Dieses Werk ist gemeinfrei.
Fraktur
Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.
Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;
Nachkorrektur erfolgte automatisch.
]]>Zeitschrift
für
Politik, Litteratur und Kunst
W. Jahrgang
Zweites Vierteljahr
Leipzig
Verlag von Fr. A?ils. Grunow
ir studieren die Vergangenheit, um ans ihr heraus die Gegen¬
wart zu verstehn. Aber ebenso bedeutend ist der Einfluß, den
die Erfahrungen unsrer eignen Zeit auf die Auffassung der Ver¬
gangenheit ausüben. Den richtigen Standpunkt für die Beurteilung
der deutscheu Geschichte haben wir erst seit der Erneuerung des
Reichs gewonnen, unsre mittelalterliche Kaiserzeit ist uns erst durch die neue
deutsche Weltpolitik ganz verständlich geworden. Aber auch die Erkenntnis des
klassischen Altertums ist von den Wandlungen der deutschen Geschicke viel ab¬
hängiger, als es zunächst scheint. Sogar die Aufgabe, die hier der Wissenschaft
gestellt wird, ist erst sehr allmählich erkannt worden.
Was Null heute die Wissenschaft vom klassischen Altertum, die klassische
Philologie im weitesten Sinne? Sie will die griechisch-römische Welt, die Kultur,
die alle Mittelmeerlünder mit einem guten Teile Vorderasiens und des euro¬
päischen Binnenlandes zu einer geistigen und schließlich auch zu einer politischen
Einheit verband, eine großartige Erscheinung, die niemals wieder ihres gleichen
gehabt hat, in allen ihren Lebensäußerungen und mit allen wissenschaftlichen
Mitteln als eine Einheit historisch begreifen. Das erscheint so selbstverständlich,
so einfach, und ist doch erst das mühsame Ergebnis vornehmlich der deutschen
Forschungsarbeit des neunzehnten Jahrhunderts. Vollends die Erweiterung
und Vertiefung des historischen Verständnisses vom klassischen Altertum steht
unter der fortgesetzten Einwirkung der Zeitwährungen, derart, daß sie der
eignen, besonders der politischen Entwicklung der modernen Welt, und namentlich
Deutschlands, geradezu parallel läuft.
Der Humanismus, der in das,dämmernde Dunkel mittelalterlich-kirchlicher
Bildung zuerst einen frischen Luftzug und einen Strahl hellen Tageslichts
hineinbrachte, in den Deutschen zuerst eine Ahnung erweckte von einer Welt
edler Schönheit und geistiger Freiheit, sah in den alten Schriftstellern nur
Muster für die eigne Darstellung oder wissenschaftliche Lehrschriften, in den
antiken Menschen und Dingen nur Beispiele von menschlicher Tugend und Un¬
tugend zum rhetorischen oder erbaulichen Aufputz; von einem historischen Ver¬
ständnis war gar keine Rede, nicht einmal der Schriftwerke, geschweige des
antiken Lebens, und da das allerdings von der scholastischen Verbildung ge¬
säuberte Latein nach wie vor die Sprache der Wissenschaft, also auch der Uni¬
versitäten und der Schulen blieb, so trat das Griechische völlig zurück, und mit
der lateinischen Sprache stand das Römerinn, durchaus im Vordergründe des
Interesses. Das dauerte bis tief in das achtzehnte Jahrhundert hinein, um so
mehr, als die römische Kirche das Lateinische als ihre Sprache festhielt und ihre
meist jesuitische Erziehung der hellenischen Geistesfreiheit verständnislos und
feindselig gegenüber stand. Sogar die bildende Kunst wurde von dem spät¬
römischen Vorbilde beherrscht, das dem Sinne des siebzehnten und achtzehnten
Jahrhunderts für fürstlich-höfische Weitrnumigkeit und Prachtentfaltung entsprach.
Die echte griechische Kunst kannten weder die Künstler der Renaissance noch
die der Barockzeit, und Griechenland selbst war ein verkommnes Barbarenland,
wohin selten ein europäischer Reisender seinen Fuß setzte. Wer das „klassische"
Altertum an der Quelle studieren wollte, der ging nach Italien, und auch dort
haben die großartigen altgriechischen Tempelreste in Pästum, Girgenti, Segesta
und Selinus der Kunst gnr keine Anregung geboten; sie wurden selbst
Goethen erst langsam verständlich.
Für Deutschland haben erst I. I. Winckelmann und G. E. Lessing das
griechische Altertum wirklich entdeckt. Der arme Schusterssohn aus Stendal
in der Altmark, mit wie schönheitsdurstigen Herzen hat er sich, hungernd und
darbend in elenden dürftigen Schulstellungen, in die Schriftsteller der helle¬
nischen Welt vertieft, die er sich lange Jahre in einer ärmlichen Umgebung
nur in seiner Phantasie vorznuberte, bis ihn dann ein gütiges Geschick an den
glänzenden kunstsinnigen Dresdner Hof und endlich nach Italien führte! Hier
abstrahierte er aus der Fülle der Denkmäler das seitdem diese Zeit beherrschende
griechische Kunstideal, „die edle Einfalt und stille Größe," hier schrieb er seine
Geschichte der Kunst des Altertums, die die moderne Kunstwissenschaft be¬
gründete. Und Lessing, der knmpfesfrohe Pfarrerssohn aus der Oberlausitz,
trat mit schärfster Kritik für den echten Aristoteles gegen den falschen der
Franzosen, für Sophokles gegen die gespreizten Nömerdrmnen des Liöels as
I.ouis XIV, für Homer gegen Birgil in die Schranken, überall für das Ori¬
ginale gegen das nachgeahmte. Auf diesem Boden erwuchs die neue klassische
Litteratur der Deutschen, nicht in römischer Luft, wie die französische, sondern
in griechischer, und ihre edelste Schöpfung, Goethes Iphigenie, goß eine modern¬
humane Gedanken- und Empfindungswelt in hellenische Formen von edler
Einfalt und stiller Größe.
Aber wenn es das Verdienst dieser Zeit ist, über das Römertum hinweg
zum Griechentum hindurchgedrungen zu sein, von wirklicher historischer Er¬
kenntnis auch nur seiner Litteratur und Kunst war sie doch noch sehr weit
entfernt. Denn dieses selbstsichere Geschlecht der Aufklärung legte an alles
einen absoluten Maßstab, es suchte nach dem richtigen, dem guten Geschmack
genau so wie nach der Vernunftreligion, dem Vernunftrecht und dem Vernunft
Staat und verwarf rücksichtslos, was diesen scheinbar absoluten logischen Kon-
struktionen widersprach, Bon einem historischen Urteil über die politische Ent
Wicklung des Altertums war dumm vollends keine Rede, denn die Menschen
dieser Zeit lebten in absoluten Monarchien, die, ans Heer und Beamtentum
beruhend, auch den Gebildeten keinerlei Anteil an ihrer Leitung gewährten,
sodaß diese auch innerlich kaum Anteil am staatlichen Leben nahmen, und
wenn sie ein Staatsideal hatten, so war dies das abstrakt republikanische,
den» die Republik war die herrschende Staatsform des Altertums, und die
Helden Plutarchs, des damals gerade wegen seiner moralisierenden Tendenz
weitaus wirkungsvollsten aller antiken Historiker, waren Verkörperungen republi¬
kanischer Tugenden, Die französische Revolution mit ihre» rasch wechselnden,
weil, unhaltbaren Verfassungsexperimenten mehr oder weniger republikanischen
Gepräges, mit ihrer Begeisterung für antike Tugenden, antike Moden und
antike Namen war das echte und gerechte Erzeugnis dieser Sinnesrichtung und
deshalb wenigsteus in ihren Anfängen mich das Entzücken fast aller gebildeten
Deutschen.
Und doch hatte schon eine grundtiefe Wandlung der Anschauungen ein¬
gesetzt. Noch ehe der Engländer Eduard Gibbon, weil er ein Bürger des
politisch reifsten Volks im damaligen Europa war, augesichts der Ruinen
Roms den Plan zu seiner großartigen, noch heute als Ganzes unerreichten
Geschichte vom Verfall und Untergänge des römischen Reichs faßte, begann
I. G. Herder die Ideen zu entfalten, auf denen alle Geisteswissenschaft und
zumal die historisch-philologische Wissenschaft des gesamten neunzehnten Jahr¬
hunderts beruht. Er fragte nicht mehr: Wer ist größer, Homer oder Virgil,
Sophokles oder Shakespeare? sondern er suchte zu begreifen, warum Sophokles
in Griechenland, Shakespeare in England erwachsen sei, und zu zeigen, daß
jeder eben mir auf dem Boden seines Landes und Volkes möglich gewesen
sei. Später hat er in seinen „Ideen" die ganze alte Geschichte so betrachtet
und damit die moderne Auffassung, die wirklich historische Auffassung begründet,
die sich bemüht, jede geschichtliche Erscheinung ans ihren Lebensbedingungen,
ihrer Umwelt heraus zu begreifen.
Aber wenn diese Zeit die historische Entwicklung der geistigen Kultur zu
versteh» begann, weil sie selbst eine hohe Stufe in dieser Entwicklung erreicht
hatte, das Wesen des Staats und der Nation verstand sie wenigstens in
Deutschland noch immer nicht. Erst die furchtbaren Erschütterungen der Napo-
leonischen Zeit lehrten,die deutschen Weltbürger, daß das Dasein des Einzelnen
und eine hohe Kultur haltlos seien ohne den Staat, und daß das höchste Gut
eitles großen Volks die Unabhängigkeit von fremder Gewalt lind Herrschaft
sei. Und während sich die Romantik mit liebevollem Eifer in das Studium
des eignen Volkstums vertiefte, begann der Holsteiner B. G. Niebuhr, kein
Fachgelehrter, sondern zunächst ein praktischer Geschäftsmann, ergriffen von
dem Zusammenbruch des preußischen Staats, dem er freiwillig diente, gerade
in den Jahren napoleonischer Machthöhe, 1811 und 1812, die Geschichte
Roms zu erzählen, nicht wie einer, der mir eine wissenschaftliche Aufgabe lösen
will, die ihn innerlich kühl läßt, sondern wie eiuer, der ähnliches selbst geschaut
hat und die Schicksale eines fremden, längst untergegangnen Volks wie ein
Mitlebender empfindet. Für die Griechenwclt kam die Erkenntnis wenig später.
August Böckh in Berlin stellte in seinem großartigen Werke über den attischen
Staatshaushalt (1817) zum erstenmale das Leben eines griechischen Staats,
und zwar des wichtigsten griechischen Staats, auf die feste Basis seiner Insti¬
tutionen, indem er Fragen aufwarf und beantwortete, die bisher niemals in
Bezug auf einen antiken Staat gestellt worden waren; er ging durch sein
LivrxuL inseriptionunr A'rg.e«u'uiri (seit 1824) zuerst weit über die schriftstelle¬
rischen Quellen hinaus und faßte zum erstenmale das hellenische Altertum als
ein Ganzes, die Darstellung dieses Ganzen als die Aufgabe der philologischen
Wissenschaft. Völlig in seinem Sinne unternahm es sein Schüler Otfried
Müller in seinen Geschichten hellenischer Stämme und Städte (Minder 1820,
Dorier 1824), einzelne große Ausschnitte dieses Ganzen nach allen Seiten der
Entwicklung hin zu behandeln. Es war kein Zufall, daß diese Werke in einer
Zeit entstanden, wo der Neubau des preußischen Staats die allgemeine Auf¬
merksamkeit der Gebildeten ans innerpolitische Fragen richtete, und der Ge¬
danke, diese Kreise zur politischen Mitarbeit heranzuziehn, sich in den neuen
Verfassungen immer mehr verwirklichte. Es war vielleicht auch kein Zufall
und nicht nur das Ergebnis alter Tradition, daß die andre Richtung der
Philologie, die ihre Aufgabe in der Textkritik und der Erklärung der Schrift¬
steller sah und Gottfried Hermann in Leipzig als ihr Haupt verehrte, in
Sachsen ihren Hauptsitz hatte, wo es bis 1830 gar kein, wirkliches politisches
Leben gab. Auch hat es lange gewährt, ehe Böckhs Auffassung durchdrang;
was an Kenntnissen über die verschiednen Seiten der antiken Kultur in emsiger
Sammelarbeit aufgehäuft wurde, das ging unter dem Namen der „Alter¬
tümer," also einer mechanischen, äußerlichen Ansammlung von Einzelheiten,
und diente vor allem der Erklärung der Schriftsteller. Auch die Wissenschaft
von der antiken Kunst, die Archäologie, stand noch lange abseits; ihre Ver¬
treter galten den zünftigen Philologen nicht für voll, und das Studium dieser
so besonders großartigen Seite der antiken Kultur galt vielen Studenten der
Philologie für entbehrlich, nur weil mau darin nicht examiniert wurde. Denn
traurige Banausen, Handwerker des Geistes, hat es zu allen Zeiten gegeben,
auch unter den Philologen.
Doch um das Ziel der politischen Entwicklung der klassischen Völker zu
erkennen und von diesem Ziele aus diese Entwicklung zu beurteilen, dazu be¬
dürfte es neuer Erfahrungen am eiguen Leibe, der Erkenntnis, daß auch für
uns Deutsche der Nationalstaat, die politische Einheit der Nation das höchste
Gut und die Vollendung unsers Wesens sei. Zuerst in den Kreisen der wissen¬
schaftlich Gebildeten ist sie in Deutschland aufgetaucht, mehr noch ein wissen-
schaftlich theoretisches Produkt als eine unmittelbare Empfindung, und die
Massen, die sich 1848 gegen die alten Zustünde erhoben, erstrebten überhaupt
nicht die Einheit, sondern die Freiheit. An diesem innern Widerspruch und
an dem Widerstande oder dem Kleinmut der Regierungen scheiterte die große
volkstümliche Bewegung der Sturmjahre. Aber das Ziel war erkannt, und
unvergessen blieb das Frankfurter Parlament, das es zum erstenmal wieder
gewagt hatte, einen deutschen Kaiser zu küren, und das an geistigem Adel einzig
geblieben ist, denn es vereinigte in der That die geistige Aristokratie der Nation,
alle die großen Namen der deutschen Wissenschaft. Darum wirkte die Er¬
innerung daran gerade ans die wissenschaftliche Erkenntnis so stark hinüber.
Theodor Mommsen, der seine nationale Gesinnung mit dem Verluste seiner
Leipziger Stellung büßen mußte, sprach es in seiner Römischen Geschichte (1851)
zuerst aus, daß diese römische Geschichte der Thpns der nationalen Entwicklung
sei, und daß er deshalb nicht etwa die Geschichte der Stadt Rom erzählen
wolle, sondern die des von Rom geeinten Italiens. Ich kann mich noch
deutlich daran erinnern, wie sehr mich das befremdete, als ich es zum ersten¬
mal las. Also alle die blutigen Kriege gegen die italischen Stamme, bei denen
ich als Schüler natürlich die Partei der heldenmütigen Samniter genommen
hatte, und der Hannibcilische Krieg, bei dem ich mich selbstverständlich für den
großen Punier begeistert hatte, das sollten nicht nur Eroberungskriege dieser
hartem, unliebenswürdigen Römer gewesen sein, sondern auch und vor allem
Kämpfe um die Einigung Italiens und für ihre Behauptung gegen den furcht¬
baren semitischen Landesfeind? Natürlich, wir lebten damals in der Zeit der
Turner-, Sänger- und Schützenfeste; wir glaubten alles Ernstes, daß die
deutschen „Stämme" einander alle brüderlich liebte» und nur darauf warteten,
einander gerührt in die Arme zu sinken, wie es ja Turner, Sänger und
Schützen bei jedem Feste thaten, wenn nur die bösen Regierungen es endlich
erlauben wollten, und wir ahnten gar nicht, wie viel Eigensinn, Haß und
Neid unter ihnen lebte, und wie jeder „Stamm," jedes „Lündle" zwar die
deutsche Einheit wollte, aber nur unter der Bedingung, daß dabei jede „be¬
rechtigte Eigentümlichkeit" — und berechtigt waren sie alle — sorgfältig ge¬
schont werde. Oder wenn wir einmal daran dachten und sahen, wie oft
Einigungsversuche fehlgeschlagen waren, dann nahmen wir unsre gelehrte
Bildung zu Hilfe und suchten — echt deutsch — Trost bei der philosophischen
Erwägung, daß Deutschland das Griechenland des Altertums sei. Ich muß
allerdings gestehn, daß ich, als mir dieses Thema einmal in Prima zugemutet
wurde, trotzig die Widerlegung dieses resignierten niebuhrschen Satzes unter-
nahm. Schließlich sollte ich Recht behalten; aber daß die Einheit einer Nation
nicht mit Reden und Trinksprüchen und patriotische!, Liedern gemacht werde,
auch nicht mit Zeitungsartikeln und Majoritätsbeschlüssen, sondern „mit Blut
und Eisen," unter schweren Kämpfen, das lehrten uns erst die Sommerwochen
von 1866, und wir sahen auch, daß es niemals anders gewesen sei, daß viel¬
mehr alle die großen europäischen Kulturvölker, Engländer, Spanier, Franzosen,
Russen eben auch auf diese Weise, nur um Jahrhunderte früher, geeinigt worden
seien, und von den Italienern erlebten wir es selbst. So behielt denn
Mommsen endlich Recht. In der That, seitdem im Marserkriege das römische
Bürgerrecht allen Jtalikern zu teil geworden war, und das Band eines ein¬
heitlichen Rechts alle freien Männer der ganzen Halbinsel umschlang, gab es
eine italische Nation und ein italisches Nationalgefühl. Niemand hat es
wärmer und schöner verherrlicht, als Virgil, der Jtaliter aus dem latinisierten
Keltenlande am Po (Georg. 2,140. 170 ff.):
Nichts nimmt es mit Italiens Schönheit auf. —
Sei mir gegrüßt, Saturnus heilige Erde,
Du Mutter reichster Früchte in Feld und Wald,
Mutter von Männern du —
und stolz ruft er seinen Landsleuten zu in denk Epos, das aus dein Bewußt¬
sein schicksalsbestimmter italisch-römischer Größe hervorgegangen ist, der Äneide
(0, 850 ff.):
Du, Römer, sei der Herr den Völkern allen.
Dein ist die Herrscherkunst, so übe sie,
Und zwing die Well, den Frieden zu ertragen,
Den Trotzgen furchtbar, mild den Überwnndnen,
Aber was für die römische Geschichte galt, galt das auch für die griechische?
Für dieses Volk der Küstenländer und Inseln, das sich in zahllosen engen Kreisen
abschloß und eben in ihnen den wunderbaren Reichtum einer unvergleichlichen
Kultur entfaltete, das sich in unaufhörlichen innern Kämpfen erschöpfte und
endlich den Fremden, den Makedonien: zur Beute siel? Nun, ein sehr lebendiges
Nationalgefühl hatten doch auch die Griechen in der Zeit nach den Perserkriegen;
nur beruhte es vor allem auf der Hoheit Kultur, auf dem stolzen Bewußtsein
einer unendlichen Überlegenheit über alle „Barbaren," und zur politischen Ein¬
heit führte es nicht; ja sogar das Streben danach schien zu fehlen. Der Kampf
zwischen Athen und Sparta erschien nur als ein Ringen tun die Hegemonie, die
leitende Stellung des einen der beiden Staaten, wobei seit George Grote, der
als Bürger eines parlameiitarisch regierten Volks die attische Demokratie zuerst
gerecht würdigte, sich die Sympathien der Historiker im nllgemeineu den Athenern
zuneigten. Auch bei Ernst Curtius (Griechische Geschichte II. Bd., 1861) ist in der
Erzählung vom ersten attischen Seehunde, seiner Ausbildung und seinem Zu-
sammenbruch im peloponnesischen Kriege noch gar keine Rede davon, daß dieses
„Reich der Athener," ^ ^'^«/c^, der erste und einzige ernsthafte
Ansatz gewesen sei, einen griechischem Nationalstaat unter ätherischer Führung
zu schaffen; ja Curtius, selbst preußisch gesinnt und der Lehrer des Kron¬
prinzen Friedrich Wilhelm, des spätern Kaisers Friedrich, erzählt nicht ohne
ein gewisses Gefühl der Mißbilligung, wie Athen seine ursprünglich „gleich¬
berechtigten" Bundesgenossen, diese ohnmächtigen Jnselkleinstaateu, allmählich
zu Unterthanen hinabgedrückt und dadurch ihre Mißstimmung erregt habe, als
ob das überhaupt anders hätte sein können. Aber das war die Zeit, wo der
Liberalismus von „moralischen Eroberungen" Preußens in Deutschland sprach
und, unbelehrt durch 1848/49, die deutsche Einheit ohne Krieg erreichen zu
können glaubte. Da war es ein junger Heidelberger Historiker, Wilhelm
Oncken, der 1865 in seinem Buche „Athen und Hellas" keck den Satz aufstellte,
der attische Demos sei der Träger der griechischen Einheitsidee gewesen und
habe, „nachdem er des Hellenentums Freiheit gerettet, in seinem Bnndesreiche
die erste und dauerndste Staatsform geschaffen, in welcher die Idee der National-
einheit , , , ihre Verwirklichung gefunden" habe <l, 11), Er wurde von mancher
philologischen Seite scharf zurechtgewiesen, weil er „modernisiere," aber er hatte
doch Recht. Als wir in den Krieg von 1866 hineintrieben, den Krieg einer
jungen Großmacht, mit dem nationalen Programm auf der Fahne, gegen eine
alte Großmacht, die nichts für sich hatte als ehrwürdige Ansprüche, aber nicht
die Spur eines nationalen Programms, als es vielen sogenannten „guten
Deutschen" für national und volkstümlich galt, Preußen niederzuwerfen, und
sich unter nationalen Phrasen nichts weiter verbarg als Haß und Neid und
Impotenz, als alle die salbungsvollen Reden von Verbrüderung der Stämme
spurlos vergessen waren, da habe ich — ich entsinne mich dessen noch genau —
mit einer Empfindung wahrer Erschütterung in dem zweiten Bande von Curtius
die Seiten gelesen (307 ff.), in denen er die Stimmung Griechenlands vor dein
Ausbruch des peloponnesischen Kriegs schildert; das paßte ja fast Zug um
Zug auf das Deutschland im Juni 1866, wenn man nur die modernen Namen
einsetzte, und es war doch fünf Jahre vorher geschrieben! Nur der Ausgang
sollte der entgegengesetzte sein von dem im alten Griechenland. Daß die Herr¬
schaft Athens die nationale Einheit der Griechen bedeutete, zwar nicht aller
Teile der weitverzweigten Nation, wohl aber ihrer besten und thätigsten Teile
rings um das griechische Hauptmeer, wie ja auch kein moderner Nationalstaat
Europas alle Glieder der Nation umschließt, daß da ein fester griechischer
Nationalstaat geschaffen war in einem Umfange und mir einer Leistungsfähigkeit,
wie weder vorher noch nachher, und daß diese Gründung das Wesentliche in
der ganzen politischen Entwicklung der Hellenen vor 338 gewesen ist, das hat
dann 1877 einer unsrer geistvollsten Philologen, Ulrich von Wilamvwitz-
Möllendorff, mit allem Nachdruck ausgesprochen und 1885 gegenüber ab¬
weichenden Meinungen aufs bestimmteste wiederholt.
Sehr viel schwerer ist eine andre Erkenntnis durchgedrungen, und vielleicht
ist sie es immer noch nicht ganz, daß nämlich, nachdem das demokratische
Athen den nationalen Staat nicht hatte behaupten können, das makedonische
Militärkönigtum diese Aufgabe löste, indem es die unhaltbare und verderbliche
Souveränität der griechischen Einzelstaaten zerbrach und sie in hündischen
Formen einigte, daß es zugleich den alten hellenischen Natioualgedanten,
die Eroberung Vorderasiens und seine Durchdringung mit hellenischer Kultur
machtvoll verwirklichte und erst damit dieser Kultur die Herrschaft im Kreise
der Mittelmeerländer, also ihre Weltstellung gegeben hat. Merkwürdigerweise
liegen die Anfänge dieser Erkenntnis sehr weit zurück. Friedrich der Große
schrieb an den Rand seine? Handexemplars von Montesquieu? l^an-M^rg-timix
hin- Jos vauses Äo I» Al'ÄQÄvur des Romaivs 6t 6s Isur ä6o»6or>o« die zu¬
gleich bezeichnenden und prophetischen Worte: „Diese.Könige von Makedonien
waren, was heute ein König von Preußen und ein König von Sardinien ist,"
und die Parallele zwischen Makedonien und Preußen ist ebenso dein Sänger
des Frühlings, Ewald von Kleist, wie dem Dichter der Minna von Barn-
Helm, seinem Freunde G, E. Lessing (im Philotas) geläufig. Aber zur Höhe
einer begründeten historischen Ansicht erhob diesen Gedanken von der natio¬
nalen Bedeutung des makedonischer Königtums doch erst Johann Gustav
Droysen, derselbe Historiker, der es dann in den fünfziger Jahren, als nur
wenige noch an den deutschen Beruf Preußens glaubten, in seiner „Geschichte der
preußischen Politik" (seit 1855) unternahm, die Vorbereitung zu diesem Berufe
geschichtlich nachzuweisen. In der Einleitung zu seinein „Alexander dem Großen"
(1833) hat er ihn zuerst mit voller Bestimmtheit ausgesprochen. Er fand den
heftigsten Widerspruch, und zwar nicht bloß, weil man von der Parallele, die
man dahinter vermutete, damals nichts wissen wollte, sondern auch weil die
Anschauung der Philologen dieser Zeit begreiflicherweise ganz beherrscht war
von der Auffassung des Demosthenes, In der Bewundrung für die Größe
des Redners und des Patrioten vergaß man, daß seine Urteile über seine
Gegner nicht historische Urteile sind, sondern Äußerungen eines leidenschaft¬
lichen Parteimanns; man hielt daher Äschincs schlechtweg für einen Verräter,
Jsotratcs für einen idealistischen Schwachkopf und den nüchternen Phokivn für
einen unverbesserlichen Pessimisten; man wollte nicht sehen, daß die attische
und die griechische Demokratie schon mit dein Ende des peloponnesischen Kriegs
bankerott waren, daß der ewig schaulustige und selten opferwillige Demos
von Athen zu eiuer großen Politik ganz unfähig geworden war, und die ganze
griechische Kleinstaaterei, insoweit sie souverän sein wollte, sich überlebt hatte,
daß endlich eben deshalb durch die gebildeten Griechen dieser Zeit selbst praktisch
und theoretisch eine immer stärkere und umfassendere monarchisch-militärische
Strömung ging. Darum wollten weder George Grote noch Ernst Curtius von
Droysens Anschauung etwas hören; Grote schildert zwar noch das Zeitalter
Alexanders des Großen, aber innerlich ablehnend, und Curtius schließt seine
Griechische Geschichte (1867) mit der Schlacht von Chaironeia und dem Frieden
des Demcides. Es ist ungefähr, als wenn mau die deutsche Geschichte mit der
Auflösung des Frankfurter Bundestags für beendet erklären wollte. Heute,
wo wir erlebt haben, daß die preußische Militärmonarchie der Hohenzollern
die Nation geeinigt und zum glänzenden Siege über den alten Feind, ja zu
einer noch vor dreißig Jahren ganz ungeahnten Weltstellung geführt hat, heute
ist diese Auffassung überwunden, und der Verfasser der neusten griechischen Ge¬
schichte, Julius Beloch, stellt sich vollständig auf Droysens Standpunkt (1897),
Aber je mehr wir erkennen, daß damals König Philippos und Alexander
der Große eine welthistorische Notwendigkeit vollzogen, desto tragischer erscheint
uns die Gestalt des Demosthenes, des einzigen Gegners, den der makedonische
Monarch gefürchtet hat, tragisch vor allein im antiken Sinne, Denn wenn die
Sache, für die Demosthenes kämpfte, nicht siegen konnte, wenn, auch falls
sie gesiegt hätte, Griechenland in seiner Zersplitterung verharrt hätte und
also zur Lösung seiner weltgeschichtlichen Aufgabe unfähig geblieben wäre,
es ist doch vollkommen verständlich, daß sich der Stolz des Atheners auf eine
große Vergangenheit gegen die Notwendigkeit der Unterwerfung unter ein zwar
griechisches, aber politisch wie sozial fremdartiges und jugendliches Staatswesen
sträubte, und zu beklagen nur, daß er auch nach der Entscheidung von Chai-
roueia zu verbittert war, als daß er sich ihr ehrlich gebeugt hätte, daß er
darum auch später noch mit allen und leider nicht immer mit lautern Mitteln
gegen sie angekämpft hat. Aber er hat doch das Höchste geleistet, was ein
Mann leisten kann; er hat seine ganze Kraft für ein großes Ziel eingesetzt
und ist dafür in den Tod gegangen. Darum wird uns seine Persönlichkeit,
nicht seine Sache, immer ehrwürdig bleiben, und wir werden immer mit tiefer
Teilnahme das Bild betrachten, das uns die Meisterhand eines Künstlers seiner
Zeit von ihm (im Vatikan) überliefert hat: diese hagere Gestalt mit den ab¬
fallenden eckigen Schultern und ungern Armen, dieser wie nachdenkend etwas
vorgeneigte Kopf, dieses fast finster zusammengezogne schmale Antlitz mit dem
kurz gehaltnen Bart, der gefurchten Stirn, den unter buschigen Brauen sinnend
hervorblickenden Augen. Welcher Gegensatz zu dem Sophokles im Lateran! Ein
stattlicher, wohlgebildeter Mann tritt er selbstbewußt, hochaufgerichtet dem
Beschauer entgegen, der schöne Kopf vom sorgfältig gepflegten Vollbart und
vollem Haupthaar umrahmt, die Augen weit offen mit ruhiger, freudiger
Sicherheit etwas aufwärts gerichtet, ein Mann auf der Höhe des Lebens und
ein glücklicher, befriedigter Mensch, der rechte xaäös des fünften
Jahrhunderts. Zwei Zeitalter der attischen und der griechischen Geschichte sind
uns hier verkörpert: in dem Dichter die herrliche Zeit des Perikles und des
attischen Reichs, in dem. Redner die Zeit des Niedergangs, des bittern, ver¬
zweifelten, hoffnungslosen Kampfes um ein unmögliches Ziel.
Wenn es nun so ist, daß jeder Zeit die Vergangenheit anders erscheint,
als der vorausgehenden, wenn bisher wenig beachtete oder ganz übersehene
Dinge als wichtig und bedeutsam hervortreten, andre zurücktreten, und sich
damit das ganze Bild anders darstellt als bisher, so hat auch jede Zeit das
Recht und die Pflicht, neben der beständigen Vermehrung und bessern Erkenntnis
des Materials auch die Geschichte vou ihrem Standpunkt ans neu zu schreiben.
So ist die Wissenschaft in der That unendlich, und nur in der fortgesetzten
Arbeit bleibt sie lebendig. Auch von ihr gilt Goethes Wort:
Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen!
^en Gedanken, daß der Mensch alles, was er wirklich begreift,
auch machen kann, sollte ich nach der Ansicht eines Verteidigers
Haeckels Otto Liebmann entnommen haben. Ich hatte aber
damals dessen Analysis der Wirklichkeit, wo dieser Gedanke
I(S. 364) ausgesprochen wird, noch nicht gelesen. Jetzt habe ich
das genannte Werk gelesen (Untertitel: Eine Erörterung der Grundprobleme
der Philosophie; dritte, verbesserte und vermehrte Auflage, Straßburg, Karl
I. Trübner, 1900) und verstehe, daß dieser Philosoph den Darwinianern sehr
unangenehm sein muß. Er scheint mir unter den lebenden Philosophen der
bedeutendste zu sein: tiefer als Paulsen (um die drei zu nennen, die am
meisten genannt werden), scharfsinniger als Wunde und frei von Hartmanns
Dogmatismus. Unter den Verstorbnen ist Lotze der, dem er am nächsten steht.
Zweierlei unterscheidet ihn von ihm; obwohl er selbst ein guter Stilist ist,
geht er in der Rücksicht anf die Schönheit der Sprache doch nicht so weit, daß
er die philosophische Schulsprache vollständig ausschlösse, wie Lotze wenigstens
im Mikrokosmus gethan hat; und er baut kein System. Dies zu thun, unter¬
läßt er grundsätzlich, denn, meint er, da die Probleme der Philosophie nun
einmal derart seien, daß sie von irdischen Menschen teils gar nicht teils jetzt
noch lange nicht gelöst werden könnten, so müsse die Systembauerei, unbe¬
schadet der subjektiven Wahrhaftigkeit des Shstembauers, die objektive Wahr¬
heit vielfach verletzen; wer den Schlüssel für alle Thüren gefunden zu haben
glaube, der werde, weil es nun einmal keinen solchen Schlüssel giebt, den
seinen oft als Brechstange benützen, d. h. die unlösbaren Probleme durch Ge¬
waltsprüche lösen. Liebmann hat in seinem Werke, das vor zwanzig Jahren
erschienen ist, die Losung: Zurück zu Kant! ausgegeben, und im Geiste Kants
behandelt er die philosophischen Fragen. Indem er streng kritisch untersucht,
kommt er an vielen Stellen einer Lösung nahe, spricht aber das letzte Wort,
das bei aller Wahrscheinlichkeit doch immer nur eine Hypothese bleiben würde,
nicht aus. Ruhig, besonnen und sicher schreitet er vorwärts auf dem Boden
der Wirklichkeit, bis er an die Grenze kommt, wo der unzweifelhaft feste Boden
aufhört. Von allen Begriffsbestimmungen der Philosophie hält er die von
Kant für die beste, der die Philosophie als die Wissenschaft von den Grenzen
der Vernunft definiert. Genauer, meint er, lasse sich angeben, wer kein
Philosoph ist. „Wer irgend etwas ohne weiteres für selbstverständlich hält,
ist kein Philosoph. Wem das Dasein von etwas dnrch den Umstand, daß es
immer so war wie heute, hinreichend erklärt ist; wer sich in die Welt und in
sich selber nicht soweit zu vertiefen vermag, daß ihm das Dasein beider und
ihr gegenseitiges Verhältnis als ein großes und schweres Problem aufs Herz
fallt; wer die Existenz der ihn umgebenden unendlichen Natur als begreiflich er¬
achtet, bloß weil sie eben existiert, und seine eigne Existenz dadurch zureichend
begründet findet, daß er dann und dann vom Vater erzeugt, später von der
Mutter geboren worden ist, um nun eben seinerseits im üblichen Geleise weiter
zu leben, weil und wie alle andern es auch thun; wer beim Anblick des stern¬
besäten Himmels in einer wolkenlosen Nacht niemals eine Art von staunendem
Grausen über diese unendliche und ewige Weltmaschinerie empfunden hat, in
die er sich als einer der Millionen Bewohner eines der kleinsten unter diesen
zahllosen Weltkörpern verflochten sieht, welcher Affekt sich dann in die ernst¬
hafte Frage auflöste: Warum? Wozu? — hineingeflochten in diese unentrinn¬
bare Weltmaschinerie mit dem deutlichen Gefühl der sittlichen Verantwortlich¬
keit! — oder, falls dieses Gefühl nur subjektive Chimäre sein sollte, woher
dann diese Chimäre und der tiefe unausrottbare Respekt vor ihr? — Wer nie
gefühlt hat, daß die strenge und allgemeine Naturgesetzlichkeit alles Geschehens
ein Wunder ist, d. h, für einen menschlichen Verstand ebenso sehr der Er¬
klärung bedarf, als sie, nach der alltäglichen Auffassung, erklärt — der bleibe
draußen! Für ihn ist die Philosophie ebenso überflüssig wie die Optik für
den, der das helle Tageslicht durch die Stellung der Sonne über dem Horizont
erklärt sieht."
In diesem kritischen Geiste nun behandelt Liebmann eine Reihe von
Problemen aus den Gebieten der Erkenntnistheorie, der Naturphilosophie, der
Ethik und der Ästhetik. Um den Lesern einige Proben seiner BeHandlungs¬
weise vorzulegen, greifen wir zunächst den kantischen Apriorismus heraus. Die
Sache ist nicht 'so schwierig, wie sie in der scholastischen Vermummung bei
Kant aussieht, und sie ist von der höchsten Wichtigkeit, weil sie, einmal ein¬
gesehen, jeden materialistischen Welterklärungsversuch wissenschaftlich unmöglich
macht. Wenn der Gevatter Schulze vom Gevatter Müller nicht für den Ge¬
vatter Schulze, sondern für den Gottseibeiuns, von Meyer für ein Kamel und
von Krause für ein Krokodil gehalten wird, so ist zwischen diesen vier Per¬
sonen weder ein Handelsgeschäft, noch ein Arbeitsvertrag, noch Verschwügernng,
noch irgend eine andre Art von Verkehr möglich. Wenn jeder Mensch in
einem und demselben Gegenstande etwas andres sähe, könnte es niemals zu
einer menschlichen Gesellschaft und zur Entfaltung der Vernunft kommen, und
der Mensch könnte wahrscheinlich auch als einzelnes Tier nicht fortbestehn.
Die Menschenwelt, sofern sie überhaupt da wäre, wäre ein Tollhaus. Ist es
nur ein einzelner Mensch, der die Dinge anders sieht als die große Mehrheit
der Menschen, so ist eben dieser ein Narr und wird ins Narrenhaus gesperrt.
Weniger schlimm ist die Sache, wenn die Abweichung vou der Wahrnehmuugs-
weise der Masse nicht das ganze Weltbild, sondern nur einen untergeordneten
Bestandteil betrifft, wenn einer z. B. farbenblind ist. Er kann dann aller-
dings weder Weichensteller noch Zugführer werden, wird aber in seinen
sonstigen Beziehungen zu seinen Mitmenschen nicht gestört und eignet sich sogar
zum sezessionistischen Maler ganz ausgezeichnet. Schlimmer wäre es schon,
wenn alle Menschen verschiedne Farbenwahrnehmungen hätten; es könnte dann
weder zur Malerei noch zu Moden in den Kleiderfarben und Mustern kommen,
und es würden ans den verschiedensten Lebensgebieten mancherlei Schwierig¬
keiten entstehn. Die Möglichkeit des Verkehrs der Menschen und ihrer Ver¬
ständigung untereinander beruht also darauf, daß alle Menschen, mit Ausnahme
einiger Kranken, durch ihre Sinneswahrnehmungen ungefähr dasselbe Weltbild
empfangen, was zweierlei voraussetzt: deu gleichartigen Bau der Sinnesorgane
und die gleichartige Einrichtung der wahrnehmenden Seelen. Daß nicht alle
wahrnehmenden Wesen dasselbe Weltbild haben, beweisen manche niedre Tiere,
denen einzelne Sinne fehlen, und die Insekten mit Facettenaugen; wie für
diese ihre Umgebung aussieht, können wir uns nicht vorstellen; daß sie aber
ganz anders aussehen muß als für uns, ist gewiß. Diese Wesen haben ihre
eigne Welt; was ein Glied von unsrer Welt bilden und mit uns verkehren
soll, wie die Haustiere, das muß auch ein dem unsern annähernd gleiches
Weltbild und daher den unsern ähnliche Sinnesorgane haben. Daß es aber
nicht auf die Sinnesorgane allein ankommt, daß eine geistige Übereinstimmung
hinzukommen muß, erfahren wir aus den Wahngebilden der Irrsinnigen. (Ab¬
gesehen davon, daß die Wahrnehmung selbst, als bewußtes Empfinden und
mit der Erregung der Seh-, Gehör- usw. Nerven unvergleichbar, unter allen
Umstünden etwas geistiges ist.)
Wie ohne diese ursprüngliche, nicht erst anerzogne oder durch Eindrücke
der Außenwelt bewirkte Übereinstimmung des Seelenbaus in den verschiednen
Menschen nicht einmal der allereinfachste und unentbehrlichste Verkehr möglich
wäre, so hätten wir ohne eine ähnliche Übereinstimmung in höhern Gebieten
keine Wissenschaft. Unsre Übereinstimmung in den Raumvorstellungen und
im Zählen macht die Mathematik möglich. Jeder Mensch, der darüber nach¬
denkt, findet sich in einem Raume, dessen Teile mit ihren begrenzenden Flüchen
und Linien in ihren Beziehungen zu einander unabänderlichen Gesetzen unter¬
liegen: wie daß zwei gerade Linien sich höchstens in einem Punkte schneiden,
und daß in einem Punkte nicht mehr als drei gerade Linien aufeinander
senkrecht stehn können. Wir können uus einen anders beschaffner Raum
denken, einen Raum von vier Dimensionen, einen krummen Raum, worin
jede einer Naumdimension folgende Linie in sich selbst zurückkehrte, aber vor¬
stellen können wir uns keinen andern Raum als den, dessen Eigenschaften
Euklid gezeigt hat; aus diesen Eigenschaften leiten wir alle Sätze der Geo¬
metrie, wie aus der Zahlenreihe die Sätze der Arithmetik ab, und ohne diese
beiden Wissenschaften hätten wir keine exakte Naturwissenschaft, denu, wie
schon Aristoteles erkannt hat, jede Wissenschaft enthält genau so viel Exaktes,
als Mathematik in ihr steckt (woraus, nebenbei bemerkt, allein schon folgt,
daß Physiologie nur in einem sehr geringen Umfange, Biologie aber nicht im
mindesten eine exakte Wissenschaft ist). Die Urteile nun, mit denen wir aus
den einfachsten angeschauter Raumverhültnisseu die Verwickeltern ableiten und
so die Mathematik aufbauen, sind nicht analytische, sondern synthetische. Das
analytische Urteil ist nichts als die Auflösung eines Begriffs in seine Bestand¬
teile; wir erfahren daraus nichts neues, sondern machen uns nur schon ge¬
wußtes klar. Im gleichschenkligen Dreieck sind zwei Seiten gleich, ist ein
solches analytisches Urteil. Wenn dagegen der Lehrer sagt: In jedem Dreieck
beträgt die Summe der drei Winkel zwei Rechte, so erfährt der Schüler etwas
neues, denn in der Definition des Dreiecks ist diese seine Eigenschaft uicht
enthalten. Hat sich der Schüler von der Wahrheit des Satzes überzeugt, so
hat er zu seinem Wissen etwas neues hinzugethan: er hat ein synthetisches
Urteil gefällt. Und dieses Urteil ist nicht aus der Erfahrung, etwa durch
Probieren, gewonnen, sondern es ist a xriori gefällt; es geht von der innern
Anschauung aus, von der Anschanungsfvrm, die den äußern Dingen das Gesetz
vorschreibt, uach dem sie sich zu ordnen haben. Wollten wir diesen Satz dnrch
Probieren finden, indem wir die drei Winkel aller möglichen Dreiecke entweder
in konstruktiven Zeichnungen zusammenfügten oder ihre Grad-, Minuten-,
Sekunden-, Zehntelsekundenzahlen addierten, Nur würden im Leben nicht fertig,
denn die Zahl der Winkel, die zwischen 9 Grad und 180 Grad liegen, ist un¬
endlich, und alle übereinstimmende Erfahrung gewährt noch keine Gewißheit.
Ein Erfahrungssatz, ans einer unzählbaren Menge einzelner Fälle abgeleitet,
ist es, daß das Wasser gefriert, wenn Reaumur und Celsius Null zeigen;
aber erst gestern habe ich ans dem Eise unsers Flusses eine hundert Schritt
lange Wasserlache gesehen, während wir 8 Grad Reaumur unter Null hatten.
Das apriorische Urteil erleidet keine Ausnahme. Was wir einmal apriorisch
erkannt haben, das können wir uns nicht anders denken, nicht anders vor¬
stellen. Es wäre, sagt Liebmann, unglaublich thöricht, wenn sich jemand von
der Wahrheit des Satzes, daß 3x3 — 9 ist, durch das Zusammenfügen von
Steinchen, Bohnen und andern kleinen Körpern überzeugen wollte und es für
möglich hielte, es könnte wohl auch einmal 9^ herauskommen. Was einmal
K xriori erkannt ist, das hat unbedingte Geltung und ausnahmslose Gewißheit
und bedarf keiner Nachprüfung durch Probieren. Dieselbe unbedingte Herr¬
schaft, die wir den Geist mit seinen Anschauungsformen ausüben sehen, sehen
wir ihn in den logischen Operationen bewähren, die ja schon zum Aufbau der
Mathematik nötig waren (Grundsätze wie: zwei Größen, die einer drittel? gleich
sind, sind einander gleich, entspringen nicht der Raumanschauung, sondern der
Denknotwendigkeit), deren Wirksamkeit aber weit über die Mathematik hinaus¬
reicht und zunächst mit ihr zusammen die exakten Naturwissenschaften möglich
macht. Wenig kommt darauf an, ob Kant in seiner Kategorientafel die Ver¬
standesoperationen richtig und vollständig verzeichnet hat. Die Hauptsache ist,
daß wir nach seiner Anleitung die Denkgesctze, darunter vor allein das der
Kausalität, als etwas ursprüngliches, unveränderliches, von den Einflüssen der
Außenwelt unabhängiges anerkennen, ohne das die Menschheit den dnrch die
Sinne zugeführten Erfahrungsstoff nicht übereinstimmend ordnen, es nicht zu
einem gemeinsamen höhern Geistesleben bringen könnte. Mit einem Wort:
das Erkennen und das Denken setzen ein nach unabänderlichen Gesetzen er¬
kennendes und denkendes Wesen voraus, das schon da ist, ehe ihm die Sinne
den Denkstosf zuführen.
Mit meiner kurzen Wiedergabe seiner umfangreichen Abhandlungen über
den Apriorismus wird Liebmann schon aus dem Grunde nicht zufrieden sein,
weil ich seinen und Kants beiden Stufen apriorischer Erkenntnis als dritte
oder vielmehr erste Stufe die unterste: die sinnliche Wahrnehmung angefügt,
und weil ich von der Seele gesprochen habe, die er, als ein bloß hypothetisches
Wesen, von der kritischen Untersuchung ausgeschlossen wissen will. (Obwohl
er Seite 251 bemerkt: „Macht man den Versuch, die Urthatsache des Bewußt¬
seins unter einen logisch-metaphysischen Grundbegriff zu subsumieren, so ist es
nicht wohl anders denkbar, denn als Funktion eines fungierenden, in spsois
vorstellenden und erkennenden Subjekts.") Anstatt mein abweichendes Ver¬
fahren zu rechtfertigen, will ich lieber zur Beleuchtung des Gegenstands aus
seiner Darstellung ein paar Stellen wörtlich anführen: „Das Apriori, d. h. die
Vernunft um und für sich, läßt sich deshalb nicht wegphilosophieren, weg¬
disputieren, besonders aber nicht weginduzieren, weil alles Philosophieren,
jede Disputation, und so auch jede Induktion unmöglich sein würde, ohne
Zugrundelegung allgemeiugiltiger Fundamentaltvnhrheiten, Anerkennung sakro¬
sankter Denkprinzipien und Befolgung gewisser Gesetze, nach denen eben ge¬
dacht, beobachtet, erfahren, induktiv geschlossen wird und werden soll — un¬
möglich also sein würde ohne Apriori; ebenso unmöglich, wie ohne normales
Auge ein richtiges Scheu, ohne instinktive Anerkennung der Regeln der Gram¬
matik oder Harmonielehre ein richtiges Sprechen oder Komponieren. Wenn
mir jemand die Versicherung gäbe, ihm sei ein Rezept bekannt, nach dem man
aus einer tauben Nuß den Nußbaum hervorwachsen lassen, oder in einem
Wirbel das Küchlein ausbrüten, d. h. das gesetzlich Bedingte ohne die gesetz¬
liche Vorbedingung ins Werk setzen könne, so stünde dies um Glaublichkeit auf
gleicher Rangstufe mit dem Kunststückchen des Mephistopheles in Auerbachs
Keller. Ganz in diesem Falle aber befindet sich ein Philosoph, der die mensch¬
liche Seele als wbutg. rasa ansieht und daraus ohne Apriori durch Wahr-
nehmungen allein die menschliche Intelligenz hervorzaubert, oder der uns ein-
reden will, eine Marmorstatue werde, wenn sie riechen, schmecken, sehen, fühlen
und hören könnte, dadurch zugleich das Vermögen des Aufmerkeus, Urteilens,
Schließens und Denkens von selbst erhalten. Ich verstehe es und stimme
natürlich bei, wenn man behauptet, daß aus der wohlausgebildeten, voll¬
wichtigen Nuß ohne Hinzukunft äußerlicher Lebensbedingungen wie Humus,
Wärme, Licht und Feuchtigkeit nimmermehr ein Nußbaum hervorsprießeu,
sondern der Kern vertrocknen würde, und daß im unbebrüteten El kein Embryo
entspringen und zum lebensfähigen Hühnchen heranwachsen würde; aber ich
finde es rundweg absurd, wenn man mit reichlichem Begießen aus der tauben Nuß
das grüne Bäumchen hervorlocken will, oder wenn man mit Mutterhvffnnngen
das Wirbel bebrütet. axxlioMo! Aus bloßer Vernunftanlage ohne Ver-
nnnftmaterial, aus blindem und tauben Apriori ohne Empfindung wird freilich
me eine Intelligenz; aber aus bloßen Sensationen ohne Apriori ebensowenig.
Übrigens giebt es eine Gegeninstnnz, die so außerordentlich nahe liegt, daß
im Hinblick auf sie der große Irrtum der Locke, Condillac und ihrer modernen
Gesinnungsgenossen fast unbegreiflich wird. Ein Blick nämlich auf höher
organisierte Tiere, wie etwa Hunde und Affen, zeigt ja doch augenscheinlich,
daß die Sinne, die der Mensch hat, allein nimmermehr menschliche Intelligenz
Produzieren werden, daß hierzu offenbar ganz andre Dinge nötig sind."
(S. 208 bis 209.) Sagen wir lieber, ein ganz andres Ding, nämlich ein
vernunftbegabter Geist, eine vernünftige Seele, mit welcher Folgerung wir
freilich die von Liebmanns Vorsicht gezogne Grenze überschreiten. Und
Seite 240 schreibt er: „Der wesentliche, von empiristischer Seite übersehene
Unterschied zwischen Erkenntnissen A priori und i>. xostsriori liegt gar nicht
Sta würden wir doch lieber sagen, liegt nicht bloß, oder liegt nicht haupt¬
sächlich j in der verschiednen Art ihrer psychologischen Entstehung, soudern in
dem grundverschiednen Modus der Evidenz; nicht darin, daß etwa bloß die
Erkenntnisse g, xoswriori durch Beobachtung und Generalisation, auf dem be¬
kannten Schülerweg vom einzelnen zum allgemeinen hinauf, im individuellen
Bewußtsein entstünden und sich festsetzten, die Erkenntnisse a priori aber ohne
dies; sondern darin, daß eine apriorische Wahrheit, z. B. 3x3^9, wenn
einmal erkannt, dann auch mit einem Grade von Gewißheit anerkannt wird,
der die Möglichkeit einer empirischen Widerlegung schlechterdings ausschließt,
jede empirische Bestätigung daher durchaus überflüssig macht. Dagegen ein
rein i>. xostsriori, bloß durch erfahrungsmäßige Induktion gewonnener Satz,
z. B. der, daß das Wasser bei einer Temperatur von Null Grad Reaumur ge¬
friert, kann trotz zahlloser Bestätigungen von der nächsten Stunde widerlegt
werden. Das macht: jener erste Satz wurzelt fest in typischen Jntellektual-
gesetzen, und wer ihn verstünde, ohne ihn sofort ein für allemal zu glauben,
wäre für uns ein Verrückter; der zweite Satz aber keineswegs; wer ihn nicht
glaubte, wäre nur Ignorant oder Skeptiker, aber nicht verrückt. Bei Auf¬
hebung des ersten würde die Vernunft aufgehoben; bei Aufhebung des andern —
unsre Erfahrung, die niemals ausgelernt hat, um eine weitere Notiz bereichert
und dahin berichtigt, daß, was sie bisher auf Grund zahlreicher konformer
Beobachtungen für ein allgemeines Gesetz hielt, in der That keins ist." End¬
lich Seite 258: „Wer dem Apriorismus seine Zustimmung versagt, nun, der
gehe hin und glaube an Wunder in seinem Kopfe, wofür er denn auch — man
täusche sich darüber ja nicht! — die Verpflichtung übernimmt, dem Orthodoxen
und dem Mystiker seine Wunder in der Natur zu gönnen."
Wer nach völliger Klarheit verlangt, wird freilich Liebmanns Abhand¬
lungen vollständig lesen müssen, namentlich auch die über Raumcharakteristik
und Raumdeduktiou, über relative und absolute Bewegung und zur Theorie
des Sehens. Darin scheinen mir freilich einige Ausführungen von unter¬
geordneter Bedeutung einer kleinen Korrektur oder bessern Begründung zu be¬
dürfen. So z. B. wird die Relativität aller Bewegung zwar überzeugend
nachgewiesen (nur den doch nicht unwichtigen Umstand erwähnt Liebmann nicht,
daß wir, wenn nur ohne die geringste Erschütterung unsers Leibes bewegt
werden, z. B. im Lift, uus völlig unbewegt fühlen und die stillstehende Um¬
gebung sich bewegen sehen), dagegen die Antithese, das; absolute Bewegung
dennoch denkbar sei, mit seiner Annahme eines im leeren Raum rotierenden
Körpers keineswegs dargethan. Er meint, wenn man sich eine Kugel im
leeren Raum denke, so könne bei ihr weder von einer fortschreitenden noch von
einer rotierenden Bewegung die Rede sein. Das erste ist richtig, da es keinen
Gegenstand giebt, in Beziehung auf den sie fortschreiten könnte, das zweite
offenbar falsch, weil die rotierende Bewegung eine Relation herstellt: nicht
bloß die Punkte des Äquators, sondern alle Punkte der Kugel, die außerhalb
der Achse liegen, bewegen sich um diese, also in Beziehung auf diese. Wenn
nun Liebmann fortfährt, man dürfe sich die Kugel nur materiell denken, in
welchem Falle sie sich durch Abplattung der Pole in ein Ellipsoid verwandelt,
um sich zu überzeugen, daß dennoch absolute Bewegung denkbar sei, so ist
erstens diese Annahme überflüssig, da wie gesagt, anch wenn die Kugel Kugel
bleibt, ihre rotierendeil Punkte sich bewegen, und zweitens ist die Bewegung
eben eine relative; absolute Bewegung bleibt demnach undenkbar. Dann: daß
wir die Gegenstände nicht, wie einige behauptet haben, verkehrt sehen, hat
Liebmann durch die einfache Reproduktion der bekannten schematischen Dar¬
stellung des Schalls bewiesen. Da sich die vom gesehenen Gegenstande aus¬
gehenden Lichtstrahlen im Innern des Auges in einem vor der Netzhaut
liegenden Punkte kreuzen, so wird beim Sehen eines Baumes z. V. der
unterste Punkt des Netzhautbildchens in der Richtung des Lichtstrahls auf den
Wipfel und der oberste an den Fuß des Baumes projiziert, man sieht diesen
also stehn, wie er in Wirklichkeit steht. Aber nach Lotze ist gar kein Beweis
nötig, weil ja das Sehen nicht in der Netzhaut, sondern im Gehirn stattfindet,
bis wohin sich das Netzhautbild nicht fortbewegt. Dieses ist für die betreffende
Gehirngegend nur der Anstoß, die Seele zu veranlassen, daß sie das natur¬
wahre Bild des Baums schafft. Sodann: Überweg soll die Prvjektionstheorie
verworfen haben, weil er die Möglichkeit jeder -uztio in cüswQs geleugnet habe,
und Liebmann selbst scheint hier eine aotio in eust!in8 anzunehmen. Kann
man denn eine optische Projektion eine actio in clistzms nennen? Sie ist ja
eine Operation, die sich innerhalb der Seele vollzieht und deu Baum gar
nicht berührt; weder packt noch erschüttert sie den Baumwipfel. Daß es eine
ÄLtio in 6i8tÄN8 giebt, aber daß sie freilich unerklärlich bleibt, darin stimme
ich natürlich mit Liebmann überein. Daß die Sonne unsre Erde anzieht, ist
Thatsache, wie sie es anfangt, weiß niemand.
Dem Darwinismus steht Liebmann, wie die naturphilosophischen Abhand¬
lungen beweisen, genau so gegenüber wie ich; er läßt ihn als Hypothese gelten,
bekämpft aber die Anmaßung, mit der seine Vertreter die Hypothese als Dogma
lehren und für eine zureichende Naturerklärung, ja für die Lösung des Welt¬
rätsels ausgeben. Einiges von dem, was Liebmann in ausführlichen Be¬
trachtungen klar macht, mag hier wenigstens kurz verzeichnet werden. Davon,
daß jemand die Entstehung der Organismen und ihrer Arten erklärt Hütte,
kann gar keine Rede sein. „Will man nach Art gewisser Leute unter Wunder
alles das verstehn, was sich nicht auf rein mechanische Prozesse zurückführen
läßt, dann, in der That, hieße es angesichts der organischen Naturerscheinungen:
ein Wunder wärs, wenn hier kein Wunder im Spiele wäre." Der auffälligste
Unterschied des Organischen vom Unorganischen besteht darin, daß jenem die
Form das Wesentliche ist. Dem Unorganischen, auch dem krystallisierten
Mineral, ist die Form nicht wesentlich; Schwefel bleibt Schwefel, mag er
krystallinisch, amorph oder geschmolzen sein; aber ein geschmolznes Pferd ist
kein Pferd mehr. Beim unorganischen Wesen bleibt der Stoff immer derselbe,
und ist die sich wandelnde Form gleichgiltig; beim organischen wechselt die
Materie unaufhörlich, sodaß nach einer gewissen Zeit alle Stvffteile durch
neue ersetzt sind, während die Form, durch die allein der Gegenstand ist, was
er ist: eine Rose, ein Pferd, beharrt; mit der Form verschwindet auch das
organische Wesen. Man hat wohl den organischen Körper eine lebendige
Maschine genannt. „Aber! Aber! Die Maschine ist ein äußerlich und will¬
kürlich gemachtes Artefakt, der Organismus nach immanenten, verborgnen
Gesetz ex ovo gewachsen. Das Hsssörrioirioon der Maschine gehört nicht zu
ihr, residiert uicht in ihr; Heizer und Lokomotivführer sitzen auf ihr und lenken
sie wie der Reiter sein Roß. Das Ho^öruonivou des lebendigen Organismus,
Intelligenz und Wille, gehört zu ihm, ist mit ihm entstanden, bildet seinen
integrierender Bestandteil. Und — ganz abgesehen von den psychischen Funk¬
tionen — die Teile der Maschine sind ein für allemal da, bleiben ihren mate¬
riellen Bestandteilen nach mit sich identisch, solange bis die Maschine äußerlich
repariert wird; die Organe des Organismus bleiben nur der Form uach
identisch, während ihr Stoff fortwährend wechselt, sie erneuern oder reparieren
sich selbst. Der Organismus wäre daher eine Maschine zu nennen, die uicht
allein vou selbst uach Naturgesetzen entstanden, nach keinem äußern, sondern
nach immanenten Plane gewachsen wäre, sondern die auch außer der äußern
Arbeitsleistung die innere plastische Arbeit unaufhörlicher Selbsterzeugung aller
ihrer Teile in der durch den innewohnenden Plan vorgezeichneten Form aus¬
zuführen imstande ist. Eine merkwürdige Maschine das!" Was würde uns
denn, fragt Liebmann, der Darwinismus im günstigen Falle, nämlich seine
empirische Bestätigung vorausgesetzt, liefern? (Die Behauptung, daß der Er¬
fahrungsbeweis für die Darwinischen Hypothesen und Theorien schon erbracht
sei, gehört zu den unbegründeten Anmaßungen seiner Vertreter.) Antwort:
„Ebenso wie die Embryologie eine Entwicklungsgeschichte, Kenntnis der histo¬
rischen Aufeinanderfolge der Stufen eines langwierigen Entwicklungsprozesses,
der für uns im Schoße grauer Urzeiten verborgen liegt, wie die Entwicklung
des Kindes im Dunkel des Mutterleibes. Man verwechselt nun häufig die
chronologische Aufeinanderfolge mit der logischen Folgerung, hält für Er¬
klärung, was bloße Beschreibung oder Geschichte sein würde Mre die Richtig¬
keit der Darwinischen Stammbäume des Menschen erwiesen, sagt er an andrer
Stelle, so hätten wir eben unsre Ahnengalerie, aber keine wissenschaftliche Er¬
klärung unsrer Entstehung^, und begeht hiermit den von David Hume gerügten
Fehlschluß: xost lloo, er^o prope-ör toe. Wüßte man, was man vermutet und
als Hypothese hinstellt, nämlich daß die Vielheit der Tier- und Pflanzen¬
formen mittels Vererbung, Variabilität, Kampf ums Dasein und natürlicher
Auslese aus einem Urorganismus hervorgegangen sei, so wäre jaußer den
vielen schon vorhandnen ein neues^ unerklärtes Faktum konstatiert. Man
hätte die Organismen aus dem Organismus abgeleitet. Man wüßte, was
durch die Fortpflanzung entsteht, aber nicht, warum es entsteht. Wenn man
die Deszendenzhypothese nicht als historische Rekonstruktion, sondern als kau¬
sale Theorie angesehen wissen will, so gleicht man aufs Haar einem, der die
Existenz des Eichbaums aus der Existenz der Eichel erklärt." Die Vererbung,
mit der manche alles erklärt zu haben glauben, ist ja nicht Ursache, sondern
eben die staunenswerte Wirkung einer unbekannten und unerforschlichen Ur¬
sache. Wie geht es zu, müssen wir fragen, daß dem mikroskopischen Samen
die Kraft inne wohnt, ein Gebilde aus sich hervorzutreiben, das alle Teile
hat, die der väterliche und der mütterliche Leib haben, sie in derselben Lage
hat, daß das Gesicht nach Abschluß des jahrelangen Werdeprozesses die Züge
des einen oder des andern der Eltern zeigt, und daß sogar ein Muttermal,
oft erst lange nach der Geburt des Kindes, an derselben Stelle erscheint, wo
es die Mutter hat? Und alle jene von Darwin genannten Einflüsse, wie der
Kampf ums Dasein, sind nur Gelegenheitsursachen, die — die Nichtigkeit der
Hypothese vorausgesetzt — die Bildungskraft veranlassen, in dieser oder jener
Richtung zu wirken, diese geheimnisvolle Bildungskraft selbst, die bewirkende
Ursache, sind sie nicht. Sie sind, was der Funken im Pulverfaß ist; die
eigentliche Ursache der Explosion ist bekanntlich nicht dieser, sondern die im
Pulver gebundne Spannkraft seiner Bestandteile. Ein mit Liebmann befreundeter
Zoologe hat in einem Gespräch über den Gegenstand geäußert: Das wissen
wir ja so schon, daß bei der Geschichte keine Hexerei im Spiele ist. Dazu
bemerkt Liebmann: „Vollkommen einverstanden, wenn erstens unter Wissen die
subjektive Überzeugung verstanden wird, und wenn zweitens Hexerei ein natur¬
widriges, übernatürliches, nicht naturgesetzlich begründetes Ereignis bedeuten
soll. Sollte hingegen jener populäre Ausdruck, an dessen Stelle die geschniegelte
Schriftsprache das Wort Wunder setzen würde, so viel bedeuten wie das, was
aus den uns bekannten Naturgesetzen nicht erklärt werden kann, so wäre der
Satz falsch. Dann nämlich wäre nicht nur das tierische und das pflanzliche
Leben, sondern schon die von der Erde auf den herabfallenden Stein oder
auf deu fünfzigtausend Meilen weit von uns im Weltraum fliegenden Mond
ausgeübte Anziehung eine Hexerei, ja ganz allgemein die thatsächliche Geltung
der herrschenden Naturgesetze wäre es. Wer weiß, warum sie herrschen? Nie¬
mand! Die ganze Welt ist, das Wort Hexerei in diesem Sinne verstanden,
eine einzige ungeheure Hexerei," Nicht leicht versteht es ein andrer, den Leser
von seiner Unwissenheit zu überzeuge», wie Liebmann, der darin ein zweiter
Sokrates ist, nud von der unergründlichen Tiefe der Geheimnisse, die uns
umgeben und erfüllen. Wer »licht Zeit hat, das ganze Werk durchzulesen, der
lese zur Probe wenigstens die herrliche Betrachtung über die Wunder des
tierischen Instinkts Seite 415 ff. Ente Narren freilich, für die es eine Kleinig¬
keit wäre, den Homunkulus in der Retorte zu brauen, wenn sie geruhen wollte»,
sich mit solchen Kleinigkeiten abzugeben, werden über Liebmann die Nase rümpfen,
und grobe Geister englischer Art verstehn ihn gar nicht. Auch er ist der An¬
sicht, daß britische Denker in der Regel „nur für die zwei Dimensionen der
Länge und Breite Sinn haben, während ihnen die dritte Denkdimeusion, die
Hohe oder Tiefe, unzugänglich bleibt." Sie glauben den Entstehungsgrund
eines Dinges erklärt zu haben, wenn sie das Ding beschrieben und seine Ent¬
stehung erzählt haben, und verstehn das gar nicht, was der Philosoph noch
außerdem will.
(Schluß folgt)
ello xeinturs clef mozurs brutg,I<zö et'uns solcliitssciuk eolonigls
Hui a xcmr xatris „ig, inoitis' als ig, teirs," es oui 6on rsuclrs
trss sg. motion ein patnotismö, est an kama triste et airiörs.
Il veins en rssto l'borrsur as vos AUörrös lointaines eutrsprisss
80U8 ass pr^tsxtss ir^pooritss Mi rsoonvrsut is Zone öllrön^
6s ig, clomination et cku luore.^)
Abscheu, nicht bloß vor jenen barbarischen Kämpfen, sondern vor einer
Dichtung, die sie verherrlicht, wird jeder zivilisierte Europäer empfinden, der
überhaupt noch sittlich, ja auch nur ästhetisch zu empfinden imstande ist. Ich
keime zum Glück leinen andern Dichter, der so nackt und zufrieden die rohe
Bestie im Menschen uns lächelnd vor Augen stellt, wie Kipling. Wenn man
uns die Greuel schildert, die afrikanische Kannibalen, religiöse Fanatiker, spanische
Eroberer vollführten, so wendet man sich traurig von solchen historischen That¬
sachen ab, von denen man sich durch eine Welt sittlicher Veredlung entfernt
fühlt. Was Kipling erzählt, sind ohne Zweifel auch wirkliche Begebenheiten;
aber diese menschlichen Bestien, die scherzend Dinge begehn, die man sich nach-
zuerzählen scheut, sind die Helden, die Kipling feiert, sind die durchaus nicht
ausgesucht schlechten Typen, des englischen Soldaten. Die Zeiten Homers oder
der Nibelungen waren rohe Zeiten, aber ich kann mich nicht einer einzigen
Stelle im Homer oder in den Nibelungen entsinnen, in der solche Greuel mit¬
geteilt wären, wie Kipling sie seinen geliebten Tommy Aelius, den Typus
des englischen Soldaten, vollführen läßt. Die Dichter, die die Kämpfe um
Troja und den Untergang der Nibelungen schilderten, waren gewiß keine sehr
empfindsamen Naturen, kannten aber die Grenzen des in der Erzählung
blutiger Heldenthat erlaubten besser als Kipling. Kipling schwelgt in der
Schilderung von Thaten, die aus der Alleinherrschaft der rohen tierischen
Kraft fließe». Diese Kraft entschuldigt ihm alles, verklärt ihm alles; für diese
Muskelkraft im Dienst des Raubtiers begeistert er sich. Und dieser Dichter
ist der Nationaldichter, der Volkssänger des heutigen Englands!
Carlyle — Nietzsche — Kipling, ein schöner Klimax! Helden — Titanen —
Gladiatoren! Und da man beim Athleten angelangt ist, bekommt das Kraft¬
gefühl den Trieb ins Weite, ins Weltervbernde, man geht über zur Verherr¬
lichung einer des Rechts und der Moral spottenden Staatsmacht! Denn Kip¬
ling ist Imperialist, der Genosse Chamberlains und Roseberys und all der
andern Helfershelfer des künftigen Gewaltstaats, der Sänger neben den Helden.
Und dieser Sänger hat viel Talent; er weiß uns den englischen Soldaten in
seinen anziehenden wie seinen abstoßenden Eigenschaften fo lebenswahr zu
schildern; er hat im Lager so heitere, trinklustige Gesellen, so gutmütige, treue
Freunde gefunden, daß viele seiner Leser kaum bemerken, wie verrohend der
Umgang mit solchen Gladiatoren ist. Physischer Mut ist eine gute Sache;
aber Tapferkeit ist eine so gewöhnliche Tugend, daß man nicht nach England
zu gehn braucht, um sie zu bewundern. Was hier besonders englisch ist, das
ist die Überschätzung dieser Tugend. Bei Kipling tritt das von Steffen
so genannte athletische Temperament des Engländers sehr nackt hervor. Wir
sind zwar nicht in Gesellschaft von Jockeys auf dem Rennplatz, aber wir atmen
die moralische Luft einer spanischen Arena oder einer altrömischen Gladiatoren-
laserne. Alle Poesie seiner Dschungelbildcr, seiner Soldatenlieder hebt Kip¬
ling nicht über einen Stand des Gemüts hinaus, der tiefer liegt, als wir von
unsern: deutschen Soldaten verlangen: Roheiten, wie Kipling sie besingt,
mögen Engländer begeistern: unsern deutschen Soldaten werden sie bis heute,
Gott sei Dank, eher anwidern. Z. B. in liM eine t-ülscl die Gefechts¬
szene, wo der Afrikaner ein Auge verliert, was ich nachzuerzählen hier unter¬
lasse. Die Fanatiker des Naturalismus werden sagen, es komme so was in
der That vor, und darum gehöre es in die Schilderung. O gewiß, das Grü߬
lichste kommt vor in der schönen Welt, und wer diese schöne Welt lieber von
der gräßlichsten Seite betrachtet, der mag sich Kiplings freuen. Auch werden
wir ja seit lange durch die Ibsen und die ganze Schule dieser gemütskranken
Unglücksraben dazu erzogen, das Natürliche vorzugsweise in. dem Häßlichen
zu finden. Nur veredelnd, bessernd wirken diese Raben wirklich nicht, und
Kiplings Talent kann Tommy nur noch roher machen, als er von der athle¬
tischen Natur wie von der sportsmäßigen Boxererziehung her schon ist, ob er
nun in England als Soldat mißachtet oder in Indien gefürchtet ist.
Dieses Gladiatorentum preist Kipling in Tommy Aelius dem Soldaten
und ebenso in dem Minister, der Tommy in die Welt schickt, um zu nehmen,
was Altengland zu haben wünscht. Das staatliche Glndintorentum, eine der
neusten Blttteu der englischen Kultur! Wer die stärksten Knochen und die
festesten Muskeln hat, das ist der künftige Nationalheld für Kipling, gerade
wie zu den guten Zeiten, da Tor noch die Thursen bekämpfte. Und wer das
stärkste Heer oder die größte Flotte hat, das ist der Staat, der sich über alle
andern, much alle Moral und alles Recht hinwegsetzen soll, das folgt auch aus
Kiplings Poesie. Wie schade, daß Kipling nicht zu der Zeit Ättilas oder
Dschingis Khans gelebt hat! Und wie schade, daß uns der Kipling des
Dschungels und mancher kernigen Lieder verhunzt wird durch Kipling, dessen
„Licht erlosch." Oder wird er für den Geschmack des deutschen Lesers etwa
nicht verhunzt? Das wäre betrübend, denn es wäre ein Zeichen dafür, daß
unser deutscher Gaumen schon von dem norwegischen, gallischen und auch
deutscheu Pfeffer der letzten Jahrzehnte arg abgestumpft ist.
Man ist heute in ganz Deutschland bei einer etwas erbitterten Stimmung
gegen die Engländer angelangt. Es ist eine berechtigte, sittliche Erbitterung,
die hervorgerufen ist durch einen ungerechten Krieg. Aber wenn wir zugleich
mit Behagen auf unsern Bühnen Dichtungen zuschauen und zuhören von dem
Geiste wie Kiplings „Das Licht, das erlosch" oder Tolstois Kreuzersonate, so
zeugt das denn doch, so verschieden diese beiden Dichtungen anch sind, von
einer Geschmacksrichtung, die geradeswegs zu der sittlichen Abstumpfung führen
muß, deren Folgen wir bei den Engländern eben so empörend finden. Ich
will nicht von der Staatsmoral reden, obwohl man sie nicht so eifrig, wie es
geschieht, von der Volksmoral trennen und damit zuletzt zu einer, ich weiß
nicht worin begründeten Unmoral stempeln sollte. Aber wenn aus dieser Em¬
pörung gegen die heutige Gewaltmoral der Engländer eine gesunde Regung
unsers deutschen Gewissens spricht, so ist das um so erfreulicher, als Nur,
wenn ich nicht irre, ans dem besten Wege waren, den Engländern auch auf
diesen Pfaden zu folgen. Hütten Kipling und Chamberlain es nicht so gar
grob getrieben, sie hätten vielleicht auch für uns noch Helden statt Gladiatoren
werden können. Mit Ibsen, Hauptmann und Sudermann als Lehrern der
Moral, mit Nietzsche als Erzieher des Geistes kann mau weit kommen.
Es ist bemerkenswert, daß gerade jetzt Tolstois Drama „Die Macht der
Finsternis" über unsre Bühnen zieht, ein Stück, das durchaus in dem modernen
uaturnlistischeu Geiste geschrieben ist, und das dennoch in einem Gegensatz zu
den Kiplings und Nietzsches steht, wie er größer nicht sein kann. Ein Gegen¬
satz, der sich noch verschärft, wenn man die seit dem ersten Erscheinen dieses
Dramas von Tolstoi verfaßten Schriften hinzunimmt und den ganzen Dichter,
wie er heute ist, ins Auge faßt. Dort, bei dem Engländer, die Verherrlichung
der Gewalt auch in der rohesten Körperkraft, hier die Verdammung der Gewalt,
auch in der Kraft des Staats. Die Gewalt, verherrlicht von einem Sänger
des zivilisiertesten Volks Europas, und verdammt von dem Sänger des am
wenigsten zivilisierten unter den großen Völkern dieses Erdteils. Dort ein
Engländer, der in den Greueln unmenschlicher Kämpfe schwelgt, hier ein Russe,
der mit religiösem Ernst seine Stimme gegen die Greuel einer rohen Volks¬
moral und mehr noch gegen jeglichen Krieg, jegliche Kriegsmacht der Völker
oder der Staaten erhebt.
Wer „Die Macht der Finsternis" gesehen oder gelesen hat, wird sich
sagen: Das ist volle und nackte Wahrheit, das ist ganz Natur, vom Dichter
erlebte und empfundne Natur, so naturalistisch, wie unsre heutigen Nerven es
sich nur wünschen können. Erstaunlich ist für uns, daß ein Mann von euro¬
päischer Bildung, ein philosophischer Denker, ein Mann aus den obersten
sozialen Reihen so durchaus in den Geist, das Fühlen, die Form und den
Inhalt des Lebens einer Menschenklasse aufgehn kann, die so unendlich weit
von der Höhe seines Geistes, seiner Bildung, seiner Moral entfernt scheint.
In diese Tiefen des rohen Volksleben sind nur wenige vor ihm und nur auf
Augenblicke hinabgestiegen, ohne über kurz oder lang aus ihrer Rolle zu fallen.
In keiner der Figuren dieses Stücks und keinen Augenblick verrät sich der
Dichter als der über diesem Volksleben stehende kritische Geist; kein Gedanke,
kein Wort fällt heraus aus der Sphäre dieser kulturlosen, aber in ihrer natür¬
lichen Nackheit naiv auftretenden Wilden. Wir schaudern zurück vor den ge¬
häuftem Verbrechen, vor Gattenmord und Kindermord, vor Lüge und Habsucht,
vor elender Schwäche und teuflischer Verführung; aber es ist mehr der Schauder,
wie wenn wir Bestien einander zerfleischen sehen, als der Abscheu vor dem Ver¬
brechen, das aus der sittlichen Verderbtheit des seiner That bewußten Schurken
fließt. Dieselbe That, vollführt vom Wilden und vom Schurken, hat für uns
einen sehr verschiednen moralischen Wert und wirkt deshalb verschieden ans unser
Empfinden. In der Atmosphäre dieser russischen Bauern liegt ein moralischer
Nebel ausgebreitet, der uus die Verantwortlichkeit des Einzelnen weniger
deutlich macht. In diesem Bauernhause wissen alle, bis auf das zehnjährige
Kind hinab, um die Mordplüne und Morde, die vor sich gehn, aber der Ab¬
scheu treibt nirgend zum thätigen Widerstande, man duldet, man erduldet das
Übel wie einen Naturvorgnng, und nur im Kinde bricht die Teilnahme, das
Mitleid unwillkürlich mit sittlicher Thatkraft hervor. Sogar der Greis Ma,
der wie der Vertreter einer vergangne,? bessern Generation und Zeit erscheint,
findet nicht den Willen zur Gegenwehr in sich, auch in ihm ist die persönliche
Moral nicht stark genug, die Unmoral der Umgebung, den Nebel, der auf dem
ganzen Dorfleben des Bauern lastet, zu durchbrechen. Wo sich das Gewissen
dennoch regt, da hilft der Branntwein es wieder in den Schlupfwinkel zurück¬
drängen, in den Not, Furcht und völlige geistige Öde es eingeschlossen haben.
Dieses russische Dorf gleicht einem Verließ, in dessen finstern Mauern alles
fault, lichtlos, lustlos, blutlos, kraftlos. Und doch lebt auch in diesen Tiefen
des Elends noch der heilige Funke des menschlichen Gewissens, doch bedarf
es für diesen Verbrecher aus Schwäche nur eines leisen Aufflackerns des Ge¬
wissens, daß er mit derselben Leichtigkeit, mit der er sein Kind mordete, sich
selbst als Schuldigen der Sühne darbietet. Ohne Schwanken fordert er das
Dorf, die christliche Gemeinde zum Richter, auf den Knieen bekennt er, was
er eben erst als Unthaten erkannt hat, fleht er um Vergebung jeden einzeln
an, den er verletzte, und endlich die Gemeinde selbst, gegen die als seine
Obrigkeit, seine soziale Welt er sich versündigt hat. Das ist erschütternd und
auch versöhnend: aus diesem faulenden Sumpf, wo alle Moral erstickt schien,
steigt plötzlich das reine Licht auf, ein Strahl des Gewissens, der den Ver¬
brecher und die richtende Gemeinde verklärt, und der ohne Besinnen zur That
führt, zur freiwilligen Unterwerfung unter die Strafe. Und hier tritt dann
der Staat herein, der Inhaber der äußern Gewalt. Der Staat hat nichts
gethan, um den moralischen Nebel im Dorf zu zerstreuen, nichts, um der sitt¬
lichen Fäulnis abzuhelfen: aber er ist bei der Hand, sobald sich die Folgen
davon äußerlich zeigen.
