬
schaften zu einander befinden. Weder der Russe noch der Deutsche vermag sich
als ein Warschauer Bürger zu fühlen. Der Russe ist auch hier der Eroberer von
Warschau, der Deutsche auch hier der Mann, dem es gnädigst erlaubt worden ist,
w Warschau eine Speculation zu machen. Still wie Schatten sitzen die Deutschen
in diesem Zimmer beim Spieltisch, in jenem vor den Zeitungen, die durch die
Censur zerfetzt und verschmiert sind, im dritten vor dem vollen Teller. Kaum
erlauben sie sich eine andere als flüsternde Unterhaltung. Dagegen befinden sich
die Russen fortwährend auf den Füßen, ans einem Zimmer in das andere stolzirend,
bald hier herablassend in eine Karte, bald dort auf einen Teller, bald da über die
Schultern auf einen Zeituugsfetzen blickend und bei jeder Gelegenheit so laut wer-
derb als möglich, um die bescheidene Stille der deutschen Gescllschaftsgenossen desto
bemerkbarer zu machen.
Nachdem man das gesammte Personal gemustert, hat man die Kenntniß ge¬
wonnen, daß sich kein Pole darin befinde, von den dreißigtausend Juden der Stadt
ist aber nur ein einziger zu bemerken, und dieser hat das Glück, Mitglied der
Ressource zu sein, dem Zufall zu verdanken, daß der ehemalige GcsellschastSdirector,
Oberst Braun (ein Russe) der in der Ressource Musikexercitien hielt, einen tüch¬
tigen Violinisten brauchte.
Der elende moralische Zustand der Ressource, welche sich rühmt ein Institut
der Bürgerschaft Warschau's zu sein, könnte kaum deutlicher ans ihren Statuten
hervorgehen, die von dem Zwange Kunde geben, welche das russische Gouverne¬
ment dem Gesellschaftswesen im Allgemeinen anthut. Zur Stiftung der Ressource
war die Genehmigung des Gouvernements nöthig, und dies versäumte nicht Vor¬
schriften zu machen, welche als Hinptparagraphen in die Statuten übergehen mu߬
ten. Es genehmigte die republikanische Verfassung, nämlich Wahl und Wechsel
der Directoren, stellte aber die Alternative, entweder polizeiliche Ueberwachung
anzunehmen, oder die Wahl des Directors jedesmal auf einen russischen Beamten
höherer Classe fallen zu lassen. Arme Republik! Man entschied sich für Letzteres
und machte somit dem russischen Theile der Gesellschaft seine höhere Stelle zwei¬
fellos und ewig.
Unter gleichen Verhältnissen befindet sich die „große" Ressource, welche der¬
gestalt mit der kleinen in Verbindung steht, daß die Mitglieder anch ihre Mitglie¬
der sind. Sie hat den Zweck die Festlichkeit anf einem großen Maßstab auszu¬
dehnen, Bälle, Concerte und dergleichen für die Menge zu veranstalten. Wöchent¬
liche Gescllschaftsabende finden in ihr nicht statt, dazu ist lediglich die kleine Ressource
da. Hat man diese gesehen, so kennt man auch die Verhältnisse der großen auf's
Genaueste. In ihr erscheinen selbst die höchsten Potenzen von dem russischen Theile
der Bevölkerung, der Fürst Paskiewitsch, die Generale Galicyn, sah, Nesselrode,
Urosvw und viele andere. Letztere zieht natürlich weniger die Ressource als der
Fürst. Mit ihnen erscheinen als Schatten des Paskiewitsch gewöhnlich auch einige
polnische Große, nämlich der Fürst Jablvnowski, einer der Grasen Potocki, Za-
jonczek und Rzewuski. Mau würde sich irren, wollte man diese Herren für die
Vertreter des polnischen Theils der Warschauer Gesellschaft halten. Sie sind längst
keine Polen mehr, und die Polen schämen sich ihrer bei dem Gedanken, daß sie
mit diesen Herren, wenn anch nichts weiter, doch die Abkunft gemeinsam haben.
Der Fürst Paskiewitsch pflegt bei den Festen der großen Ressource in seiner ge¬
wöhnlichen Uniform zu erscheinen , während er am Geburtstage des kleinsten kai¬
serlichen Prinzen und der kleinsten Prinzessin seine Staatsuniform anlegt. Das
ist völlig russisch. Wie genug er aber auch diese bürgerliche Gesellschaft achte, so
hält er es doch für recht, sich so herablassend als möglich zu beweisen und vorzüg-
lich gegenüber den hübschen Damen. Leider sind diese guten deutschen Frauen un¬
ter Warschau's unnatürliche Gesellschaftsverhältnissen so schwacher Seele geworden,
daß sie die weibliche Souveränität, auf welche selbst die niedrigste Bettlerin einen
schönen Stolz zu begründen berechtigt ist, gänzlich vergessen. Sie buhlen förmlich
um einen Tanz mit dem Fürsten, und fühlen sich durch denselben bis zur — um
mich so auszudrücken — tiefsten Hingebung beglückt. Solche Schätzung des poli¬
tische» Ranges war vor 1830 in keinem geselligen Vereine der Warschauer Bür¬
gerschaft zu finden. Man achtete damals den Fürsten und Grafen für ein eben
solches Mitglied des Vereins als den Gerber und Geigenmachcr. — Unnatür¬
lichen Grunde entwachsen unnatürliche Gestalten.
Wie sehr sich nun aber auch Madame Eichstädt und andere deutsche Schöne
durch den Arm des huldreichen fürstlichen Tänzers beglückt fühlen mögen, so ist
doch die Stimmung des großen, d. h. des deutschen, man kann auch sagen des
bürgerlichen Theils der Gesellschaft, entsetzlich gedrückt, schwerfällig, düster. Die
deutschen Herren überlassen es den Russen und den dreisteren Jünglinge», mit
ihren Fraue» sich im Tanz zu vergnügen. Sie selbst suche» die Mittel und
weichen den Herren von der ersten Rolle, wie freundlich diese sich anch beweisen
mögen, nach Möglichkeit aus. Die Nebenzimmer gewähren ihnen ein Asyl. Aber
auch hier ist noch nicht der Ort, wo sich das Herz frei, wohl und heiter fühlen
könnte. Die Zunge muß mit allen Sinnen bewacht werden, damit sie nicht ein
gefährliches Wort ausspreche, und das Auge hat mit äußerster Sorgfalt Jeden zu
Prüfen, der sich nähert, um ein Gespräch anzuknüpfen. Man würde sich sehr täu¬
schen, zu meinen, daß man hier, mitten unter Russen, freier und von den gefähr¬
lichen Wächtern der politischen Meinung, welche Warschau bis in seine letzten
Winkel durchwühlen, weniger beobachtet sei. Auch der Generalpvlizeiminister tanzt,
und wo dieser sich befindet, da wimmelt es von seinen geheimen Agenten. Die
geringste mißfällige Aeußerung über den Fürsten oder sonst einen der anwesenden
großen Russen ist für sie ein Fund. Wagt sich die Meinung auf das politische
Gebiet, ja vielleicht in dessen höhere Regionen, so wird sie desto gefährlicher. Die
geheimen Agenten des Polizeiministers besitzen aber ein außerordentliches Talent,
die Meinungen herauszulocken, und da diese in der That für die russische Partei
nicht oft günstig sein können, der ehrliche Deutsche aber im Heucheln keine Riesen¬
kraft besitzt, so geschieht es nicht selten, daß der gute Mann, welcher die Res¬
source zu seiner Freude und Erholung besuchte, des andern Tags auf das Polizei¬
bureau gefordert wird.
Daraus ist zu ersehen, daß die russischen Ressvnrcenmitglieder keine Spur
von Bürgergefühl auf deu Ballsaal mitbringen. Sie empfinden auch hier keine
andere, als eine politische Bedeutung, und kaum mag es diesen Fremdlingen anders
möglich sein. Das schöne Gefühl des unbefangenen Bürgers, welches allein die
Gesellschaft erquickend macht, kann ihnen hier auf einen fremden Boden, in einer
usurpirteu Rolle, unter den Schlägen des nicht ganz erstickten Gewissens und in
der Furcht vor politischen Gefahren nicht irre machen. Desto schlimmer aber, daß
sie unter solchen Verhältnissen die „Hauptrolle in der Gesellschaft spielen." Wenn
ein gewisser Professor Tryglawski behauptet, daß in dem gegenwärtigen Warschau
ein gesellschaftlicher Bürgerverein unmöglich sei, ohne ein gefährliches politisches
Institut zu sein, so hat er vollkommen recht. Die Ursache davon liegt aber darin,
daß die die Gesellschaft beherrschenden Russen in Warschau eine audere als eine
politische Bedeutung in sich zu verspüren nicht im Stande sind.
Doch die Ressourcensäle sind nicht die einzigen Schauplätze des Warschauer
Gesellschaftslebens. Auch die öffentlichen Wirthschaften, die Kaffee- und Gast¬
häuser, die Weinkeller und ländlichen Vergnügungsorte gehören zu ihnen. Und
fast sind sie für den Beobachter noch wichtiger, da in ihnen von Statuten nicht
die Rede ist, und das Publikum ganz seinem Willen und innern Drange folgen
kann. Warschau besitzt eine entsetzliche Menge öffentlicher Wirthschaften. Sie
laufen parallel mit der Stufenfolge der Stände, verdienen auf der einen Seite
wegen ihrer Eleganz gerühmt, auf der anderen wegen ihrer Erbärmlichkeit ver¬
wünscht zu werden. Diese schlechten öffentlichen Wirthschaften, welche natürlich
nnr von der niedrigsten Classe der Einwohnerschaft besucht werde», würdige ich
hier der Erwähnung nicht.
In deu öffentlichen Wirthschaften sind es natürlich nicht blos die Russen und
Deutschen, welche die Gesellschaft bilden. Hier nehmen die Polen den meisten
Raum el». Die Russen aber, um mit den Polen nicht in Berührung und Rang¬
st'eit zu gerathen, halten sich zurück. ES ist selten, daß sich ein Russe von
Stande in eine öffentliche Wirthschaft verläuft. Nur da, wo seiue erste Rolle
außer Gefahr ist, befindet er sich wohl. Dagegen machen die Deutschen einen
sehr großen Theil der Gesellschaft der öffentlichen Wirthschaften aus. Hier nähert
sich das Verhältniß dem früheren natürliche» Zustande, der deutsche Gast nähert
sich freundlich dem Polen, und der Pole zeigt ihm schon in der ersten Begrüßung,
daß die Behauptung, er sei ein Feind der Deutschen, der Wahrheit ermangele.
Per Pole verwechselt den Schauplatz des politischen Lebens nie mit dem Schau¬
platze des bürgerlichen. Dort ist er Pole, hier Bürger, und wie er dort von
ganzem Herzen Pole ist, so wäre er anch hier von ganzem Herzen Bürger und
Freund jedes Gesellschaftstheilnehmers, wenn nicht von anderer Seite dem Aus¬
fluß seiner Gefühle ein gewisses Hinderniß entgegen gestellt wäre. Der Pole, in
politischem Leben der eingefleischte Aristokrat, ist hier in der bürgerlichen Gesell¬
schaft der vollkommenste Republikaner. Niemals gibt sich an ihm ein Drang
kund, die hervorragende, Ton angehende Rolle zu spielen, zu der er als der
Einheimische berechtigt ist, gleichwohl spielt er diese Rolle, doch ohne es zu wissen.
Der Deutsche drängt sie ihm in seinem natürlichen Gefühl für's Recht auf, und
desto lieber, da er sie an ihm »icht so »»angenehm, wie an dem Russen, ja gar
nicht gewahr wird. Deutsche und Polen, die sich zum ersten Male sehen, leben
sich im öffentlichen Gesellschaftshause oft so in und an einander, daß man der
Meinung wird, sie müssen Leute ein und derselben Nation und alte Freunde sein.
Der Pole besitzt Schroffheit und etwas Abstoßendes, dies aber verschwindet von
ihm gänzlich, sobald er auf den Schauplatz der Gesellschaft tritt. Hier ist er
Freund ohne Rücksicht, und will er den Stolz eines gewissen Vorrangs genießen,
so thut er das, indem er seine Freundschaft bis zur gewaltsamsten und eigensin¬
nigsten Aufopferung erweitert. Der Schade, den seine Börse dadurch nimmt,
kümmert ihn wenig.
Schreitet man durch die öffentlichen Gesellschaftshäuscr, so wird man der
Meinung, Polen und Deutsche leben in der schönsten Verbindung. Allein man
hat eigentlich nur den natürlichen Drang beider zu einander wahrgenommen und
sich getäuscht. Eine wirkliche Verbindung, wie sie vor der Revolution statt gesun¬
den, ist jetzt nicht vorhanden. Eine gewisse Scheu bewirkt einen Spalt zwischen
beiden, welcher eine wahre und erquickende Vertraulichkeit verhindert. ES ist
dies nicht die Scheu beider vor einander, sondern die Schen vor den Russen.
Ueberall in Warschau schweben sie als Gespenst, auch da, wo von ihnen nichts
wirklich zu erblicken ist. Indem sich der Deutsche dem Polen freundlich nähert,
tritt der Gedanke, sich dadurch vor der russischen Partei zu compromittiren, als
beängstigendes Gespenst vor ihn hin. Er saßt Muth, schlägt dem Gespenst in's
Gesicht und reicht dem Polen freundlich die Hand; aber das Herz hat einen
Druck erlitten, ist nicht mehr gesund und frei und die Gesellschaft gewährt ihm
keinen Genuß mehr. Aehnlich umgekehrt. Man schließt sich an einander an,
aber der Anschluß ist nicht unbefangen. Wo die Gesellschaft gemischter ist, wo
«und Nüssen einen Theil ausmachen, da verändert sich das Verhältniß ganz, da
Ziehen sich die Polen zurück und bilden eine Gesellschaft für sich, aber eine sehr
stille, mißvergnügte, düstere. Sie weisen jede Annäherung mit finsterem Stolze
zurück. In ähnlicher Weise sondern sich auch die Deutschen, und währeud sie
hier keinen geselligen Verkehr wagen, um sich nicht politisch zu compromittiren,
vermeiden sie ihn dort, um nicht das Unangenehme einer untergeordneten Stel¬
lung zu empfinden. Die Russen pflegen dann die große Rolle auf eigene
H""d zu spielen, sich von fern aufzublähen und Lärm nach Herzenslust zu
wachen. In Folge dessen pflegt sich aber das Local schnell zu entvölkern. Die
P"im gehen, die Deutschen folgen zum Theil: und die Männer der großen Rolle
haben nun das Vergnügen, nicht mehr in warschanischcr, sondern rein russischer
Gesellschaft zu sei», in welcher natürlich ihre Rolle nicht mehr gilt.
Das unangenehme Gefühl, geflohen zu werden, ist die Ursache, daß die
Russen offene Gesellschaftsvrte meiden. Nur in den Gesellschastsgärten finden sie
sich bisweilen zahlreich ein. Doch wie überall verderben oder vernichten sie auch^"»
hier sogleich nicht blos den guten Geist, sondern die Gesellschaft selbst. Die
Wirthe fürchten sie als Unheilbringer. Ein gewisser Nanpaczewski, der ein rei¬
zendes Gartenetablissement errichtet hatte und durch den zahlreichen Zuspruch des
deutscheu und polnischen Publikums ein bedeutendes Vermögen gewann, ging zu
Grunde, als sich ein Theil des russischen StabSofsiziercorps bei ihm heimisch
machte. Deutsche und polnische Gäste verschwanden und der unglückliche Unter¬
nehmer schlang sich eine Schleife um den Hals, um sein verlorenes Vermögen
nicht allzu lange bejammern zu müssen.
Der gesellige Umgang der Polen und Deutschen hat an einigen Orten trotz
der Störung, welche die allenthalben heimischen Spione verursachen, eine Freund¬
lichkeit gewonnen, die kaum etwas zu wünschen übrig läßt. Vorzugsweise ist dies
der Fall in dem Gesellschaftshause von Krassow. Eine Bibliothek steht den Gästen
zur Disposition, und verschiedene Einrichtungen sind getroffen, welche den Unter¬
haltungen denjenigen Stoss aufdringen, der den Gästen ihre politische Stellung
vergessen läßt. Man könnte dieses Gesellschaftshaus ein literarisches und künst¬
lerisches nennen. Dem Wirthe ist der Ruhm zuzusprechen, diejenigen Mittel
gefunden zu haben, welche die gesellschaftlichen Mißverhältnisse unbemerkbar machen
und dem Gaste ein in Warschau seltenes Wohlbefinden bereiten. Hier sind anch
die Juden, allerdings nur die gebildete», Theilhaber der Gesellschaft.
Warschau besitzt zwei herrliche Volksgarten. Der eine ist ein altes Geschenk
der berühmten Grafen Krasinski und liegt in der nördlichen Hälfte der Stadt.
Der andere ungleich größere, welcher in der anderen Hälfte liegt, ist ein Werk
der Könige aus dem sächsischen Hause, weshalb er der sächsische Garten genannt
wird. Herrliche Alleen und überdeckte Schlangenwege ziehen und winden sich nach
dem besten Plane dnrch einander. Riesige Bänme von allen Gattungen beschat¬
ten die breiten Wege und Nascnpläue, hier und dort würzt ein Wäldchen von
blühenden Gesträuchen die Luft mit angenehmen Gerüchen. Zahlreiche Statuen,
Lauben, Brunnen und Obstpflanzungen machen die Parthien vielfältiger. Genug,
diese Gärten sind das Reizendste, was der Freund ambulanter Erholung sich
wünschen kann. Und darum erfreut sich ihrer auch das gesammte Publikum der
Stadt, mit Ausnahme der Juden. Diesen ist es nicht gestattet, die beiden schö¬
nen Volksgarten zu besuchen, es sei den», daß sie in einer anderen als jüdische»
Tracht erschienen, oder daß sie mit einem kaiserlichen Orden geschmückt sind, dann
werden sie trotz der rauchsten Zobelmützen und längsten Kaftane als Ausnahmen
betrachtet und dürfen hier mitten unter den russischen Herren Generalen, Oberste»
und Staatsräthen lustwandeln.
Die Juden ausgenommen, findet sich in den beiden Gärten das gesammte
Publikum der Stadt ein; allein auch hier kommt keine Mischung zu Stande, welche
an eine allgemeine Gesellschaft glauben ließe. Die Parteien meiden sich und wähle»
verschiedene Zeiten. An russischen Feiertagen erblickt man nie einen Polen von
Stande hier, dagegen sind alle Gänge von Russen erfüllt. Wenige Deutsche mischen
sich unter, nur diejenigen, welche aus der Gunst der russischen Partei materielle
Vortheile zu ziehen Gelegenheit haben. Man findet allenthalben, daß die Deut¬
schen, wo sie ihren freien Willen folgen können, sich lieber den Polen beigesellen.
Die Russen, meist in Aemtern stehend, können nicht zu jeder Zeit ihrem Vergnü¬
gen dienen. Dies benutzen die Polen so, daß sie sich in Wochentagen bald nach
der Mittagszeit in den beiden Gärten einfinden, mit ihnen zugleich ein großer
Theil des deutschen Publikums. Die Gesellschaft wimmelt jetzt ziemlich fröhlich
unter einander. Man sieht heitere Gesichter. Man hört scherzhaft grüßende Zu¬
rufe, Eins kennt das Andere nicht, aber man ist nicht von dem schlimmsten Mi߬
trauen erfüllt und sieht alles mit Wohlwollen an. Zwei Personen bleiben stehen,
um sich etwas mitzutheilen: sogleich bildet sich eine Gruppe, aus welcher sowohl
die deutsche als polnische Sprache hervortönt. Die Personen dieser Gruppe haben
sich nie gesehen, allein jetzt sind sie alle untereinander befreundet, die Gruppe
verwandelt sich sogleich in eine Gesellschaft, welche durch freundliche Unterhaltung
lange zusammengehalten wird.
Nadel die sechste Stunde, der Schluß der Amtszeit, so beginnen die beiden
Gärten sich zu entvölkern, und schlägt es sechs, so sieht man sicherlich in ihnen
nichts weiter als einige kranke Personen und Kindermädchen mit ihren kleinen
Heerden. Alsbald aber findet sich ein neues Publikum ein. Es siud Herren in
schwarzen Franken mit Ordensbändern in den Knopflöchern, ferner in stolzen Osfi-
zieruniformen und Damen mit gelblichen Gesichtern in rauschendem Atlas mit
Petersburger Fächern und Medaillons, ans welchen die Madonna der griechischen
Kirche hervorblickt. Alles, was man jetzt steht, brüstet sich entsetzlich und zeigt
sich gewaltsam eingespannt in die steifste Form. Frontreihen, die durch die ver¬
schlungenen Aerme zusammengehalten sind, erblickt man nirgends, wie vor sechs
Uhr. In gemessenem Schritt schreitet alles ans und nieder in der breiten, von
hohen Kastanien beschatteten Hauptallee. In die schmäleren Seitenwege, welche
durch die reizendsten Anlagen führen, begibt sich Niemand. Es scheint, als halte
eine Art von Stolz ab, die schmäleren Wege zu betreten. Die meisten Personen
sieht man ganz allein auf und niederschreiteu. Oefters gehen zwei Herren mit
einander, drei aber scheint schon über das Maß der Etiquette zu gehen. Die
Damen wandeln am Arme ihrer Eheherrn. Aber niemals erblickt man einen
Herrn von mehrern Damen begleitet, niemals mehrere Damen allein, und begleitet
ein Herr ein Ehepaar, so befindet er sich streng auf der männlichen Seite. Dieses
Publikum ist, wie einem schon die französische Sprache mit russischem Accent tuud-
thut, das russische. Es befindet sich jetzt allein in den Gärten. Mau bemerkt,
daß das Bewußtsein, der größten Nation anzugehören, zu der Meinung geführt
habe, ,nan müsse anch den vornehmsten großartigsten Sittentact beobachten. Diese
Meinung bringt die lächerlichsten Erscheinungen hervor. Zugleich aber bemerkt
*
man, daß auch selbst von einer russischen Gesellschaft die Rede nicht sein kann.
Die russischen vierzehn Rangklassen zerreißen das russische Publikum in Warschau,
wie in Petersburg, bis in seine einzelnsten Theile. Dem Manne von der dritten
Klasse darf der der vierten nicht von der Seite nahen; folgen kann er ihm. Der
Mann von der sechsten Klasse stößt energisch durch seine hohe Stirn und Nase
alles von oder hinter sich, was den acht tieferen Rangklassen angehört, die den
Adel nicht verleihen. Die Orden haben weniger Einfluß, weil sie zu häufig sind.
Die breiteste Brust voll Orden wird mit der Frage ignorirt: „in welcher Klasse
steht er?" Alles was deu tieferen Klassen angehört, darf nur folgen, niemals
zur Seite gehn. Das ist ein russischer Tact, der vom Fürsten bis zum Unter¬
offizier, dem Manne der vierzehnten Klasse, hinab beobachtet wird. Der gemeine
Soldat gehört keiner Klasse an, wird also eigentlich nicht zum Menschengeschlecht
oder zum Volke gerechnet. Ob der Bürger-, besonders der Gcwerksstand einer
Klasse zugezählt ist, habe ich leider nicht erkundet, die Kaufmannschaft, in drei
Gilden getheilt, gehört aber allerdings einigen der niedrigsten Rangklassen an und
darf daher ihren Stolz haben. Das Klassenwesen ist nach militärischem Maßstabe
eingerichtet und verleiht militärische Titel. So gehört z. B. der Chef eines Ge-
richtsdepartemeuts, einer Censurabtheilung oder eines Paßbureaus der sechsten
Klasse, der der Regimentsvbcrstcn an, wird dnrch diese Klasse adlig und erfreut
sich des Titels Pulkownik (Oberst), obschon sein Ohr nicht einmal den Knall einer
Flinte vertragen kann nud seine Hand sich kaum an ein ungewöhnlich großes
Messer wagen mag. Diese militärisirenden Rangklassen geben bei den Civilbeam¬
teten zu manchen lächerlichen Erscheinungen Anlaß, welche nur den Nüssen nicht
auffällig sind.
Warschau besitzt vier Theater, die Stadt für sich zwei, das kaiserliche Lust¬
schloß Lazienki ein offenes im Freien, nach altrömischen Styl erbaut und Amphi¬
theater genannt, das Schloß des verstorbenen Großfürsten Konstantin (Belvedere)
ebenfalls eins. Dieses, in welchem seltsamer Weise der weiße polnische Adler auch nach
der Revolution seinen Sitz behalten hat, war nur für geschlossene Zirkel der vor¬
nehmsten Herrschaften geöffnet und diente bisweilen den höchsten Herren und Damen
dazu, ihr schauspielerisches Talent zu prüfen. Allein dies war nur vor der Re¬
volution der Fall und bietet den Beweis, daß in jener Zeit die freundlichste, un¬
befangenste Geselligkeit bis in die höchsten Regionen gedrungen war. Die neue
Zeit mit ihren neuen Verhältnissen hat dieses kleine aber außerordentlich reizende
schöne Theater in eine Oede verwandelt. Das Amphitheater beim Lustschloß La-
zienki dient dem allgemeinen Publikum an gewissen Tagen, welche der Fürst PaS-
kiewitsch bestimmt und an russischen Gallatagen, deren es nur zu viele gibt. Denn
die Geburth- und Namens-, Krönungs-, Heiraths- und sonstigen Glückstage irgend
welcher Glieder der kaiserlicher Familie werden auf das strengste auch in Warschau
gefeiert. Diese Festlichkeiten, welche stets in und beim Lustschloß Lazieuki, der
herrlichen Schöpfung des Königs Stanislaus August, stattfinden, bieten des Un¬
gewöhnlichen nud Interessanten zu viel, als daß sich ihre Schilderung in dieses
Kapitel aufnehmen ließe.
Die beiden städtischen Theater befinden sich mitten in der Stadt dem Rath¬
haus gegenüber in einem riesenhaften Hause, welches die ganze eine Seite des
Marktplatzes einnimmt, und sind allabendlich abwechselnngsweise, nur des Sonntags
beide zugleich, geöffnet. Das „große Theater," besonders für Drama, Oper und
Ballet bestimmt, saßt gegen 6000 Menschen, das „kleine Theater," ans welchem
fast nur Lustspiele gegeben werden, kann über zweitausend Personen aufnehmen.
Der Grund zu diesen beiden Theatern wurde vor der Revolution gelegt, die neue
Negierung aber hat sie errichtet und somit bewiesen, daß ihr selbst vier Millionen
Rubel, welche Bau und Einrichtung gekostet, nichts sind geaen eine Anstalt, welche
die politistrendcn Polen zerstreut. Die Bühne erfreut sich eines vorzüglichen
Künstlerpersonals. Der Pole besitzt viel darstellendes Talent und gleicht darin
völlig dem Franzosen. Er ist beweglich, unter allen Nuancen leidenschaftlich, ver¬
steht es, sich in fremde Ideen und Gefühle zu versetzen, ist stets überzeugt, richtig
aufgefaßt zu haben und Gutes zu leisten, und gewinnt dadurch die an Arroganz
grenzende Dreistigkeit, welche Wesentliches zu einer guten dramatischen Darstellung
mitwirkt. Die Tüchtigkeit der Schauspieler macht, daß das Theater eine Ver-
sammlnngsstätte aller Theile der Warschauer Bevölkerung ist. Allein auch hier
hat man bald die Erfahrung zu machen, daß das bürgerliche Vergnügen durch
die politische Hauptrolle der Russe» verdorben werde und das Theater nicht ein
bürgerliches Gesellschaftshaus, sondern eine politische Anstalt sei. Niemanden küm¬
mert es, daß eine russische Offizierwache um Innern auf und abspaziert und sich
eine starke Wache von gemeinen russischen Soldaten außerhalb in den Gängen
allaugenblicklich vernehmen läßt, es kümmert auch Niemanden, daß die vorderen
Räume des Parquet ausschließlich den Russen eingeräumt werden. Allein die Art
und Weise, nach welcher der Director der Theater, welcher allemal ein russischer
General ist, und die Censur die besten Stücke umarbeiten und zum Theil in rus¬
sische Huldigungspoesien verwandeln, desgleichen die Art und Weise, mit welcher
die angemaßten gesellschaftlichen Vorrechte der Russen unter den Schutz ihrer poli¬
tischen Vorrechte gestellt worden, verderben den Genuß in hohem Grade. Die
Beifalls- und Mißfallsäußcrungen stehen unter russischen Gesetzen. Gewissen
Künstlern, welche sich die Ungunst des Fürsten, des General-Theaterdirectors,
des General-Polizeimeisters oder eines andern der ersten Personen zugezogen ha¬
ben, darf kein Beifall gespendet werden. Fünfzig bis sechzig geheime politische
Agenten sind hier förmlich dazu angestellt, die ans russischer Seite ungewünschten
Freudenäußerungen des Publikums durch Gezisch und Pfeifen zu unterdrücken.
Auf diese Weise wird ein fortwährender störender, über alle Maßen ekelhafter
Kampf veranlaßt. Eben so sind die Mißfallsänßerungen des Publikums ganz von
der Zustimmung der obersten Regio» der russischen Gesellschaft abhängig gemacht.
Einer Schauspielerin, welche sich des relativen Glückes erfreut, Maitresse eines
der vornehmsten russische» Männer zu sein, Mißfallen zu zischen, ist, wie Schlechtes
sie anch leiste, sehr gefährlich. Es ist vorgekommen, daß man sich so weit der
Scham entschlagen, Verordnungen folgender Art zu veröffentlichen: „Den künstle¬
rischen Leistungen der Schauspielerin, Fräulein Zeichen des Mißfallens zu
Theil werden zu lasse,', ist aufs strengste verboten nud zieht Gefängnißstrafe nach
sich." Eine solche Verordnung von der grellsten Art, die unter der Theater-
direction des jüngst verstorbenen General Rautenstrauch vorkam, hatte zur Folge,
daß eine geraume Zeit hindurch das Theater von dem polnischen, dentschen und
selbst jüdischen Publikum fast gänzlich gemieden wurde.
Es bedarf bei diesen Mittheilungen nicht einmal der Erwähnung der geheimen
politischen Wächter, welche sich aus dem Theater ihre besten Werkstätte gemacht
haben, um zu erkennen, daß auch Thalicus Tempel in Warschau mehr zur Ver-
derbniß der Gesellschaft, als zu ihrer Herstellung und Veredlung dient. Deutsche,
Polen und Juden besuchen das Theater, weil die Leistungen der darstellenden
Künstler, welche sich auch selbst bei dem verdorbcnsten poetische» Werke Achtung
zu verschaffe» wisse», sie ziehen. Aber mit jeder Heimkehr tragen sie einen natür¬
lichen Groll im Herzen fort, der die Aeußerung, „ich möchte lieber gar nicht in
das Theater gehen," zu einer gar nicht seltenen macht.