Der englische wie der russische Dichter zeigen ziemlich genau die Phy¬
siognomie ihres Staats und Volks; die Verschiedenheit, die Gegensätzlichkeit
der Dichter entsprechen der Verschiedenheit von England und Nußland. Dort
die strotzende Volkskraft, der der Staat nur mit leisem Zügel eine Richtung
andeutet, die mit breiter Hand überall nach materiellem Gut ausgreift, die
sich daheim mit feierlichem Behagen dem Genusse persönlicher Freiheit hingiebt,
die Gott einen guten Manu sein läßt und jederzeit auf das Nächste und ans
das Heute den Blick gerichtet hält, und die mit kühnem Wagemut draußen
sich und ihre Interessen durchzusetzen weiß; diese wohlgenährten Jünglinge,
die sich wenig um die Polizei, um so mehr um die Leute kümmern, die den
Ton in der höhern Gesellschaft angeben; die wenig vom Gesetz, aber stark von
der Sitte, von der Tradition gelenkt werden; die offen, gemütvoll, heiter,
opferbereit unter den Freunden und roh, voll Lust an Kampf und Blut, un¬
empfindlich unter den Feinden sind; dieser Übermut, dieses übergroße Selbst¬
vertrauen, diese Arbeitskraft, diese Beschränktheit, dieses gesättigte Daseins¬
bewußtsein: so haben wir den heutigen Engländer kennen gelernt auch vor
Kipling, und so finden wir ihn bei diesem Soldatcndichter in soldatischer Ver¬
größerung wieder. Ihm gegenüber steht der russische Bauer Tolstois: in einem
elenden Dorf von Hütten elend dahinbrütende Menschen, ohne alle geistige,
auch ohne körperliche Bildung, auf dem tiefsten Stand des menschlich möglichen
Daseins, ohne Selbstvertrauen, ohne Thatkraft, ohne auch nur ein Verständnis
se'r Freiheit, für Selbstachtung, für höheres Streben, als wie es innerhalb der
Dorfgrenze möglich ist; ohne geistige, aber auch ohne materielle Bedürfnisse
außer dem Maß von Nahrung, dessen auch das Tier bedarf, und außer dem
^aß von Branntwein, das alle geistige Erregung weckt, zu der sich dieses
Hirn aufschwingt; zuletzt dieser Vertreter der staatlichen Gewalt, der jahraus
jahrein darüber wacht, daß der sittliche Pfuhl bleibe, wie er war, und der,
wenn ein der Oberfläche erscheint, was sich unter ihr barg, sein Protokoll ver¬
faßt und ein Opfer mehr auf den Altar des Staats liefert. Es ist staatliche
Kerkerluft schlimmster Art, die aus diesem Dorfe aufsteigt, in der diese Bauern
verkamen und erstickten, und Kerkermeister ist die öffentliche Gewalt, die Tolstoi,
der wahrste, reinste und edelste aller Anarchisten, in jeder Form bekämpft.
Ein Volk mit gebrochnem Rückgrat, mit hoffnungsloser Ergebung in sein
Schicksal, und doch im tiefsten Grunde mit dem heiligen Funken sittlicher
Kraft und Verantwortlichkeit ausgestattet, der hie und da einmal aufflammend
den allgemeinen Nebel durchleuchtet, nur daß er erstickt wird von der Hand
der staatlichen Macht. Tolstoi lebt als Bauer unter Bauern — Kipling
findet seine Lust im blutigen Raufen mit Indern oder Buren; Tolstoi will
nicht nur die oberste Staatsmacht, sondern die Staatsmacht bis auf die Rechts¬
pflege und die Polizei abschaffen; Kipling jauchzt dem Throne zu und fordert
ihn heraus, seine Gewalt über den Erdball zu spannen. Im freisten Staate
Europas huldigt der Dichter der Staatsmacht; im unfreisten Staate will der
Dichter ein Volk von Bauern von aller staatlichen Gewalt befreit zum ein¬
fachsten Dorfleben zurückführen. Kipling der Sänger der Macht, Tolstoi der
Sänger des Duldens; dort lebensvoller Realismus, hier tief ernster, schwer¬
mütiger Idealismus; dort England, wie es ist, hier Nußland, wie es ist.
Zwar nicht das ganze England noch das ganze Rußland, denn hier wie dort
fehlen so mancher Strich und manche Farbe an dem Bilde, sofern es vollkommen
die nationale und staatliche Eigenart darstellen soll. Typisch sind auf beiden
Seiten noch mehr die Dichter als die gedichteten Gestalten.
In dem ganzen Stück Tolstois ist nichts von Heldentum, vielmehr überall
kraftloses, blutarmes Siechtum. Wie sich Kipling in der Bewundrung bestialischer
Tapferkeit ergeht, so scheint sich Tolstois Interesse dem sittlichen Schwäch¬
ling zu widmen. Und wenn wir den schriftlichen Äußerungen Tolstois folgen,
die seit dem Entsteh» des Dramas veröffentlicht sind, so finden wir, daß dieser
volkstümlichste der heutigen russischen Dichter in der That nicht das Heldentum
verherrlichen, sondern vielmehr alle Gewalt, allen äußern Zwang bekämpfen
will. Nicht Heldenverehrung begeistert ihn, sondern Abscheu vor Heldentum,
nicht Macht, sondern Duldung, nicht mutvollcs Herrschen, sondern mutiges
Leiden. Und doch werden wir von dem tiefen sittlichen Ernst, ja von der
schwermütigen Liebe zu den Armen und Schwachen in Tolstoi mehr ergriffen,
als von der Freude Kiplings an den starken Körpern und Seelen, die heute
Gut und Blut in zartester Freundschaft oder Liebe opfern und morgen sich
mit der Wollust des Bluthunds in den Kampf stürzen. Nicht, daß wir hofften,
von Tolstois abschreckenden Schilderungen gebessert, geläutert zu werdeu, so
wenig wie Kiplings Kriegsjournalisten uns zum Soldatentum erheben können.
Vielleicht kann eine von russischen Schauspielern — und die sind meist vor¬
trefflich in einem russischen Volkstheater veranstaltete Darstellung des
Tolstoischen Dramas im russischen Publikum das schlaffe Gewissen wecken,
wohlthätig auf die Moral der Bauern wirken; auf einer deutschen Bühne
wird, wie ich glaube, die gute Wirkung ausbleiben, weil dieses russische Dorf,
so wahr und möglich es uns erscheint, uns doch zu fremd bleibt. Wir können
starke Leidenschaft, große Laster, grausame Unthaten verstehn, aber von dieser
moralischen Öde einer ganzen Volksmasse wenden wir uns mit Schaudern ab,
ohne in uns selbst recht zur Reaktion gereizt zu werden. Wohl aber werden
wir abgestoßen von der tierischen Roheit, zu der bei Tolstoi die moralische
Indolenz, bei Kipling die Kampflust führt. Abgestoßen oder — abgestumpft!
Denn es ist nur halb wahr, daß das Natürliche nie häßlich sei, und daß die
Wahrheit auch in der Darstellung des Häßlichen immer wohlthätig wirke.
Wir find nun einmal nicht mehr reine Naturmenschen, nicht mehr Wilde.
Nicht bloß unser Körper, auch die Seele ist anders geworden, als sie zur Zeit
der Völkerwandrung, auch zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs war. Was
damals unsre Vorfahren ohne große Mühe ertrugen, wäre für uns unerträglich,
und was dem russischen Knecht in Tolstois „Macht der Finsternis" kaum den
Schlaf auf seinem Ofen stört, würde unser Blut sieben, unsre Seele sich em¬
pören machen. Wir werden von der Darstellung solcher körperlicher Greuel,
wie bei Tolstoi, erschüttert wie durch einen Kenlenschlag, aber ich bezweifle,
daß wir davon moralisch lautrer werden. Vielmehr wird unser Gefühl für
Moral und für Körperqual abgestumpft durch Bilder, wie Tolstoi und Kipling
sie uns zeigen, sogar durch Bilder von der Hand der heute bei uns selbst
glänzenden Dichter.
In dein heutigen Kultus des Elends und des Häßlichen wird die Weih¬
ranchschale des Mitleids, der Moral mit Inbrunst geschwungen. Nicht erheben
will man uns, sondern niederdrücke», und aus der Zerknirschung soll der Wille
zum Guten, zur Ehre, zur Menschlichkeit, zur hilfreichen That gegenüber den
Armen und Schwachen emporsteigen. Oder wir sollen abgeschreckt werden durch
den Anblick des Lasters vom Laster, durch den Anblick rinnenden Blutes vom
Blutvergießen. Man ist bemüht, uns seelisch zu packen, zu verwunden, man wühlt
in der Wunde herum und erwartet, daß wir aus der seelischen Folter moralisch
gebessert hervorgehn. Erreicht man wirklich dieses Ziel, z. B. in Stücken wie
„Die Ehre" oder „Fuhrmann Henschel" oder sogar „Die Weber"? Darf jeder
Dichter wagen, was Calderon im „Richter von Zalamen" gewagt hat? Wird
die Darstellung, nicht der Leidenschaft, sondern des gemeinen Lasters, des Hä߬
lichen, der banalen Unsittlichkeit schon genügen, abzuschrecken oder gar sittlich
zu läutern? Ja es mag hie und da einen geben, der durch ganz persönliche
Umstände innerlich dazu vorbereitet war, durch einen solchen kräftigen seelischen
Stoß in eine Richtung zur Einkehr in sich, zur sittlichen Kräftigung geworfen
zu werden. Die große Menge dagegen wird nervös erregt, vielleicht augen¬
blicklich seelisch erschüttert werden, aber die Ruhe kehrt bald wieder, und zurück
bleibt nur etwa — ein Achselzucken: „Ja so ist die Welt, das ist ganz wahr,
aber was soll man dagegen thun?" Und das Endresultat ist, daß der Schauder
vergeht und der Gleichmut wächst, mit dem man das Schauerliche hinnimmt.
Das sittliche Empfinden ist eine sehr zarte Kraft; sie kann durch Anspannungen,
die das Leben bringt, gestärkt, aber sie kann auch durch den künstlichen Reiz
geschwächt werden, mit dem die bloße Phantasie auf sie einwirkt. Wer täglich
auf der Bühne Vorgänge wie in der „Ehre" von Sudermanu beobachtet, wird
leicht dahin gelangen, solche Borgänge im wirklichen Leben gering zu achten.
Die Erregung des sittlichen Empfindens ist wohlthätig wirksam, wenn sie zum
praktischen Handeln hinleitet, aber sie stumpft ab, wenn sie bloßes Empfinden
bleibt, ein Strohfeuer, das aufflammt und erlischt. Solche seelische Rührung
durch die Phantasie, mag sie auch noch so lebenswahr verursacht werden, muß
mit jeder Wiederholung flacher, schwächer werden und kann, wenn dann das
wirkliche Leben einmal ruft, versagen, weil die Reizungen durch die Phantasie
stärker waren, als was sich dem Auge im wirklichen Leben darbietet. Es ist
wie das Romanlesen unsrer Frauen: ein Mädchen, das mit fünfzehn Jahren
damit beginnt, durch Schilderungen die erwachenden Regungen des Herzens
zu reizen, durch die Phantasie immer und immer wieder die Leiden und Freuden
der Liebe in sich zu erfahren, wird, auch wenn diese künstlichen Erfahrungen
noch so keusch bleiben, zuletzt doch nicht ohne Einbuße, sei es an Kraft oder
an Lauterkeit des Empfindens, in die Wirklichkeit des Liebeslebens treten.
Nur zu leicht werden diese zarten Kräfte des Herzens, Liebe, Mitleid, durch
das künstliche Spiel der Phantasie bald zu einer krankhaft ideale» Höhe hinauf¬
getrieben, bald in unsaubre Tiefen hinabgezerrt und finden dann, wenn sie
sich in Thaten umsetzen sollen, nur schwer das gestörte Gleichgewicht, den
natürlichen Boden wieder.
Ich glaube nicht, daß das Theater im allgemeinen die Menschen moralisch
bessert; gewiß nicht unmittelbar, aber auch mittelbar wenig, durch Schärfung
des Empfindens, Klärung des Denkens. Die Leute der obern Klassen, die
täglich auf der Bühne die heftigsten Leidenschaften, die zartesten Empfindungen
miteinander kämpfen sehen, pflegen im dritten Akt zu gähnen und beim Ver¬
lassen des Theaters an das bevorstehende Essen oder allenfalls daran zu
denken, daß der Schauspieler, als er verzweifelnd sich selbst mordete, das mit
weniger Lärm hätte vollführen sollen. Auch dient vielen das Häßliche im
Theater nur als Folie, um nachher ein behagliches Heim, einen wohlbesetzten
Tisch, zufriedne Gesichter um so besser zu genießen. Das niedre Volk wieder
wird zwar von? Schauspiel ergriffen, aber nur selten wird der Dichter richtig
verstanden, weil nur selten für das niedre Volk und in seinem Sinne gedichtet
wird, und eben so selten wird ein erzieherischer Zweck erreicht, soweit ein solcher
vorhanden ist. Wie viele Gretchen haben sich wohl durch den Faust, den sie
auf der Bühne sahen, im Leben warnen lassen? Ich fürchte, nur wenige.
Und wie viele verließen das Theater mit der mehr oder minder klaren Sehn¬
sucht, einem Faust zu begegnen, und alle Lust und alle Qual auf sich zu
nehmen trotz allem! Und wie viel mehr junge Fauste werden erzogen, die
nur den Faust im Garten bewundern, von dem Geist und der Moral des
Stücks aber so gut wie nichts nach Hause tragen!
Tolstois „Macht der Finsternis" ist ein Volksstück, wie ich kaum ein
echteres anzuführen wüßte. Paßt es deshalb auf unsre vornehmen Bühnen?
Ich bezweifle das. So ernst seine Moral ist, so werden wir doch moralisch
zu sehr verletzt von diesem fast völligen sittlichen Jndifferentismus und ästhe¬
tisch verletzt durch die nackte Roheit dieser Greuelszencn. Nicht alles, was zum
Leben gehört, gehört auch auf die Bühne. Die Kunst soll das Leben so wahr
schildern, als sie es vermag; aber sie soll es künstlerisch in den Grenzen von
Moral und Geschmack schildern, sie darf nicht das Leben selbst auf die Bühne
übertragen wollen. Wir sind auch in Deutschland schon weit auf diesem Wege
gekommen und beginnen erst ganz leise wieder in andre Richtung einzulenken.
Was sieht man nicht alles auf der Bühne an krasser, ja roher Natürlichkeit!
An halb- oder dreiviertel nackte Weiber siud wir längst gewöhnt, und ich hätte
nichts gegen sie einzuwenden, außer daß sie oft nicht bloß nackt, sondern obszön
sind. Aber gebärende Frauen, in allen Formen und an den interessantesten
Krankheiten sterbende Leute. mit größter Ausführlichkeit und Akkuratesse sterbende
Leute — das sind schon Seitenstücke zu dem Kindesmorde in der „Macht der
Finsternis." Dazu kommt die Sucht nach Pracht, nach Vollständigkeit in der
Ausstattung. Wie weit entfernt haben wir uns von der Zeit, wo Shakespeare
seinen Szenenwechsel durch eine Aufschrift auf einer Tafel dem Zuschauer an¬
zeigte, dessen Phantasie das übrige leisten mußte! Die prunkvollste Ausstattung
genügt heute nicht mehr: sie muß der Phantasie möglichst wenig überlassen,
sie muß möglichst wirklich sein. Die Meininger haben das gefördert. Für
einen Sickingen muß die Rüstung, die der historische Mann trug, jetzt auf die
Bühne kommen, für Kaiser Maximilian wird ein Jngdrock aus den Reliquien¬
kammern in Wien herbeigeschafft, genau muß Kostümkunde, Zeremoniell, kurz
alles mitspielen, was den Schein zurückdrängen, den: Sein näher bringen kann.
Zuletzt sind die Waffenstücke, Zelte, Geschmeide, Gewänder so echt und so
interessant, daß man sich in einen Antiquarladcu versetzt fühlt, und das Stück
selbst von dem Kram erdrückt wird. Das Auge, die Sinne werden gereizt,
und werden sie befriedigt, so sagt man, das Stück ist gut, ohne ans die Dichtung
viel geachtet zu haben.
Aber die Schaubühne ist nicht für das Sein da, sondern gerade für den
Schein. Wir sind seit Jahrzehnten darauf aus, im wirklichen Leben alle
„konventionellen Lügen" von uns abzuschütteln, uns so natürlich gehn zu lassen
wie möglich; und auch hierin nehmen wir uns den Engländer zum Muster,
den reisenden Engländer, meine ich, ans den mittlern Klassen, der dem Vor-
nehmen nachäfft, ohne eine vornehme Erziehung genossen zu haben. Wir wollen
jederzeit wahr, natürlich sein — oder scheinen, und werden dabei oft unge¬
schliffen. Diese Art von Natürlichkeit verlangen wir potenziert auf der Bühne
zu sehen und gelangen dazu, der Bühne ihren wesentlichen Charakter, den
Schein, zu rauben. Die Mühe, die Phantasie spielen zu lassen, durch die
Phantasie den Schein der Bühne mit dem Sein des Lebens in Verbindung
zu setzen, wünschen wir uns zu sparen. Phantasielos, sinnlich wollen wir
unterhalten sein.
Alles zusammengenommen verlangt man für die sich abstumpfenden Sinne
nach immer sinnlichem Reizen. Nicht Schein, sondern Wirklichkeit, und zwar
immer derbere Wirklichkeit will man. Noch ist der Deutsche wohl empört,
wenn er von spanischen Stiergefechten hört. Aber das Stiergefecht ist nach
Frankreich, ja bis Paris vorgedrungen, und von Paris kommt noch heute
das meiste zuletzt auch zu uns, was den Geschmack und die Nerven angeht.
Man kann sich an alles gewöhnen, und als die Römer durch Tierkämpfe und
Gladiatoren verwöhnt waren, mußten ihre Schauspieler im Theater nicht bloß
zum Schein sterben, sondern in Wirklichkeit: es regte den Zuschauer nicht mehr
auf, wenn der tragische Held, falsches Blut vergießend, noch so naturgetreu
starb, und so mußte er wirklich getötet werden, damit das Publikum befriedigt
war. Wir werden vielleicht bis zu dieser sinnlichen Abstumpfung nicht kommen,
aber gewiß ist, daß wir uns, wenn immer geringere Anforderungen an die
Phantasie des Zuschauers gestellt werden, auf den Weg begeben, der zu immer
größern Anforderungen an die Sinnlichkeit in der Darstellung führt.
Hierzu kommt die seelische Überspannung, in die uns die modernen Dichter
der Finsternis zu versetzen bemüht sind. Der einfache Tod als Sühne für
eine Schuld genügt längst nicht mehr; eine Folterkammer wird ersonnen und
darin der Held oder die Heldin und zugleich die Seele des Zuschauers ge¬
peinigt, bis diese erschauert. In die finstersten Höhlen des Menschenlebens
werden wir am liebsten geführt. Wenn das Tolstoi thut, nun, er weiß, warum
ers thut, und wir können es versteh». Warum wir Deutschen aber die kranken
Phantasien eines Ibsen mit ihrer dramatischen Anmaßung so bewundern, das
verstehe ich nicht. Dieser düstere Moralist und seine deutschen Nachahmer er¬
heben nicht, sondern drücken uns in eine dumpfe, schwere Atmosphäre hinunter,
die uns beengt und schwächt, nicht erfrischt und stärkt. Wer soziales Elend,
sittliche Verkrüppelung kennen lernen will, braucht dazu nicht in ein Theater
zu gehn, er findet genug davon auf der Gasse; wenn ihm danach der Sinn
steht, und wer an den Anblick von Elend und Laster durch die Bühne gewöhnt
worden ist, auf den wird Armut und Vergehn im Leben einen oft nur schwachen
Eindruck machen. Statt Menschen Leidenschaften, Thaten, auch verbrecherische
zu schildern, werden Zustünde, soziale Schäden, moralische Gebrechen, über¬
spannte oder bloße Theorien lehrhaft vorgetragen, die den Zuschauer ver¬
wirren, erschüttern, ohne ihm einen Ausgang zu weisen, der zum Licht führt.
Wenn Tolstoi dies thut, schildert er volles gegenwärtiges Leben; aber wenn
wir die „Macht der Finsternis" ans unsern Bühnen sehen, werden die meisten
von dem Häßlichen darin verletzt, nur wenige vou der Kunst in dem Werke
le technische Lehr- und Versuchsanstalt von Klinisch u. Komp.
in Frankfurt a. M. hat den ersten Jahrgang (1900) eines
Klimsch-Jahrbuchs herausgegeben, der eine Übersicht über die
Fortschritte auf den für das Buchgewerbe in Betracht kommenden
graphischen Gebieten enthalt. Die einzelnen Aufsätze über Schrift
und Satz, Bilddruck (photomechanisch hergestellte schwarze und farbige Ab¬
bildungen), Buchausstattung, Druck und Papier, endlich über den Buchhandel
sind von erfahrnen Fachmännern geschrieben und zunächst ans die Vertreter
des Fachs berechnet, sie haben aber auch ein großes allgemeines Interesse.
Mancher wird schon durch die Menge vortrefflicher Abbildungen aller Art
veranlaßt werden, sich mit dem belehrenden Inhalt des stattlichen Bandes
etwas näher einzulassen, und vielen wird dieser ein nützliches Nachschlagebuch
sein. Am liebsten möchten wir, da wir so vieles daraus gelernt haben, den
einzelnen Verfassern, indem wir über ihre Arbeiten berichteten, folgen, aber die
Geduld unsrer Leser würde uns dabei wohl im Stiche lassen; wir beschränken
uns deshalb darauf, unsre Eindrücke kurz zusammenzufassen.
In der Buchausstattung war das neunzehnte Jahrhundert zuletzt bei dem
überreich illustrierten sogenannten Prachtwerk angelangt, als Gegenbewegungen
eintraten, die sich teils an die Linienkunst des modernen Kunstgewerbes, teils
an ältere und älteste Druckwerke anschlossen. Nach dem Eindruck, deu mau
aus dein Klimsch-Jahrbuch bekommt, müßte die „freie Richtung" im Buchwesen
versagt und ausgespielt haben; vielleicht wären es dann also nur noch die
Nachbilder, die wir um uns her immer uoch weiter aufsteigen sehen, wiewohl dafür
die Menge ein wenig zu groß wäre. Hinsichtlich der Kunst unsrer Vorfahren
aus der Zeit der Erfindung des Buchdrucks, ein Buch als Ganzes schön zu
gestalten, meint der betreffende Bericht, in Papier und Druck würde» wir die
Alten nicht übertreffen, sondern höchstens erreichen, in der Ausschmückung
könnten wir besseres leisten mit den Mitteln unsrer Zeit. Das wird richtig
sein, und namentlich das erste wird sich so verhalten, von dem andern sieht
man aber noch nicht viel.
Wir wollen dieses Buch der Zukunft mit künstlerisch eigentümlichen
Schriften, einheitlichem Druckbild und Buchschmuck und Abbildungen in offner
Strichzeichnung, die im Charakter ebenfalls der Schrift entsprechen, einen
Augenblick zurückstellen. Es ist ja so ziemlich das Gegenteil von dem oben
erwähnten Jllustrationsprachtwerk mit seinem „Bilde an sich." Nun hat be-
kanntlich dem erwünschten bessern Geschmacke nichts so sehr geschadet wie die
Autotypie, „In dieser Erkenntnis, sagt ein andrer Berichterstatter Seite 208.
hat das vergangne Jahr uns einen großen Schritt vorwärts gebracht. Wer
einen einheitlichen Eindruck mit Schrift und Bild erzeugen will, wird heute die
Autotypie nicht mehr zur Anwendung bringen; in dieser Richtung hat die
Buchausstattung unleugbare Fortschritte gemacht." Gut! — Die Autotypie aber,
die in ihrer Billigkeit für die Zwecke der Belehrung nicht mehr zu entbehren
und auch als erlaubtes künstlerisches Vergnügen solchen zu gönnen ist, die das
Beste nicht haben können, weil es ihnen zu teuer sein würde, setzt ihren Weg
fort, mich ohne das Buch, Sie kaun mit ihrer Verflachung der Töne und
ihrer verwischten Zeichnung kein reines und kunstgemüßes Bild geben, sagt
man richtig. Aber sie kann doch manches, was nicht zu verachten ist, wie wir
hier an einem Damenbrustbild vou Vrend'amour, Simhart u. Komp., aller¬
dings auf stark glasierten Papier, sehen, oder auch an einer Dame in ganzer
Figur von Angerer und Göschl in Wien. Allerdings zieht sich das Netz des
Rasters mit seinen parallelen Punkten rücksichtslos über alle Formen hin und
zerstört manches. Besser schließt sich das Lichtdruckkoru an die Details um,
es erhält die Formen deutlicher, aber es giebt die zarten Fleischtöne und die
großen ganz glatten Flächen nicht so rein wieder wie das Rasterbild. Eine
Lichtdruckhochätzung auf Zink neben einer Autotypie desselben Gegenstands auf
Kupfer zeigt uns die Vorteile sowohl wie die Nachteile dieses Lichtdrucküber-
drucks. Auf den ersten Blick blendet die Autotypie durch ihre schneller wir¬
kende Perspektive, aber das andre Bild gewinnt bei näherm Betrachten und
überliefert die Zeichnung und die Stoffbezeichnung des Originals besser; das
Verfahren eignet sich noch mehr für die Chromolithographie als für den Ein-
farbendruck, und auch im Dreifarbendruck, sowohl im Stein- als im Buchdruck,
hat es gute Ergebnisse gehabt. Da indessen hier der Druck einer gleichmüßigen
Auflage große Schwierigkeiten hat, so wird der autotypische Drei- (oder Vier-)
farbendruck die Zukunft haben. Das Jahrbuch enthält hierüber zwei Artikel,
einen für die Drucker und einen für die Hersteller der Negative und der
Klischees mit einem neuen Vorschlag (Winkelung von sechzig Grad bei Be¬
nutzung der Schlitzblende zur Vermeidung des Büxensteinschen Patents) und
außerdem noch einen über die Fortschritte auf den mit der Chromolithographie
zusammenhängenden Gebieten. Wir haben mit den Verfassern die Überzeugung,
daß der Dreifarbendruck uoch sehr vervollkommnet werden wird, und freuen
uns einstweilen auch schon darüber, daß wir ihn haben, wie er ist. Daß ein
sogenannter Aquarelldrnck oder ein Ölgemälde etwas noch besseres ist, können
wir uns dabei ja zur Stärkung und Bewahrung unsers Geschmacks, so oft es
nötig sein wird, vergegenwärtigen. Da ist anch noch ein lehrreicher Aufsatz
über das seit den achtziger Jahren im Übermaß angewandte, mit mineralischen
Stoffen nachträglich „gestrichne" Kunstdruckpapier, Man sieht an zwei gegen¬
überstehenden Landschaftsabbildungen auf solchem und auf gewöhnlichem Jllu-
strationspapier, wieviel vollständiger jenes die Partikelchen eines feinen Raster-
netzes aufgenommen hat. Aber um ein gutes Bild zu erreichen, bedarf es doch
keiner übertriebnen Thätigkeit des „Streichtechnikers," und eine spiegelnde
Glätte, die einem das Sehen erschwert und das Lesen verleidet, ist schon mehr
ein moderner Unfug. Da das nichtgestrichue Rohpapier, wenn es die Eigen¬
schaften des künstlich geglätteten haben soll (das sogenannte Naturkunstdruck-
Papier), für die meisten Unternehmungen zu teuer ist, so wird von der Art,
wie sich das Surrogat weiter entwickelt, recht viel abhängen. Es ist ein Übel,
aber kein so grosses, wie man gewöhnlich annimmt, wenn es nur verständig
behandelt wird.
Soviel von dem Bilde an sich. Was würde wohl Albrecht Dürer sagen,
wenn er plötzlich wiederkäme und seyen könnte, wie täuschend lebendig jetzt in
Schwarz oder in Bunt Tier und Menschenkind für jedermann und um ein
Spottgeld abgeschildert werden kann? Müßte er nicht seine Nachkommen für
wahre Zaubrer halten, zumal, wenn ihm keiner verraten hätte, wie groß der
Anteil der Naturkraft und der Maschine an ihrer photomechanischen Kunst ist?
Und nun treten unsre Kunstpropheten auf, wenden ihr Antlitz rückwärts und
verkünden, daß sich das Buch mit Bildern wieder auf den Standpunkt seiner
Zeit zurückzubegeben habe, das sei stilvoll; was dazwischen liege, sei Verirrung.
Wir mögen das in Bezug auf die mit der Hand angetuschten Kupfertafeln
der teuern Bücher aus der Zeit unsrer Großväter und auf unsre eignen Kinder¬
bücher mit ihren acht kolorierten Bildern bei Winkelmann und Söhne ohne
weiteres zugeben, und doch erschienen sie der damaligen Zeit als Fortschritte.
Die Frage wäre aber nun, ob sich die durch Farben und Photographien,
durch Plakate und alle Arten von Wirklichkeitsillnstration verwöhnten Augen
unsrer Kinder und unsers Volks zurückfinden werden in die stilgerechte Ein¬
heitlichkeit von Buchdruck und Buchschmuck in offner Strichzeichnung, ob nicht
diese vielmehr eine besondre Gattung von Büchern darstellen für Kenner und
feinere, historisch gebildete Liebhaber. Genüsse also, zu denen unsre Lichtwarks
erst die Anweisung schreiben müssen. Es scheint ja immer mit zum Wesen
des Archaismus zu gehören, daß er sich modern vorkommt.
Am wichtigsten wird es den meisten von uns sein, wie ihre Bücher ge¬
druckt sind. Wir haben mancherlei Antiqua und Fraktur, auch die Schwabacher¬
schrift ist uns noch geläufig, außerdem einen Vorrat alter und neuer Initialen,
wir haben Abwechslung in der Stärke des Schriftkegels und in der Schrift-
Höhe, ein Material also, durch das wir vielerlei Wirkungen ausdrücke,? und dem
Charakter der verschiedensten Bucharten gerecht werden können. Der Sinn für
die Schriftform und das Satzbild der Buchseiten ist lebendig geworden, und
Künstler, die dafür Begabung haben, möchten verbessern und neues schaffen.
In dem Klimsch-Jahrbuch werden uns Seite 162 einige moderne Schriftproben
in vollen Seiten vorgeführt, zunächst eine breite gotische Schrift von William
Morris, sehr deutlich, aber so protzig monumental, wenn der Ausdruck erlaubt
ist, daß sie eigentlich nur für einen ebenso monumentalen Gedankeninhalt ge¬
eignet erscheint; dann eine neudeutsche Schrift der Reichsdruckerei und eine
andre von Genzsch und Heyse in Hamburgs die sich viel schlechter liest, nicht
nur weil die Lettern schmächtiger und schmäler sind, sondern namentlich auch,
weil einzelne Buchstaben (F, G, I) zu wenig Körper und Ecken haben. Was
nützt aber die schönste Schrift, wenn die Ähnlichkeit der Buchstabenbilder das
Lesen zu einer Mühe macht! Es wäre verfrüht, anzunehmen, daß die Buch¬
ausstattung mit der auf unsern Beilagen zur Anschauung kommenden Art ihren
Höhepunkt erreicht hätte, sagt der Bericht. Wir meinen sogar, wenn das der
Höhepunkt wäre, so hätte sich das Anfangen nicht gelohnt, denn durch das
Alte und Vorhandne war entschieden für unser Bedürfnis besser gesorgt. Die
Hauptsache bei jeder Druckschrift muß ihre Lesbarkeit sein; für das unleserliehe
Schöne sind ja die Plakate da.
Außer der Schrift kommt für den Leser, dem das Buch kein bloßer Luxus¬
gegenstand ist, der Drucksatz in Frage. Wenn dieser nachlässig und lückenhaft
weiße Flecken über die Buchseiten hinsprenkelt, so wird er das ebenso wie der
typographische Künstler als Schönheitsfehler empfinden; wenn sich aber Zeile
an Zeile reiht ohne Unterbrechung, damit ein gleichmäßiges Seitenbild ge¬
wonnen wird, so muß das ihm vorkommen, wie wenn ein Mensch ohne Pause
spricht. Die gut disponierte Rede macht Gedcmkengruppcn, die sich von ein¬
ander abheben, und dieser logischen Notwendigkeit typographischer Ausdruck
ist das Alinea, das der Leser als eine Erleichterung empfindet. Zeilen¬
füllungen aber bei Einzügen und Ausgängen der Absätze durch Schnörkel und
Ornamente, die der Bericht des Jahrbuchs Seite 162 für eine gelungne Lösung
der Forderung hält, daß eine Vuchseite keine Lücken aufweisen soll, kann er
nur als künstlerische Schrullen ansehen, die den Vorteil des Alinea wieder
aufheben, und die dadurch nicht an Berechtigung gewinnen, daß man sie schon
in frühern Zeiten angewandt hat. Ebenso verhält es sich mit dem Buchtitel.
Seine Bestimmung ist, in möglichster Kürze eine klare und leicht aufnehmbare
Vorstellung von dem Inhalt eines Buchs zu geben, darum ließ man bisher
die einzelnen Zeilen von verschiednen Kraftwert frei auf der Papierflüche
„schweben," und man fand die ausführlichen, einer gefüllten Buchseite ähn¬
lichen Buchtitel älterer Zeiten komisch. Jetzt kommt man wieder dahin, wo
die Buchdrucker vor Jahrhunderten standen: Zeilen von möglichst gleichem
Schriftcharakter werden zu Gruppen zusammengerückt und füllen als recht¬
winklige Figuren oder als Dreiecke einen bestimmten Raum. Der Bericht¬
erstatter des Jahrbuchs hat darüber einen vortrefflichen Artikel: Die moderne
typographische Kleinkunst, der durch treffende Abbildungen erläutert ist. Wir
meinen, bei Tischkarten, Geschäftsempfehlungen, Glückwunschadressen, Miniatur¬
plakaten und derlei Aufgaben des Accidenzsatzes kann man an diesen antiqua¬
rischen Spielereien seine Freude haben, aber die Titelblätter von wirklichen
Büchern sind dafür kein geeigneter Tummelplatz, denn alles in allem: ein Buch
mag in seiner äußern Erscheinung ein Kunstwerk sein oder werden, aber nur
soweit sich das mit seiner ernsten Bestimmung verträgt und seine Brauch¬
barkeit nicht vermindert, sonst wird es ein Spielwerk.
Wir reihen hieran einige andre Neuigkeiten des Buchgewerbes. Bei
Eugen Diederichs in Leipzig ist erschienen: „Max Martersteig, Der Schauspieler,
ein künstlerisches Problem, eine Studie, gedruckt mit den Typen von Otto
Eckmann usw." Das Problem besteht darin, ob ein Schauspieler als Künstler
über seiner Rolle stehn oder sich so in sie hineinversetzen solle, daß er sich
z. B. ganz mit einem Shakespearischen König identifiziert, den er spielt, und
gleich hinterher noch sein häusliches Abendbrot unter den Tisch wirft: „Ist
das ein Essen für einen König?" Der Verfasser entscheidet sich für das zweite
— bis auf das mit dem Abendessen selbstverständlich —, verdunkelt aber dabei
seine durchaus einfache und für die meisten wahrscheinlich auch annehmbare
Meinung unnötigerweise durch eine feierliche Menge von Fremdwörtern aus der
Psychologie: Konzeption, Perzeption, Suggestion, Hypnose, Transfiguration,
Ich-Kausalität. Die Eckmaunschrift macht die Mühe des Verständnisses noch
etwas größer. Sie ist recht hübsch, hat Ähnlichkeit mit der neudeutschen Type
von Genzsch und Heyse, nur steht sie in einigen Buchstaben der Antiqua näher,
aber sie liest sich nicht leicht: man beachte die C, E, F, G. T, die man wirklich
erst kennen lernen muß, ehe man mit thuen umgeh» kann. Die Alinea sind
geblieben, aber die Gedankenstriche durch Schnörkel ersetzt, und die Seiten¬
zahlen, die man doch manchmal braucht und dann schnell braucht, in zwei
Reihen solcher Schnörkel eingepreßt und versteckt. Der Satz und die Aus¬
stattung siud, wie sich das bei dieser Firma von selbst versteht, tadellos.
Oskar Dühnhardt hat unter dem Titel Heimatklänge aus deutschen Gauen,
I. Aus Marsch und Heide, bei Teubner in Leipzig eine Auswahl von nord
deutschen Gedichten und Erzählungen in Dialekt herausgegeben, die sehr zweck
mäßig nach Provinzen: Schleswig-Holstein, Oldenburg, Hannover, Mecklen¬
burg usw. bis Westfalen, geordnet sind. Er hat davon seinen Schülern vor¬
gelesen und ihre Wirkung daran erprobt. Sie werden auch vielen Erwachsenen
Freude machen, die über ihr eignes und andrer Leute Platt Vergleiche an¬
stellen mögen. Der Buchschmuck von Robert Engels besteht aus einigen
Passenden Kopfstücken und Figuren, das Papier ist stark, der Druck ist deutlich,
ganz wie es bei einem Volksbuch sein soll. Wie kann aber ein so bedeutender
Verlag, dem so viel Erfahrung, Verstand und Geschmack zur Seite stehn,
dieses unglückliche Querformat wählen — doch nein, wir haben es zur Vor¬
sicht gemessen, es ist noch zwei Zentimeter höher als breit, aber es wirkt ganz
wie Notenformat und war hier, wo so viele Gedichte mit schmalen Kolumnen
gegeben werden und rechts und links davon so viel weißer Raum bleibt, so
unangebracht wie möglich. Man soll jedem gönnen, was er übrig hat, und
man braucht auch die Papierverschwendung nicht zu bedauern, aber es ist schade,
wenn durch so etwas der Sinn für das Passende verloren geht. Wie viel
netter hätte sich das Buch im herkömmlichen Oktav ausgenommen! Die Quer¬
formate oder Beinah-Querformate gehören zu den Lieblingen der modernen
Richtung. Soviel wir gesehen haben, sagt das Klimsch-Jahrbuch darüber
gar nichts.
Eine typographische Merkwürdigkeit, betitelt: Feste des Lebens und der
Kunst, eine Betrachtung des Theaters als höchsten Kultursymbols, der Künstler¬
kolonie in Darmstadt gewidmet, von Peter Behrens — ist in der Winterscher
Buchdruckerei in Darmstadt gedruckt. Prächtige Quartblätter, blau umdruckt
in der „Verzieruugsweise der sogenannten freien Richtung," die das Klimsch-
Jahrbuch Seite 56 vielleicht etwas voreilig für einen „überwundnen Standpunkt"
erklärt hat, mittendrin auf sehr viel weißem Raum steht ein kleines Rechteck
von Zeilen, die Pagina dazu ist rechts oder links davon in den? Liniengeschlinge
zu ermitteln. Man hofft beim Umschlagen, die Linien ändern sich, aber es
bleibt immer dasselbe. Nur die zwei Titelblätter sind anders, ebenfalls blau,
aber höchst merkwürdig: Karyatiden im Brettstil der Primitiven, wir kennen
uns da nicht recht aus; und auf dem Umschlag von braunem Löschpapier sitzt
zwischen zwei hoch aufflammenden Räucherschaleu in wirklichem Mattgold nach¬
denkend beschaulich ein Löwe und hat sich für die auf unsrer Rechten ent¬
schieden, denn er ist ja ein Wappentier, dem seine Stellung vorgeschrieben ist, das
signee der unten vermerkten Firma (Diederichs in Leipzig). Ob dieses kleine
neuzeitliche Prachtwerk als Adresse oder als Gratulationsschrift, etwa zur Ein¬
weihung eines neuen Sommertheaters, aufgefaßt sein will, haben wir aus dem
Inhalt nicht feststellen können; wir setzen darum den Anfang und den Schluß
hierher, um eine Vorstellung davon zu geben. „Sie ärgern sich, jene falschen
Propheten, daß sie nicht Recht behielten mit ihrer Weisheit: es wird keinen neuen
Stil in der Kunst geben, nie wird es ihn geben, er muß sich aus dem alten
ergeben, man kann ihn nicht erfinden." — „Sie ärgern sich, jene falschen
Propheten, daß sie nicht Recht behielten: es wird keinen neuen Stil in der
Kunst geben. Sie ärgern sich, weil sie sich irrten. Sie irren sich wieder,
wenn sie behaupten: es wird keinen neuen Stil in der Bühnenkunst geben.
Sie werden sich wieder ärgern. Sie irren und ärgern sich immer. Wir aber
sind glücklich und freuen uns, daß wir in einer Zeit stehn, wo wieder ein
starker Wille lebt und der Glaube an die Schönheit." In diesem glücklich
getroffnen Kinderstil (Aus dem Tagebuch der kleinen Nelly oder auch vielleicht
Aufgaben zum Übersetzen mit Wiederholungen) ist auch das übrige gehalten.
Die geärgerten Propheten werden nun jedenfalls wieder ein ganz freundliches
und vergnügtes Gesicht machen.
Ganz außer der Reihe, die uns bis jetzt beschäftigt hat, stehn die aller¬
liebst hergestellten japanischen Bücher von C. F. Amelaugs Verlag in Leipzig,
und es wird jeden, der es nicht weiß, überraschen, daß er für wenige Mark
etwas so zierliches und feines haben kann wie diesen in Tokyo bei Hasegowa
gedruckten und mit einer Menge der zartesten farbigen Bilder geschmückten
Band: „Japanische Dramen Terakoya und Asagao übertragen von Professor
Dr. Karl Florenz." Er enthält zwei Hauptakte historischer Trauerspiele. Wir
haben es unsern Augen nicht zugemutet, deu Text zu lesen, denn er ist auf
einem gewebartig gepreßten glitzernden Papier, auf dessen Netz die Buchstaben
hin und her tanzen, gedruckt, und vermutlich werde» nur wenige dieses Ex-
Perimeut machen. Aber an den Bildern und der ganzen Erscheinung des
kleinen Kunstwerks kann jeder seine Freude haben. Auch der buntbedruckte
Umschlag und die Heftuug siud sehr apart, wenigstens für solche, denen diese
exotischen Leckerbissen nicht täglich vorkomme».
Am Schlüsse unsrer Übersicht möchten wir noch ein gutes Wort für unsre
deutsche Sprache einlegen. Unsre Leser werden in unsern Mitteilungen keine
Absonderlichkeiten bemerkt haben, weil wir uns möglichst der allgemein üblichen
Ausdrucksweise zu bedienen suchten. Würden sie aber z. B. ohne weiteres
verstehn, was „die Gotisch" bedeuten soll, oder „die Altdeutsch"? Es ist eine
Analogiebildung nach „die Autiqun," aber gewiß keine notwendige. Das sind
nur zwei Einzelheiten aus vielen. Wenn jeder Fachkreis, von den Juristen
angefangen, in dieser Weise an der Sprachbildung weiter arbeitet und all dieser
Spezialistenjargon dann allmählich in den großen Sprachkübel ausgeschüttet
wird, aus dem wir alle gespeist werden: wieviel Wustmünner werden dann in
einigen Jahren zur Durchfiltrierung nötig sein?
V>MWirchtag! Es hat gewiß nicht jeder eine richtige Vorstellung davon,
was ein Kirchtag für das Dorfvolk bedeutet, welchen Schatz von Lust
und Freude dieses einzige Wort in sich schließt. Der Städter hat
in der Regel eine schlechte Meinung von den Kirchingen; er denkt
dabei gewöhnlich an einen derben Bauerntanz mit solenner Prügelei.
Mitunter mag dies schon seine Nichtigkeit haben, aber im Alven-
lnnde Körnten, wo man die interessantesten und originellsten Kirchtage von ganz
Osterreich antrifft, ist die Kirchtagsrauferei völlig unbekannt. Ist dies allein schon
eine bemerkenswerte Eigenschaft der Kärntner Kirchtage, so unterscheiden sie sich
von der gewöhnlichen Art Kirchweihfeste auch noch durch ihre zünftigen Fcstbräuche
aus der Väterzeit.
Im Kärntner Oberland zeigt der Kirchtag als das Hauptvergnügen^iW
Kalenderjahres das Gepräge gewisser Behäbigkeit, die sich in vielen Dörfern aus
der Zeit erhalten hat, wo das Handwerk noch einen goldnen Boden hatte, und der
Bauernstand in seiner Blüte war. Damals gab es noch mehr wohlhabende Be¬
sitzer als gegenwärtig, wo gerade in Kärnten die Landwirtschaft daniederliegt.
In den Orten, wo noch etwas Wohlstand besteht, trifft man auch heute die inter¬
essantesten, mit alten Volksbräuchen verbundnen KirWciW die
Leute noch in der charakteristischen. farbenreichen^McljpMMpöii'hotes! M"MA>Mr
im langen Schoßrvck. gewiß meist noch in deFHoK'jH'MVör'vkMMM'Sehet!»
zur Lwclneit „i^um-n link.^- »» >>«» «tVi/^A»Al«.^^n'^^lnSV»>«"i«MM^i»^-
sy'tzen ..Wolkenstecher"-'M"M^-HeNW GHrvbWyWi' MM?Di'Gä
steht man die Weibet'An 'MMgKiNM/At''bMM'HMrKHeiMschM'Md
mit der kostbaren Goldsande. Und die jungen Mädchen — ein wahres Farben-
kästlein, an dem jeder Maler seine Freude haben würde! Da kommen die Burschen
in der bekannten grünen Älplertracht mit der nie fehlenden „Schneid" auf dem
Hütten, unternehmend und verwegen, unwiderstehlich für die Putzigen „Diandlnu."
Bei der Verarmung des Bauernstands in den Alpenlnndern wird dieser herzerquickende
Anblick leider immer seltner.
Die Hauptaufgabe an der Kirchtagsfeier kommt dem jungen Dorfvolke zu, und
die Burschen treffen die notwendigen Vorkehrungen schon einige Zeit vor dem Feste.
Acht Tage vor dem Kirchtag, am Sonntag nachmittag, gehn die Ortsburschen zum
Wirt, bei dem sie „zusammenhalten," das heißt, wo sie am „Kirchtsonntag" mit
ihren Diandleiu erscheinen werden, um zu zechen und zu tanzen. Dies wird dem
Gastwirte bekannt gegeben, was die Burschen das „Kirchtagsandingen" nennen.
Der Wirt weiß schon, was er zu thun hat: er stellt den Burschen ein paar Liter
Wein vor, und je mehr Burschen bei ihm zusammenhalten, umso mehr freut es
ihn, denn das ist eine besondre Ehre für ihn, weil es von seiner Beliebtheit unter
den Dorfburschen zeugt. Bei dieser Gelegenheit wählen die Burschen aus ihrer
Mitte ein Oberhaupt, dem es obliegt, dem Kirchtag den richtigen Anstrich zu geben.
Dieser Bursche heißt der „Zechmeister." Er muß nicht nur ein fideler „Kainpl"
sein, sondern er soll sich auch durch ein hübsches Äußere auszeichnen; vor allem
aber muß er sich im Dorfe der allgemeinen Sympathie erfreuen, damit er für den
Kirchtag viele Anhänger gewinnt. Das Zusammenhalten der „Zechburschen" ist des¬
halb seine erste Aufgabe. Ein tüchtiger Zechmeister hat immer viel Burschen um sich.
Am „Kirchtsamstag," das ist der Sonnabend vor dem Feste, wird schon eine
Vorfeier gehalten. Um sechs Uhr abends spielen ein paar Musikanten beim Wirt
auf, und der Gastgeber läßt den Zechmeister „hochleben"; dieser macht im Vereine
mit der Musik dem Wirt das „Hofrecht." Dann zieht der Zechmeister mit den
Spielleuten von Haus zu Haus durchs Dorf, um die Zechburschen „abzusuchen."
Vor dem Hause spielt die Musik lustige Weise», wozu der Zechmeister Lieder „auf¬
giebt." Dem Bauern, der Bäuerin, den Kindern und den Dienstboten wird das
Hofrecht gemacht, indem der Zechmeister ihnen allen zutrinkt, sie hochleben läßt
und die Spielleute einen Tusch daraus spielen. Dies ist gleichsam die Einladung
zum Kirchtag.
Vor den Leuten legitimiert er sich auf folgende Weise:
Und von den Freuden des Kirchtags singt er:
Hat der Zechmeister eine Anzahl seiner Lieder aufgegeben, so geht er ins
Haus und holt die Burschen heraus. Die Mädchen kommen auch zum Vorschein,
und dann werden ein paar Stücke vor dem Hause getanzt. Der Bauer und sein
Weib bewirten das junge Volk mit Krapfen, Reindling, Wein, Most und dergl.;
den Rest des Backwerks binden sich die Musikanten ins Tuch. Die Burschen müssen
hier gleich dem Zechmeister bestimmt versprechen, daß sie am Sonntagmorgen zum
„Kirchenziehen" erscheinen. Giebt einer sein Versprechen, der nachträglich „ab¬
springt," das heißt wortbrüchig wird, so wird er von den übrigen Dvrfburschen
nie mehr gut gelitten. Treffen sie ihn nach dem Kirchtag ans der Gasse, so jagen
sie ihn nach Hause; aber solche Falle sind sehr selten. So gehts von Haus zu
Haus, überall wird Hofrecht gemacht, Lieder werden aufgegeben, es wird gezecht
und getanzt, und die Zahl der Burschen wächst immer mehr an, bis endlich in
später Abendstunde die fröhliche Schar in Begleitung mehrerer Mädchen zum Wirt
zurückkehrt, wo in der Gaststube bis zwölf Uhr getanzt und gesungen wird. Der
Wirt läßt für seine Zechbnrschen manchen Freitrnnk aufmarschieren, was der Stim¬
mung gewiß keinen Eintrag thut!
Ob die Burschen um Mitternacht alle ihre eignen Lagerstätten aufsuchen, kann
so genau nicht nachgewiesen werden. Manch übermütiger Jauchzer verhallt in der
Kirchtsamstngsnacht.'
Wer könnte hinter die Geheimnisse der Kirchtsamstagsnacht kommen! Sie ist
die herrlichste Nacht im ganzen Jahre — so behaupten es die Burschen. Aber
wer da meinte, daß sich auch nnr ein einziger von den Zechburschen verschliefe, der
müßte sie nicht gut kennen. Die Leute liege» noch in den Federn, und die Burschen
sind schon wieder fleißig am Werk. Sie haben kaum zwei Stunden der Ruhe ge¬
pflegt, und nun sind sie draußen ans dem grünen Wiesenanger und laden die
Böller. Ju prasselndem Feuer liegt die glühende Eisen spitze, dann zuckt sie von
Zünder zu Zünder, fünffach und zehnfach kracht es hintereinander, und in die Berge
und Wälder hinein rollt ein donnerndes, brausende? Echo! Das war der erste
Gruß, der den Festtag verkündete; dann legen sich die Buben auf den Rasen hin.
Wenn das goldige Sonnenlicht über die Berge schimmert, und das „Grußläuten"
in den taufrischen Sommermorgen hinansllingt, dann sind die Mörser schon wieder
geladen und donnern zur Ehre Gottes abermals in die Berge hinein, den Leuten
Botschaft bringend von der Festtagsfreude.
Um die siebente Morgenstunde stehn die Zechburschen in Wichs und Glanz
beim Wirt; die Morgenluft und die Arbeit haben sie hungrig gemacht und nicht
»linder auch durstig. Jetzt kommt ein gemeinschaftlicher Imbiß, den der Wirt zum
besten giebt. Die Musikanten sind much schon wieder dabei. Burschen und Spiel¬
leute erhalten vom Wirt ein frisches Blume»Sträußchen ins Knopfloch, und die
Mädchen haben ihren Herzliebsten die Hüte mit Rosen und Gartenblumen förmlich
bekränzt. Es kommt ganz darauf an, welcher Beliebtheit sich der Bursche unter
den Dorfschönen erfreut, umso reichlicher fällt die Sträußchenspende aus. Der
eigentliche Kirchtag nimmt nun seinen Lauf. Vorher noch zahlen die Burschen das
„Zechgeld" zusammen, das der Zechmeister in Verwaltung nimmt. Die Höhe des
Geldbetrags entspricht dem Vermögensstande eines Bauernburschen, bis zu drei
Gulden kann jeder leisten."
Beim Kirchenziehen ist auch der Wirt dabei, der beim „Opfergang um de»
Altar herum mit dem Zechmeister an der Spitze geht. Unter den Klängen der
unvermeidlichen Musik ziehn hernach die Burschen wieder aus der Kirche und er¬
warten ihre Mädchen, denn nun hebt gleich ein flotter Tanz auf dem Kirchplatze
an, daß der Staub davonwirbelt. Eine Stunde wird hier der Lustbarkeit gehuldigt.
Die Burschen bewirten die Mädchen unterm Lebzelterstande rin süßem Med und
Lebkuchen und singen zusammen ein paar sclbsteinstudierte Kärntner Liederchöre;
auch verschiedne lustige Spiele giebt es, wie das „Tafelhacken," das „Lebzelt-
abheben" usw. Den Mädchen, die vor der Kirche zum Tanze geführt werden,
gilt dies als besondrer Vorzug.
Der Wirt hat sich unterdessen davongemacht, um seinen Kirchtagsgästen einen
würdigen Empfang zu bereiten. Die fröhliche Schar der Burschen und Mädchen,
die in verschiednen Kärntner Volkstrachten erscheinen, zieht mit den schmetternden
und flötenden Spielleuten der Dorfzeile entlang und kehrt unterwegs noch bei
einem wohlhabenden Besitzer, mit dem sie es wegen seiner bekannten Freigebigkeit
besonders „gut" meint. ein, um ihn noch tüchtig anzusingen und anzublasen, wo¬
durch sich der Bauer sehr geschmeichelt fühlt und die Burschen großmütig bewirtet.
Die rastlosen Musikanten binden den Nest wieder in ihr Sacktüchel. Der Zech-
meister, der hier allein das Singen oder Liederanfgeben zu besorgen hat, läßt seinen
geradezu unerschöpflichen Liederborn fließen, singt Spottliedeln, daß den Leuten,
die er sich zur Zielscheibe ausersehen hat, die „Gallbirn" aufsteigt, und die Leute,
die es nicht angeht, lachen rechtschaffen drauf. Die „Diandlan" kommen oft schlecht
weg dabei, denn mitunter spricht der Bursche eben nicht durch die Blume. Zahmerer
Natur sind freilich wieder andre seiner Lieder; so ist es wohl nur ein Scherz,
wenn er singt:
Doch auch von der holden Liebe süßer Minne versteht er zu singen, wie z. B.:
Ehrenhalber holt der Zechmeister die Hanstochter oder die junge Bäuerin
heraus, um mit ihr zu tanzen; während dieses Tanzes, der sehr kurz währt, dichtet
der Zechmeister ans dem Stegreif ein Liedchen auf irgend eine Person oder sonst
etwas. Die Musik spielt die Weise nach, wozu wieder getanzt wird, was sich lange
so wiederholt. Nach einem Gesamtchor schwingt der Zechmeister seinen Hut mit
einem: „Dank schean, Frau Muatta!" was der Frau des Hauses gilt, dann ziehn
sie wieder von dannen, dem Wirtshnnse zu. Der Wirt steht mit der bekränzten
„Bnrschenflasche" voll Wein und einer Anzahl Trinkgläsern vor der Thür, um dem
Zechmeister das erste Glas zu reichen; dieser tritt aus dem Kreise der Zechburschen,
hebt das Weinglas und spricht: „Unser Wirt soll leben — hoch!" Die Musikanten
spielen einen Tusch darauf, dann gilt der Trunk der Wirtin in derselben Form.
Die ganze Familie läßt man hochleben bis zu dem Dienstpersonal, und dann werden
wieder Lieder aufgegeben, und die Mädchen müssen zum Tanz herbei. Die Burschen¬
flasche kreist munter die Runde ab, und daß dabei die Burschen ordentlich in
Stimmung kommen, ist nicht zu bezweifeln.
So singt einer, und der andre:
Die Musik spielt die Weise nach, wozu ein Stückchen getanzt wird. Die Lust¬
barkeit wird auf dem Tanzboden fortgesetzt; die Zechburschen haben ihren eignen
gedeckten „Burscheutisch," wo sie gemeinschaftlich mit ihren Tänzerinnen von der
bekränzten Weinflasche zechen. Auf dem Tanzboden steht es nnn jedem frei, Lieder
aufzugeben, so viel ihm einfallen. Bei der bekannten Scmgeslnst des Kärntners
kann man annehmen, daß ein förmlicher Liederregcn losbricht; jedoch vollzieht sich
auch das Aufgeben der Lieder in bestimmter Ordnung. Nach einer kurzen, passenden
Tanzmeise beginnen die Tanzpaare eine Promenade im Kreise, und der vorderste
Bursche macht mit dem Singen den Anfang. Er singt nur ein Lied, das die Musik
nachspielt, wozu wieder getanzt wird; ist der Tanz zu Ende, so legt der zweite
los, und so geht es weiter. Damit die Sache jedoch nicht eintönig wird, werden
die Lieder in verschiednen Weisen gesungen, z. B.:
Der zweite singt:
Der dritte:
Eine gewisse Zungengeläufigkeit ist bei dem folgenden nötig:
Ein Ende muß nun einmal auch das Liederanfgeben haben, darum singt einer:
Der Liedertanz währt bis zwölf Uhr mittag, dann werden die Zechbnrschen
mit der Musik heimgeleitet, wo ihrer ein feister Kirchtagsbratcn wartet. Kirchtags
giebt es nämlich bei jedem Bauern frischen Schweinebraten nebst verschiednen Back¬
werk, wie Schmalzkrapfen, „Nigelnn" u. dergl.
Haben sich die Leute ordentlich sattgegessen und den Weinkrug, den der Bauer
aufgetragen hat, leergetrnuken, so richten sie sich wieder zum lustigen Kirchtags-
leben zurecht, das um bald nach Mittag anhebt. In Wein, Weib und Gesang gipfelt
das Treiben. Die eine Hälfte des eingezahlten Zechgeldes wird am Sonntag
gemeinsam am Burschcntisch verjubelt, wobei die Zechburschen mit ihren meist recht
klangvollen Stimmen noch manch schönes Lied zusammen singen. Die Nacht wird
durchgetanzt, und am „Kirchtmoutag" in der Frühe spielen die Musikanten die
Burschen mit den Mädchen nach Hanse.
Wer nun meinte, daß der Kirchtag damit zu Ende wäre, würde sich sehr
irren. Einmal ein wenig heimgehn und den wüsten Kopf ordentlich unter das
Brunnenrohr stecken, daß das frische Wasser über und über fließt, dann eine trockne
Pfciid, und hernach soll den Buben einer fragen, ob er gesund ist! Nach einer
Weile sitzt er wieder beim Wirt, und all die andern sind auch wieder da; mit der
Musik wird abermals von Haus zu Haus gegangen, vor jedem Hause getanzt, ge¬
sungen und getrunken. Die Bäuerin kommt wieder mit der Krapfenschnsscl und dem
Neindliug, und schließlich bedankt sich der Zechmeister für die Bewirtung und für das
„Burschenleihen" und bittet diese für die Fortsetzung des Kirchtags beim Besitzer
aus. singend und voll neuer Lust ziehn die Burschen mit den Mädchen durchs
Dorf und dem Wirtshaus zu. Und damit nun alles wieder ins richtige Geleise
kommt, setzt sich der Zechmeister einmal hin und macht Rechnung mit dem Wirt,
um darüber ins reine zu kommen, was schon verzecht wurde, und was der Zech-
fonds zu leisten noch imstande ist. Im weitern spricht der Zechmeister aufmunternde
Worte an die Burschen, damit sie getreulich auch noch diesen Tag aushalten mögen.
Jeder erhält bei dieser Gelegenheit ein paar Cigarren, damit die Sache einen
„Schick" hat, dann hebt der Kirchtng von neuem an, denn die Kärntner Kirchtage
dauern zwei, mitunter drei Tage. Es ist gewiß keine leichte Aufgabe und besonders
für deu Zechmeister, von Sonnabend bis zum Dienstag bei Humor zu bleiben.
Die Sonne scheint schon wieder zu deu Fenstern herein, die Buben verlöschen
die Lichter und drehn dem lustigen Bruder Kirchtag mit einem „Steirischen" den
Kragen um. Sie sind kirchtagssatt bis auf den schwindsüchtiger Geldbeutel; ob sie
jetzt heimgehn sollen oder sonst was beginnen, darüber sind sie noch nicht recht
einig.
Diesen Vorschlag macht einer, doch ein zweiter ist andrer Meinung:
Doch die Sache hat nun schier deu Boden verloren, also:
So ist es denn Ernst. Ein wenig schwankend, das Hull sitzt nicht mehr ganz
sicher auf dem vollen, schweren Haupt, und die Äuglein wollen das Sonnenlicht
nicht vertragen — so verlassen sie das Wirtshaus, wo sie schier heimisch geworden
waren. Die Spielleute — auch nicht mehr ganz munter — spielen sie heim, doch:
Das ist die Erinnerung ein die krenzlnstige Kirchtagszeit! Und auf diese Weise
Wird der Kirchtag gefeiert auf der Fellach, in ähnlicher Weise auch anderwärts;
in Unterkärnten sind sie einfach und ohne besondre Eigentümlichkeit, im Oberlande
dagegen prunkvoll und mannigfaltig in ihren Burschenbräuchen. Im Unterlande wird
häufig arg gerauft, was man in Oberkcirnten mit peinlichster Sorgfalt vermeidet.
Die Gailthaler Slowenen tanzen am Kirchtag nnter einer breitästigen, schattigen
Linde (Se, Stephan) oder verbinden andre Spiele mit dem Kirchweihfeste, wie in
Feistritz an der Gail das „Knfenstechen" um Pfingstmontag,
Darf es gewagt werden, ihn, den unvergleichliche»,
mit andern zusammen zu nennen — mit andern, die sich in dem Zauber des Stils
mit ihm messen dürfen, ihm vielleicht unbewußt das Muster dargeboten haben;
und mit noch andern, die sein eigenstes, sein wesentlichstes als eine Art Sklaverei,
mindestens als ein Gefnngeuseiu in einem Fallstrick für uicht größte Geister
vorausgekannt und klar ausgesprochen haben? Beides hat mir wenigstens an der
sonst vortrefflichen Monographie von A. Riehl in der Frommannschen Sammlung
von Klassikern der Philosophie gefehlt. Wie sichs gebührt, feiert Riehl in Nietzsche
auch den „Künstler" des Stils, der ein gut Teil modernster Schlagwörter geprägt
und mit Erfolg an die Börse gebracht hat, (In Heft 8 der Grenzboten wird er
mit Heyse und Lotze verglichen und mir mit diesen vergleichbar genannt,) Zwar
mit seiner von Riehl angeführten Stilrcgel wird er nicht viel Schule machen:
„Man muß alles — Länge und Kürze der Sätze, die Interpunktionen, die Wahl
der Worte, die Pausen, die Reihenfolge der Argumente — als Gebärden empfinden
lernen" — „der Stil soll leben," Es ist eine heikle Sache um solches Müssen
und Sollen, Aber unmittelbare Nachahmer seines Stils, bewußte und unbewußte,
wird er vielleicht bekommen, wie einst ein andrer Sprachgewaltiger sie in Menge
bekommen hat: Jean Paul. Und gerade diesen, von dem man das Verb Jecm-
paulisiereu zu bilden für nötig fand — wird Nietzsche diese Ehre zu teil werden? —,
hat Riese neben Nietzsche zu stellen unterlassen; mit wieviel Recht oder Unrecht,
das mag aus folgendem hervorgehn. Von den vielen Beispielen, die Riehl als
Belege für die Sprachkünstlerschaft Nietzsches anführt, sei zunächst der Aphorismus
mitgeteilt, worin er „erlesene sprachliche Schönheit" findet: „Ach, immer nur das
(läßt sich schreiben), was eben welk werden will und anfängt, sich zu verriethen!
Ach, immer mir abziehende und erschöpfte Gewitter und gelbe späte Gefühle! Ach,
immer mir Vögel, die sich müde flogen und verflogen, und sich nun mit der Hand
haschen lassen, mit unsrer Hund! Wir verewigen, was nicht mehr lange leben und
fliegen kann, müde und mürbe Dinge allein! Und nur euer Nachmittag ist es,
ihr meine geschriebnen und gemalten Gedanken, für den allein ich Farben habe,
viel Farben vielleicht, viel bunte Zärtlichkeiten und fünfzig Gelbs und Brauns und
Grüns und Roth — aber niemand errät mir daraus, wie ihr in euerm Morgen
aussahet, ihr plötzlichen Funken und Wunder meiner Einsamkeit, ihr meine alten,
geliebten — schlimmen Gedanken!" — Einer impressionistischen Skizze vergleicht
Riehl folgende Stilprobe: . . . „zur frühen Stunde, da der Eimer am Brunnen
klirrt, und die Rosse warm durch graue Gassen wiehern," Hierneben setze ich statt
vieler zwei Proben ans dem Siebenkäs: „Dieser Kuhreigen weckte ans einmal wieder
seine rosenrote Kindheit, und sie richtete sich auf, trat himmlisch vor ihn hin und
sagte: Schau mich an, wie schön ich bin, wir haben zusammen gespielt; ich habe
dir sonst viel geschenkt, große Reiche und Wiesen und Gold und ein schönes, langes
Paradies hinter dem Berge: aber du hast ja gar nichts mehr! Und bist noch
dazu so bleich! Spiele wieder mit mir! Sind die Rosenknospen, die ich dir gab,
denn noch nicht aufgebrochen?" Und zweitens: „Einen solchen Fürstenbund zweier
seltsamen Seelen gab es nicht oft. — Dieselbe Verschmähung der geadelten Kinder-
possen des Lebens, dieselbe Anfeindung des Kleinlichen bei aller Schonung des
Kleinen, derselbe Ingrimm gegen den ehrlosen Eigennutz, dieselbe Lachlust in der
schöne» Irrenanstalt der Erde — eine in zwei Körpern eingepfarrte Seele." Bei
aller Stärke steckt doch in Nietzsches Stil eine verhängnisvolle Schwäche, es ist zu
viel Bewußtheit und zu viel Ich darin; kann er das Wort „Du gehst zu Weibern,
vergiß die Peitsche nicht!" aus einem andern Grnnde geschrieben haben, als um
durch eine stilistische Überraschung einen Effekt zu machen? Wie fein nimmt sich
neben dieser Brutalität die Stelle aus, in der Jean Paul von der Projektion der
Empfindungen bei den Frauen spricht: „Das Gefühl ist bei ihr so lebendig, daß
sie in einem fort fühlt, wie sie sitzt und steht, wie das leichteste Band aufliegt,
welchen Zirkelbogen die gekrümmte Hutfeder beschreibt; ihre Seele fühlt uicht nur
den Tonus aller empfindlichen Teile des Körpers, sondern auch den der unempfind¬
lichen, der Haare und Kleider; ihre innere Welt ist nur ein Weltteil, ein Abdruck
der äußern." — Hier ist Beobachtung, Pshchologie, Humor und Stil, bei Nietzsche
nur Stil. Und weil wir einmal bei den Weibern sind, hätte Riehl bei Nietzsche
solche Stellen gefunden wie die Philippika gegen die Verführer (Unsichtbare Loge,
Hempelsche Ausgabe S. 297), man müßte ihm einen Vorwurf daraus machen, daß
er sie nicht mitgeteilt hätte.
Kann man demnach feststellen, daß die Form für Nietzsche zuweilen zur Klippe
wird, „an der auch die gescheiten Schiffer gern scheitern," so ist ihm derselbe
Schiffbruch an einer viel verhängnisvollern Stelle noch einmal passiert, in seiner
Ethik. Denn auch die Ethik hat eine Form und einen Inhalt, und Riehl hat die
hier gemeinte Verirrung Nietzsches oft und scharf geung hervorgehoben; er hätte
sie nur uoch anders formulieren und zeigen können, daß „noch andre" die gefähr¬
liche Stelle längst voraus gekennzeichnet haben. nicht hebt hervor, daß Nietzsche
nur noch Sinn hat für „jede Art Größe," daß er am Willen mir noch die Form,
nämlich Stärke, Länge, Unzerbrcchlichkeit zu schätzen weiß, daß sich ihm dabei die
Wertschätzung des Inhalts, als da ist Wohlwollen oder Übelwollen, Recht, Billig¬
keit u. dergl., ganz in der Hand verflüchtigt, daß er darum die Vielzuvieleu, die
dem Raubtierinstiukt mit Wollust nachsingen, preist, anstatt wie andre Leute die
Vielzuweuigeu, die in der Bändigung und Regelung des Jchtriebs das Ziel der
Menschenentwicklung praktisch verfolgten, gebührend zu würdigen. Es ist ein Gesetz,
daß, um mit Novalis zu reden, das Ideal schöner Gemütsart keinen gefährlichern
Nebenbuhler hat als das Ideal der höchsten Kraft. Und „wie in der That, so
auch in der Meinung unterliegt das Schwächere," sagt der Ethiker Herbart, „weil
das Auge, von der Stärke geblendet, stumpf wird gegen das Unrecht, die Un-
billigkeit und das Übelwollen." Kürzlich stritt sich mein Fünfjähriger mit meiner
Vierjährigen beim Kaffeetrinken, ob es ein Butterbrot gebe so groß wie der Himmel.
Auf ihren berechtigten Einwand, daß das ja kein Mensch essen könnte, flüchtete er
wie so oft hinter die unanfechtbare Behauptung, daß doch wenigstens der liebe Gott
ein solches haben müsse, und dazu — nach einem neuen Einwand — auch einen
Schrank, der noch etwas größer sei.
Man kennt aus den Mythen der Völker das Bestreben, alle Arten von Un¬
geheuerlichkeiten an Größe und Kraft zusammenzutragen; der Fenrirwolf der nor¬
dischen Mythologie berührt mit seinem Oberkiefer den Himmel, mit seinem Unter¬
kiefer die Erde. Der Philosoph Nietzsche steht also mit'seinem Übermenschen nicht
allein, im Grunde ist der Überwolf wie das Überbntterbrot desselben Geschlechts;
nur daß Kinder und jugendliche Völker darauf verzichten, ihre Überbildungen mit
der Ethik zu verquicken. Die Idee der Vollkommenheit blendet und macht, daß
die übrigen Ideen verschwinden, und damit hört eben die Moral auf. Das ist
die sehr deutlich erkennbare Klippe, an der Nietzsche scheiterte. Nebenbei gesagt,
liegt hierin nicht mich der Grund für das zähe Festhalten am Duell? Ist man
nicht dabei auch von der Stärke geblendet? Verachtet und verschmäht man nicht
auch bei Streitfällen den Rechtsweg, nur weil das Gesetz „der Freund des
Schwachen" ist?
Aus Thüringen kommen zwei erfreu¬
liche Nachrichten über Volksbildung und Heimatkunde: im Schlosse Friedenstein
— Koburg-Gotha — hat im Februar d. I. unter dem Vorsitz des Regenten,
Erbprinzen Ernst zu Hohenlohe, und im Beisein des Herzogs Karl Eduard eine
Versammlung von Männern aus den verschiedensten Bernfsständen stattgefunden,
in der darüber beraten wurde, wie die Volksbildung verbreitet werden könnte. In
einer Ansprache hat der Regierungsverweser ausgeführt, daß es ihm am Herzen
liege, die Buch- und Kunstschätze der berühmten herzoglichen Bücher- und Kunst¬
sammlungen sowie die Schöpfungen der Geschichts- und Kunstvereine in den Herzog¬
tümern Koburg-Gothn für die Zwecke der Volksbildung in höherm Maße als
bisher nutzbar zu machen, um die Liebe zur Heimat zu vergrößern und den Sinn
für die Kulturentwicklung des engern Vaterlands in weitern Kreisen zu wecken.
Der Staatsminister Heutig hat hierauf näher ein Programm entwickelt, das zur
Erreichung dieses Zweckes entworfen worden ist, und es sind drei Abteilungen
— für die herzogliche Büchersammlung, für die Kunstsammlnng und für geschicht¬
liche Forschungen — eingerichtet worden, worin die Ausführungen des Unter¬
nehmens im einzelnen beraten werden sollen, und zwar von Männern, die in einem
dieser Fächer Sachkenntnis haben.
Fast gleichzeitig sind vom Kultusminister in Weimar die Kirchenbehörden ange¬
wiesen worden, die Büchersammlungen der evangelischen Kirchen und Pfarreien einer
neuen Durchsicht zu unterziehn. Über schriftliche Werte von geschichtlicher und wissen¬
schaftlicher Bedeutung soll an das Ministerium berichtet, und Aufzeichnungen von
besonderen kunstgeschichtlichen Werte sollen diesem mitgeteilt werden.
Diese beiden Kundgebungen sind geeignet, wieder einmal auf die gerade in
den Grenzboten mit vieler Liebe gepflegte Heiniatknnde mit ein paar Worten zurück¬
zukommen. Ju Ur. 44 vou 1895 ist darauf hingewiesen worden, wie die Heimat¬
kunde behandelt werden müßte, und es heißt auf Seite 2.18: „Der Historiker für
das Volk muß erzählen, viel erzählen, nicht untersuchen und charakterisieren....
Volkstümliche Darstellungen der Geschichte hält man in Deutschland heute über¬
haupt für unter der Würde des Gelehrten und überläßt sie strebsamen Volksschul¬
lehrern und sozialdemokratischen Schriftstellern." — Auf Seite 279 wird weiter
gesagt: „Man verzeichnet und beschreibt gegenwärtig die Kunstdenkmäler der preu¬
ßischen Provinzen, aber so wertvoll die Veröffentlichungen sind, der Heimatliebe
kommen sie nicht zu gute, nur der Kunstwissenschaft, da niemand daran denkt,
volkstümliche Auszüge, die jedem Volksschullehrer zugänglich sein müßten, herzu¬
stellen." Darin liegt viel wahres: die Kunst- und Baudenkmäler der einzelnen
Kreise in der Provinz Sachsen z. B. sind in einer stattlichen Reihe von Heften,
deren jedes etwa drei bis vier Mark kostet, erschienen, werden aber sehr wenig
gekauft und gelesen, obgleich jede Dorfkirche darin beschrieben worden ist. Im
Schweinitzer Kreise waren sie noch vor kurzem fast unbekannt; kaum einer der
Geistlichen und Lehrer hatte jemals von der Veröffentlichung des eignen Kreises
gehört, und doch betraf es die eigne Kirche mit. Das Landratsamt hat die Hefte
wohl gelegentlich im Kreisblatte empfohlen, aber angeschafft werden sie nur von
ganz wenig Kunst- und Altertumsfreunden, die dann hier und da daraus wenigstens
ihre Kenntnis schöpfen und weiter verbreiten; aber ins Volk selbst dringen diese
Beschreibungen auf die Weise nicht.
Nicht viel anders steht es mit der Heimatkunde im engern Sinne, d. h. mit
der Ortsgeschichte. Es bestehn zwar nach dem Berichte der letzten Generalver¬
sammlung des Gesamtvereius der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine in
Deutschland etwa 149 größere und kleinere Vereinigungen, die vor allem die
Heimatsgeschichte erforschen und pflegen, und die wohl sämtlich eine umfangreiche
oder kleinere Zeitschrift herausgeben, worin die Ergebnisse der Forschungen ver¬
öffentlicht werden. Nimmt man nun an, daß durchschnittlich jeder Verein etwa
200 Mitglieder hat — es giebt einzelne große mit mehr als 1000 —, so giebt
es in Teutschland rund 30000 Personen, denen die Heimatkunde am Herzen liegt
und Freude macht. Darunter sind aber noch viele laue und gleichgiltige Mit¬
glieder, die nur anstandshalber und des guten Tones wegen einem Gejchichtsverein
beitreten, wahrend sie ihm innerlich vollständig gleichgiltig gegenüberstehn. Sie
zahlen, bekommen ihre Geschichtshcfte, und darin besteht ihre Teilnahme.
Es wird von den Vereinen zweifellos unendlich viel geleistet; die Hefte werden
von Jahr zu Jahr gediegner und inhaltreicher, das ersieht man aus dem Kor¬
respondenzblatt des Gesamtvereins, worin von vielen Vereinen die Berichte er¬
scheinen, aber ins Volk dringen auch diese Bücher nicht. Die Mitglieder setzen sich
zumeist ans den höhern und wohlhabenden Ständen, aus den Beamten- und
akademisch gebildeten Kreisen, namentlich Theologen, Philologen und Baubeamten
zusammen; für die weniger bemittelten Stände sind schon die Beiträge, die zwischen
einer und zwölf Mark schwanken, ein Hinderungsgrund, namentlich bei unsrer aus¬
gebreiteten sonstigen Vereinsliebhaberei, die ja immer weiter um sich greift.
Man muß also auf eine andre Weise die Heimatkunde ins Volk hineintragen,
das immer noch trotz der vielen materiellen Interessen dankbar genug ist. Meines
Erachtens sind es besonders drei Mittel, die sich recht gut dazu eignen: einmal die
Pflege der Heimatkunde in der Schule; dort kann die Liebe zu der angestammten
Scholle systematisch den Kindern eingepflanzt werden, sodaß ihnen die Kenntnis der
Ortsgcschichte schon in Fleisch und Blut übergeht. Wenn das aber erreicht wird,
dann wird auch späterhin im Leben bei vielen ein Fünkchen davon noch erhalten
werden, das nur von Zeit zu Zeit wieder der Anfachung bedarf. Der Anfang
mit dem Unterricht in der Heimatkunde ist ja auch schon längst in allen Volks¬
schulen gemacht, und wenn zum Anschauungsunterricht die historische Kommission
der Provinz Sachsen jeder Volksschule eine vor- und frühgeschichlliche Wandtafel
mit farbigen Abbildungen von Urnen u. dergl. unentgeltlich geliefert hat, so ist das
hoch anzuerkennen und durchaus nachahmungswert, Kinder, die auf die Wichtigkeit
und Bedeutung solcher Sachen hingewiesen worden sind, werden später als Arbeiter
in der Landwirtschaft derartige Funde nicht mehr — wie es noch so oft geschieht —
aus Unkenntnis oder Mutwillen zerstören.
Ein weiteres Mittel zur Pflege der Heimatkunde sind die Vortrüge. Es giebt
so unendlich viele Krieger-, Handwerker-, Schützen-, Wohlthätigkeits-, landwirtschaft¬
liche und gesellige Vereine, daß fast kein Dorf ohne eine Vereinigung ist, zu der
die bessern Leute gehören. Alle diese sind für Vorträge aus der Heimatkunde
außerordentlich dankbar, namentlich an langen Winterabenden, wenn die Leute nicht
mit andern Arbeiten beschäftigt sind. Und der Stoff? Der liegt in den Archiven,
in den Kirchenbüchern, in den Schriften der Altertumsvereine, in den überlieferten
Sitten und Gebräuchen, in den noch erhalten gebliebner Volksfesten; er liegt
überall in der geschichtlichen Entwicklung der Feldfluren, der Ortschaften, der Banart
der Häuser, der Ab- oder Zunahme der Einwohnerschaft in einzelnen Jahrhun¬
derten nach den Kirchenbüchern, in der Schilderung des Alters einzelner Familien
oder sonstiger genealogischer Eigentümlichkeiten: kurz, an Stoff fehlt es so leicht
nicht, wenn nur die rechten Männer mit aufrichtiger Liebe zum Volke bereit wären,
einige Opfer zu bringen und sich in den Stoff hineinzuarbeiten. Es geschieht auch
darin schon viel, aber noch viel mehr könnte' erreicht werden, wenn man statt der
ewigen wirtschaftlichen und politischen Vvrtrcigsthätigkeit erst einmal in der bezeich¬
neten Weise an das Volk heranträte; es ist sicherlich dankbar für die Aufklärung
der eiguen heimischen Geschichte.
Das dritte Mittel dazu ist die Presse, die Zeitung, und zwar das kleine
Blatt, wie es jetzt in jeder Landstadt erscheint in Form des amtlichen Kreisblattes
oder sogar noch als ganz selbständiges Blättchen neben diesem. Alle diese Blätter
haben ausnahmlos eine Unterhaltungsbeilage, zumeist das Sonntagsblatt, das
durchweg einen sehr geringen Wert hat, da es fabrikmäßig in einem großen Ver¬
lage für viele Zeitungen zugleich hergestellt wird und fast ausschließlich wertlose
Romane enthält. Wenn es nun gelänge, diese Sonntagsblätter für die heimische
Geschichte zu gewinnen, wenn es möglich wäre, die Schundwaren daraus zu ver¬
drängen und durch Erzählungen aus dem heimatlichen Kreise zu ersetzen, so wäre
viel gewonnen. Diese Blätter werden nämlich überall fleißig gelesen, und die
Sonntagnachmittage sind namentlich in kleinern Städten doch noch vielfach die
Stunden der geistigen Arbeit und Erholung von der körperliche». Da liest jeder
Bürger und Handwerker, fast kann man sagen jeder Arbeiter sein Blättchen von
vorn bis hinten und mit ganz besonderm Interesse Erzählungen, die seinen eignen
Gesichts- und Wirkungskreis betreffen.
Von diesem Standpunkt aus haben denn auch mehrere Zeitungen ihre Sonn-
tagsblättcr geleitet und Erfolg gehabt. Es giebt z. B. die Kvthensche Zeitung in
Köthen ein solches Unterhallungsblatt: Ascania heraus, in der die wunderschönen
Pajchlebner Dorfgeschichten in anhaltischer Mundart von Professor Wäschke in
Dessau standen, die viel Anklang gefunden haben. Der Verein für Heimatkunde
in Herzberg a. E. veröffentlicht allmonatlich in der Kreisblattbeilage, die zugleich
als Zeitschrift für die Mitglieder besonders gedruckt wird, seine Forschungen,
namentlich Wcmdrnngen durch die Kreisdörfer, Kirchen- und Schulgejchichte der
Ortschaften, Jnuuugssacheu u. dergl. Diese Blätter werden gern gelesen, da sie
in leicht verständlicher Form den Leuten die Heimatkunde nahe bringen. — Und
der endgiltige Erfolg aller dieser Bestrebungen? Hat denn wirklich die so viel
angepriesene Liebe zur Heimat jemals schon einen Menschen bewogen, in seiner
Heimat zu bleiben, seine Scholle unverdrossen weiter zu bebauen, sich der gro߬
städtischen Lockungen fernzuhalten? Gewiß nicht; da sprechen ausschließlich mate¬
rielle Gründe mit, wenn es sich um Bleibe» oder Auswandern handelt, da hat
noch niemand ans Liebe zur Heimat den Wanderstab wieder beiseite gelegt. Aber
trotzdem ist die Kenntnis der frühern heimatlichen Zustände nicht ohne Wert. Der
Hörer oder Leser vergleicht sie ganz gewiß mit den jetzigen und wird unwillkürlich
seine Schlüsse daraus ziehn; er wird in seinem Urteile über viele Dinge, wenn
er deren Entstehung kennt, beeinflußt werden und der Gegenwart, mit der mau so
unzufrieden ist, manche gute Seite abgewinnen. Auch der einfache Mann denkt
über solche Sachen nach, wenn sie ihm verständlich vorgeführt werden, und die
Vergleichung der frühern politischen und wirtschaftlichen Zustände auch auf dem
kleinsten Gebiete der engern Heimat mit der Gegenwart wird sicher in den
meisten Fällen zu Gunsten der Gegenwart ausfallen, worin schon ein großer
Gewinn liegt.
Graf Aork ist in Kcilgcm
das Opfer der Unvorsichtigkeit seiner Soldaten geworden. Ganz ebenso wäre es
beinahe dein Kaiser Julian im Kriege gegen die Germanen ergangen, als er
(357—358) in Paris überwinterte. Was um seinem Bericht darüber im Miso-
pogon interessant ist, werden die Leser selbst herausfinden; wir beschränken uns
darauf, ihm und einigen Kürzungeu nachzuerzählen. Er stellt der Schwelgerei der
Antiochener seine eigne abgehärtete, rauhe und enthaltsame Lebensweise gegenüber
und erwähnt u. a., daß er sich niemals infolge von Unmüßigkeit erbrochen habe;
seit seiner Ernennung zum Cäsar habe er nur einmal Erbrechen gehabt, das sei
aber nicht durch Überfüllung des Magens verursacht worden. Ich überwinterte,
erzählt er, bei meiner lieben Luketia ssols, so nennen nämlich die Kelten die kleine
Stadt der Parisicr. Im Fluß liegt eine kleine ummauerte Insel, zu der von beiden
Seiten hölzerne Brücken führen. Der Fluß behält Sommer und Winter so ziemlich
dieselbe Hohe. Sein Wasser ist rein, schön zu sehen und angenehm zu trinken.
Das Klima der Gegend ist milder, als man erwarten sollte, wegen der Nähe des
Ozeans, heißt es, dessen Wasser wärmer sein soll als das süße Wasser; von ihm
ist Paris nur 900 Stadien entfernt. Mag nun dieser oder ein andrer mir un¬
bekannter Umstand die Ursache sein, Thatsache ist, daß die dortigen Leute gewöhnlich
niilde Winter haben. Es wächst bei ihnen guter Wein, und sogar Feigen zieh»
sie, die sie im Winter mit Mänteln aus Stroh vor kalten Winden schützen. Gerade
jener Winter aber war kälter als gewöhnlich. Der Strom trug große Eisblöcke.
die wie phrygischer Marmor aussahen und sich übcreinandertnrmten, ja zuletzt sich
anschickten, eine passierbare Brücke zu bilden. Meine Wohnung mit einem der Öfen
zu heizen, wie sie dort landesüblich sind, duldete ich nicht; unzivilisiert und un¬
menschlich, wie ich nun einmal bin, wollte ich mich daran gewöhnen, die Kälte zu
ertragen. Da sie jedoch immer hoher stieg, gestattete ich endlich den Dienern, mein
Schlafzimmer zu heizen, aber ans Furcht, eine starke Heizung möchte die Feuchtig¬
keit aus den Mauern herausziehn, nnr in der Weise, daß eine kleine Menge
brennender Kohlen hereingebracht wurden. Doch auch diese wenigen Kohlen zogen
Dünste aus den Mauern heraus, die mich einschläferten. Der Kopf wurde mir
schwer, ich fürchtete, zu ersticken, wurde hinausgetragen, und die Ärzte rieten mir,
ein Brechmittel einzunehmen. So gab ich denn die Speisen, die ich bei mir hatte
— es waren, beim Zeus, nicht viel —, von mir; sofort fühlte ich mich erleichtert,
hatte eine gute Nacht und konnte am andern Tage thun, was ich wollte.
Die Saat, die einst Rudolf Hildebrand in seiner begeisternden Schrift vom
deutschen Sprachunterricht ausgestreut hat, ist herrlich aufgegangen. Nicht bloß in
der Schule hat dieses bei vielen Lehrern wie ein Evangelium wirkende Buch
(1. Auflage 1867. 5. Auflage 1896) einem lebensvollen, die Bildung von Herz und
Kopf gleichmäßig fördernden Betriebe der Muttersprache Geltung verschafft, sondern
auch vielen der Schule entwachsenen, die das Bedürfnis empfanden, über ihre
Muttersprache nachzudenken, erst Sinn und Verständnis für die tiefe Poesie der
Sprache sowie für die Bedeutung der in ihr vorliegenden Urkunden deutschen
Gemüts- und Geisteslebens erschlossen. Seit das sinnende Ange dieses Meisters nicht
mehr in die Welt schaut und die Feder eines so rastlos thätigen Geistes keine seiner
tief erquickenden Gaben mehr spendet, rühren sich die Hände freiwilliger Jünger
und schaffen, daß es reichlich sprieße auf dem Boden, den jener Wegbereiter seiner¬
zeit wie ein ganz neu entdecktes Land anbrach.
In die Reihe der Berufnen, die den Spuren Rudolf Hildebrands als eines
zielweisenden Führers gefolgt sind, ist auch der Verfasser des angeführten hoch-
willkommnen Buches eingetreten. Er hat den erfolgreichen Versuch unternommen,
durch die Betrachtung eines Gebietes, das für tieferes Eindringen in das Walten
des Sprachgeistes besonders geeignet ist, nämlich der „Bedeutungsentwickluug unsers
Wortschatzes," das ewig Wechselnde Leben der Wortscele zu schildern. Unter den
vorhandnen wissenschaftlichen Vorarbeiten, denen sich eigne Sammlungen und Be¬
obachtungen anschlössen, bot ihm in gewisser Vollständigkeit seines Lehrers Hermann
Paul Deutsches Wörterbuch, worin der Wortschatz verzeichnet ist, soweit er für
das Austreten in der Litteratur eine bemerkenswerte Bcdeutungsverschiebung aus¬
weist, ausreichenden Stoff, um zahllose Einzelheiten zu geistvollen Betrachtungen
zu verknüpfen. Dem bedeutenden Buche desselben Gelehrten „Prinzipien der Sprach¬
wissenschaft" hat er die Kategorien für seine Darstellung entnommen. Bietet uns
ein historisches Wörterbuch uur in kleinen Ausschnitten Einzelbilder des Sprach¬
lebens, so fügen sich hier gleichsam Bilder und Bildchen zu einer Reihe farben¬
reicher Gemälde zusammen, die auch den mit den einzelnen Thatsachen vertrauten
Leser mit Bewundrung vor dem Geschick des Verfassers erfüllen, der sich einer
für wissenschaftliche Behandlung schon nicht leichten, für eine im guten Sinne populäre
Darstellung zwar äußerst dankbare», aber anch schwierigen Aufgabe, oft fast im
Tone anmutiger, fesselnder Erzählung entledigt hat. Es ist eine ganz erstaunliche
Fülle von Wörtern (nahezu tausend verzeichnet allein das Schlußregister), in deren
wechselnden Bedeutungen der Verfasser eine aus der Sprache an sich redende Kultnr-
und Geistesgeschichte mit Geist und Geschmack geschrieben hat. In dem köstlichen
Buche, dessen Inhalt und Betrachtungsweise sich vor allem die mit dem Unterricht
im Deutschen betrauten Lehrer aneignen müßten, verspürt man einen Hauch des
Geistes, der den Leser aus dem von Waag mit Recht als vorbildlich gepriesenen
Hildebrandschen Buche so wohlthuend anwehe. Trotz der planvollen Anlage zwingt
das Buch uicht etwa zu systematischer Durcharbeitung Seite für Seite, läßt viel¬
mehr ein gelegentliches Blättern und Naschen zu, durch das man sich zu angenehmem
Spiel eigner Sprachbetrachtung kann anregen lassen.
Was das Äußere des übrigens gut ausgestatteten und billigen Buches betrifft,
so möchte bei einer neuen Ausgabe doch wohl zu erwägen sein, ob nicht für die
ungelehrten Leser, die sich der Verfasser ja vor allem auch wünscht, durch Besei¬
tigung der an ein Gesetzbuch mahnenden Paragraphen und der so vornehm gelehrten,
darum nichts weniger als einladenden Lateinschrift das Buch, dessen großmächtiges
Format auch durch ein handlicheres ersetzt werden könnte, in seiner äußern Er¬
scheinung gewinnen würde. Schon der schlicht sachliche Titel mit dem pedantisch
schwerfälligen Zusatz läßt den Laien nicht ahnen, daß diese Schale einen auch für
ihn so schmackhaften Kern birgt.
Wenn es eine wichtige Aufgabe des Philologen ist, zwischen der modernen
Bildung und der antiken Kultur zu vermitteln, so hat der Verfasser dieser Über¬
setzung, der Direktor des Joachimsthalschen Gymnasiums in Berlin, einen besonders
glücklichen Griff gethan. Nach den auch von Wilamowitz ausgesprochnen Grund¬
sätzen, die er in einem „Nachwort" darlegt, hat er weder das Versmaß des Ori¬
ginals beibehalten noch überhaupt wörtlich übersetzt, wie schon das Motto auf dem
Titelblatt andeutet: „Willst du in Wahrheit treuer Dolmetsch sein, mußt du zuerst
vom Wortdienst dich befrein" (aus der ^rs postier 183 f.). Er hat vielmehr den
Hexameter fallen lassen und die „sermonem" (d. h. Unterhaltungen, Plaudereien),
unter die er neben den „Satiren" auch die poetischen „Briefe" begreift, meist in
leichte Neimverse zu fünf Hebungen übertragen, denn der Hexameter klingt im
Deutschen viel zu pathetisch-feierlich, widerspricht also dem Tone dieser geistvollen,
bald neckischen und komischen, bald ernsten und immer äußerst lebendigen Plaudereien
durchaus. Wenn Barde übersetzt, so dichtet er nach; er geht darauf aus, nicht den
Wortlaut wiederzugeben, sondern den Sinn und die Stimmung des Originals aus¬
zudrücken. Er erweitert deshalb den Wortlaut, ersetzt ein dem heutigen Leser wenig
geläufiges Bild oder Beispiel durch ein andres, wendet unbekümmert um Anachro¬
nismen auch ganz moderne geflügelte Worte an. Aus den Versen 8at. I, 1, 96 ff.
wird: „(llmmidius war) solch ein Filz, daß, wer ihn sah, vergaß, daß vor ihm stand
der Herr der Millionen und nicht ein Lnmpenfürst der Lazzaronen"; von einem
Säuger 1, 3, 6 sf. heißt es: „Und fiels ihm ein, so sang er sein Juchhe (^o Laeelnz)
vom großen bis zum zweigestrichnen 0"; ans dem Näpfchen des heute vergessenen
Königs Evander I, 3, 90 f. wird „ein alter Krug, deu schon Nausikaa zum Brunnen
trug." In dem reizenden Stück 8al. II, 6, 14 f. verwandelt sich der Wunsch des
Dichters, Merkur möge sein Vieh und alles, was er besitze, „fett" machen, nur nicht
das inMllinm des Dichters, in den uns sofort verständlichen: „Korn laß gedeihn
auf Fluren nah und fern, Stroh überall, nur nicht im Kopf des Herrn"; sehr
poetisch gestaltet sich in lüpp. II, 1, 156 das bekannte l^iaoeia v»M torno vietorsm
Lvpil u. s. f. zu einem allerliebsten Bildchen: „Hellas bezwungen zwang den stolzen
Sieger; zahm vor der Schönen kniet der rauhe Krieger, und sie füllt Herz und
Haus des armen Wilden mit ewger Schönheit göttlichen Gebilden." Solche Bei¬
spiele ließen sich ins Unendliche vermehren, doch schon diese wenigen werden eine
Vorstellung von der Art dieser nachdichtenden Übersetzung geben. Von den einzelnen
Stücken seien besonders hervorgehoben aus den Satiren: „Rettung" (I, 9), die
köstliche Szene auf der Via sacra, „Stadtmaus und Lcmdmans" (II, 6), die beide
auch E. Geibel in seinem Klassischen Liederbuch, aber in Hexameter übersetzt hat,
von den Episteln: an Mäcenas I, 7, besonders die anmutige Erzählung am Schlüsse
46 ff., an meinen Gutsverwalter I, 14, an Qnintius I, 16, mit der schönen Schil¬
derung seines geliebten Sabinums, die bei Barde mit den die Stimmung vor¬
züglich treffenden Worten beginnt: „Doch will ich plaudernd dir die Zeit vertreiben,
glückselig dir mein kleines Heim beschreiben" (für Vers 3: Soribowr tioi i'ornnr
loczuacitor vt, floh axii), „Meinem Büchlein auf den Weg" I, 26, endlich „Der
Dichter an den Kaiser" II, 1. Möge diese Nachdichtung dem römischen Dichter, der
als Lcbensschilderer und Lebcnsphilosoph nie veraltet, neue Freunde auch unter denen
gewinnen, die ihr Latein längst vergessen haben.
n eine Menge von Völkerschaften zerspalten, die sich bekämpfen
oder sich in feindlicher Spannung gegenüberstelln und sich nur
in seltnen Fällen gemeinsamer Not auf kurze Zeit zusammen¬
schließen, die unstet umherschweifen, Weib, Kind und alle Habe
auf ihren Karren mit sich führen, sich in langem Zuge langsam
vorwärts bewegen, ein Bild schwerfälliger Kraft, so treten uns unsre Vor¬
fahren vor nunmehr zweitausend Jahren, als sie das erstemal mit dem Nvmertum
zusammenstoßen, entgegen. Wenig greifbare Züge wissen uns die Quellen aus
dieser ältesten Periode der deutschen Geschichte zu berichten. Wir hören von
der heldenhaften Durchbrechung des römischen Grenzgürtels durch die Cimbern
und Teutonen, von dein Auszug snebischer Scharen unter Ariovist aus der
germanischen Heimat nach Gallien. Aber diese Einzeldaten geben uns keine
Anschauung von den ungeheuern Schiebungen und Stößen, durch die damals
der gesamte von Germanen bewohnte Boden erschüttert wurde. Kein Zweifel:
das Dasein der ältesten germanischen Völkerschaften verlief, wie das aller
Menschengruppen mit nomadischer Lebensführung, in der Form beständiger
Kollisionen und Konflikte mit den Nnchbarstämmen.
Bei der allgemeinen Unsicherheit und bei der Notwendigkeit, in Fällen rasch
aufziehender Gefahr rasch die Kräfte zusammenzuraffen und Entscheidungen zu
treffen, konnten die Völkerschaften einer dauernden persönlichen Oberleitung
nicht entbehren. So ergab sich den ältesten Germanen das nomadische Heer¬
königtum als die natürliche Verfassung. Ans erlesenen Geschlecht wurde der
Herrscher gekürt — schon der Name „König," von Kuimi (Geschlecht) kommend,
bedeutet einen „Mann von vornehmer Abstammung." Den Germanen fehlte
noch die Gabe abstrakten Denkens; drum suchten sie sich durch symbolische
Handlungen den Sinn rechtlicher Vorgänge klar zu macheu. Ein so bedeutungs¬
voller Akt vollends, wie die Wahl eines Königs, mußte durch ein eindruckst
volles, weithin wahrnehmbares Symbol den versammelten Volksgenossen ver¬
deutlicht werden: aufs Schild wurde der aus einem neuen Geschlecht gewählte
König von starken Armen gehoben, seine Mannen weithin überschauend und
ihnen von ferne sichtbar. Der Umkreis der königlichen Befugnisse wird anfangs
nicht übermäßig groß gewesen sein. Im Kriege mußte seinem Gebote Folge
geleistet werden, aber in der Allsübung seiner Amtshandlungen als oberster
Richter und Priester war er selbst streng an die Formen der Überlieferung ge¬
bunden. Immerhin gelang es sicherlich einzelnen besonders kraftvollen Königen,
eine wahrhaft gebieterische Machtstellung innerhalb der von ihnen beherrschten
Völkerschaft zu erringen. Die beiden ältesten Heerkönige wenigstens, von denen
wir Näheres vernehmen, Ariovistus und Marbod, weisen manche tyrannischen
Züge auf.
Während in der ältesten Zeit das Heerkönigtum ohne Zweifel die gemein¬
germanische, sämtlichen Völkerschaften eigentümliche Verfassungsform gewesen
ist, sind zu der Zeit des Tacitus, etwa hundert Jahre n. Chr., die westgerma¬
nischen Völkerschaftsstaaten zwischen Rhein und Elbe Republiken geworden.
Diese Thatsache ist nur scheinbar merkwürdig, sie geht in ihren tiefern Ursachen
auf innere Wandlungen von entscheidender Bedeutung zurück. Die in Betracht
kommenden Völkerschaften sind zur Seßhaftigkeit gelangt — im Gegensatz zu den
Ostgermcmeu östlich von der Elbe, die zwar auch die uomadische Lebenshaltung
frühzeitig ablegten, aber im fortgesetzten Ringen mit den feindlichen Slawen
nie so feste Beziehungen zum heimischen Boden gewonnen haben, wie ihre
westgermanischen Brüder. An Stelle der bei nomadischer Lebenshaltung vor¬
herrschenden Viehzucht war jetzt der Ackerbau Hauptquelle wirtschaftlichen
Erwerbs geworden. Bei der durch ihn veranlaßten Verkettung der Bewohner
mit dem Boden füllt das Bedürfnis, Gebiet und Wohnsitz zu wechseln, weg
und somit auch der Hauptantrieb zu fortgesetzter kriegerischer Bethätigung.
Damit verliert aber das Königtum seine vornehmste Befugnis, und ein Ver¬
langen der Völkerschaftsmannen nach einheitlicher Leitung ist jetzt, bei der
Verteilung der seßhaft gewordnen Bevölkerung über einen weiten Raum
hin, zunächst nicht mehr vorhanden. Nur in Kriegszeiten erwählt man für
die Dauer des Kampfes einen Herzog. Wie sich die Umwandlung der Ver¬
fassung im einzelnen vollzogen hat, tonnen wir nicht näher verfolgen, aber
das Ergebnis steht fest: das Heerkönigtum in Westdeutschland wird verdrängt,
an seiner Stelle wird die Bcmernrepublik die vorherrschende Staatsform.
Aber diese republikanische Episode in der deutscheu Verfassungsgeschichte hat
uicht lange gewährt, im höchsten Falle, wenn wir Sachsen und Friesen nicht in
Betracht zieh», dreihundert Jahre. Während dieser Zeit reiften die Germanen in
der ernsten Arbeit des Ackerbaus zu großer innerer Stärke und sammelten Kräfte
für die Unternehmungen der Zukunft. Die Gegensätze, die früher zwischen den ein¬
zelnen Völkerschaften vorhanden gewesen waren, schleifen sich ub; größere Ver¬
bände entstehn, Stämme genannt, die eine ganze Anzahl der frühern Völker¬
schaften umfasse». Der Umfang und die Größe dieser neuen Stammesverbäude,
die bedeutende Zahl der ihnen eingegliederten Mannen, ihr fester Zusammen¬
halt untereinander, der durch die Gemeinsamkeit der Sprache, der Sitte und
der Einrichtungen gesichert wird: alle diese Umstände steigerten das Kraftgefühl
der Stammesgenossen zu frohem Thatendrang. Als der aufgeteilte Boden
den Bevölkerungsüberschuß nicht mehr zu ernähren vermochte, da flutete etwa
seit Beginn des vierten Jahrhunderts n, Chr. der Stamm über die Grenzen
des bisherigen Gebiets hinaus, vernehmlich an die Pforten des römischen
Reichs pochend, das ihm widerstandslos ein Stück Land nach dem andern über--
ließ. Aber schon handelt es sich nicht mehr um eine fortgesetzte Veränderung
der Wohnsitze, um eine Auswanderung mit Weib und Kind. Was man hält,
läßt man nicht fahren; planmäßig, von einen: fest gegebnen Mittelpunkt aus
ist man nur auf eine Erweiterung des Stmnmesgebiets bedacht. Hierin beruht
der grundlegende Unterschied der westgermanischen Ausbreitung von den Wande¬
rungen der Ostgermanen — der Goten, Baudaten, Gepiden, Burgunder —,
die während der Völkerwanderung in die südlichem Lande Europas, ja bis
Afrika verschlagen, dort trotz aller heroischen Thaten vernichtet wurden und
unserm Volkstum verloren gegangen sind. Von den Langobarden abgesehen,
die in die Geschicke der ostgermnuischeu Stämme mit verflochten wurden, haben
alle Westgermaneu den Zusammenhalt mit dem deutschen Heimatboden in den
Stürmen der Völkerwanderung behauptet und sind so berufen gewesen, die
Träger der dentschen Geschichte zu werden.
Als im vierten und fünften Jahrhundert die Grenzkonflikte zwischen
Römern und Germanen längs des Rheins einen ernsthaftem Charakter an¬
zunehmen beginnen, da ist schon die republikanische Staatsform wieder über¬
wunden — wenigstens bei den Stämmen, die im Kampfe gegen die Römer
eine führende Rolle spielen, bei Franken und Alemannen. Wir gelangen zur
zweiten Form der deutscheu Monarchie, zum Stammeskönigtum. Anfangs
bilden die Stämme, wennschon in Zeiten äußerer Gefahr alle Genossen eines
Stammes fest zusammenhalten, doch noch keineswegs geschlossene politische
Staatswesen im modernen Sinne. Bei der Schilderung der Alemannenschlacht
von Straßburg im Jahre 357 spricht Ammianus Mnreellinus vou sieben
Königen der Alemannen. Aber ebenso unverkennbar ist die Tendenz, daß
sich die Stammesteilreiche zu einem einheitlichen Gebilde zusammenschließen.
Chlodwig hat diese Einigung ant Frankenstamme vollzogen und zugleich den
Franken die Führerstellnng über die übrigen Westgermanen gesichert. Vier
Jahrhunderte lang decken sich die Schicksale der deutschen Monarchie mit denen
der fränkischen.
Der Machtbestand des Frankenreichs war nach seinein äußern Umfang
schon zu Chlodwigs Zeiten, in noch erhöhtem Maße ein Menschenalter nach
seinem Tode so riesenhaft, daß auch die rechtliche Stellung des Königs nicht
unverändert bleiben konnte. Er war jetzt nicht nur ein Herr über die Franken,
sondern zugleich über eine ganze Reihe andrer germanischer Stämme und über
eine nach Millionen zählende romanische Bevölkerung geworden. Gregor
von Tours hat eine charakteristische Anekdote überliefert, worin dieser Wandel
zum deutlichen Ausdruck kommt. Ein Höfling rief dem König Chlodwig nach
der Schlacht bei Soissons (486), als er die unermeßliche Beute i« Augenschein
nahm, zu, alles, was er sähe, sei sein. Ein in den alten Anschauungen wurzelnder
fränkischer Krieger aber, der zornig die Schmeichelrede vernommen hatte, er¬
widerte, zum König gewandt: „Du sollst nichts bekommen, als was dir das
Los zuspricht," Dabei zerschlug er einen kostbaren Krug, auf den Chlodwig
sein Augenmerk gerichtet hatte. Im nächsten Jahre, als die Heerschau statt¬
fand, ging Chlodwig auf den Krieger, den er sich wohl gemerkt hatte, zu und
rief: „Keiner hat so ungeschickte Waffen hergebracht, wie du. Denn weder
dein Speer noch dein Schwert noch deine Streitaxt sind etwas nütze," Damit
warf er ihm die Streitaxt aus der Hand. Als der Franke sich bückte, sie auf¬
zuheben, schlug ihn der König mit den Worten nieder: „So hast du es in
Soissons mit dem Kruge gemacht."
Schon daß in den Provinzen mit romanischer Bevölkerung vielfach die
bisher dem römischen Kaiser zustehenden Befugnisse schlechthin auf den Frankcn-
könig übertragen wurden, mußte bei diesem ein hochgesteigertes Gefühl seiner
erhabnen Größe erzeugen. Und abgesehen davon ergab sich aus den neuen
politischen Verhältnissen eine Fülle von Komplikationen und Aufgaben, zu
deren Lösung sich die schwerfällige germanische Gesetzgebung unfähig erwies.
Hier schien nur der persönliche Wille des Herrschers ordnend eingreifen zu
können, sodaß sich aus dieser Situation eine ungemessene Zahl von neuen
Hoheitsrechten mit Notwendigkeit für den König ergeben mußte.
Gleichwohl wäre die Annahme verkehrt, als ob das Königtum durch diese
veränderte Machtstellung eine innere Kräftigung erfahren und eine aussichts¬
reiche Position gewonnen hätte. Vielmehr sah es sich alsbald vor ein Problem
gestellt, zu dessen dauernder Lösung auch übermenschliche Kräfte nicht aus¬
gereicht hätten. Die Schwierigkeiten, mit denen das fränkische Königtum zu
kämpfen hatte, sind im Laufe der Geschichte mit einer an Gesetzmäßigkeit
grenzenden Regelmäßigkeit immer dann eingetreten, wenn Völker von junger
Kultur, die noch auf der Stufe der Naturalwirtschaft stehn, große, alte Kultur¬
reiche zertrümmert und ihr Erbe angetreten haben. Dem Ansturm der Franken
hatte das entnervte Römertum nicht zu widerstehn vermocht: im Kampfe hatte
sich die Überlegenheit der ungebrochnen physischen Kraft des Germanentums
sieghaft bewährt. Aber völlig ungeschickt erwiesen sich die ungeschlachten Er¬
obrer, aus den unterworfnen Lünderstrecken ein neues einheitliches staatliches
Gebilde zu gestalten. Wie glänzend hatte doch, bei aller moralischen Ver¬
kommenheit und politischen Wirrnis, rein technisch genommen der Verwaltungs¬
organismus des römischen Kaiserreichs gearbeitet! Da waren alle Gebiete
sorgfältig in Verwaltungssprengel eingeteilt gewesen, die Unterbeamten standen
in dauernder Fühlung mit ihren vorgesetzten Behörden. Bei der vorwiegend
städtischen Kultur gab es eine Fülle von Organisationsmittelpunktcn in den
Provinzen, und auf Grund eines bis zum Raffinement ausgebildeten Rapport-
Wesens flössen alle Fäden der Verwaltung an der einen Zentralstelle, am
Kaiserhof in Rom zusammen.
Jetzt schwand das alles dahin. Bei der Bedürfnislosigkeit und Selbst
Genügsamkeit der germanischen Stämme ging der Handel zurück, die Städte
entvölkerten sich und wurden zu große» Dörfern; das Edelmetall verlor seinen
Wert als Umsatzmittel und lagerte zinslos in den Schatzkammern; der frühere
rege Verkehr zwischen den einzelnen Reichsteilen erstarb. Als in sich geschlossene
Einheiten lagen die von den verschiednen Stammen und Völkern bewohnten
Reichsteile zusammenhanglos nebeneinander. Zweifellos ist gegenüber dem
ungemein kräftig entwickelten Stammesgefiihl das Bewußtsein der politischen
Zugehörigkeit zum Frankenreiche ganz in den Hintergrund getreten. Und doch
konnte das fränkische Königtum, von dem Glänze kriegerischer Großthaten um¬
strahlt, nicht auf die Herstellung einer starken Zentralgewalt verzichten. Bald
stellten sich dabei natürliche Hemmungen und Widerstände heraus, die in der
ganzen wirtschaftlichen und sozialen Konstruktion des Volks ihre tiefe Be¬
gründung finden. An ihre Beseitigung hat nicht nur das fränkische, sondern auch
das deutsche Königtum des Mittelalters seine besten Kräfte gesetzt. Vergebens!
Alle Versuche, die widerstrebenden Gewalten niederzuzwingen, sind schließlich
gescheitert: durch die mittelalterliche Königs- und Kaisergeschichte geht ein echt
tragischer Zug.
Nur auf die grundsätzlich wichtigen Thatsachen dieser Entwicklung kann
kurz hingewiesen werden. Zunächst schien das fränkische Königtum den zur
Bewältigung der neuen Verwaltungsaufgaben geeigneten Stamm von Beamten
finden zu können in den Personen seines Gefolges, den Antrustionen. Sie
standen zum Könige in einem innigen Treuverhältnisse, das ihnen im Kriege
Aufopferung bis in den Tod für ihren Gefolgsherrn auferlegte. Als Stell¬
vertreter des Königs, als Grafen wurden diese Antrustionen in die verschiednen
Teile des Reichs geschickt. Bald aber zeigte sich, daß für die Treugesinnuug
doch der tägliche persönliche Verkehr und die Lebensgemeinschaft mit dem Könige
die Voraussetzung gewesen war. Jetzt oft in einen fernen Winkel des Reichs
versetzt, im Besitze einer ungeheuern amtlichen Machtfülle, in ihrem Thun von
keiner Seite kontrolliert, vergaßen diese Grafen bald, daß sie nur als Stell¬
vertreter des Königs ihre Befugnisse auszuüben hatten. Die Neigung der
Grafen, die Amtsgewalt eigensüchtig zu mißbrauchen, ist im sechsten und
siebenten Jahrhundert allgemein wahrnehmbar. Bald gelang einzelnen Großen
die Befreiung von der königlichen Aufsicht so vollständig, daß sie kraft eigner
Machtvollkommenheit geboten. Sie ließen sich vom Könige wohl gar noch
urkundlich versprechen, kein königlicher Beamter solle in ihren Bereich ein¬
dringen. Um das Jahr 700 zerfiel das gesamte Frankenreich in eine Menge
solcher halbstaatlicher Zwitterbildungen, und dem merowingischen Königtum
war aller Einfluß aus den Händen gerungen.
Die Karolinger, die das Erbe der entarteten Merowinger antraten, fanden,
zur Herrschaft gelangt, einen geschlossenen Stand trotziger Großen sich gegen-
über. Zu ihrer Bczmingung fehlte auch ihnen die Macht. Wohl oder übel
mußten sie mit diesem Gegner ihren Kompromiß schließen, Karl Martell that
es, indem er das Gut der .Kirche plünderte und an die Großen verschleuderte.
Die ungeheuern eroberten oder unbebauten Landstrecken, über die das Königtum
kraft des Bannrechts zu Chlodwigs Zeiten verfügt hatte, waren schon vorher
großenteils weggeschenkt worden. Haushälterischer begann der einsichtige Pippin
zu wirtschaften. In seine Zeit fallen die Anfänge des Lehnwesens, nach dessen
Grundsätzen die Verleihung von Land an einen Großen nicht eine einmalige
Gegenleistung, sondern die dauernde Kriegsdicnstpflicht erheischte. So hatte
der König doch die Möglichkeit, in Fällen der Unbotmäßigkeit verliehenes Land
wieder einzuziehn. Aber es kam -- wenigstens auf deutschem Boden — zu¬
nächst das Lehnwesen nicht über einige Ansätze hinaus.
Kein Herrscher des gesamten Mittelalters hat die Tragweite und Be¬
deutung der dem Königtum drohenden Gefahren schärfer und klarer erkannt
als Karl der Große. Wie lächerlich, in schwächlicher Sentimentalität über
diese gewaltige Heldengestalt auf Grund einiger Grausamkeiten, die er begangen
hat, ein Gesamturteil zu fällen! Der Karl, der mit furchtbarer Härte jeden
Aufstand niederschlug, der den aufrührerischen Bnyernherzog blenden und ins
Kloster stecken ließ, wußte, als er dies that, daß Lebensinteressen des deutschen
Königtums auf dem Spiele standen, daß es sich um Sein oder Nichtsein der
königlichen Machtstellung handle. Furcht und Grausen allein vermochte die
sich nur knirschend beugenden, allezeit aufstandslüsterneu Großen in Schranken
zu halten. Hier wäre Milde Schwäche gewesen. In der That haben ver¬
einzelte strenge Ahndungen Karls gegen Aufrührer das Frankenreich vor fort¬
gesetzten innern Erschütterungen während der Zeit seiner Regierung bewahrt.
Zitternd gehorchten die Großen des Reichs seinen Befehlen. Diese gehorsame
Haltung der Großen durch dauernde Institutionen dem Königtum auch für die
Zukunft zu sichern, war eine dringende Notwendigkeit. Denn unter Karls
Regierung hatten infolge der Unterwerfung neuer ausgedehnter Gebiete die
zentrifugalen Kräfte noch eine natürliche Stärkung erfahren. Infolge solcher
Erwägungen schuf Karl das Institut der wi88i clominiei, der Sendgrafen.
Das gesamte Frankenreich wurde in Juspektionsgebiete eingeteilt, deren jedes
von zwei Königsboten bereist wurde. Auf feierlichen Landtagen, die sie ab¬
hielten, verkündeten sie Karls Befehle und nahmen Beschwerden über die könig¬
lichen Beamten entgegen. Widerstand gegen ihre Anordnungen wurde aufs
strengste bestraft. Nur auf einen Monat im Vierteljahr erstreckte sich ihre
Amtsthätigkeit, die beiden übrigen erstatteten sie dem Könige Bericht über ihre
Beobachtungen und Erfahrungen. Auf diesem Wege gelang es Karl, ein wahr¬
haft königliches Regiment in Deutschland aufzurichten.
Nach seinem Tode brach das alles rasch wieder zusammen. Der natür¬
lichen Hemmungen, die einer Zentralisation der Verwaltung im Wege standen,
hatte eben nur der Riesenwille eines Karls vorübergehend Herr zu werden ver¬
mocht. Als im Jahre 911 mit Ludwig dem Kinde das Karvlingergeschlecht
in Deutschland ausstarb, war die Ohnmacht des Königtums größer als je
vorher. Nicht einmal die militärischen Aufgaben der Abwehr äußerer Feinde
hatte es zu erfüllen vermacht. Die Stammesherzogtümer, deren staatliche
Selbständigkeit Karl für immer gebrochen zu haben schien, waren um die Wende
des neunten und zehnten Jahrhunderts zu neuem kraftvollem Dasein entstanden.
Aber von den Tagen Karls des Großen her hatte sich doch auch das Be¬
dürfnis im Volke erhalten, einen König an der Spitze des Staats zu sehen:
so traten unmittelbar uach dem Tode Ludwigs des Kindes die Stämme zu¬
sammen, sich einen neuen Herrscher zu küren.
Mit Konrad I. (911 bis 918) oder besser noch mit seinem Nachfolger
Heinrich I. (918 bis 936) setzt eine neue Periode in der Entwicklung der
vaterländischen Monarchie ein, die Periode des deutschen Lehnkönigtums.
Das neue Reich war in nationaler Beziehung eine Einheit: zum Unterschied
vom alten Frankenrciche war seine Bevölkerung fast rein germanisch. Doch
war darum das neue Staatswesen keineswegs in sich geschlossener als das
frühere. Im Gegenteil: hatte Karl der Große noch mit Glück den Versuch
unternommen, die Adelsaristokratie dein Königtum gefügig zu machen und sie
zu einem abhängigen Beamtenstande zu stempeln, so mußten jetzt die Könige
ihre selbständige Stellung sehr bald anerkennen. Die Großen und das Königtum,
das ihre Mithilfe braucht, stehn zu einander in einem Vertragsverhültnis, das
sich in genauen Grenzen hält. Auch für deutsche Verhältnisse trifft die An¬
schauung zu, die die normannischen Barone bei ihrem Lehnseide in den Worten
auszusprechen pflegten: „Ich werde euer Mann von wegen des Lehrs, das
ich von euch empfangen habe." Auf einen unbedingten Gehorsam darf der
König bei seinen Vasallen nicht mehr rechnen. Als Heinrich der Löwe im
Jahre 1176 Friedrich Barbarossa die Heerespflicht verweigerte, konnte ihm vom
streng rechtlichen Standpunkt aus kein Vorwurf gemacht werden: verpflichtet
war der Herzog nur dazu, den Kaiser auf seinem ersten Zuge nach Italien zu
begleiten.
Und wie hätte auch der König auf die Dauer zu einer durchgreifenden
Verwaltungsorganisation, zu einem unbedingt zuverlässigen Beamtentum ge¬
langen sollen? Vom zehnten Jahrhundert ab durchdringt das Lehnswesen,
dessen Anfänge schon in die Zeiten Pippins zurückreichen, das gesamte staat¬
liche Leben Deutschlands. Die Form, in der die königlichen Beamten ent¬
schädigt wurden, war gemäß den naturalwirtschaftlichen Zuständen die der Be¬
lehnung mit Grund und Boden. Bei den mangelnden Verkehrsverhältnissen
war es min unmöglich, die Nutzung des Grund und Bodens in einer von
diesem losgelösten Form dem Beamten zuzuwenden; vielmehr wurde der Be¬
amte durch die Belehrung zugleich der Besitzer und Herr des ihm zugewiesenen
Grundstücks. Er erhielt nicht nur Sold, er erhielt Macht. Es war immer
dasselbe Schauspiel: wo der König Getreuen die Durchführung seiner Gebote
und die Verteidigung seiner Machtinteressen anvertraute, da finden wir wenig
später eigenherrliche, von der Krone fast unabhängige Gewalten. Sie haben
es verstanden, den Umfang ihres Machtbereichs seit der Zeit der Belehnung
abzurunden und auszudehnen. Aber die diesem Machtbesitz ursprünglich an¬
hängenden staatlichen Pflichten sind in Vergessenheit geraten und abgestreift.
Auf diese Weise sind das heutige Belgien und die Niederlande dem deutschen
Reiche allmählich verloren gegangen, ohne daß sich auch nur ein markantes
Datum für diesen Borgang der Ablösung anführen ließe.
Das deutsche Königtum fand sich gegenüber diesen Zustünde» in einer
verzweifelten Lage. Sicherlich giebt es Zeiten, wo eine übergroße Botmäßigkeit
und Gefügigkeit zur politischen Untugend werden kann — indessen die hervor¬
stechende, dem Mittelalter eigentümliche staatliche Untugend ist zweifellos die
Unbotmüßigkeit gewesen. An glänzenden Königsgestalten hat es nicht gefehlt,
aber im Kampfe mit der Unbotmäszigkeit ihrer Großen haben sie nichts erreicht.
Vernachlässigung gegen die staatlichen Pflichten, Widerspruch und Widersetz¬
lichkeit gegen des Königs Anordnungen, Unruhe, Aufstand, Empörungen waren
so sehr an der Tagesordnung, daß sie — ein bezeichnender Wandel der sitt¬
lichen Anschauungen — kaum als Unrecht im moralischen Sinne angesehen
wurden. Man vergleiche die beispiellose Milde und Nachsicht mittelalterlicher
Könige gegen aufrührerische Vasallen mit der furchtbaren Härte Karls des
Großen. Ottos des Großen Sohn Liudolf entfacht gegen den Vater eine ganz
Deutschland entstammende Empörung; wenig Jahre später bekommt er ein
führendes Kommando in Italien. Herzog Ernst büßt seinen ersten Aufstand
nur mit kurzer Gefangenschaft und erhält daun sein Herzogtum wieder. Lothar
versöhnt sich mit den aufrührerischen Staufen. Heinrich dem Löwen werden
von Friedrich Barbarossa zur Strafe für seinen Ungehorsam, der den Zusammen¬
bruch der kaiserlichen Machtstellung in Italien zur Folge hatte, die Herzog¬
tümer entzogen; aber seine beträchtlichen Allode bleiben ihm, sodaß er kurze
Zeit darauf wieder gegen das Stauferkaisertum ins Feld zu ziehn vermag.
Wenn ein halbes Jahrhundert später Friedrich II. seinen ungehorsamen Sohn
Heinrich in strenge Haft nehmen und bis zu seinem Tode gefangen halten
läßt, so handelt er schon nach den neuen Anschauungen des monarchischen
Absolutismus.
Auf welchem Wege hat nun das mittelalterliche Königtum eine Stärkung
seiner Machtstellung erstrebt, da es die Anwendung brutaler Gewaltmittel ver¬
schmähte? Außerordentlich weitschauend und von grundsätzlicher Tragweite ist
ein Versuch Ottos des Großen in dieser Richtung: er unternahm es, die
katholische Kirche Deutschlands staatlichen Interessen dienstbar zu machen.
Auf der Grundlage einer ganz einzigen, trefflich disziplinierten Gemeinsamkeit
geistig-religiöser Anschauungen, die sich auf alle ihre Glieder erstreckte, schuf
die katholische Kirche einen Organismus von imponierender Geschlossenheit und
Konzentration. Diese Organisation stellte sich mit ihren beträchtlichen Macht¬
mitteln unter den Ottonen dem Staate zur Verfügung, und das Königtum
konnte nun für die Durchführung seiner Maßnahmen einen gut wirkenden
Apparat in Bewegung setzen. Freilich wurde damit die ganze Verwaltung
pfäffisch; niemals ist im Verlaufe der deutschen Geschichte katholisch so sehr
Trumpf gewesen wie zur Ottonenzeit. Am königlichen Hofe wimmelte es von
Prälaten, Die Bischöfe wurden die vornehmsten Inhaber der Grafenrechte,
Eine Heeresmatrikel aus der Zeit Ottos II,, die ein Zufall erhalten hat,
beweist, daß die deutscheu Könige fast ausschließlich mit Kontingenten geist¬
licher Großen nach Italien gezogen sind. Auf die Dauer konnte dieser Bund
bei der innern Wesensverschiedenhcit von Staat und Kirche doch nicht ersprießlich
sein. Als unter Gregor VII. die innerlich erstarkte Kirche die staatliche Be¬
vormundung abzuschütteln suchte, da sah sich mit einemmal das Königtum eiuer
zwiefachen Front gegenüber: das Papsttum schloß seinen Blind mit den auf¬
rührerischen Großen des Reichs. In diesem ungleichen Kampfe sind die mittel¬
alterlichen Könige unterlegen. — Friedrich I. unternahm noch einmal den
Versuch, das schon wankende Königtum zu befestigen. Er zerlegte, soweit er
es vermochte, die großen Herzogtümer, insbesondre das umfangreiche sächsische,
in eine Anzahl von Territorien, hoffend, daß die Könige mit einer Menge
von kleinen Gewalten besser fertig werden würden als mit wenigen großen.
Aber es ging ihn? wie dem Goethischen Zauberlehrling, der durch das Zer¬
schlagen des Besens das Unheil nur verschlimmert. Schon Friedrich it. — der¬
selbe Herrscher, der im süditalischen Normannenreiche den modernen absolu¬
tistischen Beamtenstaat vorbildlich geschaffen hat ^ hat durch die oonstiwtio
in tavorein xrinoipunr die staatliche Zerrissenheit Deutschlands urkundlich
sanktioniert. Es ist ein Akt bewußter Resignation,
(Schluß folgt)
le Organisation der Regierungen in Preußen hat durch das
Landesverwaltungsgesetz vom 30. Juli 1883 eine Änderung er¬
fahren, die die bis dahin klar festgestellte Kompetenz und die
dienstliche Stellung der Regierungspräsidenten ins Schwanken
gebracht und verschiednen Auffassungen über die Stellung des
ihm nach diesem Gesetz beigegebnen Oberregierungsrats hervorgerufen hat. Die
Meinungsverschiedenheiten äußern ihren Einfluß nicht nur auf den Dienst¬
betrieb, sondern auch auf das kollegialische Verhältnis, insofern sie bedauer¬
licherweise zu Friktiouen unter den Mitgliedern der Regierung Veranlassung
geben, die bis dcchiu nicht entstehn konnten. Das frühere, durch Ncmg-
verhültnisse nicht getrübte kollegiale Zusammenwirken der Regierungsmitglieder
hat infolgedessen gelitten, ein Mißstand, der auch nach außen hin das Ansehen
und die Autorität der Behörde zu schädigen geeignet ist. Wir möchten hier
die Ansicht vertreten, daß zu einer verschiednen Auslegung deS neuen Gesetzes
kein Grund vorliegt, daß vielmehr die Stellung des Regierungspräsidenten und
des ihm beigegebnen Oberregiernugsrats darin deutlich bezeichnet ist.
Die Grundlage für die Geschäftsführung der Regierungen ist noch immer
die durch Klarheit der Darstellung, durch gründliche Behandlung des Stoffs
und durch Vornehmheit der Grundsätze gleich ausgezeichnete Instruktion zur
Geschäftsführung der Regierungen in den königlich preußischen Staaten vom
28. Oktober 1817 (Gesetzsammlung für 1817, S, 248) mit der sie ergänzenden
Allerhöchsten Kabinettsorder vom 31. Dezember 1825 (Gesetzsammlung für 1826,
S. 5). Das leitende Motiv ist in beiden Organisationsgesetzen das „Kollegial-
system." Nach diesen altbewährten Gesetzen steht an der Spitze der Regierung
ein Präsident. Er ist der Mittelpunkt der ganzen Verwaltung. Ihm liegt
es vorzüglich ob, das Allgemeine der Verwaltung im Auge zu behalten und
darauf zu sehen, daß die Vorschriften der Regierungsinstruktion überall be¬
obachtet werden. Als erstes und vorgesetztes Mitglied des Kollegiums führt
der Präsident den Vorsitz und die Leitung des Vortrags nicht nur in den
Plenarsitzungen, sondern auch in den Sitzungen der einzelnen Abteilungen, be¬
aufsichtigt das Personal usw. Diese Geschäfte, die sogenannten Präsidial¬
geschäfte, werden vom Präsidenten selbständig ohne Mitwirkung andrer als
nur der notwendigen Bureaubecimten besorgt. Bei einer Krankheit oder Ab¬
wesenheit des Präsidenten versieht der älteste Oberregierungsrat dessen Geschäfte
und übernimmt seine Rechte und Obliegenheiten.
Die Regierung selbst zerfällt regelmäßig in drei Abteilungen: die I. Ab¬
teilung oder die Abteilung des Innern, die die sämtlichen Gegenstände der
innern Landesverwaltung umfaßt, soweit sie uicht der II. und III. Abteilung
oder andern Behörden überwiesen sind; die II. oder Schulabteilung, der die
Kirchenverwnltnng und das Schulwesen übertragen sind, und die III. oder
Finanzabteilung, in der die direkten Steuern, Domänen und Forsten bearbeitet
werden. Außer diesen drei Abteilungen können bei größern Regierungen die
Kassen-, Etats- und Rechnnngsangelegeuheiten in einer besondern Abteilung
bearbeitet werden. Die Abteilungen sind keine abgesondert voneinander für
sich bestehenden Behörden, sondern machen zusammen ein gemeinschaftliches
Kollegium aus. Die Stellung der Abteilungen zu einander ist völlig gleich,
sie sind durchaus koordiniert und nnr eingerichtet, um den Geschäftsgang des
großen Regierungskolleginms zu erleichtern. Die Einheit der Regierung wird
durch sie nicht gestört. Die Leitung der Geschäfte in den einzelnen Abteilungen
liegt den Abteilungsdirigenteu, denen der Charakter „Oberregierungsrat" bei¬
gelegt ist, ob. Die Abteilungsdirigenten haben in Beziehung auf ihre Ab¬
teilung alle Rechte und Pflichten, die dem Präsidenten über das Ganze zu-
stehn. Deshalb führen sie auch den Vorsitz in den Abteilungssitzungen, sofern
nicht, wie es in der Regierungsinstruktion ausdrücklich heißt, der Präsident
selbst anwesend ist. Dies letzte ist eine bemerkenswerte Ausnahme von der
vorhin erwähnten Regel, daß bei Krankheiten oder Abwesenheit des Präsidenten
der älteste Oberregierungsrat dessen Geschäfte versieht und in seine Rechte und
Obliegenheiten eintritt. Die Geschäfte der Abteilung für das Kassen-, Etats-
und Rechnungswesen werden, wo eine solche Abteilung besteht, also bei größern
Regierungen, von dem Regierungs- und Kassenrat selbständig unmittelbar unter
dem Präsidenten bearbeitet. Im übrigen ist die Stellung dieser Abteilung,
die mit dem Buchstaben X (Kassenwesen) bezeichnet zu werden pflegt, dieselbe
wie die der andern, mir nimmt hier der Präsident selbst die Befugnisse der
Abteilungsdirigenten wahr.
Die Grundsätze der Regierungsinstruktion und der Kabiuettsorder von 1825,
wie sie der Hauptsache uach, soweit sie hier in Betracht kommen, angegeben
sind, hatten sich mehr als ein halbes Jahrhundert, nur können ohne Ein¬
schränkung sagen, vorzüglich bewährt, als am 1. April 1884 das Landesver¬
waltungsgesetz vom 30. Juli 1883 in Kraft trat und damit auch eine Ände¬
rung in der Organisation der Regierungsbehörden hervorgerufen wurde. Es
ist nötig, die für den vorliegenden Zweck in Betracht kommenden Paragraphen
des Landesverwaltungsgesetzes wörtlich mitzuteilen, um klar zu machen, wie
die Veränderungen beschaffen sind, die gegenüber der Regierungsinstruktion und
der Kabinettsorder herbeigeführt worden sind. Es sind dies die Paragraphen 18,
19 und 20, die folgendermaßen lauten:
K 18. Die Negierungsabteilung des Innern wird aufgehoben. Die Geschäfte derselben
werden, soweit nicht durch das gegenwärtige Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen sind,
von dem Regierungspräsidenten mit den der Regierung zustehenden Befugnissen verwaltet.
Z 19. Dem Regierungspräsidenten wird für die ihm übertragnen Angelegenheiten ein
Oberregierungsrat und die erforderliche Anzahl von Räten und Hilfsarbeitern, von denen
mindestens einer die Befähigung zum Richteramt haben muß, beigegeben, die die Geschäfte nach
seinen Anweisungen bearbeiten. Die Beamten können zugleich bei der Regierung beschäftigt
werden und nehmen an den Plenarberatungen derselben nach Maßgabe der sür die Regierungs¬
mitglieder bestehenden Vorschriften teil. Die Mitglieder der Regierung können von dem
Regierungspräsidenten zur Bearbeitung der ihm übertragnen Geschäfte herangezogen werden.
Z 20. Die Stellvertretung des Regierungspräsidenten in Fällen der Behinderung erfolgt
durch den ihm beigegebnen Oberregierungsrat, und wenn auch dieser behindert ist, durch einen
Oberregierungsrat der Vezirksregierung. Die zuständigen Minister sind befugt, in besondern
Fällen eine andre Stellvertretung anzuordnen.
Nach dem § 18 ist also die Abteilung des Innern aufgehoben, ihre Ge¬
schäfte sollen aber von dem Regierungspräsidenten mit den der Regierung zu¬
stehenden Befugnissen verwaltet werden. Die damit eingeführte Änderung
besteht, wie der Wortlaut ergiebt, nur darin, daß hinfort die kollegiale Be¬
handlung der Geschäfte innerhalb der Abteilung l wegfüllt, und an die Stelle
der ausgehöhlten Abteilung der Präsident getreten ist, der die Geschäfte selb¬
ständig mit den ihm beigegebnen Hilfskräften (Z19 des Landcsverwaltungsgesetzes)
nicht etwa wie die ihm nach der Regierungsinstruktion überwiesenen Präsidial¬
geschäfte, sondern nur mit den der Regierung zustehenden Befugnissen verwaltet.
Wir vermögen in dieser Änderung nichts andres zu erkennen, als daß
an die Stelle der kollegialischer Behandlung der Geschäfte eine rein persönliche
durch den Präsidenten getreten ist, eine Behandlung ähnlich der, wie sie das
Kassen-, Etats- und Rechnungswesen in der vorhin erwähnten Abteilung X
erfährt. Als Leiter der Geschäfte der frühern Abteilung des Innern nimmt der
Präsident zu den Abteilungen II und III, die bestehen geblieben sind, keine andre
Stellung ein, als die des frühern Dirigenten der ausgehöhlten Abteilung. Er
ist also in dieser seiner Eigenschaft nicht etwa Vorgesetzter der Dirigenten der
Abteilungen II und III, sondern er steht ihnen dienstlich gleich. Nimmt aber
der Präsident in der Verwaltung der Geschäfte der ausgehöhlten Abteilung I
keine Sonderstellung den übrigen Abteilungen gegenüber ein, so ist dies selbst¬
verständlich noch viel we>?iger bei dem ihm beigegebnen Oberregierungsrat
der Fall, der nur nach seiner Anweisung die Geschäfte führt 19). Die
Stellung dieses Beamten ist deshalb den übrigen Oberregierungsrüteu gegen¬
über durchaus koordiniert. Eine Rangerhöhung ist ihm dadurch, daß ihm
ein für alle mal die Vertretung des Präsidenten in den Präsidialgeschäften
übertragen ist (t? 20), nicht beigelegt, ebenso wie dies früher nach der Regie¬
rungsinstruktion bei dem älteste» Oberregieruugsrat der Fall war. Er hat
nur den Amtscharakter als Oberregiernngsrat erhalten. Für seine Stellung
den Kollegen gegenüber ist deshalb der sich nach dem Alter des Anstellungs¬
patents richtende Rang entscheidend. Etwas andres ist nirgends im Gesetz aus¬
gesprochen, wie es hätte geschehn müssen, wenn man ihn etwa zu der Stellung
eines Vizepräsideuten hätte emporheben wollen. Im Staatshandbuch rangiert
er denn auch uach dem Alter des Patents, ein Beweis, daß er an entscheidender
Stelle den übrigen Oberregierungsrüten gegenüber nur als koordiniert angesehen
wird. Formell erfreut er sich nicht einmal der Selbständigkeit wie seine .Kollegen,
insofern als er nur nach Anweisung des Präsidenten die Geschäfte führt
<H 19), während jene insofern unabhängiger gestellt find, als sie in Fällen von
Meinungsverschiedenheiten mit den, Präsidenten ans dem Beschluß der Abteilung
besteh» können.
Dieser gesetzlichen Ordnung, wie sie sich aus den angeführten Paragraphen
ergiebt, entspricht es nicht, wenn sich bei einzelnen Regierungen das Bestreben
zeigt, dem Oberregiernngsrat, der dem Präsidenten für die Geschäfte der
frühern Abteilung l beigegeben ist, eine bevorzugte Stellung einzuräumen.
Eine solche Einräumung ist ein Mißbrauch, der nicht mir die dienstlichen,
sondern auch die gesellschaftlichen Beziehungen erschwert und das im Interesse
des Dienstes durchaus notwendige kollegialische Zusammenwirken der Regie¬
rungsmitglieder gefährdet. Es kann nur beklagt werden, daß die bewährte
Organisation der Regierungsbehörden durch das Landesverwaltungsgesetz in
solcher Weise, der Ausdruck ist nicht zu hart, verstümmelt worden ist. Die
neue Einrichtung wird auch nicht durch die Absicht gerechtfertigt, die dabei
entscheidend gewesen war, daß mit dem persönlichen Regiment der Regierungs¬
präsidenten bei den Geschäften der frühern Abteilung des Innern ein Gegen¬
gewicht gegen die Selbstverwaltung geschaffen werden sollte, wie sie mit der
Bildung des Bezirksausschusses neben der Regierung eingeführt worden ist.
as Apriori, d, h. nach dem Gesagten die ursprüngliche Ver¬
nünftigkeit des Menschen, die aus keiner Atombewegung und aus
keiner Entwicklung erklärt werden kann, die dem Menschen weder
angewöhnt noch angelernt oder sonstwie von außen zugeführt
wird, sondern die er bei der Geburt mitbringt als Fähigkeit zur
Benutzung und Beherrschung der Außenwelt, dieses Apriori erzwingt sich
natürlich auch an der Stelle Beachtung, wo die wunderbare Verflechtung
des Geistes in die Natur ihren eigentlichen Ort hat, bei der Betrachtung der
Gehirnthätigkeit. Auch hier besteht LiebmcmnS Hauptleistung darin, daß er
deutlich macht, was alles zu erklären wäre, wenn wir eine Erklärung hoffen
dürften. Er weist die materialistischen Erklärungsversuche — wofern man nur
das Wort Materialismus nicht im gröbsten Sinne versteht — keineswegs ab.
„Niemand kann zweien Herren dienen. Man kann nicht nach Wahrheit suchen
und doch zugleich im voraus bestimmen wollen, wohin der Weg führen soll,
wohin er nicht führen darf. Auf unsern Fall angewandt, ergiebt dies das
strenge Postulat: I^eiatk »Mi 8p6i'An?k voi od'outiAto, d. h.: Gebietet Schweige«
allen Gemütsbedürfnifsen und Herzensneigungen, allen egoistischen nud ethischen
Unsterblichkeitswünschen, der gemeinen Todesfurcht, dem Bedürfnis nach Wieder¬
vereinigung mit geliebten Verstorbnen, der Sehnsucht nach unendlicher mora¬
lischer Vervollkommnung, und wie die via äosiclöria alle heißen mögen! Laßt
sie sämtlich verstummen und öffnet euer Ohr allein der unerbittlichen Vernunft,
euer Auge allein dein unbestreitbaren Faktum!" Und nun zählt er die be¬
kannten Thatsachen auf, die zu beweisen scheinen, daß das Empfinden, das
Wollen und das Denken Gehirnfunktivnen seien. Dann aber stellt er die
Forderungen auf, die bei der Annahme der materialistischen Hypothese an den
Naturforscher gerichtet werden müssen: „Erkläre mir aus den physischen Be¬
schaffenheiten des Denkorgans, als da sind seine Struktur, anatomische Gliede¬
rung, chemische Zusammensetzung, physiologische Funktionsweise — erkläre mir
aus den materiellen Eigenschaften, Zuständen, Veränderungen des großen Ge¬
hirns die intellektuellen Leistungen des Menschen!" Z. B., um Liebmanns
Forderung noch deutlicher zu machen: Sage mir, ob Phosphor oder Stickstoff
zugeführt werden muß, wenn statt des dummen ein kluger Gedanke, statt des
lieblosen Wunsches ein liebreicher, statt des Fuhrmanns Henschel eine Jphigeme
herauskommen soll, und wie der Phosphor mit der Weisheit, der Stickstoff
mit der Gesinnung und dem Kunstgeschmack zusammenhängt! Was haben nun
Physik, Chemie, Anatomie und Physiologie in der Beantwortung dieser Fragen
geleistet? So gut wie gar nichts, antwortet Liebmann. „Der Anatom und
Physiolog belehrt uns, daß die rätselhafte und höchst komplizierte »Frucht am
Stengel des Rückenmarks«, insbesondre die graue Substanz des großen Gehirns
aus Millionen von Ganglienzellen besteht, die durch Nervenfasern untereinander
in mannigfachster Verbindung stehn, und daß dieses Nervenlabyrinth in unsrer
Hirnschale mit den Sinnesorganen durch die Sinnesnerven wie durch Tele-
graphendrähte kommuniziert. Der Physiker fügt hinzu, daß in den Nerven
galvanische Ströme zirkulieren. Der Chemiker findet, daß sich das Hirnfett
durch einen hohen Phosphorsänregehalt auszeichnet, was einen bekannten Hei߬
sporn zu dem Schluß begeistert hat: ohne Phosphor kein Gedanke! — einem
Schluß, der auf gleicher Rangstufe steht mit dem Satze: ohne Zündhölzchen
kein Feuer. Nun frage ich, was nützt uns all das zur Erfüllung unsers
Postulats? Nichts!" Von den Funktionen des Auges und des Ohres könne
man sagen, daß sie bis auf einen gewissen Grad erklärlich und erklärt seien.
Jenes sei ein dioptrischer, dieses ein akustischer Apparat, von denen man ein¬
sehe, wie sie zur Fortpflanzung der Lichtstrahlen und der Schallwellen in das
Innere des Menschen dienten, und warum sie unentbehrlich seien, wenn auch
freilich die Hauptsache: das Empfinden von Licht und Schall, das mit Äther-
und Luftwellen keine Ähnlichkeit habe, unerklärt bleibe. Noch vollständiger
seien die rein mechanischen Leistungen der Lunge und des Herzens erklärt.
„Nun aber möchte ich gern wissen: Inwiefern trügt das Volumen, das ab¬
solute und das spezifische Gewicht, die Struktur und Textur, der Faltenreich¬
tum und der Fettgehalt eines menschlichen Gehirns zur Entstehung gerade der
Gedanken bei, die der glückliche oder unglückliche Inhaber dieses Gehirns hat?
Warum hat das Hirn des Hottentottenweibes keine Gvethegedankeu? Weil
es — nicht Goethes Gehirn ist. Soviel wissen wir, mehr nicht. ^Gerade in
diesem Falle wissen wir doch noch etwas mehr, nämlich, daß ein Goethegehirn
nur bei der weißen Nasse und auf einer gewissen Kulturstufe vorkommen kann.^
Unsre materialistische Erklärung der geistigen Funktionen wetteifert mit dem
berühmten: ovium lÄvit clormirs, «.via sse in co viiws clormitiva." Freilich
kann nicht ohne Gehirn gedacht werden, aber — haben die Gegner des Ma¬
terialismus schon vor fünfzig Jahren eingewandt — ohne Geige kann auch
der Virtuos nicht geigen, und hier wird eben (bei Liebmann fehlt dieses zur
Vollständigkeit der Gedankenkette gehörige Glied) zweierlei gesucht: der Geiger
und die Art und Weise, wie ihm sein Instrument dient; das zweite kennen
wir nicht bloß bei der Geige, sondern, wie oben bemerkt wurde, auch
beim Ohr.
Soviel wiffen wir, daß den Gedankenreihen Hirnschwingungen entsprechen
müssen; aber mit der Unerklärbarkeit dieses Parallelismus und der Un¬
vergleichbarkeit der beiden parallelen Reihen ist der Gehalt unsers Gegen-
Standes Mi Wunderbarem noch nicht erschöpft. Wir haben nach Liebmann
noch folgendes zu erwägen. „Der Denkapparat ist nach physikalischen, che¬
mischen, organischen Naturgesetzen mit Naturnotwendigkeit im Mutterleib ent¬
standen und nach der Geburt bis zur Mannesrcife herangewachsen. Seine
materiellen Zustände folgen aufeinander mit kausaler Notwendigkeit. Hierin
unterscheidet sich der Hirnmechanismus von keinem andern Nnturmechcmismus.
In der Reihe der materiellen Gehirnzustände folgt also jedes Glied aus den
vorhergehenden Gliedern notwendig nach den Gesetzen der materiellen Natur."
Dieser Reihe der Gehirnzustände muß nun die Gedankenreihe entsprechen;
diese scheint aber jedem — keiner kann es sich anders denken — nach den
Gesetzen der Jdeeuassoziation und der Logik angeordnet zu sein. Wenn die
logische Gedankenreihe -i, d, e>, <Z, <z den Inhalt hat: zweimal zwei gleich vier,
wie kommt es, daß die naturnotwendige Reihe der Hirnzustände allemal
jener entsprechend verläuft, niemals in der Reihenfolge g,, d, s, ä, v, d. h.
2x4 — 2? In der That kommt ja das mich vor, bei Irrsinnigen; aber
niemals bei denen, die wir gesund nennen. So wäre also das Hirn des
geistig gesunden Menschen ein imtoirmton matgrmlö lozioou, ein logischer
Automat. „Man bedenke wohl, was das besagen will! Ich wenigstens muß
eingestehn, daß nur die Möglichkeit, einen so wunderbar komplizierte!? Modus
der Atombewcgung als Wirkung uns bekannter Naturvorgänge zu begreifen,
alle menschliche Fassungskraft weit zu übersteigen scheint. Von selbst, d. h.
durch blind wirkende Naturkräfte, nach Physikalischen, chemischen, physiologischen
Naturgesetzen entsteht im Embryo, reift im Schädel des heranwachsenden
Menschen ein labyrinthisches Nervengeflecht; und in diesem läuft, durch blind¬
wirkende Natnrkrüfte hervorgebracht und unterhalten, ein Prozeß ub, der nicht
nur als schaffende Dichterphantasie eine neue eigne Welt von idealen Ge¬
stalten, eine zweite, schönere und höhere Welt ins Dasein zaubert, sondern
auch als Denkerverstand sich die wirkliche Welt zum Objekt macht und, nach
ewig wahren logischen Normen unterscheidend, vergleichend, schlüsseziehend,
dieser Welt ihr Geheimnis ablauscht, ihre Gesetze, deren Produkt eben auch er
selbst ist >ein schiefer Ausdruck; Gesetze produzieren nichts, wie Liebmann an
andern Stellen selbst hervorhebt; die thätigen Wesen sind es, die nach Gesetzen
produzieren^, nachdenkt. Den Hut ab! Beugen wir uns tief ehrfurchtsvoll
vor der gewaltigen, übermenschlichen Künstlerin Natur!" Nach psychologischen
Gesetzen, die, von dieser Seite gesehen, Naturgesetze sind, ist übrigens das un¬
logische Denken, wo es vorkommt, notwendig; der Wahnsinn ist um sich eine
Naturerscheinung wie jede andre, und der Wahnsinnige kann naturgesetzlich
nicht anders sein, als er ist. Logisch aber urteilen wir, er solle anders sein.
Und unsre Schullvgik wäre nicht vorhanden, wenn sie nicht von der Natur¬
logik, deren sich die Mehrzahl der Menschen unbewußt bedient, abgezogen
wäre. Die Logik ist also dem Denken, wenn man will, dem Denkapparat
immanent, und die logischen Normalgesetze sind selbst Naturgesetze unsrer In¬
telligenz, Naturgesetze höherer Art als die der Assoziation, die der materiellen
Natur näher zu liegen scheinen, da man sie sich in der Weise einigermaßen
erklären kann, dnß man sich die verwandten Vorstellungen in benachbarten
Hirnzellen untergebracht denkt. Waltete nun nicht beim gesunden Menschen
das Apriori, der logische Zwang, die Vorstellungen gerade so und nicht anders
zu verknüpfen, so gäbe es keinen Unterschied zwischen Wahrheit und Irrtum,
keine Wissenschaft, kein menschliches Geistesleben, sondern höchstens blindes,
tierisches Triebleben. Liebmann gelangt schließlich zu der Alternative: „Ent¬
weder die Hypothese das empirischen Materialismus wird — wozu ich mich
nicht entschließen kann — aufgegeben; oder die Materie, die Natur, ist etwas
andres, ist unendlich viel mehr, als der Physiker, der Chemiker, ja auch der
Physiolog sich bei diesem Worte zu denken pflegt." Mit andern Worten, wir
sind, wenn man durchaus das Wort „Gott" vermeiden will, wieder beim
Nus des Anaxagoras angelangt.
Die höchste Stufe, auf der sich die vor allem Materiellen zu denkende
Weltvernunft thätig erweist, ist die der ästhetischen und ethischen Werturteile.
Der Wert ist uach Liebmann keine Eigenschaft des beurteilten Objekts, sondern
eine Beziehung des Objekts zum urteilenden Subjekt. Darum ist kein Ding
an sich wertvoll oder wertlos. Auch kein Mensch, wenn wir den Menschen
zu den Dingen rechnen? Sowohl den an die Spitze gestellten Grundsatz wie
seine einzelnen Anwendungen in Liebmanns Ethik und Ästhetik lasse ich nur
mit Einschränkungen gelten. Das Verhältnis des Soll, das im Reiche der
Werte herrscht, zum Muß der Natur bestimmt Liebmann folgendermaßen.
„Der vergangne Weltlauf zwar, bis auf den gegenwärtigen Augenblick herab,
steht in der Weltgeschichte wie im Leben der einzelnen Person unwiderruflich
fest, und was einmal auf den Blättern der objektiven Geschichte eingetragen
ist, das läßt sich uicht mehr wegradieren; aber die Zukunft liegt vor uns wie
ein noch unbeschriebnes Blatt, und selbst wenn wir in der Theorie zu der
deterministischen Überzeugung gedrängt worden sind, daß der dereinstige Inhalt
dieses jetzt noch leeren Blattes nach den Gesetzen des Weltlaufs schon jetzt
vorausbestimmt ist, so wissen wir aus der Praxis doch ebenso genau, daß
unser Urteil über das, was zu geschehn wert ist, innerhalb des unsrer physischen
und moralischen Kraft gewährten Wirkungsbereichs die Verwirklichung des
Wertvollen verursachen kann." An den Kunstwerken des Altertums und des
Mittelalters, an den großen Bauten, an dem Einflüsse der Religion, der sitt¬
lichen Ideale, der Gesetzgebung auf den Gang der Weltgeschichte zeige es sich,
in welchem Grade die Werturteile Kulturmächte sind.
Die ethischen und die ästhetischen Werturteile sind ganz unabhängig von
der philosophischen Theorie, der man huldigt. „Schön bleibt schön, moralische
Vortrefflichkeit und moralische Verworfenheit, Recht, Unrecht, Pflicht bleiben,
was sie sind, gleichwohl ob ich in der Theorie mein Denken nur für ein
Phosphoreszieren meines Gehirns halte oder für etwas andres. Ein und
dieselbe Weltanschauung, wie etwa Atheismus oder Theismus, ein und der¬
selbe Grad von Wissen, Intelligenz und theoretischer Bildung kann in dem
eine» Individuum verbunden sein mit Edelmut, Tugend, Charakterstärke, im
andern mit gemeinen Lastern, mit Bosheit und Hartherzigkeit oder Schwäche
und Feigheit." Er erinnert an den erhabnen Charakter des edeln „Gottes¬
leugners" Spinoza und den jämmerlichen Charakter des großen Gelehrten und
Staatsmanns Lord Baco von Verulam, der „der orthodoxe» Theologie eine
tiefe, englische Reverenz machte." Ganz so verhalte es sich in der Ästhetik,
„Man vergleiche de» gottbegnndete» Hirte»k»abe» Josef Hayd», den genialen
Kammerdiener Chr. Rauch und so viele aus dein Dunkel der nieder» Volks¬
klasse emporgetauchte Sterne erster Größe am Himmel der Kunst mit so manchem
tiefen Gelehrten oder umfassenden Polyhistor, der Böotier ist und bleibt, blind
gegen die ergreifenden Gestatte» eines Raffael u»d taub gege» die hinreißende
Sprache der Tone." Alles richtig! N»r darf man nicht vergesse», daß falsche
Theorie» einen schädlichen Einfluß auf Kunsttalente — auf Genie» ersten
Ranges wohl nicht — ausüben können, und daß auf die Ethik Theorien und
Erkenntnisse in mehrerlei Weise einwirken. Völlige Unwissenheit läßt die sitt¬
lichen Triebe in ihrer Blindheit irre gehn oder das Gewissen gar nicht er¬
wachen. Wissen liefert sowohl der Güte als auch, wie Liebmann selbst hervor¬
hebt, der Bosheit Werkzeuge und Waffen. Genusse Weltansichten »ut Religionen
bieten, ohne die Qualität des Willens zu ändern, dem Willen kräftigere
Motive zum Handeln dar als andre, und je nach der theoretischen Weltansicht
wird sich el» ethischer Trieb wie die Liebe anders bethätigen; die Frage z. B.¬
Soll ich das »»heilbare Leide» eines Me»sche», de» ich liebe, durch ärztliche
Kunst verlängern oder dnrch schmerzlose Tötung beendigen, beantwortet nicht
mein moralischer, sondern einzig und allein mein dentender Mensch je »ach der
theoretischen Weltnusicht, der er huldigt.
Die Verschiedenheit der sittlichen und der ästhetischen Ideale bei den ver-
schiednen Völkern und i» verschiedven Zeiten beweist nach Liebenau nichts gege»
die Aprioritüt der ethische» »ut der ästhetischen Werturteile. Deren Wesent¬
liches bestehe darin, daß sie überhaupt gefüllt würden, daß das eine für schön
oder gut, das andre für häßlich oder böse gehalten werde; darauf, was man
im einzelnen Falle für schön oder gut halte, komme es nicht an; des Negers
Venus sei schwarz, und im Grnnde genommen habe jeder Mensch seine eigne
Ästhetik und Moral. Kant habe also Recht mit seinem kategorischen Imperativ,
u»d die Philosophen, die, wie Herbart, geglaubt Hütten, die leere Form dieses
Imperativs mit einem Inhalt füllen zu sollen, Hütte» damit »icht enim Schritt
vorwärts, sondern einen rückwärts gethan. Das Moralgesetz sei in der That
nnr eine leere Form »ud besage weiter nichts, als daß, wer seinem Gewissen
folgt, etwas gutes, wer dawider handelt, etwas böses thue, wobei es für die
moralische Güte der Handlung gleichgiltig sei, ob das, was der eine für Pflicht
hält, dem andern als Verbrechen erscheine. Das ist nun eine der Anwen¬
dungen des Lehrsatzes von der reinen Subjektivität und Relativität der Wert¬
urteile, die mir ebenso bedenklich erscheinen wie der Satz selbst. Da halte ich
es denn doch lieber mit dem Grundsatz der Jesuitennioral: Wer mit einem
irrigen Gewissen handelt, sündigt auf jeden Fall, materiell, wenn er nach
diesem Gewissen, formell, wenn er dagegen handelt. Freilich kann dieser
Grundsatz in der Praxis sehr gefährlich werden, wenn sich nämlich eine mächtige
Autorität anmaßt, den Inhalt des Moralgesetzes für viele Millionen unfehlbar
zu bestimmen; aber noch gefährlicher erscheint es doch, zu leugnen, daß es
einen solchen Inhalt giebt, der unbedingt verpflichtet, womit auch die Pflicht,
nach der Erkenntnis dieses Inhalts zu streben, hinwegfällt. Glücklicherweise
nimmt Liebmann den gefährlichen Satz indirekt zurück, und zwar sowohl auf
dem ethischen wie auf dem ästhetischen Gebiet, Die unvermeidliche Relativität
des ästhetischen Urteils, schreibt er, nähere sich doch einem Absoluten. „Un¬
leugbar und völlig unparteiisch betrachtet, nimmt in der Stufenleiter der uns
bekannten Geschöpfe die höchste Stufe der Vollendung der Mensch ein, und
innerhalb der Gattung wiederum der indogermanische Mensch. Darum wird
es nicht als ein Ausfluß egoistischer Borniertheit, sondern als objektiv best¬
motivierte Regel gelten dürfen, wenn man den ästhetischen Maßstab der höchst¬
entwickelten Intelligenz so handhabt, als wäre er absolut." Und ähnlich heißt
es in Beziehung auf die Ethik: „Das moralische Werturteil der sittlich höchst¬
stehenden Person, Nation, Religion u. s. f. ist so anzusehen, als wäre es ob¬
jektiv absolut, mithin für alle Menschen und Völker verpflichtend, und jede
Annäherung an dasselbe Fortschritt und Vervollkommnung. Es giebt eminente
Musterbilder der Sittlichkeit (wie auch der Schönheit), bei deren Erkenntnis
es der niedriger stehenden, roher empfindenden, aber entwicklungsfähigen Natur
wie Schuppen von den Augen fällt, ihr ein helleres Licht aufgeht, und sie
plötzlich das Bessere gewahrwerdend sich zu diesem bekehrt. Wie einen: nor¬
dischen Bildhauer zu Mute wird beim Anblick und Verständnis der Antike,
so müßte einem Weisen Griechenlands zu Mute geworden sein bei ernsthafter
Vertiefung in die Moral der allgemeinen Menschenliebe: liebe deinen Nächsten
wie dich selbst!" Wenn die Sittlichkeit etwas bloß Formales und der Inhalt
gleichgiltig wäre, dann hätte es keinen Sinu, von den sittlich höchst stehenden
Personen und Nationen zu sprechen, man müßte denn als solche die bezeichnen,
die ihrem kategorischen Imperativ am öftesten gehorchen. Aber von den Per¬
sonen kann das niemand wissen, und legt man diesen Maßstab an die Völker
an, so stehn die Mohammedaner unbedingt höher als sämtliche christliche
Nationen. Lothar Bucher hat bei der Vergleichung des Lebens in Konstanti¬
nopel und in London gefunden, der Hauptunterschied zwischen dem islamitischen
und dem christlichen Moralgesetz sei, daß jenes allgemein beobachtet, dieses all¬
gemein übertreten werde.