Die Verschiedenheit der Schauplätze ändert natürlich die gesellschaftlichen Ver¬
hältnisse. Es kommt immer auf deu Antheil der Nüssen an. Je näher und ma߬
gebender ihre Betheiligung, desto politischer und unangenehmer ist die Gesellschaft,
je geringer ihr Antheil, desto mehr gewinnt sie an Bürgerlichkeit. Letzteres ist
vornehmlich bei einigen Volksfesten sichtbar, darunter das zur Feier des heiligen
Johannes als das hübscheste ein wenig umständlicher erwähnt zu werdeu verdient.
Es findet auf der zehn Minute» langen Schiffsbrücke statt, welche Warschau mit
der Stadt Praga verbindet. Von zehn Uhr Morgens an darf schon kein Wagen,
kein Pferd, kein Schubkarren mehr die Brücke passiren, und da die russischen hohen
Herrschaften, schon »in zu zeige», daß Rußland in Warschau eine Rolle spiele,
nicht ganz unbetheiligt bleiben möge», so ist Bauern und Juden, mit welchen in
Berühruiui kommen zu mögen, jene viel zu stolz sind, streng verwehrt die Brücke
und die Wege zu ihr zu betreten.
Dies kaun den Leuten von echt bürgerlichem Gesellschaftssinn nnr unbehaglich
sein, allein die stolze Maßregel wird bald unbemerkbar, denn das Volk beginnt in
dichten Massen heran zu wallfahrten und bis gegen zwei Uhr Nachmittags ist die
ungeheure Brücke bis zum Erdrücken von Menschen vollgedrängt. Es sind Deutsche
und Polen. Das Atlaskleid gibt hier keine» Vorzug vor dem dünnen Kattun-
'.vckchcn, der Federhut keinen vor der bürgerlichen Bändermütze. Alles ist unter¬
mischt. Polnische Edelleute von der vornehmsten Classe befinden sich sogar in dem
dichtesten Gewühl. Alles ist voller Lust und Freude, alles ohne Rücksicht auf Ge¬
burt, Stand und Kleid. Der Pole scherzt mit der Deutschen, der Reiche mit der
Armen, die Damen mit den Herren »ut so umgekehrt. Jeder, Arm oder Reich,
trägt ein Johanuiskränzlein in der Hand, und wo er die Volksgcsellschast am hei¬
tersten und angenehmsten findet, da wirft er den Kranz in den Strom mit dem
leisen Wunsche, daß ihm der heilige Johannes dadurch, daß er den Kranz glück¬
lich davon, wo möglich bis aufs Meer führe, ein langes Leben oder den gün¬
stigen Ausgang einer Liebschaft oder etwas anderes Angenehme prophezeien möge.
Allein auf der Weichsel kreuzt em lustiges Völkchen von jungen Männern ans schma¬
len Kähnen. Dessen Funktion ist es, die Kränze, welche gewöhnlich auf einem
Bande deu geheimen Wunsch des Absenders oder der Absenderin in niedlichen
Reimen tragen, aufzufangen. Gelingt dies, so ist ein allgemeines Luk elgelächter
veranlaßt, welches dnrch die Publication der Reime zu einer geistigen Freude ver¬
edelt wird. Mau läßt sogar kleine Blnmenschiffe, deren Flagge die w»nschreichen
Reime tragen, von Stapel laufen, und mancher dieser kleinen Fahrzeuge gelingt
es glücklich bis in die Ostsee zu steuern.
Dieses Spiel ist ganz hübsch und erfreuend, doch ist es nicht gerade der Ge¬
genstand, welcher so viele Tausende von Menschen auf die Brücke zieht. Sils dieser
müßte man viel mehr den Drang angeben, sich einmal recht unmittelbar und un¬
gebunden in dem Völkchen zu sehen, mit welchen man in ein und derselben Um-
grenzung lebt. Man will sich einmal in einer recht echt bürgersinnigen Gesellschaft
befinden. Lust und Freude dauern bis gegen fünf Uhr Nachmittags in einer an¬
genehmen Natürlichkeit und Ungebundenheit. —
Nun aber ändert sich das Verhältniß. Es ist fünf Uhr. Der Fürst — Pas-
kiewitsch naht zu Wagen die Böttigerstraße herab mit einem ansehnlichen Nachzug
von russischen Offizieren und Beamteten. Schon entfernen sich viele Personen von
der Brücke. Mit Lust kamen sie, sie jauchzten und gehen jetzt verdrießlich. Der
Fürst hat sich genähet. Jetzt brechen sich zahllose Polizeidiener dnrch die Menge
mit dem Geschrei: „Mützen und Hüte ab; der Fürststatthalter ist da!" Dieses
Kommando erfüllt die ganze Brücke von Warschau bis Praga. Die Freude, welche
man zuvor bei der ungestörtesten bürgerlichen Gleichheit genossen, ist jetzt mit
ewem Male zertrümmert. Die Russen sind erschienen. Da man nun, wollte man
der Nähe des Fürsten und seiner Generale bedeckt bleiben, die Fäuste der rus¬
sische» Polizeisöldliugc, ja sogar mehre Tage Gefängnißstrafe zu fürchten hat, so
entfernt man sich lieber. Daher begeben sich denn nun alle anständige Personen
nach Praga hinüber, und nur die Leute der niedrigsten Classe bleiben zurück.
Nachdem die russischen Herrschaften stolz die Brücke einige Mal ans und ab gefah¬
ren und geritten sind, und dieselbe verlassen haben, kehren die Entflohenen, zum
größer« Theile wenigstens, zurück. Allein das Fest ist gestört.
So wird in Warschau durch die verkehrte Weise, in welcher die russische Partei
Antheil nimmt, das gesellige Leben zerstört. Hier drängt sie hart und des¬
potisch den jüdischen Theil der Bürgerschaft zurück, dort macht sie, daß der pol¬
nische sich isolirt, nirgends verdrängt sie den Deutsche», aber sie macht, daß dieser
sich allenthalben unwohl befindet. Durch das Mißverhältniß, in welches die ge¬
sellschaftlichen Elemente nach der Revolution gerathen sind, ist die Gesellschaft ver¬
nichtet worden, und kaum ist noch mehr von ihr vorhanden als ans drei Seiten
der Drang, das ehemalige Verhältniß wieder zu gewinnen, sich wieder zu bilden.
Diesem Drange aber tritt fast allenthalben die unnatürliche gesellschaftliche Rolle,
welche die Russen spielen, mit Uebermächtigkeit entgegen. Wie unerquicklich da¬
durch das Leben in Warschau wird, läßt sich ermessen; die Demoralisation aber,
welche solchen Verhältnissen entspringt, wäre einer Schilderung werth. Doch für
diesen Abschnitt genug, die Behauptung zu rechtfertigen: „Warschau ist eine Stätte,
wo ein Theil der Menschheit moralisch vernichtet wird."
Da wären wir denn wieder, wo wir im starren Winter 1848 gewesen, die
Grenzboten sind wieder verboten in Oestreich, im neuen, so wie im alten, im
große» einigen — ? — wie im alten uneinigen. — In der That, wir wünschten,
auch alles übrige wäre so in Oestreich, wie es i» jenem Winter 1848 gewesen,
denn in dem Schueegesilde tröstete uns damals die grüne Tanne der Hoffnung,
der Hoffnung, es werde, es müsse anders und besser werden demnächst.
Anders geworden ist alles, ob auch besser, wer ist sanguinisch genug,
dies zu behaupten!
Die grüne Hoffnnngstanne ragt schwarz empor, sie ist versengt von dem
Kanoneublitze, dem Pulverdampfe östreichischer Freiheit, ein Signal der allge¬
meinen Trauer siehet sie hinaus in die weiten Lande, blutgetränkt ist der Boden,
Moderduft verscharrter Leichen verpestet die Luft, selbst der Hoffnung Tanne ge¬
deihet nicht mehr, sie treibet nimmer frischgrüuende Zweige.
Ein großes Leichenfeld haben sie ans Großöstreich gemacht die Ultra's bei¬
der Lager, und wir beklagen den Jüngliugkaiser, der uun die Todten begraben
läßt zur Feier seiner Thronbesteigung, der uun regieren soll über todte Völker.
Seit Jahren erschraken wir vor der Idee der sich vorbereitenden Revolution
Oestreichs, vor der Aufgabe einer freisinnigen Constituirung dieses weiten Reiches,
denn wir kennen Oestreich, wir kennen die Tendenz seiner hohen Region, wir
erkannten die Unmöglichkeit, ein constitutionelles Oestreich zu bauen nach den Haus-
backeuen, abgenutzten Grundlagen heutiger Constituirungsweise, auf der Grund¬
lage dynastischer Patrimonialidee, als leitenden Gedankens.
Noch harret Oestreich des Genies, das ihm die angemessene Formel dau¬
ernder Freiheitsgarantie erfände, und wir fürchten, es harret vergebens.
Vergebens haben seine Neichötagsdepntirten sich abgemüht, sie brachten einen
Entwurf zu Staude, der annähernd vielleicht das Bedürfniß errathen läßt, den¬
noch aber in seiner Zwittergestalt keine Lebensfähigkeit verheißt. — Vergebens
haben seine Minister, trügerischen Siegesberichten eines düpirten Feldherrn ver¬
trauend, im Siegestaumel eine Verfassung iuwrovistrt, die, wir fürchte» es, mit
dem Leben in Berührung tretend, die Unmöglichkeit eines constitutionellen Oest¬
reichs wird beweisen helfen, oder sollte man es sich etwa wirklich nur zur Aus-
«.abe gestellt haben, diese Unmöglichkeit zu beweisen und dann zum Absolutismus
zurück zu kehren? der absoluten, als der früheren, der historisch bestandenen Pro-
vinzialstände, der ungarisch-aristokratischen Neichstagsbollwerke entledigt, durch
omnipotente Minister, fortan gestützt aufBajonncttc und nordischen Schutz, in gänz¬
licher Unbeschränktheit herrschen?
Doch nein, der Minister des Innern, der Bürger Alexander Bach, diese
einzige Errungenschaft aller Wirren und Kämpfe, hat ja ein Rundschreiben an die
Landeschess erlasse», in welchem er auffordert, die konstitutionellen Institutionen so
l'andznhaben, daß dieselben ihrer Widerstandslosigkeit niemals ent¬
leibet werde».
Es ist dies in der That eine Phrase, deren sich vielleicht noch kein Minister
in einem offiziellen Aktenstücke bedient haben mag, die aber späterhin nur bewei¬
sen dürste, wie wenig eben eine Phrase, selbst die kühnste, bedeutet. Wir bedau¬
ern deu armen Münster, wir wollen's ihm glauben, er wolle constitutionell sei»
«ach seinen abgenutzten Musterbildern Thiers und Guizot, doch der Minister glaube
auch uns, wenn wir ihm bemerken, daß er es sich selber nicht bewußt zu sein
scheine, wie sein Chespräsident und dessen Kollegen Generale ihn dupiren und sich
"bnutzeu lassen.
Vor der Hand hat es mit der Abnutzung der Widerstandsfähigkeit unserer
Areiheitsinstitutionen noch keine Gefahr, sie liegen, wiewohl nur auf dünnem
Papiere gedruckt, wohl verwahrt in sicherem Schrein, der endemische Belage-
"MgSstand Italiens, Ungarns, Galiziens, Niederöstreichs, Böhmens bewahret
sie sorglich vor Abnutzung, ja vor Benutzung sogar, in dieser Hinsicht also
wird das Rundschreiben des Ministers überpnnktlich beachtet, und uach zwanzig
fahren wird die oktroyirte Verfassung sammt den übrigen oktroyirten Gesetzen nud
formen östreichischer Freiheit — ? — wohl verwahrt in den Registraturen zu
finden sein.
Tür die Conservirung des übrigens minder constitutionellen Instituts des
ren
Belagerungsstandes sorgen dagegen die Zeughäuser, die Nekrutirungscommissionen
und die Herren Generale mit Sorgfalt.
Beinahe geriethen wir in scherzhaftem Ton, doch wahrlich der Scherz liegt
uns fern, Sibirien liegt uns zu nahe.
Der Staat ist Eigenthum der Dynastie. Des Staates Fundament ist die
pragmatische Sanction; dies ist die Grundidee des Fürsten Schwarzenberg, des
obersten Leiters unserer Geschicke, dessen Macht und Gewalt unumschränkter und
verderbenbringender ist, als die des Fürsten Clemens Lothar jemals gewesen;
daß dem so ist, daß Privatrechtstitel der Vererbung, des Heiraths- und Familien¬
paktes, dör Verpfändung das heutige Oestreich schufen, das eben beweiset, daß
Oestreich kein Staat sei, der naturgeboten in sich selber gravitirt.
Der Staat als dynastische Domaine läßt sich bequemer beherrschen durch eine
Wiener Eentralmirthschaftskanzlei, so argumentire Fürst Felix Schwarzenberg,
dessen Bruder seinen großen Grundbesitz in Böhmen, Mähren, Steyermark und
Oestreich ebenfalls durch eine Centralwirthschaftskanzlei von Wien ans beherrscht.
Beherrscht sind wir worden bis zum März durch die Hofkanzlei zu Wien,
beherrschen will man uns alle wieder durch das Centralministerium Wiens,
aber konstitutionell regieren will uns niemand, mit constitutionellen Phrase»
verhüllt man das absolute Regiment. Man hat sich so angenehm hinein gelullt
in den bequemen Belagernngsstand, in die bequem belagerte Presse, man hat den
Völkern das Maul zugebunden und freut sich heute behaglich über die stumme
Zufriedenheit dieser beglückten Völker, die sich unter einander todtschlagen mußten
sür die Patrimonialidee, und nebenbei für die constitutionelle Freiheit, die man
ihnen während des Kampfes zeigte, so wie der Cornak dem Elephanten die
Branntweinflasche zeigt. Armes Oestreich!
Wird es etwa befremden, wenn die Herren Minister, weckt sie ein freies Wort,
ein kleiner Tumult, aus ihrem süßen provisorisch unverantwortlichen Bewußtsein,
die drohende Bewegung sogleich sür blutigen Aufstand, für rothe Republik haltend,
sich schleunigst wieder den Herren Generalen in die Arme werfen, welche gleich
sorglichen Ammen die störenden Fliegen von den schlummernden Ministern ferne
halten? Wir sehen es kommen, das constitutionelle Institut der Nuthenstreiche für
unbesonnene Weiber, der Stockprügel für tolle Gesellen, wird als ein Nachtrag zur
oktroyirten Verfassung wohl nächstens in allen Kronländern als Grundrecht ein¬
geführt werden.
Man glaubt durchaus central zu regieren, und dennoch geben die Herren
Generale, als heutige Statthalter in den Kronländern, manchen Beweis ihrer
Hinneigung zum föderativem Principe der Autonomie im Innern des Gouver-
nements.