Richtig an Liebmanns Ansicht ist nur, daß das Formale, das in allen
nicht ganz stumpfsinnigen Menschen ertönende „du sollst" und „du sollst nicht"
die Apriorität des Sittlichen beweist und es uns unmöglich macht, darin eine
Erfindung der Pfaffen oder der Regierungen oder ein biologisches Entwicklungs¬
produkt zu sehen. Was nun aber den Inhalt betrifft, so rührt seine Ver¬
schiedenheit keineswegs bloß daher, daß die einen Menschen und Völker dem
Ideal näher, die ander» ihm ferner stehn, sondern daß dieses Ideal, mag es
auch an seinem jenseitigen Ursprungsorte nach christlicher Vorstellung eines sein
und nicht eine platonische Vielheit vou Ideen, in unserm irdischen Menschen
leben »ur in eine Vielheit gebrochen vorhanden ist. Ein absolut vollkommner
Mensch, der in allen Lebenslagen, als Herr und als Knecht, als General und
als Gemeiner, als Offizier und als Kaufmann, als Diplomat und als Pfarrer,
als Geheimpolizist oder Advokat und als Lehrer gleich vollkommen Märe, ist
undenkbar, ist schon physisch unmöglich, weil der Jdealmensch auch zugleich
Kind und Mann, Mann und Weib, verheiratet und ledig sein müßte. Darum
ist es kein Rückschritt gewesen, daß Herbart das sittliche Ideal in eine Mehrheit
von Ideen aufgelöst hat, die nicht alle zugleich und uicht alle vou einem
und demselben Menschen, wenigstens nicht in demselben Grade verwirklicht
werden können; daß sich Herbart mit der Ableitung der einen seiner sittlichen
Ideen (die Idee des Rechts soll daraus entspringen, daß der Streit mißfällt)
lächerlich gemacht hat, und daß seine Ethik den Gegenstand nicht erschöpft,
sondern nur die Forschung auf den richtigen Weg leitet, soll dabei nicht in
Abrede gestellt werden. Wie die Moral aus dein rein Subjektiven, Formaten
und Instinktiven heraus und zu einem objektiven Inhalt gekommen ist, erzählt
Liebmann mit den Worten: „Seher und Weise, Propheten, Gesetzgeber und
Religionsstifter alter und neuer Zeit haben ihrer Nation und der Menschheit
Wege gewiesen, auf denen sie hinschreiten soll, Vorschriften gegeben, nach denen
sie sich richten soll, Gebote und Verbote, die sie heilig halten soll. Sie haben
dies gethan, ihrem sittlichen Takt und Instinkt, ihrem moralischen Werturteil,
d. h. der Stimme ihres Gewissens gehorchend, die sie teilweise, von der un-
antastbaren Heiligkeit ihrer Borschriften überzeugt, einer dem Daimouiou des
Sokrates blutsverwandten höhern Eingebung und göttlichen Offenbarung zu¬
schreibe!? zu müssen glaubten; sich selbst als Sprachrohr und Sendboten des
unendlich unbekannten Weltwesens erkennend." Daß der kategorische Imperativ,
wie jedes Apriori, auf dieses Weltwesen als seine Wurzel deutlich hinweist,
kann natürlich auch Liebmann nicht unausgesprochen lassen, aber er macht die
Sache, seinem kritischen Grundsatz gemäß, sehr kurz ab. „Giebt es eine ab¬
solute Ethik? Man muß daran glauben; denn der Glaube ist es auch hier,
der selig macht; und jeder echt und tief moralisch denkende Mensch glaubt
thatsächlich daran. Dieser Glaube aber enthält in sich versteckt die Idee einer
transzendenten Teleologie, die weit über alle Erfahrung, über Natur und
Geschichte hinausreichend in das dunkle Reich metaphysischer Welträtsel hin¬
übergreife." So ganz transzendent ist diese Teleologie doch nicht; wir er¬
kennen deutlich genug, daß die Verwirklichung der sittlichen Ideen im ganzen
aufbauend und erhaltend, das Gegenteil zerstörend wirkt, wenn auch im einzelnen
Tugend und edle Gesinnung häusig schaden, gewissenloses Handeln (aber nie¬
mals ein Laster) nützt. Es ist damit so wie rin Frost, Hitze, Sturm, Wasser und
allen Naturmächten, die „wütend eine Kette der tiefsten Wirkung ringsumher"
bilden, viel einzelnes zerstörend, während sie im ganzen die organische Welt
aufbauen helfen. Liebmann definiert darum mit Recht gelegentlich die Moralität
als die seelische Gesundheit und sagt ebenso richtig, es verhalte sich mit dem
Ethischen wie mit dem Logischen und dem Psychologischen; das Unsittliche sei,
psychologisch betrachtet, el» notwendiges Naturprodukt, wie Irrsinn, Dummheit
und Krankheit, vor dein Richterstuhl deS Gewissens aber bleibe es ein Nicht¬
seinsollendes, und, fügen wir hinzu, die Wirkungen beweisen, daß das Gewissen
ein Werkzeug der höchsten Teleologie, das sittlich Böse eine Krankheit ist.
Woraus dann weiter folgt, daß die Utilitarier sowohl Recht als Unrecht haben.
Da der Gegenstand der Religion, der im Vorhergehenden gestreift wurde,
ganz und gar im Jenseits liegt, so versteht es sich für Liebmann von selbst,
daß er in seinem ausschließlich der streng wissenschaftlichen Untersuchung ge¬
widmeten Werke uicht näher darauf eingehn kann. Ihm ist Religion — Welt¬
gefühl, Hypostasierung der Idee einer moralischen Weltordnung, in allegorisches
Gewand gekleidete Vvlksmetaphysik. Sobald man ihren allegorischen Charakter
erkennt, verliert das Mysterium alles Anstößige. Als allegorische Metaphysik
„muß sie sogar Mysterien enthalten, um adäquat zu sein. Bietet ja doch diese
empirisch-reale Wirklichkeit der schweren Unbegreiflichkeiten und metaphysische»
Mysterien genug dar, die nur ein oberflächlicher Kopf mit dem Wasser seichtester
Aufklärung unbemerkt hinunterschlucken kann." Auch der Teufel gehöre not¬
wendig in die Religion hinein, da ja in der Wirklichkeit das Böse, das Zer¬
störende, das Verderbliche nicht fehle. Schopenhauers Lehre nennt Liebmann
das Gegenstück und die Karikatur des Fichte-Schelling-Hegelschen Pantheismus;
da er als Weltgrund einen dummen und bösen Willen annehme, so sei seine
Lehre Pansatanismus. Aber nähert sich Liebmann dieser furchtbaren Ansicht
nicht selbst bedenklich auf Seite 396? Nachdem er bewiesen hat, daß Kausalität
und Teleologie einander durchaus nicht im Wege stehn, fährt er fort: „Nein,
Freunde, wenn eine Antinomie vorliegt, so ist es nicht diese Scheinnntinomie!
Der gefährliche Gegner aller Teleologie, pantyeistischer so gut wie theistischer,
steckt nicht in der ungefährlichen Physik, sondern in der delikaten Ethik.
Schreibt Theodieeen, wenn ihr kommt, und wenn nicht das Wort schon eine
ungeheure Blasphemie enthält! Sei die Gottheit nun immanent oder trans¬
zendent, wird nicht ihr erhabnes Idealbild besudelt vom Blute unschuldig ge¬
opferter Hekatomben? Kampf, Krieg bis aufs Messer zwischen den höchst
zivilisierten Nationen, ewiger Vernichtungskrieg zwischen Mensch und Tier,
zwischen Raubtier lind pflanzenfressenden usw." Was sich gegen die pessi¬
mistische Deutung der Schattenseiten des Daseins sagen läßt, soll hier nicht
noch einmal wiederholt werden.
Wer nur einzelne besonders anziehende Abschnitte in dem ebenso tiefen
als geistreichen Buche lesen will, dein empfehlen wir noch Seite 629 bis 669.
Es wird da der Nachweis geführt, daß und wiefern alle Künste, auch die
Architektur und die Musik, etwas Wirkliches nachahmen; in dem Abschnitt über
Musik polemisiert Liebmann gegen Hcmslicks Musiktheorie. — Als ich einmal
in einem Briefe an einen philosophischen Freund „Leibnitz" geschrieben hatte,
schrieb der mir entsetzt zurück, damit hatte ich beinah ein so schlimmes Ver¬
brechen begangen, als wenn ich „Göthe" schriebe, Liebmann, der seinen Leibniz
inwendig kennt, trotzt dem das Auswendige betreffenden Gebot und schreibt
immer „Leibnitz," Und uoch eine andre orthographische Eigenheit hat er: er
el der großen Fruchtbarkeit unsrer literarhistorischen und ästhe¬
tischen Produktion ist es eine auffällige Erscheinung, daß die
Blütezeit unsrer politischen Poesie, das Jahrzehnt von 1840
bis 1850, litterarisch noch nicht genügend behandelt worden ist.
Auch vom nationalgcschichtlichen Standpunkt ans wäre eine
solche Behandlung angezeigt, um so mehr, als die politische Lhrik der vierziger
Jahre, wie schon Treitschke mehrfach andeutet, zu den geistigen Kräften gehört,
die in unsrer nationalstaatlichen Entwicklung eine wesentliche Rolle spielen, und
die wir gewiß mit Recht als eine der Grundlagen zur Vorbereitung des neuen
Deutschen Reichs bezeichne» dürfen.
Die sensationellsten Vertreter des Zeitgedichts von 1840 bis 1850: Hoff-
mann von Fallersleben, Dingelstedt, Herwegh, Prutz, Freiligrath, Heine, Grün,
Geibel und Moritz Hartmann sind allerdings in größern litterarhistorischen
Werken und Mouogrnphieu berücksichtigt worden, aber das Maß und die Art
dieser Berücksichtigung dürfte in den meisten Fällen einen genauern Kenner
und ernstern Kritiker wenig befriedigen. Außerdem sind neben diesen allen
geläufigen Namen in der politischen Poesie des wichtigen Jahrzehnts so
manche andern hervorragenden Dichter mit einzelnen Beiträgen hervorgetreten,
die von poetischem »ut politischem Interesse sind, und sogar Geistern geringerer
Ordnung sind zuweilen höchst charakteristische Zeitstimmen entklungen, die
zum vollen Verständnis der Zeit wie zur richtigen Erkenntnis ihres geistigen
Lebens beitragen. Daß Richard Wagner und Theodor Mommsen, Gottfried
Keller und Paul Hesse, Grillparzer und Wilhelm Jordan, Theodor Storm
und Friedrich Hebbel, Robert Blum und König Ludwig von Bayern an der
politischen Lyrik von 1840 bis 1850 beteiligt sind, ist bei weitem nicht so be¬
kannt, wie es sein sollte, und eine eingehendere, die bedeutsamem Zeitgedichte
den heutigen Modernen und Übermenschen vorführende Darstellung der meist
sehr unterschätzten Periode unsrer vaterländischen Dichtung wird hoffentlich
nicht ganz verloren sein. Wenn die politische Poesie dieser Zeit zum großen
Teil auch nur die negative Form einer Kritik der mangelhaften politischen
Zustände des damaligen Deutschen Bundes zeigt, so enthält sie doch auch recht
Positives, wo es sich um die Entfaltung des Banners der nationalen Einigung
und des liberalen Fortschritts im staatlichen und gesellschaftlichen Leben handelt.
Hierin hat die politische Poesie dieses Jahrzehnts das zeitgenössische und das
heranwachsende Geschlecht kräftig angeregt und angefeuert und hat auf diesen»
Wege mächtig dazu beigetragen, den geistig sittlichen Boden zu bereiten, auf
dem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts unter König Wilhelm durch die
aller Gegnerschaft überlegne Führung Bismarcks das neue Deutsche Reich
Wurzel fassen, sich erheben, vollenden und befestigen konnte. In diesem Sinne
liefert die Darstellung der politischen Lyrik von 1840 bis 1850 einen er¬
gänzenden Beitrag zur Geschichte der Grundlegung des Deutschen Reichs.
Die Ursachen, warum die politische Lyrik der vierziger Jahre des neun¬
zehnten Jahrhunderts die verdiente Aufmerksamkeit bisher nicht in vollen«
Maße gefunden hat, lassen sich leicht erkennen, Sie sind einerseits politischer,
andrerseits ästhetischer Natur, Im vormärzlichen Deutschland und bis weit
in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinein waren anch in den
gebildeten Schichten unsrer Nation wahre politische Einsicht und Gesinnung,
wie sie zur richtigen Schätzung der für staatliches Wesen maßgebenden Kräfte
nötig ist, noch wenig vorhanden. Die realpolitischen Grundbegriffe waren
außer den Fachmännern nur wenigen vertraut, und die thatsächlichen Zustände
des Staatswesens konnten das politische Gefühl wenig erheben. Sogar in
dem deutschen Hoffnnngsstaate Preußen waren ja so elementare Forderungen
des nationalen Kulturstaats wie Konstitution und Parlament bis in die vierziger
Jahre ohne Verwirklichung geblieben. Daß trotzdem in dem von höhern poli¬
tischen Anregungen aufgeschlossenem Bürgertum des bundestägigen Deutschlands
die Kraft zu vollem Staatsbewußtsein und wahrhaft vaterländischer Gesinnung
schlummerte, hatten nur schärfere und freiere Geister klar erkannt.
Andrerseits war die ästhetische Kritik noch weniger als heute geneigt, die
Berechtigung einer politischen Poesie anzuerkennen. Trotz aller Gelehrsamkeit
unsrer deutschen Philologen, trotz der klassischen Vorbilder von Pindar und
Tyrtäus, trotz der großen nationalpolitischen Dichtergenien des Mittelalters
war der vielberufne so oft falsch zitierte - - Vers aus Goethes Faust:
„Ein garstig Lied! pfui! ein politisch Lied!" das weitverbreitete Glaubens¬
bekenntnis schulgerechter Schönseligkeit unsrer ästhetisch Gebildeten. Die Blüte¬
zeit unsrer klassischen wie unsrer romantischen Poesie fiel ja bekanntlich in eine
Periode der staatlichen Zerrissenheit und Ohnmacht des deutschen Vaterlands,
und es war nicht zu verwundern, daß die Zeitgeschichte und der nationale Ge-
danke nur in seltnen Ausnahmen Anregung, Motiv und Stoff zu den
Schöpfungen unsrer Dichter boten. War Deutschland, wie es im Deutschen
Bunde vou 1815 zusammengefaßt war, nicht viel mehr als ein geographischer
Begriff, kein wirklicher Staatsverband, so war schon dadurch dem deutschen
Doktrinarismus kein Anlaß gegeben, seine ideologischen Gebilde in den wissen¬
schaftlichen und künstlerischen Bereichen durch Beziehungen ans bisher unan-
gebaute und unde.achtete Gebiete des sich erst allmählich entfaltenden politischen
Lebens zu vervollständigen und zu berichtigen. Bis in die dreißiger Jahre
des neunzehnten Jahrhunderts konnte die ästhetische Theorie anscheinend mit
genügenden Gründen die Berechtigung einer politischen Lyrik bestreiten oder
ganz ignorieren. Eine poetische Behandlung staatlicher und zeitgeschichtlicher
Angelegenheiten erschien den meisten Fachgelehrten ästhetisch unzulässig: mit
dergleichen Dingen sollten sich nur die Parlamentarier und die Publizisten,
vor allen die des Auslands zu schaffen machen. Sollte die politische Poesie,
wie ein für sie begeisterter Anwalt (in der „Deutschen Monatsschrift" von 1842)
behauptete, wohl gar „der Atemzug der Männer, der Jude^- oder Weheruf
einer aufgeregten Zeit, das Spiegelbild innerer und äußerlicher nationaler
Zustände, ja auch eine Geschichte vou Völkern und Individuen" sein, so war
sie für die Ästhetiker erst recht keine kunstgerechte Poesie.
Wie sich von selbst versteht, muß den Kunstgelehrten von vornherein zu¬
gegeben werden, daß politisches vratorisches Phrasengeklingel und gereimte
Leitartikel nicht als Blüten lyrischer Poesie gelten können. Nicht minder ist
einzuräumen, daß in der Sturm- und Drangdichtung politisch bewegter Zeiten,
wie namentlich des vielberufnen „tollen Jahres" 1848 und seiner nächsten
Vorgänger, viele taube Nüsse zum Vorschein kommen, aus deuen das littera¬
rische Leben so wenig wie das nationale eine Befruchtung gewinnen konnte.
In der Hochflut verifizierter Gefühlsergüsse, die solche Zeitabschnitte entfesseln,
steht sogar der poetische Wert mancher Erzeugnisse noch unter dem politischen,
so gering wir oft auch diesem schätzen müssen.
Ist die Lyrik die Gnttnng der Dichtkunst, worin innerliches Empfinden
in geistiger Sammlung und Erhebung durch sprachlich und metrisch künstlerische
Fassung und Darstellung seinen idealen Ausdruck findet, so wird in, lyrische»
Gedichte nicht allein allgemein und individuell menschliches Empfinden von
Lenz und Liebe, Glück und Leid, Genuß und Begierde, Sehnsucht und Wehmut
seine kunstmäßige Ausprägung suchen und finden: auch dem Gefühl für Vater¬
land und Freiheit, für Recht und Staat, für Macht und Ehre der Nation
wird im lyrischen Gedichte dasselbe Recht zustehn. Und das weite Gebiet der
betrachtenden, schildernden, belehrenden Lyrik, sowie das der lyrisch-epischen
Mischgattungen, wo sich die poetischen Stoffe in Heimat und Fremde dem
Seher und Sänger zahllos entgegen drängen — welcher ästhetische Kritiker
würde es heute noch wagen, dieses große Reich poetischer Objekte von der
dichterischen Behandlung auszuschließen oder für sie einzuschränken und die
volle Berechtigung der daran reich beteiligten politischen Lyrik in Zweifel zu
ziehn? Bei dem eigentümliche», vielstich gehemmten und verzögerten Gang
unsrer nationalen Entwicklung hat es allerdings sehr lange gedauert, bis diese
natürliche Konsequenz unsrer geistigen Erhebung, Kräftigung und Einigung in
der Nationallitteratur auch nach dieser Richtung hin gezogen wurde. Hatte
auch schon Walther von der Vogelweide in der Blütezeit des alte» Reichs
von deutscher Größe und Ehre gesungen und das schneidige politische Gedicht
in unser Schrifttum eingeführt, so war doch seitdem unser Volk und Reich
jahrhundertelang zersplitternder und zerrüttender Ohnmacht verfallen, die den
nationalen Geist auch in der Litteratur nicht mehr zu würdigen: Ausdruck ge¬
langen ließ. Erst im achtzehnten Jahrhundert, als deutsches Staatswesen «uf
neuzeitlicher Grundlage wiederum erstarkte, und der große Preußentönig, den
alten Staufern ebenbürtig, den deutschen Namen aufs neue zu hohem Ausehen
erhob, wurde auch in der Litteratur der nationale Gedanke wieder kraftvoll
lebendig, und Klopstock führte in die deutsche Dichtung die Ideen des National¬
bewußtseins, der Vaterlands- und Freiheitsliebe zurück, die fortan unverlier¬
bare Leitsterne für unser nationallitterarisches wie für unser nationalpolitisches
Leben bleiben sollten.
In den letzten Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts haben mit
Klopstock, Ewald von Kleist, Ramler, Gleim, Uz, Schubart, in den ersten des
neunzehnten Arndt, Körner, Rückert, Schenkendorf und die übrigen Dichter
der Freiheitskriege, ferner Romantiker wie Heinrich von Kleist, sodann die
Dichter der deutscheu Burschenschaft: die Brüder Follen, Binzer und Ma߬
mann, weiterhin Ludwig Uhland, Graf Platen, Gustav Pfizer und andre süd¬
deutsche Poeten, von norddeutschen Julius Mosen, August Kopisch die nationale
politische Lhrik mit kostbaren Gaben bereichert. Im Hinblick auf solche Leistungen
darf man behaupten, daß die politische Lyrik auch gegenüber unsern edelsten,
in ihrer humanistisch-universalen Höhe das deutsch-nationale Zeitgedicht weit
überragenden Klassikern Schiller und Goethe noch einen Fortschritt, eine Er¬
weiterung und Bereicherung des poetischen Kunstgebieth erzielt hat. Daß wir
bei Goethe noch viel mehr als bei Schiller die volle Würdigung und Wahrung
des deutschnationalen Wesens im politischen Sinne vermissen, ist nicht die
Schuld unsrer größten Dichter. Es lag vielmehr daran, daß in dem damaligen
Deutschland die nationale Einheit zumeist nur ans unserm Geistesleben in
Sprache und Litteratur beruhte, das staatliche Band des Reichs aber that¬
sächlich zerrissen und die Nation noch nicht zum politischen Bewußtsein heran¬
gereift war. In Weimar war um das Jahr 1800 el» national-staatliches
Ideal um so schwerer zu erfasse», als damals sogar auf Berlin nach dem
Aufschwung der Friederieianischen Zeit ein großer Druck lastete und nur noch
die stärksten Prenßenherzen das Ideal einer bessern deutschen Zukunft hoch
hielten. Im engen Rahmen des klcinstaatlichen Partikularismus war auch die
damalige allgemeine Kulturstufe des deutschen öffentlichen Lebens nicht geeignet,
nationalen Hochsinn und Weitblick zu fördern. Nur als unwahrscheinliche,
jedenfalls ferne Zukunftsmusik konnte der Dichterheros eine Zeit ahnen, in
der es allgemein als eine Lust empfunden würde, „Deutscher mit Deutschen
zu sein."
Mit den riesigen Fortschritten des neunzehnten Jahrhunderts wurde auch
in Deutschland das Kulturleben bis in die engsten Kreise hinab mächtig ge¬
hoben und zugleich die natioualstaatliche Einigung aufs kräftigste gefördert.
Mit der in früher ungeahntem Maße erweiterten und vertieften Kenntnis und
Beherrschung der Naturkräfte, mit der um das Wunderbare hinanreichenden
technischen und industrielle» Entwicklung, mit dem schrankenlos ausgedehnten
und beschleunigten Verkehr, mit den vor keiner Aufgabe zurückschreckenden
sozialen Bildungen und Ausgestaltungen, die die menschliche Wohlfahrt nach
allen Verzweigungen ihrer mannigfaltigen Bedürfnisse erfassen, erschlossen sich
nicht allein dem praktischen Leben, sondern auch der Litteratur neue nationale
und Weltgebiete, die den erhabensten Genien früherer Geschlechter noch völlig
fremd gewesen waren. Wissenschaftliche Erkenntnis und technische Vervoll¬
kommnung förderten mit allen Kräften den humanen und den nationalen Fort¬
schritt, und die Poesie blieb nicht hinter der Aufgabe zurück, zu der großartigen
Entwicklung die Worte der Weihe zu sprechen, die höchsten Ziele der Kultur
zu verkünden und zu verkläre».
Die poetische Darstellung eines derartig erhöhten humanen und zugleich
nationalen Geisteslebens war keinem Schiller und Goethe möglich gewesein
sie konnte erst dnrch die spätern modernen Dichter verwirklicht werden. Ein
deutsches Nationallied wie „Deutschland, Deutschland über alles" konnte kein
Weimaraner vou 1800, sondern erst nach 1840 ein Hoffmann von Fallers-
leben dichte»; einen Mahnruf für die deutsche Flotte: „Erwach, mein Volk, mit
neuen Sinnen" erst Herwegh, eine Weissagung der deutschen Zukunft wie
„Am Baum der Menschheit drängt sich Blut an Blüte" erst Freiligrath, ein
Preislied auf Deutschland, das „Herzblatt der Weltenblüte," die „Völkerwehre,"
den „Stern der Ehre," das „Land des Rechtes, Land des Lichtes" erst Graf
Strachwitz dichten.
Daß die Entwicklung der politischen Poesie mit dem Fortschritt der all¬
gemeinen Kultur und des modernen Staatswesens zusammenhängt, zeigt sich
auch darin, daß dieselbe Erscheinung, mit den entsprechenden staatlichen und
nationalen Verschiedenheiten, bei den andern großen Kulturvölker» ebenfalls
beobachtet werden kann. Auf die politische Lyrik Deutschlands ist die Frank¬
reichs und Englands mehrfach von Einfluß gewesen, wie sich bei der nähern
Betrachtung einiger unsrer hervorragendsten Dichter der Zeit von 1840 bis
1850 klar herausstellt; wir meinen aber nicht, daß dadurch der Wert dieser
deutschen Dichtungen beeinträchtigt würde.
Wenn die Verächter und Verkleinerer unsrer damaligen politischen Lyrik
diese mit den? „Jungen Deutschland" der dreißiger Jahre in einen Topf werfen
und die gesamte angeblich revolutionäre Dichtung beider Jahrzehnte als eine
Abirrung vom wahren Kunstideal brandmarken, aus der sich erst in vollem
Gegensatz die deutsche Poesie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahr-
Hunderts von einem herabgekommneii erfolglosen Epigonentum zu »euer Fort¬
bildung der echten Kunst habe wieder erheben müssen, so können wir diesem
Verdikte durchaus nicht beistimmen. Das „Junge Deutschland" der dreißiger
Jahre und die politische Lyrik der vierziger sind trotz ähnlicher Ziele doch
ihrem Kern und Wesen nach keine Gemeinschaft, sondern vielmehr ein Gegen¬
satz. Das scheinbare Bindeglied Heine spielt zwar im „Jungen Deutschland"
eine Hauptrolle, aber an der politischen Lyrik der vierziger Jahre tritt sein
Anteil in prinzipieller Hinsicht hinter den maßgebenden Vertretern dieser Lyrik
zurück. Das „Junge Deutschland," dein Heines Prosaschriften vor allem an¬
gehören, findet überhaupt nicht in der poetische» Form, wie die politische Lyrik,
sondern in der feuilletonistischen publizistisch-kritische» Prosa seinen prinzipiellen
und thatsächlichen charakteristischen Ausdruck. Auch hat das „Junge Deutsch¬
land" überwiegend französische oder kosmopolitische Neigungen, während die
besten unsrer politischen Lyriker kerndeutsch sind. „Jung Deutschland" schrieb
für die exklusiven Kreise der Gesellschaft, unsre Freiheitslyriker sangen für das
Volk und für die Jugend. Gutzkow, Laube, Mundt mit Hoffmann, Herwegh,
Freiligrath in die gleiche Kategorie stellen, giebt ein schiefes Bild.
Ebenso unrichtig ist es, der politischen Lyrik der vierziger Jahre den ihr
zukommenden Anteil um der litterarischen Fortbildung des deutscheu Geistes¬
lebens abzusprechen. Daß das Jahrzehnt mit einem schweren Schiffbruch ab¬
schloß, daß das als Völkerfrühling begrüßte Jahr 1848 selbst keine großen
.Kunstwerke schaffen konnte, daß es vielmehr die kühnen Entwürfe und Hoff¬
nungen der vornngegangnen Bewegung kläglich scheitern sah, kann von Den-
kenden und Einsichtigen doch nicht den litterarischen wie überhaupt deu geistigen
Vertretern der vollberechtigter und naturnotwendigen Bewegung zur Last gelegt
werde», die nur die Aufgabe haben konnte, ans unsre politische Zukunft vor¬
zubereiten. Das Frankfurter Parlament von 1848, der Gipfelpunkt der natio¬
nalen und liberalen Bewegung dieser Zeit, hat auch nicht das Werk der
deutschen Einigkeit zustande gebracht, wird aber immer ein Denkmal deutscher
Ehre und geistiger Größe bleiben. Wieviel zur Lösung einer Riesenaufgabe
gehörte, wie die war, das Deutsche Reich neu und fest zu gründen, wissen wir
heute alle. Auch litterarische Beweguuge» verlaufen oft zunächst in Mi߬
erfolgen, ohne deshalb für die Dauer verlöre,, oder für die Weiterentwicklung
des Kunstschöne» unfruchtbar zu sein. Auch unsrer klassischen Glanzzeit um
die vorletzte Jahrhundertwende folgte zunächst ein Niedergang — wer aber
wird darum an ihrer vollen Nachwirkung für unsre Dichtkunst durch und
hinweg über Romantik, „Junges Deutschland," „Epigonen," „politische Rhe-
toren," „Realisten" und „Moderne" zweifeln? Gerade unsre beste» Lyriker
im neunzehnten Jahrhundert zeigen, daß das lyrische Gedicht, das dem kuust-
schönen Ausdruck des innersten Gefühls im individuellen Leben dient, ganz
dieselbe Aufgabe erfüllt auch gegenüber dem Staatssinn und der Vaterlandsliebe,
dem Streben und dem Kampfe für Recht und Freiheit. Welcher vaterländische
Dichter hat uns nach den Klassikern und Romantikern mit reinern und edlem
Perlen echter Lyrik beschenkt als Uhland — und wie tief und innig ergreifen
uns seine politischen Gedichte in der Mahnung zum 18, Oktober, im Kampf
„ums alte gute Recht," in der Rundfahrt durchs deutsche Vaterland! Und
wie sehr hat man Geibels erfindungsreiche Lyrik betont, ja sogar als ästhe¬
tischen Überschwang bekrittelt — desselben Geibels, der in seinen Gedichten
für Schleswig-Holstein, in seinen Ramler auf den Niedergang der Volks¬
erhebung von 1848, in seinen Weissagungen auf das neue Kaiserreich und
in seinem gewaltigen Triumphlied ans die Schlacht von Sedan wahre Kern-
und Prachtstücke deutscher politischer Lyrik geschaffen hat! --- Das gute Recht
und die weltgeschichtliche Bedeutung des politischen Liedes hat ein berufner
Dichter, der für den Mißbrauch der Tendcnzlyrik die schärfste Rüge nicht
zurückhält, Anastasius Grün in folgenden markigen Strophen zusammen¬
gefaßt:
Die von dem Dichter mit so überwältigenden Zeugnissen belegte und be¬
hauptete Berechtigung der politischen Poesie wurde denn auch von der Ge¬
lehrtenwelt nicht auf die Dauer verkannt. Eindrucksvoll war in dieser Rich¬
tung ein Wort Jakob Grimms in seiner Schrift über seine Entlassung aus
der Professur in Göttingen (1838). Der berühmte Germanist sagt: „Die Ge¬
schichte zeigt uns edle und freie Mnuuer, welche es wagten, vor dem Angesicht
der Könige die volle Wahrheit zu sagen: das Befugtsein gehört denen, die
den Mut dazu haben. Oft hat ihr Bekenntnis gefruchtet, zuweilen hat es sie
verderbt, nicht ihren Namen, Auch die Poesie, der Geschichte Widerschein,
unterläßt es nicht, Handlungen der Fürsten nach der Gerechtigkeit zu wägen.
Solche Beispiele lösen dem Unterthanen seine Zunge da, wo die Not drängt,
und trösten über jeden Ausgang."
Vindiziert Grimm der politischen Poesie ihr allgemeines Recht gegenüber
der autokratischen Staatsgewalt, so geht der Staatsgelehrte Welcker in Heidel¬
berg, der Herausgeber des „Staatslexikons," bei einem der hervorragendsten
politischen Dichter direkt uns das mißliebige Thema ein. Welcker sagt über
gewisse damals erschienene politische Gedichte eines von der preußischen Re¬
gierung dafür abgesetzten Professors: „Mau muß wohl noch in deutscher ge¬
lehrter oder ungelehrter Haudwerkseiuseitigkeit befangen sein, wenn man diesen
Liedern poetischen und politischen Wert absprechen will: den poetischen vielleicht,
weil sie mit dem ernsten, für manchen sogar unbequemen Gegenstand vater¬
ländischer Freiheit zusammengewachsen sind, und weil die politische Poesie bei
denen weder für Hof- noch für zunftmäßig gilt, die es übersehen, daß fast alle
bewunderte Poesie der Griechen politische, patriotische Poesie war; bei denen,
die selbst nie eine begeisterte, also auch nie eine poetische Liebe für das Vater¬
land kannten; den politischen Wert vielleicht, weil man vergißt, daß für alle
wirksamen vaterländischen Bestrebungen das Volk jene mütterliche Erde ist,
welche allem denselben Lebenswärme, Kraft und Gedeihen geben kann, und
daß es vor allem not thut, in dem Volte die natürliche Wärme und Eigen¬
tümlichkeit der Gesinnung, die Begeisterung und aufopfernde Liebe für das
Vaterländische, für das Politische, für die Ehre und die Würde der Freiheit,
den Haß und den Abscheu gegen entwürdigende Willkür und Knechtschaft zu
beleben, kurz den Boden zu bereiten, in welchem alsdann die verständige
politische Lehre und That wurzeln und reifen können, auf welchem jene
politische Freiheitsinacht sich entwickeln kann, welcher allein die Unterdrückuugs-
macht weicht."
Die Richtigkeit dieser Auffassung wird durch die Geschichte unsrer natio¬
nalen Entwicklung im weitern Verlaufe des neunzehnten Jahrhunderts be¬
stätigt. Wieviel die umfassende und tiefgreifende Einwirkung der politischen
Poesie auf die seit den vierziger Jahren herangereiften Geschlechter dazu bei¬
getragen hat, den geistigen Boden für die Wiederaufrichtung des Deutschen
Reichs zu bereiten, läßt sich natürlich nicht in statistischer Nachweisung dar¬
legen; daß aber diese Einwirkung von mächtiger Bedeutung war, ist durch
tausende deutscher Männer thatsächlich bezeugt, von sachkundiger und berufner
Seite nachdrücklich anerkannt worden und bedarf keiner weitern Ausführung.
!eilen ist einem Manne die Glücksgöttin so hold gewesen, noch
seltner vielleicht so tren in ihrer Bestäiidigkeit wie dein Historiker
Thomas Babiugton Macaulay. Wer die beiden Bände seiner
IBriefe und Tagebücher ^I.jf<z and Ix'ttvrs of I^ort Navanl»^,
bis iwpbö^v lzlöoi'Fiz Otto 'IVsvöl^-rü, London, 1876) durch-
gelesen hat, wird die Empfindung haben, daß er das Leben eines Menschen
an seinem geistigen Auge hat vorüberziehn sehen, der an der Stelle stand,
wo er hingehörte, und bei dem äußere und innere Bedingungen zusammen¬
trafen, seine Kräfte zu starker und harmonischer Wirkung zu bringen, Maccmlah
war sich auch immer bewußt, daß er zu den Bevorzugten dieser Erde gehörte.
Von den vielen privaten Äußerungen, die das beweisen, will ich uur zwei
herausgreife». An seinem funfzigsten Geburtstag, dem 25. Oktober 1850,
schreibt er in sein Tagebuch: „Ich habe ein glückliches Leben geführt. Ich
weiß nicht, ob einer, den ich in der Nähe betrachtet habe, glücklicher gewesen
ist." Und sieben Jahre später, als ihn schon die Herzkrankheit ergriffen hatte,
die ihn am 28. Dezember 1859 dahinraffte, finden wir in seinem Tagebuch
die Worte: „Mein Geburtstag. 57. Ich habe ein nicht unangenehmes Jahr
verlebt. Meine Gesundheit ist nicht gut, doch mein Kopf ist klar, und mein
Herz ist warm. Ich erhalte viele Beweise von der guten Meinung der Welt. . . .
Und was für mein Glück weit wichtiger ist als Reichtum, Titel, sogar als der
Ruhm — die Meinigen ser versteht darunter die Familie seiner Schwester;
er selbst war nicht verheiratet^ sind gesund und glücklich und zu mir gütig
und liebevoll."
Schon die Schule, die Zacharias Macaulay, der Vater des Historikers,
ein Freund von Wilberforce und mit diesem ein Führer im Kampf gegen den
Sklavenhandel, für seinen Sohn aufsuchte, erwies sich als die geeignete Stätte
für Thomas. Es war eine Privatschule, die ein Pfarrer in der Nähe von
Cambridge leitete. Wäre Thomas in Harrow oder Eton oder einer der andern
großen publio svbools gewesen, so hätte er sich, lebhaft wie er von Natur
war, dem Zuge, der auf diesen Schulen herrscht, nicht entzogen, und er hätte
auch wie seine Kameraden den Ehrgeiz gehabt, sich auf dem Spielplatz aus¬
zuzeichnen. Aber dort in Little Shelford konnte er sein sehnlicher fast
gänzlich unter Büchern verbringen. Hier finden wir bei ihm schon die Leiden¬
schaft für das Lesen, die ihn sein ganzes Leben beherrschte. Denn welche
Periode im Leben Macaulays wir auch betrachten mögen, seien es die Stu¬
dentenjahre im 1'rinn^ Lollsssö von Cambridge oder die Zeit, wo er ins
Parlament eintrat, oder gar die Jahre 1834 bis 1838, wo er in Indien lebte,
sei es mich die Zeit, wo er das Amt eines Ministers bekleidete, oder die, wo
er sich zurückzog vom öffentlichen Leben, immer entnehmen wir aus seinen
Tagebüchern und Briefen, daß für ihn das Wesentliche seines Lebens die Lektüre
war und die Gedanken, zu denen sie ihn anregte. Als Vierzigjähriger schreibt
er an eine kleine Lieblingsnichte, wie sehr er sich freue, daß sie Bücher gern
habe, und wenn sie erst so alt sei wie er, dann werde sie auch finden, daß
Bücher besser seien als alle Torten und Kuchen und Spielsachen. „Wenn
mich jemand, so führt er fort, zum größten König, der jemals gelebt hat,
machen wollte, mit Schlössern und Gärten und feinen Tafelfreuden und Wein
und Kutschen und schönen Gewändern und Hunderten von Dienern, aber nur
dann, wenn ich nicht Bücher läse, so möchte ich kein König sein. Ich würde
lieber als armer Mann in einer Dachstube leben mit einer Menge Bücher als
ein König sein, der nicht gern läse."
Die Natur hatte ihm aber mich eine unschätzbare Gabe verliehn, die dieser
Belesenheit erst ihren vollen Wert gab, und das war ein geradezu staunens¬
wertes Gedächtnis. Man erzählt von ihm, er habe gesagt, wenn alle Exem¬
plare von ?n,riuli8o I^ost und ?ÜArim'8 ?roAre88 vom Erdboden verschwänden,
so würde er es unternehmen, diese Dichtungen aus dem Gedächtnis wieder¬
herzustellen. Sogar als er schon ein Mann von 57 Jahren war, hat diese
Kraft bei ihm nicht wesentlich gelitten; im Oktober 1857 schreibt er: „Ich
ging in der Halle auf und ab und lernte den schönen vierten Akt aus dem
Kaufmann von Venedig auswendig. Es stehn 400 Verse darin, von denen
ich 150 konnte. Ich bemeisterte das Ganze mit Einschluß der Prosabriefe in
zwei Stunden."
Wir haben hiermit eine der Eigenschaften berührt, die Maccmlays Stärke
ausmachen! sein weit umfassendes und immer bereites Wissen. Es befähigte
ihn, nicht nur über die Fragen zu sprechen, die seinem Wirkungs- und Studien¬
kreise zunächst lagen, etwa die Probleme der englischen Politik in Indien; er
konnte anch mit derselben Sicherheit über Petrarca und Dante, über Thuky-
dides und Livius, über Moliere und Pascal seine Ansichten äußern. Dieser
reiche Schatz des Wissens bleibt bei ihm nicht als totes Gut vergraben; es
ist rollenden Golde vergleichbar. Mit welcher Leichtigkeit er es ausgeben
kann, zeigt sich auf jeder Seite seiner Lssi^s und seiner Hiswr^, im besondern
da, wo er eine bestimmte Erscheinung in Parallele bringt mit andern, die ihr
ähnlich sind. Will man dies an Beispielen erweisen, so muß man sich gewalt¬
sam Beschränkung auferlegen, so schwer wird es, alle die treffenden Analogien
beiseite zu schieben und nur einige herauszuheben.
I» dem Essay über Haltaus (An8tiwtiona,11Il8wry (1828) will Macaulay
klar machen, daß die Bestechungen, die Staatsmänner unter Karl II. vom
Auslande annahmen, nicht als etwas so Schlimmes, so moralisch Verwerfliches
anzusehen sind, wie es uns heute erscheint. Es war eine Zeit, wo die Partei¬
leidenschaften gewaltig entfacht waren, und gegenüber dem politischen Gegner
im Innern mußte oft der Landesfeind als Freund erscheinen. In Griechen¬
land hing jeder nu seiner Partei, nicht an dem Boden, dem er entsprossen
war; die Aristokraten von Samos und Corcyra rufen die Lacedämonier ins
Land, während die Demokraten in Athen zusehen. In dem Italien des drei¬
zehnten und deS vierzehnten Jahrhunderts ist man Ghibelline oder Welfe,
bevor man Pisaner oder Florentiner ist. Die Protestanten Schottlands und
Frankreichs wenden sich an die Königin Elisabeth; die katholische Liga brachte
Spanier nach Frankreich. Die Republikaner aller Länder freute» sich der
Siege der Franzosen über ihre eignen Landesgenossen, und die Fürsten und
Adlichen Frankreichs brachten fremde Eroberer nach Paris.
Welchen hohen Standpunkt ihm sein Wissen bei der Besprechung des
einzelnen Falles einzunehmen erlaubt, das zeigte sich auch in glänzender Weise
in seiner berühmten ersten Rede über die Parlamentsreform vom 2. März 1831.
Macaulay war in der vordersten Reihe derer, die die Refvrmschlacht aus¬
kämpften, und die es durchsetzten, daß man das Wahlrecht weiten Kreisen des
Volkes, die es bisher nicht hatten, verlieh, lind daß man es den sogenannten
todt-vn ooronßlrs entzog. Eindrucksvoll ist es, wenn er in der erwähnten
Rede hinweist ans die Umwälzungen, die ihre Ursache in Erscheinungen finden,
ähnlich denen, die damals in England herrschten: „Ein Teil des Gemein¬
wesens, der früher nicht in Betracht gekommen war, entwickelt sich und
erstarkt. Er verlangt eine Stelle in dem Staatsbäu, die angemessen ist, nicht
der frühern Unbedeutendheit, sondern der gegenwärtigen Stärke. Wenn das
gewährt wird, so ist alles in Ordnung. Wem? das aber verweigert wird,
dann kommt der Kampf zum Ausbruch zwischen der jungen Thatkraft der einen
Klasse und den alten Vorrechten einer andern. So war der Kampf zwischen
den Plebejern und Patriziern von Rom. So war der Kampf der italischen
Bundesgenossen um die Zulassung zu deu vollen Rechten römischer Bürger.
So war der Kampf unsrer nordamerikanischen Kolonien gegen das Mutter¬
land. So war der Kampf, den die Katholiken Irlands gegen die Glaubens¬
aristokraten führten. So ist der Kampf, den die freien Schwarzen Jamaikas
jetzt gegen die Aristokratie der Hautfarbe führen. So, schließlich, ist der Kampf,
den die Mittelklassen Englands ausfechten gegen eine Aristokratie der bloßen
Wohnstelle, gegen eine Aristokratie, deren leitender Grundgedanke darauf beruht,
daß sie hundert betruntne stimmberechtigte ^otvgllovsrs, das ist wörtlich
einer, der einen Topf kocht; dann (vor 1832) ein Wähler, der sich dnrch
Aufenthalt in einem Wahlflecken das Stimmrecht erwarb dadurch, daß er auf
eignen Herde für sich selbst tochtej an einem Orte oder den Besitzer eines
verfallnen Schuppens an einem andern mit Machtvollkommenheiten ausstattet,
die den Städten vorenthalten werden, die bis zu den entferntesten Teilen der
Welt berühmt sind wegen der Wunder ihres Reichtums und ihres Gewerb-
fleißes." (specielles, London, 1854. S. 8 u. 9.)
Und ebenso glücklich und treffend sind seine zahlreichen Citate aus den
Dichtungen aller Völker und Zeiten. Vieles hat er aus den orientalischen
Märchen genommen. So vergleicht er die Macht Shakespeares, uns in drei
Stunde» das Aufsteigen und Sinken eines Lebensschicksals mitempfinden zu
lassen, mit der magischen Kraft des Derwisches, der die Ereignisse von sieben
Jahren in den einzigen Augenblick legte, wo der König seinen Kopf nnter
das Wasser tauchte. (Essay über Dryden. ^it>g.vzs LMion 7, 135.) Um
deutlich zu machen, wie es kam, daß Byron, der eben noch der Abgott der
Londoner Gesellschaft war, von verleumderischer Schmähsucht gezwungen wurde,
seinem Vaterlande den Rücken zu kehren, vergleicht er die Neigung der Menge
mit der Liebe der orientalischen Zauberin, die, wenn die vierzig Tage ihrer
Zärtlichkeit vorüber sind, die Liebhaber nicht nur entläßt, sondern auch durch
Verwandlung in häßliche Gestalten dafür bestraft, daß sie ihr einst zu sehr
gefielen. Wollte man eine Liste aufstellen der Dichter, auf die Macciulay an
irgend einer Stelle seiner Werke hingewiesen hat, so würde kaum einer der
Großen fehlen, und gar viele der cui rnmorum Pentium würden ihren Platz
auf ihr finden. Homer und Aristophanes, Dante und Ariost, Spenser und
Shakespeare, Fieldiug und Sterne, Moliere und Pascal, Goethe, Schiller und
Bürger, sie alle tragen dazu bei, der Darstellung Macaulays eine gesteigerte
Wirkung zu geben.
Seine Ansicht über die Wertlosigkeit der Übersetzungen Homers von Pope
und Tickell, die zu gleicher Zeit erschienen, konnte er nicht witziger dar-
thun, als daß er für diese Arbeiten das Wort „Übersetzung" nur in dem
Sinne aufgefaßt haben wollte, wie es im Sommernachtstraum gebraucht ist.
Als Zettel mit einem Eselskopf erscheint, ruft Peter Squenz aus: Liess tllee!
Lottow, blsss tllee! tllon lire, trimslillecl. In diesem Sinne könnten die Leser
von Pope oder Tickell auch sagen: Liess tllee! Homer, tllou g,re translatect
iircleec!. ----- Die Schwäche des Grafen d'Avcmx, des französischen Gesandten, der
Jakob 11. nach Irland begleitet, macht Macciulay deutlich, indem er auf einen
Charakter Molieres hinweist. D'Avaux war bürgerlicher Abkunft und schmachtete
armselig nach höhern Adelsgraden. „So fähig, erfahren und gebildet er auch
war, so stand er doch unter dem Einflüsse dieser geistigen Krankheit und stieg
zuweilen auf die Stufe eines Moliereschen Jourdain hinab; dann belustigte
er boshafte Beobachter mit Szenen, die fast so vielen Lachstoff boten wie die,
in der der ehrliche Tuchmacher zum Mmnamouchi gemacht wird."
Aber gegen ein Buch tritt bei ihm alles zurück, was die Dichter — und
wäre es ein Shakespeare geschaffen haben, das ist die Bibel. Die englische
Bibel nennt er einmal ein Buch, das, wenn auch alles sonst im Englischen
verloren ginge, allein genügen würde, alle Schönheit und Kraft dieser Sprache
zu zeigen. (Dryden, ^IbMy Milien 7, 133.) Mit der Bibel war er so ver¬
traut, daß er Spanisch, Portugiesisch und später auch Deutsch lernte, indem
er mit ihr begann, ohne ein Lexikon zu gebrauchen, Nachahmungen der
Bibelsprüche finden sich sogar in seinem Tagebuche, Er tauft im Februar 1839
das Buch des jungen Gladstone, 0n Oliurod ana Lolo. Gladstone war damals
noch sein politischer Gegner, und Macaulay freut sich, Veranlassung zu haben,
gegen ihn vorzugehu. In welcher Form drückt er diese Freude aus? Wir
finden unter den? 13. Februar dieses Jahres- „Ich las im Gehn ein ziem¬
liches Stück aus Gladstones Buch, Der Herr hat ihn in unsre Hand ge¬
liefert." In den Werken, die für die Öffentlichkeit bestimmt waren, hat er
sehr häufig die Sprache der Bibel nachgeahmt oder dnrch Anspielung auf sie
seine Meinung zu verdeutlichen gesucht. Wie er das Italien Machiavellis be¬
schreibt, das von fremden Eroberern schon durchzogen wird, aber noch nicht
geistig geknechtet ist, da sagt er mit Nachahmung der Psalmensprache: „Die
Zeit war noch nicht da . . . wo die Harfe des Dichters an die Weiden des
Arno gehängt werden und die Rechte des Malers ihre Kunst vergessen mußte,"
Und um anzudeuten, wie die Bewohner Indiens zu einer gewissen Zeit unter
dem Aussauguugsshstem der Ostindischen Gesellschaft mehr zu leiden hatten als
nnter ihren eingebornen Fürsten, ahmt er das Bild nach, das Rehabecnn im
ersten Buche der Könige (1. Kön. 12, 10) nach dem Rate der Jungen seinem
Volke gegenüber gebrauchen soll. Es heißt in dein Aufsatz über Lord Clive:
„Sie fanden den kleinen Finger der Gesellschaft dicker als die Lenden Surajah
Dowlahs," — Ein andres Beispiel zeigt, mit wie gewichtige» Gründen ihn seine
Bibelfestigkcit anch im Parlament versehen konnte. Die Reformbill war zum
erstenmal vom Oberhaus abgelehnt worden; man fürchtete, daß Unruhen im
Lande ausbrechen würden. In der Sitzung, die zwei Tage nach der Ab¬
weisung der Bill vou den Lords im Unterhause abgehalten wurde, unter-
stützt Macaulay den Antrag eines politischen Freundes, den Ministern ein
Vertrauensvotum auszusprechen. Das Unterhaus, meint er, müsse die Führung
in der Beruhigung der Gemüter übernehmen und klar machen, daß die Wünsche
des Volks nur aufgeschoben, nicht aufgehoben seien. Sonst werde die Hefe
der menschlichen Gesellschaft an das Tageslicht kommen und Schrecken überall
verbreiten: „Die ganze Geschichte derer, die einen schändlichen Handel mit
dem Aufruhr treiben, ist enthalten in der schönen alten hebräischen Fabel,
die wir alle in dem Buch der Richter gelesen haben. Die Bäume versammeln
sich, daß sie einen König wühlen. Der Weinstock und der Feigenbaum und
der Ölbaum nehmen das Amt nicht an. Da fällt die Herrschaft über den
Wald auf deu Dornbusch: und da geht von einem niedern und schädlichen
Strauch das Feuer aus, das die Cedern Libanons verzehrt. Laßt uns davon
lernen!"
Unzweifelhaft kann aber jemand noch weit belesener und gelehrter sein
als Macaulay, ohne daß das umfassendere Wissen ihm auch nur annähernd
solche Früchte bringt, wie dem englischen Historiker. Es gehört eben dazu,
daß man ein so scharfes Auge hat wie er und so wunderbar schnell Ähnlich-
leiten aller Art entdeckt. Diese Quelle seiner Kraft wird aber noch verstärkt
durch eine glückliche Fügung seines Schicksals: Macaulay hat nicht nur Ge¬
schichte geschrieben, er hat auch Geschichte gemacht. Gibbon sagt einmal, er
verdanke seinen Erfolg als Historiker zum Teil den Beobachtungen, die er als
Offizier im Bürgerheer (in der Miliz) und als Mitglied des Unterhauses
gemacht habe. Macaulay bemerkt dazu, daß Gibbon darin vollkommen Recht
habe; Hütte Gibbon die Zeit, die er auf der Parade oder im Parlament zu¬
brachte, auf der Bodleiana in Oxford gesessen, so hätte er wohl einige Un-
genauigkeiten vermieden, aber er hätte nie eine so lebendige Schilderung ent¬
werfen können von dem Hofe, dem Lager und dem Senatshause.
Diesen Vorteil genoß auch Macaulay. Er trat 1830 in das Parlament
ein, und er hatte gleich Gelegenheit, an dem bedeutendsten Gesetze mitzuarbeiten,
das während des neunzehnten Jahrhunderts das englische Parlament beschäf¬
tigte: an der Parlamentsreform. Zwar hat er die Beschreibung dieser Periode
nicht einbezogen in sein Geschichtswerk, er hatte nur die Absicht, es zu thun.
Er wollte die Ereignisse von 1688 bis 1832 behandeln, um, wie er sich im
Jahre 1838 in einem Briefe an Napier ausdrückte, „die Umwälzung, die die
Krone mit dem Parlament in Einklang brachte, zu beenden mit der Umwälzung,
die das Parlament mit dem Volke in Einklang brachte." Aber diese Thätig¬
keit im Parlament — und das ist für seine Wirksamkeit als historischer
Schriftsteller wichtig — hat ihn in den Stand gesetzt, „den verborgnen Mecha¬
nismus kennen zu lernen, durch den die Parteien zum Handeln bestimmt
werden," zu sehen, wie die öffentliche Meinung hindernd oder fördernd für
die Regierung ist, und zu beobachten, wie die Gunst oder Ungunst der Zeiten
das politische Schicksal der Parteien bestimmt.
Allerdings ist dieser Einfluß seiner Parlamentsthätigkeit auf sein Schaffen
als Historiker nicht immer vorteilhaft gewesen; nach einer Richtung hin ist eine
ungünstige Wirkung sicherlich festzustellen. Die Weitschweifigkeit und Breite,
unter der seine Darstellung fast immer da leidet, wo Verhandlungen des
Unterhauses berichtet werde», rührt nicht zum wenigsten daher, daß er sich in
seinem lebhaften Interesse für die Körperschaft, der er selbst angehörte, von der
Wichtigkeit der einzelnen Sitzungen eine übertriebne Vorstellung machte. Es
hat an manchen Stellen den Anschein, als ob er sich von der Schilderung der
Sitzungen des Parlaments gar nicht losreißen könne. Zuweilen hält er sogar
Zwischenrufe und persönliche Bemerkungen für wert, sorgfältig von der Nach¬
welt beachtet zu werden.
Und auch das kann man vielleicht als eine ungünstige Wirkung dieser
Lebensperiode ansehen, daß sich der Mann der politischen Debatte bei Macaulay
öfter hören läßt, als es die strenge historische Darstellung eigentlich erlaubt.
Von der Geschichte Jakobs II., die der berühmte Parlamentarier Fox ge¬
schrieben hat, sagt Macaulay, es scheine, als ob sich der Verfasser vorstelle,
einer Versammlung gegenüber zu stehn, und daß er vor ihr eine Verteidigung
der Stuarts zerpflücke, die eben von einem Tory vorgebracht sei. Diese Form
der Darstellung finden wir auch bei Maenulah selbst. Wenn Thukudides den
Hauptpersonen seiner Geschichte Reden in den Mund legt, um ihre Gesinnungen
und die Triebfeder ihres Handelns anschaulich zu machen, so verfährt der eng¬
lische Historiker in ähnlicher Weise; nur die Form ist eigentlich anders und
zeigt die wesentlichen Zuge der politischen Debatte. Statt der Reden finden
wir lauge, eifernde und lebhafte Erörterungen, in denen Macaulay die ver-
schiednen Parteien ihren Standpunkt einer Streitfrage gegenüber vertreten läßt;
und er thut das fast nie, ohne nicht auch seine eigne Ansicht zu begründen.
Ein sehr bezeichnendes Beispiel dafür ist die Auseinandersetzung in Kapitel 14
seiner Geschichte über die Spaltung in der hochkirchlichen Partei, die über die
Frage entstanden war, ob Wilhelm III. der Treueid zu leisten sei oder nicht.
Macaulay blieb aber nicht einfaches Mitglied des Unterhauses, er hatte
1839 bis 1841 Sitz und Stimme im Kabinett, und 1846 bis 1847 war er
?g>?mastör General ok tue ^rin?. Diese Zeit war nicht verloren für den
Historiker. So manches Wort seiner Mög^s und seiner Historzf wäre nicht
oder wäre anders geschrieben worden, wäre er nicht auch einmal einer der
Machthaber gewesen. Ich rechne dazu z. B. die feine Auseinandersetzung
darüber, welche Gründe wohl Bude, den Minister und Liebling Georgs III.,
im Jahre 1763 bestimmt haben, von seinem Amt zurückzutreten. Dieser Rück¬
tritt war allen überraschend gekommen, und zwanzig verschiedne Erklärungen
für diesen seltsamen Schritt wurden angegeben. Maeaulah äußert sich so
darüber: „Die Wahrscheinlichkeit ist, daß Bildes Verhalten bei dieser Gelegen¬
heit wie das der meisten Menschen in den meisten Fällen von verschieden¬
artigen Beweggründen zugleich bestimmt wurde. Wir vermuten, daß er seines
Amts überdrüssig war; denn dies ist ein Gefühl, das bei Ministern weit
häufiger ist als Leute, die die Amtswelt nur von weitem sehen, zu glauben
geneigt sind; und nichts konnte natürlicher sein, als daß sich dieses Gefühl
Butes bemächtigte." Er setzt dann auseinander, wie der Staatsmann im all¬
gemeinen den Ministerposten allmählich erklimmt, und zu der Zeit, wo der
höchste Punkt erreicht wird, hat er sich an Mühen und Schmähungen längst
gewöhnt. Er bleibt bei seinein Beruf als Staatsmann trotz aller Unannehm¬
lichkeiten, anfangs wegen der Hoffnung auf die Erhöhung und schließlich aus
Gewohnheit. Es war anders mit Bude. An dem Tage, an dein er Politiker
wurde, wurde er auch Minister und einige Monate später sogar Premier¬
minister. „Kein Trugbild blieb, das ihn weiterlocken konnte. Er hatte sich
übersättigt mit den Freuden, die der Ehrgeiz gewährt, bevor er reif geworden
war für die Schmerzen, die er bringt. Er hatte sein achtundvierzigstes Jahr
in würdevoller Behaglichkeit erreicht, ohne ans persönlicher Erfahrung zu
wissen, was es heißt, verhöhnt und verlästert zu werden." (Karl ok eimtlmm,
1188^8 5, 209 ff.)
Nicht zum wenigsten aber hat diese Thätigkeit im Parlament, im indischen
Staatsrat und im Kabinett dazu beigetragen, die Anschauungen des Politikers
Macaulay zu festige», zu klären und seinen Gesichtskreis zu erweitern. Ver-
suchen wir aus seinen Werken herauszuschälen, was sich in ihnen von seinen
persönlichen Ansichten über sein Vaterland und die Kunst, es zu regieren,
findet, Macaulay ist vor allem mit Leib und Seele Engländer, Er sagt
einmal von Livius (Ass-^ ein Historv, ^loro Läition 7, 193): „Es hat nicht
den Anschein, als ob er dächte, daß irgend ein Land außer Rom Liebe ver
diene." Wenn wir für Rom England setzen, so können wir dasselbe von
Macaulay sagen. Mit einem Hochgefühl ohne gleichen stellt er den berühmtesten
Einrichtungen und den glänzendsten Namen des klassischen Altertums die ver¬
trauten heimischen gegenüber. Der Senat ist ihm nicht ein so ehrwürdiger
Name wie das Parlament, die NnAua (Änrrtg, steht ihm hoher als Solons
Gesetze; das Kapitol und das Forum mache» auf ihn einen geringern Ein¬
druck als die Westminsterhalle und die Westminsterabtei, der Ort, wo die großen
Männer von zwanzig Generationen gestritten haben, und der Ort, wo sie zu¬
sammen ruhn! Die Art, wie Algernon Sidney und Lord Russell starben, sei
edler zu nennen als die der Römer Thraseas und Cato. Sogar die Teile
der englischen Geschichte, über die mau aus manchen Gründen gern einen
Schleier werfen würde, könnten stolz denen gegenüber gestellt werden, ans
denen die Verehrer des Altertums so gern verweilen. Und indem er den
Kontrast zwischen der Ermordung Cäsars und der Hinrichtung Karls I. dar¬
legen will, fährt er fort: „Der Feind der englischen Freiheit wurde nicht er¬
mordet vou Leuten, die er begnadigt und mit Wohlthaten überhäuft hatte.
Ihm wurde nicht der Dolch in den Rücken gestoßen von denen, die vor ihm
freundlich thaten und ihm schmeichelten. Er wurde auf Schlachtfeldern besiegt,
er wurde vor Gericht gebracht, verurteilt und hingerichtet im Angesicht des
Himmels und der Erde. Unsre Freiheit ist weder griechisch noch römisch,
sondern durchaus englisch" lMstorv 7, 189). Es wird darum auch erklärlich
scheinen, daß er überall da, wo es sich um nationale Interessen handelt,
außerordentlich milde in der Beurteilung ist. Gegenüber solcher Milde er¬
scheint dann die Strenge, die er z. B. in der Beurteilung der Ansprüche
Friedrichs des Großen auf Schlesien übt, in hohem Grade lächerlich.
Wenn er die Vergangenheit Englands mit solcher Freude betrachtete, so
war es nicht deshalb, weil sie etwa im Gegensatz zu einer unerfreulichen
Gegenwart stand - ein solches Gefühl beherrschte unsre Romantiker im Anfang
des neunzehnten Jahrhunderts. Er versenkte sich vielmehr so liebevoll in ver¬
gangne Zeiten, weil sie zur Gegenwart geführt hatten. In der Besprechung
der Historv ok leis Revolution vou Sir James Mackintvsh heißt es: „Uns,
wollen wir nur gestehn, ist nichts so interessant und erfreulich, als die Stufen¬
leiter zu betrachten, auf der das England des Domesdaybuchs, das England
der Feuer- und Forstgesetze, das England der Kreuzfahrer, Mönche, Schul¬
männer, Astrologen, Leibeignen und Banditen das England wurde, das wir
kennen und lieben, der klassische Boden der Freiheit und Weltweisheit, die
Schule aller Erkenntnis, der Markt für jeden Handel."
Der englische Mutton-ni vereinigt nach Macaulay alle Tugenden in sich.
Selbst die Männer, an denen er sonst so viel anzusetzen hat, rettet ihr
Charakter als Engländer vor dem völligen Verdammungsurteil. Die hohe
Gesellschaft, zur Zeit der Restauration war nach ihm bis ins Innerste verderbt,
aber am Tage der Schlacht zeigten sie den Mut, ^vbicm i« svlcloiu vantinK w
an Üngli3ü AgntlsmAi. In beweglichen Worten berichtet Macaulah von dem
Justizmorde, der an dem Hindu Nuncomar begangen wird. An dem Tage vor
der Hinrichtung sucht ihn der Sheriff auf und zeigt damit eilf nnmanit^ Midi
is ssläom nMtinA in -in Lngli8ki Asntlöin-in. lind mit nationalem Stolz
vergleicht er die ehrenfester alten Kavaliere mit den Werkzeugen, die andre
Despoten benutzen müssen, den Thürhütern, die sich in ihren Vorzimmern
drängen, und den Janitscharen, die an ihren Thoren Wache halten. Um so
vollere Akkorde schlüge er an, wenn er von seinen Landesgenossen im allgemeinen,
nicht von einzelnen Sündern, spricht. Ein Volk wie die Engländer, sagt er
einmal, könne nicht lange unterdrückt werden; denn es seien Männer, deren
Erziehung und deren Sitten so seien, daß sie sich überall über die Masse derer
erhöben, mit denen sie sich vermischten, so sicher, wie Öl im Wasser aufsteige,
Männer von solcher Selbstbeherrschung, daß ihre wildesten Ausschreitungen den
Charakter des Trustes von Gerichtsverhandlungen und der Feierlichkeit reli¬
giöser Andachtsübungen annähmen, Männer, deren nationaler Stolz und deren
Anhänglichkeit aneinander sprichwörtlich geworden seien, und deren hochfahrender
Sinn ihnen in jahrhundertlangem Kampfe ihre Unabhängigkeit reichern und
mächtigern Nachbarn gegenüber gewahrt habe.
Dieses Land seiner Geburt ist auch deshalb für ihn das Land seines
Ideals, weil es, mehr als man sonstwo gesehen habe, mehr als man hätte hoffen
können, die Segnungen der Freiheit mit denen der Ordnung verbinde. In
der Liswry ok IZnsslanä (5, 113) sagt er einmal: „Freiheit und Ordnung sind
zwei der größten Segnungen, deren sich eine menschliche Gesellschaft erfreuen
kann: und wenn es das Unglück einmal will, daß sie miteinander nicht vereint
werden können, so ist man denen Nachsicht schuldig, die eine von beiden Seiten
wühlen." Freiheit und Ordnung, oder vielmehr die Verbindung beider, ist
immer sein Ausgangspunkt für die Beurteilung eines gut regierten Staats
gewesen. So teilt er anch die Gegner des Reformgesetzes ein in zwei Klassen:
tue, trivnäs ot' oorruMon g.na tü« sovvsrs ot' ssclition. Es ist nach ihm eine
Verbindung dstwesn Uwss vllo dato M liberty -mal tlroso vvllo Jenes all oräsr.
Aber Macaulay stützt sich vertrauensvoll auf eine dritte Partei, die »nichtiger
ist als die beiden zusammen genommen: „Diese Partei ist die Mittelklasse von
England, mit der Blüte der Aristokratie an ihrer Spitze und der Blüte der
arbeitenden Klassen in ihrer Nachhut. Diese große Partei hat ihre unbeweg¬
liche Stellung eingenommen zwischen den Feinden jeder Ordnung und den
Feinden jeder Freiheit." (3xss<ZNö8, S. 76.)
Es ist jedoch unzweifelhaft, daß sein Heiß besonders gegen die Feinde der
Freiheit gerichtet war. Männer, die längst im Grabe moderten, behandelt
er zuweilen wie persönliche Gegner, und er drückt seine Frende aus über das
Mißgeschick, das sie getroffen hat. Beim Besprechen der Ereignisse des
Novembers 1640 gesteht er in dem Essay über Haupten, es sei nicht leicht,
die Kränkungen und Demütigungen, die der Tyrann — Karl I. ist gemeint —
jetzt zu erdulden hatte, zu berichten vntbout g. ksölivZ ok vincliotivs xlsasuro.
Und dieselbe Wendung braucht er auch in seiner Geschichte, in der er sich sonst
viel zurückhaltender mit seiner persönlichen Teilnahme an dem Berichteten zeigt,
als in den Essays, Von der Festnahme des Oberrichters Jeffreys, der das
Werkzeug Jakobs II, bei so vielen Justizmorden gewesen war, spricht er als
von einem Ereignis viiion, Sohn kek this clistanoo 0k tiinö vim na-rät^ be
rkliltöä vvitlrout g. löölinA ot' vinäiotivo plss-fürs.
(Schluß folgt)
Unzählige edle Geister arbeiten daran,
das religiöse Bedürfnis mit dem wissenschaftlichen Bewußtsein zu versöhnen und
eine neue Kirchenform zu finden, die den Massen und den Hochgebildeten gleicher¬
weise genügen könnte. Zu den besten Schriften dieser Art gehört Der Weg zu
Gott für unser Geschlecht von Dr. Adolf Völliger, den wir im dritten Bande
des Jahrgangs 1899, Seite 238 empfohlen haben. Wenn man auch nicht in dem
Grade wie er der Entwicklungstheorie huldigt und über den Gang der Entwicklung
der Menschheit, die seiner Ansicht nach zum Gottesreich führt, weniger optimistisch
denkt, so bleibt doch seine Hauptleistung: daß er Gottes Walten in Natur und
Menschheit sozusagen evident macht, unanfechtbar. Und in der vorliegenden zweiten,
neu bearbeiteten Auflage des Buchs (Frauenfeld, I. Huber, 1900) wirken seine
Erfahrungsbeweise noch stärker. Bei der großen Zahl verwandter Erscheinungen
darf man als das vorläufige Ergebnis der Gärung bezeichnen: Die Gefahr, die
um die Mitte des vorigen Jahrhunderts zu drohen schien, daß die Wissenschaft den
Glauben unmöglich machen, und die Masse der Gebildeten dem Atheismus verfallen
werde, ist vorüber; wir sind zu den Anschauungen der rationalistischen Theisten des
achtzehnten Jahrhunderts zurückgekehrt, die wir mit den wissenschaftlichen Errungen¬
schaften des neunzehnten bereichern und ausgestalten. Es entspricht diesem Stande
der Dinge, daß auch ältere Schriften dieser Richtung wieder Beachtung finden. So
ist (bei Leopold Voß, Hamburg und Leipzig, 1900) eine neue, die vierte Auflage
des Büchleins vom Leben nach dem Tode erschienen, das Gustav Theodor
Fechner 1836 unter dem Pseudonym Mises veröffentlicht hat. Für Fechner ist
das Jenseits eine naturwissenschaftlich erwiesene Thatsache: das Sterben entspricht
dem Geborenwerden; der Leib ist für den Geist, was die Placenta für den Embryo,
und muß deshalb selbstverständlich, nachdem er seine Bestimmung erfüllt hat, bei
der zweiten Geburt, der Geburt des Geistes, zerfallen.
Sind wir also in Beziehung auf Gott, Weltregierung und Unsterblichkeit so
ziemlich im reinen, so ist dafür die Verwirrung auf dem Gebiete der Christologie
und der Lehre von der Kirche und der Erlösung desto ärger. Die Orthodoxen
lassen einen Büttiger gar nicht als Christen gelten. Wagt er es doch, von dem
Judenmantel zu sprechen, der dem Gewaltigen wohl noch um die Schultern flattert,
und von den Evangelisten zu schreibein „Es ist nicht unwahrscheinlich, daß das
Alte ihm loser saß; sie haben ihm den alten Judenrock wieder etwas fester zuge¬
knöpft." Und er fährt fort: „Wer uns diesen alten müssiger Rock als Jesu Wort
und Geist aufschwatzen will, muß uns für leichtgläubiger halten, als wir sind."
Aber auch die freiern Geister sind unter sich keineswegs einig, ja sie bewegen sich
in Widersprüchen, die unversöhnlich scheinen. So z. B. gilt Bolligern die Sünd-
losigkeit Jesu als selbstverständlich: „seine strahlende Gestalt weiß nichts davon, daß
Menschsein und Sünde unzertrennlich sind." Und er spricht den Orthodoxen, ja
der Reformation selbst den echt evangelischen Charakter ab, weil sie die Überzeugung
verbreiten, daß wir unvermeidlich strauchelten und ans der Sünde nicht heraus¬
konnten. Dagegen findet Ernst Heinemann (Die Grundlagen der Schleier-
macherschen Theologie. Berlin, Hermann Walther, 1900) gerade in der Lehre
von der Sündlosigkeit Jesu eine Hauptstütze seiner Ansicht, daß die christlichen
Dogmen in jeder Form, auch in der Schleiermacherschen, unannehmbar seien, und
die Kirchenlehre nicht allein wider die Vernunft, sondern auch wider den Glauben
gehe. Denn, sagt er, die Sünde gehört zum Wesen des Menschen; entweder war
Christus sündlos, dann war er reiner Gott, seine menschliche Erscheinung ein bloßes
Phantasma; oder er war Mensch, dann war er ein Sünder wie wir und nicht
Gott. Die Erfahrung hat Heiuemann für sich. Der Optimismus Böttigers in
diesen und in andern Stücken erklärt sich, wie der Hiltys, daraus, daß beide
Schweizer sind. Die Schweiz ist unter allen Ländern der Erde das glücklichste;
nirgends wird es den Menschen so leicht, von groben Sünden frei zu bleiben; die
feinern aber wird man eben nicht gewahr.
Den unversöhnlichen Widerspruch zwischen orthodoxen Glauben und moderner
Wissenschaft in seiner ganzen Größe und seinem furchtbaren Ernst den Protestanten
vor Augen zu stellen, hat sich Ernst Franz zur Aufgabe gemacht in seiner Schrift:
Religion, Illusionen, Intellektualismus, ein Bau- und Zimmerplatz der
Weltanschauung (Köthen, Otto Schulze, 1900). Seine Untersuchung bewegt sich
fast ausschließlich um die Wunder. So sehr auch, führt er aus, der Katholizismus
die Lehre Jesu gefälscht und entstellt haben mag, sieht er dem Urchristentum dennoch
ähnlicher als der Protestantismus, weil er die Wunder und die Askese bewahrt
hat, die ganz wesentliche Merkmale des Urchristentums sind. (Ein andrer Refor¬
mator, Professor Dr. Heinrich Kratz, findet dagegen den Katholizismus dem Ur¬
christentum ganz und gar unähnlich. Er greift in seiner bei C. A. Schwetschke
und Sohn in Berlin 1900 erschienenen Broschüre: Das Johanneische Christen¬
tum das Christentum der Zukunft ans die Idee Neanders zurück, daß auf
das petrinische Zeitalter der katholischen Priesterkirche und auf das paulinische der
protestantischen Dugmenkirche das johcinneifche des Geistes, der Freiheit und der
Liebe folgen müsse.) Der Standpunkt des Protestantismus, der die neutestament-
lichen Wunder anerkennt, die der spätern Zeit als Trug und Einbildung verwirft,
ist nach Franz ganz unhaltbar. Ein 1898 erschienenes Religionshandbuch beweise
die Gottheit Jesu damit, daß er aus Wasser Wein gemacht habe usw., und da
wolle man über den Trierer Rock lachen! „Ist das Christentum des Neuen
Testaments wirklich klassisch in Bausch und Bogen, so hat der Katholizismus tausend¬
mal mehr recht als der Protestantismus. Freilich wäre es in diesem Falle zweifel¬
los, daß dann diese Religion für den Teil der Menschheit, aus den es ankommt,
aow zu legen wäre." Der Wunderglaube beruhe auf dem Jllusionsbedürfnis,
und dieses ans dem Trostbedürfnis; dem grenzenlosen Trostbedürfnis der Mensch¬
heit, nicht der grenzenlosen Dummheit der Katholiken sei es zuzuschreiben, daß
Millionen dem Schwindler Leu Taxil geglaubt hätten. Auf dein Standpunkte der
frühern unvollkommnen Nnturerkenntnis seien solche Illusionen wie der Wunder¬
glaube durchaus nicht unvernünftig gewesen, und die heutige katholische Welt¬
anschauung sei eben noch die des klassischen Altertums und des Neuen Testaments.
Für die wissenschaftlich Gebildeten und für die Zukunft, in der doch die Ergebnisse
der Wissenschaft Gemeingut werden würden, könne das Christentum nur gerettet
werdeu, wenn man mutig alles preisgebe, was nicht seinem Wesen, sondern nur
seiner historischen Entwicklung angehöre. Franz will keineswegs bloß kritisieren
und einreihen, sondern, wie er ja im Titel ankündigt, bauen oder wenigstens den
Nenbciu vorbereiten. Er ist überzeugt, daß ein Volk auf die Dauer nicht gedeihen,
nicht leben könne ohne eine Weltanschauung; es bekümmert ihn tief, daß wir keine
Weltanschauung mehr haben, daß wir in unzählige philosophische und religiöse
Sekten zersplittert sind, daß die Kirchlichkeit der Maßgebenden meist nur Heuchelei
ist („euer Geld gebt ihr der innern Mission, eure Seelen dem Nietzsche, dem
Schopenhauer, der Stoa, der Skepsis!"); daß der Religionsunterricht der
Jugend, namentlich auf dem Gymnasium, ein unerträglicher, gemeingefährlicher
Skandal ist, und daß bei diesem Zustande von einer verpflichtenden Moral gnr
keine Rede mehr sein kann, und es ist ihm heiliger Ernst mit dem dringend not¬
wendigen Neubau. Leider geht es ihm wie den meisten, um nicht zu sagen allen
heutigen Reformern des Religions- und Kirchenwesens: die Krankheit vermag er
sehr gut zu schildern, Heilmittel aber kennt er nicht; wie das mit unserm heutigen
Wirklichkeitssinn und unsrer heutigen Naturerkenntnis übereinstimmende Christentum,
das er fordert, aussehen wird, das vermag er nicht zu beschreiben, obwohl er eine
Menge gute Gedanken darüber ausspricht. Vielleicht ist der Widerspruch zwischen
dem Wesen der christlichen Religion und ihrer historischen Hülle oder dem Eidotter,
aus dem sie sich bildet, nicht so groß, wie er scheint. Unsre Jntellektualen ent¬
scheiden viel zu voreilig, was zweifellos feststehendes Ergebnis der Wissenschaft sei.
Franz huldigt der streng mechanischen oder vielmehr mechanistischen Naturerkläruug.
Wenn man aber mit Goethe sagt: Was wär ein Gott, der nur vou außen stieße,
wenn man überlegt, was für ein allen menschlichen Begriff übersteigendes Wunder
die Natur, die Welt, jeder einzelne Teil der Welt, der eigne Leib ist, wenn man
an die Macht des Geistes denkt, die sich von keinem Natnrmechanismns einfangen
und binden läßt, so kommen einem die Wunder gar uicht so übermäßig wunderbar
und wunderlich vor, und man ruft unsern heutigen Physikern und Biologen mit
Hamlet zu: Es giebt mehr Ding im Himmel und auf Erden, als eure Schulweis¬
heit sich träumt, Horatio! Und man gerät durch solchen bescheidnen Verzicht auf
voreilige Entscheidung, den Franz vielleicht verwerflichen Agnostizismus nennen wird,
noch keineswegs in Gefahr, Abonnent und Korrespondent des Pelikan zu werdeu.
Womöglich noch schlimmer als um die christliche Dogmatik steht es um die
christliche Moral. Kratz scheint sie sich ganz einfach und das Handeln danach
kinderleicht vorzustellen; was kann es einfacheres und leichteres geben als das
johanneische: Kindlein, liebet einander! Ja, wie sehen aber die Kindlein aus, und
wie stellt unus an, sie zu lieben? Pastor Maxwell wird in der Vorbereitung zur
Predigt durch eiuen arbeitsuchenden Handwerksburschen unterbrochen und schickt ihn
mit einem: Thut mir leid! weiter. Am nächsten Sonntag kommt der Strömer in
die Kirche, nimmt nach der Predigt das Wort und bittet um Auskunft, wie das
eigentlich gemeint sei, daß man in Jesu Fußstapfen treten solle; darüber hatte Max¬
well gepredigt. Nachdem der Mann eine Weile gesprochen hat, bricht er ohn¬
mächtig zusammen, wird in des Pastors Haus gebracht und stirbt dort. Das
giebt den Anstoß zur Gründung einer Gemeinschaft, deren Mitglieder geloben, ein
Jahr lang in Jesu Fußstapfen zu treten: vor jedem Schritt, den sie thun, zu über-
legen, was Jesus in diesen, Falle thun würde. Diesem Gelöbnis zufolge reformiert
ein Zeitungsverleger seine Zeitung, verzichtet ein Eiscnbahndirektvr auf seine Stellung,
weil die Gesellschaft, der er dient, betrügerisch verfährt, lege» Bischöfe und Prediger
ihre bepfrüudeten Ämter nieder, führt eine schöne und reiche junge Dame eine be-
trnnkne Dirne in ihr Hans, Das erzählt sehr hübsch Charles W, Sheldon in
dem von E. Pfannkuche übersetzten Buche: In seinen Fußstnpfe». „Was würde
Jesus thun?" (Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht, 1.900.) Der Kritiker wird
auf die große Frage zunächst antworten, daß sie so allgemein gestellt keinen Sinn
Hai, denn Jesus ist als amerikanischer Zcitmigsverleger undenkbar, und ein solcher
kaun darum in Beziehung auf sein Geschäft nicht in Jesu Jußstapfen treten. Aber
die Frage ist allerdings eine kräftige Anregung zu einem energische» Protest gegen
die Gedankenlosigkeit und Heuchelei, mit der deu Christe» ganz allgemein die Nach¬
folge Christi zur Pflicht gemacht wird. Wir habe» in dem Aufsätze „Der Sinu
des Christentums" (im erstem Vierteljahr 1900, S. 380 und 444) einen Versuch
gewagt, die gewaltige Schwierigkeit zu lösen.
Es giebt glückliche Seelen, die weder von dogmatischen uoch von ethischen
Zweifeln geplagt werden, sondern im Geiste des Neuen Testaments wie in ihrem
Elemente leben und wirken. Zu ihnen gehört der frühere Schuceberger Schul-
direktor S. Bang, über dessen Wirksamkeit wir im 27. vorjährigen Heft berichtet
haben. Er ist bald darauf zum Bezirksschulinspektor in Dippoldiswalde befördert
worden und will nun einige lebendige Zeugen seiner gesegnete» Schnceberger
Wirksamkeit, insbesondre seines Religionsunterrichts, dessen Gegenstand das Lebe»
Jesu war, der Öffentlichkeit vorführen. Das „bekenntnisfreudige mündliche Wort
und das leuchtende Auge der Kinder" kann er freilich nicht zeigen, aber eine An¬
zahl von Niederschriften seiner dreizehn- und vierzehnjährigen Schülerinnen ver¬
öffentlicht er. Nur in den dringlichsten Fällen, schreibt er, habe bei der Anfertigung
dieser Aufsätze der Lehrer unterstützend und berichtigend eingegriffen. Das Unter¬
nehmen, solche Schüleraufsätze zu veröffentlichen, ist kühn, und mancher Kollege
Bangs wird spöttisch fragen, wie dick hundert „dringlichste Fälle" wohl vor¬
gekommen sein mögen. Wir überlassen solche Fragen und Untersuchungen den
Pädagogen vou Fach und bemerken uur, das; die Aufsätze als Niederschlag des von
Bang erteilten Religionsunterrichts die Beachtung der Pädagogen in hohem Maße
verdienen. Die Mädchen haben eine ganz klare Anschauung vou dem Schauplatz
und dein chronologischen Verlauf der evangelischen Geschichte, finden die einzelnen
Ereignisse in Harmonie mit dem Naturleben in deu verschiednen Jahreszeiten,
schildern Jdhllen aus dem Leben Jesu in der Form von Briefen von Zeitgenössinnen,
vergleichen die Frauen des Neuen Testaments mit bekannten deutschen Frauen und
leben im Neuen Testament wie Bang selbst. Die Aufsätze behandeln 44 Themata;
für einige dieser Themata sind mehrere Bearbeitungen mitgeteilt. Sie sind bei
Ernst Wunderlich in Leipzig (1901) unter dem Titel: Kinderstimmen aus dein
Unterricht im Leben Jesu erschienen.
Ein
weißer Rabe ist der Wirkliche Geheime Oberregierungsrat c>. D. Eb. D'Avis, der
in seiner Schrift: Die natürliche Volkswirtschaftsordnung und die staat¬
liche Wirtschaftspolitik (Berlin, Puttkammer und Mühlbrecht, 1901) das reine
unverfälschte Mauchestertum predigt. „Auch abgesehen von der gänzlichen Unfähigkeit
des Menschen zur Regelung und Ordnung der Volkswirtschaft bedarf es einer
Zwangsregelimg überhaupt uicht. Die einzelnen Volksglieder wirtschaften auch ohne
äußern Zwang ans eignem Antrieb so, wie das Wohl der Volksgesellschaft es er¬
heischt. . . . Der eingeborne Eigennutztrieb aller beteiligten Einzelmenschen ist der
vom Weltschöpfer selbst bestellte Leiter der Volkswirtschaft. > , . Es giebt keine ge¬
sunde nationale Wirtschaftspolitik, wenn darunter die Ergreifung von Maßnahmen
verstanden wird, die die inländische Arbeit gegenüber der mitwerbenden ausländischen
schlitzen oder begünstigen soll. Die Volkswirtschaft ist von Natur nicht national,
sondern international." Der Verfasser hat den Mut der Folgerichtigkeit; er ver¬
wirft nicht allein jede Art von Sozialismus, nicht allein die Schutzzölle, den Arbciter-
schutz und die Zwangsvcrsichernng der Arbeiter, sondern — in milderer Form —
auch den Schulzwang und die Regelung des Schulwesens durch den Staat. Um
die Schrift zu kritisieren, müßten wir den Hauptinhalt der großen Bibliothek wieder¬
geben, in der die Ansichten der Smithinner und ihrer Gegner niedergelegt sind.
Wir erlauben uns nur die Frage: Aus welchem Grunde werden denn Schutzzölle
gefordert? Doch Wohl aus Eigennutz. Und wenn der Verfasser nur den indivi¬
duellen, aber nicht den kollektiven Eigennutz gelten lassen will — ist es nicht natürlich,
daß sich Personen, die dasselbe Ziel verfolgen, mit einander Verbunden, und wäre
es nicht unnatürlich, sie daran hindern z» wollen? Ist der Staat etwas andres
als das Organ, das sich die Selbstsucht eiues ganzen Volkes zur Erreichung seiner
Zwecke geschaffen hat? Ganz konsequent, d. h. Anarchist, ist der Verfasser doch nicht;
er gesteht dem Staate das Recht zu, die „Wirtschnftsverhältnisse so weit durch Vor¬
schriften zu regeln, als die mit dieser Regelung verbundne Beeinträchtigung der
Einzelmenschen notwendig ist, um diese vor einer ihr sonst drohenden stärkern Be¬
einträchtigung zu bewahren." Ja, wie soll aber der Staat herauskriegen, was
notwendig ist und was nicht, wenn alle Gruppen der Bevölkerung ohne Ausnahme
unaufhörlich schreien: Mein Schutz ist notwendig, und schützt du mich nicht, so gehst
du selbst zu Grunde? Es bleibt ihm eben nichts übrig, als hier ein Maul und
dort ein Maul zu stopfen und in Ruhe abzuwarten, ob die Kollektivselbstsucht, der
er nachgegeben hat, das Richtige getroffen haben wird.
Wenn alle Menschen absolut vernünftig und dabei allwissend wären, so würde
ja jeder ungezwungen so handeln, wie es für ihn und für die Gesamtheit am besten
wäre, und so weit werde» wir nächstens sein, wenn wir Arnold Fischer glauben,
der in einer Zeit, die von manchen für die Zeit der reinen Unvernunft gehalten
wird, die tröstliche Botschaft verkündigt, daß nur im Begriff stehn, ins Zeitalter
der reinen Vernunft einzutreten. Sem 781 kleiugedruckte Seiten starkes Buch:
Die Entstehung des sozialen Problems (Rostock, C. I. E. Volckmann, 1897)
enthält so viel schätzbares Material aus allen Zweigen der Wissenschaft, daß man
es als Encyklopädie gebrauchen könnte, wenn der Stoff alphabetisch geordnet wäre.
Leider aber wird er sehr unordentlich unter einander geworfen und zu dem aus¬
sichtslosen Zweck vergeudet, die Leser zu überzeugen, daß sich alle Erscheinungen
des Menschenlebens ans einem einzigen Naturgesetz erklären lassen, das man so
formulieren kann: Die Lebenskraft unsers Planeten nimmt beständig ab; diese Ab¬
nahme zeigt sich im Übergange der Pflanzenwelt zur Tierwelt und der ältern zu
den jüngern Tiergeschlechtern, und sie wiederholt sich im Leben jedes Individuums.
Die abnehmende Lebenskraft wird durch zunehmende Vervollkommnung des Orga¬
nismus ausgeglichen. Im Menschen stellt sich dieser Prozeß dar als Übergang
vom Gefühlsleben zum Verstandesleben und von der Natur zur Kultur; in der
Kultur erreicht der Mensch durch Benutzung der Außenwelt die Sicherung des Daseins,
die ihm die eigne verminderte Lebenskraft nicht mehr zu gewähren vermag. Ein
geistreicher Gedanke, der anch ebenso geistreich wie mühsam durchgeführt wird, aber
aus einem einzigen noch so geistreichen Gedanken kann man eben die ganze Wirk¬
lichkeit nicht ableiten, ohne ihr Gewalt anzuthun. Die großartige Schlußkette läuft
denn auch zuletzt in die höhere Komik aus, indem unsre heutige Wirtschaft als die
Wirtschaft der reinen Vernunft, und der zuletzt in die Erscheinung getretne Stand,
der Arbeiterstand, mis „die Klasse der reinen Vernunft" dargestellt wird. Und
dabei ist der Verfasser, so viel man sehen kann, nicht einmal Sozialdemokrat!
Vorläufig verläuft die Sache bei uns noch immer so, wie sie eigentlich immer
verlaufen ist, daß jeder Denkende sich und seine Partei oder Sekte für vernünftig,
alle andern für unvernünftig hält und seine Vernunft den andern aufschwatzen oder
aufnötigen möchte. So stehn z, B, auch in der Frage der Fabrikarbeit der Frauen
zwei Veruunften einander schroff gegenüber. Die Fabrikcmtcnfrau im vorjährige»
zwanzigsten Grenzbotenheft würde es für ein großes Unglück halten, wenn den ver¬
heirateten Frauen die Fabrikarbeit verboten würde, der Leipziger Privatdozent
,I)r. Ludwig Pohle dagegen fordert ein solches Verbot in seiner Schrift: Frauen-
fabrikarbeit und Frauenfrage (Leipzig, Veit und Comp,, 1900), Er ist mit
Bücher der Ansicht, daß die zum großen Teil immateriellen Werte, die die Frau
in der Familie schafft, für die Nation weit wertvoller seien als eine noch so hohe
Steigerung der Güterprodnktion, Die Fabrikantenfran wird das zugeben für den
Fall, daß diese kostbaren immateriellen Werte wirklich geschaffen werden, aber sie
wird hinzufügen, für gewöhnlich sei dies nicht der Fall, denn sie hat von den Ar¬
beitern eine sehr schlechte und von den Arbeiterinnen keine sehr hohe Meinung.
Was Pohle zur Abfassung seiner Schrift, die immerhin auch gelesen zu werden
verdient, bestimmt hat, das ist die Leidenschaftlichkeit, mit der auf dem inter¬
nationalen Kongreß für Arbeiterschntz (Zürich, 1897) die Genossen und Genossinnen
gegen das Verbot gesprochen haben Pohle sieht darin mit Recht einen Ausfluß
des falsche» sozialistischen Gescllschaftsideals, und er fürchtet, daß, wenn die Fabrik¬
arbeit der verheirateten Frauen einen bedeutenden Umfang annimmt, Frauenlieb
und Leben thatsächlich dein Vebelschen Ideal immer ähnlicher werden möchten. —
Werner Sombarts: Dennoch! (aus Theorie und Geschichte der gewerkschaftlichen
Arbeiterbewegung) und Professor Georg Adlers: Die Zukunft der sozialen
Frage (beide bei Gustav Fischer in Jena, 1900 und 1901) find brauchbare Über¬
sichten des gegenwärtigen Standes der Arbeiterbewegung. Adler zeigt n. a., daß
die sozialistischen Illusionen, ähnlich wie andre weltgeschichtliche Illusionen, unbe¬
dingt notwendig gewesen sind, daß sie aber ihren Dienst gethan haben und jetzt
verabschiedet werden müssen; Sombart erzählt am Schluß, wie gemein er wegen
seiner nichtorthodoxeu Arbeiterfreuudlichkeit vom Vorwärts behandelt worden ist. —
Über Die gewerblichen Genossenschaften Belgiens (1900) berichtet Josef
Bonjansky in einem Hefte der Staats- und Sozialwissenschaftlichen Forschungen,
die Gustav Schmoller bei Duncker und Humblot in Leipzig herausgiebt. Seine
Darstellung bestätigt die allgemeine Erfahrung, daß alle mit Produktivgenossenschaften
angestellten Versuche verunglücken, während Konsumvereine Großes leisten können,
Belgien ist sehr reich um solchen, und der sozialdemokratische Vooruit hat im Jahre
1898 einen Umsatz von 2'/., Millionen Franken gehabt. Die Privatbäckereien werden
in Belgien bald vollständig durch Genossenschaftsbäckereien ersetzt sein. — Der un¬
ermüdliche Eduard von Hartmann hat wieder eine Sammlung von Zeitschriften¬
aufsätzen herausgegeben unter dem Titel: Zur Zeitgeschichte, Neue Tagesfragen
(Leipzig, Hermann Haacke, 1900). Von diesen Aufsätzen gehören einige, wie die
über die Agrarfrage, in unser Kapitel. Was er darüber sagt, weicht nicht weit ab
von dem Standpunkte, den die Grenzboten einnehmen; Hartmann hegt aber eine
womöglich noch schlechtere Meinung von den Agrariern als unser Freund /?.
Er meint, von den drei Parteien, die er für an sich staatsgefährlich hält, sei die
eine, die sozialdemokratische, heute schon nicht mehr gefährlich; die ultramontane
Partei sei zwar die größte und eigentliche innere und äußere Zuknnftsgefahr des
Deutschen Reiches, sie habe aber für die Gegenwart mit dessen Lebensinteressen einen
klugen Scheinfrieden geschlossen. Die agrarische Partei dagegen sei die akute Gegen-
Wartsgefahr. Der beiden andern Parteien Fahne sei doch mit einem Ideal ge¬
schmückt, das allen Kreisen des Volkes und der Menschheit ein freilich nur ein¬
gebildetes Glück verheiße, in der agrarischen Partei dagegen herrsche der nackte
Klassenegoismus. — Professor or, Felix Friedrich Bruck hat in seiner bekannten
Schrift „Fort mit den Zuchthäusern" (siehe Grenzboten 1894, Seite 286 des
dritten Bandes) die Deportation empfohlen. Er ist deswegen sehr heftig angegriffen
worden, namentlich von Gefängnisdirektoren, die zwar allesamt eingestehn, daß die
Gefängnisse ihren Zweck nicht erfüllen, trotzdem aber nicht müde werden, uns die
nllcrschönstcn Früchte zu versprechen, wenn nnr erst die berühmte Gefängnisrcform
fertig sein wird, von der leider noch niemand weiß, wie sie nusseheu soll. Brück
widerlegt nnn alles, was für die Gefängnisse und gegen seine Vorschläge gesagt
worden ist, in der Schrift: Die Gegner der Deportation (Breslau, M. und
H. Marcus, 1900). Wir wünschen ihr viele vorurteilsfreie Leser. Abgesehen von
der Sträflingsfrage — möglicherweise ist der von Brück bezeichnete Weg der einzige,
auf dem wir endlich einmal zu lohnender Ausnutzung wenigstens einer unsrer
Kolonien gelangen könnten. — Ed. Sander stellt in der Broschüre: Die Massen-
armut, ihre Ursachen und ihre Beseitigung (Akademischer Verlag für soziale Wissen¬
schaften Dr. John Edelheim, Berlin-Bern, 1901) die nicht neuen Übel der kapita¬
listischen Wirtschaftsordnung in neuen Wendungen dar, zeigt mit sinnreichen
mathematischen Figuren, wie der gesunde, d. h. zinsfreie und wie der ungesunde
Güterumlauf aussieht, und schlägt zur Beseitigung der Masfenarmut die sorgfältig
ausgearbeiteten „Satzungen für den allgemeinen Sparverein Selbsthilfe" vor. Wenn
der Verein seine Wunder gewirkt haben wird, werden wir nicht verfehlen, darüber
zu berichten. Die Ausführungen des Verfassers enthalten viel Richtiges und Be¬
herzigenswertes, so z. B. den Hinweis darauf, daß ein großer Teil der heutigen
Produktion mit Unrecht diesen Namen führt, weil sie teils gar nichts, teils Schäd¬
liches produziert und nur eine nutzlose und vielfach verderbliche Vergeudung mensch¬
licher Arbeitskraft ist; so „die ganze riesige Kampfnrbeit zwischen den konkurrierenden
Händlern. Die Armee von Handlungsreisender, die gesamte Reklame- und Spionage¬
arbeit, die gesamte Geistesarbeit zur Überlistung der Konsumenten fdie Arbeit, die
das alles der Polizei und den Gerichten verursacht, hat er noch vergessen^, sie
vermag das Gesamtprodukt nicht zu vergrößer», sondern sie vermindert es genau
uni ihre Kosten." Gewiß, aber diese Riesenübel mit einem Sparverein heilen
wollen, das ist doch sehr naiv. Der Verfasser unterzeichnet als K. K, Direktor. Da
heute zwischen dem Ministerialdirektor und dem Zirkusdirektor so gar viel Spiel¬
arten dieser Würde liegen, ist man wohl berechtigt zu fragen: Direktor von was? -
Daß so mancher Kandidat der Theologie und des höher» Lehramts die Anstellung
als Hauslehrer abwarten muß, wird gewöhnlich als ein Elend und als ein Stück
soziale Frage angesehen. Karl Haase ist nicht dieser Ansicht. Er beweist in
seiner hübschen kleinen Schrift: Der moderne Hauslehrer, eine gesellschaftliche
und pädagogische Studie (Hannover und Berlin, Carl Meder, 1900), daß die
Hauslehrerei auf einem Lnndgute eine vortreffliche Schule für den jungen Mann
und eine Vorbereitung auf den zukünftigen geistlichen und Lehrerberuf sei, der keine
andre gleichkomme; auch materiell seien diese Stellen durchschnittlich gar nicht schlecht
und nützte» dem Kandidaten schon dadurch, daß sie ihm das vorzeitige Heiraten
unmöglich machten. Angehenden Hnnslehrer» erteilt der Verfasser nützliche Rat¬
schläge und Winke. — Wir fügen hier noch das eigentlich nicht ganz in diesen
Rahmen passende Schriftchen von Friedrich Paulsen an: Parteipolitik und
Moral (Dresden, v. Zahn und Jaensch, 1900). Der Verfasser zeigt darin — es
ist eigentlich ein Vortrag, den er in der Gehestiftuug zu Dresden gehalten hat —,
daß die Parteien unentbehrlich sind, und tröstet »us über die Niedertracht des
Pnrteitreibens mit dein Hinblick uns seine noch weit größere Niedertracht in ältern
Zeiten; da sich die Parteikämpfe, ebenso wie die Kriege, schon bedeutend humanisiert
»ut cthisiert hätten, so dürften nur hoffen, daß dieser Prozeß noch weiter fort¬
schreiten werde. Er stellt vier Regeln auf für den Parteikampf: l. Einen ehrlichen
Kampf kämpfen, 2. mit ehrlichen Waffen kämpfen, 3. den Menschen im Gegner
achten, 4. das Ganze über die Partei stellen. Leider ist Herr Lieber wahrscheinlich
der einzige von allen uusern Parteiführern, der zur Beichte geht, sonst würden wir
die Beichtväter der Herren Bebel, Richter, Liebermann von Sonnenberg, von Wangen-
Heim usw. bitten, daß sie ihren berühmten Beichtkindern anbefohlen, sich jeden
Morgen und Abend die vier Regeln je zehnmal laut vorzusagen.
In dem Artikel: „Zur Frage der
Aktenkassation" (Grenzboten Ur. 2 für 1901, S. 101) spricht der Verfasser den
Wunsch ans, es möge endlich einmal Leben und Bewegung in die bestaubten Akten¬
bestände gebracht werden, die bei den Behörden der kleinern Städte und Dörfer,
in den Pfarr- und Kirchenarchiven modern. Berufne Archivbeamtc sollten diese
Aktenstöße prüfen, alles geschichtlich und kulturgeschichtlich Interessante aussondern
und dieses den Staatsarchiven einverleiben.
Wer jemals Gelegenheit gehabt hat, in alten Akten zu wühlen, wer den Reiz
gekostet hat, den das Forschen und Entdecken in solchen verschollnen Schriften
gewährt, der kann dem Verfasser des Aufsatzes nur dankbar sein für seine Mahnung,
die Schätze an geschichtlichem Material, den solche verstaubten, zerfressenen Blätter
oft bergen, sorgsam zu bewahren. Darüber aber könnte man streiten, ob es wirklich
durchaus nttiig und das einzig richtige sei, die Akten den Gemeinden usw. zu
nehmen und sie in den großen Staatsarchiven aufzuspeichern. Daß sie hier vor
Verlust besser geschützt sind, ist jn keine Frage, aber die Befürchtung liegt doch
nahe, daß das wertvolle Material dann eben in den Archiven weiter „modert"
und tot bleibt wie zuvor, während es doch eben darauf ankommt, „Leben und Be¬
wegung hineinzubringen." Nur einem eng begrenzten Kreise von Personen sind
die Archive zugänglich. Der berufsmäßige Geschichtsforscher, der Statistiker und
überhaupt jeder, der irgend ein ähnliches Feld der Wissenschaft systematisch bearbeitet,
wird natürlich hoch erfreut sein, wenn er sein Forschnngsmntcrial in großen Speichern
aufgestapelt findet. Vom Standpunkte dieser Herren aus betrachtet ist es gewiß
wünschenswert, alle derartigen Akten in den Archiven zusammenzutragen.
Ist aber dieser Standpunkt wirklich der allein berechtigte? oder mit andern
Worten: Haben nur die zünftigen Gelehrten an den verjährten Akten ein Inter¬
esse? — Gewiß nicht! Niemand wird z. B. behaupten, daß es den Kunstsinn im
allgemeinen fördern heiße, wenn man alle vorhandnen Kunstwerke in den Museen
der Großstädte vereinigte. Im Gegenteil! Gerade die im Privatbesitz und an
kleinen Orten zerstreute» Gemälde, Skulpturen und Erzeugnisse des Kunsthand¬
werks, die in ihrer Vereinzelung mehr ins Auge fallen und der intimer» Betrach¬
tung zugänglich sind, wirken verhältnismäßig befruchtender und anregender als die
Massensammlungen solcher Gegenstände, zumal da diese nur zu gewisse» Stunden
und unter erschwerenden Umständen, in „Toilette" und unter den Augen mi߬
trauischer Wächter genossen werden können. Und doch ist ein Knnstgegenstnnd
weniger eng mit seinem Entstehungsorte verknüpft als etwa alte Gemeinde- und
Pfnrrakte». Wer diese studieren, wer die darin sich wiederspiegelnde» Ereignisse
»ut Kämpfe persönlicher Natur verstehn oder Vorgänge ans dem örtlichen Ver¬
fassung^ und Wirtschaftsleben ergründe» will, der muß notwendig die betreffende
Scholle und die besondre Art ihrer Bewohner in Sitte, Rechtsnnschanung und
Mundart gründlich kennen, eine Vorbedingung, die nnr dnrch langes Zusammen-
leben erfüllt wird. Wie ein uraltes Waffenstück, eine Urne oder irgend ein Stück
Hausrat aus vergangner Zeit immer lebhaftes Interesse erregt, wenn es am Fund¬
orte selbst aufbewahrt, gezeigt und besprochen wird, im Museum dagegen unter
Hunderten gleicher Art verschwindet und höchstens eine kalte, allgemeine Teilnahme
findet, so und noch weit mehr werden auch alte Akten dort den ursprünglichsten
Reiz haben, wo sie entstanden sind, wo man ihre ureigensten innern Beziehungen
versteht, ihre Nachwirkungen auf die Gegenwart unmittelbar erkennt und empfindet.
Derartige Urkunden und Schriftstücke sind wie nichts andres geeignet, anch
in den Dörfern und Kleinstädter den Sinn für Ortsgeschichte zu beleben und zu
weiterer Forschung anzuregen. Mögen diese Schriften immerhin jahrzehnte-, jahr¬
hundertelang schlummern, umso reizvoller ist dann die Aufgabe des Ritters, dem
es vorbehalten bleibt, das Dornröschen zum Leben zu erwecken.
Daß die Aufbewahrungsweise der Akten oft viel zu wünschen übrig läßt, ist
gewiß richtig, und ohne Frage hat mangelndes Verständnis den Verlust wertvoller
Stücke zur Folge gehabt. Hierin Wandel zu schaffen ist dringend nötig, und
Sache der Regierungen und der Gemeindeverwaltungen wird es sein, für Besserung
zu sorgen.
Wohl in jeder kleinen Stadt und sogar in vielen Dörfern werden sich ge¬
eignete Personen finden, die sich der Mühe unterziehn, die alten Registraturen zu
sichten und zu ordnen, wenn ihnen dazu mir eine amtliche Ermächtigung und eine
gewisse Anleitung erteilt wird. Für die weitere verständige Unterbringung und
Aufbewahrung alles Wesentlichen muß dann natürlich Sorge getragen werden.
Armen Gemeinden mag der Staat die nötigen Schränke usw. bezahlen, und den
großen Archiven soll es unbenommen sein, von allem, was ihnen zu besitzen nötig
scheint, Abschriften nehmen zu lassen. Die eigentlichen ortsgeschichtlichen Urkunden
aber gehören dorthin, wo sie entstanden, wo sie mit dem Gemeindeleben verknüpft
sind und gleichsam dessen Niederschlag bilden.
Den Sinn für die Svndergeschichte der kleinern und kleinsten Orte zu fördern,
wäre verdienstvoll und erscheint umso aussichtsvoller, als in neurer Zeit offenbar
eine lebhaftere Neigung dafür hervortritt. Möchte es dahin kommen, daß auch in
jedem kleinen Orte eine Chronik angelegt und dauernd weitergeführt wird. „Die
Müh ist klein, der Spaß ist groß," und das Interesse an solcher Arbeit wächst
über der Arbeit selbst wie der Appetit beim Essen. In vielen Fällen wird solche
Forschungsarbeit im kleinen ganz überraschend reiche und wertvolle Früchte zeitigen.
Und nun noch ein paar Worte über die Frage, wer denn wohl diese Arbeit
übernehmen soll. Nicht zu jeder Zeit und an jedem Orte wird jemand vorhanden
sein, der Neigung, Verständnis und Zeit dafür hätte, aber da es sich nicht um eine
Arbeit handelt, die notwendig innerhalb bestimmter Frist beendet werden muß, so
darf hier getrost das Sprichwort gelten: „Kommt Zeit, kommt Rat." Was heute
unmöglich wäre, kann in Jahr und Tag vielleicht mühelos erreicht werden. Auf
dem Lande wird in der Regel der Geistliche am besten in der Lage sein, aus deu
Quellen geschichtliche Nachrichten zu liefern; denn in seinen Händen ruhn die kirch¬
lichen Akten, namentlich die Kirchenbücher, die oft schon allein eine wertvolle Orts¬
chronik darstellen. Außerdem verschafft dem Geistlichen seine amtliche Stellung
leicht Zugang zu den Gemeinde- und Gutsarchiven und auch zu solchen Familien¬
akten, die andern Sterblichen unerreichbar sind. Endlich ist Wohl niemand so wie
der Pastor looi imstande, die wandelnden Geschichtsquellen des Orts zu benützen,
d. h. die „alten Leute" auszuforschen. Kurzum, es würde gerade für den Geist¬
lichen verhältnismäßig leicht sein, die Ortsgeschichte zu studieren, das Vorgefundne
zu sichten und schließlich das wesentlichste an Namen, Daten und Ereignissen zu¬
sammenzutragen zu einer knappen Chronik des Orts. Ist diese einmal geschrieben,
dann bietet die Fortführung keine großen Schwierigkeiten. Der Amtsnachfolger
wird schwerlich versäumen, das nachzutragen, was in der Zeit seines Wirkens Be¬
merkenswertes geschieht. Natürlich braucht es nicht gerade der Pfarrer zu sein;
auch der Lehrer oder irgend ein andrer Schriftgelehrter im Orte kann je nach
Umständen und Neigung der rechte Mann für unsern Zweck sein.
In jedem Falle müßte der Ortschronist es sich angelegen sein lassen, auf
geeignete Weise, sei es durch Vorträge oder durch Aufsätze im Lokalblättcheu die
ausgegrabne Ortsgeschichte weiter bekannt zu machen, um den Heimatsinn zu fördern.
Namentlich für die heranwachsende Jugend würde sich daraus eine Fülle von An¬
regung ergeben. Wie der Geographieunterricht neuerdings mit der „Heimatkunde"
einsetzt und vom Schnlhau.se ausgehend immer weitere Kreise zieht, so wird sich
auch der Geschichtsunterricht, der mit der Ortsgeschichte beginnt und an diese an¬
knüpft, dem Verständnis der Jugend am besten anpassen.
Den Bürgermeistern und Dorfschulzen aber, den Pfarrern und allen, denen
ortsgeschichtliche Urkunden anvertraut siud, möchte ich zurufen: Bewahret eure
Schätze! Hütet sie vor Feuer und Wasser, vor dem Zahn der Zeit und der Maus
Das Bäckerelend haben wir unsern Lesern wiederholt
zu Gemüte geführt. Die Verordnung des Bundesrath vom 4. März 1896 hat
es ein wenig gemildert. Daß die Bäckermeister dagegen protestieren, daß sie
jammern würden, sie müßten nun zu Grunde gehn, hat jeder, der den Lauf und
Brauch der Welt kennt, vorausgesehen. Die verbündeten Regierungen würden wohl
auch auf das Geschrei, das die Bäcker anstimmten, nichts gegeben haben, wenn diese
nicht sehr einflußreiche Gönner gefunden hätten, die mitschrieen und, so oft sich die
Bäcker zu beruhigen schienen, sie zu weiteren Schreien aufsetzten; es find dies zum
Teil dieselben Herren, die bei andern Gelegenheiten, um das Odium etwaiger Brot¬
preiserhöhung von den Getreidezöllen abzulenken, die Bäcker als Wucherer und be¬
trügerische Brotverteurer brandmarken. Diesen einflußreichen Herren zu Gefallen
sind also wiederholt Erhebungen veranstaltet worden, und es heißt, es solle eine
neue Bäckereiverorduung erlassen werden, die zwar aus hhgienischen Rücksichten die
Reinlichkeitsvorschriftcn verschärfen, den Arbeiterschutz aber vermindern werde. Das
erste wäre sehr löblich, das zweite, glauben wir nicht. Wir stimmen der Sozialen
Praxis bei (man lese den Artikel des Professors Francke in der Nummer vom
28. Februar), daß es ein Skandal wäre, wenn die verbündeten Regierungen, wie
einige Blätter berichten, an die Stelle des zwölfstündigen Maxiinalarbeitstages eine
zehnstündige Minimalrnhezeit für Gesellen und eine zwölfstündige für Lehrlinge
treten lassen, in besondern Fällen aber sechzehn- bis siebzehnstündigc Arbcitsschichten
für Gesellen und fünfzehnstündige für Lehrlinge zulassen wollten. Man muß doch
bedenken, daß es sich um Nachtarbeit handelt! Solange sich der Staat mit einem
Zweige der gewerbliche» Arbeitsverhältnisse noch nicht befaßt hat, ist er für das,
was darin vorkommt, nicht verantwortlich; hat er sich aber einmal der Sache an¬
genommen, dann trägt er für alle darin vorkommenden Übelstände die Verant¬
wortung — natürlich nicht allein, aber doch mit. Die bestehende Bäckereiverord¬
nung kann nnr als ein erster Schritt angesehen werden. Statt zurückzuweichen,
muß der Staat weitergehn- die Nachtarbeit in den Bäckereien muß gänzlich ver¬
boten werden. Daß das hochgeneigte Publikum zum Frühstückkaffee frischbackne
Semmeln bekomme, ist ganz und gar nicht notwendig; unbedingt notwendig aber
ist es, daß ein Staat, der auf den Namen eines Kultnrstaats Anspruch erhebt, und
der jetzt schon sogar die Tierquälerei bestraft, jede in seinem Bereich vorkommende
unwürdige Massenmenschenschinderei verhindere.
ein vom Provinzialpatriotismus
begeisterter Schlesier, hat, Holtet nachstrebend, ein Bändchen Gedichte in schlesischer
Mundart veröffentlicht und verschiedne Beitrage zur Heimatkunde seiner Provinz
geliefert. Es verdrießt ihn, daß sein geliebter Dialekt bis jetzt vorzugsweise zu
Schnurren und Schnaken verwandt worden ist, „als ob die Schlesier ein Volk von
lauter Heiterlingen und Possenreißern wären," und nachdem Gerhart Hauptmann
das Schlesische bühnenfähig gemacht hat, will er zeigen, daß man e-Z auch dazu
verwenden könne, ernste Probleme in der Form der poetischen Erzählung oder des
Epos zu behandeln. Er betitelt seine Dichtung, die der Verlag von Banmert und
Ronge in Großenhain und Leipzig mit einem unglaublich geschmacklosen Umschlage
verunziert hat, Leutenot. Der Titel führt insofern irre, als die bekannte agrarische
Leutenot darin zwar kurz besprochen wird und auf deu Verlauf der Begebenheiten
einigen Einfluß übt, aber keineswegs der Angelpunkt und die treibende Kraft ist.
Seine Absicht, zu zeigen, daß sich ernste Betrachtungen und Erörterungen in diesem
Gewände ganz gut ausnehmen, hat der Verfasser, der übrigens den Vers mit
großem Geschick handhabt, erreicht, und er hat außerdem eine Fülle naturgetreuer
Bilder aus dem schlesischen Dorfleben geschaffen. Aber die Anlage seiner Erzählung
müssen wir leider für verfehlt erklären. Ihr Held ist ein talentvoller, sinniger
und träumerischer Weberjunge, dessen Streben, aufs Gymnasium zu kommen, an der
Hartherzigkeit und Gleichartigkeit seiner bäuerlichen Umgebung scheitert. Er wird
gezwungen, beim Schulzen als Kuhhirt zu dienen, entläuft der ihn mißhandelnden
Herrschaft, verbummelt in der Fremde, kommt mittellos heim, erlangt die Stelle
des Bälgetreters, Läuters und Totengräbers, wird aber vom Schulzensohn in
den Tod getrieben. Als Schuljunge hatte er sich von diesem feigerweise verleiten
lassen, bei der Verrückung eines Steges zu helfen, die den Tod des guten Pfarrers
zur Folge hatte, wird um von dem Hauptthäler den Dorflenten als Mörder
des Pfarrers denunziert, und so vereinigen sich Gewissensbisse, Furcht vor dem
Zuchthause und der Gedanke, daß er in dem Dorfe unmöglich geworden sei, ihn
zum äußerste» zu treiben: er hängt sich am Glockenstrang auf. Abgesehen davon,
daß ein Held, der nicht im mutigen Kampfe, sondern ans Schwäche untergeht,
nur bei Dekadenten als Held gelten kann, ist der Untergang gar nicht motiviert.
Einmal scheint es, als solle das Bauernprotzentnm, das den Sohn des Armen
nicht aufkommen lasse» will, als Ursache des Untergangs des armen Hans gelten —
aber in der Fremde konnten ihm doch die Bauern nichts mehr anhaben; dann
wieder scheint sein Vergeh», dessen Wirkuug von keinem der beiden Thäter beab¬
sichtigt war, den Untergang verursachen zu sollen, aber ein Knabenstreich begründet
keine tragische Schuld. Hoffentlich entschließt sich der Verfasser dazu, den zweiten
Teil seiner als Sittengemälde und Sprachdenkmal zweifellos wertvollen Erzählung
umzudichten und der außerschlesischen Welt zu zeigen, daß auch der „gemiedliche
Schläsinger" ein Kerl ist, der es in der Welt zu etwas bringt und nicht nötig hat,
sich schon mit zwanzig Jahren aufzuhängen.
Vielleicht interessiert es einen oder den andern der
Grenzbotenleser, zu erfahren, daß das in Heft 39 vom vergangnen Jahre in dem
Artikel „Weiteres über Ibsen" erwähnte Gedicht von dem Jugendschriftsteller
Christoph von Schmid ist und sich in dem 17. Bändchen seiner gesammelten
Schriften (Originalausgabe von letzter Hand, Augsburg, Verlag der Wolffischen
Buchhandlung/1844) vorfindet. Es führt dort den Titel: „Gott macht alles wohl,
oder das Glnsgemcilde."
W
nunc>n der Thronrede vom 14. Dezember wurde die Hoffnung aus¬
gesprochen, das; der Entwurf des neuen Zolltarifgesetzes noch im
Laufe des Winters dem Bundesrat werde zugehn können. Das
Frühjahr ist da, aber der Entwurf ist noch nicht beim Bundes¬
rat. Wenn das Verlangen nach gesetzlicher Festlegung von Mi-
für die landwirtschaftlichen Produkte im Generaltarif, wie es die
Agrarier mit großem Ungestüm in der Öffentlichkeit und Wohl auch hinter den
Thüren der Beratungszimmer im Reichsamt des Innern erhoben haben, nicht
in Frage gekommen wäre, würden die Herren Bnndesratsmitglieder wohl schon
die Osterferien zum Studium des Entwurfs haben benutzen können. Wir wissen
freilich nicht, ob man bei der Abfassung der Thronrede schon mit der Auf¬
nahme von Miuimalzölleu gerechnet hat, jedenfalls aber mußte der Tarif¬
entwurf zu einer sehr viel schwierigern und langwierigem Arbeit werden, wenn
man sich über die Abmessung von Mindestsätze!, der Agrarzölle, unter die bei
den zukünftigen Haudelsvertragsverhandlungcn nicht heruntergegangen werden
darf, jetzt schon schlüssig macheu mußte, als wenn man sich vorläufig damit
hätte begnügen können, in den Generaltarif verhältnismäßig hohe Agrarzölle
aufzunehmen, die dann je nach den uns vom Ausland gewährten Zoll¬
begünstigungen und je nach dem Stande des Schntzbedürfnisses unsrer Land¬
wirtschaft in den Verträgen herabzusetzeii gewesen wären. Die Frage, ob
Miuimalzölle oder nicht, konnte natürlich nicht beantwortet werden, wenn man
nicht zugleich die zweite Frage beantwortete, wie hoch sie festzulegen seien.
Schon indem die Agrarier die Regierung veranlaßten, die erste Frage überhaupt
zu erwägen, haben sie die Frage nach der Höhe der vom 1. Januar 1904 ab
notwendigen Agrarzölle, unter denen die Getreidezölle und unter diesen wieder
die Zölle auf Brodgetreide die wichtigsten sind, in deu Vordergrund der Dis¬
kussion geschoben und dadurch ganz wesentlich dazu beigetragen, daß die Vor¬
lage nicht eher an den Bundesrat und an deu Reichstag gekommen ist. Also
muß man ihnen sagen, wenn sie jetzt im Ton des Vorwurfs in die Regierung
auf Beschleunigung der Vorlage bringen und den Reichskanzler scharf an die
Einlösung seiner Zusage mahnen, daß sie selbst die Schuld an der angeblichen
Verschleppung tragen.
Daß sich die mit der Ausarbeitung des Entwurfs betrauten verantwort¬
lichen Stellen im Reich und auch die ausschlaggebenden Regierungen der
Einzelstciateu, die doch zuerst gehört werden mußten, sehr eingehend mit der
Frage eines Minimalmaßes der Getreidezölle beschäftigt haben, das wegen des
landwirtschaftlichen Notstands bei den kommenden Handelsvertragsverhand-
lungen unter allen Umständen festgehalten werden muß, und daß sie sich noch
damit beschäftigen, steht fest. Das würde auch dann keine Verlorne Mühe ge¬
wesen sein, wenn schließlich gar keine Minimalsätze in den Entwurf und in den
Generaltarif selbst aufgenommen würden. Es ist notwendig — heute mehr
als jemals —, daß der Kaiser, der nach der Reichsverfassung das Recht hat,
persönlich das Reich völkerrechtlich zu vertreten und Verträge mit fremden
Staaten einzugehn, bei den bevorstehenden Handelsvertragsverhandlungen selbst
auf das genauste unterrichtet ist und bei den ihm für diese Verhandlungen zur
Verfügung stehenden verantwortlichen Beamten, insbesondre beim Reichskanzler die
gründlichste Orientierung über das Minimum des landwirtschaftlichen Notstand¬
schutzes, unter das bei den Verträgen nicht heruntergegangen werden darf,
voraussetzen kann. Gerade weil zum „Abschluß" von Handelsverträgen ver¬
fassungsmäßig die „Zustimmung" des Bundesrath und zu ihrer „Giltigkeit"
die „Genehmigung" des Reichstags erforderlich ist, können diese Jnformations-
arbeiten gar nicht gründlich genug ausgeführt werden. In der öffentlichen
Meinung, auf die etwas ankommt, darf anf keinen Fall der Irrtum auf¬
kommen, als ob der Kaiser, der Bundesrat und der Kanzler es daran hätten
fehlen lassen, sich genau zu informieren. Es müßte doch im höchsten Grade
beklagt werden, wenn schließlich der Reichstag Handelsverträge, die der Kaiser
vereinbart hat, durch die Bersagung seiner Genehmigung für ungiltig erklärte.
Sollten sich aber die Mehrheitsparteien zu einem solchen Verhalten verleiten
lassen, so werden der Kaiser und die Fürsten nach so eingehenden In¬
formationen gegen eine solche Opposition den Kampf bis zum vollständigen
Siege mit gutem Gewissen durchfechten. Des bequemen Vorwauds aller
hartnäckigen Opponenten auf der rechten Seite, von dem schlecht unterrichteten
an deu besser zu unterrichtenden Monarchen zu appellieren, haben sich die
Agrarier durch ihr Verlangen nach der Festlegung von Minimalsätzen im
Generaltarif ein für alle mal beraubt, denn wer nicht lügen will, muß aner¬
kennen, daß sich der Kaiser und Graf Bttlvw gar nicht noch umfassender,
gründlicher und mit größerer Zuvorkommenheit gegen die Anschauungen der
landwirtschaftlichen Interessenten über die Lage der Dinge Hütten unterrichten
können, als sie es gethan haben und zu thun fortfahren. Der Vorwurf,
daß der .Kaiser das Recht zum Vertragsabschluß ohne die nötige Kenntnis
der Sachlage voreilig und pflichtwidrig gebraucht habe, war schon bei dem
Abschluß der jetzt geltenden Verträge ebenso unberechtigt wie unerhört im
Munde sich konservativ und monarchisch nennender Leute, Jetzt würde er
aber ein solches Übermaß dreister UnWahrhaftigkeit und Auflehnung bedeuten,
daß den Herren Opponenten wohl doch noch zur rechten Zeit vor den Konse¬
quenzen bange werden wird.
Ob an den einzelnen Stelle« im Reich und in den Einzelstaaten, die sich
bisher mit dem Tarifentwurf beschäftigt haben, die Entscheidung für die Auf¬
nahme von Minimalzöllen gefallen ist, wissen wir nicht. Nach allem, was in
der Presse verlautet, scheint allerdings in diesen Kreisen eine so starke Strö¬
mung dafür geherrscht zu haben, daß vielfach, zumal auf agrarischer Seite,
wo es gewünscht wird, der Sieg der Minimalzölluer für sicher gehalten wird.
Kommt der Tarif mit Minimalzöllen an den Bundesrat, so wird er mit ihnen
auch an den Reichstag kommen und von ihm angenommen werden. Ob
wirklich der Inhalt des Entwurfs schon feststeht, ob sich namentlich der Reichs¬
kanzler - - natürlich mit Genehmigung des Kaisers — endgiltig für die Festlegung
von Minimalzöllcn entschieden hat, ist jedenfalls im Augenblick noch unbekannt.
Ist es der Fall, so wird man sich wohl auch über die Höhe der Minimal¬
zölle schlüssig gemacht haben. Aber weder über die Aufnahme noch über die
Höhe dieser Zölle braucht der Kanzler oder der Bundesrat etwas beknunt zu
machen. Sie können alles im Dunkel lassen, bis der Reichstag den Entwurf
in der Hand hat. Vielleicht wird es so kommen, vielleicht wird da oder dort
an amtlicher Stelle eine Erklärung gegeben, eine Andeutung gemacht werden,
die mehr oder weniger Licht verbreitet, je nachdem die Lage der innern oder
auch der äußern Politik es eben wünschenswert erscheinen läßt. Wir können
vorläufig weder Vermutungen aussprechen, noch haben wir irgend welche
Wünsche in dieser Beziehung. Man hat das einfach abzuwarten, so neugierig
man sein mag. Gerade hierbei sollten sich wirklich konservative Politiker des
Drängens enthalten.
Die ziemlich durchsichtige Geschichte des Verlangens nach Miuimalzöllen
zeigt die Gründe dafür in wenig erfreulichem Licht. Die zeitweilige Schwärmerei
für den Doppeltarif auf Grund der angeblich günstigen Erfahrungen, die man
im Ausland damit gemacht habe, wurde ziemlich bald auch von strikt schutz-
zölluerischer Seite als haltlos oder unwahr nachgewiesen. Die bekannte Denk¬
schrift des Zentralverbands deutscher Industrieller hat der Sache das Lebens¬
licht ausgeblasen. Gerade die Erfahrungen andrer Staaten lehren, daß der
Doppeltarif dem Zustandekommen der Gesamtheit günstiger Handelsverträge
unüberwindliche Schwierigkeiten bereiten kann, wenn man nicht im Fall des
erwünschten Vertragsschlusses doch nnter die festgelegten Minimalzölle hinab¬
gehn will, oder diese Minimalzölle von vornherein so niedrig bemißt, wie es
nur irgend geht. Den ausländischen Staaten gegenüber, mit denen zu einem
Tarifvertrag zu kommen für uns wirklich wichtig ist, bedeutet das Inkrafttreten
des Maximaltarifs einfach den Zollkrieg, und auf der andern Seite deckt ihnen
der Minimaltarif vorzeitig die .Karten auf. Jedenfalls sind dadurch die Unter-
Händler und das Auswärtige Amt und schließlich das Staatsoberhaupt bei den
Unterhandlungen mit den auswärtigen Regierungen in hohem Grade gelähmt
und gehindert.
In der Kölnischen Zeitung konnte man allerdings vor kurzem lesen, daß
die „maßgebenden Mitglieder der Reichsregierung" (?), wie seit Monaten be¬
kannt sei, überzeugt wären, daß es für das Zustandekommen der Handelsver¬
träge von großem Vorteil sein würde, wenn die Erhöhungen der Getreidezölle,
die „diese Regierungskreise" unter allen Umständen im Interesse der deutschen
Landwirtschaft für notwendig hielten und durchführen wollten, von vornherein
im Zolltarif als „Mindestzoll" gesetzlich festgelegt würden, denn je klarer den
auswärtigen Regierungen gemacht werde, daß bei den Handelsvertragsverhand-
lungeu der Versuch, an diesen Mindestzöllen etwas abzubröckeln, vollständig
aussichtslos sei, umso rascher und zuverlässiger werde eine Grundlage für die
übrigen Zollverhandlungen gegeben sein. Aber das ist denn doch angesichts
der nach der Denkschrift des Zentralverbands im Auslande gemachten Er¬
sahrungen und bei der ganzen heutigen Sachlage im Reiche und bei seinen
Gegenkontrahenten ein sehr schlechter, sehr doktrinärer, an den Haaren herbei-
gezvgner Trost. Daß unser Auswärtiges Amt den ausländischen Regierungen
ganz klar macht, daß unter die vom Kaiser als notwendig erkannte Höhe der
landwirtschaftlichen Notstandszölle nicht heruntergegangen werden wird, versteht
sich von selbst, aber dazu bedarf es doch nicht eines gesetzgeberischen Aktes,
der unter bestimmter Benennung des Zollsatzes den Kaiser und seine Unter¬
händler von vornherein in dieser bisher bei uns ungewöhnlichen Weise bindet.
Glaubt man denn, daß das Ausland nicht weiß, daß ein solcher Akt, ebenso
wie er entstanden sein würde, auch in Dentschland durch die Gesetzgebung
wieder beseitigt werde» könnte, wenn es darauf ankäme? Glaubt man, daß
das Ausland vor dem Majoritätsbeschluß des Reichstags uach einer Agitation,
wie wir sie jetzt in der Agrarzollfrage erleben, mehr Respekt haben wird als
vor den bestimmten Erklärungen des verfassungsmäßig zum Vertragsschluß be¬
rufnen Monarchen? Glaubt man denn nicht, daß nach allem, was bisher vor¬
gekommen ist, ans die fremden Staatsmänner diese bei uns ungewöhnliche
gesetzliche Festlegung von Minimaltarifen im Generaltarif auch den Eindruck
machen kann, daß die Regierung vielleicht nur einer gerade jetzt übermächtigen
Partcipression nachgäbe und sich durch die Neichstagsmehrheit die Hände binden
lasse, und daß deshalb die ausländischen Regierungen nur umsomehr Chancen
hätten bei hartnäckigem Widerstand und, Wenns sein müßte, bei einem Zoll¬
krieg? Es sollte uns doch wundern, wenn die Weisheit der Kölnischen Zeitung
im Auswärtigen Amt ihren Ursprung genommen hätte. Es war dort sonst
nicht üblich, dem Wille» und der nicht angezweifelten Vollmacht des Kaisers
erst Festigkeit und Geltung zu verschaffen durch eine aä Koo herbeigeführte
vorgreifende Willenskundgebung der jeweiligen Reichstagsmehrheit. Gerade im
Auswärtigen Amt kann man doch eine solche präventive Bindung der Aktions-
freiheit des Monarchen im Verhandeln mit den: Auslande mir unter ganz be-
sondern Ausnahmeverhältnissen für angebracht halten, die hier schwerlich vor¬
liegen. Gerade im Auswärtigen Amt mußte man normalerweise dem Auslande
gegenüber den persönlichen Willen, die Sachkenntnis und die Pflichttreue des
Souveräns für die vollkommenste, beste, unantastbarste Sicherheit dafür halten,
daß die landwirtschaftlichen Minimalzölle durch die Vertragsverhandlungen nicht
unter das Maß hinabgedrückt werden können, das ,,unter allen Umständen im
Interesse der deutschen Landwirtschaft" aufrecht erhalten werden muß. Daß
staatsrechtlich die Festlegung von Minimaltarifen einen unzulässigen Eingriff
in das Recht des Kaisers bedeute, wie von den Gelehrten des „Handelsver¬
tragsvereins" eingewandt wird, trifft, wenn überhaupt, jedenfalls dann uicht
zu, wenn der Kaiser als König von Preußen die preußischen Stimmen in,
Bundesrat für die Minimalzölle abgeben läßt und dadurch kundgiebt, daß er
sich der Bindung unterwirft. VolsM non M wM-in. Wenn die Minimalzölle
vor den Bundesrat kommen, so muß Preußen sie gebilligt haben, und wenn
Preußen gegen sie votierte, ist ihre Annahme im Bundesrat ausgeschlossen.
In Wahrheit ist der Grund des agrarischen Drängens auf Minimalzölle
das völlig ungerechtfertigte und ungehörige, seit Jahren durch die Agitation
unter den Landwirten geschürte Mißtrauen, daß der.Kaiser nicht die Festigkeit
habe, zu verhindern, daß die landwirtschaftlichen Notstandszölle bei den Handels¬
vertragsverhandlungen unter die gebotne Höhe hinabgedrückt würden. Viele
hundert mal ist allein seit Jahresfrist dieses Mißtrauen in Schrift und Wort
ganz unverblümt ausgesprochen worden. Es heißt sich blind stellen, will man
das nicht zugeben. Und an diesem Mißverhalten beteiligen sich leider die
konservativen Parteimänner und Parteiblätter nicht nur vor der großen kritik¬
losen Masse ihrer Anhänger und Leser im Inland, sondern auch vor dem
gesamten Ausland, als ob sich das so ganz von selbst verstünde, nicht jeder
wahrhaft konservativen und monarchischen Gesinnung, wie die Sachen notorisch
bei uns liegen, ins Gesicht schlüge. Die agrarkonservativen Herren, namentlich
auch die in den „Regierungskreisen," sollten es sich doch endlich einmal über¬
legen, was das heißt, ausgesprochnermaßen aus Mißtrauen gegen den Mon¬
archen zur Lähmung seiner Aktionsfreiheit im Verhandeln mit dem Ausland
die augenblickliche Rcichstagsmehrheit zu Hilfe zu rufen und in kaum je er¬
lebtem Maße die Landbevölkerung mobil zu machen. Selbstverständlich hat
jeder Konservative das Recht und auch die Pflicht, für das Maß agrarischen
Notstandschutzes einzutreten, das er als unerläßlich erkannt hat. Aber er hat
als konservativer Monarchist auch die Pflicht, wo er seine Ansicht im Wider¬
spruch glaubt mit der Ansicht der Regierung und des Monarchen, doppelt und
dreifach vorsichtig und gründlich zu prüfen, ob er auch wirklich im Interesse
des Ganzen die Dinge besser beurteile und das Bessere wolle. Wer verfolgt
hat, in welcher Weise seit Jahr und Tag die Festlegung erhöhter Minimal¬
sätze für die landwirtschaftlichen Produkte von der agrarischen Partei gefordert
wird, der weiß, daß das Gefühl für diese Pflicht so gut wie ganz verloren
gegangen ist. Und das alles vollends, nachdem der Kaiser durch den Reichs-
kcmzler in unzweideutigster Form der deutschen Landwirtschaft einen „ange¬
messenen" und zwar „höhern" Zollschutz hat versprechen lassen. Unsers Tr¬
achtens hätte für die konservativen Parteien mit diesem Versprechen das Ver¬
langen nach Minimalzöllen im Generaltarif gegenstandslos werden müssen.
Wenn sich die entscheidenden Stellen trotzdem genötigt sehen sollten, dem Ver¬
langen zu entsprechen, so würden wir das lebhaft bedauern als einen neuen
Beweis der traurigen Verfahrenheit und Unhaltbarkeit unsrer ganzen innern
politischen Lage, an der die Entartung des heutigen Parteikonservatismus,
und zwar nicht am wenigsten, soweit sie bis in die „Regierungskreise" hinein
reicht, ganz wesentlich die Schuld trägt. Man wird oben gewiß pflichtmäßig
erwogen haben, ob und wie weit es nötig war, dieser ungesunden Situation
nun auch noch die Konzession der Minimalzölle zu machen. Das Vaterland
wird ja auch daran nicht zu Grunde gehn, wenn wir nur endlich bald aus
dieser Ära der Konzessionen und Kapitulationen wieder heraus kommen, und
die Monarchie im Reich auch einem parlamentarischen Parteiregiment gegen¬
über, das unter konservativer Flagge segelt, wieder „stabiliere" wird, als ein
Fels von Erz vor dem Inland wie vor dem Ausland.
Ebenso unzweideutig wie der Reichskanzler vom Kaiser ermächtigt worden
ist, der Landwirtschaft einen „angemessenen" und „erhöhten" Zollschutz zu ver¬
sprechen, hat er sich für die Fortsetzung der Handelsvertragspolitik mit den
durch die heutigen Verhältnisse begründeten Verbesserungen erklärt. Es war
ja auch ganz ausgeschlossen, daß der Kaiser nach allem, was er persönlich und
in seinem Namen Graf von Bülow über Wesen und Ziel seiner wirtschaft¬
lichen Weltpolitik wiederholt und konsequent mit großem Nachdruck kundgegeben
hat, die Bedeutung der Handelsverträge als das vornehmste Mittel zur fried¬
lichen Expansion unsrer Erwerbssphäre so weit unterschützen könnte, daß er sie
den agrarischen Ansprüchen einfach preisgäbe. Wie sehr man davon auch in agra¬
rischen Kreisen überzeugt ist, wird gerade durch das Ungestüm und die Schärfe
der Kampfesweise dieser in der Mehrzahl konservativen Parteien angehörenden
Leute am besten bewiesen. Man sieht ein, daß der Kaiser nicht der Mann
ist, der sich die Höhe der Agrarzölle von den Agrariern diktieren lassen wird.
Das bringt die Herren ganz aus dem Häuschen, obgleich sie konservativ sein
wollen, und obgleich sie einsehen müßten, daß gerade der agrarischen Mehrheit
im Reichstage gegenüber der Kaiser die Pflicht hat zu sagen: Ich vertrete die
Gesamtheit, ich unterschreibe deshalb keinen Zoll, den ich nicht will! Die ganze
Situation kann nur richtig beurteilt werden, wenn man sich unausgesetzt vor
Augen hält, daß die Agrarier die parlamentarische Mehrheit und damit auch
die parlamentarische Macht in Händen haben. Soweit es ans den Reichstag
ankommt, besteht also nicht die Gefahr zu niedriger, sondern die Gefahr zu
hoher Getreidezölle. Man rede doch nicht fortwährend im Brustton tiefster
Überzeugung oder eigentlich unerhörter Anmaßung von der pflichtmäßigen Ge¬
neigtheit der agrarischen Machthaber, nicht etwa die eignen Sonderinteressen,
sondern das Gesamtinteresse zu wahren. Das sagt bekanntlich jede parlamen-
karische Partei von sich, mag sie in der Mehrheit oder in der Minderheit sein.
Aber wenn sie in der Mehrheit ist. hat sie dazu auch nicht einen Funken mehr
Recht, ja sie wird dadurch in der Regel vielmehr für das Gesamtinteresse nur
um so gefährlicher. Es hieße das Wesen und den Zweck unsrer monarchischen
Institution leugnen, wollte man die Pflicht des Kaisers bestreiten, gegen die
Macht der parlamentarischen Mehrheit seine Macht in die Wagschale zu werfen,
d. h. in diesem Fall gegen zu hohe Agrarzvlle aufzutreten und so niedrige
durchzusetzen, daß die von ihm im Gesamtinteresse für nötig erkannte Handels-
vertrngspolitik nicht unmöglich gemacht oder unerträglich erschwert wird. Mit
einer fast überraschenden Versöhnlichkeit, die nach dem fast zehn Jahre lang fort¬
gesetzten sachlich und in der Form mehr als ungehörigen Verhalten der agrarisch¬
konservativen Fronde gegen den Kaiser gar nicht hoch genug angeschlagen
werden kann, hat der Reichskanzler der parlamentarischen Mehrheit erklärt,
daß die Regierung mit ihr, nicht gegen sie die Agrarzollfrage regeln wolle.
Aber verzichtet hat der Kaiser noch lange nicht auf sein Recht, die Regelung
much gegen den Willen der Agrarier durchzuführen, wenn diese und die Reichs¬
tagsmehrheit nicht rechtzeitig zur Besinnung kommen und von dein Versuch
abstehn, dnrch ihre Macht die kaiserliche Pflichterfüllung zu vereiteln. Die
Herren Agrarier sollten nicht vergessen, daß bei fernerm Widerstande sich der
Kaiser nicht nur das Recht, sondern unter Umständen auch die Pflicht zu¬
sprechen könnte, die Parlamentsmehrheit einfach dadurch muss trockne zu setzen,
daß er die laufenden Handelsverträge vorläufig nicht kündigen läßt. Wir halten
eine Revision der Handelsverträge aus verschiednen Gründen für dringend er¬
wünscht, aber wenn es zur Wahl kommt zwischen der Verlängerung des heutigen
Verhältnisses um einige Jahre einerseits und einem Zollkrieg von unabsehbarer
Dauer oder dem definitiven Absperrungssystem im extremen agrarischen hoch-
schutzzölluerischcn Sinne andrerseits, dann ist gerade vom vernünftig konser¬
vativen Standpunkt ganz entschieden der vorläufigen Verlängerung der alten
Verträge der Vorzug zu geben. Eine konservative Handelspolitik bricht nicht
die bestehenden Beziehungen ab, einem Sprung ins Ungewisse zuliebe. Gerade
bei der Wahrscheinlichkeit, der wir uns leider nicht ganz verschließen können,
daß agrarische Minimalzölle in den Entwurf des Generaltarifs aufgenommen
werden, muß mit der Möglichkeit der Nichttündigung der Handelsverträge von
deutscher Seite gerechnet werden. Hohe Getreidezölle als Minimalzölle kann
und will der Kaiser im Verhandlungstarif nicht zulassen, und die verbündeten
Regierungen werden dabei zweifellos auf seiner Seite stehn. Wir werden nur
eine mäßige Erhöhung der Getreidezölle haben, oder gar keine.
Es ist auch vou Leuten, die ernst genommen werden können, Wissen¬
schaftlern wie Praktikern, seit Jahr und Tag über die zulässige und notwendige
Höhe der neuen Getreidezölle viel gesprochen und geschrieben worden. Es
herrscht dabei eine ganz erstaunliche Verschiedenheit in den Behauptungen und
eine noch größere in ihrer Begründung. Wir haben trotz redlichen Bemühens
beim Studium dieser Forschungen, Untersuchungen, Denkschriften, oder wie sie
sich sonst nennen, über ein non liaust nicht hinauszukommen vermocht, und
wir können deshalb und auf Grund eigner Anschauung vorläufig nur das
Urteil abgeben, zu dem auch Conrad gelangt: es bleibe, wie es ist; weder ist
eine Erhöhung als nötig nachgewiesen, noch erscheint eine Herabsetzung zulässig.
Selbstverständlich soll damit nicht gesagt sein, daß, wenn die Regierung eine
müßige Erhöhung für angezeigt hält, das als eine sachlich unbegründete Kon¬
zession an die agrarische Begehrlichkeit betrachtet werden müßte. Jedenfalls
kann die Regierung durch ihre weitaus umfassendere und gründlichere Über¬
sicht über die Sachlage zu einer solchen Entscheidung gelangt sein. Grund¬
sätzlich bekämpfen wir die Behauptung, daß eine mäßige Erhöhung unter allen
Umständen verwerflich sei, und die Regierung, wenn sie ihr zustimmt, den
„Brotwucher" sanktioniere. Das sind ebenso agitatorische Übertreibungen, die
den berechtigten Widerstand gegen das Übermaß der agrarischen Forderungen
nur lahmen können, wie es agitatorische Übertreibung ist, wenn auf der andern
Seite die sozial nachteilige Belastung gerade der nichtbesitzenden Klassen durch
die Brotkornzölle geleugnet, ihre Erhöhung wohl gar als sozialer Fortschritt
gepriesen wird. Wir wollen uns mit diesem widerwärtigen Treiben hier nicht
weiter abgeben, an entscheidender Stelle erfährt es jedenfalls die gebührende
Nichtbeachtung.
Unter den Schriften, die vom agrarischen Standpunkt die Frage der Ab¬
messung erhöhter Minimalzölle im Generaltarif behandelt haben, waren wir
von vornherein geneigt am ernstesten zu nehmen die Arbeit des Dr. Date, die
der Verein für Sozialpolitik unter Schmollers Leitung im zweiten Bande der
von ihm herausgegebnen „Beiträge zur neusten Handelspolitik Deutschlands"
veröffentlicht hat. Wie schon früher in den Grenzboten mitgeteilt worden ist,
sollen diese Beiträge nach dem Schmollerschcn Vorwort im Unterschiede von
den Publikationen der großen, über viel Geldmittel und einen „gut besoldeten
Stab von geschulten Sekretären und Mitarbeitern" verfügenden Jnteressenver-
bände, die mit so viel Geschick und Nachdruck die Sonderinteressen ihrer Auftrag¬
geber zur Geltung zu bringen wüßten, der unbefangne» Stimme der Wissenschaft
Gehör verschaffen. Daß nun gerade in dieser Sammlung Date, der der General¬
sekretär des deutschen Landwirtschaftsrats, der heute mächtigsten Interessenver¬
tretung, ist, mit dem Korreferat zu der schon im ersten Bande veröffentlichten
Arbeit des Professor Conrad in Halle über die Agrarzölle betraut worden war,
mußte die Aufmerksamkeit natürlich auf seine Ausführungen in besondern: Maße
hinlenken. Date verfügte bei seinem Verhältnis zu der obersten Interessen
Vertretung der deutschen Landwirtschaft jedenfalls über ein ganz besonders um¬
fassendes Material zur Beurteilung der notwendigen Höhe landwirtschaftlicher
Minimalzölle. Das Neichsmnt des Innern hatte sich ja selbst bei seinen Er¬
hebungen ganz wesentlich auf den deutschen Landwirtschnftsrat gestützt und ver¬
lassen. Date kommt nun in seiner Abhandlung zu folgender hier interessiereuder
Forderung: „Als für den deutschen Ackerbau erforderlicher Zollschutz würden
danach etwa folgende feste Zollsätze eines Minimal- oder Vertragstarifs zu befür-
Worten sein- K Mark für den Doppelzentner Weizen, 5 Mark für Roggen, 3 Mark
50 Pfennige für Hafer und Braugerste, ferner als reine Finanzzölle: 1 Mark
für Futtergerste, Mais, Kleie und Ölkuchen. Sollte eine zolltechnische Unter¬
scheidung zwischen Brau- und Futtergerste nach der Beschaffenheit der Ware
oder »ach Herkunftsläudern nicht durchführbar sein, so wird ein Gerstenzoll
von 3 Mark noch gerechtfertigt erscheinen. Im Interesse der Viehzucht sind
höhere Zölle uns lebendes Vieh und Fleisch erforderlich, besonders für den
Fall, daß die veterinärpolizeilicheu Beschränkungen der Einfuhr ganz oder zum
Teil aufgehoben werden."
Beschränken wir uns auf die Getreidezölle, so interessiert zunächst die
Zusammenstellung der Dadischeu Zollsätze mit denen des zur Zeit geltendem
Vertrags- und Generaltarifs unter Verzicht auf die Trennung von Brau- und
Futtergerste. Die Zollsätze sind:
Dagegen hatte Professor Conrad die Beibehaltung der bisherigen Sätze
(Vertragstarif) für das Brodgetreide ,,im ganzen für das angemessenste" erklärt
und nur für Braugerste die Heraufsctzung auf die Höhe des Roggenzolls, für
den Hafer aber Beseitigung des Zolls befürwortet. Wenn aber, wie zu er¬
warte» sei, eine Erhöhung in Aussicht genommen werden sollte, so müsse er
besonders nachdrücklich gegen eine solche beim Roggen eintreten. Erinnert sei
hier zugleich daran, daß Buchenberger schon 1897 in seinenGrundzügen der
Agrarpolitik" sein Urteil dahin abgegeben hat, „daß bei Fortdauer der jetzigen
Weltgetreideproduktion der Zoll für Getreide und Mehl kaum unter die jetzt
bestehenden Zollsätze (Vertragstarif) wird heruntergesetzt werden köunen, aber
auch die Sätze der Zolltarifnovelle vom Jahre 1897 (Generaltarif) wohl stets
als äußerste Grenze der Zollbemessung zu gelten haben werden." Ähnlich
urteilt 1899 in seine» Vorlesungen über Agrarwesen und Agrarpolitik" auch
Freiherr von der Goltz: ,,Würde für den Augenblick eine neue gesetzliche
Fixierung notwendig sein, so würde ich 3,50 Mark als den niedrigsten, 5 Mark
als den höchsten zulässigen Zoll für den Doppelzentner Roggen und Weizen
bezeichne»." Wenn uun auch Date für den Weizen 6 Mark in ninno
verlangt, also ziemlich hoch über das Maximalmaß vou Buchenberger und von
der Goltz hinausgeht, so müssen wir seine Vorschläge im Vergleich mit den von
den agrarischen Interessenvertretungen, soweit sie sich geäußert haben, verlangten
Zollsätzen von etwa 7 bis 7,50 Mark und noch höher für Weizen und Roggen
und in Anbetracht seiner Stellung als Generalsekretär des deutschen Landwirt¬
schaftsrats immerhin als noch ziemlich maßvoll anerkennen. Geht man aber
auf die Begründung dieser Vorschläge ein, so erstaunt mau geradezu über de»
Mangel eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen den Minimalzollsätzen
Dades und der Masse des von ihm als Unterlage angehäufte» statistischen
und andern Materials, Die ganze Gichtbrüchigkeit der agrarischen Argumente
für die erhöhten festen Minimalzölle im Generaltarif wird durch diesen mit
ehrlichem wissenschaftlichem Ernst nnternommnen Rettungsversuch besonders
scharf beleuchtet. Düte schreibt, den sichersten und gerechtesten Maßstab für
die Bemessung der Getreidezölle würde der Unterschied geben zwischen den
„höchsten inländischen Produktionskosten, soweit zu denselben noch große Mengen
Getreide produziert werden, und dem Preise, zu dem das am billigsten pro¬
duzierende Konkurrenzland das Getreide an die deutsche Zollgrenze bisher ge¬
liefert hat oder voraussichtlich wird liefern können." Wenn nun anch eine
,,exakte" Beantwortung der Frage nach den Produktionskosten des Getreides
unmöglich erscheine, so dürfe doch „auf Grund langjähriger Erfahrungen und
Beobachtungen aus der landwirtschaftlichen Praxis" angenommen werden, daß
die Produktionskosten für die Tonne Weizen im Deutschen Reiche beim Zu-
grundlegen mehrerer Erntejahre zwischen 170 und 200 Mark und für die
Tonne Roggen zwischen 140 und 170 Mark, je nach dem Boden, Klima,
Betriebsweise und Absatzverhültnissen schwankten. Danach würden die „durch¬
schnittlichen" Produktionskosten für die Tonne Weizen 185 Mark und für
Roggen 155 Mark betragen. Der Minister Lucius habe 1887 die Produktions¬
kosten für Weizen und Roggen auf 190 Mark geschätzt. Wir brauchen auf die
Wertlosigkeit dieser geschätzten „Durchschnittszahlen" als Maßstäbe für eine
„gerechte" Bemessung des Zolls hier vorläufig mir hinzuweisen, denn Date
selbst verwirft sie sofort als „vielleicht anfechtbar" und sucht nach einem
„mehr einwandfreien Maßstab." Er glaubt ihn zu finden, indem er „der
Feststellung des erforderlichen Rentabilitütspreises einen vieljährigen Durch¬
schnittspreis aus den wirklichen Preisen für Getreide" zu Grunde legt, und
zwar den Durchschnittspreis von 1860 bis 1890. Der habe für Weizen
195 Mark und für Roggen 156 Mark betragen. Das sei der Maßstab für
die Zollsätze. Habe im Durchschnitt der letzten acht Erntejahre 1892/93
bis 1899/1900 der Wcizeupreis unverzollt auf 120 Mark gestanden, so
sei der erforderliche Zoll 75 Mark gewesen, und bei einem unverzollten
Roggenpreise von 96 Mark sei er auf 60 Mark festzusetzen. „Würde man
— so schließt diese ganze Darlegung — für Weizen auf 185 Mark und für
Roggen auf 150 Mark hinabgehn, so Hütte der Weizenzoll in den letzten
acht Erntcjahren 65 Mark und der Roggenzoll 54 Mark für die Tonne be¬
tragen müssen." Wo ist da der logische Zusammenhang? Wie kommt der Ver¬
fasser dazu, den glücklich entdeckten, „mehr einwandfreien Maßstab," d. h.
den Durchschnittspreis von 1840 bis 1890, auf einmal für die letzten acht
Erntejahre von 195 Mark auf 185 beim Weizen und von 156 Mark auf
150 Mark beim Roggen hinabzusetzen und so, statt an den sich konsequent er¬
gebenden Minimalsätzen festzuhalten, von 75 und 60 auf 65 und 54 Mark
hinunterzugehn? Aber damit uicht genug. Schließlich schrumpfen, wie wir
oben gesehen haben, ebenso Unllkürlich und unmotiviert die Miniinalzölle, die
gefordert werden, sogar auf 60 Mark für Weizen und 50 Mark für Roggen
zusammen, Date hätte wissenschaftlich jedenfalls richtiger gehandelt, sich selbst
und dem Leser einzngestehn, daß weder aus den Produktionskosten, die wir
nicht kennen, noch ans dem Inlandspreise früherer Jahre und Jahrzehnte, die
wir kennen, sich weder die notwendige Erhöhung noch die notwendige Hohe
der Getreidezölle von Anfang 1904 ab erweisen lasse. Oder er hätte als
agrarischer Jnteressenverfechter einfach die Zollsätze von 75 und 60 Mark als
die jetzt und für die nächsten Jahre als notwendig erkennbaren Minimalsätze
aufrecht erhalten sollen. Leider hat er sich zu dieser Höhe des Jnteresseuver-
treters erst aufgeschwungen, als die agrarische Presse mit Borwürfen über ihn
Hersiel, Da hat er brieflich, wie Wort für Wort zu lesen war, seine Mäßigung,
die uns zuerst so sehr gefiel, zurückgenommen und die völlige Diskrepanz seiner
Vorder- und Hintersätze eingestanden. Das war hart, aber schließlich haben
neuerdings noch ganz andre nationalökonomische Würdenträger solche Revo-
kationsbriefe schreiben müssen, obgleich sie ganz unabhängig dastanden. Aber
wenn man nur wenigstens wüßte, welches unter den dreierlei Maßen, die
Date zur Verfügung stellt, von der deutschen Landwirtschaft approbiert zu
werden hoffen darf. Leider lagert darüber nach wie vor tiefes Dunkel.
So gut wie ganz vermissen wir in der Dadischen Arbeit eine Auskunft
über die Reinertrage in der Landwirtschaft, Sie war aber unerläßlich, sollte
der Notstand in dem Maße anerkannt werden, wie es zur Erhöhung namentlich
der Brvtgetreidezölle nötig ist, Conrad hat diese Notwendigkeit strikt be¬
stritten. Wenn Date und der Landwirtschaftsrat nicht die Beweismittel für die
behauptete Uurentabilitüt des landwirtschaftlichen Bodens bei den heutigen
Zollsätzen zur Verfügung haben, wer soll sie dann haben? Die Regierung
jedenfalls auch nicht, denn sie hat die betreffenden Erhebungen gerade durch
den Landwirtschaftsrat macheu lassen. Auch in diesem, vielleicht dem aller-
wesentlichsten Punkte ist die agrarische Seite beweisfällig geworden, und ist
bis auf weiteres ein non liaust anzunehmen. Zumal da alles, was im Archiv
des Königlichen Landesökvnomiekollegiums ^Landwirtschaftliche Jahrbücher) über
die Reinertrage landwirtschaftlicher Betriebe in den letzten fünf Jahren ver¬
öffentlicht worden ist, für die verschiedensten Betriebsgrößen ausnahmlos leid¬
liche, zum Teil tzocherfreuliche Reinertrage nachweist. Die Geheimhaltung der
Ergebnisse der vom Reichsamt des Innern durch Vermittlung der agrarischen
Interessenvertretungen veranstalteten Erhebung über die Rentabilität sogenannter
„typischer" Betriebe hätte doch keinen rechten Sinn, Alles, was bis jetzt von
den Ergebnissen in die Öffentlichkeit gekommen ist. macht einen so übertrieben
traurigen Eindrnck, daß danach die dentschen Landwirte schon weitaus zum
größten Teil rettungslos bankerott wären, und die Zollerhöhnngen, die man
im besten Fall durchsetzen wird, gar nichts dagegen helfen oder doch nur eine
kurze wertlose Galgenfrist verschaffen würden. Es gilt dies namentlich für
die Bauer», die man verleitet, sich ganz übertriebne Illusionen von der Hilfe
zu machen, die ihnen die erhöhte» Zölle bringen werden. Wir werden darauf
zurückkommen.
Bei dieser ganzen Sachlage ist es uns schlechterdings unbegreiflich, wie
mau erwarten kann, daß bei den Neichstagsverhandlungen über die Minimal-
agrarzölle im Generaltarif etwas gescheites herauskommen sollte. Leeres Stroh
wird man endlos dreschen, und Unrat, gegenseitige Verbitterung und Verhetzung
auch außer dem Hanse und auch gegen die Regierung wird herauskommen.
Die so vorzeitig durch parlamentarischen Beschluß festgelegten Minimalzölle
werden immer reine Willkür- und Znfallsprodukte bleiben. Will man schon
erhöhen, und das hat nun einmal der Kaiser versprechen lassen, so wäre es
am gescheitesten, man nähme einfach den Weizen- und Noggeuzoll des alte»
Gencraltarifs als Minimalzölle in den neuen herüber, wie Bnchenberger und
von der Goltz es wenigstens in ing-ximo für zulässig erklärt haben. Nützen
würde es wenig, aber auch wenig schaden, und im Zweifel heißes: non noczsre.
Wenigstens würden die Landwirte draußen daraus erkennen, daß die Agrarier
dem Kaiser nicht die Zollsätze diktieren, und daß an eine Garantie fester
Getreidepreise durch den Staat auf Kosten der Nichtlandwirte nicht mehr zu
hoffen ist. Jede Erhöhung über 50 Mark hinaus würde den agrarischen
Parteiunfug im Lande befestigen und zugleich das Grundübel, die Bodenwert-
überschätznng und Bodenspekulation, wieder verhängnisvoll beleben.
Freilich wenn der Konservatismus im Reichstage wäre, wie er sein sollte
und wieder werden muß, so würde, wenn die Regierung die Minimalzölle in
den Entwurf aufgenommen hat, von der rechten, nicht von der linken Seite
der Antrag gestellt werden, sie wieder zu streichen. Das konservative Votum
für die Minimalzölle im Generaltarif wird auf alle Fälle ein verhängnisvolles
Prcizedenz werden in der Richtung der Parlamentsherrschaft. Die Parteien
der Linken, die heute dagegen stimmen, werden sich darauf mit Recht einmal
berufen. Das deutsche Volk, und wir hoffen: trotz aller agrarischen Verhetzung,
auch das deutsche Landvolk, will keine Parlamentsherrschaft. Es will eine
starke monarchische Gewalt, die im konstitutionellen Staat die Gesamtheit und
die Minderheit vor jeder Vergewaltigung durch die Mehrheit immer und überall
vu einer Reichsgewalt im strengen Sinne des Worts kann nach
dem Untergänge der Hohenstaufen nicht mehr die Rede sein.