Während in Mailand die Justiz der kurzen Instanz geübt wird mit Ruthe
und Stock, beliebt man in Ungarn die mittelalterliche Judenpresse wieder in
Schwung zu bringen. Die Raubritter von ehemals brieten die Juden an gelin¬
dem Feuer bis sie zahlten, in Ungarn drohet man ihnen heute mit Kerker und
Strick und behandelt sie sogar als Solidarbegriff, das ist der Fortschritt von ehe¬
mals zu heute. Ju Wien, wo man sich in Hinrichtungen endlich gesättigt, ge¬
stattet General Melden der Presse sogar, die Vorgänge des Kriegsgerichtes in tief¬
ster Devotion ganz unterthänigst zu tadeln, in Prag dagegen sperrt General Ke-
venhiller die Redakteure ein, weil sie die ostdeutsche Post getadelt und die Auf¬
hebung des Belagcrungsstandes bescheiden gewünscht, in Galizien endlich regiert
der General rusflschcvnstitutionell ganz nach hohem Belieben.
Die Verfechter des Föderativsystems mögen darin Trost und Beruhigung fin¬
den, daß selbst die Regierung der Gewalt sich nach Sitte und Gebrauch der ein¬
zelnen Kronländer verschieden gestaltet; wir aber sehen nach der verkohlten Hoff-
nungstanne hinauf und verzweifeln an einem freien Oestreich. Wir sind nicht
wählig, uns ist die Freiheit willkommen, ob sie uns die Centralisation, ob sie die
Föderation uns verbürge, aber verbürgt wollen wir sie, und nirgend bietet sich
uns die Bürgschaft in heutigem Oestreich.
Mag jener oktrovirte Reichstag wirklich zusammentreten, ein Reichstag von
Völkern beschickt, die sich eben bekriegten, zerfleischte», zu vernichten drohten, und
dennoch alle den gleichen Grimm gegen das Ministerium der Gewalt im Herzen
tragen, angenommen, dieser Grimm vereinigt sie momentan gegen den gemeinsa¬
men Feind, ist es denkbar, daß dieser dem Beschlusse der Volksvertretung weicht?
Dieser Feind, der vor kurzen ein gemäßigtes Parlament heimgesendet, schimpflich,
unter gleißnerischen Vorwand? nimmer weicht dieser Feind, und er negirt durch
sein Bleiben das constitutionelle Princip.
Angenommen die Völker bescheiden sich, und wollen ernst und kräftig den
Umbau des Staatsgebäudes berathen, scheitert dann nicht der Wille an jenem
obersten Gedanken, an der Sprachenverwirrung, an der unausweichlichen, wohl auch
Perfid genährten Erhitzung der Parteien, der Stämme, deren einer die Skalpe des
andern als Siegestrophäe am Gürtel trägt? Ist es möglich, daß ein östreichisches
Gesammtbcwußtsein entsteige aus den Gräbern der Schlachtfelder, ans den Richt-
stätlen, auf welchen die Prevo.talhöse das blutige Handwerk getrieben? Nimmer¬
mehr, sie tragen alle den Krieg, die Brutalität, den Vandalismus, vom Schlacht¬
felde in das Parlament.
Oestreichs Parlement wird das merkwürdige Schauspiel bieten, einer sich sel¬
ber Aegirendm Staatsrcpräscntation. Der Lombarde, der Venetianer, der Ma-
gyare, der Szekler, der Pole, sie alle treten ein mit dem brennenden Wunsche:
ein Oestreich werde ferner unmöglich , der Kroate, der Serbe, der Walache, der
soldatgeborene Grenzer bringt mir die Kampfeslust mit, diese allein ist seine Po¬
litik, er kennt nicht die friedliche Toga, nur im Saguin weiß er sich zu bewegen,
der Czeche, er agitirte und kämpfte bisher nur für seine Stammverwandten im
Süden, er will ein Oestreich, weil er in diesem allein seine nationale Existenz
gesichert glaubt, und um ein Oestreich wollen zu können, verkauft er sich unbe¬
wußt, bei allem Freiheitstriebe der ihn beseelt, dennoch dynastischem Doppelspiele,
zu willkommenen Werkzeug, um vernichtet zu werden, ist er benutzt.
Wir hören im Geiste das Sprachengewirre, den Kampf mit dem Deutschen,
der kalt, und im Besitze alterworbenen Vorrechts sie alle soll beherrschen und lei¬
ten, dessen Sprache ihnen allen die gemeinsame werden soll, ja werden muß, soll
ein Parlement, und in diesem die Freiheit, ein Oestreich sich begründen.
Ein Staat aber, den seine eigenen Völker negiren, ist kein Staat mehr, er
kann nur als Domaine bestehen, so lange dem Herrn die Mittel nicht fehlen sein
Eigenthum zu schützen gegen den äußern und innern Feind. Bis hente hat diese
Domaine den Kampf zwar bestanden, doch wer verbürgt, daß dieser Kampf der
letzte gewesen, daß dem innern Feinde sich der äußern viele nicht beigesellen, seit
man die klaffenden Wunden Oestreichs erkannt, wer besonders verbürgt der heu¬
tigen Freundschaft Dauer und Bestand? jener Freundschaft, von der es vor
wenig Monden noch abhing, ob ein Oestreich noch ferner bestehen solle, ob nicht.
Eine Habsburgsdomaiue Oestreich geben wir zu, ein wirklich constitutioneller
Staat Oestreich aber ist ein unhaltbares Traumgebilde, ein Phantom, eine große
Lüge, man wollte denn jede Föderationsidee als letzten Versuch ins Leben tragen,
welche in den Einzelländern so viele Anhänger zählt.
Doch auch diese ist nnr die friedliche Vorbereitung des allmäligen Zerfallens
deS heutigen Oestreichs.
Das eben fühlen die dynastischen Regicnmgsvrgane und kämpfen darum an
gegen die Föderation, ob mit Recht? wir möchten's bezweifeln.
Ein Oestreich zerfällt, ein Ostreich aber ersteht, ein neues, ein anderes;
es ist zu erwägen, welche Maxime den Zerfall beschleunigt, welche ihn gewaltsam
herbeiführt —^ welche dagegen ihn allmälig friedlich vorbereitend vermittelt.
Die Centralisation, identisch mit schneller unvermeidlicher Rückkehr zu starrem
Absolutismus, legt selber die Lunte in die geladene Mine, und Oestreich stürzt in
Bankbruch, Revolution und Vernichtung zusammen; vorbereitenden Uebergang zu
volksthümlicher Gestaltung dagegen erwarten wir entschieden von der Föderation,
von einer Form, welche einem Reichstag ganz unpassend, in den Einzellandtagen
die zweite Kammer, durch eigenthümliche Normen zu ersetzen sucht und blos durch
einen Senat die Vereinigung zu einem Ganzen vermittelt.
Das Homogene wird sich dann finden und einen, und später einst trennen
sich die deutschen von den slavischen Landen, jene fallen an Dentschland zurück,
dem sie entstammen, diese verstärken sich im Osten und bilden ein Oestreich, wenn
die Bildung, die mildere Sitte im heute uichtöstreichischen slavischen Osten heimisch
geworden, wenn dieser dnrch vorausgegangenen civilen Absolutismus herangebildet
sein wird.
Wir stehen am Wendepunkt der alten bisher geübten Politik, die alten Künste
der Diplomatie, der Kongresse, sind abgenutzt, aller Klage über Reaktion und ihren
Gelingen zum Trotz, faßt dennoch die große Idee stets festeren Fuß und schreitet
unaufhaltsam dem Ziele zu, momentanes stagniren beschleunigt, beflügelt das
Schwungrad der Zeit, es zerschmettert die Pigmäen, die schwarzgelben, weiß-
schwarzen und rothen, die es gewagt einzugreifen in die Speichen.
Eine neue, im Volke wurzelnde, von diesem anerkannte Politik, ein neues
Europa erflehet, wir halten die Formung der neuen, durch das Nolksgefühl ge¬
botenen Staatsorganismen nicht ans, über uns alle hinweg schreitet mächtig die Zeit.
Preußen, bisher nnr eines großen Staates Bauriß und Plan, erfüllt un¬
aufhaltsam seine Mission, die ihm der Weltgeist gegeben, die Größe strebet es
an, sie ist ihm unwiderstehlich Bedürfniß geworden, es wird sie erreichen, wie
jeder Organismus in der Natur seine Bestimmung erfüllt und erreicht.
Preußen wird zu Deutschland, ob Preußen in Deutschland, ob dieses in
jenem aufgehe, worüber die Herren sich streiten, gilt ganz gleich dem Geschicke,
ihm sind die Namen fremd, die wir nur erfunden, Preußen ist die Lawine, die
über Deutschland niederrvllt, und allem was deutsch ist, und die kleinen Souve¬
ränitätsgehöfte erdrückt ohne Erbarmen, seiner selbst unbewußt.
Rußland, wir sehen das komme», rückt immer näher dem Ziele, das ihm
das allbeherrschende Fatum gesteckt; früher, als wir es ahnen, herrscht der Czar
w Stambul und ist Herr des slavischen Nordens und Ostens, das große Slaven¬
reich des Panslavismus wird zur vollendeten That und dann erst geht in diesem
die Sonne der Freiheit auf.
Oestreich aber hat seine geschichtliche, seine staatsorganische Misston erfüllt,
^ hat gelebt!
Was heute noch Leben scheint, ist Agonie, ist letzter Krampf des Verschei-
b°"s, es stirbt an der Hilfe des Nordens, die ihm geworden, und Staaten ster¬
be" langer als Menschen.
Oestreich ist lebensunfähig, weil es freiheitsunfähig ist. Nur Freiheit ist
Die Redaction kann sich nicht versagen, eine psychologische Bemerkung zu den
vorstehenden Zeilen zu machen. Diese kommen ans der Feder einer politischen
Kapacität Oestreichs, deren Artikel einst, vor der Revolution, im Kaiserstaat
großes Anflehn erregten und für den besten Schmuck dieses Blattes galten.---
Es ist bei alledem eine unheimliche Erscheinung, daß nicht nur die geistreichsten
Schriftsteller der Zeitungsprcsse, sondern auch die „parlamentarischen" Talente in
den einzelnen Provinzen, Ungarn, Czechen, sogar Serben, von den Italienern
gar nicht zu reden, so entschieden und leidenschaftlich gegen die Lebensfähigkeit
des jetzigen Regiments, ja des jetzigen Oestreichs stehen. Unsere Leser mögen
nicht glauben, daß es die Grenzboten allein sind, in denen, solche Stimmen er¬
schallen und in so herbem Ton. Wir haben uns gelegentlich Mühe gegeben, in
einzelnen politischen Fragen ein möglichst vollständiges Bild der verschiedenen
Stimmungen unabhängiger Bürger des Kaiserstaats zu geben; es hat das mit¬
unter auffallende Resultate gehabt. Während des ungarischen Kampfes z. B.
suchten wir längere Zeit einen unbefangenen und competenten Beurtheiler der
Parteien und der Kriegführung. Wir haben in dem gesammten Erzher¬
zogtum Oestreich keine geschickte und selbstständ.ige Feder gefür«
den, welche nicht auf Seite der Ungarn gewesen wäre, mehr oder
weniger entschieden, aber gegen die Regierung waren sie alle. Die regelmäßigen
Mitarbeiter der loyalen Wiener Journale haben wir freilich nicht ersucht uns zu
berichten, sie wußten nämlich von den ungarischen Verhältnissen weniger, als wir
hier in Leipzig, und dann pflegt Sprache und Styl dieser Herren fast durchweg
eben so corrupt, ungesetzmäßig und polizeiwidrig zu sein, als ihre Gesinnung
rein, makellos und ehrenwerth ist. — Woher kommt es aber, daß die Talente
des Volkes durchweg in einem so scharfen Gegensatz zu der Negierung ihres Lan¬
des stehen, und ist diese auffallende Erscheinung nicht selbst das Symptom einer
gefährlichen Krankheit des Kaiserstaates?
Es wäre ganz in der Ordnung, wenn der allgemeine Groll nur das jetzige
Ministerium des Kaiserstaates träfe. Es war sein Schicksal, Volkshoffnungen und
Volkswünsche zu vernichten, das Rechtsgefühl der Ehrlichen zu verletzen, die Exi¬
stenz der Aufgeregten zu gefährden; seine Misston war keine friedliche, und es hat
sie blutig genug erfüllt. Es wäre auch gar nicht zu verwundern, wenn die Op¬
position gegen die Negierung mehr Talent und Rührigkeit zeigte, als seine fried¬
liebenden Anhänger; von jeher hat sich aus dem Kampf mit dem Bestehenden-das
neue Leben der späteren Generation entwickelt, und in dem Kriege selbst großge¬
zogen und gebildet. — Aber was jetzt im Kaiserstaat geschieht, ist etwas ganz
anderes. Die Existenz des Staates, seine Lebenskraft und Lebensfähigkeit werden
ihm von den eigenen Bürgern bestritten; nicht von den Demokraten des Octobers
48, — unser Blatt stet/t mit diesen Unseligen in keinem freundlichen Verhältniß-^'
sondern von ruhigen, „gesetzten" Männern, ja von einem großen Theil der poli¬
tischen Kräfte, auf welche sich die Zukunft Oestreichs bauen müßte. Und von
diesen finstern Propheten ist nur ein Theil betrübt über die Auflösung, welche ^
weissagt, vielleicht die größere Zahl hofft auf den Tod des Riesenleibes. Z«'
und das Auffälligste von Allem ist, man kann in Oestreich auch diese letzten nicht
als Feinde des Staates betrachten, denn hinter ihnen steht die Majorität der
kaiserlichen Staatsbürger. Czechen, Ungarn, Italiener, die Hälfte der
Serben, die Hälfte der Polen, vielleicht ein Drittel der Deutschen!
Wahrlich, nie hat eine Regierung ein größeres Werk unternommen, als die
gegenwärtige des Kaiserstaates. Es ist eine Regierung der Minorität,
und sie soll gegen die Majorität der Völker und hier und da gegen Recht und
Menschenverstand regieren, umformen, die Völker „zur Freiheit" erziehen. Das
letzte wenigstens ist unmöglich.
„In den Grundrechten fehlt das Bewußtsein des Oestreichers," rief der
adelige Wildner im Reichstage zu Kremsier und der Czeche Rieger gab ihm dafür
einen satyrischen Hieb, wir aber lachten über den drolligen Zweikampf, über die
barocke Loyalität des Einen, wie über die beißende Ironie des Andern, legten
jedoch auf das ergötzliche Schauspiel wenig Gewicht. Und nun ist es dahin
gekommen, daß grade in die Idee eines „östreichischen Bewußtseins" Sinn und
Wahrheit kommen muß, daß eine Regierung, welche das einige Reich neu begrün¬
den will, gerade darauf ihr Hauptaugenmerk zu richten hat, soll nicht die Zu¬
kunft Oestreichs trotz der gewaltigen Bayonnettmacht precär, der revolutionäre Trieb
hingegen fortwährend regsam in den Geistern bleiben. Denn mag Tyrannei noch
so viele Triumphe feiern und Siege erringen, die Stunden einer schlechten
Regierung sind gezählt, so schnell und bald thun uns Männer Noth, die den
befruchtenden Keim neuen Lebens in das Chaos unserer Gesetzlosigkeit werfen
und damit die unruhigen Geister bannen. Doch schnell müssen die Staatsmänner
dies erfassen, ehe sie in den zahllosen Irrwegen den Faden verlieren. Oestreich
hat seine Krisis in allen lichten und unheimlichen Schattirungen durchgemacht, und
scheint die Gefahr auch völlig vorüber, weil sie einmal unter den schwierigsten
Verhältnissen überstanden wurde; haben auch die nationalen Traumgebilde der
Phantasten einer rauheren Wirklichkeit das Feld geräumt, ihr dämonischer Schat¬
ten ist dennoch zurückgeblieben und wird das materielle Weltgetriebe so lange ver¬
düstern, bis die chaotische Völkermasse Oestreichs von einer solchen lebenskräftigen
Idee belebt sein wird, welche geeignet ist, den antagonistischen Drang geträum-
ter Bilder zu Paralysiren. Dies sollte die Aufgabe Jener sein, die das Palla¬
dium der Monarchie retten wollen, denn darin liegt eine größere Garantie der
östreichischen Zukunft, als im todten Buchstaben eines oktroyirten Gesetzes uLd
als im verheerenden Erze, welches zwar tyrannisirt, aber nicht regiert, zwar ver¬
letzt, aber nicht beglückt.