Die Römerzuge der Kaiser des ausgehenden Mittelalters ent
hehren vielfach nicht eines tragikomischen Beigeschmacks, Dem
Namen nach hat es deutsche Kaiser bis zum Jahre 1806 ge
geben. Auch wurde das alte Inventar der Kaiserkrönungcn und Titulaturen
unverändert weitergeführt. Aber soweit Kaiser einen hervorragenden Einfluß
ausübten, haben sie dies nnr auf Grund ihrer territorialen Machtstellung und
in ihrer Eigenschaft als Landesfürsten vermocht. Will man die Entwicklungs¬
stufen der deutschen Monarchie feststellen, so muß dieser Verwesungsprozeß
des mittelalterlichen Königtums ganz ausscheiden. Die staatlichen Zustände
Deutschlands im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert nach dem Unter¬
gang der kaiserlichen Macht gewähren zunächst den Anblick trauriger Ver¬
worrenheit, Das farbenreiche Bild einer historischen Karte Deutschlands im
vierzehnten Jahrhundert giebt doch nicht entfernt die ganze Bnntscheckigkeit der
damals herrschenden staatlichen Verhältnisse wieder. Denn innerhalb jedes
einzelnen dieser vielen Territorien gab es noch ein Gewirr von Gegensätzen,
eine Fülle ungeklärter Machtansprüche und Rechtsverhältnisse. Im Verlaufe
der spätern Entwicklung hat ein Übermaß juristischer Konstruktionen die gesunde
Bewegungsfreiheit des Einzelnen und ganzer Stände in Deutschland vielfach
in ungehöriger Weise beeinträchtigt; zu jener Zeit war umgekehrt allenthalben
ein Mangel an rechtlicher Ordnung, an Klarheit der Kompetenzen drückend
fühlbar. Die Jagd nach Macht — sicherlich nicht nur eine Eigentümlichkeit
des ausgehenden Mittelalters — hat doch in dieser Periode besonders ab¬
stoßende Formen angenommen.
Unter denen, die nach den verwaisten Königsrechten griffen, waren natürlich
die geistlichen nud die weltlichen Fürsten und Herren in einer bevorzugten Lage,
die schon früher in ihrer Eigenschaft als Beamte Hoheitsrechte des Reichs
ausgeübt hatten, Sie haben die Landeshoheit über ihre Territorien geschaffen
und sind damit die Träger der monarchischen Weiterentwicklung in Deutschland
geworden. Das Königtum selbst hatte ihnen in der Ausübung staatlicher
Gewalt die volle Selbständigkeit und Unabhängigkeit garantiert, Daraus zogen
die Fürsten mit Energie die notwendigen Folgerungen, Von der obersten
Militär- und der höchsten Gerichtsgewalt her suchten sie neue staatliche Rechte
zu konstruieren; über große Teile der Bewohner ihrer Territorien gewannen
sie auch die niedere Gerichtsbarkeit, ferner ein gewisses Besteurungsrecht. Vor
allem- es gelang ihnen bei der räumlichen Begrenztheit ihrer Territorien die
Zentralisation der Verwaltung herzustellen, die das Königtum für das Reich
vergeblich erstrebt hatte. Eine Menge gefügiger Beamter war im Dienste der
landesherrlichen Interessen thätig. Die Amtleute hielten auf deu Burgen des
Landes strenge Wacht und übten die hohe Gerichtsbarkeit aus; die Schult¬
heißen präsidierten im Namen der Landesherren den niedern Gerichten, die
Kastner oder Kellner trieben für ihn die fälligen Zinsen und Pachter ein; an
seinem Hofe verrechnete der Landrentmeister die Einkünfte, und eine ganze Schar
von Räten, die wohl ans deu landesherrlichen Dienstmannen hervorgegangen
waren, stand des Winkes ihres Herrn allzeit gewärtig.
Und doch gelang dem Landesherrn die Vereinigung der staatlichen Rechte
in seiner Hand zunächst nur unvollkommen. Zwischen den Fürsten und der
Masse der Unterthanen schoben sich Mächte halbstaatlichen Gepräges ein, die
das Recht, anzuraten und mitzubestimmen, gebieterisch heisesten. Da finden
wir freie Herren, meistens Inhaber großer Grundherrschaften, in ihrer sozialen
Stellung etwa den heutigen großen Magnaten Oberschlesiens vergleichbar;
neben ihnen stehn die hohen Prälaten, die eifersüchtig über der Integrität ihrer
geistlichen Vorrechte wachen; ferner die fehdefrendigen Ritter und die kapital¬
reichen Städte. Sie alle haben ihrerseits gleichfalls aus der Schwäche des
mittelalterlichen Königtums Borten gezogen. Über die von ihnen zunächst nur
wirtschaftlich abhängige, grundhörige Bevölkerung haben sie — vielfach auf
rein usurpatvrischem Wege — die Gerichtshoheit erlangt. Ja, sie treiben von
ihren Hintersassen Abgaben ein, denen schon kaum mehr der Charakter privat¬
rechtlicher Zinsen, soudern fast öffentlich-rechtlicher Steuern anhaftet. Die
Städte vollends — und nicht nur die freien Reichsstädte — haben es zur
Ausbildung eines ihren besondern geldwirtschaftlicher Interessen angepaßten
selbständigen Verwaltnngsorganismus gebracht. Bei dem Versuche, diese Gruppen
in Abhängigkeit von sich zu bringen, wird dem Landesherrn vernehmlich Halt
geboten. Alle Jnteressenverschiedenheiten zwischen freien Herren, Prälaten,
Rittern und Städten treten in den Hintergrund, der gemeinsame Gegensatz
gegen den Landesherr« eint sie zu gemeinsamem Vorgehn. Die verschiednen
Gruppen organisieren sich zu Ständen. Als solche stehn sie ebenbürtig neben
dem Landesherrn. Das Maß der Abhängigkeit des Landesherrn von den
Ständen ist natürlich in den verschiednen Territorien verschieden gewesen. In
Braunschweig und Bayern aber war sie beispielsweise so groß, daß sich die
Stände vom Fürsten das Recht bewaffneten Widerstands ausdrücklich für den
Fall garantieren ließen, daß er sich nicht an die getroffuen Abmachungen hielt.
Oft genug auch war der Gegensatz ständischer und landesherrlicher Interessen
so groß, daß man zu den Waffen griff. Ich erinnere an die Kämpfe, die
Eberhard der Rauschebart sowohl mit den Rittern als auch mit den Städten
seines Territoriums geführt hat. Gerade in Süddeutschland haben Ritter und
Städte großenteils gegenüber den Landesfürsten die volle Selbständigkeit be¬
hauptet: daher hier die Menge der Miniaturstaaten, denen erst Napoleon I.
das Lebenslicht aufgeblasen hat.
Die Regel aber war, daß Landesfürst und Stände gemeinsam regierten: in
diesem Zeitalter ständischer Monarchie haben die Territorien gleichsam zwei
Häupter; sie stellen eine merkwürdige Mischform von Monarchie und Oligarchie
dar. Nichts ist verkehrter, als diese Landesstände für Vorläufer der modernen
Volksvertretungen anzusehen. „Man sucht die Freiheit vom Staate, nicht die
Freiheit im Staate," so hat Treitschke einmal knapp und klar den Unterschied
gekennzeichnet. Die untern Bevölkerungsschichten sahen in den privilegierten
Ständen alles, nur nicht die Vertreter ihrer Wünsche. Bekannt ist der Sto߬
seufzer der von ihren adlichen Herren gepeinigten Brandenburger Bauern:
Vor Köckeritze und Luderitze,
Vor Krachten und vor Jtzenplitze
Behüt uns, lieber Herre Gott!
Wenn die Stände, wie es häusig geschah, dem Landesfürsten Gelder ver¬
weigerten, so geschah dies Wohl nie mit Rücksicht ans die Gesamtheit, sondern
weil sie die für Staatszwecke geforderten Summen im eignen Interesse ver¬
wenden wollten. Das Volk aber sehnte sich nach einer starken monarchischen
Gewalt, die es am besten vor der Ausbeutung durch ihre Herren schützen
konnte.
Über diese unerquicklichen staatlichen Zustände hinaus ist etwa seit dem
Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ein Fortschritt eingetreten. Ohne daß
irgendwie ein deutlicher Einschnitt wahrnehmbar wäre, aber in ihrer Gesamt¬
tendenz unverkennbar vollzieht sich die Entwicklung von der ständischen Mon¬
archie zum patriarchalischen Absolutismus. In dem unblutigen Ringen
um Macht neigt sich der Sieg auf die Seite des Landesfürsten. Schon im
fünfzehnten Jahrhundert fließen dem Landesherr» eine Reihe neuer Befugnisse
zu, bei deren Ausübung er den Standen keine Rechenschaft abzulegen braucht.
Je mehr die Territorien den Charakter abgeschlossener staatlicher Gebilde er¬
halten, um so mehr wird eine Vertretung der staatlichen Interessen nach außen
hin zur Notwendigkeit. Insbesondre auf den Reichstagen „ratet und thätet"
der Landesherr allein, ohne sich von den Ständen irgendwie Direktiven seines
Handelns vorschreiben zu lassen. In Kriegslüuften bestimmt er die Haltung
der Politik seines Territoriums. Mit dem Aufkommen von Söldnerheeren
ist eine Steigerung seiner militärischen Machtvollkommenheiten unausbleiblich.
Gewiß, die Stände sind als staatliche Gewalten noch keineswegs matt gesetzt.
Braucht der Landesherr Geld, so bedarf es zu seiner Eintreibung der aus¬
drücklichen Bewilligung durch die Stände. Aber indem sich diese auf den
Krämerstandpunkt des Geldbewilligens und Geldverweigerns zurückziehn, ver-
lieren sie die Fühlung mit den bewegenden Kräften des politischen Lebens.
Und schließlich sehen sie sich gegenüber den mächtig wachsenden Aufgaben, die
der Staat lösen mußte, eben doch vor die Notwendigkeit gestellt, die für den
Bestand des Staates erforderlichen Geldmittel dein Landesherrn zuzugestehn.
Mit dem allgemeinen Bedürfnis nach einer geregelten, stetigen Finanzwirtschaft
geht die Regelmäßigkeit der finanziellen Bewilligungen Hand in Hand, ein
Umstand, der natürlich auch nicht geeignet war, den Einfluß der Stände zu
steigern.
Imi sechzehnte!? Jahrhundert wirkte in derselben Richtung einer Zunahme
der landesherrlichen Macht die Ausbildung der konfessionellen Gegensätze —
namentlich in den protestantischen Territorien. Hier wurde in materieller Hin¬
sicht die Position der Landesfürsten gestärkt durch die Säkularisierung des
katholischen Kircheuguts. Vor allem aber: die Verteidigung der neuen Glcmbens-
überzengungen erheischte die äußerste Kraftanstrengung so vieler protestantischer
Staaten und eine einheitliche, energische Führung. Wo gleichwohl die Stände
die persönliche Aktion des Lnndesherrn zu lähmen suchten, setzte sich dieser oft
genug über ihren Widerspruch hinweg. Im Jahre 1552 unternahm Kurfürst
Moritz vou Sachsen seinen berühmten Zug gegen Kaiser Karl V., obgleich die
Stände ihre Zustimmung zu dem tollkühnen Unternehmen versagt hatten. Doch
meist führt die gemeinsame Gefahr, der heiligsten Güter durch kaiserlich-katholische
Gewaltpolitik beraubt zu werden, zu einem innigen Einvernehmen der Stände
und der Fürsten. An die Stelle der alten Gegensätzlichkeit tritt eine irenische
Stimmung, die sich auch den niedern Bevölkerungsklassen mitteilt. Dieses innige,
fast persönliche Geineinschaftsverhältnis zwischen Herrscher und Unterthanen,
die schönste Blüte, die die deutsche Kleinstaaterei hervorgetrieben hat, ist von
Ranke einmal mit feinem nachempfinden gezeichnet worden bei der Rückkehr
des Kurfürsten Johann Friedrich aus fünfjähriger Gefangenschaft in sein Land
(im Jahre 1552). Ich kann mir nicht versagen, diese Stelle im Wortlaut mit¬
zuteilein „Welch ein Wiedersehen war es, als er in seinem Stammland bei
Koburg wieder anlangte! Der erste, der ihm entgegenkam, war sein Bruder
Ernst, der seinen Wahlspruch: Ich trau Gott, nun erfüllt sah. Bald erschien
auch seine Gemahlin mit ihren herangewachsenen Söhnen. . . . Vor den Städten
erschienen dann weit draußen die Ratsherren in den schwarzen Mänteln, ihrer
Amtstracht, um den angestammten Herrn zu bewillkommnen: die Bürger mit
ihren Rüstungen oder in ihren besten Kleidern bildeten ein Spalier; auf den
Märkten warteten die Geistlichen mit der männlichen Jngend auf der einen
Seite, auf der andern die eisgrauesten Bürger mit den jungen Mädchen, die
in fliegenden Haaren mit dem Rautenkranz erschienen; die Knaben stimmten
das Tedeum lateinisch an, die jungen Mädchen antworteten mit dem deutschen:
Herr, Gott, dich loben wir; der Fürst, der ihrem Gebet seine Rückkehr zuschrieb,
zog mit entblößtem Haupte, dankend und gnädig, sie alle vorüber; neben
ihn: sein Sohn und Meister Lukas Cranach, der aus herzlicher Liebe, die ihm
auch erwidert ward, die Entbehrungen der Gefangenschaft freiwillig mit ihm
geteilt - wenn er dann abgestiegen, brachte ihm wohl ein in die Hoffarbe
gekleideter Knabe aufgesparte Goldstücke der Bürgerschaft in einem künstlichen
Pokale dar, Johann Friedrich erschien wie ein Märtyrer und Heiliger. Als
er in Weimar einzog, meinte man ein langes weißes Kreuz über ihm zu sehen."
Aber freilich solche ideelle Gemeinschaftsstimmungen Pflegen nur vorüber¬
gehend bei starken Anlässen über die tiefen, thatsächlichen Gegensätze des ge¬
schichtlichen Lebens hinwegzutäuschen. Als der Jammer des Dreißigjährigen
Krieges über das deutsche Volk hereingebrochen war, und es um galt, durch
organische Reformen die Not zu lindern, da zeigte sich deutlich, welche ver¬
hängnisvolle Macht im Staatsleben die privilegierten Stände trotz allen: noch
behaupteten. Der drückenden Abgabepflichten wußten sie sich zu entziehn: sie
wurden auf die politisch rechtlose, arme Bevölkerung abgewälzt. In den Rhein-
landen steuerten nach dein Dreißigjährigen Kriege die reichsten Bürger fünf
bis sechs Thaler jährlich, die Prälaten und die Ritterschaft waren völlig ab¬
gabefrei, dagegen mußte der ärmste Mann auf dein platten Lande fünfzehn
Thaler, der Bauer siebzig bis achtzig Thaler entrichten. Ohne Rechenschaft
ablegen zu müssen, füllten sich die städtischen Patriziate auf Kosten der Bürger¬
schaft ihre Taschen, Die adlichen Herren auf dem Lande nutzten den Besitz
der Gerichtshoheit, um daraus ungemessene Lasten und Fronten ihrer Hinter¬
sassen zu konstruieren.
Auf der andern Seite hatte sich bei den Landesherren das Gefühl der
Verantwortlichkeit für das Wvhlergehn ihrer Unterthanen vielfach zu stolzem
Wirknngsdrauge gesteigert. Bei ihren Resormversnchen war ein Zusammenstoß
mit den Landständen unvermeidlich. Diese steifem sich in lautem Widerspruch
auf ihre thatsächliche, rechtlich garantierte Machtstellung — ein Verfahren,
durch das zu allen Zeiten der Mangel innerer Kraft und moralischen Rechts
verdeckt worden ist. Von dem Mute und der Thatkraft der Landesherren
hing es ab, ob und mit welcher Energie sie den Kampf mit den Ständen ihres
Landes aufnahmen. Bei der Fülle der Kleinstaaten Deutschlands war sein
Ergebnis außerordentlich verschieden. Aber im ganzen siegte das Landes-
fürstentum. Die staatliche!» Vorrechte der Stände wurden zerrieben; das Zeit¬
alter patriarchalisch-ständischer Monarchie wurde abgelöst durch das der ab¬
soluten Monarchie,
Man wird nicht sagen können, daß die neue Verfassungsform ohne weiteres
und mit Regelmäßigkeit der Gesamtheit zum Segen gereicht habe. Da nun¬
mehr alle staatlichen Zwischeninstanzen zwischen der Persönlichkeit des Monarchen
und den Unterthanen ausgeschaltet waren, wurden in der Hand des Herrschers
eine Fülle von Hoheitsrechten vereinigt. Nur seine persönliche Tüchtigkeit
konnte eine Gewähr dafür bieten, daß bei ihrer Handhabung schädliche Aus¬
wüchse vermieden wurden. Namentlich in den kleinern Staaten Deutschlands
ist im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert von unfähigen Herrschern viel
gesündigt worden. Indem sie nach dem strahlenden Glänze des französischen
Hoses hinüberschallten und die dortigen Gepflogenheiten im kleinen auf ihre
Residenz zu übertragen suchten, ruinierten sie vielfach die Finanzen ihrer
Ländchen, öffneten einer faden Lobhudelei und Günstlingswirtschaft Thür und
Thor und trugen uicht selten zur Untergrabung der Sittlichkeit durch das
schlechte Beispiel bei, das sie ihrem Lande gaben. Der höfische Absolutismus
— in Fraukreich glanzvoll repräsentiert durch Ludwig XIV. — erscheint bei
der Enge kleinstaatlicher Verhältnisse in Deutschland nur als eine Form der
Entartung der absoluten Monarchie.
Das Gegenstück zu ihm ist der aufgeklärte Absolutismus. Seine
höchste Ausbildung hat er in Preußen gefunden: dies und der Umstand, daß
dem preußischen Staate die Rolle zugefallen ist, die nationale Einigung Deutsch¬
lands zu vollziehn, rechtfertigt es, wenn ich den Schluß meiner Betrachtung
wesentlich auf die preußische Entwicklung beschränke. In Hinsicht auf die Un¬
umschränktheit der Hoheitsrechte unterscheidet sich die aufgeklärte Monarchie
nicht von der höfischen: das Recht einer Beaufsichtigung ihrer Unterthanen
bis in die Gewohnheiten des privaten Lebens hinein ist von ihren Vertretern
rückhaltlos in Anspruch genommen worden. Unglaubliches hat darin besonders
Friedrich Wilhelm I. geleistet. Einen Thorschreiber, der nicht zur rechten Zeit
auf seinem Posten ist, prügelt er zum Bette hinaus. An Minderjährige Geld
zu verleihen, untersagt er im Jahre 1730 bei Verlust des Kapitals, in schweren
Fällen bei Todesstrafe. Bezeichnend ist bei dieser Vorschrift, daß für die Härte
solcher Strafen keinerlei Beweisgründe nud Motivierungen für notwendig er¬
achtet werden. Schon 1718 war die Sitte des Zutrinkens unbedingt verboten
worden. Den Predigern des Landes schreibt er vor bei einer Strafe von
zwei Thalern, ihre Predigten Hütten nicht länger als eine Stunde zu dauern;
auch mußten sie regelmäßig eine Ermahnung um die Kirchgänger erhalten, ihre
Steuern ordentlich zu bezahlen. Soweit vollends die Erledigung staatlicher
Geschäfte in Betracht kam, hatte schon der Große Kurfürst auf eine strenge Unter¬
ordnung der Beamten unter den persönlichen Herrscherwillen gedrungen. Für
das Heerwesen bedeutete dies erst die Beseitigung söldnerischer Ungebundenheit
und die Möglichkeit der gesunden Entwicklung einer stehenden Heeresvrgani-
sation. Das Recht der Steuererhebung wurde unter dem Großen Kurfürsten
den Ständen entwunden und von landesherrlichen Beamten ausgeübt. Friedrich
Wilhelm I. ging noch über diese Anschauungen hinaus. Als im Jahre 1717
der Landmarschall von Dohna namens der Stände Einwendungen gegen die
Erhebung neuer Steuern macheu wollte, erwiderte er: „Mbil orsclo; aber das
orsclo, daß die Junkers ihre Auetoritüt wird ruiniert werden. Ich stabiliere
die LouvLrg.nöt.ö wie eiuen roebor von bronso." Wenn ein Minister ohne
Grund eine Stunde zu einer Sitzung zu spät kam, mußte er hundert Dukaten
zahlen; fehlte er, so büßte er sechs Monate seines Gehalts ein, im Wieder¬
holungsfalle verlor er sein Amt. Wenn Friedrich Wilhelm I. den leichtsinnigen,
aber im Grunde harmlosen Leutnant Katte hinrichten läßt und nur mit Mühe
dazu bestimmt wird, dem eignen Sohne die um einer jugendlichen Übereilung
willen verhängte Todesstrafe zu erlassen, so spricht hieraus die furchtbare
Härte, mit der er Widerstand gegen den königlichen Willen ahndete. Gleich-
wohl trennt eine tiefe Kluft die rauhe Rücksichtslosigkeit der preußischen Könige
dieser Zeit von der erwischen, gewissenlosen Ausbeutung, die dem französischen
Volke in demselben Zeitalter durch seine Ludwige widerfuhr. Die preußischen
Herrscher sind der Gefahr einer Ausartung ihrer durch keinerlei äußere Schranken
begrenzten Regierungsgewalt in ziellose Willkür begegnet durch die selbstge¬
zognen Richtlinien der Rücksicht auf das Gesamtwohl, Die alte mittelalterliche
Welt der korporativ selbständigen Verbände war zerstört, in Trümmer zer¬
schlagen; grundsätzlich stand die Gesamtmasse der Unterthanen atomisiert, ohne
politische Rechte dem einen Monarchen gegenüber. Welche Fülle von schwerer
Verantwortung war damit zugleich auf seine Schulter gelegt!
Wir haben noch ein Tagebuch des französischen Königs Ludwigs XVI.
aus den Jahren 1775 bis 1789. In ihm berichtet er an 1562 Tagen, daß
er auf der Jagd gewesen sei. Am 4. August 1789: „Hirschjagd im Forste von
Marly; einen erlegt; hin und her zu Pferde. ..." Am 5. Oktober: „Jagd
bei Chatillon; 81 erlegt; durch die Ereignisse unterbrochen; hin und her zu
Pferde." An Tagen, wo nicht gejagt wurde, hat Ludwig nichts zu berichten.
Wie grell kontrastiert zu diesem Behagen politischer Unthätigkeit das heroische
Pflichtbewußtsein der preußischen Herrscher! Schon der Große Kurfürst sprach
einmal aus: „So will ich meine Herrschaft führen, daß ich weiß, sie sei eine
Angelegenheit des Volks, nicht eine private." Die seinem Volke auferlegte
Kopfsteuer zahlte er und sein ganzer Hof mit. In seinem sogenannten poli¬
tischen Testamente vom Mai 1667 ermahnt er seinen Sohn, alle Unterthanen
solle er ohne Unterschied der Religion als ein rechter Landesvater lieben und
ihren Nutzen allzeit befördern; ohne Ansehen der Person solle er den Armen
wie den Reichen gleiche Justiz angedeihen lassen. Friedrich Wilhelm I. ver¬
fügte, daß das königliche Hans die Accise, eine indirekte Steuer, mitznentrichten
hätte, während Geistliche und Lehrer davon befreit waren. In großen Korn¬
magazinen ließ er — wie der Joseph der biblischen Geschichte — in guten
Jahren Getreide aufspeichern, um es in schlechten unter dem Marktpreis an
die Armen zu verkaufen. Bei Friedrich dem Großen erzeugte dieses Bewußtsein
der Verantwortlichkeit geradezu einen heiligen Enthusiasmus. Bekannt ist sein
goldnes Wort, daß der Herrscher der erste Diener, des Staates sei. Er be¬
handle, sagt er einmal, die Staatseinkünfte wie einen Gotteskasten, woran keine
Profane Hand rühren dürfe. Auch hatten die Zeitgenossen Friedrichs ein leb¬
haftes Gefühl davon, was sie diesem aufgeklärten Absolutismus zu denken
hatten. Derselbe Lessing, der in seiner Emilia Galotti mit dem höfischen
Absolutismus scharf ins Gericht geht, preist in seiner Minna von Barnhelm
deu Staat Friedrichs des Großen.
Und doch wurde durch die preußische Entwicklung die allgemeine Thatsache
bestätigt, daß die absolute Monarchie bei entwicklungsfähigen Völkern nur eine
vorübergehende Verfassungsform ist. Indem sich alle staatliche Gewalt in dem
einen Brennpunkte, in der Persönlichkeit des Herrschers vereinigte, trat die
Unmöglichkeit zu Tage, auf die Dauer die Unsumme der Befugnisse von diesem
einen persönlichen Mittelpunkt aus zurückstrahlen zu lassen. Von dem Volke
war mit der Zertrümmerung jener halbstaatlichen Gewalten der Druck ge¬
nommen! aufatmend konnte vor allem das Bürgertum seine Kräfte entfalten,
Und schon nicht mehr wollte sich dieses wirtschaftlich erstarkende Bürgertum
vom Herrscher bedingungslos die Richtung seines Handelns vorschreiben lassen -
mächtig schwoll sein Selbstgefühl, „Ehrt den König seine Würde — ehret
uns der Hände Fleiß," Wie furchtbar wäre noch Friedrich Wilhelm 1. drem-
gefahren, wenn einer seiner Unterthanen am absoluten Regimente Kritik zu
üben gewagt hätte! In der Publizistik des ausgehenden achtzehnten Jahr¬
hunderts ist die Diskussion über die beste Form der Verfassung ganz allgemein.
Radikal-demokratische Projekte werden vorgetragen, zum Teil zu offner Gewalt
aufgefordert. Diese Stimmungen herrschen in Deutschland keineswegs vor —
aber das Recht freier Kritik beansprucht jeder.
Auf wie schwachem Grunde der monarchische Absolutismus ruht, hat mit
scharfem Blicke Friedrich der Große erkannt. Er selbst hatte sich genährt an
der Gedankenwelt der französischen Aufklärung, Wie, weiln diese Gedanken
Gemeingut seiner Unterthanen wurden? Der alte Herr, der grüblerisch-sinnend
einsam, nur von seinem Windspiel begleitet, im Park von Sanssouci spazieren
wandelte, hat sicher oft voll schwerer Sorge die Zukunft seines Staates er¬
wogen. Der drohenden Entwicklung suchte er vorzubeugen, indem er die Stände
seines Staats — Adel, Bürgertum und Bauern — durch die Gesetzgebung in
ihrem damaligen Machtbestande nach Möglichkeit zu fixieren suchte. In der
starken Bevorzugung des Adels, dem er die leibeigne Bauernschaft ließ, be¬
zeichnet seine Handlungsweise vielfach einen Rückschritt gegenüber den Grund¬
sätzen seiner Vorgänger, Er hat die Entwicklung doch nicht aufhalten können.
Mit den grandiosen Reformen, die in den Jahren der tiefsten Erniedrigung
Preußens der Freiherr von Stein ins Leben rief, wurde die rechtliche Gleich¬
stellung aller preußischen Unterthanen endgiltig durchgesetzt. Durch diese Stein-
Hardenbergische befreiende Gesetzgebung wurde erst die Voraussetzung für die
machtvolle, flammende Erhebung des preußischen Volks im Jahre 1813 ge¬
schaffen. Sie wäre noch unter Friedrich dem Großen undenkbar gewesen. Als
während des siebenjährigen Krieges die Russen in Ostpreußen einfielen, ließ
die damals leibeigne Bauernschaft alle Greuelthaten stumpfsinnig über sich er-
gehn. Nur ein Volk, das sich recken und strecken kann, ein Volk, dem durch
die Fremdherrschaft etwas geraubt werden kann, ist mächtiger patriotischer
Wallungen fähig.
Es war klar, daß die so geschaffne Gesamtmasse der Unterthanen von
dem Recht der Selbstbestimmung ans die Dauer nicht ausgeschlossen werden
konnte. Würde es gelingen, die Interessenkonflikte zwischen Volk und Mon¬
archen auf gütlichem Wege beizulegen, oder war eine Wiederholung der
französischen Revolntionsvorgänge auf deutschem Boden unvermeidlich? Hier
zeigte sich doch, daß die großen preußischen Monarchen des siebzehnten und
des achtzehnten Jahrhunderts nicht umsonst in aufopfernder Pflichterfüllung
die Gesamtwohlfahrt zur Richtschnur des Handelns genommen hatten. Das
Vertrauen, das sie erworben hatten, übertrug sich, wenn nicht ohne weiteres
auf die Personen ihrer Nachfolger, so doch auf die monarchische Institution,
Die Zahl der Leute, die in Preußen die Monarchie grundsätzlich beseitigt ivisfcu
wollte», war gering. Und umgekehrt war von den Zeiten des Großen Kur¬
fürsten und Friedrichs des Großen her deu preußischen Herrschern der innere
Kontakt mit dem Empfindungsleben ihrer Unterthanen nicht verloren gegangen.
Über all den Schroffheiten der preußischen Reaktion im beginnenden neun¬
zehnten Jahrhundert sollte man doch nie vergessen, daß Friedrich Wilhelm IV,,
als er im Jahre 1848 seinem Volke die konstitutionelle Verfassung gab, einen
immerhin freiwilligen Rechtsverzicht vollzog. Es ist eine Handlungsweise, die
für tausend Verhältnisse der Gegenwart vorbildlich sein könnte.
Freilich war ein zweiter Umstand hinzugekommen. Was der auf eine
Teilnahme am Staatsleben gerichteten Volksbewegung so unwiderstehliche Kraft
verlieh, war, daß sie getragen und geadelt wurde von nationaler Begeisterung,
Die Dichter und Denker des achtzehnten Jahrhunderts hatten mit ihren
Schöpfungen ein geistiges Band um das gesamte deutsche Volk geschlungen;
das Elend der napoleonischen Zwingherrschaft hatte dieses Gemeinschafts¬
bewußtsein nur gestärkt und vertieft; in den Freiheitskämpfen der Jahre
1813/15 erhielt es die greifbare Gestalt des Verlangens nach einem geeinigten
nationalen Staatswesen, Als diese nationale Einigung mit der Gründung
des Norddeutschen Bundes im Jahre 1867 begonnen wurde und in den Jahren
1870/71 mit dem Blute der gefallnen Krieger besiegelt war, da konnte es
niemand zweifelhaft sein: den neuen Verhältnissen entsprach ein absolutistisches
Kaisertum uicht mehr. Wie von selbst verstand es sich, daß dem Volke ein
weitgehender Anteil am Staatsleben gewährt wurde. Im neuen Deutschen
Reiche wurde der Absolutismus endgiltig abgelöst durch die konstitutionelle
Monarchie, Damit schließe ich den Überblick über die Entwicklung der deutschen
Monarchie, denn ein Eingehn auf die zuletzt genannte Verfassungsform, auf
deren Boden wir noch heute stehn, würde unmittelbar in die Probleme und
Kämpfe der Gegenwart hinüberführen.
s geht ein frischer Zug durch die Wohnungsreform; überall regt
sich die Thätigkeit von Privaten und Gemeinden, auch die preu¬
ßische Regierung ist bereit, gesetzgeberisch in dieser Frage vor-
zugehn. Freilich der von vielen erhofften reichsgesetzlichen Rege¬
lung steht sie anscheinend nach wie vor ablehnend gegenüber,
und auch die Stimmung des Reichstags selbst ist noch zweifelhaft. Jedenfalls
aber wird die nächste Zeit für die zukünftige Gestaltung der Wohnuugsreform
entscheidend sein. Man muß es deshalb freudig begrüßen, daß der Verein „Reichs¬
wohnungsgesetz," der sich schon manches Verdienst um diese Sache erworben
hat, gerade jetzt mit einem großangelegteu Werke vor die Öffentlichkeit tritt,
worin die einzelnen Teile dieser weitverzweigten Frage noch einmal von be¬
währten Fachleuten einer gründlichen, wissenschaftlichen Untersuchung unter¬
zogen werden.
Vor mir liegt das erste Heft dieser Publikation, worin der Straßburger
Beigeordnete v. d. Goltz die Wohnungsinspektion behandelt.*) Die Schrift
verdient die größte Aufmerksamkeit aller sozialpolitisch thätigen Kreise. Schon
der erste Teil, der eine Zusammenstellung über die bisherigen rechtlichen
Grundlagen der Wohnungsinspektion in den verschiednen Bundesstaaten giebt
und den Wortlaut aller wichtigen Gesetze und Verordnungen im Anhang ent¬
hält, ist eine willkommne Gabe, wie jeder bestätigen wird, der bisher müh¬
sam das zerstreute und oft schwer zugängliche Material zusammensuchen mußte.
Mancher wird zu seiner Überraschung daraus ersehen, wie mannigfach sich schon
die Einrichtung der Wohnungsinspektion in Deutschland gestaltet hat. Denn
wenn in Preußen und Hessen die Polizei, in Baden, Elsaß-Lothringen, Ham¬
burg besondre Wohnungskommissionen die Träger der Inspektion sind, so heißt
das doch keineswegs, daß nun in der Praxis dem einen System das andre
schroff gegenübersteht. Nicht nur das hessische Gesetz spricht ueben den Orts¬
polizeibehörden auch den Gesundheitsbeamten des Staats oder den von der
Ortspolizei beauftragten die Befugnis der Inspektion zu, sondern auch die
Anweisung zur Ausführung der Wohnungspolizeiverordnung, die der Regie¬
rungspräsident von Düsseldorf erlassen hat, empfiehlt geradezu, für die größern
Städte die Wohnungsinspektion einem besondern Beamten ausschließlich oder
doch als Hauptbeschäftigung zu übertragen; und da von diesem Recht in beiden
Ländern vielfach Gebrauch gemacht wurde, so hat die Wohnungsinspektion
gerade dort, wo sie ursprünglich der Polizei vorbehalten ist, recht verschiedenartige
Wege eingeschlagen, die sich zum Teil sogar jenem andern System beträchtlich
nähern. So z, B, sind in Elberfeld zwei ältere erfahrne Polizeiwachtmeister,
die ihren Dienst in Zivil thun, ausschließlich mit der Wohnungspflege betraut;
in Essen ist seit 1899 ein Bauführer förmlich zum Wohnungsinspektor ernannt.
In Duisburg sind auf Grund jener Anweisung des Regierungspräsidenten
geradezu Wohnungskommissionen für die einzelnen Polizeibezirke gebildet, die
aus einem Arzt, einem Bauverstündigen und einem Polizeikommissar bestehn.
In Hessen haben mehrere Städte die eigentliche Wohnungsinspektion Armen¬
ärzten oder einem bautechnisch vorgebildeten Beamten übertragen. So sind
also heute in Deutschland die verschiedenartigsten Formen der Wohnungspflege
in Wirksamkeit, und es liegt darum nahe, ihre Leistungen miteinander zu ver¬
gleichen und so zu einem Urteil über den Vorzug des einen oder des andern
Systems zu gelangen. Aber was Goltz in dieser Beziehung auf Grund einer
Umfrage bei den fünfundfünfzig Städten über 50000 Einwohner beibringt, ist
leider nicht geeignet, diese Erwartung zu erfüllen. Das ist natürlich nicht
seine Schuld, vielmehr liegt — begreiflich genug — die Sache so, daß schlie߬
lich alle Städte mit ihren verschiednen Organisationen der Wohnungsinspektion
zufrieden sind und Erfolge damit erreicht haben, die sich unmöglich gegenein¬
ander abwägen lassen — übrigens ein Ergebnis, das auch nicht ohne Wert ist.
Interessanter sind die Antworten der Städte auf eine andre Frage, die
v. d. Goltz an sie gerichtet hat, ob sie nämlich „ein Bedürfnis des Eingreifens
der Reichsgesetzgebung auf dem Gebiete der Wohnungsfrage, insbesondre
in Bezug auf die Wohnungsinspektion," anerkennen. Dreiundvierzig Städte
haben diese Frage beantwortet, und zwar zweiunddreißig mit nein und nur
neun mit ja. Am wichtigsten ist dabei die Stellungnahme der Städte, die
schon eine eigne Wohnungsinspektion haben. Von diesen haben sich über¬
haupt nur zwei unbedingt für ein Reichsgesetz allsgesprochen, nämlich Stra߬
burg und Mannheim, was dort wohl auf den Einfluß von Goltz selbst, hier
auf den des Oberbürgermeisters Beck, eines warmen Anhängers der reichs¬
gesetzlichen Regelung, zurückzuführen ist. Alle andern haben sich entweder un¬
bedingt dagegen oder nur sehr mit Vorbehalt dafür erklärt. Das kann kein
Zufall sein, und wenn Goltz meint, es sei nicht schön, das Gute, das man
selbst besitzt, nicht auch andern zu gönnen, so verkennt er doch wohl, was in
Wirklichkeit diese Städte zu ihrer Stellungnahme bewogen hat. Offenbar
befürchten diese, daß ein Reichsgesetz ihnen eine Organisation aufzwingt, die
die von ihnen selbst mühsam geschaffnen Einrichtungen vernichtet, und die sie
deshalb nicht haben wollen. Dies giebt aber, wie mir scheint, einen wichtigen
Fingerzeig für alle die, die ein Reichswohnungsgesetz wünschen: wenn sie nicht
von vornherein an diesem nicht unberechtigten Partikularismus einen heftigen
und schwerwiegenden Gegner finden »vollen, müssen sie sich bei dein Entwurf
eines Gesetzes zum obersten Grundsatz die möglichste Schonung der schon be¬
stehenden Organisationen der Wohnungspflege machen. Kommt es doch nicht
so sehr darauf an, in welcher Form, als daß sie überhaupt geschieht; Erfolge
lassen sich ja offenbar auf die verschiedenste Art erzielen, und es ist schade,
daß Goltz in dem von ihm ausgearbeiteten Entwurf eines Reichswohnungs¬
gesetzes diesen Gedanken nicht genug betont hat.
Ich komme damit auf den interessantesten und wichtigsten Teil der Schrift,
der die Forderungen für die Zukunft behandelt und den schon an sich dankens¬
werten Versuch enthält, sie einmal gesetzgeberisch klar und bestimmt zu formu¬
liere». Was hier Goltz bringt, ist zum großen Teil inhaltlich so wohlbegründet
und in der Fassung so klar, wie man es nur von einem so erprobten Praktiker
erwarten darf. Ich versage es mir, darauf im einzelnen einzugehn, und glaube
im Interesse der Sache zu handeln, wenn ich vielmehr gerade einige streitige
Punkte berühre und zu der dringend notwendigen Erörterung anrege.
Es handelt sich einmal um die Art, wie die Wohnungsinspektivn orga¬
nisiert werden muß, ob man dem hessisch-preußischen System oder dem Ham¬
burger System den Vorzug geben soll. Goltz neigt offenbar mehr zu diesem:
er macht zu dem entscheidenden Organ der Wohnungspflege die Kommission
ehrenamtlich thätiger Bürger und will mich von der eigentlichen Inspektion
die Polizeibehörden — wenigstens in den Großstädten — ausgeschlossen Nüssen.
Ich verkenne das Gewicht der dafür von Goltz angeführten Gründe nicht, und
die Unbeliebtheit, die unsre Polizei genießt, wird ihm gerade in diesem Punkte
viel Zustimmung bringen. Aber gerade deshalb möchte ich zur Vorsicht mahnen
und auch dem andern System zu seinem Rechte verhelfen. Einerseits darf
man bei der Beurteilung dieses nicht zu schwarz sehen. Wenn man die Polizei
zum Träger der Wohnungspflege macht, so heißt das ja doch nicht, wie das
Beispiel hessischer und preußischer Städte lehrt, daß uun alles der Manu mit
der Pickelhaube macht, und die Mitwirkung technisch gebildeter Beamten aus¬
geschlossen ist; Goltz selbst erkennt an, daß Schutzleute in Zivil (wie in Düssel¬
dorf), wenn ihre Thätigkeit dnrch Baubeamte ergänzt wird, ein ganz gutes
Material abgeben können. Und was die Popularität betrifft, so darf man
sich überhaupt darüber keiner Tünschung hingeben, daß schließlich jede Art von
Wohnungsinspektion unpopulär sein und als Wohnungsschnüffelei empfunden
werden wird. Es scheint mir auch gar nicht ausgemacht, ob nicht manche
Leute noch lieber den Besuch eines staatlichen Beamten als den eines ehrenamtlich
thätigen Bürgers sehen; es wäre wichtig, über die Erfahrungen, die die ver-
schiednen Städte in dieser Beziehung bisher gemacht haben, etwas zu hören.
Andrerseits darf man auch nicht die Vorteile der von der Polizei aus¬
gehenden Wohnungsiuspektion unterschätzen, denn dieser ist offenbar, wie auch
Goltz zuzugeben scheint, die größere Energie, ein schnelleres und entschiedneres
Eingreifen eigen. Beachtung verdient hier, was Goltz über die Verhältnisse in
Stuttgart und in Leipzig sagt. In beiden Städten sind neben Polizeibeamten
ärztliche Sachverständige als Organe der Wohnungspflege thätig, nur mit dem
Unterschied, das; in Leipzig diese, in Stuttgart jene die Hauptrolle spielen. Wenn
nun Goltz sagt: „Während der Leipziger Organisation der Vorzug gegeben
werden muß, Leipzig auch besonders eingehende Erhebungen über die Woh¬
nungsverhältnisse gemacht hat, scheint die größere Energie in der Beseitigung
der ungesunden Zustände in Stuttgart vorhanden zu sein," so darf man doch
fragen, ob denn das letzte nicht die Hauptsache ist. Und dann eine rein
praktische Erwägung! Daß die Hauptaufgabe der Wohnungsinspektion, die
Beurteilung der vorhandnen Mängel und die Anordnung von Vcsserungs-
nrbcitcu, die Thätigkeit sachverständiger Wvhuungsinspektoren verlangt, das steht
fest und ist ja auch schon durch die bisherige Praxis in Hessen und Preußen
vielfach anerkannt worden. Aber in der Wohnungsinspektion sind auch eine
ganze Reihe Arbeiten zu leisten, die zwar nicht unwichtig, aber doch Subalterner
Natur sind. Dazu gehört z, B. die räumliche Ausmessung der Wohnungen,
die zeitraubende Kontrolle über die Ausführung der von der Wohnungs¬
behörde angeordneten Arbeiten u. a,, Leistungen, die den ehrenamtlichen
Organen auch Goltz nicht zumuten möchte, die aber auch keine besondre tech¬
nische oder hygienische Vorbildung verlangen. Warum soll hierfür nicht der
Apparat von Subalternbeamten, der um doch schon einmal bei der Polizei
vorhanden ist, verwandt werden? Auch hier scheint mir der goldne Mittelweg
zwischen beiden Systemen das richtige zu sein; mau kaun das eine thun und
braucht das andre nicht zu lassen.
Endlich noch ein kurzes Wort zu dem Kapitel: „Die materielle» Anforde¬
rungen der Wohnungsinspektiou," das jn den Kern der Wohnungsfrage be¬
trifft, Goltz betont hier einerseits wiederholt mit Recht, daß ein Reichswoh¬
nungsgesetz nicht bis in die Einzelheiten hinein zwingende Bestimmungen über
die Beschaffenheit der Wohnungen für das ganze Reich geben kann und die
absolut zwingende Festsetzung von Mindestmaßen an Luftraum, Zahl der Aborte
und dergleichen den Landes-, Bezirks- und Ortsbehörden überlassen muß.
Andrerseits hat er doch in seinen Gesetzentwurf nach Art der Düsseldorfer
Polizeiverordnung eine Reihe von Mindestforderungen aufgenommen, von
denen' bei den schon bestehenden Wohnungen im Notfall Ausnahme» zu
gelassen werden sollen, die aber für Neubauten unbedingt durchgeführt werden
sollen. Hier giebt es nun aber einige Bestimmungen, gegenüber deren Aufnahme
doch starke Bedenken berechtigt sind. Ich will nur eine erwähnen: die bekannte
Forderung eines Miudestluftraums für die Schlafrünme (zehn Kubikmeter für
jeden Erwachsenen und fünf Kubikmeter für jedes Kind unter vierzehn Jahren).
Diese gegen die Überfüllung der Wohnungen gerichtete Bestimmung scheint mir,
so wie heute die Verhältnisse liegen, undurchführbar. Ich kaun dazu nur
wiederholen, was ich 1899 in den Grenzboten gesagt habe: man mag noch so
bündig das Minimum von Luftraum feststellen, das die Hygiene erfordert, der
Arbeiter ist seinerseits an ein Maximum gebunden, das durch den Betrag, den
er für seine Wohnung ausgeben kann, also den Lohn bestimmt ist. Jn den
unzähligen Fällen, wo der Arbeiter eine zahlreiche Familie hat, lassen sich
dieses Maximum und jenes Minimum nicht in Einklang bringen. Entweder
also müßte man in den größern Städten durchgehends von dein Rechte Ge¬
brauch machen, Ausnahmen in weitem Umfange zuzulassen ^ eine Bestimmung
aber, von der die Ausnahme Regel wäre, in ein Gesetz aufzunehmen, ist nicht
ratsam - oder wenn man wirklich die Forderung durchführen wollte mit Hilfe
des Baus von kleinen Wohnungen, so wären dazu unter den heutigen Ver¬
hältnissen so enorme Summen erforderlich, wie sie auch dein Staate nicht zur
Verfügung stehn. Hier liegt eben der Hauptpunkt, wo die Wohnungsfrage
unlösbar verknüpft ist mit andern Problemen der sozialen Gesetzgebung, vor
allein mit der städtischen Bodengesetzgebnng, Vollständig wird man jene nur
lösen können, fürchte ich, wenn man in diese energisch eingreift. Aber manches
ließe sich doch schon heute ohne allzugroßen Widerstand erreichen. Und gerade
deshalb ist es auch so verdienstlich, daß der Verein „Reichswohnungsgesetz"
einmal alle die verschiednen hier in Betracht kommenden Fragen unter dem
einheitlichen Gedanken der Wohnungsreform und eines Wohnungsgesetzes be¬
arbeitet, um auf diesem Grunde ein umfassendes und doch in sich zusammen¬
hängendes Programm zu gewinnen. Mit berechtigter Spannung werden
darum alle Freunde der Wohnungsreform seine weitern Veröffentlichungen
erwarten, und sie können nur wünschen, daß sie alle der Goltzischen Schrift an
Bedeutung gleichkommen.
le Periode der englischen Geschichte, die Macaulay die kräftigsten
Worte des pathetischen Hasses eingab, war die Zeit der Restau¬
ration, wo die Grundsätze der Freiheit von jedem grinsenden
Höfling verspottet wurden; in dein Essay über Milton z, B. nennt
er diese Zeit „jene Tage, die man sich nicht ins Gedächtnis
zurückrufen kann, ohne zu erröten, die Tage der Knechtschaft ohne Mnnnen-
treue und der Sinnlichkeit ohne Liebe, die Tage zwerghafter Talente und
riesengroßer Laster, das Paradies des kalteii Herzens und des engen Verstandes,
das goldne Zeitalter des Feigen, des Frömmlings und des Sklaven." Der
einzige, für den er bedingungslose Begeisterung zeigt, ist Milton, Sogar der
Held seiner Geschichte, Wilhelm von Oranien, tritt hinter Milton zurück, wie
überhaupt das kühle Maßhalten auch im Loben für Macaulay charakteristisch ist.
Er glaubt im allgemeinen nicht an die führenden Geister. „Die Zeit schafft den
Mann, nicht der Mann die Zeit," spricht er in dem Aufsatz über Dryden aus
dem Jahre 1828 aus, und ebenda heißt es: „Große Männer zahlen nur mit
Zinsen zurück, was sie erhalten haben." Ebensowenig glaubt er an die voll-
kommnen Engel und die vollkommnen Bösewichter. „Weise Männer sind immer
geneigt gewesen, mit großem Mißtrauen auf die Engel und die Teufel der Menge
zu sehen." Auch bei Addison, an den er mit einer Liebe denkt, wie sie nur
ein Freund für den andern empfinden kann, hält sich Macaulay von jeder
Verhimmlung absichtlich fern. „Ein genialer und sittlich hochstehender Mensch
bleibt doch ein Mensch," sagt er. Und dennoch finden wir eine schrankenlose
Verehrung Miltons? Jedenfalls ist die Flamme der Begeisterung zu Heller
Lohe entfacht, weil Milton auch ein Freiheitskämpfer war. Am Schluß des
Essays über Milton heißt es: „Auch können wir den Mann nicht beneiden,
der das Leben oder die Schriften des großen Dichters studieren kann, ohne
danach zu streben ... in dem tödlichen Haß ihm gleichzukommen, den er gegen
Frömmlinge und Tyrannen hegte." Zwar giebt Maeaulah zu, daß die Menschen
die Freiheit erst zu benutzen verstehn, nachdem sie einige Zeit frei gewesen
sind. Die aber, die meinen, man sollte die Freiheit dem Volke erst dann ge¬
währen, wenn es fähig sei, sie zu gebrauchen, vergleicht er mit dem Narre»
der Erzählung, der nicht ins Wasser gehn wollte, bevor er schwimmen gelernt
hätte. „Wenn die Menschen auf die Freiheit warten sollen, bis sie weise und
gut in der Sklaverei werden, dann können sie wahrhaftig ewig warten."
Den Standpunkt der Whigs vertritt Macaulay auch, wenn er seine An¬
sichten über den Zweck des Staats auseinandersetzt. Nach ihm ist der Haupt¬
zweck des Staats rein weltlich: der Schutz des Lebens und des Eigentums
der Menschen. Was zur Erreichung dieses Hauptzwecks nützlich ist, das zu
fördern ist die Pflicht der Regierung, z. B. die Verbesserung der Dampfschiff¬
fahrt, weil sie für die Landesverteidigung nützlich ist; jedes andre an sich gute
Werk, wie Förderung der schönen Künste, sollte der Staat begünstigen, aber
nur dann, wenn es dem Hauptzwecke nicht entgegensteht. Und nichts erscheint
ihm so schädlich, wie wenn der Staat sich in Dinge mengt, die ihn nichts
angehn. Darin ist Macaulay wieder ganz und gnr Engländer. IN» «xirit
c>t' iQeääliiiß' — das ist der Fehler, worin sich nach Macaulay alle Fehler der
innern Verwaltung Friedrichs des Großen zeigen (IZiossraxlüog.1 Lss^, 36).
Eine Regierung, die mehr anstrebt, als sie sollte, wird sicherlich weniger
erreichen. Daß man öffentliche Beschimpfungen gegen Sitte und Religion
bestraft, das ist wohl Sache der Regierung; wenn die Regierung sich aber
nicht mit einem anständigen Benehmen begnügt, sondern fromme Handlungen
verlangt, dann überschreitet sie die Schranken, die dem Gesetzgeber gezogen
sind, und richtet Unheil an. So kam es, daß auf die Zeit der Herrschaft der
Puritaner, die feierlich im Parlament beschlossen hatten, daß nnr der im
Staatsdienst beschäftigt werden dürfe, von dessen Frömmigkeit sich das Haus
überzeugt hätte, eine Zeit unsäglich wilder Ausgelassenheit folgte; so kam es,
daß auf den frömmelnden Ludwig XIV, die Regentschaft folgte, eine Zeir der
ausschweifendsten Orgien,
Wohl ist der Staat der gesetzmäßige Beschützer derer, die sich nicht selbst
beschützen können, und deshalb nennt Macaulay das Gesetz, das die Fabrik¬
arbeit von Kindern beschränkt, segensreich, aber ein Gesetz, das den Lohn der
Arbeit festlegte oder den Zinsfuß des Geldes bestimmte, hält er für verderblich.
Immer ist er dafür eingetreten, daß die Regierung das Wohl der Nation am
besten fördert, wenn sie das Kapital nicht in bestimmte Richtung hineindrängt,
sondern sich selbst überläßt, wenn die Waren den ihnen angemessenen Preis,
Arbeitsamkeit und Klugheit ihren natürlichen Lohn, Trägheit und Dummheit
ihre natürliche Strafe selbst finden. So sagt er auch in der dritten seiner
Reden für die Reformbill (20, September 1831), man könne nicht überschweng¬
liche Hoffnung auf den Erfolg der Bill setzen, denn es sei nicht die Aufgabe
der Regierung, unmittelbar das Volk reich zu macheu, sondern nur, es zu be¬
schützen im Erlverb, Der Wohlstand der Gemeinschaft kann sich nach ihm
nur auf den Fleiß und das Nachdenken der Individuen gründen. Deshalb
ist es auch sehr bezeichnend für seine Anschauungslveise, daß er an die heil¬
same Wirkung des Gesetzes nur unter gewissen Bedingungen glauben kann.
„Das Gesetz ist nichts als ein Stück Papier, das von dem königlichen Drucker
bedruckt und mit dem königlichen Wappen versehen ist, bis die öffentliche
Meinung dem toten Buchstaben den Atem des Lebens einhaucht." Eine sehr
bezeichnende Stelle findet sich darüber anch in dem Essay, den er Lurlvigb
Ära Iris times genannt hat: „Verfassungen, Freibriefe, Wahlkollegien n, tgi,,
heißt es dort, machen nicht die gute Negierung aus; auch bringen sie nicht , .,
notwendigerweise eine gute Regierung hervor, Gesetze sind umsonst da für die,
die nicht den Mut und die Mittel haben, sie zu verteidigen, . . , Pfaffenlist,
Unbildung, die blinde Wut streitender Parteien können gute Einrichtungen
wertlos machen, Klugheit, Mäßigkeit, Fleiß, sittliche Freiheit und festes Zu¬
sammenhalten der Einzelnen kann in weitem Maße die Mängel des schlechtesten
Wahlsystems wieder gut machen,"
Es ist darum nicht wunderbar, daß sich Macaulay aus Staatstheorien
sehr wenig macht. Er steht damit im Gegensatz zu den Franzosen, die immer
gern „Systeme" gebaut haben, aber er ist damit in voller Übereinstimmung
mit seinen eignen Landesgenossen, Macaulay spricht sich so darüber aus
(Hi8t., 4, 86): „Unsre nationale Abneigung gegen alles, was abstrakt ist in der
Politik, wird unzweifelhaft schon zu einem Fehler, Aber es ist vielleicht ein
Fehler nach der richtigen Seite hin, , , , Wenn auch in andern Ländern hin
und wieder schnellere Fortschritte gemacht worden sind, so wäre es nicht leicht,
ein Land zu nennen, wo so wenig Rückschritte erfolgt sind." Macaulay für
seine Person mißtraut allen allgemeinen Regierungstheorien, „Ich will nicht
mit Bestimmtheit behaupten, daß es irgend eine Form der Politik giebt, die
nicht in einigen denkbaren Füllen die möglichst beste wäre," Schon des¬
halb dürfe man sich auf Theorien nicht verlassen, weil Logik mit Staatskunst
nicht immer vereinbar sei, die Logik lasse keinen Kompromiß zu. Das
Wesen der Staatskunst aber sei der Kompromiß, Darum sagt er einmal in
einer Parlamentsrede, Anomalien in der Gesetzgebung seien nicht etwas, was
ihn so aufregen könne, „Ich würde nur nicht die Mühe nehmen, die Hand
in die Höhe zu heben, bloß um eine Anomalie los zu werden, die nicht auch
ein Übelstand wäre,"
Und wie er in der Politik diesen Sinn für das Praktische zeigte, so
waren anch sonst seine Anschauungen über Litteratur und Philosophie auf das
Nützliche gerichtet. Namentlich tritt das zu Tage in dem vielbewunderten
Essay über Bacon. Er stellt hier den englischen Philosophen über alle, die
ihm vorhergegangen sind, weil das, was er lehrte, oder wozu er anregte,
nützlich war, die Herrschaft des Menschen über die Materie förderte, während
Plato und alle, die nach ihm philosophierten , zwar Unmögliches versprachen,
aber nichts erreichten, „Die Menschen vollkommen zu machen, gehörte nicht
zu Bacons Plan, Sein bescheidnes Ziel war, es unvollkommnen Menschen
behaglich zu machen." Wenn wir in den Tagebüchern und Briefen Maeaulays
lesen, welchen Genuß ihm die Lektüre Platos und der Griechen überhaupt be¬
reitete, so wundert es uus, in dem erwähnten Essay die spöttischen Worte zu
finden: ^t'ehr tre^ (Plato und seine Nachfolger) tua thon cleoliüminF 800 ^og-rs,
kennt me)' ing,As tuo ^or1<l bvttpr denn vnsn etre^ og^u? Und wenn wir
selbst aus unserm Gefühl heraus uns sagen müssen, daß die herrlichsten Er¬
findungen der technische» Wissenschaften — nud der Vater dieser Erfindungen
ist, wie Macaulay meint, Vaeon, weil er zuerst der induktiven Methode
Wichtigkeit und Würde verlieh —, daß diese Erfindungen uns zwar Annehm¬
lichkeiten in Fülle bringen, daß wir aber inneres Glück, was doch das höchste
ist, viel mehr in der Beschäftigung mit geistigen, vielleicht nutzlosen Dingen
zu suchen haben, so werden wir auch Macaulay nicht immer in seiner Nütz¬
lichkeitstheorie folgen können. „Unzweifelhaft waren die Wvrtstreitigkeiten der
Alten von Nutzen, insofern als sie dazu dienten, die Geistesfähigkeiten der
Disputierenden zu üben. . . . Aber wenn wir nach etwas mehr aufschauen,
nach etwas, was die Leiden des Menschengeschlechts lindert, dann müssen wir
unsre Enttäuschung eingestehn. . . . Solche Dispute konnten das Wissen in
nichts bereichern. . . . Jede Spur geistigen Anbaus war vorhanden, nur die
Ernte fehlte."
Bei Macaulay hatte der auf das Praktische gerichtete Sinn in der Politik
seine Wurzel in der Anschauung, daß die Staatskunst eine experimentelle
Wissenschaft, also in stetigem Flusse sei. Dieser Gedanke aber hatte auf
seine Beurteilung von Personen, die der Vergangenheit angehörten, einen
günstigen Einfluß. Er verfiel fast nie in den Fehler, den Maßstab der Gegen¬
wart bei Dingen oder Menschen der Vergangenheit anzulegen. Das gab seinem
Urteil eine Milde, die mit Recht zu seinen Vorzügen gerechnet wird. Er ließ
es sich immer angelegen sein, die Menschen aus ihrer Zeit heraus zu verstehn.
So finden wir bei ihm den beherzigenswerten Satz: „Niemand sollte dafür
streng beurteilt werden, daß er in der Tugend nicht über sein Jahrhundert hinaus
ist," Diese Milde zeigt sich auch da, wo es gilt, Männern gerecht zu werden,
die in außergewöhnliche Lagen versetzt waren, wie Lord Clive. „Die allge¬
meine Strafrechtspflege kennt kein Gegengewicht und keinen Ausgleich. , , ,
Aber in solcher Weise sollten wir nicht denen gegenüber Verfahren, die weit
über die gewöhnlichen Willensschranken erhoben, weit mehr als gewöhnlichen
Versuchungen ausgesetzt und darum zu mehr als dem gewöhnlichen Maße an
Nachsicht berechtigt sind. Solche Männer sollten von ihren Zeitgenossen so
beurteilt werden, wie sie es von der Nachwelt zu erwarten haben."
Es ist auch nicht wunderbar, daß Macaulay die schärfsten und pathetischsten
Worte der Verurteilung findet, als er in dem Essay über den Jakobiner
Bertrand Barrere dessen Antrag erwähnt, daß keine Gefangnen mehr ge¬
macht werden dürfen, und daß die, die es schon seien, getötet würden. Mit
dem Standpunkt, den die Moral im Heere einnehme, sinke oder steige auch
zum großen Teil die allgemeine Moral eines Volks. Es sei deshalb ein
Glück, daß seit langem Achtung vor den Schwachen und Milde gegen die Be¬
siegten als Vorzüge betrachtet seien, die für den vollkommnen Soldaten nicht
minder wichtig seien als persönlicher Mut. „Und ist es nicht sicher, fährt er
fort, daß, wenn Grausamkeit gegen die Hilflosen das Merkmal von Soldaten
würde, sich der Fleck rasch im bürgerlichen und häuslichen Leben verbreiten
müßte; daß er sich zeigen müßte in allen Beziehungen der Starken zu den
Schwachen, der Männer zu ihren Frauen, der Arbeitgeber zu ihren Arbeitern,
der Gläubiger zu ihren Schuldnern?"
Und noch eine andre Wirkung hatte die Anschauung von der Staatskunst
als einer experimentellen Wissenschaft auf Maeaulciy. Wie sie ihn dahin führte,
die Mängel vergangner Zeiten mit Milde zu beurteilen, so erfüllte sie ihn
auch mit unerschütterlicher Hoffnung auf immer bessere Zustande in der Zu¬
kunft. Er sieht immer einen Lichtpunkt, und das, was er geschrieben hat, ist
erfüllt von der innern Heiterkeit seines Gemüts. „Je mehr wir von der Ge¬
schichte vergangner Zeiten lesen, und je mehr wir die Zeichen der Gegenwart
beobachten, um so höher fühlen wir unser Herz schlagen, um so stärker erhebt
uns die Hoffnung auf die zukünftigen Geschicke des Menschengeschlechts." Und
Robert Southey gegenüber, der in seinen OolloauiW ein tus ?r(M6W guä
^rospsots ol Looiöt^ behauptet hatte, daß das Land seiner völligen Vernich¬
tung zueile, tritt er mit der Schärfe entgegen, deren er sich bei litterarischen
Gegnern besonders im Anfang seiner schriftstellerischen Thätigkeit hänfig
schuldig machte. Er verläßt sich nicht wie Southey auf die Güte Gottes, der
dem Verderben Einhalt gebieten werde, er verläßt sich vielmehr auf die Gesetze,
die Gott in seiner Güte in der physischen und moralischen Welt fest gegründet
hat. "Ws rslzs on et.ez luMral temÄeno/ cet dero bums.u intellset de> trülil g.na
on tue ug.tur3,1 tgucisue^ ok 80viol^ to iiuvrovernsni. Und sogar wenn es
den Anschein hat, als ob die Kultur Rückschritte mache, so darf man nach
Macaulay nur an eine zeitweilige Unterbrechung des allgemeinen Fortschritts
denken; er findet dafür den schönen Vergleich: „Wohl mag eine einzelne
Brandungswelle zurückweichen, aber die Flut kommt sicherlich herein,"
Aber so sehr man sich auch an dem gesunden Sinn Macaulays und an
seiner milden Auffassung erfreuen mag, so groß auch seine Gelehrsamkeit sein
mag, und infolgedessen das Vertrauen des Lesers in die Festigkeit des Bodens,
auf den ihn der Historiker führt, ein drittes muß doch noch hinzukommen, wo¬
durch erst der ganz ungewöhnlich große Erfolg seiner Schriften erklärt werden
kann: dieses dritte ist seine litterarisch-künstlerische Gestaltungskraft.
Wir nehmen dem Verdienste Macaulays nichts, wenn wir bei dieser Ge¬
legenheit seine Abhängigkeit von seiner Zeit feststellen. Als er anfing, für die
DäinvnrAN Rovisv zu schreiben — sein erster Aufsatz für diese Zeitschrift war
bekanntlich der über Milton aus dem Jahre 1825 —, da stand schon der
Ruhm des Schöpfers von Wcwerley, Ivanhoe und Kenilworth auf seinem
Höhepunkte. England begeisterte sich damals für die Romane, die ihm zu¬
gleich mit einer spannenden Handlung, die der Phantasie des Dichters ihren
Ursprung verdankte, ein treues Bild seiner Vergangenheit gewährte oder
wenigstens zu gewähren vorgab. Macaulay strebte danach, geschichtliche Stoffe
so zu behandeln, daß sie dein großen gebildeten Publikum ebenso anziehend
wären wie ein Roman, jedoch so, daß nicht ein einziger Zug erwähnt würde,
der nicht ausreichend bezeugt wäre: der Historiker hatte vom Dichter gelernt.
Ja, Mamulay geht uoch weiter. Er findet, daß die Geschichte seltsamere
Dinge berichtet als die Poesie; daß die Natur Launen hat, die die Kunst nicht
nachzuahmen wagt. Als er von dein Ehebruch des katholisch-frommglüubigen
Königs Jakobs II. mit Katherine settes spricht und die Intriguen berichtet,
die der orthodoxe Schatzmeister Rochester anspinnt, um den Einfluß der seiner
Partei ergebner Dirne zu stärke», da hält er in seiner Erzählung inne und
fügt diese Bemerkung ein: kein Dramatiker würde es wagen, einen Fürsten
darzustellen, der seine Krone aufs Spiel setzt, um den Interessen seiner Reli¬
gion zu dienen, und der doch seine schöne und junge Fran betrügt um einer
häßlichen und alten Buhlerin willen'; und ebenso wenig würde er es wagen,
einen Staatsmann hinzustellen, der sich zum Kuppler hergiebt und sich darin
noch von seiner Frau unterstützen läßt, und der zur selben Zeit in seinen
Mußestunden religiöse Meditationen niederschreibe, die nur für sein Auge be¬
stimmt sind und den Geist tiefster Frömmigkeit atmen."
Daß es Macaulay gelungen ist, eine Spannung in dem Leser zu erwecken
wie bei der Lektüre eines Romans, wird jeder zugeben, der die Schilderung
bon dem Tode Karls II. gelesen hat oder die von Argylcs Landung in Schott¬
land (Listoi,^ 2, 124), oder die Stellen, in denen er beschreibt, wie Karl VI. von
Spanien der Gruft seiner Väter einen Besuch abstattet. Wir können auch im
einzelnen beobachten, wie sich Macaulay die Technik des Romans angeeignet
hat. Wenn die Erzählung an einen bedeutsamen Punkt gelangt ist, dann läßt
er den Leser gewissermaßen Atem schöpfen; er berichtet ihm dann von Dingen,
an die der Historiker seinem Fache nach kaum denkt, Dinge, die zwar eine
innere Wahrheit haben, aber dnrch äußere Zeugnisse kaum belegt werden köunen.
In der Nacht vor dein Kampfe bei Plassey z. B. führt er uns in das Zelt
der beiden Gegner: Clive schläft unruhig bei dem Gedanken an die Übermacht
des Feindes, aber auch Surnjah Dowlahs Schlaf ist nicht friedlicher. Sein
Geist war verstört durch wilde und grausige Schrecken, Oder er sagt uns,
welche Gedanken Wilhelm von Oranien durch den Kopf gingen, als er das
erste Schreiben seines Schwiegervaters ans englischem Boden erhielt, Oder
um das Aussehen Irlands im Jahre 1690 zu beschreiben, benutzt er den Kunst¬
griff des Nomandichters, der lieber den Helden den Anblick einer Gegend ge¬
nießen läßt, als daß er selbst die Gegend beschreibt, Wilhelm III. ist in Ir¬
land angekommen, „Die natürliche Fruchtbarkeit des Landes, das satte Grün
des Bodens, die Buchten und die Flüsse, die für den Handel wie geschaffen
waren, mußten auf das königliche Adlerauge Eindruck machen. Vielleicht dachte
er daran, wie anders dieses unglückliche Land ausgesehen hätte, wenn es der
Segnungen einer solchen Regierung und eines solchen Glaubens teilhaft ge¬
worden wäre wie sein heimatliches Holland, das die Vewundrung der Welt
erweckt hatte," Und nun wird weiter noch bis ins einzelne ausgeführt, wie
anders es (dem Gedanken von Wilhelm nach) Hütte aussehen müssen bei andern
Bedingungen auf der Straße von Lisburn »ach Belfast, auf denn Lagganfluß,
im Hafen von Newry und in Dundalk.
Oder man betrachte einzelne Züge der wunderbaren Schilderung des Ge¬
richts über Warren Hastings in der Westminsterhalle; wenn irgendwo, so hat
Macaulay hierbei allen Glanz eines großen Stils in der Beschreibung ent¬
faltet. Daß sich Gibbon nnter den Zuschauern auf der Galerie aufhält, be¬
richtet er dort wie ein Dichter, der uns die Empfindungen seiner Personen
beschreibt, „Da war der Historiker des römischen Reichs und dachte an die
Tage, wo Cicero die Sache Siziliens gegen Verres vertrat, und wo Tacitus
vor einem Senat, der noch immer einigen Schein von Freiheit bewahrte, don¬
nernde Anklagen gegen den Unterdrücker Afrikas erhob."
Die Lebendigkeit seiner Phantasie zeigt sich vor allem in den Detail¬
schilderungen. Margareth Macaulay, die Schwester des Historikers, hat in
ihrem Tagebuche, von dem einige Seiten bei Trevelyan abgedruckt sind, eine
Unterhaltung mit ihrem Bruder wiedergegeben, in der dieser beschreibt, wie
seine Phantasie von Kindheit an durch das Studium der Geschichte erfüllt
wurde, „Kaum bin ich auf der Straße, sagt er da, so bin ich in Griechen¬
land, in Rom, inmitten der französischen Revolution. Pepys Tagebuch war
eine fast unerschöpfliche Nahrung für meine Phantasie. Ich glaube, jeden Zoll
von Whitehall zu kennen. Die Unterhaltungen, die ich zwischen den großen
Leuten der Zeit verfasse, sind lang und sehr lebhaft im Stil, wenn auch nicht
so wertvoll wie die Sir Walter Scotts,
Wie vieles in seinen Schriften bezeugt, daß er sich auf Schritt und Tritt
die Vergangenheit lebendig bis in nlle Einzelheiten vergegenwärtigt hat! Und
das gehörte auch zu der Theorie, die er sich über die Aufgabe des Historikers
gemacht hatte: „Ich will freudig den Vorwurf hinnehmen, sagt er auf einer der
ersten Seiten seines großen Werkes, der Würde der Geschichte etwas vergeben
zu haben, wenn es mir dafür gelingt, den Engländern des neunzehnten Jahr¬
hunderts ein treues Bild von dein Leben ihrer Vorfahren vor Augen zu
führen." Über den Ausdruck „Würde der Geschichte" spottet er häufig. Die
Tragödie habe ihre Würde ebenso wie die Geschichte, und wieviel die tragische
Kunst der Würde verdankt habe, das könne jeder ermessen, der die majestä¬
tischen Alexandriner, in denen der Seigneur Oreste nud die Madame Andro-
maqne ihre Klagen äußerten, vergleichen wolle mit dem Plappern des Narren
im Lear oder dem der Amme in Romeo und Julia. An einer andern Stelle
sagt er: „Die Majestät der Geschichte scheint der Majestät des armen Königs
von Spanien zu gleichen, der als Märtyrer des Zeremoniells starb, weil die
geeigneten Würdenträger nicht zur Stelle waren, die ihm hätten Hilfe leisten
können." Macaulay will, daß die Dctailschilderungen als notwendiger Be¬
standteil der Geschichte aufgefaßt werden. So verlangt er von dem Historiker
der englischen Bürgerkriege, daß er von den Scharmützeln nur mit verständ¬
licher Kürze spreche, sie seien nur Bindeglieder. „Aber die großen charakte¬
ristischen Merkmale der Zeit, die königstreue Begeisterung des tapfern eng¬
lischen Landedelmanns, die trotzige Zügellosigkeit der fluchenden, spielenden,
betrunkneu Schelme, deren Ausschweifungen die Sache des Königs entehrten —
die strenge Beobachtung des presbyterianischer Sabbaths in der City, die
Überschwenglichkeit des unabhängigen Predigers im Lager, die gleichmäßig zu-
geschnittue Kleidung, der ernste Gesichtsausdruck, die kleinlichen Gewissensbisse,
der affektierte Tonfall, die abgeschmackten Namen und Sätze, die den Puritaner
kennzeichneten - der Mut, die Staatskunst, der Geist des Gemeinwohls, die
unter dieser wenig anmutigen Hülle versteckt lagen, die Träume derer, die das
tausendjährige Reich Christi einzusetzen suchten, und die kaum weniger aus¬
schweifende» Träume des philosophischen Republikaners — alles dies müßte
in die Darstellung aufgenommen werden, die dadurch genauer und zugleich
interessanter gestaltet wird."
Von den feinen Detailschilderuugen Maeaulays, die sich jedem Leser ins
Gedächtnis eingraben, gebe ich keine Beispiele, weil ich hier nicht wüßte, wo
ich anfangen und wo ich enden sollte. Aber ans eine Besonderheit, die mit
diesen intimen Einzelheiten in Zusammenhang steht, möchte ich die Aufmerk¬
samkeit hinlenken. Macaulay kennt die Zeit, die er behandelt, so genau, daß
er gern charakteristische Redewendungen, die ihr angehören, gebraucht. Um
anzudeuten, daß Addison schon Aussicht gehabt hatte, seine Bewerbung um
eine Dame angenommen zu sehen, drückt er sich so aus: ^cläison Incl desn,
in M-!i8ö ok eh.6 romauoss -wiiioir wsrs eh.su ka8divin,dio, „permittsä to
Koxe." Auf derselben Linie steht auch ein Satz wie: In polities t.b.6 Inäs-
vsnZvnts vero, to usf los pdrasL cet tlivir time, rocck ->n6 wiinoli men, or,
to usf tue lcinclrocl vnrkl8ö ok our von tiino, iZ.clieÄl8. In dein lehrreichen
dritten Kapitel seiner Geschichte, das Leg.te ot'Rü^I-unt in 1685 überschrieben
ist, spricht er auch von der materiellen Lage der niedern Geistlichkeit; dort
heißt es: ^ ^onng' IlLvite — suvo was tus xdrg.80 Alfr in use — rniglit
os uack lor eilf oosirci, a surgit harret, auel thu v0und8 a ^ssrr. Um die Stim¬
mung eines Teils des schottischen Volkes gegenüber Lord Argyle zu charakte¬
risieren, braucht er die Wendung: One, vdo rvooinmonäeä oainxi'ödonsion ava
tolvratiou in tnsir viri"l>86, lliillin^ bötvvosn ^sirov^ki IZgxU Jm
Jahre 1688 brachen in London Unruhen aus, als die Flucht Jakobs II, be
kennt wurde. Da heißt es unter anderm: ?Ks XiuZ'8 vrintinA douse . . . .
vvg.8, to N8S i>, v0Al'8ö metg-plior ^vdicll duhn, lor eilf Kr8t eins, of-unz into
use, emnpletsly ^ut,tea.
Wenn die Detailschildernngen aber seinen Gemälden eine satte, lebens¬
volle Farbe verliehen, so gab ihnen seine Meisterschaft in der Anordnung des
Stoffs auch die passende Perspektive; und seine Kunst in der Auswahl dessen,
was die charakteristischen Züge einer Persönlichkeit oder einer Periode bildet,
wußte Licht und Schatten so zu verteilen, daß die Wirkung erhöht wurde.
Diese vollendete Geschicklichkeit in der Anordnung des Stoffs und in den Über¬
gängen von einem Teil zum andern wird häufig bei der ersten Lektüre dem
Leser gar nicht bewußt werden. Erwägen wir nnr, was in jedem seiner Essays
zusammengewoben ist: die Ereignisse des Lebens eines Menschen, die all¬
gemeine Geschichte seiner Zeit, die Analyse seiner Werke, die Prüfung seiner
Handlungen nach ihrem sittlichen Werte und die Diskussion über Prinzipien,
seien sie sittlicher oder litterarischer Natur, zu denen seine Handlungen oder
Schriften Veranlassung geben. Und in diesem Gewebe entdecken wir nirgends
eine Naht, nirgends ist der Faden gerissen.
Neben der Klarheit seines Geistes verdankt er dies der Kunst, das Wesent¬
liche vom Unwesentlichen zu soudern, immer den wichtigen, entscheidenden Punkt
zu finden. Er selbst sagt in einem Aufsatz aus dem Jahre 1828: „Der, dem
die Kunst der Allswahl nicht vertraut ist, kann möglicherweise nur Thatsäch¬
liches darstellen und doch den Eindruck von etwas durchaus Falschen hervor¬
rufen." Dieses Bestreben, das Charakteristische herauszuheben, hat ihn aller¬
dings zuweilen auch zu Übertreibungen verleitet, die geradezu geschmacklos
wirken. In dem Bestrebe>l, die Härte der Jugendzeit Friedrichs des Großen
recht eindrucksvoll zu schildern, versteigt er sich zu dein Satze: „Oliver Toise
in dem Arbeitshause des Kirchspiels, Saite in Dotheboys Hall waren ver¬
zogne Kinder im Vergleich mit diesem armen Kronprinzen." Und in dem¬
selben Essay schildert er in geradezu unsinnig übertriebner Weise die Leiden,
die die Mitglieder der Tafelrunde Friedrichs aufzustehn gehabt Hütten. Nur
die Naserei des Hungers könne einen Manu veranlaßt haben, das Elend zu
ertragen, der Tischgenosse des großen Königs zu sein. Und er schließt die
Schilderung mit den Worten: „Wir können getrost behaupten, daß der ärmste
Schriftsteller dieser Zeit in London, der auf der Straße schlief und in. einem
Keller speiste, der eine Halsbinde aus Papier und ein Stuckchen Holz als
Busennadel trug, ein glücklicherer Mensch war als irgend einer der Tafelrunde
Friedrichs." Es gehörte allerdings zu der Theorie Macaulays, daß die besten
Porträts die seien, in denen sich eine leichte Beimischung von Karikatur finde;
doch zuweilen ist die Dose zu stark ausgefallen.
Aber wir würden Macaulay Unrecht thun, wenn U>ir nicht gleich hinzu¬
fügten, daß diese unklugen Übertreibungen im ganzen selten sind. Dazu war
er doch ein zu herzenskundiger Mann. Viele Porträts, die er mit Worten
schuf, find denen an die Seite zu stellen, die der Pinsel van Dyls hervor¬
gebracht hat. Und außer diesen scharf gezeichneten Charakterköpfen von Karl 11,
und Wilhelm von Oranien, von Lord Clive und Wnrren Hastings, von Halifax
und Charles Montague, von William Pitt und Addison überzeugen uns auch
einzelne feine psychologische Bemerkungen, daß er in die Geheimnisse des
menschlichen Herzens gedrungen ist. So wenn er die plötzliche Abneigung der
Engländer gegen Bhron mit den Worten erklärt: „Er hatte sich das Vergehn
zu schulden kommen lassen, das von allen Vergehungen am strengsten bestraft
wird: er war übermäßig gelobt worden, er hatte ein zu warmes Interesse
erregt; und mit dem ihnen eigentümlichen Gerechtigkeitsgefühl bestraften ihn die
Leute für ihre eigne Narrheit." Oder wenn er erklärt, wie das Schicksal Samuel
Johnson zu einem unhöflichen Manne machte. „Höflichkeit ist richtig definiert
worden als Herzensgüte bei kleinen Dingen. Johnson war unhöflich, nicht
weil es ihm um Gutartigkeit fehlte, sondern weil ihm kleine Dinge kleiner er¬
schienen als Leuten, die nie erfahren hatten, was es hieß, mit täglich Pence
zu leben."