Blicken wir auf den Kampf der Parteien zurück, wie er noch vor wenig
Monden sich vor unserer Anschauung offen entfaltete, indem wir das Einst und
Jetzt prüfend vergleichen, so äußerten sich damals „ Centralstaat" und „Födera¬
tivstaat" als die Losungsworte zweier Parteien, deren jede sich rühmte, ein freies,
starkes, einiges Oestreich zu wollen. Beide behaupteten, von gleich wahrem Eifer
für die Monarchie beseelt zu sein und doch waren die Ansichten beider einander
schroff entgegen.
Wem sind z. B. die Forderungen nicht bekannt, welche die verschiedenen
Nationen Oestreichs, Deutsche, Slaven und Magyaren theils schon erfüllt glaub¬
ten, theils durch Petitionen an die Negierung stellten, theils untereinander vor¬
bereiteten. Durch die Unabhängigkeit der Magyaren ist jetzt ein blutiger Strich
gemacht worden; die Mähren (d. h. ein Theil der mährischen Slaven, keineswegs
aber die Mehrheit des Landes, welche einem solchen Ansinnen geradezu entgegen
war) wollten mit Böhmen gemeinschaftliche Centralbehörden, wodurch diese beiden
Kronländer, im Widerspruche mit andern von ihnen gehegten, gerade ans Sepa¬
ration hinzielenden Bestrebnissen, zu Einem Lande vereinigt werden sollten; die
Polen und Ruthenen in Galizien forderten ebenfalls eigene verantwortliche Cen¬
tralbehörden und nationales Beamtenwesen; die Slovaken und Ruthenen, welche
von diesen jenseits im Lande der Ungarn lebten, verlangten Gleichberechtigung
mit den Magyaren des Kossnthschen Regimes und selbstständige Nationalcongresse;
die Serben in der Woywodina baten um die Bestätigung der Carlowitzer Be¬
schlüsse; die Kroaten bestanden ans die Erfüllung der Landtagsbeschlüsse der drei¬
einigen Königreiche Slavonien, Kroatien und Dalmatien, die Slovenen in Steyer-
mark und Jllyrien wollten ein neues Königreich Slovenien mit der Hauptstadt
Laibach; die Czechen wollten dies Alles und als Hanptwuusch die vollkommene
Slavisiruug Oestreichs und Böhmens, während wieder die Deutsch-Oestreicher
aus leicht erklärlichen Gründen in solcher Gestaltung Gefahr für sich erblickten
und z. B. in Böhmen eben deshalb eine Theilung dieses Landes nach den Natio¬
nalitäten anstrebten. Und dennoch war das Losungswort aller dieser Petenten:
„Oestreich über Alles"!? Ob solche Forderungen durchgehends auf einer
gesunden und ehrlichen Politik beruhten, wollen wir hier nicht entscheiden; genug,
das Föderativsystem liegt jetzt in Einem Sarge mit dem Panslavismus; das Ministe¬
rium Schwarzenberg aber hat darauf sein centralistisches Reichspanier aufgepflanzt
und nennt sich eine starke Regierung. Die Völker geben sich allmälig damit zu¬
frieden. In Oestreich haben wir ja ohnehin keine Stimme mehr, alle Staats¬
weisheit ist in die Haubitzen gefahren und in einem jede» Vormeister steckt ein
kleiner Völkerbeglücker. In einem neuen nationalen Kampf zwischen plan- und
bedachtlosen Völkern einerseits und intriguanten, mächtigen Höfen andererseits, ist
ein andauernder Sieg der Volkssache noch zu unwahrscheinlich. Aber die Pflich¬
ten und deu Zweck eines Staates, und seit dem März 1848 die eines consti-
tutionellen Staates muß Oestreich in vollem Maße erfüllen, wenn seine
Regierung auch fernerhin hinreichende moralische Stützen finden soll, um sich gegen
die nationalen Stürme zu erhalten. In die verschiedenen Ideen und Interessen,
die sich an das alte Oestreich knüpfen, muß daher Einheit gebracht werden,
welche der speciellen Bestimmung Oestreichs, die Cultur nach dem Osten zu
tragen, zu entspreche» hat. Sowie Oestreich auch seine Aufgabe als Cultur,
Staat nur im Mindesten aufgibt oder verletzt, so fällt eine Bedingung seines
Werthes nach der anderen, bis mit der sinkenden Cultur die Monarchie verröchelt.
Fragen wir aber unsere jetzigen Staatslenker, die Vertheidiger des einigen
„Oestreichs," die k. r. Generäle, — denn die Minister sind in den Principien
der Regierung für jetzt beinahe unzurechnungsfähig —, fragen wir sie, ob in die¬
sem Augenblicke das Rechtsgesetz — der erste und Hauptzweck eines Staa¬
tes — in Oestreich gehandhabt werde; fragen wir selbst die Minister, ob. eine
Regierung wirklich stark zu nennen sei, die ihre Befehle, wenn auch geheim, von
ihren Dienern erwartet? Auf diese Fragen werden sie schweigen müssen. Es ist
»och nicht sehr lange Zeit, als ein k. k. Soldat im Wirthshaus einer Provinzial«
stadt einen Studenten, weil er lange Haare trug, meuchlings und muthwillig den
Säbel in's Herz stieß. Was ist bisher diesem Meuchelmörder für Strafe wider¬
fahren, im Vergleich zu jenen Civilpersonen, welche wegen Beleidigung eines
Militärs stand- oder kriegsrechtlich behandelt wurden? Der Bürger, der in
Oestreich einen Soldaten unfreundlich ansieht, oder ihn unsanft berührt, kann,
wenn dieser boshaft genug ist, nach dem neuesten Militärcodex der Willkür, er-
schossen oder eingekerkert werden; denn der unfreundliche Blick ist Beleidigung des
Militärs, also Hochverrath. So hängt das Leben des constitutionellen Bürgers
lediglich von der Laune eines gemeinen Soldaten ab. Der Soldat hingegen, der
aus bloßem Zeitvertreib einen demokratisch aussehenden Menschen ermordet, gilt
offiziell als berauscht, also als Verbrecher imputabel, und seine Obern trösten ihn
allenfalls noch obendrein wegen seines Untersuchungsarrestes, oder schicken ihm
sogar Speise und Trank in's Gefängniß, erwägend, daß das Leben eines Demo
traten ja eigentlich kein Menschenleben sei, und — die Disciplin bleibt so in
Ehren. Was geschah, um noch ein Beispiel anzuführen, mit jenen Kürassierer,
welche den Redacteur eines Grätzer Volksblattes, weil er an dem strategische»
Talente des „Bombardirers" zu zweifeln sich erlaubte, eben so grausam als feig
in seinem Hause überraschte» und mißhandelten? Sie waren ebenfalls nicht
Zurechnungsfähig — was wir übrigens glaubwürdig finden — und die mili¬
tärische Gerechtigkeit durfte schonen. Dagegen lese man die Urtheile der
militärischen Inquisitionen über Civilpei hören, und man wird den berausch-
ten Zustand eines Compromittirten nur in so weit als Milderungsumstand
finden, daß der Unglückliche um einige Jahre oder Monate weniger die Kerker¬
lust zu empfinden begnadigt wurde. Wer sich über die juridische Tüchtig¬
keit der Militärgerichte bei uns spezieller aufklären will, der lese jene Reihe
von Aufsätzen, die in mäßiger, klarer Sprache von der „Ostdeutschen Post" über
denselben Gegenstand geliefert wurden. Aus diese Weise erfüllt also Oestreich bet
seinem allgemeinen Ausnahmszustande, der doch in keinem Falle das Recht tödten
darf, seinen ersten Staatszweck nicht, und der „Rechtsstaat" wird bei seiner
militärischen Gestalt, wie es die jetzige ist, durch das östreichische Bewußtsein nicht
begründet werden. Gehen wir weiter. Wenn wir uns ans cultivirten Boden
wagen und Oestreich überschauen wollten, so ist diese Aussicht auch wenig reizend.
Die Säbelherrschaft kann eben so wenig geeignet sein, die Oestreich-Idee vor¬
theilhaft in die Seelen zu pflanzen, als derselben vor Gott und der Welt Ehre
zu machen. Gar mancher fühlende Oestreicher muß erröthen, wenn man ihn im
Auslande nach seiner Heimath fragt, wo das neunzehnte Jahrhundert unvertilgbare
Spuren des schmählichsten Wandalismus hinterlassen wird. Die Solidarität, wo¬
mit ein Wütherich eines einzigen Verbrechers wegen ganze Ortschaften einäschert
und dem Boden gleichmacht, die rohe mittelalterliche Manier, womit das Faust¬
recht ganze Gemeinden eines Einzigen halber plündert und beraubt, erinnert uns
an das Gebet des alten Patriarchen für Sodom und Gomorrha, und wir sind
überzeugt, daß solcher Widerspruch mit den göttlichen Principien nicht religiös und
auch unmöglich das Attribut von „Gottes Gnaden" an sich trägt. Diese unver¬
antwortliche Regierungsweise schändet das Reich und das Jahrhundert und wird
nie Sympathien in den Herzen der Völker gewinnen können.
Hört diese Salven, sie verkünden ein bedeutungsvolles Fest. Wem gilt's?
Doch nicht etwa die Säcularfeier des deutschen Dichterfürsten, dessen Riesengeist
in tausend Städten so geräuschvoll verehrt wird? O nein, in Oestreich flieht die
Muse vor dem Portvpve des Soldaten, die Kunst kann keine Triumphe feiern,
wo der Krieger alle für sich in Anspruch nimmt. Nein, es ist Größeres. —
Italien ist bezwungen, in den leeren Staatsschatz des Kaiserreichs fällt ein leichter
Tropfen in das Schuldenmeer, die Geldbuße des besiegten Sardenkönigs, und da
donnert es in alle Welt: Der Ruhm der östreichischen Waffen, die Einheit und
Stärke der Monarchie ist gerettet! Wohl, und wir danken dem greisen Sieger
Radetzky, aber blickt hin nach dem Castell von Mailand und sagt, ob auch dieser
Wahlplatz des Siegers würdig ist? Hört das klägliche Wimmern der Gemarter¬
ten, seht, wie zarte Jungfrauen erliegen unter barbarischen Streichen, seht die
Geknickten noch sterbend erröthen, und sagt dann, ob die militärische Ehre mit
der menschlichen identisch sei? — Und bei dem Allen exerziren sich die Herren in
Paris in schönen, philosophischen und philantropischen Reden und predigen den
Weltfrieden und die allgemeine Entwaffnung! O ihr herzlich guten Quäker,
kommt nach Oestreich und ihr werdet von eurem gutmüthigen Wahn geheilt wer¬
den. Da steht ein Gutgesinnter von echtem Schrote und Korn, und ergötzt sich
wonniglich an einem militärischen Schauspiel, an der Präcision in Marsch und
Haltung der paradirendcn Truppen, und zum Dank dafür erhält er — ich sah's
mit eignem Auge — einen derben Stoß von einem milchbärtigen Lieutenant, wel¬
cher den Soldaten des lockern Quarr«s ziemlich laut den Befehl hindonnert, das
„verfluchte Volk" (seine eigenen Worte) mit Kolben und Bajonnetten aus der Nähe
der Soldateska zu jagen. So steht es mit unserer Freiheit und Gleichheit und
mit den volkstümlichen Institutionen der starken Regio.ung in Oestreich.
Ich habe diese einzelnen Beispiele angeführt, um zu zeigen, wie dnrch unsere
Verfassung, so lange sie von der Militärgewalt erklärt wird, durch diese Vereini¬
gung von roher Willkür mit empörender Ungerechtigkeit Oestreich nach Außen ge¬
schändet, nach Innen nicht geliebt und gekräftigt werden kann. Nur bei wahr¬
hafter Sorge für öffentliche Sittlichkeit und Aufklärung für Schutz des Rechtes
und der persönliche,: Sicherheit gegen jede Willkür, wird das Interesse der
Bürger den Bestand des Staates garantiren, die Völker werden sich dann nicht
schäme« müssen, Oestreicher zu sein.
Franz Ladislaw Rieger ward am 10. December 1818 zu semit im
Bnnzlaner Kreise Böhmens geboren; er ist Doctor der Rechte und Müllermeister,
Besitzer der seniler Mühle, doch ist er seit Jahren in Prag ansässig. Seit sei¬
nen juristischen Studien, welche er theils zu Prag, theils zu Wien absolvirte,
galt Rieger für einen der enragirtesten Parteigänger der jnngczechischen Liberalen,
'n deren'salonlichen Beziehungen er eine der erstem Rollen spielte, bekannt als
«ner der in-.!dro 6n pi«ihn- der czechischen Reunionen, Besedy und Slavenballe,
welche viel zur Hebung des geselligen Tons nnter den Czechen beitrugen. Als
Literat hatte er nie Bedeutung: Gelegenheitsgedichte, unbedeutende Balladen und
Romanzen, Theaterkritiken und Concertberichte für die Koety (Blüthen) waren seine
"I'er-l vmniil. Einige Geltung erlangte Rieger dnrch einen Hochverrathsprozeß, in
welchen er in den Jahren 1841 oder 1842 verwickelt ward. Wegen angeblichen Ein¬
verständnisses mit einem polnischen Nevvlutionscomitv ward er in polizeiliche Haft
gebracht und nach mehrwöchentlicher Untersuchung -it> nöt-alia freigesprochen; er
sagte, in deren Folge seiner begonnenen Beamtencarriere Lebewohl.
Ein Ereigniß für Prag in jener politisch unbedeutenden und unmündigen Zeit,
und genügend, Riegern für eine Weile ein Stück einer Martyrglorie zu verschaf¬
fen. Rieger schrieb nun nach wie vor seine Theaterberichte und traf wirklich ver¬
dienstliche Vorbereitungen für die Errichtung eines selbstständigen czechischen Thea¬
ters , welches bis dahin von den Landständen des Königreichs Böhmens, den In¬
habern des einzigen TheaterprivilegiumS für die vier Prager Städte als ein bloßer
Appendix des deutschen Thaliatempels betrachtet und stiefmütterlich genug behan¬
delt worden war. In den Jahren 1845—47 begann Rieger als einer der tüch¬
tigsten Sprecher in dem Verein zur Ermunterung deS GewerbSgeistes die Aufmerk¬
samkeit des Publikums auf sich zu ziehe». Sein männliches Auftreten, seine klaren,
warmen und überzeugenden Reden im Interesse der damals beschlossenen czechischen
Gewerbschule verschafften ihm eine bedeutende Popularität. Im Herbste 1847
unternahm Rieger eine Reise nach Italien, und kam eben von Rom zurück, als die
zweite böhmische Deputation mit dem Kaiser und dem Minister Pillersdorf über die
Petitionen des Se. Wenzelscomitvs konferirte und nahm an diesen Unterhandlun¬
gen lebhaften Antheil (im April 1848). In Prag angelangt, ward er in das
Nationalcomitv gewählt. Den Slavencongreß half er mit vorbereiten, fungirte
aber in dessen Sitzungen nicht, da er bei der provisorischen Regierung, unter Graf
Leo Thun's Vorsitze beschäftigt war, zu welcher er mit Palaky, Graf Albert Nostitz,
Brauner, Graf Wnrmbraudt u. A. erkiesen worden. Seine wichtigste Thätigkeit be¬
ginnt mit dem Wiener Reichstage, bei welchem Rieger als Abgeordneter des böh¬
mischen Wahlbezirks Eisenbrod erschien.
Rieger ist von hoher, schlanker Gestalt, jugendlich, vom Ansehen kräftig, doch
nicht von der blühendsten Gesundheit, seine Erscheinung wurde gehoben durch das
kleidsame, in dunkelen Farben gehaltene altslavische Kostüm, womit er sich in der
letztern Zeit zu putzen pflegte. Seine Gesichtsbildung ist eine angenehme, von aus¬
geprägt slavischem Typus und bleichem, nicht aber feinem Teint mit stechenden dun¬
keln Augen, üppigem uicht allzu langen Bart und dunkelbraunem leichtgekräuselteM
Haar. In seinem Benehmen ist er zierlich, plastisch, bisweilen affektirt, seine
Stimme ein schöner Bariton, biegsam und geschmeidig, seine Rede, im Deutschen
fast ebeu so gewandt wie im Czechischcn schwungvoll und wohl modulirt; seiue Aus¬
drucksweise, sonst klar und entschieden, litt in der letztern Zeit nicht selten an Ueber-
zierung und übertriebenen Pathos und ließ deu Inhalt seiner Vorträge nur zu oft
uuter der äußern rhetorischen Ausschmückung leiden. Am besten gelingt ihm der
gerade uicht wohlthuende Ausdruck des Hohns und stolzer Verachtung. Diese Ei¬
genthümlichkeit steht uns am unheimlichsten vor der Seele in jener nnheilschwan^
gern, verhängnißvollen Scene, als die Deputation der Ungarn, welche, wie sich
Borrosch ausdrückte, als die andere Hälfte des östreichische» Doppelaars an die
Pforten des Reichssaalcs klopfte — vo» der Kammer zumeist in Folge der Rie-
ger'sehen Rede abgewiesen wurde, weil man — etwas besseres zu thun hatte, als
die zierlichen Schnurrbärte und schmucken Attila's der magyarischen Ambassadeure
zu bewundern!!! Ein unangenehmes Seitenstück hierzu war seine bekannte Antritts¬
rede zu Kremster, voll unedlen Hohnes gegen die wenigstens der Mehrzahl nach
ehrlich gesinnten Mitglieder deö Wiener October-Rumpsparlements. Wie ganz
anders, schöner und bedeutender stand Rieger da, als er vor den Ministern zu
Kremsier seine Philippika für den ersten Paragraph der Grundrechte herabdonnerte.
Freilich war diese Rede ihrer Anlage nach bloße Komödie, wohl wußte Rieger,
daß sie nutzlos sein würde, hatte er doch mit in den Clubs gesessen, welche ge¬
rade diesen ersten Paragraph (von der Volkssouveränität) vorher unterminirt hatten.
Rieger wußte dies und sprach doch so gut und so überzeugend, so feurig und be¬
geistert. Gewiß hat er in diesem Moment sich selbst für das Recht der Volkssou¬
veränität hingerissen, und indem er sprach, wäre er vielleicht noch umgekehrt, seiner
bessern Ueberzeugung folgend. Allein es war zu spät, zu spät sür den Mann, der
nicht lange zuvor mit merkwürdiger Kurzsichtigkeit — wir wählen hier den mil¬
desten Ausdruck, behauptet hatte: „Es gibt keine Reaktion, ich glaube nicht daran,
es git't gewiß keine Reaktion!"
Rieger ist seit dem März l. I. in Paris. In diesen Tagen ist er Gegen¬
stand einer Zeitungsente — für etwas anderes halten wir die ganze Sache nicht —
geworden, als Conspircmt für den Verfall Oestreichs, gemeinschaftlich mit Fürst
Czartorisky, Graf Adam Teleky, Palaky u. A. Rieger ist zu einem solchen Schritt
zu vorsichtig, vielleicht nicht einmal entschlossen und energisch genug. — Er ist das
größte parlamentarische Talent der Czechen, ob die Zeit, die wandelnde, ans dem
Mann von 31 Jahren einen politischen Charakter formen wird?
Trojan. Ein unerquickliches Gegenstück zu Rieger bildet der in der
neuesten Zeit vielfach angegriffene Pravvslaw. Trojan, ein mittelgroßer, behä¬
biger Mann, hart an den Vierziger, mit stumpfer, gewöhnlicher Physiognomie, in
welcher recht dünkelhafte Selbstgefälligkeit sitzt, und lichtliraunem altfränkisch ver¬
schnittenen Haupthaar. In der ganzen Erscheinung ist er philisterhaft, was er
nicht einmal durch seine auffallende Slaventracht zu maskiren vermochte. - Seine
Art, die Pelzmütze aufzusetzen, seine Art, den Schnurrbart zu streichen und die
Beine in den knappen Trikots und Topanken zu bewegen, hatte immer etwas unwi¬
derstehlich komisches. Vor dem März war Trojan eine der Hauptfiguren in den
Sitzungen des böhmischen Gewerbevereins und einer der eifrigsten Kämpfer für die
ezechische Gewerbeschule, für welche er in der That sehr viel Verdienstliches lieferte.
Eine eiserne Stirn und ein riesiger Fleiß, verbunden mit redlichem Willen für dies
Projekt, halfen viel durchsetzen, doch verdarb er auch vieles wieder durch seine
breite, schwülstige Redeweise — er war, wie man zu sagen Pflegt, zum Todt¬
reden und seine Gegner nannten ihn das trojanische Pferd des Gewerbevereins.
Doch sein Eifer und die Wichtigkeit seiner Bemühung winden von seiner Partei
nicht blos anerkannt, sondern sogar überschätzt. Am 12. März 1848 hatte Trojan,
obwohl k. k. Fiskalbeamtcr^ den anerkennenswerther Muth, im Wenzelsbade eine Rede
ein das Volk zu halten; die jedoch auf den Verlauf der Dinge keinen andern Ein¬
fluß hatte, als daß man Trojan in's Se. Wenzelscomitv und zum Mitgliede der
an deu Kaiser abgesendeten Deputation erkor. Nach der Rückkunft der erstell De¬
putation aus Wien, welche die Czechen unbefriedigt ließ und zu Mißvergnügen
und drohenden Ostentationen hinriß, wurde Trojan von den Eingeweihten beschul¬
digt, durch seine Weitschweifigkeit, Breite und Verworrenheit in den Verhandlun¬
gen mit dem Ministerium Pillersdorf vieles verdorben z^ haben. Auch unter den
Rednern des Nationalcomitos war Trojan, beim Slavenkongreß war er mehr Ord¬
ner und Decorateur als Sprecher. Dafür aber strömte er den endlosen Fluß
seiner Rede um so unmäßiger auf dem Reichstage zu Wien und Kremsier aus.
In Wien war er die liebste und willkommenste Erscheinung für die SW- und
Carrikatnrblätter, welche den Meister Pravoslaw Trojan zu einer erklecklichen
Masse von gesalzenen und ungesalzenen Späßen absetzten. Jetzt fungirt Trojan
als Stadtverordneter der Hauptstadt Prag, und — Gott sei der czechischen Muse
gnädig! — als Intendant des czechischen Jnterimstheaters. Eine verfehltere Wahl
für diesen Posten konnte man gar nicht treffen, ihm fehlt zur Führung des Thea¬
ters aller Geschmack, alle Sachkenntniß und jede ästhetische Bildung. — Trojan
ist ein sehr guter Jurist, ein schlechter Parlamentsredner und gar kein Theater-
intendant.
W. Klicpera. Einer der gecichtetsten Namen in der böhmischen Literatur
ist der des fruchtbaren Dramendichters Wenzeslaw Klicpera, Professors am aka¬
demische» Gymnasium der Altstadt Prag, geboren zu Chlumec an der Cidlina am
23. December 17!)2. Klicpera ist eine hohe, kräftige Gestalt, breit von Brust
und Schultern, mit einem etwas gedrückten Gesicht, dessen wenig bedeutende
Physiognomie durch das silberweiße Haupthaar gehoben wird. Klicpera war
neben Machaczek und dem genialen Turiusly der erste, welcher eine ernste, gedie¬
gene Richtung im czechischen Drama angegeben hat. Vor diesen war der Viel¬
schreiber Stepanek beinahe Alleinherrscher auf der czechischen Bühne, deren Reper-
toir er mit mehr als einem halben Hundert übersetzter und originaler Stücke
bereicherte, worunter jedoch nur die zwei Schauspiele historischen Inhalts „Jaros-
law, der Tartarenbezwinger" und „die Kärthner in Prag" und die Possen: „die
Berauner Kuchen" und „der Böhme und der Deutsche (Lo«:et Avmoc)" beson¬
dere Envähnnng verdienen; das letzte harmlose und heitere Spiel gehört noch
heute zu den Lieblingsstücken des czechischen Theaterpublikums und fehlt auch auf
dem Repertoir der kleinsten Dilettantenbühne nicht. Mit Klicpera erstanden zu¬
gleich zw-'i ebenbürtige, in manchen Stücken überlegene Rivale. Simon Macha¬
czek und Franz Turinsky. Klicpera übertraf diese beiden mir an Ausdauer und
Productivität, weil er sich durch Stepanek's eifersüchtelnde Intriguen weniger
stören ließ und in dem von ihm redigirten Almanach czechischer Bühnenspiele ein
Feld zur Veröffentlichung seiner dramatischen Arbeiten hatte. Von Klic-
Pera's Nachfolger sind bemerkenswerth zumeist die Schauspieldichter Joseph Tyl,
I. G. Kvlar, Ferdinand Mikowec und Heinrich Nczniczek. Von den Namen der
übrigen, jetzt noch czechische Originalstücke liefernden Literaten kennen wir: G. Santi,
Wlczkowsky, »>. Püner, Holmann, Jaromir Pinel, Mezylesky, Nierenberger,
Rirenssast, Fritsch und Lad. Swierak. Klicpera hat den Weg angebahnt und
schon sind ihm mehrere von den Jüngern mit Glück gefolgt, doch ist dies nicht
sein einziges Verdienst, seine Werke sind immer »och Muster für das höhere czechische
Drama, obgleich von einer gewissen Manier nicht ganz frei geblieben. Die
Mehrzahl seiner Stücke sind Originale und geschickt in der Konzeption, in den
Situationen neu und effektvoll, die Charaktere darin bei tüchtiger Auffassung ge¬
wandt und sehr consequent durchgeführt, die Sprache gedankenreich und würdig,
Mitunter zu geschwätzig, und der Scenenverlauf rundet sich allemal zu einem wirk¬
samen Ganze». In der Regel leiden seine Stücke an zu großer Länge in der
Exposition, an schwerfälliger Verspiunuug der Intrigue und seine Tragödien ent¬
behren oft der wünschenswerthen Frische und Leichtigkeit. Ob Klicpera im Drama
"der Lustspiel vorzüglicher sei, wage ich nicht zu entscheiden, wiewohl mich die
Lebendigkeit und Volksthümlichkeit in seinen leichteren Stücken und in seinen mähr-
Kenhasten Schauspielen am meisten anspricht. Wenn wir in die Schale des Dra-
M's seinen „Sobieslaw und Friedrich" und seine „Familie v> Swojanow" und
w die des Lustspiels seinen „Zauberhut" und den „Rohovin Cztwerrohy" legen,
erhält man Achtung vor der Vielseitigkeit seines Talentes. Die bekanntesten von
KAcpera's Originalstücken, deren Zahl sich wohl auf achtzig erstrecken dürste,
sind: Sobieslaw und Friedrich — die Köhlerin — Udalrich und Bozena —
die Familie von Swojanow — der Raub - die Elbogener Glocke — der Hirsch
^ der Zanberhut — Melusine — Zizka's Schwert — ein allböhmisches Gericht
' ^ der Schatz von Opatowic — die letzten Ferien — die Schimmel — der Ring
^ Rohowin Cztwerrohy — die Warschauer Aschenbrödel — das Rad zu Brünn
^- Schloß Waldek — der Stern — der Vogelsteller - das Lustspiel auf der
Brücke — die Zwillinge u. a. Klicpera hat auch größere Novellen geschrieben,
welche Anerkennung verdienen. Erfindung, rascher, spannender Verlauf, treffliche
Charakterschilderung und ein wohlgefeilter Dialog sind große Vorzüge derselben.
"Wenzeslawa" und „Joczuik", zwei historische Erzählungen, halten wir für
^e besten davon, seine neueste Novelle „ Prag's erste Mühle" ist das schwächste,
^as Klicpera jemals geschrieben. Ein junger Rechtsgelehrter in Prag, Dr. A.
Gabriel, hat das Verlagsrecht von Klicpera's Schriften an sich gebracht, und
eben jetzt ist unter dessen Leitung eine elegante Gesammtausgabe derselben im
^»uge. Unter allen Dichtungszweigen scheint uns gerade das czechische Drama die
Ichönste Zukunft zu haben und vor dem polnischen tonangebend werden zu wollen
" der übrigen slavische» Literatur. DaS czechische Theaterpublikum ist sehr
eifrig und theilnehmend, es begreift schnell, empfindet tief; freilich ist es in vie¬
len Sachen noch roh und kindlich, desto besser für die czechischen Dramatiker, sie
können sich das Publikum heranbilden! Jetzt erblüht dem czechischen Drama durch
Erbannnq eines Nationaltheaters eine neue Aera.
C. F> Wegener, Ueber das wahre Verhältniß des Herzogs von Augustenburg
zum Holsteinischen Aufruhr. 2. Aufl. Kopenhagen, Reitzcl.
Als beim Beginn des vorjährigen Krieges der Herzog von Augustenburg seine
Güter verlassen mußte, legten die Dänen auf die Papiere Beschlag, welche er
daselbst zurückließ. Auf die Kenntniß - dieser Papiere gestützt, behauptete der
dänische Minister der auswärtigen Angelegenheiten öffentlich, daß „der Auf¬
ruhr in Holstein vornehmlich von herrschsüchtigen und pflichtvergessenen, dem Kö-
nigshause nahestehenden Fürsten hervorgerufen und geleitet worden sei." Diese
Behauptung bezeichnete der Herzog von Augustenburg ebenso öffentlich als eine
Verleumdung. Dadurch bewogen, hat die dänische Regierung den Etatsrath We¬
gener veranlaßt, durch einen Auszug ans jenen Papieren die Anklage gegen den,
Herzog näher zu begründen.
Als Resultat einer unbefangenen Prüfung derselben ergibt sich folgendes.