Wenn aber Macaulays Stärke im allgemeine» in seiner Urteilsschärfe bei
historischen, politischen oder moralischen Fragen liegt, so ist andrerseits nicht schwer
zu erkennen, daß die litterarische Kritik seine schwache Seite ist. Er war sich
übrigens dieser Schwäche mich bewußt; er, der ein starkes Selbstbewußtsein
hatte, schrieb am 26. Juni 1838 an den Redakteur der I'..ki»!>uru1> Rvviv>v:
„Solche Bücher wie Lessings Laokoon, solche Stellen wie die Kritik über Hamlet
in Wilhelm Meister erfüllen mich mit Bewundrung und Verzweiflung." Er
sucht meistens das Werk, das er bespricht, nicht von innen heraus, aus seiner
Zeit, den Bedingungen seines Entstehens, der Besonderheit des Dichters zu
erklären, sondern er entwickelt ein allgemeines Gesetz und wendet dann dieses
auf den speziell vorliegenden Fall um. Dann aber wirkt es zuweilen geradezu
komisch, wie er gewissermaßen als „Zeremonienmeister, der die Gebräuche
litterarischen Vortritts genau kennt," jedem den bestimmten Platz unweise, zu
dem er berechtigt ist. So sagt er z. B von Addisons Cato: „Unter den
Dramen, die nach französischem Muster geschrieben sind, darf man ihm einen
hohen Rang einräumen; zwar steht es nicht auf gleicher Stufe wie Athalie,
aber nicht unter Cinna und sicherlich über jeder andern englischen Tragödie
derselben Schule, über vielen Stücken von Corneille, über vielen Voltaires und
Alfieris und über einigen Stücken von Racine," Oder von Dante sagt er:
„Ich werde über Dante denken, wie ich über ihn dachte, als ich ihn zuerst
las, nämlich, daß er Milton überlegen ist, daß er mit Homer gleichen Schritt
hält, und daß mir Shakespeare entschieden über ihn hinausgegangen ist,"
So glaube ich auch, daß der Teil seines Werkes, wo er ausschließlich
litterarischer Kritiker ist, der Vergessenheit anheimfallen wird. Im übrigen aber
meine ich, daß auch am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts Macaulay noch
viele eifrige Leser finden wird. Mögen manchmal anch seine Weitschweifigkeiten
und Übertreibungen im einzelnen Anstoß erregen, so werden doch viele dankbar
dem klaren Worte des Mannes lauschen, der wie selten einer wissenschaftliche
Gründlichkeit und Kunst der Darstellung mit einander verband.
or dreißig Jahren hatte mich die Kriegsflut »ach der Normandie
geworfen. An einem Dezembertage des Jahres 1879 standen wir
bei Les Andclys an der Seine, Eine leichte Schneedecke lag ans
den Dächern des Städtchens, der Rauch stieg, sich kräuselnd, in die
Luft. Über dem Städtchen ragten die mächtigen Trümmer der Burg
Gaillnrd empor, Richard Löwenherz hatte sie errichtet, um die Seine
gegen die französische» Könige zu sperren. Aber die Burg war gebrochen. Die
scheidende Sonne sandte ihre letzten Strahlen zu dem trotzigen Donjon hinauf,
der uus die Stelle zeigte, wo wir deu Fluß überschreiten mußten. Drüben breitete
sich eine große schneebedeckte Ebene aus, dahinter dunkler Fichtenwald. Dort lag
unser Ziel. Wir zogen in das Städtchen ein, in dessen Gassen schon das un¬
gewisse Licht der Dämmerung herrschte, und wurden von den Franzosen angegafft,
Die Hände in deu Taschen, die Pfeife im Munde, im Blnsenkittel und auf Holz¬
pantoffeln, so standen die Männer vor ihren kleinen Häusern und sahen den Bar¬
baren zu, die im Begriffe waren, ihren heiligen Strom zu überschreiten. Eine
Pontonbrücke war geschlagen, und nun Wunden sich die Kolonnen wie eine endlose
dunkle Schlange an dem Vurgfelsen vorbei über die Brücke nach dem linken Ufer.
Inzwischen war es dunkel geworden, die Sterne waren am tiefdunkeln Himmel er¬
schienen und flimmerte» in ihrer Pracht. Dann stieg der Mond über deu Ruinen
von Gaillard ans und schlug eine zweite silberne Brücke über den Fluß. Am Wege
loderte ein großes Reisigfeuer, an dem sich verschiedne Stabsoffiziere wärmten. Da
wir unmittelbar neben ihnen halten mußten, traten wir gleichfalls um das Feuer
und hörten von dem General, daß die zweite Schlacht bei Orleans geschlagen und
ein Ausfall aus Paris zurückgewiesen sei. Nach vielen Marschtagcn erhielten wir
so die ersten zuverlässigen Nachrichten, frohen Herzens gingen wir zu unsern Leuten
zurück, uni ihnen Kunde von den neusten Ereignissen zu geben. Dann ertönten
die Kommandos, und vorwärts ging es in das Dunkel der Nacht hinein, um das
Dorf zu besetzen, das uns zugewiesen war, ungewiß, welche Haltung die Bevölkerung
annehmen würde.
Auf diese Weise betrcit ich einst die Normandie. Bis zum Ende des Feld¬
zugs haben Erkuudungsmärsche mich kreuz und quer durch das Land geführt. Der
Waffenstillstand kam, es kam der Kommnueaufstand in Paris, wir waren nicht mehr
die gefurchteren Feinde, sondern eine Schutzwehr geworden gegen die brotlos ge-
wordnen und herumstreifenden Massen der Fabrikarbeiter, gegen das Überspringen
des anarchistische» Feuers aus Paris. Die Notwendigkeit hatte die Bevölkerung
gezwungen, mit uns zu verkehren, sie hatte entdeckt, daß wir nicht Barbaren waren.
So war schließlich der Mensch auf beiden Seiten zum Vorschein gekommen, und der
Deutsche und der Franzose waren zurückgetreten. Nicht ohne gewisse Wehmut schieden
wir von Land und Leuten.
Wie aus einem dreißigjährigen Traum erwachte ich jetzt in Cneu in der
Normandie. Gegen Mitternacht war ich von Paris angelangt, die Stadt hatte
schon im Schlaf gelegen, als ich in meiner Droschke nach dem Hotel fuhr, ich hatte
bei der Fahrt nichts von ihr gesehen als dunkle Häusermauern.
Als ich aufwache, scheint die Sonne freundlich in die Straße, auf die das
Fenster meines Zimmers geht. Ich sehe zweistöckige Häuser ohne Schmuck, vielfach
aus Natursteinen aufgeführt. Dann und wann kommt ein Mädchen, das Backwaren
holt; Frauen gehn vorüber, auf dem Kopfe ihr Weißes bonnvt, Männer in Binsen
begeben sich an ihr Tagewerk. In den Hotels, die von Franzosen besucht werden
und noch keinen internationalen Anstrich erhalten haben, besteht die Eigentümlichkeit,
daß die Frau des Besitzers die Repräsentation den Gästen gegenüber ausübt,
während der Ehemann die Bureauthätigkeit und kaufmännische Leitung hat. Der
Aufenthalt in einem solchen Hotel wird dadurch sehr angenehm, Gäste und Be¬
dienung werden gezwungen, rücksichtsvoller zu sein, das Ganze gewinnt einen Anflug
von Häuslichkeit. Meine Wirtsleute siud richtige Repräsentanten des Volks. Er,
schwer gebant und gemessen, macht eher den Eindruck eines Franken aus Bayern,
als eiues Franzosen, bei dem man eine gewisse Lebhaftigkeit als selbstverständlich
voraussetzt. Sie, die Wirtin, mit ihrer rundlichen Gestalt und ihrem freundlichen
aber doch energischen Gesicht, kann auch nicht der Vorstellung entsprechen, die man
sich gewöhnlich von einer Französin macht. Es sind eben Normannen, Iss ouis
t'r-my-iis, wie sie spöttisch genannt werden. Zu verwundern braucht man sich
nicht, wenn man sich die Besiedlung des Landes vergegenwärtigt. Zu den kel¬
tischen Einwohnern aus der Römerzeit und zu deu römischen Elementen müssen sich
bei dem Vordringen der Franken in Nordfrankreich große Massen dieses Volks
auch in die Normandie ergossen haben. Dafür sprechen zahlreiche Denkmäler
und Gründungen aus der Merowingerzeit, und vor allem der Umstand, daß ver-
schiedne Glieder des Herrschergeschlechts der Merowinger in der Normandie be¬
graben liegen. Man muß annehmen, daß diese Grabstätten da angelegt wurden,
wo die Hauptsitze der Merowinger waren, und daß diese Sitze dort gewählt wurden,
wo die eignen Volksgenossen in ihrer Masse eine Stütze für ihr Herrschergeschlecht
waren. War durch die Franken also schon viel germanisches Blut in das Land
getragen worden, so wurde es noch vermehrt durch das Eindringen der Normannen.
Dieser doppelte germanische Zustrom mußte notwendig dazu führen, daß die keltisch-
romanische Beweglichkeit verlangsamt wurde und ein Mischvolk mit neuen Eigen¬
heiten entstand.
Wenn lediglich touristische Beobachtungen zu Schlüsse» berechtigen, so ist die
mittelgroße und' starkknochige Gestalt, dunkelblondes oder brnnnes Haar und eine
gewisse Schwerfälligkeit in den Bewegungen der Mehrzahl der Bewohner der
Normandie eigen. Hervorragend schöne Frauen oder besonders stattliche Männer
sind selten. Die Badegesellschaft um der Küste, die mit dieser Bemerkung in Wider¬
spruch stehn würde, kann nicht in Rechnung gestellt werden, weil ein Drittel davon
aus Ausländern besteht und im übrigen sich aus der Schönheit und dem Reichtum
von ganz Frankreich, namentlich von Paris zusammensetzt.
Diese Beobachtungen aus früherer Zeit wurden mir bei den Streifereien dnrch
die Stadt nen bestätigt. Ich fragte mich deshalb in der Vaterstadt Charlotte Cordnys:
War sie wirklich so schön, daß Männer, von ihrer Schönheit hingerissen, für sie
eintraten und ihren Kopf für sie unter die Guillotine legten, oder hat nur die
Überspanntheit der Revolution ihr die wunderbare Schönheit beigelegt, die von den
Dichtern in begeisterten Worten gefeiert wird? Arme Charlotte Corday, deine
Vaterstadt hat dich vergessen. Keine Straße führt deinen Namen, kein Denkmal
bewahrt dein Andenken. Ist Schönheit denn nicht wert, der Nachwelt überliefert
zu werden! Es ist doch ein Vorzug Frankreichs, nicht bloß Fürsten und Generalen
Denkmäler zu errichten. Caen liefert dafür den Beweis, es feiert seine berühmten
Söhne, den Mathematiker Laplace und den Dichter Malherbe, den Komponisten
Ander und den Geologen Elie de Beaumont durch Denkmäler. Die ganze Stadt
Caen ist übrigens selbst ein einziges Denkmal ihres Gründers, Wilhelms des Eroberers.
Auf dem Felsen, der aus der Ebene einzeln herausragt, baute er seiue mächtige
Burg, um diese Burg herum siedelte er seine Mannen an, und in der innern Stadt
errichtete er die wunderbaren Bauwerke, in denen er und seine Gattin Mathilde
ihre letzte Ruhestätte fanden. Es sind dies die Männernbtei und Kirche Se. Etienne
und die Frauenabtei und Kirche La Trinitö. Hier ruhn beide von ihrem wilden
Kriegsleben ans, sie, die Urahnen des englischen Herrscherhauses.
Wenn man gotische Kirchenbauten studieren will, so muß man in die Normandie
gehn. Die beiden schon genannten Kirchen und Se. Pierre in Cum, Mont Se. Michel
an der Grenze nach der Bretagne, die Kathedrale von Bayeux, für mich wegen
ihrer lichten Innenräume ein unerreichtes Werk, die Kathedrale in Se. Ouen und
Rouen, die Kirche in dem kleinen Caudebee, die Kathedrale in Beauvais, die Abteien
Se. Wcmdrille und Jumieges und ungezählte andre sind Wunderwerke. Man muß
dabei berücksichtigen, daß einige von ihnen bald nach dem Jahre IVVO entstanden
sind, also zweihundert Jahre vor der Grundsteinlegung des Kölner Doms, und in
der Ausgestaltung der Formen schon einen Reichtum zeigen, wie er auch spater in
gleicher Reinheit nicht übertroffen ist.
Caen ist eine echt normannische Stadt. In den Straßen hörte ich die mir
bekannten tiefen Laute des normannischen Dialekts wieder, der z. B. das ni wie
ein kurzes o ausspricht. In den Firmenaufschriften erschienen die herkömmlichen
normannischen Namen. Diese Familiennamen in der Normandie sind zu einem
großen Teil in derselben Art und Weise entstanden, wie in den übrigen von den
Franken besetzten Gebieten in Nordfrankreich, Belgien, Holland und am Niederrhein.
Es giebt ebenso ungezählte Leblcmcs wie de Wilts, die Leroys geben den de Konings
nichts nach, und die Dnchenes nehmen es mit den van Eycks ganz gut auf. Ich
habe die drei Beispiele als charakteristisch hervorgehoben. Denn in ihrer über¬
wiegenden Mehrheit ist der normannische Familienname entweder von der äußern
Erscheinung eines Mannes entstanden, wie Legrand, Leblond, Lepetit, Lenoir, oder
ist eine Standesbezeichnung, wie Leconte, Lechcvalier, Lemaitre, oder von einer Eigen¬
tümlichkeit seiner Besitzung an dem Besitzer hängen geblieben, wie Duval, Dufresne,
Delamare, Delaporte. Diese drei Arten der Entstehung der Familiennamen über¬
wiegen so sehr, daß eine gewisse Einförmigkeit entstanden ist.
Ob hierüber schon Forschungen angestellt sind, weiß ich nicht. Zur Feststellung,
wie weit die Masseneinwanderung der Franken in Nordfrankreich gegangen ist,
wird man die gleichartige Raumbildung mit Recht heranziehn können.
Von nialerischen Landschaftsbildern aus Frankreich dürfte kaum eins in Deutsch¬
land so verbreitet sein, wie das Bild von Mont Se. Michel. Freilich mit eignen
Augen haben es wenige Deutsche gesehen. Der Deutsche ist in der hö.8se Rormanclio
kaum häufiger als ein Mitglied der schwarzen oder der gelben Rasse zu finden und
deshalb so gut wie unbekannt. Als ich mir vor einem Jahre von der Passeggiata
Margherita aus Rom ansah, kamen drei Geistliche. Der eine sagte mit Bezug
auf mich, daß ich es hören konnte, zu seinen Begleitern: „Bei dem braucht mau
auch keinen Taufschein, um zu wissen, daß es ein Deutscher ist." In meiner äußern
Erscheinung muß also der Deutsche unverkennbar sein. In der dasso Mi-in-nulle,
bin ich aber immer für einen Engländer gehalten worden, augenscheinlich, weil nur
Engländer und Amerikaner dort als Fremde reisen. Und doch lohnt es für den
Maler, den Landwirt, den Fabrikbesitzer und den Touristen überreich, dorthin zu
ziehn. Unannehmlichkeiten braucht der Deutsche dort nicht zu befürchten, der Nor¬
manne ist von derselben Zuvorkommenheit und Liebenswürdigkeit wie die übrigen
Franzosen und gegen die Deutschen viel weniger eingenommen als gegen die Eng¬
länder. „Es ist eigentümlich, sagte zu mir ein Franzose, dem ich erzählt hatte, daß
ich 1870 bis 1871 als Feind im Lande gewesen war, daß wir Sie nicht hassen,
obgleich Sie uns besiegt haben. Wen wir aber hassen, das sind die Engländer.
Die Leute geben uns als Sommergäste viel zu verdienen, sie kaufen unsre Land-
Produkte, wir haben eigentlich nur Gutes von ihnen, und doch hassen wir sie."
Als ich mit der entsetzlichen Scknndärbahn von Caen nach Se. Michel fuhr,
empfand ich als Haupteindruck: Soviel Grün giebt es nirgends, nicht einmal in
der grünen Steiermark. Es ist lauter Kleinbesitz, den die Eisenbahn durchschneidet.
Nur besteht die normannische Eigentümlichkeit, daß um jeden Hof, um jeden Garten,
jeden Acker und jede Wiese ein mannshoher Wall aufgeworfen ist, und auf diesem
Eichen und Buchen, Rüstern und Pappeln dicht aneinandergereiht stehn. Ob diese
Art, sich abzuschließen, uns keltische oder germanische Sitten zurückzuführen ist, ob
sie ihren Ursprung hat in der Neigung, für sich zu leben, oder ob der rein reali¬
stische Grund maßgebend gewesen ist, daß ohne diese Sturmbrecher die Erträge der
Gärten und Felder leiden, lasse ich dahingestellt. Mir genügt es, daß diese Durch¬
setzung der Landschaft mit zahllosen Baumgruppen herrliche Bilder bietet. Jeder
Stamm ist schön für sich. In Deutschland schießen die Bäume meistens schlank in
die Höhe und nehmen erst im Alter ihre Sonderformen an. In der Normandie
hat jeder Stamm von Jugend auf den Kampf ums Dasein führen müssen, er hat
sich drehn und beugen müssen, um nicht von den Stürmen gebrochen zu werden,
und ist deshalb kleiner als seine deutschen Genossen, dafür aber zäher und kräftiger
geworden. Sein Laubschmuck ist feiner und gedrängter, seine Zweige und Äste
kurz und hin- und hergekrümmt. Ans Bildern von Hobbema findet man solche
Baumindividuen, dort kann man sehen, welche malerische Verwertung sie bieten.
Das Malerische der Landschaft wird dadurch erhöht, daß sich wenig geschlossene
Ortschaften zeigen. Jedes Haus hat sich eine Umgebung geschaffen, wie die Laune
des Besitzers sie ausgedacht, und die Natur sie geduldet hat. Es gleichen sich
anch selten zwei Häuser in demselben Ort, in den mannigfaltigsten Formen wechseln
altersschwache Hütten, deren Strohdächer und Mauern vielfach mit Epheu umsponnen
sind, ab mit saubern kleine» Häusern und Villen, deren Schieferdächer und Fenster
hell in der Sonne glänzen. Kurz, überall Individualität, keine Schablone, keine
Uniformität.
Das ganze Bild wird abgetönt durch eiuen leichten, durch die Nähe des
Meers hervorgerufnen Dunst, der auch bei schönem Wetter alle Härten in den
Farben und Formen mildert. Im deutschen Binnenlande haben nur ähnliches an
Wintertagen, bevor die Sonne durch deu Nebel bricht. Der Haupterwerb der
Küsse, Um'wMcliv besteht in der Viehzucht, während in der Ks,no Rormanciig der
Ackerbau überwiegt. Die Art und Weise, wie das Rindvieh ernährt wird, ist auf
beiden Seiten der Seine gleich. Soll ein Feld oder eine Wiese abgeweidet werden, so
werden Pflöcke in den Erdboden getrieben, an jeden Pflock wird dnrch einen langen
Strick ein Rind angebunden, und so weit die Länge des Stricks es zuläßt, frißt
das Rind Gras, Klee usw. sauber im Laufe des Tags ab. Am nächsten Tage
rückt die Linie um ein Stück weiter, und so geht es fort, bis die Weide abgefressen
und gleichzeitig gedüngt ist. Hirten habe ich nur bei vereinzelten Schafherden und
den zahlreichern Ziegenherden gesehen. Das Getreide wird auf zweirädrigen großen
Karren geerntet, die von zwei oder drei hintereinander gespannten Pferden gezogen
werden. Die Pferde gehören meistens der schweren normannischen Rasse an. Wie
aus dem Gesagten hervorgeht, bietet die Landschaft unausgesetzt neue Bilder und
Gegenstände zur Beobachtung.
In Pontorson muß man nussteigeu, um nach Mont Se. Michel zu gelangen.
Im Gegensatz zu der hügligen Landschaft, durch die man soeben gefahren ist,
breitet sich jetzt eine weite Ebene aus. Ursprünglich eine Einbuchtung des Meers,
ist diese Fläche dnrch zerriebueu Granit, den der Couesnou mit sich führte, durch
verfaulten Seetang und Sand, den die See täglich auswarf, mit einer feinen
pulverigen Masse ausgefüllt, die im trocknen Zustande weißgrau wie Cement aus¬
sieht und äußerst fruchtbaren Boden liefert. 250 Quadratkilometer umfaßt diese
Ebene, wenn sich das Meer in den Ebbezeiten zurückzieht, sie ist dann schwimmendes
Land, Wie die Watten der Nordsee. Kommt aber die Flut, die im Herbst und
Frühjahr häufig 15 Meter Höhe erreicht, dann jage» die Woge» darüber hin, und
die Ebene wird wieder Meeresgrund. 2900 Hektar sind jetzt eingedeicht, sie sind
die polävrs as 1'Ousst, fruchtbar wie unsre Marschen und Niederungen an der
Nord- und Ostsee.
Die breite Fahrstraße führt nun zunächst durch diese festgelegten Teile. Rechts
und links schmücken Häuser in Gärten und Baumgruppen die Straße, dann und
wann ein kleiner Gutshof aus roten Ziegeln und Granit, Rindvieh auf den fetten
Wiesen, ein Bild der Fruchtbarkeit und des Wohlstands. Dann beginnen sich
Spuren des Kampfs zwischen Erde und Wasser zu zeigen Die strohbedeckten zer-
fallnen Hütten zeigen, daß die Bewohner in dem Kampfe gegen die Elemente nicht
Zeit haben, für ihre Wohnungen mehr aufzuwenden, als die Notdurft erfordert.
Zwischen den Wasserläufen, die sich die zurückströmende Ebbe ausgespült hat, sind
kleinere Erhöhungen geblieben, festgeworden und mit Grasnarben bedeckt. Die
Pappeln sind die einzigen Brune, die vorzudringen gewagt haben, aber nicht mehr
in Massen, sondern einzeln oder zu zweien oder dreien. Schafe finden noch Nahrung,
aber sie muß mühsam zusammengesucht werden. Dann hören auch diese Spuren
des Eindringens des Menschen auf, Wasserflächen zeigen sich, sie werden breiter und
häufiger, und die Möwe durchzieht kreischend die Luft.
Und mitten ans dieser Einöde erhebt sich das Wunderwerk der Natur und der
Menschenhände, Mont Se. Michel, eine aus der Phantasie in die Wirklichkett ver¬
setzte Gralsburg. Türme und Mauern steigen am Fuße des Granitfelsens aus dem
schwimmenden Lande auf, kein Thor öffnet sich, abgeschlossen, fast feindlich scheint
es sich gegen die Welt abschließen zu wollen. Nur durch eine ans einem Holzsteg
erreichbare Pforte auf der Westseite kauu man in den Ort gelangen. Inner¬
halb der Mauern steigt der Felsen in die Höhe, übereiunuder türmen sich die alten
Häuser auf, daß eins auf dem ander» zu stehn scheint, und oben ragt stolz und
siegesbewußt heraus die Abtei mit ihren burgartigen Mauern und Türmen, mit
ihrer Kirche und der vergoldeten Riesenstatue des Erzengels Michael auf ihrer
Spitze.
Es ist unbegreiflich, wie sich die Normannen dieser Felsensestung haben be¬
mächtigen können, als sie auf ihren Seeräuberzügen ins Land kamen. Aber sie
haben es gethan und haben den Platz festgehalten gegen Bretonen und Engländer
durch alle Jahrhunderte, und stolz sagte mir die Frau, die mich später hinaufführte -
Bis hierher reicht die Normandie, drüben, am andern Ufer des Couesnon fängt die
Bretagne um.
Eine Beschreibung des Mont Se. Michel zu geben ist für den Touristen un¬
möglich, dazu gehört ein langes Studium. Nur einige Bemerkungen seien mir
erlaubt. Die Abtei diente den Benediktinern als Kloster, dem Ritterorden von
Se. Michel als Ordenskapitelhans und den dreihundert Bewohnern von Se. Michel
als Kirche. Diese dreifache Bestimmung und die Steilheit des Felsens hat zu einem
Labyrinth von Bauten nebeneinander und übereinander geführt, die geradezu Wunder¬
werke genannt werden müsse».
Um die Schwierigkeiten zu verstehn, die das Terrain bietet, muß man berück¬
sichtige«, daß der Felsen so steil ist, daß ein Haus vom vier Stockwerke haben
kann und auf der Rückseite mit dem Dach den Pfad erreicht, an dem das nächst
höhere Haus aufgeführt ist. Die Granitsteine zu den Bauten mußten zu Schiff
von Jersey herübergeschafft werden. Und doch sind in kurzer Zeit alle diese Hallen.
Säulengänge und Reuter geschaffen worden, die, solange die Abtei steht und stehn
wird, die Gcsamtbezeichnung „Merveille" führten und führen werden. Es ist ein
Wunder der Baukunst im wahren Sinne des Worts, in Deutschland kann nur die
Marienburg als Nebenbuhlerin auftreten, aber nicht siegen.
Dazu dieser Kontrast zwischen der weiten Fläche, die sich als See und schwim¬
mendes Land meilenweit ausbreitet, und dem isolierten Grnnitblvck, den Riesen
hineingeworfen zu haben scheinen. Das Großartige des Bildes wurde doppelt
mächtig, als ich abends bei Ebbe auf das schwimmende Land nach der See zu
hinauswatete. Aus einem Wolkenschleier sandte die untergehende Sonne aufwärts
ein Leuchten, das den Himmel vom Rotgold zum Lila dnrch alle Schattierungen
färbte und sich auf dem dnrch Nässe getränkten Lande wiederspiegelte. Dann kam
am Horizont eine Wolkenwand heraufgezogen, finster und drohend. Ihre zer¬
rissenen Ränder zogen gespensterhaft nach Osten, es war, als ob eine Geisterflotte
mit den beim Beutezüge im Kampfe gefallnen Helden heimkehrte. Laut und wild
kreischten die Möwen, als wollten sie die Kunde voranstragen in die Heimat der
Recken, wo Frauen und Kinder ihrer Heimkehr harrten. Dann senkte sich die Nacht
herab, die Nebel stiegen auf, und nur Se. Michel blieb sichtbar, eine schwarze,
trotzige Masse in dem grauen Chaos.
Es ist eine Eigentümlichkeit der Zeit der Aufklärung, daß ihr der Sinn für
die großartigen Schöpfungen früherer Jahrhunderte vollständig verloren gegangen
war. Friedrich der Große, der die Gewölbe der Marienburg durchschlagen ließ,
um Schüttboden für Getreide anlegen zu können, und aus der stolzesten deutschen
Burg ein Magazin machte, steht in dieser Beziehung ganz gleich mit den franzö¬
sischen Jakobinern, die in der Abtei Mont Se. Michel in die herrlichen Pfeiler
Löcher einstemmen ließen, um Balken einzuziehn und Etagen zu schaffen, damit recht
viele Opfer der Revolution als Gefangne untergebracht werden konnten. Aber auch
hier, wie bei uus, bemüht sich die jetzige Generation, die Spuren des Wandalismus
zu verwischen, die Dächer sind erneut, der Schutt ist ausgekehrt, die Schäden werden
ausgebessert. So ist Mont Se. Michel wieder das Ziel der Reisenden geworden,
deren Zahl man auf 55000 jährlich berechnet.
Es ist ein herrlicher Morgen. Grauer Dunst liegt auf dem Meer und ver¬
spricht einen klaren Tag. Vor den beiden Leuchttürme» liegt eine Flotte Fischer¬
boote, ihre blauen, roten, grauen und braunen Segel schimmern dnrch den Nebel¬
schleier. Ein kleiner Schleppdampfer bringt die Jacht eines reichen Franzosen zu
dem Hafen. Von le Havre kommt der Dampfer, der den Verkehr nach den Küsten-
plätzen vermittelt, sein Rauch erscheint gelb im Dunst. Er sendet seinen Flaggcu-
gruß vier Segeljachten, die in blendend weiße Segelleinwand gehüllt wie Schwäne
dahiuziehu.
Im Hafen ist es lebendig. Ein Schlepper kommt mit einem Schiff heraus,
ihnen folgt eine Fischerflotte. Mühsam arbeiten sich die Fischerboote vorwärts zu
den Leuchttürmen hin, die untern Segel hängen schlaff herab. Die Flut steigt, das
Wasser der Wellen klatscht gegen die Holzpfeilcr der jvtöv und spiegelt sich in der
Sonne, die die Nebel verscheucht. Auf der ,jet,«o bummelt das Publikum oder
gruppiert sich um die zahlreichen Angler, die dem Sport des Fischfangs huldigen.
Jetzt zieht einer von ihnen einen Fisch heraus. Auf das allgemeine „Ah!", das die
Unistehenden ausstoßen, wenden sich alle Köpfe, neugierig drungen sich die Prome¬
nierenden um den glückliche» Angler und geben ihre Kritik ab, bis der große Fisch
in Sicherheit gebracht ist, und wieder eine neue interessante Sache sie zu einer andern
Stelle hinzieht.
Inzwischen ist die Flut zum Badestrand hinaufgestiegen, und die Badezeit be¬
ginnt. Herren, Damen und Kinder baden zusammen. Zelte werden ausgespannt,
und Stühle an den Stand getragen, man richtet sich ein wie zu einer Vorstellung,
die beginnen soll. Die Darsteller sind die Badenden. Zwischen Scheu und Ver¬
langen kämpfen die Damen, wie es eben die weibliche Natur mit sich bringt, ohne
Grazie stelzen die Männer ins Wasser, übermütig und jubelnd baden die Kinder,
die freilich nicht zahlreich vertreten sind. Es scheint nicht Sitte zu sein, Kinder
ins Seebnd mitzunehmen, bevor sie nicht sich selbst überlassen werden können. Es
hat etwas für sich, d. l», eaux-^guo führen sie jedenfalls ein ruhigeres Leben, und
die scharfen Seebäder können leicht nachteilig werden, wenn man sie zu lange aus¬
dehnt. Der Strand ist breit und durch den feinen Sand so weich, daß es schon
ein Genuß ist, barfuß darauf spazieren zu gehn. 1^ xiaZo <Z8t> peut-ßtrs la plus
bsllo qui gxiste, sagt Baedeker. Man hört am Strande alle europäischen Sprachen,
wenn die Franzosen auch das Hauptpublikum liefern. Engländer einschließlich der
Nordamerikaner, Spanier ans Europa und Südamerika und Niederländer sind uuter
den Fremden am meisten bemerkbar. Nach meinen Beobachtungen hat keins der
Weltbäder eine so zusammenstimmende Vereinigung von Schönheit und Reichtum,
Eleganz und Leichtsinn in der Frauenwelt. Die Franenmode des Ausstelluugsjahrs
ist für ein Luxnsseebad wie geschaffen. Die an den Hüften fest anliegenden Kleider
der Damen heben die Figur, das Aufnehmen der Schleppe giebt den Trägerinnen
Gelegenheit, ihren Schick und ihre kostbaren Unterkleider zu zeigen. Es ist ein
Vergnügen, an der aus einem breiten Bretterbelag hergestellten Strandpromenade
vor dem Dejeuner eine Stunde lang einen Stuhl zu nehmen und sich in das fort¬
während wechselnde Bild zu vertiefen. Wieviel Koketterie zieht da vorüber, wieviel
Lebensgenuß ist da zu scheu, wieviel Schönheit kann man bewundern! 1'rouvillo
oft Is doulövanl ä'6es av ?»ris. Unwillkürlich kommt man zu der Frage: Haben
diese Menschen, die schön, reich, genußfähig sind und einen leichten Sinn zeigen,
immer so heitere Gesichter, oder treten auch ihnen zu Hause Gespenster entgegen?
Leben diese Menschen nur dem Genuß, oder haben auch sie ernste Stunden? Füllt
der Wunsch, bewundert und beneidet zu werden, ihr ganzes Denken aus, oder lau»
es solche Menschen gar nicht geben? Wenn man in französischen Modebädern die
Unterhaltung belauscht, die geführt wird, und die Titel der Bücher liest, die die
Frauen aller Nationen in den Händen haben, so kann man wirklich meinen, daß
es Menschen giebt, denen ernste Gedanken vollständig fremd sind. Oder spricht
aus mir zu sehr der norddeutsche, wenn ich meine, daß für die überwiegende Mehr¬
zahl dieser Frauen nur zwei Dinge Interesse haben, Putz und Liebe?
Der Nachmittag in Trouville gehört den Ausflügen und dem Sport,
Norden taucht le,More aus dem Meere auf und lockt dorthin. Am Strande ent¬
lang ziehn sich schön geformte Hügelketten, bedeckt mit Gärten, Villen und Wald,
ein Gelände, das in'seiner Anmut von wenig Gegenden übertroffen wird. Im
Süden zwischen Meer und Hügeln reiht sich Badeort an Badeort. Die Schatten¬
seite por Trouville ist der Sport. Wenn Cäsar die Gallier als xvnk rvrum no-
varum e,nMiiWim!i bezeichnet, so hat diese Charakteristik auch jetzt noch für die
Franzosen ihre Geltung. Da augenblicklich Ruhe und Friede in Frankreich herrscht,
so hat der unruhige Geist auf einem andern Gebiet den erforderlichen Nervenreiz
wieder aufgesucht, auf dem der Wettrennen. An der ganzen Küste, die ich bereiste,
waren Wettrennen, Wettsegeln und Wettfahren angezeigt. Kaum hat man sein
Dejeuner eingenommen, so hört man das Gebrülle der Kutscher: voulsvs alö vo-iu-
ville! Und nun kommen aus allen Straßen der kleinen Stadt Omnibusse, Rad¬
fahrer, Reiter, Equipage» und leider auch Automobile, um nach dem Rennplatz
von Deauvillc zu ziehn.' Ich sage ..leider auch Automobile," denn in ihrer jetzigen
Entwicklung sind sie der Schrecken eines Touristen, der, wie ich, mit Behaglichkeit
genießen will. Von dem Umfange des Autvmvbilverkehrs in den französischen See¬
bädern hat man, glaube ich, auch in Paris keine richtige Vorstellung, viel weniger
bei uns. Der Franzose ist ein abgesagter Feind jeder Fußwnndrnng, ich habe in
Frankreich nirgends einen besser gekleideten Menschen getroffen, der landschaftliche
Ausflüge zu Fuß unternommen hätte. Das Automobil besorgt nun augenblicklich die
Landbefördernng am schnellsten, die Fahrt regt die Nerven auf, und die Eitelkeit wird
befriedigt. Denn sich ein Automobil anschaffen kann nicht jeder, dazu gehört doch schon
ein größeres Kapital, und wer sich ein Automobil anschafft, sondert sich dadurch schon
bon pivlMUM vulAus ab. In den französischen Modebädcrn strömt nun zusammen,
was Geld besitzt, und daher kommt dieses Anschwellen des Automobilsports. Gegen
reiche Leute übt die französische Polizei doppelte Nachsicht; wenn es in Frankreich
Vorschriften über den Straßenwagenverkehr giebt, so müssen sie sehr nachsichtig sein
oder sehr nachsichtig gehandhabt werden. Jedenfalls wird in Frankreich mit den
Automobilen gefahren, als ob die Straßen nur für sie da wären. Und dazu das
widerliche Geräusch, das sie bis jetzt noch erregen, lind der Stund, den sie auf¬
wirbeln. Vom Einsitzer bis zum Familienautomobil sieht man Exemplare, sogar
einen Omnibus dieser Art habe ich getroffen, ans dem eine größere Gesellschaft von
Herren und Damen durch die Normandie zog.
Abends nach dem Diner verschwindet das Lebe» von den Straßen, wer noch
Zerstreuung sucht, geht in das Kasino, in das VariMtheater oder in ein V-M
vont-me. Wer Ruhe sucht, geht wieder, wie am Morgen, auf die Mo zum Leucht¬
turm, hört die See rauschen, verfolgt die Lichter der Schiffe, bis sie im Nebel ver¬
schwinden, und verliert sich in Träumereien.
(Fortsetzung folgt)
Der Morgenausgabe unsers Leip¬
ziger Tageblatts vom 12. April entnehmen wir Folgendes:
„-^-- Berlin, 11. April. (Ein Recht des preußischen Königs.) Die Kreuzzeitung
beschäftigt sich in staatsrechtlichen Ausführungen mit dein Nachweis, daß Gefühls-
und Meinungsäußerungen des Königs von Preußen der ministeriellen
Gegenzeichnung nicht bedürfen, dem Könige vielmehr das Recht zustehe, seine in¬
dividuelle Ansicht zu äußern, »zumal, wenn es ein Monarch ist, der mit dem Dichter¬
fürsten von sich sagen kann: Mir gab ein Gott, zu sagen, wie ich leide.« Wer
nicht ans dem politischen Standpunkte des Radikalismus steht, kaum nicht bestreiten,
daß der preußische König staatsrechtlich zweifellos das Recht hat, seine indivi¬
duelle Meinung so oft zu äußern, wie es ihm beliebt. Die Frage aber ist, ob es
politisch zweckmäßig ist, daß er von diesem Rechte einen der jeweiligen Stimmung
entsprechenden Gebrauch macht. Hieraus muß nach allen geschichtlichen Erfahrungen
die Antwort auch für den Monarchen verneinend ausfallen, dem ein Gott gab, zu
sagen, wie er leidet. Denn der Monarch ist eben kein Dichter, dessen Vorrecht
auf individuelle Meinungsäußerung zu jeder Stunde und ohne Rücksicht auf irgend
welche sonstige Erwägung unbestreitbar ist, sondern der Monarch ist in erster und
letzter Reihe Herrscher und hat als solcher Aufgaben besondrer und ma߬
gebender Art. Wenn die Kreuzzeitung so thut, als ob das Recht zu beliebiger
Kundgebung individueller Gefühle das Wesen des machtvollen preußischen König¬
tums ausmache, so müßte ein rascher Blick auf Preußens Geschichte sie davon ab¬
halten. Friedrich Wilhelm IV. hat sehr häufig, Wilhelm 1. aber selten individuelle
Gefühle öffentlich geäußert. Unter wessen Regierung aber die Autorität der Krone
größer war, darüber besteht unter ehrlichen Leuten Wohl «icht der geringste Zweifel."
Die Auseinandersetzungen des Berliner Korrespondenten des Leipziger Tage¬
blatts sind in ihrer schulmeisterlichen Salbung zu grotesk, als daß es nicht jetzt,
wo die Osterwoche vorüber ist, und man sich wieder harmloser Heiterkeit ergeben
darf, ein Vergnügen wäre, sie sich in ihrer ganzen Naivität zu vergegenwärtigen,
sie gewissermaßen Zeile für Zeile durchzukosten.
Es ist, obwohl das Leipziger Tageblatt in einer sächsischen Stadt erscheint
und deshalb für ein sächsisches Blatt gelten könnte, nicht von dem Thun und Lassen
des deutschen Kaisers, fondern von dem des preußische« Königs die Rede. Sehr
begreiflicherweise, da es der Berliner Korrespondent mit einem Artikel der Kreuz¬
zeitung zu thu» hat, der sich nicht mit dem deutschen Kaiser, sondern mit dem
Träger der preußischen Königskrone beschäftigt. Wir nehmen das Thema in der
Form auf, in der es gestellt ist, und lassen den Kaiser von Deutschland aus dem
Spiele, in der frohen Hoffnung, daß ihm als solchem das Recht „individueller
Meinungsäußerung zu jeder Stunde" t-ieito eonsgnZu zugesprochen ist.
Man schaudert, wenn man bedenkt, daß es nicht halb so glatt geht, wenn es
sich um die andre Hälfte Seiner Majestät, um den preußischen König handelt, und
daß die den beiden konstitutionell eingeengtesten Vertretern der Staatsautoritnt,
dem Könige von England und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten zuge-
sprochne „Mündigkeit" dem von Gottes Gnaden in Preußen regierenden Monarchen
nur bedingungsweise, im Falle rühmlichen Wohlverhaltens und solange es nicht
zu Mißbräuche:, kommt, eingeräumt werden kann.
Wer nein, die Kreiszeitung ist im Verfolg ihrer staatsrechtlichen Ausführungen
— Wut ekomiu iQMs ^ Roms — zu dem Nachweise gelangt, daß Gefühls- und
Meinungsäußerungen des Königs von Preußen der ministeriellen Gegen¬
zeichnung «icht bedürfen, dem Könige vielmehr das Recht zustehe, seine individuelle
Ansicht zu äußern, „zumal wenn er ein Monarch ist, der mit dem Dichterfürsten
von sich sagen kann: Mir gab ein Gott, zu sagen, wie ich leide." Gott sei Dank,
die schlimmste Befürchtung, daß es zur Anschaffung eines goldnen Schlosses kommen
werde, dessen Schlüssel Graf Biilow an der Uhrkette zu tragen habe, trifft also
doch nicht ein. Wir reichen gerührt der Kreuzzeitung die Hand, namentlich für
das reizende Zitat, obwohl wir nicht umhin können, vor allzufertiger Verwendung
von Dichterworten in „staatsrechtlichen Ausführungen" wohlmeinend zu warnen.
Auch hier bekommt, wahrscheinlich ohne besondre Absicht, die Behandlung der Frage
einen hysterischen Beigeschmack, der dem gnädigsten Herrn kaum zusagen dürfte und
— ehrlich gesagt — auch uns gründlich zuwider ist.
Also der preußische König hat staatsrechtlich zweifellos das Recht, seine
individuelle Meinung so oft zu äußern, wie es ihm beliebt. Aber — bei diesem
aber liegt der Hase im Pfeffer —, aber die Frage ist, ob es politisch zweckmäßig
ist, daß er von diesem Rechte einen der jeweiligen Stimmung entsprechenden Ge¬
brauch macht? O du weiser, du gerechter Richter, wir verstehn dich vou ferne.
Du bist mehr für einen der jeweiligen Stimmung nicht entsprechenden Gebrauch
und gehst wie der herzensgute alte Tallehrand-Pe'rigord von der Annahme ans, daß
uns die Sprache gegeben sei, unsre Gedanken zu verbergen. Wenn man welche
hat nämlich, was ja in frühern längstvergangnen Zeiten für den Besitz einer echten
Goldkrone nicht als unumgängliche Vorbedingung angesehen wurde. Was macht
meine gute Stadt Rassunte? — Strumpfsohlen, Majestät! — Das freut mich: sagen
sie ihr das. Gegengezeichnet von dem Minister des Kultus und des öffentlichen Unter¬
richts hätte es sich vielleicht noch besser ausgenommen, es wäre noch ungefährlicher
gewesen und — für so manches Auge ein so großer Vorzug — konstitutioneller
als die Konstitution. Kalter Aufschnitt in Blechbüchsen, reÄäy lor UM.
Ist es dem Berliner Korrespondenten des Leipziger Tageblatts nicht in den
Sinn gekommen, daß die Gefahr nicht in den „Gefühls- und Meinungsäußerungen
zu jeder Stunde" liegt, sondern in den von der Presse dazu gegebnen Kommentaren
und in den frei erfundnen Zusätzen? Oder sollte der Mißbrauch, der mit den
königlichen „Gefühls- und Meinungsäußerungen" getrieben wird, nach echt polizei¬
lichen Grundsätzen für eine Einschränkung der allerhöchsten Redefreiheit sprechen?
Es ist alles schon dagewesen, und der Berliner Korrespondent des Leipziger Tage¬
blatts läßt nicht mit sich spaßen; auch die höchste Gewalt im Staate flößt ihm
keine knechtische Furcht ein: er spricht mit edelm Mannesmut von individuellen
Meinungsäußerungen (jedenfalls im Gegensatz zu kollektiven, die er vorzieht) zu
jeder Stunde (wie in besuchten Restaurants die Bratwurst mit Sauerkraut) und
ohne Rücksicht auf irgend welche sonstige Erwägung. Peter der Große
hätte ihm glattweg den Kopf abschlagen lassen, und wir finden die Bemerkung un¬
gerecht, taktlos und pedantisch. Vernichtenderes enthält unser Lexikon nicht. Aber
vor lauter Gleichberechtigung und Anmaßung ist es ja auch mit dem Könige von
Gottes Gnaden dahin gekommen, daß man ihn abkanzeln darf wie eine» Schulbuben.
Es fehlte nur noch, daß mit Geist und Verstand besonders begnadigte Blätter, wie
das Leipziger Tageblatt zum Beispiel, dem Landesherrn und auch ausländischen
Monarchen Zensuren für Fleiß, Wohlverhalten und Fortschritte erteilen könnten.
Man muß sich ja über jeden Fortschritt freuen, aber wenn man es genan bedenkt,
hatte Peter der Große doch auch sein Gutes. Er verstand init Leuten umzugehn, denen
selbstbewußte Äußerungen wie „ohne Rücksicht auf irgend welche sonstige Er¬
wägung" zu ihrem Unglück aus der Feder flössen. Einmal und nicht wieder; oder
wenn es besonders gut abging, durften sie die lebensgefährliche Kritik mit erfrornen
Zeigefinger in den sibirischen Schnee malen: ohne Rücksicht ans irgend welche sonstige
Erwägung. Man könnte glauben, es wäre von einem leichtsinnigen jungen Menschen
die Rede, der blind in den Tag hineinlebte. Oder neun muß man nicht vielmehr
sagen, daß der Berliner Korrespondent uns für seine eigne Handlungsweise das
beste Urteil an die Hand giebt, und daß er sich über einen der talentvollsten und
gewissenhaftesten Monarchen „ohne Rücksicht auf irgend welche sonstige Erwägung"
oder mit einem Worte rücksichtslos ausgedrückt hat?
Wir sind nicht unbillig und lassen gern fremdes Urteil gelten. Wir versteh»
es, wenn erfahrne, in dem großen politischen Treiben ergraute Männer einen
Vorzug des Redners in dessen Vorsicht und Zurückhaltung sehen. Aber bei ihnen
haben wir nie etwas bemerkt von einem schulmeisterlichen Tone gegenüber der ersten
Autorität im Staat, im Verkehr mit ihnen haben wir nie zu erröten gehabt über
die aufrichtige Freude, die uns die vom Herzen zum Herzen gehenden Reden des
gegenwärtigen Königs von Preußen verursachen. Sie verstanden es, warum wir
nicht das Bedürfnis hatten, seine Ansprachen im luftleeren Raum zu destillieren,
sondern es vorzogen, uns im Geiste dahin zu versetzen, wo sie gehalten wurden,
und sie ans nus wirken zu lassen wie andres, das aus dem Munde geistreicher »ut
begeisterter Männer geht. Die Verantwortung, haben wir immer gedacht, werde
der hohe Herr selbst zu tragen imstande sein, und er werde dem Leipziger Tageblatt
oder gar dessen Berliner Korrespondenten nicht nnbilligerweise einen Teil davon auf
die Schultern laden. Auch daß einem zu berufscifrigen Schulmeister die Kritik der
individuellen Meinungsäußerung zu jeder Stunde und ohne Rücksicht auf irgend
welche sonstige Erwägung in hirnvcrblendeter Selbstüberhebung jemals beikommen
könnte, hatten wir nicht gedacht.
Derselbe Schulmeister, der bei Königgrätz und Wohl auch vor Metz gesiegt
hat, könnte uns in seiner Hypertrophie «och gefährlich werden, wenn die, denen
er mit seiner Nörgelei und unpraktischen Pedanterie zuwider ist, sich in vornehmes
Schweigen hüllten und ihn gewähren ließen. Als ob die Schwarzen und die Roten
nicht genügten, den 1870 und 1871 gezimmerten Kahn auf den Sand zu fahren!
Müssen wir auch noch die Pedanten, die, die alles besser wissen wollen, die, die
dem Könige von Preußen gute Lehren geben, die, die in einem weg von der
Regierung und ihren Vertretern das Unmögliche fordern, ans Steuerruder lasse»,
damit wir recht schnell und recht gründlich fest fahren?
Wie wir von den geflügelten Worten der preußischen Majestät denken? Daß
darunter nicht eins ist, das uns den Mann nicht verständlicher, verehrnngswürdiger
und liebenswerter gemacht hätte. In Bezug auf das Leipziger Tageblatt würden
wir eine Bemerkung von so allgemeiner Tragweite schwerlich riskieren.
Wieviel würden uns andre Nationen nicht für unsern Wilhelm geben, wem, —
er uns feil wäre! Aber das erwägt der reine Dogmatiker, der Weltweisheits-
prvfessor nicht. Er hat ein Prokrustesbett fertig, eiuen Abklatsch von irgend einer
anerkannten Autorität, Oranien und Moltke, den großen Schweigern, die dabei rasch,
klug und erfolgreich handelten, und dahinein wird jeder gezwängt. Wer nicht
lang genng ist, wird gedehnt; Hände und Füße, die darüber hinausreichen, werden
abgeschlagen.
Und für ihr Mißtrauen und ihr Hetze» berufe» sie sich auf den Fortschritt,
auf die Demokratie. Als ob Fortschritt und Demokratie mit der Hingebung an einen
Kapitän, dessen Umsicht und Energie mau das Ruder anvertraut, unvereinbar wären!
Was weder zum Fortschritt noch zur Demokratie paßt, sind Mißtrauen und Hetzerei,
denn sie führen geradeaus zu der jeden gesunden Aufschwung lähmenden Anarchie.
Stolz, geistiges Protzentum, Cliquenwesen, das ist es, wovor wir uns vor
allem hüten müssen. Aus den Reden des gegenwärtigen Königs von Preußen wird
— und wenn sie der I'omxs absichtlich noch so schlecht und lückenhaft über¬
sehe — uns niemals Gefahr erwachsen; höchstens die ganz alten klugen Männchen
werden die wackligen Köpfe über den Mut schütteln, mit dem er frei heraus sagt,
was er denkt, und was - - viele von uns mit ihm denken. Die Zukunft wird
im Gegenteil bald genug lehren, daß er mit Recht auf jedem Gebiete von dem
Grundsatz ausgeht: besser bewahrt als beklagt. Mahrhaft königliche Vorsicht besteht
nicht allein im Handeln, sie besteht auch im Warnen, und so taub wie einst die
Troer für Kassandras Stimme ist heute noch für des Kaisers und Königs Wort
halb Deutschland. Wenn mau es sagen dürfte, aber das gilt ja als persönliche
Beleidigung: Auf der Bierbank und im Redaktionsbüreau wird die öffentliche
Meinung fabriziert, die uns ans dem geradesten Wege — dnrch Uneinigkeit —
den Schwarzen, den Roten und dem Auslande in die Hände liefert.
Was wir fürchten müssen, ist die jede Autorität untergrabende, breitspurig
dahinwandelnde Kritik, hinter der alles wüst wird, ist der Geist, der stets verneint,
die Schulweisheit, die den Wald vor Bäumen nicht sieht, der Doktrinär, der sich
in gutem Glauben schmunzelnd fragt, ob dem Könige von Preußen das Recht zu¬
gestanden werden könne, seine individuelle Ansicht — das individuell klingt so
impertinent — zu äußern, und der es ihm grundgütig und salbadrig mit einer
Der Kardinalstaatssekretär
Leos XIII. findet neben seiner bedeutenden offen und seiner vielleicht noch umfang¬
reichern im stillen ausgeübten Thätigkeit als Kirchenfürst und Politiker, die den
Beifall Nichtnltramontauer weder hat noch anch wahrscheinlich haben will, noch Zeit
zu großen wissenschaftlichen Arbeiten aus dem Gebiete der christliche» Archäologie,
mit/denen wir uns eher befreunden können. Leo XIH. dichtet klangvolle lateinische
Verse, und sein erster Diener durchsucht die Schätze der Vatikanischen Bibliothek
und die Unterbauten der Kirchen zu wissenschaftlichen Zwecken, selbstverständlich aber
auch i» in-ZM-hin xloWin Sanct-uz oiMolic-co oeelssiiw. Das vorige Jahr ist eine gelehrte
Monographie von Rampolla erschienen: nark^rc- ot Lozmlwi'-z ÄW U^ecbaböss (zuerst
schon früher italienisch im Lossaricms, dann französisch in der Revus as I'art ebrütiauuo
und in einem Separatabdrnck daraus in Bruges), in der er an der Hand reichen
historischen, topographischen und kunstarchäologischen Materials das Martyrium und
Begräbnis der sogenannten Makkabäer (2. Malt. 6, 18 bis 8, 41) in Antiochia und
die Wandrung ihrer Gebeine von Antiochia über Konstantinopel nach San Pietro
ad Vincula in Rom geschildert hat. Es ist eine Reihe sicher aneinander gereihter
Schlußfolgerungen, mit denen der gelehrte Kardinal die Verehrung dieser jüdischen
Märtyrer, die die christliche Kirche als Heilige adoptiert hat, von der frühesten Zeit
an verfolgt. Nur die Hauptsache kann nicht bewiesen werden, ob diese sieben Bruder
wirklich gelebt haben: da hilft ihm der Glaube. Inzwischen hatte Rampolla sem Inter¬
esse den Ausgrabungen unter Santa Cäcilia in Rom zugewandt, die interessante Reste
aus und von deu Palästen des edeln altrömischen Geschlechts der Cäcilier, aus dem
die heilige Cäcilia stammte, zu Tage gefördert haben. Jetzt ist ihm bei seinen archäo¬
logischen Studien eine handschriftliche Entdeckung gelungen, über die Rodolfo Lanciani
berichtet. Man hat sich oft gewundert - so schreibt der ausgezeichnete römische
Topograph —, daß die Beschreibungen der Stadt Rom aus der letzte» Zeit der
Kaiser die christlichen Sehenswürdigkeiten, die zugleich Wallfahrtsorte für die Pilger
waren, nicht erwähnten. So ist es bei der offiziellen Mtiticc rvAicmum UM« Roms«,
die von 334 nach Chr., also neunzehn Jahre nach Konstantins Konversion datiert;
und ebenso wenig berücksichtigt das nach 357 cntstnndne Onriosum Vrbis Roma,«z die
christliche» Monumente, von denen der Lciternn, die Vatikanische Basilika, das Sesso-
rianum, die kaiserlichen Gräber act «was I^Äuros, die Rotunde des Konstantin und die
Ma'rtyrcrgräber der Katakomben schon da waren. Der berühmte Archäolog« de Rossi
hat seinerzeit die Ansicht ausgesprochen, daß wenigstens die Gräber der christlichen
Märtyrer, als doch immer von den Pilgern aufgesucht, in den offiziellen AotitiÄv
vom Ende des vierten und Anfang des fünfte» Jahrhunderts angeschlossen gestanden
haben müßte». Wirklich wurde» auch 1878 in einem Codex Chigi und 1897 in
einem Manuskript der Ashburuhnmsammlung Aufzählungen christlicher Kirchhofe
(damals siebzehn solcher Pilgerziele) gesunde». Jetzt hat Kardinal Rampoila den
offizielle», nutheutische» Text entdeckt, und zwar am Schluß einer Kopie der Schrift
1)o cccMs des römischen Technikers Froutiuus, Das Manuskript rührt von der Hand
des vo» Nikolaus V. als Schreiber und Bibliothekar nach Rom gezognen Johann
Vhnck (1455) her; und dieser muß für die Aufzählung der christlichen Kirchhöfe
ein sehr altes Original benutzt habe», da die Aurelinuische Mauer «och erwähnt
ist, die in den übrigen Mtitias fehlt. Die jetzt von Nnmpolla gefundne Aufzählung
giebt für die Mitte des vierte» Jahrhunderts nur sechzehn Begräbnisstätten an; der
Kirchhof sauotcun HuMuuun Vi», I^eilen., der in den Chigi- und Ashburnhcnn-
mannskrivten steht, fehlt noch. Im sechsten Jahrhundert führt das Breviarium des
Zacharias, Bischofs von Armenien (siehe Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom I^,
S. 54, Anmerkung 1 und überhaupt die Details in diesem Band über das früheste
christliche Rom) außerdem schon vierundzwauzig Kirchen auf. Es thut Rampollas
archäologischen Verdiensten keinen Abbruch, wenn er sich bei seinen wissenschaftlichen
Nachdem im Laufe der letzten Jahre
schon mehrere deutsche Landschaften mit größern Veröffentlichungen ihrer volkstüm¬
lichen Überlieferungen hervorgetreten sind — Sachse», Braunschweig, Mecklenburg,
Siebenbürgen mit dem zur Honterusfeier herausgegebnen Werke: Das sächsische
Burzenland —, geht auch die schlesische Gesellschaft für Volkskunde daran, die
während ihres mehr als sechsjährigen Bcstehns emgcgangne» Beitrage und Samm¬
lungen den weitesten Kreisen zugänglich zu macheu. Diese Veröffentlichungen sollen
unter dem Titel „Schlesiens volkstümliche Überlieferungen" unter der Leitung Pro¬
fessor Dr. Vogts bei B. G. Teubner in Leipzig erscheinen. Die einzelnen Bände
werden die schlesischen Weihunchtsspielc, Sitte, Brauch und Volksglaube» in Schlesien,
schlesische Volksmärchen, das Sommersiugeu, Volkssage», Volkslieder usw. umfasse».
Soeben ist der erste Band: Die schlesische» Weihunchtsspielc, bearbeitet von Pro¬
fessor Vogt, erschiene». Es wäre zu wünschen, daß diese Weihnachtsspiele nicht
bloß im engsten Kreise der Folkloristen, sondern in viel Weilern Kreisen Verbreitung
fänden. Sie geben nicht nur ein treues Bild des schlesischen Volkscharakters, das
im wesentlichen die Züge bestätigt, die Gustav Freytag in einem seiner Aufsätze
von der Art des Schlesiers entwirft, sondern sie sind auch so reich an anmutigen
und poetischen Zügen, daß sie auch jetzt noch Freude und Beifall erwecken, wie
ihre wiederholte Aufführung in Breslau bewiesen hat. So kann man nur dankbar
sein, daß aus den verschiednen Überlieferungen ein einheitlicher Text hergestellt ist,
der die Möglichkeit einer ästhetischen Würdigung und dramatischen Darstellung
bieten soll. Auch die schlesische Mundart, die übrigens nicht durchgängig in den
Spielen angewandt ist, ist in den letzten Jahren durch moderne Dramen auch
außerhalb Schlesiens bekannt und verständlicher geworden. Erwähnt sei noch, daß
die Ausstattung des Buches — die Zeichnungen sind von Professor Wislicenus in
Breslau — durchaus gediegen und schön ist.
s ist Brauch geworden im deutschen Land, Bismarcks Autorität
gegen die leitenden Minister auszuspielen, und insbesondre thun
das Leute, die der Überzeugungskraft ihrer eignen Gedanken nicht
trauen und ihnen deshalb listigerweise einen falschen Stempel
geben. Sonderbarerweise wird gerade von dem Teil der deutschen
Presse, der ganz besonders stark in Engländerhaß macht, Fürst Bismarck als
Eideshelfer in Anspruch genommen. Da ist es ganz nützlich, sich wieder einmal
zu vergegenwärtigen, was Fürst Bismarck über England und die deutsch¬
englischen Beziehungen gesagt hat.
An Theodor Mommsen schrieb er: „Ans die Frage, ob ich russisch oder
westeuropäisch gesinnt sei. habe ich immer geantwortet, das; ich ein Preuße
bin. Was fremde Länder betrifft, so habe ich einzig Sympathie für England
und seine Bewohner gefühlt; und selbst jetzt bin ich zu Zeiten nicht frei davon;
aber sie wollen es uns nicht erlauben, sie zu lieben," Diese Sympathie des
Fürsten für die Engländer als Personen wird zwar die verschnupfen, die im
Engländer den Ausbund aller Schlechtigkeit sehen. Aber wer sich bemüht hat,
den Charakter des englischen Volks zu versteh», der wird es begreifen, das?
gerade der „Mann von Blut und Eisen" ihm seine Neigung widmete. Die
gesunde, kräftige und große Auffassung von privatem und öffentlichem Leben,
die Willenskraft, der Unternehmungsgeist und die praktischen Fähigkeiten der
Engländer mußten gerade dem Schöpfer des dentschen Selbstbewußtseins, dem
harten Realpolitiker sympathisch sein, der unablässig bemüht war, diese Charakter,
züge mich dem dentschen Michel von neuem anznerzieyn. Aber persönliche
Sympathien gelten nicht in der Politik, es sei denn, daß sie von den persön¬
lichen Interessen zu innigem Bunde herangezogen werden können, lind diese
persönlichen gemeinsamen Interessen des deutscheu und des englischen Volks
sind so groß — wenn wir dem Altreichskanzler Glauben schenken können
daß man mir wünschen sollte, auch die persönlichen Sympathien möchten sich
wieder einstellen. Sagte doch Fürst Bismarck in der Reichstagssitzung vom
5. Dezember 1876: „Wir haben mit England nicht minder wie mit Rußland die
Tradition einer hundertjährigen guten Beziehung die unter Umständen in dem
öffentlichen Gefühle ihre Momente der Erkaltung gehabt hat , ich kann wohl
sagen, mehr einseitig auf englischer Seite; wir find unsern ersten Neigungen
in der Beziehung fast durchgehends treu geblieben. Daß mitunter ein Pre߬
kampf unter beiden Böllern gelegentlich vorübergehend stattfindet, das hindert
nicht, daß die durch eine lange Geschichte bewährte Gemeinsamkeit mannig¬
facher Interessen und Meinungen zwischen uns und England auch für die
Zukunft der Bürge des Einverständnisses ist," und in der Rcichstngssitzuug
vom 19. Februar 1878: „Wir sind mit England in der glücklichen Lage,
keinen Streit der Interessen zwischen uns zu haben, es seien denn Handels¬
rivalitäten und vorübergehende Verstimmungen, die ja vorkommen, aber doch
nichts, was ernst zwei arbeitsame, friedliebende Nationen in Krieg bringen
könnte, und ich schmeichle mir deshalb, daß wir auch zwischen England und
Rußland unter Umstünden ebensogut Vertrauensperson sein können, wie ich
sicher bin, daß wir es zwischen Österreich und Rußland sind, wenn sie sich
nicht von selbst einigen können."
In der That stellt sich die Erregung gewisser Kreise gegen England als
die Verhetzung durch eine bestimmte Presse dar, die geschickt einige für die
Erkaltung des öffentlichen Gefühls vorhandne Anlasse künstlich aufgebauscht
hat; es liegt das ja im Wesen eines Teils der Presse, „fortzeugend Böses
zu gebären," indem sie aus Sensationslust Fenster einwirft, die nachher die
Regierung bezahlen muß. Welchen Schaden eine solche Presse für die aus¬
wärtigen Beziehungen des Staats anrichten kann, sprach Fürst Bismcirck
Moritz Busch gegenüber am 21. Oktober 1877 ans (Busch, Tagebuchblütter,
Band II, S. 487). Er sagte: „Die Presse hat die drei letzten Kriege ver¬
anlaßt; die dänische zwang den König und die Regierung zur Einverleibung
Schleswigs, und die österreichische und die süddeutsche hetzten gegen uns, die
französische hat zur Verlängerung des Feldzugs beigetragen."
Aus diesen Beispielen, die Fürst Bismarck anführt, geht hervor, ein wie
großes vaterländisches Verdienst sich die Regierungen und die Monarchen er¬
werben, die sich durch Volksstimmungen, die sie als gefährlich erkennen, nicht
beirren lassen um der Popularität willen.
„Es ist leicht für einen Staatsmann, sagte Fürst Bismarck in der preu¬
ßischen Kammer im Jahre 1850, sei es im Kabinett oder in der Kammer mit
dem populären Wind in die Kricgstrompete zu stoßen und sich dabei ein
seinem Kaminfeuer zu wärmen, oder von dieser Tribüne donnernde Reden zu
halten und es dem Musketier, der auf dem Schnee verblutet, zu überlasten,
ob sein System Sieg und Ruhm erwirbt oder nicht. Es ist nichts leichter
als das, aber wehe dem Staatsmann!" Es ist ein Zeichen staatsmännischen
Pflichtbewußtseins, daß sich unsre Regierung dein Toben der Bolksstimmung
entgegengestellt hat. Es ist aber nötig, ans eins hinzuweisen: kaum wäre die
überschäumende Anglophvbie, man kann hier den Ausdruck gebrauchen, so ein-
gerissen, wenn die deutsche Regierung schon vor einem Jahre durch staats¬
männische Erklärungen »ud Belehrungen das deutsche Volk, das in seiner
Mehrheit ruhiger Überlegung zugänglich ist, von einer rasenden, Prestige,
lüsternen Presse getrennt hätte. Jetzt redet diese, die es nicht vermocht
hat, Kaiser und Kanzler und das von ihnen gepflegte Staatswohl ihrem
Willen nnterzuzwingen, von einer „tiefen Kluft zwischen Thron und Volk"
und vo» der Notwendigkeit einer „nationalen" Opposition gegen den selbst¬
bewußten Monarchen, Aber das täuscht doch niemand mehr: es ist die blinde
Wild einer gewissen herrschsüchtigen Presse, die sich in ihrem Machtkitzel ge¬
tränkt und in ihrer Hoffnung getäuscht sieht, der Schwerpunkt der Staats¬
leitung werde in ihre Redaktionen verlegt werden. Diese Presse — in Wahr¬
heit ist es nur ein halbes Dutzend Redakteure mag ruhig „nationale
Opposition" machen: die Zeit ist zu ernst, als daß sich auf die Dauer
solches Phrasentum am Leben erhalten könnte. Es hat sich ja auch gezeigt,
daß diese Presse auf die berufnen Volksvertreter keinen Einfluß auszuüben
vermocht hat. Die Kreise des deutschen Volks, die für ihre Worte auch die
Verantwortung übernehmen müssen, also die Reichstagsabgeordneten, die mit
ihrer Person für ihr Verhalten einstehn müssen, die Fraktionen, die Partei-
Presse, die Zeitschriften, deren Anschauungen und Handlungen von der Ge¬
schichte festgenagelt werden — während die Leitartikel der ,, unabhängigen,
nationalen" Blatter heute geschriebn werden und morgen vergessen sind —,
alle diese unter der Zuchtrute der Verantwortlichkeit stehenden Elemente sind
sich wohl bewußt gewesen, daß die Englandhetze dem Interesse des Reichs
widerspricht, und haben sich zurückgehalten. Es mag in diesen Kreisen auf
Grund ihrer pflichtmäßigen Gewissenhaftigkeit in der Betrachtung der Politik
wohl auch ein richtigeres Bild der Ziele Bismarckischer Politik vorhanden sein,
als in den „Bismarckianern" alldeutscher Observanz. Sie werden sich erinnern,
daß zu der Zeit des Beginnens unsrer Kolonialpolitik, als die thatsächlichen
Differenzen mit England — nicht bloß theoretische — auf der Tagesordnung
waren. Fürst Bismarck einen so gewichtigen Politiker, wie Windthorst es war,
in der Reichstagssitzuug vom lo' Januar 1885 mit folgenden Worten zurück¬
wies: „Dann möchte ich doch den Herrn Vorredner bitten, auch selbst einer
so befreundeten Macht gegenüber, wie England, nicht in der leichten Weise von
der Tribüne her den Frieden — ich will nicht sagen — zu stören, aber das
Vertrauen auf den Frieden, indem er darauf hindeutet in dieser mehr oder
weniger politischen Debatte, daß die Möglichkeit vorhanden sei, daß wir Eng¬
land einmal in Waffen gegenüberstehn könnten. Diese Möglichkeit bestreite
ich absolut, die liegt nicht vor, und alle diejenigen Fragen, die jetzt zwischen
uns und England streitig sind, sind nicht von der Wichtigkeit, um einen
Friedensbruch zwischen uns und England weder drüben noch auf dieser Seite
der Nordsee zu rechtfertigen, und ich wüßte nicht, was sonst zwischen uns und
England für Streitigkeiten entstehn könnten; sie sind nie gewesen. Ich kann
nach meinen diplomatischen Erfahrungen keinen Grund absehen, warum ein
Friedensbruch zwischen uns und England möglich sein sollte, es müßte denn
irgend ein unberechenbares Ministerium! in England, das weder da ist, noch
nach der politischen erblichen Weisheit der englischen Nation wahrscheinlich ist,
in der ruchlosesten Weise uns angreifen und beschießen — ja mein Gott, dann
werden wir uns wehren - , aber abgesehen von dieser UnWahrscheinlichkeit ist
gar kein Grund für eine Friedensstörung, und ich bedaure, daß der Herr Vor¬
redner mich in die Notwendigkeit versetzt hat durch seine Andeutung, dieser
Möglichkeit meine Überzeugung entgegensetzen zu müsse». Unsre Meinungs¬
verschiedenheiten gegenüber England können in menschlich absehbarer Zeit nie¬
mals die Tragweite haben, daß sie nicht durch ehrlichen guten Willen und
geschickte vorsichtige Diplomatie, wie sie von unsrer Seite sicherlich getrieben
wird, erledigt werden könnten. , , , Mit England leben wir in gutem Ein¬
vernehmen. Daß England in dem Bewußtsein: Lriwimig, rulss Anz -og-oss,
etwas verwunderlich aussieht, wenn die Landratte von Vetter — als die wir
ihm erscheinen — plötzlich auch zur See fährt, ist nicht zu verwundern; die
Verwundrung wird indes von den höchsten und leitenden Kreisen in England
in keiner Weise geteilt. Die haben nur eine gewisse Schwierigkeit, den Aus¬
druck des Befremdens bei allen ihren Unterthanen rechtzeitig zu mäßigen. Aber
wir stehn mit England in althergebrachten befreundeten Beziehungen, und beide
Länder thun wohl daran, diese befreundeten Beziehungen zu erhalte»."
Daß England bei dem Erscheinen Deutschlands ans den Meeren verwundert
aufsah nud seine Gegenmaßregel» gegen die gefürchtete deutsche Konkurrenz
traf, wird ihm kein denkender Politiker verargen dürfen. Jeder Mensch wird
sich seiner Haut wehren und sich vor Schaden zu bewahren suchen, wenn ihm
ein Konkurrent zu Leibe rückt. Das ist so selbstverständlich wie irgend etwas,
bei England aber schalt mau es Perfidie, als es kraft seiner Erfahrung den
Rahm in der Kolonialbewegung abschöpfte. Das Inselreich würde sich damals
allerdings wohl kaum so sehr aufgeregt haben, wenn es die sehr laue deutsche
Kolonialbewegung nicht in ihrer Bedeutung gänzlich überschätzt Hütte. Un¬
möglich aber ist es, den Engländern aus ihrem Erfolg gar noch einen Vor¬
wurf zu machen: nirgendwo auf der Welt wird der Grundsatz anerkannt werden,
daß ein Volk dein andern zuliebe sich dümmer geben müsse, als es ist.
Allerdings ist Deutschland bei einigen Vertrügen mit England zu kurz ge¬
kommen. Man lese nach, was Busch, Tagebuchblätter III. Seite 195 bis 196
über die Mission des Grafen Herbert Bismarck in der Se. Lueiafrage 1885
und des Generalkonsuls Nvhlfs, des Günstlings der Söhne des Altreichs¬
kanzlers, nach Sansibar 1885 mitteilt. Bei diesen beide» Gelegenheiten ist
allerdings dort eine südafrikanische, hier eine ostafrikanische Zukunft des
Deutschen Reichs verdorben worden, aber nicht durch englische Perfidie, sondern
wegen schlechter Auswahl der deutsche» Diplomaten. Seit der Zeit ist nichts
geschehn, was ma» ernsthaft als eine Benachteiligung des deutschen Volks durch
England betrachten könnte, jedenfalls nichts von dein Standpunkt der großen
Politik, wie sie Fürst Bismarck in den oben wiedergegebnen Reden dargelegt
hat. Daß eine so neue und eigentümliche politische Erscheinung wie die deutsche
Kolonialpolitik einiger diplomatischer Auseinandersetzungen bedarf, damit die poli¬
tische Konstellation im Gleichgewicht erhalten bleibt, ist selbstverständlich. Aber
diese kolonialpolitischen Verhältnisse sind ohne den Hochdruck der großen Politik,
lediglich in dem werktagsmäßigen Betriebe der Auswärtigen Ämter geregelt
worden. Zu der Anwendung der rütiirni. ratio oder auch nur zu politischen
Drohungen hätte sich Fürst Bismarck der Kolonialpolitik wegen niemals ver¬
standen. Die Kolonialpolitik war ihm dazu ein zu geringwertiger Bestandteil
seiner Gesamtpolitik, wie er in der Reichstagssitzung vom 26. Januar 1889
ausgeführt hat. Er sagte damals: „Der Vorredner hat im Anfang seiner
Rede die Frage berührt, in welche Beziehungen uns die Kolonialfrage zu aus¬
wärtigen Mächten setzt. Da kann ich die Versicherung abgeben, daß wir in
dieser Frage wie in allen übrigen — und nicht ohne Erfolg — stets bemüht
gewesen sind, uns in Fühlung mit der größten Kolonialmacht der Erde, mit
England, zu halten, daß wir auch hier nur nach Verständigung mit England
vorgegangen sind und nicht weiter vorgehn werden, als wir uns mit England
zu verständigen imstande sein werden. . . . Im Kampf mit England vorzugehn,
im Widerstreit, oder auch nur die Maßregeln zu erwidern, die von einzelnen
untergeordnete» englischen Organen uns gegenüber getroffen werden, fällt mir
nicht ein. Wir sind in Sansibar sowohl wie in Samoa mit der englischen
Regierung absolut in Einigkeit und gehn mit ihr Hand in Hand, und ich bin
fest entschlossen, diese Beziehungen festzuhalten. . . . Wenn die Blockade auf¬
hört, ohne den Eindruck eines Bruchs der Einigkeit zwischen England und
Deutschland zu machen, so will ich nichts dawider haben. Dieser Eindruck ist
mir nach meiner politischen Auffassung die Hauptsache — ebenso wie ich in
andern Kolonien, in Samoa z. B., unbedingt festhalte an der Übereinstimmung
mit der englischen Regierung und an dem Entschluß, sobald wir mit derselben
in Übereinstimmung sind, gemeinsam vorzugehn, und sobald wir das nicht sind,
uns zu enthalten oder mit Zurückhaltung zu verfahren. Ich betrachte Eng¬
land als den alten und traditionellen Bundesgenossen, mit den? wir keine
streitigen Interessen haben; wen» ich sage »Bundesgenossen«, so ist das in
diplomatischem Sinne zu fassen; wir haben keine Verträge mit England; aber
ich wünsche die Fühlung, die wir seit nnn doch mindestens hundertfünfzig
Jahren mit England gehabt haben, festzuhalten, auch in den kolonialen Fragen.
Und wenn mir nachgewiesen würde, daß wir die verlieren, so würde ich vor¬
sichtig werden und den Verlust zu verhüten suchen."
Nach seiner Entlassung hat der Fürst ebenfalls noch Gelegenheit ge¬
nommen, sich über die deutsch-englischen Beziehungen auszusprechen, so z. B.
am 2. Juli 1890 gegenüber einer Anzahl englischer Besucher in Friedrichs-
wh. Den Bericht der?unes8 darüber übernehmen die „Hamburger Nachrichten"
und ergänzen ihn auf Grund authentischer Erkundigung. Der Fürst hat damals
gesagt: „Der Handel ist der große Beförderer der Zivilisation und hat viel
gethan, um die jetzt zwischen England und Deutschland bestehende Freundschaft
zu schaffen. Er ist die Quelle internationalen Fortschritts und führt zu einer
Herzlichkeit, die in der That Gefallen erweckt; den» Höflichkeit ist das Öl für
die Maschinen des menschlichen Lebens. Das Deutsche ist nicht so sehr ge¬
achtet in England wie das Englische in Deutschland. Deutschland kann man
mit einem «M-manis-mAu vergleichen, England mit einem alten aristokratischen
Lord. Wir haben oft zusammengestanden in Zeiten des Friedens sowohl wie
in den Tagen der Bedrängnis, und noch jetzt bestehn die besten Beziehungen
zwischen den beiden Nationen; einen Beweis dafür liefert die schnelle Erledi¬
gung der afrikanischen Frage."
Der Fürst hat seine Besucher, wie die „Hamburger Nachrichten" ergänzend
bemerken, insbesondre auch an die alten Beziehungen zwischen England und
Preußen, an deu siebenjährigen Krieg und an Waterloo erinnert. Was den Satz
betrifft, daß England in Deutschland geachteter oder beliebter sei, als umgekehrt
Deutschland in England, so hat der Fürst hinzugefügt, daß dies begreiflich sei;
die Engländer kennten wohl Preußen, aber Deutschland sei ihnen noch neu;
wenn ein Menschenalter vergangen sei, würde sich auch hierin vieles geändert
haben. Bezüglich der Abtretung Helgolands und des deutsch-englischen Ab¬
kommens überhaupt äußerte der Fürst, dieser Austausch müsse der Befestigung
der Beziehungen zwischen England und Deutschland zu gute kommen; der
Wunsch Deutschlands, mit England befreundet zu bleiben, werde dadurch aufs
neue bekundet. Die Ansprache des Fürsten kann jedenfalls dem Einvernehmen
zwischen den beiden Nationen nur förderlich gewesen sein, wie sich auch die
englischen Besucher mit lebhaften Cheers vom Fürsten verabschiedeten.
Auch in dem bekannten Interview, das Fürst Bismarck am 8. Juni 189V
dem Vertreter des Londoner Dg-ilz? 1ki6Arg,M gab, und dessen Bericht von den
„Hamburger Nachrichten" als authentisch abgedruckt wurde, äußerte sich der
Altreichskanzler über Deutschlands Stellung zu England, und zwar hatten
diese Ausführungen eine auffällige Ähnlichkeit mit einigen seiner Reichstags¬
reden. Er sagte: „Was England und Deutschland betrifft, so sehe ich es als
eine Unmöglichkeit an, daß diese beiden Länder jemals in Krieg, und als be¬
sonders unwahrscheinlich, daß sie selbst in einen ernsten Zwist geraten konnten.