!) Die Augnstenburgischeu Brüder hatten im Anfang ihr Augenmerk weniger aus
den Sonderbesitz der Herzogthümer, als auf eine Succession im gesammten König¬
reich gerichtet, und es finden sich auch später, als die deutsche Bewegung schon
ausgebrochen war, hinreichende Spuren, die es wahrscheinlich machen, der Herzog
würde sich eine Aenderung im dänischen Thronfolgerecht, die ihm den Besitz des
Ganzen verschafft hätte, ganz wohl haben gefallen lassen. — Worüber wir uns
nicht wundern. 2) Die Zeitungsagitation, theils .in den Schleswig - Holsteinschen
Lokalblättern, theils in der deutschen Presse, fand in dem Herzog ihren Mittel¬
punkt; theils hat er selber vieles geschrieben, theils die Operationen seiner Agen¬
ten geleitet. — Daß sich diejenigen Schriftsteller, welche nicht aus dynastischen,
sondern aus patriotischen Gründen der Sache annehmen, ebenfalls an das aner¬
kannte Haupt der Partei anschlössen, hat nichts befremdliches, y Der Herzog
hat im Anfang auf den dänischen Hos durch Entfaltung streng antidemokratischer
Grundsätze zu wirken gesucht, und daß diese Grundsätze anch wirklich diejenigen waren,
die mit seiner Gesinnung am besten übereinstimmten, dafür sprechen vielfache Aeu-
ßerungen in seinen Papieren. — Daß er später diese antidemokratische Richtung
weniger hat hervortreten lassen, ist gleichfalls natürlich.
Nun sind wir aber auch zu Ende. Wenn also der dänische Schriftsteller am
Schluß seiner Vorrede den Deutschen zuruft: „Zeigt, daß ihr Muth habt, die
^hre zu rette», indem ihr euch selbst sagt: wir wurden schändlich betrogen; nun
sind wir enttäuscht wordeu und sagen uns los von der Herrschaft der Lüge und
Ungerechtigkeit!" So ist dieser begeisterte Aufruf denn doch wohl nicht motivirt.
Einmal heben die Bemühungen des Herzogs, seine Rechtsansprüche durch die
Presse zu popularisircn, seine Rechtsansprüche nicht auf; eben so wenig widerspricht
sein Strebe», auch die Krone Dänemarks zu gewinnen, der Begründung seines
Anrechts auf die Herzogthümer.
Sodann handelte es sich bei diesem Kampfe nur der Form nach um Rechts¬
ansprüche. Vou den deutschen Volksmännern, die am lautesten den Krieg gegen
Dänemark gepredigt haben, hat gewiß nicht der zehnte Theil von der Existenz
eines Herzogs von Augustenburg etwas gewußt, und auch dieses Zehntel ist wahr-
^feig nicht durch die dynastischen Ansprüche in Begeisterung gerathen. Ist ja
doch Belgien auch ein unabhängiges Königreich geworden, obgleich die „Rechts¬
ansprüche" des Königs der Niederlande über allen Zweifel erhaben waren. Aber
^ belgische Nation wollte nicht mehr dem Schlepptau der Niederländischen fol-
^n, sie riß sich los, und Frankreich erklärte, trotz der Wiener Verträge: ich will,
^ ein mir stammverwandtes Volk nicht länger wider seinen Willen einem srem-
Volk gehorche. Diese Erklärung wurde von den legitimen Mächten respectirt,
man sich vor einem allgemeinen Krieg scheute. Wenn also Engländer, Fran-
Russen und Dänen jetzt wetteifernd die Hände ringen über die Usurpation
^ Königs von Preußen, der in den Herzogtümern dieselbe Rolle zu spielen
suchte, wie Louis Philipp in Belgien, so ist ein solcher Aufwand von Nechtsge-
überflüssig. Freilich würde es Rußland sehr unbequem sein, wenn Dänemark
Nrch bei, Verlust der Herzogthümer zu Gründe gerichtet würde, und damit der
, den es nach Belieben in das deutsche StaatSgefüge eintreiben konnte, ver-
ginge, freilich wird es dem brittischen Krämer fatal sein, wenn eine betrieb¬
ene Nation die Freiheit erlangt, auf dem Weltmarkt zu concurriren, freilich wird
wankreich es aus allen Kräften zu hindern suchen, daß Deutschland sich consvli-
und wir können nichts dagegen haben, denn sie handeln in ihrem Zu¬
messe avxr sie sollen sich nicht einbilden, uns mit ihrer Moral zu imponiren.
Was die Rechtsfrage betrifft, so war sie so verwickelt, so confus und in
yrer letzten Haltung so abgeschmackt, daß auf dem Wege der abstracten Juns-
ein M ^""6 möglich war. Sie konnte nur durch Gewalt, oder durch
der ^. der europäischen Mächte, das eigentlich anch nur eine ander« Form
den Z-^'^ ^' werden. In seinem offenen Briefe warf der dänische König
G ""/chen den Handschuh bin, denn er verbot, Kraft seines Beliebens, die
"
weiteren rechtlichen Deductionen; der Aufstand der Herzogthümer und die deutsche
Intervention war die Antwort.
Die deutschen Provinzen wollten nicht länger dänisch sein; sie machten in
Schleswig die gebildete Bevölkerung aus, und sahe» auf die Dänen, als anf die
niedere Klasse herab; sich von diesem Volk beherrschen zu lassen, konnte ihnen
nicht angemessen erscheinen, und daß die Dänen in der letzten Zeit sich in den
Herzogthümern ans eine ziemlich brutale Weise als die Herren präsentirten, wird
kein Däne leugnen können. Es bestand daher, lange vor jener Zeitungsagitation,
ein an Fanatismus grenzender Haß zwischen den Deutschen und den Dänen in
den Herzogthümern, und dieser Haß wurde keineswegs durch den Umstand gemin¬
dert, daß Dänemark das Fett der Herzogthümer abschöpfte, um seine eingebildete
europäische Rolle spielen zu können.
So griff man denn die dynastische Rechtsfrage auf. Freilich hätten die
Dänen durch eine Abänderung ihres Königsgesetzes diese Seite leicht erledigen
können, aber damit w, ? die nationale Differenz nicht gelöst. Der deutsche Bund
befand sich fortwährend im Zustand großer Verlegenheit. Seinem ganzen Wehe»
nach mußte es ihm unbegreiflich sein, wie Unterthanen zu der Dreistigkeit kämen,
sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wer eigentlich ihr rechtmäßiger Herr sei.
Andererseits war es ihm doch wieder zu stark, ein anerkanntes Bundesland ge¬
radezu an eine fremde Krone zu verlieren. Noch viel verlegener war das preu¬
ßische Cabinet, und es ist ein eigenes Gefühl, wenn man in der Staatszeitung
hie und da einen Aufsatz findet, in welchen! der Preuße sich figürlich mit einem
möglichst ernsthaften Gesicht den Schnurrbart dreht.
Da kam die Märzrevolution, die allgemeine Erhebung der Nationalitäten
gegen die blos dynastischen Interessen. Preußen wurde in den Krieg gedrängt;
es ließ sich willenlos fortreißen, ohne eigentlich von der Sache begeistert zu sein.
Darin lag seine Schuld und das Mißlingen des Unternehmens.
Für jetzt ist nichts weiter zu sagen; wir sind die Verlierenden, durch unfere
eigene Schuld. Bei der neuen Wendung der Dinge in Deutschland wird der
Krieg auch kaum wieder unternommen werden. Irgend ein Vergleich wird abge¬
schlossen werden, der die beiden vorigen an Verkehrtheit noch übertrifft, denn zu
einer vollständigen Abtretung der Herzogthümer an Dänemark wird sich selbst de>6
Ministerium Brandenburg kaum verstehe». Aber sobald Preußen oder Deutschland
sich aus seiner gegenwärtigen Erstarrung emporgerafft haben wird, muß es auch
diese Angelegenheit wieder betreiben, die für den Staat eben so eine Lebens¬
frage ist, als ehemals der Wiedergewinn von Danzig, Elbing u. s. w., die sog^
nannte Theilung Polens. Gleichviel, ob dann noch ein Haus Augustenburg ex>'
feire oder nicht.
Ich erinnere mich dunkel an Korrespondenzen, die ich in der vormärzlichen
Zeit ans Berlin an die Grenzboten schickte, über die Eitelkeit des Berlinerthums,
über diesen beständigen Hunger nach Emotionen, der nie gestillt wurde, weil er
nie einen realen Gegenstand fand. — Wenn ich mich jetzt in der Welt umsehe,
kommt mir dieser ganze, brave Ball höchst vormärzlich Berlinisch vor, „ekel, schaal
und unersprießlich," wie Hamlet sagt. Das Feuer ist allenthalben erloschen, aber
viel Rauch und Qualm, unheimlich zu riechen, widerwärtig zu sehn. — Freilich
wuß es auch solche Zeiten geben.
Werfen wir erst einen flüchtigen Blick in die fernere Perspective, auf den
atlantischen Ocean, auf die türkischen Steppen, nach Amerika, nach Australien.
Ueberall Haufe» freier Deutschen, freier Polen, freier Ungarn, die ihren patrio¬
tischen Rausch jetzt am schwankenden Bord des Schiffes unbehaglich ausschlafen.
Ihre guten Freunde, die nicht so glücklich waren, sitzen im Gefängniß, auch klingt
noch hin und wieder ein fataler Schuß in unser Ohr. Andere haben sich wieder
in die bescheidene Häuslichkeit zurückgezogen, sie banen das Feld, wie Gagern in
Monsheim, oder sie flüchten sich in eine Kammer-Sinccnr. Diese preußischen
Kammern! Von dramatischem Leben keine Spur, nicht einmal menschliches In¬
teresse an irgend einer Individualität. Es sind Typen, Gattungsmenschen, die nur
in Commissionen zu brauchen sind; die eigentliche Rednerbühne kann geschlossen
werden. Und draußen das Corps der Demokraten, die wieder, wie vor dem März,
sich in heimlichen Gesprächen über ihre wunderbare Freisinnigkeit unterhalten, die
einander versichern, es müsse anders werden. Ganz wie vor der Sündfluth.
Ich bitte Sie, was sind die Zeitungen wieder langweilig! Ich kann mir
kaum denken, daß vor zwei Jahren, als noch von keiner Revolution die Rede
war, eine Privatgeschichte so viel Anflehn hätte machen können, als jetzt der Brief
des Herrn Louis Napoleon an den Oberst Ney. Die französische Republik hat
aus angeborner Loyalität die rebellische» Unterthanen des heiligen Stuhls ihrem
legitimen Souverän wieder unterworfen, und möchte nun auch gern in den römi¬
schen Angelegenheiten ein Wörtchen mit sprechen. Der Papst verbittet sich das,
wie natürlich, und so muß denn die große Nation ein Mittel suchen, sich an dem
undankbaren Oberhaupt der Kirche zu revangiren. Es ist bald gefunden; der
Präsident der Republik schreibt an seinen guten Freund, den Oberst Ney: Hören
Sie, lieber Ney, das muß ich Ihnen sagen, das gefällt mir ganz und gar nicht,
daß wir in Rom mit so wenig Rücksichten behandelt werden! Ganz und gar
nicht, das gestehe ich Ihnen offen! — Der Brief wird gedruckt und Europa
geräth in eine große Aufregung. — Haben Sie schon gehört? Dem Prinzen
Bonaparte gefällt es ganz und gar nicht, daß die große Nation mit so wenig
Rücksichten behandelt wird! Ein höchst wichtiges Factum! — Ueber den Grad
dieser Wichtigkeit quält sich nun die Presse ab; die Herren v. Larochejacquelin
aber, v. Montalembert und die sonstigen Heiligen der goldenen Jugend vou Frank¬
reich, steigen zu ihrem Freunde und Gevatter, Herrn v. Falloux: Um Gottes¬
willen, wie können Sie es zugeben, daß dieser Herr Bonaparte sich über Dinge,
von deuen er nichts versteht, solche Impertinenzen erlaubt? — Aber mein Gott,
ich kann ihm doch nicht verwehren, mit seinem guten Freunde, Oberst Ney, zu
correspondiren, wenn es auch einen Gegenstand betrifft, der über seinen Horizont
geht! — Das hilft nichts, Sie müssen ebenfalls durch eine großartige Demon¬
stration der Sache eine neue Wendung geben. — Auch gut! aber was geschwind?
Der Präsident hat einen Brief geschrieben, nnn wohl, ich bekomme die Grippe!
— Und der Moniteur meldet, daß Herr v. Falloux die Grippe hat, Enropa ist
beruhigt, der heilige Stuhl zufriedengestellt und die Ehre der großen Nation mit
der Idee des europäischen Gleichgewichts vereinbart.
Einen besonders erhabenen Ausgang der jüngsten französischen Revolution
habe ich nie erwartet, aber ein so lächerlicher Schlußact geht über meine Vor¬
stellungen.
Soll mau sich da nicht wieder von der historischen Tragödie zum bürgerlichen
Schauspiel wenden? Von den Ideen zu den Individuen? Da ist doch Abwech¬
selung, Spaß, Abenteuer und liebenswürdige Tollheit. Verfolgen Sie die schöne
Lota auf ihren Wanderungen, die Geschichte ist nicht erbaulich, aber es ist doch
Race in dem Frauenzimmer! Die guten deutscheu Lyriker verschenken das ewige
Lied der Liebe und wollten nur noch zu Ehre Atoms' und seiner Söhne die
Cither schlagen; und nun liegt Agamemnon mit den Trojanern eingeschlossen in
dem Marioncttenkasten, und die bunten Flitter, die im Kerzenlicht hell genug
schimmerten, sehen bei Tage fahl und abgeschmackt aus. Es kaun noch nicht die
Lerche gewesen sein, ihr jungen Montecchi, die euch aus euren Sonetten geweckt
hat, ihr habt euch durch eine salschsingende Nachtigall foppen lassen. — Und Sie,
mein Freund! bleiben Sie beim Lustspiel, das allgemein Menschliche behält immer
seinen Reiz, die Weltgeschichte nimmt große Anläufe, aber man kann nicht wissen,
ob sie sich nicht im Sande verläuft.
Sehen Sie, die große» historischen Personen selbst neigen sich ja wieder Jff-
land zu. Wenn Sie ein großdentsches und ein kleindeutsches Blatt lesen, so soll¬
ten Sie denken, morgen geht's los; Haynau, der Held von Brescia, rückt vor
Berlin, und die Mark wird von kroatischen Rvthmänteln romantisirt, oder Wrän¬
ge! mit seinen Blechkappen entsetzt Komorn und ruft die Wiener Demokraten zur
Empörung gegen die militcnrische, schwarzgelbe Zwingherrschaft! - Und nun
blicken Sie nach Frankfurt! „Nun da seind's ja wieder!" nickt der Reichsver¬
weser seinem kleinen spaßigen Minister zu, der bis dahin die ganze Neichsjustiz
auf seinen Schultern getragen hat. Und kaum hatte er sich mit seinen näheren
Freunden unterhalten,' so erschien der kriegerische Prinz von Preußen, nicht allein
ihn zu begrüßen, sondern auch seine Gemahlin, die erste Frau Deutschlands, die
Baronin Brandhof, und der Erzherzog rief ihm freundlich zu, er möge doch zum
Thee im Ueberrock kommen, um ganz ohne Gene zu sein. In derselben Zeit be¬
suchen die Könige von Preußen und von Sachsen den jungen Kaiser von Oestreich
in Teplitz und er erwiedert den Besuch in Pillnitz; man spricht von einer hohen
Heirath, welche die landesstaatlichen Wirren erledigen soll. Wird nun auch die¬
ses herzliche Einverständniß einigermaßen verbittert dnrch die „Undankbarkeit" deS
baierschen Cabinets, das in seiner Thronrede einen ähnlichen Verstoß gegen das
preußische Gefühl macht, wie der heilige Vater in seiner Allocution gegen das
französische, indem es die Beseitigung des pfälzer Aufstandes durch die preußische»
Truppen gänzlich ignorirt und nur von den gesetzlichen Mitteln spricht, die der
Staat angewendet, so findet man hinlänglichen Trost in der englischen Presse, die
bisher mit dem reinsten brittischen suoei- auf die Einheitsbestrebungen der guten
Deutschen herabgesehen, jetzt aber plötzlich den Dreikönigsentwnrf in Schutz nimmt.
Freilich liegt der Grund sehr nahe, aber Michel ist doch sehr glücklich über diese,
wenn auch verspätete Anerkennung von Seiten der angestammten Erbweisheit in
politischen Dingen.
Während dieser harmlosen politischen Beschäftigungen geht in Wien ein Schau¬
spiel an, nur ein Schauspiel, dessen Hintergrund aber ernsthafter ist, als jene
^nannte politische Wirklichkeit. Ich meine jenen Triumphzug des alten Mar-
schals, der den Doppeladler in Italien wieder zu Ehren gebracht. Als er unter
lauten Jubel der Bevölkerung in Wien einzog und Siegeskranze über sein
Haupt regneten, warf er einen davon dem ritterlichen Barus zu, der neben ihm
s"b, dem siegreichen Rebellen, der zuerst den stolzen Magyaren Trotz geboten.
Ihm gegenüber hatten Haynan und Schwarzenberg Platz genommen, der letzte
kaiserliche Feldherr in Ungarn und der Leiter der Negierung. Sie sind nun alle
zusammen die mächtigen Satrapen, in deren Hand gegenwärtig daS Schicksal des
Kaiserstaates gelegt ist; sie haben nicht mehr nöthig, wie ehemals die östreichi¬
schen Generale, sich nach den Mienen des Hofkriegsraths umzusehen; sie sind
souverainer als ihr Herr. Einer fehlt in ihrer Reihe, noch vor einem halben
Jahre der stolzeste unter ihnen. Sehr schnell ist der Stern des Fürsten Windisch-
i^ätz erbleicht; vielleicht folgt ihm bald genug der eine und der andere. Vielleicht
wnd der tapfere Croat noch einmal in einer minder loyalen Rebellion das wech¬
selnde Geschick des Krieges zu erfahren haben.
Noch ein zweiter fehlt, mächtiger als sie alle; der Sieger über die Perser,
die Türken, die Polen, die Ungarn. Er hat sich in das dunkle Reich seines Herrn
und Kaisers zurückgezogen, eines zweiten Winkes gewärtig. Es ist sonderbar, daß
gerade zur Feier jenes Triumphzugs der Brief Görger/s pubkcirt wurde, in dem
er den Russen seine Unterwerfung anzeigt, im Uebrigen aber erklärt, er werde sich
lieber in Stücke hacken lassen, als sich an Oestreich ergeben.
Hell strahlt die Erleuchtung in dem Dom des alten Oestreich, laut klingen
die Siegeslieder; aber das Fundament, aus dem es gebaut, hat sich hohl gezeigt;
ein Erdstoß und es fliegt in Trümmer.
Dieser Artikel kommt sehr spät, er soll auch nur zur Widerlegung der Entstellung
dienen, die sich viele Blätter über diese schöne Feier erlaubt haben."
Durch eine Zusammenkunft am 27. August der Loge „Amalia wurde die Feier
eröffnet. Am Abend desselben Tages war das Goethe'sehe Gartenhaus und das römische
Haus prachtvoll erleuchtet. Bei dem ersteren waren zwei, gegen 60 Zoll hohe Kande¬
laber errichtet, mit mehrern tausend Lampen geschmückt. Ein Sängerchor sang „Licht,
mehr Licht," componirt vom Kapellmeister »>. Liszt. Eben so prachtvoll war die
Erleuchtung des römischen Hauses, an welchem die Transparente Carl August, Goethe,
Anna Amalia waren. Leider störte das stürmische und regnerische Wetter die Beleuch¬
tung, daher sie am folgenden Abend widerholt wurde und glücklich gelang. Am 28.
früh 7 Uhr war ein Festzug »ach Goethe's Ruhestätte, in der Großherzoglichcn Fami¬
liengruft auf dem neuen Friedhof. Als daselbst der Zug angelangt war, wurden zwei
Gesangstücke mit Instrumentalbegleitung aufgeführt, das eine von unserm talentvollen,
tüchtigen Kammermusikus Stör, das andere von Hiller. Beide Kompositionen waren
zur würdigen Feier des Festes sehr geeignet. Jedem Anwesenden war der Zutritt in
die fürstliche Gruft gestattet. Um 1l Uhr begann die Feier auf der Großherzoglichcn
Bibliothek, deren neuer Anbau zugleich eingeweiht wurde. Der enge Raum gestattete
freilich nur den Zutritt durch Einlaßkarten, welche aber an Jedermann, je nachdem
er sich zur Zeit gemeldet hatte, abgegeben wurden. Wohl gegen 400-Personen, dar¬
unter auch die Frau Großherzogin, der Erbgroßherzog nebst Gemahlin waren zugegen.
Der Hofrath und Oberbibliothekar Preller hielt eine Rede, in welcher er Alles, was
ans Goethe nur Bezug hatte, in höchst geistreicher Weise zusammenfaßte. Vor und
nach derselben wurde eine neue, vom Kapellmeister Chelard componirte Cantate auf¬
geführt, welche vou anwesenden Mnstkverständigen als eine vortreffliche Komposition
genannt wurde. Nachmittags um 2 Uhr waren zwei Festtafeln in den Localen der
Erholung und Armbrnstschützengescllschaft. An sinnreichen Toasten fehlte es natürlrcy
nicht. Der Geheime Staatsrath v. Wydcnbrugk sprach dem Andenken Goethe's ge¬
haltvolle Worte. Hofrath und Gymnasialdirector v>-. Sauppe brachte, indem er Goe¬
the's Ausenthalt in Jena gedachte, dieser Universität ein Hoch! Kaufmann HoncY
erinnerte an Frankfurt, Gveth'S Geburtsort, machte auf die Bedeutung dieser Stavi
w der Neuzeit aufmerksam, und brachte dem einigen Deutschland ein Hoch! Dichter^
weg aus Berlin, der General der deutschen Schulmeister, ließ die Frauen hoch levai,
welche für Goethe Theilnahme zeigten. So kam der Abend heran, und das Theat
war gedrängt voll, denn Tasso wurde gegeben. Sowohl die Titelrolle, welche v
Dessoir, als auch die übrigen Rollen wurden von unsern Schauspielern vortrefflich S>
geben. Um 9 Uhr begann die Illumination der Stadt, welche wider alles Erwarten
gut ausfiel. Das Großherzogliche Palais, das Rathhaus, das Jndustriecomptoir waren
geschmackvoll erleuchtet. Ganz einfach, aber schön war der Plan, woselbst Goethe's
Wohnhaus steht, umgeben von meist kleinen Häusern schlichter Bürger. Ein kleiner
Transparent an dem Hause eines Wagncrmcisters: „Den Mann von so viel Geist und
Kraft, ehrt heut' noch seine Nachbarschaft!" zeugt wirklich von der Intelligenz unseres
Handwerkerstandes. Der in der Mitte dieses Platzes befindliche Brunnen war mit
Brettern überdeckt, damit während der Festtage Goethe's Statue aus Gyps darauf
ruhen konnte, mit Topfblumcn schon decorirt. Nach dem Theater waren in dem Gar¬
ten der Armbrustschützcngcscllschaft Tableau aus Iphigenia, Götz. Faust und Egmont;
den Schluß derselbe» bildete die Enthüllung der Goethe-Büste, welcher ein Genius einen
Lorbeerkranz aufhalte und die Musen zeigten sich in verschiedenen Gruppen. Gewiß
auch ein schöner Beitrag zur Goethefeier, mit welcher der 28. August schloß. Am
Morgen des 2!>. war im Park zu Tiefnrtb durch Dillctanten die Aufführung des Jahr¬
marktes von Plundcrsweilern. Man muß dieser sehr gelungenen Ausführung volle An--
erkennung zollen; sie war ein getreues Bild aus jener Zeit, in welcher die deutsche
Poesie gerade in Weimar in ihrer herrlichsten Blüthe sich entfaltete. Am Abend dieses
Tages war im Theater unter der Leitung des Hvskapellmeistcrs »>. Liszt Concert.
Ich unterlasse hier alle genaue Beurtheilung, unsere Capelle bewährte ihren alten
Ruhm auss Glänzendste; so wie auch der Montag'sche Singverein seinem Dirigenten
große Ehre machte. Bei Allem bemerkte man nun auch Liszt's musikalische Allgewalt,
sonst hätte man nicht bei den wenigen Proben, welche stattfinden konnten, Mendel-
sohn's Meeresstille und Beethoven's !). Symphonie mit so ausgczeichner Präcision hören
können. Chor der Engel aus Faust, von Liszt, Finale ans dem l. Ti,l, des Faust.
von R. Schumann, fanden ebenfalls stürmischen Beifall. — Die ganze Feier wurde
mit einem solennen Fackelzug selbigen Abends geschlossen.
Außerdem verdient auch noch hervorgehoben zu wcxdcn, daß die Dichterzimmer des
Grvßherzoglichcn Schlosses, so wie Göthe's und Schiller's Wohnung Jedem geöffnet
waren.
Es gab hier eine gewisse Partei, welche, von verletzter Eitelkeit getrieben, das
Festcomitv schon vor der Feier schonungslos angriff, weil es sich „ oktroyirt" habe.
Obgleich dies Wort und seine Bedeutung im Übeln Rufe steht, so muß man es doch
den Herren Dank wissen, daß sie die Sache aus eigenem Antriebe in die Hand nah¬
men; es herrscht in einem solchen frei zusammengetretenen, sogenannten „vctroyirten"
Comite eher Uebereinstimmung im Handeln. Hatte man erst in einer Versammlung
ein Comite gewählt, wie es jene in ihrer Eitelkeit verletzten Herren wollten, die Feier
wäre nicht so ein Ganzes geworden, man würde ihr in Vielem das Gepräge des
Stückwerks angesehn haben.
Es ist auffallend, daß in einer Stadt wie Breslau, die doch in so vielfacher Beziehung
su dem benachbarten Polen steht, und Hauptstadt einer Provinz ist, wo das polnische
leinene so bedeutend vertreten ist, bis jetzt noch so wenig für den Unterricht in der
Punschen Sprache gethan worden ist. Keinenfalls kann man die Ursache hiervon in
Abneigung gegen die Sprache oder gar gegen das Volk suchen, welches Jahr
qriW Breslau's häufigste Gäste bildet, und gewohnt ist, von hier aus den
> Mer Theil seiner Bedürfnisse zu entnehmen; es ist vielmehr hier die allgemeine
emnng, hie Erlernung dieser Sprache als etwas Ueberflüssiges zu betrachten, als ja
jeder Pole deutsch spricht. Bei uns in Breslau ist dies allerdings, der Fall, der Ver¬
kehr wird uns so leicht gemacht, daß sich der polnische Käufer noch eines ihm fremden
Idioms bedienen muß,, um für sein gutes Geld unsere Waaren zu erhalten. Im Ver¬
hältniß wie der Pole zu uns, stehen wir zu den westlichen Nachbarn, den Franzosen
und Engländern, und es dürften wohl wenig Bestellungen bei diesen, besonders bei
den ersteren, gemacht werden, wobei man sich der denk scheu Sprache bediente. Der
Vortheil aber, der uns aus der Erlernung einer der reichsten und am meisten ausge¬
bildeten slavischen Sprache» erwächst, ist ein zu bedeutender, als daß man nicht fort¬
während darauf zurückkommen und die Aufmerksamkeit unserer Jngend und ihrer Aeltern
aus diesen Gegenstand hinlenken sollte. Wir Deutsche rühmen uns. die Apostel zu
sein, welche die Bestimmung haben, Cultur und Intelligenz nach dem Osten zu tra¬
gen, und wirklich, diese Mission haben wir gegen die Polen in vieler Hinsicht erfüllt.
Wo das Auge in Polen hinblickt, überall sieht es rührige deutsche Hände, überall tritt
ihm deutscher Fleiß entgegen, den der Pole nicht entbehren kann, und welchen er mit
klingender Münze bezahlen muß, und auch gern bezahlt. Bedurfte es eines Beweises,
so könnten Hunderte von Deutschen, unter andern in Warschau, aufgezählt werden,
welche als bescheidene Handswcrksburscheu eingewandert, und heute reiche Bürger sind.
Ist aber diese erwähnte Mission wirklich die unsrige, so liegt es doch wahrlich ans der
Hand, daß wir vor Allem-daran denken müßten, die Sprache des Volkes zu erlernen,
mit welchen wir verkehren, dem wir uus verständlich machen sollen. Daß dies so we¬
nig geschieht, ist mit der Hauptgrund, warum die Scheidewand zwischen Deutschen und
Polen eine so schroffe ist.
Doch selbst wenn wir unsern Blick nicht über die preußische Grenze richten, stellt
sich das Bedürfniß der Erlernung der polnischen Sprache für unsere Jugend als ein
nnal'wetsbares heraus. So schwer es dem jungen Mann, der seine Studien beendigt
hat, wird, in dem deutsch redenden Theil unserer Provinz, eine Anstellung zu erlangen,
so leicht würde ihm dies in Oberschlesien oder dem Großherzogthume werden, wenn er
polnisch spräche. Es ist bekannt, daß in Oberschlesien eine Masse von Stellen für
Lehrer und Geistliche offen sind, die nur deshalb unbesetzt bleiben, weil die sich melden¬
den Kandidaten nicht polnisch versteh«.. Gerne soll zugegeben werden, daß wir als
Deutsche uns nnter Deutschen wohler fühlen, als unter Polen; wenn uns jedoch die
Wahl nicht gelassen wird und wir noch außerdem die Aussicht haben, gerade nnter der
fremde» Zunge durch Lehre und Beispiel segensreich zu wirke», so ist es Engherzigkeit,
wenn wir uns 'zu diesem Beruft nicht freudig und mit Hingebung vorbereiten wollten.
Wie Referent erfahren hat, sind neuerdings Schritte geschehen, um den an den
Gymnasien unserer Stadt ganz in den Hintergrund getretenen Unterricht in der pol¬
nischen Sprache wieder in Ausnahme zu bringen und zu heben. Bemühungen der Art,
besonders wenn sie von Privaten ausgehen, sind um so mehr zu loben, als sie bei
uns wahrlich nicht denkbarer Natur sind. Ist es denn für die Söhne Vreslau's so
unangenehm, eine Sprache zu erlernen, welche später leicht für sie eine Quelle des
Wohlstandes werden dürfte, und außerdem die in geringen Abweichungen des Idioms
von mehr als 10 Millionen Menschen gesprochen wird, welche den Schlesier fast von
allen Seiten begrenzen.
Mit Ur. Al» beginnt das IV. Quartal der Grenz¬
boten, worauf alle Buchhandlungen und Postämter Bestel¬
lungen annehmen. Die Weriagshandlnng.