Sollte es aber dazu kommen, so könnte das zu einem Konflikt auf dem Fest¬
lande führen, selbst wenn England keinen thätigen Anteil an dem Kampfe, sei
es zu Wasser oder zu Lande, gegen uns nehmen sollte. Aber diese Möglich¬
keit ist ebenso unwahrscheinlich, als daß wir das Schwert gegen England ziehn
sollten. Natürlich können Differenzen vorkommen, wie in dieser afrikanischen
Koloninlsache, welche noch einer billigen Ausgleichung entgegensehen. Aber
eine jede solche Differenz zwischen Ihnen und uns kann nur von ganz un¬
bedeutender Wichtigkeit sein im Vergleich zu den Folgen eines Appells an die
Waffen. Wenn wir auch ein bischen gegeneinander knurren, so braucht man
sich darüber uicht zu beunruhigen. Sieht man sich diese afrikanische Geschichte
deutlich an, so frage ich, worauf kommt es dabei an? In Ihrer britischen
afrikanischen Gesellschaft ist, wie ich glaube, eine halbe Million Pfund Sterling
angelegt, in unsrer deutschen Gesellschaft etwas weniger. Legen Sie diese
beiden Beträge zusammen, und die ganze Summe ist nicht soviel wie eine
Tagesausgabe bei der bloßen Vorbereitung eines Kriegs, In diesem Falle
der' kolonialen Rivalität Englands und Deutschlands kann der Gegenstand des
Streits, so hoch man ihn auch anschlagen will, nicht auch nur einigermaßen den
gewissen Schaden aufwiegen, der aus einen, ernsthaften kriegerischen Zusammen¬
stoß zwischen England und Deutschland entstehn würde, und das alles über
die Teilung von Landstrichen, deren Wert noch sehr zweifelhaft ist. , , . Zwischen
Deutschen und Engländern ist es immer leicht, zu einem billigen und freund¬
schaftlichen Einvernehmen zu gelangen. Wir sind beide ehrliche Völker, Nur
kennen uns gut und achten uns gegenseitig aufrichtig. Es ist über diese er¬
bärmliche Geschichte so viel tolles Zeug gesprochen und geschrieben worden,
daß ein paar einfache Worte, wie sie der gesunde Menschenverstand eingiebt,
nicht schaden können,"
Auch über die südafrikanische Frage ist soviel tolles Zeug gesprochen und ge¬
schriebn, daß einfache Worte und der gesunde Menschenverstand dagegen lange
nicht aufkommen konnten. Der gesunde Menschenverstand wird — in der
Politik wie im Leben — geneigt sein, sich nach den beiden Worten zu richten:
„Was du nicht willst, daß man dir thu, das füg auch keinem andern zu!"
und „Willst du dich selber erkennen, so sieh, wie die andern es treiben; willst
du die andern versteh», blick in dein eigenes Herz!" Man könnte diese beiden
Sprüche als den Inbegriff der Realpolitik Bismarcks bezeichnen, aber die Ein-
tagspresse, die sich bismarckischer Weisheit rühmt, würde, wenn sie sich ihren
Inhalt zur Richtschnur machen würde, nicht prosperieren; für sie ist das
„Knurren" Geschäftsprinzip, und den, der ihr gegenüber den gesunden Menschen¬
verstand gelten lassen will und freimütig seiue wohlbegründete, wenn auch
gerade nicht populäre Anschauung äußert, beschimpft und verleumdet sie.
Zweifellos besteht eine Tradition der Waffenbrüderschaft, die Fürst Bismarck
in seinem Interview vom 2. Juli 1890 erwähnt; zweifellos schuldet auch
Deutschland dem Jnselvolke Dank als dem Gedankenquell geistiger und poli¬
tischer Freiheit, und sogar ein Chauvinist sollte nicht die Thatsache leugnen
dürfen, daß unser Handel unter dem Schutz der englischen Flagge groß ge-
worden ist. Und doch als der Leipziger Historiker Erich Marcks sich gegen
die verführte Volksstimmung erhob und die Wahrheit der Wissenschaft deu
Unwahrheiten der chauvinistischen Demagogen entgegenhielt, da verhöhnte man
sie als Professorenweisheit — im Lande der Ehrlichkeit und der Dichter und
Denker, Die Staatsmänner allerdings haben die Haltung ihrer Presse auf
beiden Seiten und von jeher desavouiert; wie Fürst Bismarck, so war auch
die englische Negierung zu einer friedlich sachlichen Auseinandersetzung bereit.
Die Grenzen der beiderseitigen Besitzungen wurden im Laufe der Zeit sach¬
gemäß abgesteckt und damit die afrikanische Frage zwischen deu Kabiuetteu be¬
seitigt. Als Gegenstück zu den Erklärungen des Altreichskanzlers legte die
englische Regierung ihren Standpunkt in folgender Weise dar. Am ti. März
1885 erklärte Lord Granville im Oberhause: „Ich bin überzeugt, daß es mehr
als je im Interesse Deutschlands und Englands liegt, daß unsre Beziehungen
gute sein sollen, zu einer Zeit, wo nur im Begriff stehn, uns fast in jedem
Weltteile zu begegnen. Bei den: großen und gemeinsamen Werk des Handels
und der Zivilisation sollten wir im Geiste herzlichen Zusammenwirkens vor¬
wärts gehn. Ich erkläre mit voller Aufrichtigkeit, daß alle meine Bestrebungen
dahin gerichtet sein werden, fortzufahren, soweit es in meiner Macht liegt, die
versöhnliche Politik des Fürsten Bismarck auszuführen." Und um 12. März
erklärte Gladstone, „England dürfe dem Deutschen Reiche bei dessen Kolonial¬
politik nicht mit scheelem Ange begegnen. Man dürfe nicht die Besetzung des
einen und des andern Punktes in krämerhaftem Geiste besprechen und mit
neidischem Auge das betrachten, was nicht England zufiele. Sowohl politisch
als grundsätzlich könne seitens Englands kein schwererer Fehler gemacht werden,
als solche Laune vorherrschen zu lassen. Werde Deutschland eine kolonisierende
Macht, so rufe er ihm Gottes Segen für seine Bestrebungen zu, es werde
Englands Bundesfrennd und Genosse sein zum Segen der Menschheit. Ich
begrüße seinen Eintritt in diese Thätigkeit und werde erfreulich finden, daß
es unser Genosse in der Verbreitung des Lichts und der Zivilisation in
weniger zivilisierten Gegenden wird. Es wird bei diesem Werke unsre herz-
lichsten und besten Wünsche und jede Ermutigung finden, die in unsrer
Macht steht."
Ebensowenig wie Fürst Bismarck Steine in den „englischen Garten werfen"
wollte, ebensowenig lag es im englischen Interesse, die Blüten deutscher Meeres¬
politik zu knicken. Denn für beide Völker gilt das, was der Altreichskanzler
am 16. März 1885 in der Reichstagssitznng aussprach: „Den Satz konnte
ich mir ja vollständig aneignen, daß wir, England und Deutschland, wenn
nicht ausschließlich aufeinander angewiesen, doch den Beruf haben, nach Stammes¬
verwandtschaft, nach historischen Traditionen, vor allen Dingen aber nach ge¬
meinsamen Interessen und nach der Abwesenheit widersprechender Interessen im
freundlichsten Einverständnis miteinander zu leben. Dieses Einverständnis zu
suchen bin ich seit Jahr und Tag beschäftigt."
Wie Fürst Bismarck bei seinen hier wiedergegebnen Anschauungen über
die deutsch-englischen Beziehungen die „Politiker" und die Presse alldeutscher
lind antisemitischer Weisheit angefaßt hätte, die sich jetzt in Englandhaß be¬
rauschen und über die Regierung herfallen, weil sie sich nicht von ihnen ins
Schlepptau nehmen läßt, kann man sich ungefähr ausmalen, wenn man seine
Rede vom 6. Februar 1888 liest. Er richtete an jene die Mahnung, ihre
drohenden Artikel doch lieber zu unterlassen, „sie führen zu nichts. Die
Drohung, die Nur nicht von der Regierung, aber in der Presse erfahren, ist
eigentlich eine unglaubliche Dummheit: wenn man eine große und stolze
Macht . . . durch eine drohende Zusammenstellung von Worten glaubt ein¬
schüchtern zu können."
Es scheint nach diesen Äußerungen des Altreichskanzlers doch eine
„tiefe Kluft" zwischen ihm und dem Volke, das sich bismarckisch gebärdet,
n den „Nachrichten von? deutschen Landwirtschaftsrat" hat der
Generalsekretär dieser obersten agrarischen Interessenvertretung,
Dr.Date, neuerdings einen beachtenswerten Aufsatz unter der Über¬
schrift', „Welcher Grundbesitz, der Grosi-, Mittel- oder Kleinbesitz,
liefert dem deutsche« Volke die größte Menge Brodgetreide?"
veröffentlicht. Wer die landwirtschaftliche Betriebsstatistik kennt, die das Kaiser¬
liche Statistische Amt 1898 in dem großen, auch in den Grenzboten seiner
Zeit mehrfach besprochnen Werk „Die Landwirtschaft im Deutschen Reich nach
der landwirtschaftlichen Betriebszählnng vom 14, Juni 1895" giebt, der wird
freilich geneigt sein, die Frage schon für beantwortet zu halte», denn dort ist
nachgewiesen worden, daß auf die „Großbetriebe," d. h, die Betriebe mit
100'und nrehr Hektar landwirtschaftlich benutzter Fläche (Acker-, Wiesen-,
Garten- und Reblaub zusammen), nur 24,08 Prozent dieser Fläche fallen,
sodaß für die „Bauernwirtschaften" unter 100 Hektar ganze 75,92 Prozent
übrig bleiben. Daß aber auf rund 7« Prozent der landwirtschaftlichen Fläche
mehr Brodgetreide gebaut und geerntet wird als auf 24, wird niemand, der
Deutschland auch nur ganz oberflächlich kennt, bezweifeln. Aber Date wollte
in Wirklichkeit mehr beweisen. Er wollte zunächst „zahlenmäßig" feststellen,
daß die Bauernwirtschnften auch mehr Brodgetreide für die uichttandwirtschaft-
liche Bevölkerung zur Verfügung stellen, also zum Verkauf bringen, und daß
sie deshalb auch ein ebenso großes, ja eigentlich ein noch größeres Interesse
an der Erhöhung der Brotgetreidezölle haben als die Großbetriebe. Seine
ganze Arbeit ist nämlich nach ihrem Wortlaut hauptsächlich gegen die, wie er
sagt, von den „Vertretern des Freihandels »ut der Sozinldemokratie" auf¬
gestellte Behauptung gerichtet, „daß ein handelspolitischer Schutz der Getreide-
Produktion nnr den 25061 Betrieben über 100 Hektar zu gute käme," eine
Behauptung, die natürlich Heller Unsinn ist nud mit einem solchen Aufwand
schwersten statistischen Geschützes, wie es Date dagegen auffährt, beschossen zu
werden gar uicht verdient. Thatsächlich beschießt er auch nicht diesen Unsinn
allein, sondern richtet seine Batterien auch gegen alle die Wirtschaftspolitiker,
die eine weitere Kornzollerhöhung ablehnen und dies unter anderm auch durch
den Hinweis darauf begründen, daß von ihr außer der Masse der nichtland¬
wirtschaftlichen Bevölkerung, der ihr Mehl und Brot, das sie kaufen muß,
mehr oder weniger durch höhere Brotgetreidezölle verteuert wird — denn doch
ein recht beträchtlicher Teil der Landwirte voraussichtlich keinen Nutzen haben
wird, weil sie kein Brodgetreide verkaufen oder doch nicht mehr durch den
Verkauf erlösen, als sie für den Zulauf von Mehl, Brot oder auch Brod¬
getreide ausgeben müssen. So hat namentlich Professor I. Conrad wieder¬
holt geltend gemacht, daß von den im Juni 1895 im ganzen gezählten 5558317
landwirtschaftlichen Betrieben zunächst die 8236367 Betriebe unter 2 Hektar
kein Interesse an höhern Getreidepreisen haben, und auch von den 1016318 Be¬
trieben mit 2 bis 5 Hektar nur ein bescheidner Teil, Es wären hauptsächlich
nur die Inhaber der 1305632 Betriebe über 5 Hektar, die in Deutschland
daran interessiert seien. Wenn er dabei übrigens aus Versehen in die Zahlen
von 1882 hineingeraten ist und deshalb irrtümlich statt der zuletzt genannten
Zahl nur 1233106 angiebt, so mag das hierdurch berichtigt sein. Ans keinen
Fall hält es uns ab, auch hier wieder zu sagen: Conrad hat Recht.
Dades eigne statistische Kunst lehrt es, wenn er es auch nicht eingesteht.
Wir wollen ihm deshalb in seinen durchschnittlichen Annahmen, Schätzungen
und Berechnungen noch ein wenig folgen, obgleich wir solche statistische Kunst
leistungen praktisch nicht für viel wert halten. Er setzt voraus, daß bei den
Betrieben unter wie über 100 Hektar durchschnittlich das Verhältnis von Brot¬
getreidefläche zur ganzen Acker- und Wiesenfläche — die Betriebsstatistik weist
es mit 24,29 zu 75,71 nach das gleiche sei, und daß die Brotgetreide¬
menge diesem Verhältnis entspreche. Dadurch kommt er dazu, die von der
Erutestatistik nachgewiesein' gesamte mittlere Ernte an Brodgetreide von
12369011 Tonnen (zu 1000 Kilogramm) auf die Großbetriebe und Bauern¬
wirtschaften im Verhältnis von 24 zu 76 zu verteilen, sodaß auf die Gro߬
betriebe 2951660 Tonnen und auf die Bauernwirtschaften 9417 351 Tonnen
geerntetes Brodgetreide kommen würden.
Um nun die Hauptfrage zu beantwortein „Wie viel Brvtkorn bringt der
Besitz über und unter 100 Hektar zum Verkauf auf den Markt?" — rechnet
er von der Ernte der Großbetriebe (2951660 Tonnen) zunächst für die Aussaat
349944 Tonnen ab, dann an verfüttertem Brodgetreide etwa 256000 Tonnen,
weiter noch einen nicht genau schätzbaren Posten für Branntweinbrennerei und
eigne Stärkefabrikation usw., endlich und namentlich aber 400000 Tonnen,
die diese Betriebe für die Ernährung ihrer eignen Bevölkerung verbrauchen.
Er kommt so zu der Annahme, daß sämtliche 25061 Betriebe über 100 Hektar
zusammen etwa 1850000 Tonnen zum Verkauf auf den Markt bringen. Im
Durchschnitt würden wir dann für den einzelnen Großbetrieb eine zum Ver¬
kauf gebrachte Vrotgetreidemenge vou 74 Tonnen jährlich herausbekommen.
Nimmt man nnn an, daß die Agrarier eine Erhöhung des Brotgetreidezolls
auf 60 Mark, also um 25 Mark für die Tonne durchsetzen würden — mehr
werden sie wohl auf keinen Fall erreichen —, so würde, falls die Zollerhöhung
ganz zur Geltung käme, der einzelne Großbetrieb dadurch im Durchschnitt eine
Mehreinnahme vou 1850 Mark im Jahre erzielen.
Bei den Bauernwirtschaften nimmt Date, wie schon gesagt worden ist, eine
Gesamternte an Brodgetreide von 9417351 Tonnen an. Für die Aussaat rechnet
er 1052522 Tonnen, als zur menschlichen Nahrung untaugliches Hinterkorn
470868 und für die Ernährung der eignen Bevölkerung 3163037 Tonnen an,
sodaß zunächst zusammen 4686427 Tonnen von der Erntemenge abgezogen
werden müßten und zum Verkauf eigentlich 4730924 Tonnen verfügbar sein
würden.
Nun macht aber Date noch eine zweite Rechnung auf, in der er zunächst
den Bedarf der „nicht rein landwirtschaftlichen Bevölkerung" an Brodgetreide
— angeblich 39 Millionen Köpfe und 170 Kilogramm für den Kopf — auf
6630000 Tonnen schätzt, wovon die Großbetriebe, wie oben berechnet ist,
1850000 Tonnen decken. Nun komme aber die böse Einfuhr ausländischen
Brotkorns mit etwa 2000000 Tonnen dazwischen und nehme den Bauern¬
wirtschaften den Markt annähernd in diesem Maße weg, sodaß sie statt der
4730924 Tonnen, die sie zum Verkauf übrig hätten, nur 2780000 verkaufen
könnten und 1950924 Tonnen schönes zur Menschennahrung taugliches Brod¬
getreide roten-z volsns ans liebe Vieh verfüttern müßten. Das sind natürlich
statistische Kunststückchen, die die Sachlage viel eher verdunkeln als aufklären
können. Nehmen wir das Ergebnis dieser Schätzungen und Rechnungen aber
einmal als brauchbar an, so brächten die 5533256 Betriebe unter 100 Hektar
heute zusammen 2 780000 Tonnen Brodgetreide zum Verkauf; das macht auf
den Betrieb im Durchschnitt 0,5 Tonnen, und von einer Zollcrhöhung um
25 Mark etwa 12,5 Mark. Während also nach Dades Methode für den
einzelnen Großbetrieb 1850 Mark als Vorteil dieser Zollerhöhung herauszu¬
rechnen wären, würde sich der Vorteil der Bauernwirtschaften durchschnittlich auf
12.5 Mark stellen.
Date versucht berechtigterweise die Erntemengen und damit doch wohl
auch die Verkaufsmengen um Brodgetreide noch weiter auf die einzelnen
Größenklassen der Bauernwirtschaften zu verteilen, wobei er natürlich denselben
Maßstab anlegt, den er bei der Verteilung auf die Betriebe über und unter
100 Hektar angewandt hat, d. h. den prozentualen Anteil der Acker- und
Wiesenfläche der einzelnen Größenklassen an der Acker- und Wiesenfläche aller
Bauernwirtschaften zusammen. Er sagt ausdrücklich: „Welcher Teil der bäuer¬
lichen Betriebe den obigen Betrag von rund 2780000 Tonnen hauptsächlich
Verkauft, geht aus der folgenden Übersicht hervor:
Hiernach — das sind immer noch Dades Worte — scheint es zweifellos
zu sein, daß gerade unser bäuerlicher Besitz von 200 bis 300 Hektar, und ganz
besonders der am kräftigsten vertretne Bauernstand von 5 bis 10 Hektar dem
dentschen Volke die größte Menge Brotkorn liefert!" Das soll natürlich zu¬
gleich sagen: die größte Menge „verkauft" und das größte Interesse an der
Zollerhöhung hat, Date kann danach nichts einzuwenden haben, wenn wir
die Verteilung nach dem von ihm angewandten Maßstab noch etwas weiter
durchführen, d, h, mehr Größenklassen der Bauernwirtschaften berücksichtigen,
und statt der Erntemenge die zum Verkauf gebrachte Menge an Brotkorn
in Rechnung stellen. Wir wollen ihm dabei soweit entgegenkommen, daß wir
die ganze Menge, die die Bauernwirtschaften verlausen könnten, wenn die
böse „Einfuhr" ihnen nicht deu Markt verlegte, zu Grunde legen, also statt
2780000 Tonnen rund 4731000 Tonnen, Das Ergebnis tritt in folgenden
Zahlen zu Tage:
Von der gesamten landwirtschaftlich benutzten Fläche (ohne Garten-
nnd Reblaub) kommen auf die Betriebe
Danach könnten in diesen Größenklassen verkauft werden durchschnittlich
Der Anteil an der Zollerhöhung um 25 Mark pro Tonne würde aus¬
machen durchschnittlich
Und dabei sollen nun die Bauern entweder die Futtermittel kaufen und
dadurch die Rentabilität ihrer Viehzucht verhältnismäßig verringern oder diese
selbst einschränken. Die Betriebe unter 10 Hektar können so gut wie gar keinen
Vorteil von einer Zollerhöhung um 25 Mark erwarten, und wer ihnen das
einredet, tünscht sich und sie. Sogar bei einer sehr großen Anzahl der Betriebe
von 10 bis 20 Hektar kann vou einem Vorteil kaum die Rede sei«. Und das
alles auch dann, wenn man die ganze Gebrechlichkeit des statistischen Kunst¬
baues Dades anerkennt und vor allen von den Betrieben unter 2 Hektar etwa
die Hälfte als gar nicht zu den Banernwirtschnften gehörig ausscheidet. In
Wirklichkeit ist nämlich das Verhältnis der Verkaufsmengen für die kleinern
Betriebe noch weit ungünstiger, als oben angenommen ist, denn die für den
eignen Haushalt nötigen Vrotgetreideqnoten wachsen nach unten , während hier
vorausgesetzt ist, daß der Zwergwirt denselben Anteil seines Brvtlorns selbst
verzehrt wie der Großbauer, Wahrhaftig: Conrad hat Recht!
Das Verfüttern zur Menschennnhrnng tauglichen Brotgetreides in den
Bauernwirtschaften als eine infolge ungenügenden Zollschutzes eingerissene wirt¬
schaftliche Unsitte und deren Abstellung als einen Hauptzweck der Zollerhöhnng
zu bezeichnen, spielt in der agrarischen Agitation schon seit längerer Zeit eine
Rolle, aber durch die von Date nnter der gewichtigen Autorität des deutschen
Landwirtschaftsrats nenerdings in die Öffentlichkeit getragnen Ansichten fängt
die Einseitigkeit und Übertreibung dabei geradezu an, bedenklich zu werden.
Nicht nur daß man den Bauern die Vermehrung der Produktion mnmalifcher
Nahrungsmittel aller Art durch den billigen, gegen jeden Fortschritt in der
Produktion überhaupt auszuspielenden Hinweis auf die dadurch vielleicht ein¬
tretende Verschärfung der Konkurrenz und Minderung der Rentabilität zu ver¬
leiden sucht, Date spricht sogar schon davon, daß die überwiegend vom Ge¬
treideverkauf lebende Landwirtschaft „nicht so ungestüm wie bisher zur Vieh¬
zucht" übergehn dürfe. Nur kein Getreide, das zur menschlichen Nahrung
brauchbar ist, verfüttern! Das scheint jetzt die Parole zu sein, die der deutsche
Landwirtschaftsrat vertritt, und die nnn wohl mich von allen landwirtschaft¬
lichen Wanderlehrern draußen gepredigt werdeu soll. Lieber die Viehzucht eiw
schränken und nach höhern Kornzvllen „schreien"; mag der Bauer privatwirt¬
schaftlich davon Nachteil oder Vorteil haben! Date sucht die Furchtbarkeit
der Verfütteruugssündc ganz besonders einleuchtend zu machen durch eine lang¬
atmige Statistik des süddeutschen Schrannenverkehrs, der in der That seit den
siebziger Jahre» einen ganz gewaltigen Rückgang des zum Verkauf gestellte»
und amtlich notierten Getreides ausweist. Das wird um einfach als Beweis
der rapide» Zunahme der Verfütterung an sich verkäuflichen Brotgetreides aus¬
gespielt, Schrannenzwang giebt es doch aber auch in Süddeutschland nicht
mehr, und jeder Magistratsschreiber und Polizeidiener der Marktvrte, aber auch
jeder Bauer weiß, daß diese amtlichen Notierungen des zu Markt gebrachten
Getreides gar nichts mehr mit der Menge des wirklich von den Landwirten
des Bezirks verkauften Getreides zu thun haben. Der Händler kauft heutzu¬
tage infolge der Verkehrsentwicklnng auch vom Kleinbauern direkt, ohne Ver¬
mittlung des Fruchtmarkts, soweit es irgend geht, und zwar zum Vorteil auch
des Verkäufers, Diese ganze Statistik der Schrammen oder Fruchtmärkte ist,
soweit es sich um die zu Markt gebrachte Menge handelt, ein ziemlich wert¬
loser Zopf, der am allerwenigsten so verwertet werde» darf, wie ihn hier Date
im Interesse der Getreidezollerhöhnng z» verwerte» versucht.
Schon vor zwei Jahren ist von der Goltz in seinen „Vorlesungen über
Agrarwesen und Agrarpolitik" diesem unter der Autorität des Landwirtschafts¬
rats getriebnen und übertriebnen Verdammungsurteil gegen die Verfütterung
von Brodgetreide entgegengetreten. Er hält es gar nicht für auffallend, daß
14 Prozent des geernteten Brotgetreides verfüttert werden, und meint, daß
die kleinern Wirte nach ganz richtigen wirtschaftlichen Grundsätzen handelten,
wenn sie häufig einen Teil des von ihnen produzierten Roggens, obwohl er
an und für sich eine marktfähige Ware sei, an ihr Vieh verfüttern, Sie
zum Verkauf zwingen zu wollen, sei undenkbar; es würde dies eine „sozia¬
listische Organisation des Staats" zur Voraussetzung haben, „Auch eine Preis¬
steigerung des Getreides würde hieran wenig ändern, falls sie nicht so stark
wäre, daß kein verständiger Mensch an die Erhebung irgend ins Gewicht
fallender Eingangszölle für Getreide überhaupt noch denken könnte,"
Zu Grunde liegt diesem ungestümen Drängen der Agrarier auf Verkauf
alles zur Menschennahrung tauglichen Getreides auch wieder die Idee, daß es
„Aufgabe" der Landwirtschaft sei, den „nationalen" Brotbcdarf voll zu decken.
Um diese Aufgabe g, tout xrix zu lösen, muß zunächst das privatwirtschaftliche
Interesse des einzelnen Bauern in den Hintergrund treten; die Gesamtheit
— d. h, die Nichtlcmdwirte und die Getreide laufenden Landwirte — soll ihn
dann dafür durch Zollerhöhungen, d, h, durch künstliche Preissteigerungen
schadlos halten. Es ist sehr bezeichnend, daß die Agrarier, anch Date, in
dieser Frage nicht den einzelnen Wirt, überhaupt nicht die Landwirte als
Personen, sondern die „Fläche" oder den „Besitz" berücksichtigt sehen wollen.
Wer die Zahl der Wirtschaften oder auch der Betriebe zunächst heranzieht,
der riskiert, ohne weiteres zu den „Freihändlern und Sozialdemokraten"
geworfen zu werden, die, wie Date sagt, nnr aus „politischem Haß gegen
den Großgrundbesitz" behaupten, die Bauern hätten weniger von der Zoll¬
erhöhung als die Großgrundbesitzer, Wer mit solchen Anklagen um sich wirft,
um dabei doch schließlich alle, die auf Conrads Standpunkt stehn, zu treffen,
der fordert scharfe Zurückweisung heraus. Die Nichtachtung der einzelnen
Personen, die das Land bebauen, so gut und so schlecht, wie sie nach
ihrem Bildungsgrade, ihrer Intelligenz und Erfahrung es verstehn und in
ihrem eignen Interesse wollen, ist ganz ausgesprochen sozialistisch und setzt die
Sozialdemokratie ins Recht, wenn sie auf Enteignung des landwirtschaftlichen
Grund und Bodens und Verstaatlichung des landwirtschaftlichen Betriebs
dringt. In der Frage nach dem Nutzen der Getreidezölle, ihrer Aufrecht¬
erhaltung wie ihrer Erhöhung, bleibt gar nichts andres übrig als zu unter¬
suchen, welchen privatwirtschaftlichen Vorteil die Inhaber der Betriebe, die Be¬
sitzer der Güter haben, solange nun einmal das Privateigentum an Grund
und Boden noch zu Recht und in einem wirklichen Recht auf seine persönliche
selbständige Bewirtschaftung besteht. Wir wollen hier auf die Lösbarkeit der
„Aufgabe," den nationalen Getreidebedarf selbst bei fortschreitender Bevölke¬
rungszunahme im Inland zu decken, die man den Landwirten stellt, nicht näher
eingehn, aber einen anerkannten Sachverständigen wollen wir doch noch darüber
hören. In dem Buche über deu „Betrieb der deutschen Landwirtschaft am
Schlüsse des neunzehnten Jahrhunderts," das die bekannte, so sehr verdienst¬
liche „deutsche Landwirtschaftsgesellschaft" bei der Pariser Weltausstellung 1900
der Loviktö äöL ^.Arioultsurs cle I'rg.iuzE gewidmet hat, sagt Professor
or. Werner unter anderm folgendes: Das zwanzigste Jahrhundert werde eine
sehr wesentliche Vermehrung des Tierbestands sehen, infolge der steigenden
Preise tierischer Erzeugnisse und des gehobnen Wohlstands der Nation, sowie
eine starke Vermehrung der Gärungsgewerbe, Beides wirke vermindernd auf
die für die menschliche Nahrung verfügbaren Getreidevorräte ein, denn zur Er¬
zeugung von 1 Kilogramm Fleisch müßten nicht weniger als 10 Kilogramm
Trockensubstanz verfüttert werden. Auf diese Weise erkläre es sich auch, wie
es möglich gewesen sei, daß im neunzehnten Jahrhundert Deutschland, obgleich
seine landwirtschaftliche Erzeugung bedeutend mehr zugenommen habe als seine
Bevölkerungszahl, aus einem landwirtschaftlich ausführenden zu einem land¬
wirtschaftlich einführenden Lande geworden sei. Es sei vor allem die große
und stetige Zunahme des Fleischverbrauchs, die diesen Umschwung bewirkt habe.
Die Zunahme des Fleischverbrauchs aber werde auch in Zukunft andauern.
Unter den veränderten volkswirtschaftlichen Verhältnissen werde sich also die
Erzeugungsrichtung auf die Bevorzugung der tierischen Erzeugung in allen
Betrieben richten müssen, wo die Verhältnisse für sie einigermaßen günstig
seien. Welch gewaltige Bedeutung allein die Rinderzucht schon für unsre Land¬
wirte gewonnen hat, erfahren wir durch die Angabe desselben Sachverständigen,
daß schon 1892 der Wert der Rinder im Deutschen Reich über 3Vz Milliarden
betragen, und der durchschnittliche Milchertrag sich auf jährlich mehr als
IV- Milliarde Mark gestellt habe. Dabei kamen 1895 aus je 100 Hektar
landwirtschaftlicher Fläche in den Betrieben unter 2 Hektar 78 Stück Rind¬
vieh, in den von 2 bis 5 85 Stück, in den von 5 bis 20 64 Stück, dagegen
in den Betrieben von 20 bis 100 Hektar nur 47 und in den Großbetrieben
gar mir 25 Stück, Dazu kommt die Schweinezucht, die erst recht ihren
Schwerpunkt im Kleinbetrieb hat. In den oben genannten Größenklassen und
in derselben Reihenfolge kamen 1895 auf je 100 Hektar landwirtschaftlicher
Fläche 192, 71, 43, 27 und 11 Schweine, Man wird wirklich gut thu», den
Bauern nicht die Viehzucht, die ihnen ganz wesentlich hilft, die schlechten Zeiten
zu überwinde«, durch die Verpönung des Verfntterns von Brodgetreide und durch
die Anpreisung des Ankaufs von Futtermitteln, die aus dem Ausland einge¬
führt werden, zu erschweren und zu verleiden. Gott sei Dank, unsre Bauern sind
im allgemeinen dickköpfig genug, den Landwirtschaftsrat, Date und alle Wander¬
lehrer, die gegen das Verfüttern predigen, reden zu lassen und doch zu thun,
was ihnen privatwirtschaftlich sichern Nutzen verspricht. Schlimm ists nur,
daß, wenn man ihnen jetzt einredet, der Staat, das Reich, der Kaiser habe die
Pflicht, durch eine Zvllerhöhnng ihnen auch ans dem Getreidemarkt reichliche
Preise zu schaffen, und diese Folge dann nicht eintritt, das Vertrauen und die
Liebe zu Kaiser und Reich im Landvolk einen weitern Stoß erhalten kaun.
Denn die Agrarier werden nicht zögern, das Scheitern der vorgespiegelten
Hoffnung nicht sich selbst, sondern Kaiser und Reich in die Schuhe zu schiebe»,
die eben die Zölle nicht stark genug hätten erhöhen wollen.
Für uns steht die Aufrechterhaltung der bisherigen Brotkornzölle außer
Frage, weil unter ihrer Aufhebung oder Herabsetzung zur Zeit so viele In¬
haber von Großbetrieben und größere bäuerliche Besitzer privatwirtschaftlich so
sehr gefährdet werden könnten, daß sozial und politisch die Gesamtheit darunter
schwer leiden müßte. Also um des privatwirtschaftlichen Vorteils einer Minder¬
heit der Landwirte »vollen wir die Zölle erhalten wissen. Das gestehn wir
offen ein, denn diese Minderheit wiegt unsers Erachtens sozial und politisch
mehr als die Mehrheit, die nichts rechtes von den Getreidezöllen profitiert.
Eine Erhöhung der Zölle aber in den Grenzen, wie sie allein für die nicht¬
landwirtschaftliche Mehrheit der Gesamtbevölkerung und die wirtschaftliche
Expansion des Reichs zulässig und denkbar ist, wird auch den wirklich not¬
leidenden Rittergutsbesitzern und Großbauern nicht auf die Beine helfen;
vollends nicht, wenn sie infolge der Zvllerhöhnng glauben sollten, nnn die
Güterpreise bei Kauf, Erbesübernahme und Schnldbelastnng wieder höher be¬
messen zu dürfen, statt von ihnen gebührend, trotz der Zollerhöhung, abschreiben
zu müssen. Auch deu Großgrundbesitzern und Großbauern muß die Hoffnung,
daß ihnen dnrch Steigerung der Zollschranken wirklich und dauernd geholfen
werden kann, endlich genommen werden, und deshalb darf der Kaiser sich die
Zollsätze von deu Agrariern nimmermehr diktieren lassen. Stellte sich die
Regierung auf den Boden der agrarischen Behauptungen lind Trugschlüsse, so
würde nach zwölf Jahren der Notstand in den Großbetrieben ärger sein als
^le auf der Tagesordnung stehende Diskussion über die Revision
des Krankenversichernngsgesetzes hat die verschiedensten Klagen
und Wünsche hervorgerufen. Alle beteiligten Kreise haben die
vom Ministerium in einer amtlichen Rundfrage zur Debatte ge-
Istellteu Fragen erlüntert. Als Ergebnis der Erörterung kann
ich feststellen, daß sich die mir bekannt gewordnen Resolutionen der Unter¬
nehmer und der Arbeiter ebenso schroff gegenüber stehn wie die Wünsche und
die Beschlüsse der Kassenverbände und der Ärzte. Erklärlich wird dieser Gegen¬
satz bei der Erwägung, daß die großen Standesorganisationen wesentlich aus
materiellen Interessen heraus die Fragen zu entscheiden pflegen, und daß sich
hierbei einerseits die pekuniären Interessen der Unternehmer und der Arbeiter,
andrerseits die finanziellen Interessen der Krankenkassen und der Ärzte gegen¬
über stehn. Wo kann man da den Mittelweg finden?
Das zur Zeit am heißesten umstrittne Problem ist die Kassenarztfrage.
Während sich die dentschen Ärzte ganz entschieden ausgesprochen haben für die
gesetzliche Einführung der freien Wahl der Ärzte als einzig befriedigende Lösung
der Kasseuarztfrage, haben die Krankenkassenverbünde ebenso einhellig wie die Ver¬
tretungskörper der Unternehmer, besonders die Organisationen der Industriellen,
die gesetzliche Einführung der freien Wahl des Arztes für ausgeschlossen erklärt.
Die Gefahr liegt also vor, daß die Frage nicht behandelt wird, und es beim
alten Modus bleibt, wenn kein für beide Teile, die Kassen und die Ärzte,
gangbarer Weg gefunden wird. Im Septemberheft der „Conradschen Jahr¬
bücher für Nationalökonomie" hat I>. Bernstein, um den Kassenverwaltnngen
die Regelung der Arztfrage und den damit zusammenhängenden Kampf gegen
die Überlastung dnrch Arzncikosten abzunehmen, vorgeschlagen, daß ärztliche
Hilfe und Arznei nicht mehr aus der Krankenversicherung bezahlt, und die da¬
durch frei werdenden Mittel zu einer Erhöhung des Krankengeldes verwandt
werden sollten. Der einzelne Versicherte werde besser imstande sein, sich bei
der freien Konkurrenz der Arzte und der Apotheker billige ärztliche Hilfe und
vor allem billige Arzneimittel zu verschaffen. Indem anerkannt wird, daß der
jetzige Zustand für die Ärzte unhaltbar sei, und daß die Interessen der Ärzte
berücksichtigt werden müßten, sieht der Verfasser des erwähnten Artikels den
vorgeschlagnen Weg als die beste .Lösung an.
Gegen die gesetzliche Festlegung der freien Arztwahl unter den heutigen
Verhältnissen, wo die ärztliche Hilfe als Kasscnleistung gewährt wird, werden
nun folgende schwerwiegenden Gründe geltend gemacht: 1, Manche Ärzte würden,
um ihre Einnahmen zu erhöhen, mehr Besuche »lache», Konsultationen ver¬
anlassen und therapeutische Einzelleistnugen vornehmen und dafür mehr liqui¬
dieren, als erforderlich wäre, 2, Die Knssenmitglieder würden die Ärzte am
meisten aufsuchen, die am leichtesten und längsten eine Erwerbsunfähigkeit be¬
scheinigten, und die teuersten Arzneien und meisten Kräftigungsmittel ver¬
schriebe». Bei der von Dr. Bernstein vorgeschlagnen Regelung würde» also
einige Einwendungen wegfallen, aber der wichtigste Übelstand würde doch be¬
steh» bleibe», nämlich der, daß das Krankengeldkonto überlastet wird. Denn
die Kassen würde» auch baun noch erfahren, daß die Ärzte, die den, Wunsche
der Versicherten bei der Bescheinigung der Erwerbsunfnln'gkeit am weitesten
entgegen kämen, die beliebtesten würden, und daß so einer gewissenlosen Aus¬
beutung der Kassen doch »och Thür und Thor geöffnet wäre, da man dann
das Attest jedes Arztes als Unterlage für den Anspruch aus Krankengeld an¬
erkennen müßte. Aus diese» und vielleicht noch ans andern gegen den Vor¬
schlag sprechenden Gründen werden die Krankenkasse» diese» Weg nicht gehn
»vollen.
Im folgenden will ich nnn versuchen, einen andern Mittelweg zwischen
den verschiedne» Interesse» zu finden. Welches sind eigentlich die Gründe, die
die Ärzte zu einem so extreme» Standpunkt gedrängt haben, daß sie die ge¬
setzliche Einführung der freien Arztwahl und die Bezahlung der Einzelleistung
mit gewissen den finanziellen Interessen der Kassen gerecht werdenden Kautelen
für die einzig annehmbare Lösung der Kassenarztfrage erklärt haben? Wenn
man die ärztliche» Fachblätter, die auch die wirtschaftlichen und ethischen Inter¬
essen des Ärztestandcs behandeln, verfolgt und sich sonst etwas nach diesen
Dingen im Vaterland umgesehen hat, so kommt man zu der Überzeugung, daß
überall die Stellung der Ärzte zu den Krankenkassen mit Recht als Schmach
und Schande des Standes empfunden wird. In Nord und Süd, Ost und
West, in großen, in kleinen Städten und auf dem Lande, ont^dis luutiurclis,
überall dieselbe Korruptionswirtschaft und dasselbe Hinabdrücken der ärztlichen
Thätigkeit zur Lohnarbeit, Die wesentlich im Verborgnen wirkenden politischen
Parteien, die religiösen und die gesellschaftlichen Cliquen, der Einfluß der
Logen und des Stammtisches und vielleicht sogar direkte oder indirekte Be¬
stechung sind oft maßgebend für die Zulassung zur kafsenärztlichen Thätigkeit,
Wehe dem Arzt, der keine derartigen Beziehungen hat, oder der zu charakter¬
voll ist, sich solcher Mittel zu bedienen. Denn die Zulassung zur kafsenärzt¬
lichen Thätigkeit ist heute eine Existenzfrage für den jungen Arzt, Mit der
Kassenpraxis hängt anch die übrige Praxis eng zusammen, und die außerhalb
des sogenannten Kassenarztmonopols stehenden Ärzte sind nicht bloß von der
Behandlung der 8000000 Versicherten ausgeschlossen. Der Kassenarzt wird
auch durch seine Thätigkeit in der Familie des Kasseumitgliedes bekannt und wird
viel mehr Aussicht haben, auch zu der privatärztlichen Behandlung der Familie
des Kasseumitgliedes herangezogen zu werden als seine Kollegen, die wenig oder
überhaupt keine Gelegenheit haben, in nähere Berührung mit dem Publikum
zu kommen. Die noch übrig bleibende kleinere Hälfte der Bevölkerung, die
auch - soweit sie politlinische und armenärztliche Hilfe in Anspruch nimmt —
der freien Konkurrenz der Ärzte entzogen wird, ist viel konservativer in ihren
Beziehungen zum Arzt und braucht die ärztliche Hilfe nicht in dem Maße
wie die Arbeiterbevölkerung, Außerdem wird sich anch in den nicht hinter der
staatlichen Versicherung stehenden Bevölkernngskreisen immer der Arzt leichter
eine Klientel erwerben, von dem bekannt ist, daß er verheiratet ist, schon längere
Jahre ärztlich thätig und auch ein sonst viel beschäftigter, d, h, ein Kassenarzt
ist, oder der vielleicht als Medizinalbeamter auch für die bessere Privatpraxis
von vornherein wegen des mit der Stellung verbundnen Nimbus die bessern
Chancen hat. Wie soll sich da der junge Arzt eine Existenz gründen?
Der bestehende Zustand ist geradezu unhaltbar. Einerseits gewährt der
Staat jedem Zutritt zu dem kostspieligen medizinischen Studium, verlegt aber
andrerseits vielen Ärzten vollständig die Möglichkeit, sich eine Existenz als
praktischer Arzt zu gründen, indem er sie ganz und gar ausschließen läßt von
der kassenärztlichen Thätigkeit, die gewöhnlich die Basis der Existenz ist, und
indem er durch seine ärztlichen Ehrengerichte die Möglichkeit einer Existenz-
gründuug für den jungen Arzt nach andrer Richtung noch vielfach einschränkt.
Darum sehen die Ärzte es als unbedingte Notwendigkeit an, daß gleiches Recht
für alle geschaffen werde, daß jedem Arzt die tassenärztliche Thätigkeit nicht
uur theoretisch, sondern auch praktisch zugänglich sei, und sie sehen unter den
heutigen zersplitterten Kassenverhältnissen mit Recht in der gesetzlich fixierten
freien Arztwahl den einzigen diese Möglichkeit verbürgender Weg,
Der Ärztestand hat es erst weit kommen lassen, ehe er sich aufgerafft hat
zu dem seiner Natur nicht entsprechenden Interessen kämpf, er kann es nicht
länger mehr ansehen, daß so manche Berufsgenossen verzweifelnd zum Morphium
oder Alkohol greife» oder sich sogar das Lebe» nehme». Es sind zahlreiche
Fülle bekannt geworden, wo junge Ärzte z, B. ein Heiratsversprechen gegeben
hatte», aber es einzulösen nicht in der Lage waren, weil sie keine Familie er¬
nähren konnte» n»d in dem Konflikt der Pflichten keinen andern Ausweg als
die Selbstbetäulmng oder den Selbstmord fanden. Zu Anfang dieses Jahres
ging eine Mitteilung durch die Zeitungen, wonach in München ein junger Arzt,
der an verschiednen Orten vergeblich versucht hatte, sich eine Existenz zu gründen,
mit seiner Braut, einer Lehrerin, zusammen den freiwilligen Tod suchte und
fand. Zu derselben Zeit las ich in der „Täglichen Rundschau" eine Notiz,
die das Ärzteelend in der Großstadt beleuchtet. Sie lautet: „Nach der neusten
Statistik in Charlottenburg 1899 sind unter andern, anch zwei Ärzte um
Armenunterstiitzung eingekommen." Ferner hört die „Berliner Zeitung" von
wohl informierter Seite, daß „bei den hiesigen jüdischen Gemeinden mehr
als fünfzig Ilnterftutzuugsgesnche von mitleidenden Ärzte» i» der letzten Zeit
eingegangen seien, und daß fast ausnahmlos den Gesuchen nach Maßgabe des
einzelnen Falles und der hierfür flüssigen Barmittel stattgegeben worden sei."
Die Ursache dieses trostlosen Zustands, dieser „ärztlichen Misere," liegt
nun, abgesehen von andern weniger wichtigem Gründen, wesentlich in der un¬
gerechten Regelung der knssenärztlichen Thätigkeit und der damit Hand in
Hand gehenden ungerechten Verteilung des Honorars. Wenn das kassen-
iirztliche Honorar, das im Jahre 1896 etwa 25000000 Mark betrug, auf die
Arzte in gleicher Weise verteilt worden wäre, so käme auf jeden der im
Deutschen Reich 1896 ansässigen 28900 approbierten Ärzte ein Kassenhonvrar
von 1050 Mark. Nun sind' aber in dieser Zahl mit einbegriffen alle Pro¬
fessoren, Militärärzte, emeritierten, Assistenzärzte und die l>og,U poWäontss, die
auf Kasfeuarztstellen nicht reflektiere», wie gesagt, alle approbierten Ärzte.
Wenn man die uun alle abrechnet und nnr die in Betracht zieht, die auf
kassenärztlichc Thätigkeit Anspruch erheben, so käme gewiß auf jeden Arzt ein
Dnrchschnittstassenhonorar von 1500 Mark. Findet aber eine annähernd ent
sprechende Verteilung statt? Ganz im Gegenteil. Die jüngere Generatio»
der Ärzte findet größtenteils die Tische besetzt. Die lassenürztlichen Honorare
sind in bestimmte Kanäle geleitet, und Kmialanschlnß zu bekommen gelingt nur
einer kleinen Zahl Bevorzugter. So ist ein Zustand geschaffen worden, bei
dem manche Ärzte 10000 bis 15000 Mark und mehr kassenärztliches Ein¬
kommen habe» und es sich an den Fleischtöpfen der Kassen wohl sein lassen,
wahrend ein nicht geringer Teil der Kollegen bittere Not leidet.
Daß unter diesen Umständen Ärzte, um ihr Leben zu fristen, zu Mitteln
greifen, die mit der „ärztlichen Standesehre." d. h. mit den unter den frühern
Existeuzverhältnisfen geschaffnen und wohl begründeten ethischen Standesgewohn¬
heiten nicht vereinbar sind, ist erklärlich. Ich denke z. V. an die demütigende
Art der Bewerbung um Kasfencirztstellcn. an das Antichambrieren bei Vorstands¬
mitgliedern, ich denke daran, wie Ärzte in Frack und Cylinder die Hinterhäuser
emporkletter» und sich bei Gevatter Schneider und Handschuhmacher unter-
thänigst bewerben, sich von den sozial tiefer stehende»? Rentamte» und Vorstands¬
mitgliedern rüpelhaft behandeln, disziplinieren und reglementieren lassen; ich
denke an das Unterbieten und das Herausdrängeln von Kollegen, Ich denke
daran, wie die Frau Doktor die geehrte Frau Nendantin zur Kaffeegesellschaft
einladet, wie der Arzt dein Rendanten Rehböcke schickt, ich denke an die direkte
Geldannahme der Vorstandsmitglieder und der Rendanten für die Vermittlung
von Arztstellen, Ein mir bekannter Arzt bewarb sich vor einigen Jahren bei
einer großen Ortskrankenkasse um eine Kasscnarztstelle und erhielt sogar für
das dem Vorsitzenden für die Anstellung gezahlte Honorar eine Quittung und
zugleich deu wohlgemeinten Rat, dem allmächtigen Rendanten eine Provision
von dreihundert Mark in Aussicht zu stellen. Daß bis jetzt die Krankenkassen
gar nichts darin finden, wenn sie die berechtigten Ansprüche und die gesamten
Erwerbsverhältnisse der Ärzte unberücksichtigt lassen, ergiebt sich aus der
häusigen Thatsache, daß Ärzte angestellt werden, die sich noch gar nicht nieder¬
gelassen haben, denen aber augenscheinlich irgend eine einflußreiche Person eine
Existenz gründen will. Bor einiger Zeit hatte z, B. die Eisenbahnbetriebs-
krankenkasse in Hannover das Bedürfnis, in einem bestimmten Stadtteil eine
neue Distriktsarztstelle einzurichten, Sie schrieb die Stelle nun weder aus,
noch fragte sie bei deu dort in großer Anzahl wohnenden und ans Knssenpraxis
angewiesenen Ärzte» an, »ein, die menschliche, sehr nahe liegende Überlegung,
daß den schwer um ihre Existenz ringenden ansässigen Ärzten die Kassenarzt¬
stellung zukäme, hatte die Kasfenverwaltung nicht; sie stellte kurzerhand einen
auswärtigen Arzt an. Dieser begünstigte Arzt, der sonst niemals daran ge¬
dacht hätte, sich in Hannover niederzulassen, konnte natürlich nichts besseres
thun, als sofort auf Grund der ihm schon vor seiner Niederlassung zu
gesicherten Kassenarztstelle seinen Wohnsitz nach Hannover zu verlegen, da ja
das Honorar der Eisenbahnkasse ihm nicht nnr eine feste Existenz, sondern auch
einen guten Rückhalt für die Privatpraxis bot. Daß solchen Maßnahmen in
der Regel keine sachlichen Erwägungen zu Grunde liegen, sondern daß irgend
eine maßgebende Persönlichkeit einen Günstling versorge» will und zu dem
Zweck erst noch neue Kassendistrikte schafft, liegt klar zu Tage,
Dieselbe Ungerechtigkeit, die bei der Anstellung der Kassenärzte vorkommt,
ist auch bei der Honoriernng zu erkennen. Das Honorar schwankt je nach
der Auffassung und dem Wohlwollen der Kassenvcrwaltungen so sehr, daß
sogar an denselben Orten der eine Arzt für dieselben ärztlichen Leistungen
das Doppelte und das Dreifache und noch mehr erhält als der andre bei der¬
selben Arbeiterklasse und derselben Kasse. Die Unfreiheit der Ärzte ist so
groß, daß eine zu erreichende Kassenarztstellung in der Regel um jeden Preis
aiigenomme» wird, daß viele Ärzte gar keine Kontrakte habe» »ut ganz nach
der Laune der Verwaltung bezahlt werden, in denn einen Vierteljahr besser,
in dem andern schlechter. Wenn man sieht, daß der eine Kassenarzt für die
Person und das Jahr vielleicht fünf Mark Honorar bekommt, und der andre
nur anderthalb Mark für dieselbe Mühewaltung: wenn die Ärzte die systemn-
lische Gewohnheit vieler Krankenkassen beobachte», die ärztlichen Liquidationen
oft jahrelang nicht zu beantworten und auf wiederholtes Drängen in unam
gemessener Form die kategorische Antwort erteilen, daß die Liquidation nicht
anerkannt werde — zu einer Zeit, wo die rechtliche Feststellung des That
bestands vielfach unmöglich geworden ist , weil der Patient nicht mehr auf-
findbar sei; wenn man solche Verhältnisse immer und überall sehen muß, so
ist es selbstverständlich, daß eine allgemeine Erbitterung in Ärztekreisen Platz
gegriffen, und sie sich einmütig dafür erklärt haben, das Krankenkassenjoch ab
zuschütteln.
Betrachten nur die Stellung der Ärzte im Volksleben auch noch von
einer höhern Warte aus, um nicht bei der Behandlung der Kassenarztfrage
den richtigen Weg zu verfehlen!
Es giebt für den Staat noch schwerer wiegende Gründe, die Kassenarztfrage
gesetzlich zu regeln. Die Allgemeinheit hat ein Lebensinteresse daran, dem
Arztestand eine angesehene Stellung zu wahre». Die Ärzte bilden bei ihrer
Verteilung über das ganze Land, in ihren Beziehungen zu allen Vevölkernngs-
kreisen einen bedeutenden Einfluß auf das ganze Volksleben, nicht nur als
Agitatoren und Wortführer in öffentlichen Angelegenheiten, sondern als
schlichte, einfache, humane, ihren Berufspflichten nachgebende Leute, die sich
aus den Reihen der höhern sozialen Schichten rekrutieren und wesentlich in
den tiefer» Schichten des Volks ihre Berufsthätigkeit ausübe», »icht allem als
Mechaniker der beselt gewordnen menschlichen Maschine, sondern vor allein als
ernste, pflichtbewußte Männer, die als Mensch zum Menschen in schweren,
schmerzensvolle» Stunden das rechte Wort zur rechten Zeit sprechen sollen.
Der Staat hat dadurch, daß er von den Ärzten eine humanistische Bildung
verlangte, erreichen wollen, daß sie ihren Berus als ein uodilo oküoiriiu auf¬
fassen und durch die Art ihrer Berufsausübung beweisen, daß sie eine nicht
nur auf das Nützlichkeitsprinzip gegründete Berufsauffassung haben. So
können die Ärzte, ebenso wie die Geistliche» und die Richter, dere» Arbeits¬
feld auch die ganze menschliche Gesellschaft ist, durch stille, strenge Pflicht¬
erfüllung bei arm und reich, hoch und niedrig zum Bewußtsein bringen,
daß es höhere ethische Werte giebt, daß der Inhalt des menschlichen Lebens
mehr ist als ein bloßer Interessenkampf, Darum sorge der Staat, daß die
innerste Seele des Ärztestands nicht noch mehr Schaden leide, u»d er befreie
ihn aus seiner »»würdige» Stellung,
Einen moralisch hoch stehende» Ärztestand hat der Staat anch nötig zur
gerechten Handhabung der gesamte» sozialpolitische» Gesetzgebung, Ohne Mit¬
arbeit der°Ärzte si»d die sozialen Gesetze gar nicht durchführbar. Der Arzt
muß nicht nur ärztlich behandeln, sondern mich sein Gutachten abgeben über
Arbeits- und Erwerbsfühigteit und muß mit größter Gewissenhaftigkeit und
Ehrenhaftigkeit entscheiden auf Gebieten, wo Übertreibung, Betrug eine große
Rolle spielen. Auch dabei handelt eS sich nicht uur um materielle Güter,
sondern um die höchsten Güter des sittlichen Lebens, Giebt der Arzt ein
Urteil dahin ab, daß er eine» kranken Menschen für einen Simulanten erklärt,
so verletzt er das Gerechtigkeitsgefühl; spricht er andrerseits einem Simulanten
eine Rente zu, so fördert er die Unsittlichkeit, indem er andre aufmuntert, sich
unberechtigterweise eine Rente zu verschaffen, und indem er dadurch das ver¬
trauende Antoritütsgefühl gegenüber diesen Institutionen des öffentlichen Rechts
untergräbt.
Aus diesen Gründen hat der Staat das höchste Interesse daran, die zur
Zeit bestehende große Ungerechtigkeit bei der regellosen Versorgung der Kranken
lassen mit Ärzten aufzuheben. Diese gleiches Recht für alle schaffende Rege
lung der Frage erscheint um so notwendiger, als dnrch die beabsichtigte Reform
der Kreis der Versicherten auf alle der Invalidenversicherung nnterworfnen
Personen ausgedehnt werden soll, d, h, insbesondre auf das Gesinde, die
Hausindustriellen, die laut- und forstwirtschaftlichen Arbeiter; die Lösung der
Frage liegt auch deshalb nahe, weil der Staat ja durch die Auflösung der
freien Hilfsknssen oder deren Umwandlung in Unterstützungskassen sowieso in
die Existenzbedingungen einer großen Zahl, d, h. der bis dahin von den freien
Hilfskassen beschäftigte!? Ärzte eingreift und ihnen darum billigerweise ein
Äquivalent gewähren sollte.
Wenn man nun die Erörterung aller der andern zur Debatte stehenden
Vorschlüge zur 5!rankenversicherungsnovelle verfolgt, so wird man finden, daß
nicht nur die Arztsrnge von den Krankenkassen schlecht gelöst ist, sondern daß
auch die Entwicklung der Krankenkassen selbst im allgemeinen viel zu wünschen
übrig läßt. Es ist eine Thatsache, daß die den Krankenkassen gesetzlich ge¬
währte Selbstverwaltung trotz des großen Spielraums wenig dazu beigetragen
hat, die Versicherungseiurichtnngen zu zentralisieren, ihre Aufgaben höher auf¬
zufassen, ihre Leistungen zu vervollkommnen, ans die Gemeinden einzuwirken, orts¬
statutarisch die Krankenversicherung auszudehnen usw. Daß die Selbstverwaltung
der Krankenkassen ihrer Aufgabe nicht gerecht geworden ist, sieht auch die Regie¬
rung ein, sie will deshalb einige organisatorische Veränderungen gesetzlich ein¬
führen. Sie will die von den Krankenkassen versäumte Angliedrung an die
Invalidenversicherung durchsetze», „indem die Unterstützungspflicht der Kranken¬
kassen auf sechsundzwnnzig Wochen ausgedehnt wird, sodaß die Invaliden-
versicherung gleich einsetzt, wenn die Unterstützung der Krankenkassen aufhört."
Dann will die Regierung die Ortskrankenkassen zentralisieren und unter die
Leitung von Kommunalbeamten stellen, und sie glaubt, diese Kassen würden
dann eher imstande sein, „eine ordnungsmäßige Statistik über die Krankheits¬
ursachen und den Verlauf lind die Dauer der Krankheiten aufzustellen und
dadurch unschätzbares Material zur Beurteilung und Bekämpfung der gewerb
liehen Krankheiten zusammen zu tragen" (Preuß. Verwaltungsblatt).
Daß auf diese Weise die Ortskrankenkassen in ihrer moralischen und
materiellen Leistungsfähigkeit etwas gehoben würden, kann man wohl zugeben.
Aber viel würde nicht erreicht. Eine große Anzahl Gemeinden würde nicht
die genügend gnalifizierten Vorsitzenden stellen können. Dieselben Gemeinden,
die bisher so wenig gethan haben, die sozialpolitischen Gesetze zu verwirklichen,
die so wenig auf die im Krankenversicherungsgesetze gegebnen Direktiven ein¬
gegangen sind, würden auch in Zukunft nicht mit großen Ideen und großem
Herzen ihre Aufgabe ergreifen. Der Vorsitzende würde sich darauf beschränken,
den Buchstaben des Gesetzes einigermaßen zu erfüllen, und die Krankenkassen
würden aus dem toten Punkt verharren. Warum, frage ich um, haben die
Krankenkassen bisher ihre Aufgabe» so sehr verkannt? Sie wären schon jetzt
in der Lage gewesen, Berufskrankenstatistik zu treiben, sie hätten einheitliche
Krankheitsbezeichnungen und Journale einführen können, sie hätten auch bei
der Bekämpfung der Krankheiten mehr thun können, sie hätten die Möglichkeit
gehabt, die unumstößliche»! Errungenschaften der medizinischen Wissenschaft, be¬
sonders der Hygiene, den Versicherten und damit anch dem Gemeinwohl zu¬
zuführen und Kenntnisse darüber zu verbreiten. Nur wenig Kassenvorstände
haben gemeinsame Besprechungen mit den Kassenärzten eingeführt, mit der
Absicht, sich gegenseitig zu erziehn, sich gegenseitig in einer höhern Erfassung
und Lösung ihrer Aufgabe zu fördern. Gemeinsame Besprechungen sind zur
Abstellung mancher Übelstände, die besonders dem Kassenarzt sichtbar werden,
notwendig. Wie viel Aufklärung hätte über die Wohnungs- und Ernührungs-
verhültnisse der Versicherten geschafft werden können, wie viel Belehrung hätte
hineingetragen werden können in die Kreise der Mitglieder durch die autori¬
tativ dastehenden Krankenkassen!
Es wäre die Aufgabe der Krankenkassen gewesen, den Kampf gegen den
Alkoholismus auf breiter Basis zu führen. Große geistige, moralische und
materielle Güter könnten geschaffen werden, wenn eine so umfassende, mit
jedem einzelnen Gliede des Volkes in Fühlung stehende Organisation wie die
Krankenversicherung den Kampf gegen den Alkohol auf ihr Programm stellte.
Denn viel schwerer als die direkten Geldopfer, die dem Einzelnen aus der
Trinkergewohnheit erwachsen, wiegen die Schädigungen der körperlichen und
der geistigen Gesundheit und der Arbeitskraft, wiegen die Krankheiten der
Nerven, des Herzens, der Leber, der Nieren, des Magens und der Blutgefäße,
die dem Alkoholismus ihre Entstehung verdanken und die Krankenkassen nächst
der Tuberkulose am meisten belasten. Abgesehen von den materiellen Vorteilen,
die die .Krankenkassen durch eine Einschränkung des Alkoholgenusses haben
würden, liegen noch andre Gründe für den Staat vor, einen systematischen
.Kampf den dazu berufnen Organen, den Krankenkassen, aufzuerlegen, das ist
die durch den Alkoholismus bewirkte zunehmende Verheerung der Volksmoral.
Gerade die Krankenkassen sind am besten in der Lage, die in der großen Masse
herrschende Illusion von der stärkenden Wirkung des Alkohols zu zerstören,
und der Allgeiueiuheit würden daraus die segensreichsten Früchte erwachsen.
Die Krankenkassen, als die Versicherungseinrichtnng, die dem einzelnen
Versicherten am nächsten steht, die am häufigsten in Anspruch genommen wird,
deren Beamte mit jedem einzelnen Mitgliede in persönliche Beziehung treten,
wären meines Erachtens auch der Teil der Arbeiterversicherung, der sozial-
poetisches Verstäuduis und Interesse wecken und vor allem die Motive der
gesetzliche>l Bestinlmuligen klar machen müßte. So allein würden die Millionen
Versicherter einsehen lerne», daß der Staat wirklich seine Aufgabe ernst nimmt,
die Arbeiterbevölkerung wesentlich ans Kosten der Unternehmer gegen die wirt¬
schaftlichen Nachteile der durch Krankheit, Unfälle oder allgemeinen Verfall der
Kräfte entstehende Erwerbsnnfähigkeit zu schützen, Nur wenn die Versicherten
versteh», warum die Leistungen der Arbeiterversicherung in bestimmten Grenzen
bleiben müssen, kaun die vom Gesetzgeber beabsichtigte Wirkung erreicht werden,
den Klassenhaß und den Klassengegensatz zu vermindern und einen zufriedner
Arbeiterstand zu schaffe». Doch wie selten habe ich es gefunden, daß die
Krankenkassen ihre Aufgabe so auffaßten, wie selten habe ich gesehen, daß die
Krankenkassen den Mitgliedern behilflich waren, Allträge zu stellen, daß sich
die Landesversichernngsanstalten ihrer annähmen, wie selten habe ich es ge¬
funden, daß die Krankenkassen die Bescheinigungen über die für die Invaliden¬
versicherung anrechnlingsfähigen .Krankheiten gaben und die Bedeutung dieser
Bescheinigungen den Mitgliedern klar machten. Wie selten habe ich es be¬
obachtet, daß die Krankenkassen ihre Mitglieder bei Vetriebsuufülle» darauf
aufmerksam machten, daß ihnen von der vierten Woche an ein durch das soge¬
nannte „Unfallgeld" erhöhtes Krankengeld zustehe!
Der Fehler liegt in der Zersplitterung der Kassen, Dieser Zustand hat
ein fortwährendes Hin- lind Herwerfe» aus einer Kasse in die andre zur Folge
und hindert dadurch, daß sich bei den Mitgliedern Verständnis lind dauerndes
Interesse für die Kasse und deren Errichtungen entwickelt. Außerdem hat die
übliche, sich immer mehr parteipolitisch gestaltende Einrichtung der Vorstands-
wnhl einen häufigen Wechsel der leitenden Organe zur Folge, giebt anch keine
genügende Bürgschaft für eine stetige, einsichtsvolle, gewissenhafte Geschäfts¬
führung, In den Vorständen fehlen meines Ernchtens über den Parteien
stehende sachkundige, autoritative, dauernd mit der Krankenversicherung ver¬
bundn? Beamte, die nur die hohe» Zwecke der soziale» Versicherung im Auge
haben, unbekümmert um die parteipolitische Gruppierung des Vorstands, die
Trüger eines innern Fortschritts hätten sein können. So ist es auch zu er¬
klären, daß die Krankenkassen nnr notdürftig ihre Pflicht thun, und daß sie
häufig sogar gegen gesetzliche Bestimmungen sündigen.
Die Organisation und die absolute Selbstverwaltung sind die Hauptursachen
der mangelhaften Zustände, Die Trüger der Krankenversicherung sind ihrer
Aufgabe nicht gewachsen, es fehlen ihnen die nötigen Geistes- und Charakter¬
eigenschaften und die wirtschaftliche Einsicht, ihr Verantwortlichkeitsgefühl und
ihr Gesichtskreis entsprechen nicht der Größe der Aufgabe, Natürlich ist das
vuin Al'iMo «Alis zu verstehn. Ich verkenne nicht, daß eine ganze Anzahl
Kassen alle Fragen mit Geschick, weitem Blick und Takt angefaßt hat, ich
weiß wohl, was einzelne Kassen geleistet haben, ich erkenne die Verdienste der
Berliner Zentralkommission der Krankenkassen durchaus an, in der sich viele
erfahrne, einsichtige und verdienstvolle Vertreter von Krankenkassen vereinigt
haben, um Aufgaben zu lösen, die die einzelnen Kassen nicht in Angriff nehmen
können. Ich weiß, daß die Berliner Zentralkommission im Verein mit dem
Roten Krenz im letzten Sommer für Kranke eine Erholungsstätte im Freien
geschaffen hat; ich halte es für höchst verdienstlich, daß diese Kommission Vor
tragseykleu veranstaltet hat über Wohnungs- und Kleidnngshygiene, über Ge¬
werbekrankheiten, Alwholismns usw. Mit Genugthuung habe ich Kenntnis
davon genommen, daß die Ortskrankenkasse für Kaufleute in Berlin erst jüngst
Erhebungen und Untersuchungen angestellt hat über die durch mangelnde Sitz¬
gelegenheit entstehenden Gesnndheitsschndigungcn, und daß sie dem Vuudesrat
daraufhin eine Denkschrift überreicht hat, die schon zu einem Erlaß der Be¬
hörde geführt hat. Aber solche Bethätigungen der Krankenkassen im Dienste
der Sozialreform, im Dienste einer sittlichen Hebung des Volkes sind leider
nur Ausnahme geblieben,
(Fortsetzung folgt)
in Naturforscher von anerkannter Größe der Persönlichkeit und
der Erfolge, der Gott mit derselben Hingebung sucht, mit der er
den Naturgesetzen nachforschte, und mit noch größerer, und der
seinen Gottesglauben mit hingebender Offenheit bekennt, ist in
Deutschland in der zweiten Hälfte des neunzehnte» Jahrhunderts
eine so seltne Erscheinung, daß er sich auch aus mächtigem Umgebungen als
der seiner Fachgenossen abhöbe, strahlend für einige, dunkel für viele. Er ist
überhaupt im Geistesleben dieses Zeitalters und bis in die Gegenwart herein
eine seltne Erscheinung, Wenn auch nicht bei allen Völkern eine materialistische,
jedes Gefühl vou Zugehörigkeit zu einem Wesen und einer Welt über dem,
was greifbar und zeitlich ist, als Schwäche verhöhnende Strömung so mächtig
geworden ist, wie in Dentschland, so durchdringt doch ein Widerwille zu glauben
die ganze Kultur, an der das neunzehnte Jahrhundert gebant hat, Wohl hat
es Männer von anerkannten Leistungen in der Naturwissenschaft gegeben, ich
nenne nur Karl Ernst von Baer und Louis Agassiz, die sich nicht gescheut haben,
in der Natur, die sie so erfolgreich durchforschten, das Werk eines höhern
Wesens zu verehren, das ihnen hoch über die Sphäre hinausreichte, wo ihre
Arbeiten sich bewegen. Aber so wie Gustav Theodor Fechner hat sich von diesen
und ihren Geistesverwandten keiner in das Wesen Gottes und des Jenseits ver¬
tieft. Gerade darum kann sich an Fechner eine Weltanschauung anschließen, die
Gott in der Welt und die Welt in Gott sieht, und zu glauben wagt, ohne das
Kleinste von dem aufzugeben, was die Wissenschaft weiß und noch erfahren
wird. Diese Weltanschauung ist im Heraufdämmern, ihre Strahlen sind schon
in manche Seele gedrungen und werden eines Tags mächtig dnrch eine
Menschheit finden, die sich nicht auf die Dauer mit der Verneinung von allein
zufrieden geben kann, was außer diesem schwachen Menschengeiste ist. Nach
vollendeter „Aufklärung" das schwankende Licht unsers eignen Bewußtseins in
einer trostlosen Nacht flackern zu sehen, wird doch immer mehreren wie ein
thörichter Verzicht auf das Beste erscheine», was wir in der Welt überhaupt
haben können; und eine unvollkommne, lückenhafte Wissenschaft wird in ihrer
Unfähigkeit erkannt werden und endlich auch sich selbst erkennen, den Bereich
unsers Geistes auch nur von ferne auszufüllen.
Zumal wenn in weitere Kreise die Überzeugung gedrungen sein wird,
daß sich diese Wissenschaft über die Weite und Tiefe ihres Werkes gewaltig
täuscht, wird man ihren Versuchen entschiedener entgegentreten, alles zu zer¬
stören, was sie nicht begreift. Eine Geologie und Biologie, die über die
elementarsten Voraussetzungen ihrer eignen Denkarbeit in schweren Irrtümern
befangen ist — ich erinnere nur an ihre Unklarheit über die entscheidende
Frage der erdgeschichtlichen Perspektive —, hat nicht das Recht, uns über die
Stellung des Menschen in der Welt und zu Gott zu belehren. Ihre hoch¬
klingenden Erörterungen über Schöpfung, Geist, Stoff, Kraft usw. machen nur
allzu oft den Eindruck der Gedanken eines zünftigen Handwerkers, dessen Welt
eine dumpfe Werkstatt ist, gegeuüber den Werken des künstlerischen Genius.
Dieser Schuster mag glauben, die ärmlich beleuchtete Glaskugel, vor der er
arbeitet, sei eine Sonne; uns andern seine blöde Kurzsichtigkeit aufdrängen zu
wollen, ist Vermessenheit, die man zu lang denkträg ertragen hat.
Manches mag sich nun an Fechners Weltansicht unvollkommen erweisen,
einiges kann man schon jetzt als unhaltbar erkennen. In der Hauptsache ist sie
ein großartiger Versuch, das uns zugängliche Schöpfungswerk mit Anerkennung
und Verwendung alles dessen, was thatsächlich bekannt ist, so nachzudenken und
nachzubilden, daß dem Geiste sein Recht gewahrt bleibt, und daß die Lücken des
Wissens so ergänzt werden, daß nicht das der Kurzsichtigkeit bequeme Leicht¬
verständliche bevorzugt, sondern alles in den« großen Stil eines Werks aus¬
gedacht wird, in dessen Zusammenhang die ganze Erde selbst nnr ein ver¬
schwindendes Teilchen ist. Fechner, der Denker und Dichter, dessen Glaubens¬
bedürfnis im tiefsten Herzen erlebt ist, und der aus eignen Erfahrungen seine
im höchsten Sinne praktische Auffassung der Religion schöpft, hat in seiner
Tagesansicht kein wissenschaftliches System aufbauen, sondern eine Weltan¬
schauung bieten wollen, die vom Erkannten ausgehend die Rätsel des Daseins
erhellt und aus dem vollen Verständnisse dessen, was die Menschenseele braucht,
wenn sie nicht dumpf über die Abgründe dahin dämmert, das Wissens- und
Glaubcnsbedürfnis zugleich zu sättigen unternimmt. Keine neue große Ent¬
deckung, wie wir sie ihm in der Psychophysik verdanken, kein Neubau auf den
Trümmern eines niedergerissener alten Null das sein. Die dichterischen, natur-
beseelende» Weltbilder vergangner Zeiten werden ausdrücklich als die Vorgänger
der Tagesansicht anerkannt, die sich in schroffen Gegensatz überhaupt nur zu einer
Geistesrichtung stellt, nämlich zu der Überhebung, die uns verbieten will, zu
glauben, wo für sie das Denken mit dein Wissen aufhört,
Fechner hat uns selbst erzählt, wie ihm die Anregung zu der letzten, er¬
schöpfenden Darstellung seiner „Tagesansicht" im Leipziger Rosenthal auf¬
keimte, als er von einer Bank, die wir in der Nähe der Stelle denken dürfen,
wo sich heute sein Denkmal erhebt, durch eine Lücke im Gebüsch auf die große
Wiese hinausschaute, um seine kranken Augen an ihrem Grün zu erquicken,
„Die Sonne schien hell und warm, die Blumen schauten bunt und lustig aus
dem Wiesengrün heraus, Schmetterlinge flatterten darüber und dazwischen hin
und her, Vögel zwitscherten über mir in den Zweigen, und von einem Morgen¬
konzert drangen die Klänge in mein Ohr," Aus diesen Eindrücken schweiften
seine Gedanken zu dem ab, was nach der gewöhnlichen Ansicht hinter ihnen
liegt, Unehe und Stille, keine Farbe, die du siehst, kein Ton, an dem du dich
erfreust, ist wirklich; die Sonne fängt erst hinter deinem Auge zu leuchten
an, draußen vor deinem Bewußtsein sind Farben und Töne nur blinde, stumme
Wellenzüge. Aber nie war ihm diese im Widerspruch mit der natürlichen
Ansicht der Dinge stehende „Nachtnnsicht" so unerbaulich und so unwahr¬
scheinlich erschienen, als in dieser Stunde. Nicht zum erstenmal regte sich in
dieser sonnigen Stunde der Widerspruch gegen die „hadesgleichc Welt" voll
Finsternis, über die einige zur Not noch einen Gott setzen, von dem sie aber
selbst nicht verstehn, wie er eine solche Welt schaffen konnte; jedenfalls kann
er nur fremd und fern über ihr schweben. Aber der Widerspruch regte
sich damals mit neuer Triebkraft, verstärkt durch die Forderung des Herzens,
auch für sich aus dem Blick in eine helle, sonnige Ferne die Befriedi¬
gung der Sehnsucht nach dem Sich einswissen mit einem Wesen zu gewinnen,
das die Leiden und Freude» aller seiner Geschöpfe zu den seinen hat:
„Zwei Herzen, die jetzt eins sind, möchten es immer sein; und fürchtest du,
daß der Tod die Bande, die jetzt eins an das andre knüpfen, zerbrechen wird,
so ist es die Furcht der Nachtansicht; der Tod in der Tagesansicht sprengt
vielmehr die Bande, die jetzt beide noch voneinander trennen." Fechner hatte
schon früher in einem Lied von wunderbarer Innigkeit dieser Zuversicht in
einer Auslegung des Spruchs im ersten Korintherbrief: „Es sind mancherlei
Kräfte, aber es ist ein Gott, der dn wirkt alles in allem," Worte geliehen:
Nun führt er aus, wie in dem angeblichen Fortschritt des menschlichen
Geistes, der doch nur einseitige Entwicklung ist, Gott, aus der entgötterten
Natur heraus und hoch über sie gehoben, angeblich um ihn vor seiner eignen
Zersplitterung zu retten, der Welt fern und fremd und diese Welt ein toter,
abdestillierter Rückstand geworden sei. Das ist der Ursprung und Anfang aller
Nachtansicht, Die heidnische Vielgötterei, die der Welt ihren Geist und ihr
Göttliches im einzelnen ließ, war eine Tagesansicht gewesen, aber freilich eine
Ansicht nur von Bruchstücken. Die reifere Tagesansicht, die Fechner bringen
wollte, erschließt den Blick über diese Bruchstücke hinaus ins All und will
Klarheit über ihr Verhältnis zum All geben, also den Reichtum jener frühern
Ansicht in die erhabenste Anschauung aufheben, die heute möglich ist. Sie ist
sich klar bewußt, daß auch ihr Ausgangspunkt, die Annahme, daß die sinn¬
liche Erscheinung kein Trugbild ist, sondern über die empfindenden Einzel¬
geschöpfe hinaus durch die Welt reicht, Hypothese bleibe« wird, so gut wie die
Annahme der Nachtnnsicht, daß die Welt finster und stumm zwischen den
Einzelgeschöpfen liege. Aber die Tagesansicht ist nicht bloß ein erbaulicherer
Glaube, sondern auch ein besserer Boden zu weiten und hohen Entwicklungen
positiver Bestimmungen; und hauptsächlich stimmt sie besser mit der natürlichen
Auffassung der Dinge. Die Tagesansicht bringt uus mit dem Glauben, daß
die sinnliche Welt außer uns nicht bloß Schein sei, den höhern Glauben um
ein Zugehöreu unsers bewußten Lebens zu einem allgemeinen, in dem es samt
der ganzen Welt umschlösse« ist. So wie uns unser Körper als ein Teil der
stofflichen Welt außer uns erscheint, so ist dann unser selbst sich erscheinender
Geist Teil des nicht minder selbst sich erscheinenden geistigen Wesens, das zum
Weltganzen gehört. Die Einheit des menschlichen Geistes ist dann nur ein
untergeordneter Bruchteil der Einheit des göttlichen Geistes. Die Tagesansicht
macht uns das schöne Wort zur folgenreichen Wahrheit, daß wir in Gott
leben, weben und find, und er um uus, und daß er um unsre Gedanken weiß,
wie wir selbst. Damit ist also unser „Ein und Unterthansei»" gegenüber
Gott kein äußeres, wie Teil gegen Teil, Stufe gegen Stufe, sondern ein inneres,
wie Teil gegen Ganzes, Stufe gegen Treppe. Und dann ist uns auch Gottes
Wesen nicht mehr unfaßlich, da wir selbst eine Stufe, eine Probe, ein Hauch
davon sind, sondern von den innern Verhältnissen des göttlichen Wesens ist
uns unmittelbar etwas zugänglich in unsern eigne«? innern Verhältnissen. Wir
werden nicht Gottes Dasein erschöpfen, wohl aber in der Erkenntnis seiner
Daseinsweise und seiner Beziehungen zu uns und zu allen andern Wesen höher
aufzusteigen und weiter vorzudringen vermögen durch Verallgemeinerung, Ana¬
logie, Abstufung. Und mit diesen Schlüssen werden sich Schlüsse auf unsre
jenseitige Dnseinsweise ergeben; den» wenn unser jetziges Dasei» uur eine untere
Srufe mrsers in Gott beschlossenen Daseins ist, hat es auch darin seine Fort¬
setzung zu suchen. Und wenn endlich die ganze Welt über uns hinaus zur
göttlich beseelten geworden ist, erweitert sich auch der .Kreis und erhebt sich
der Stusenbnu individuell beseelter Wesen über uus hinaus und hinauf.
Dem Vorwurf, daß sie sich vom sichern Boden der Naturforschung ent¬
fernt, wird die Tagesansicht nicht entgehn. Warum soll aber die Durchforschung
der materiellen Welt ihre bisherigen sichern Wege verlassen, wenn sie aufhört,
sich dem sich darüber aufbauenden Glauben in geistigen Dingen zu widersetzen?
Dieser Widerspruch hat nur eine geschichtliche, also vorübergehende Berechtigung
in dem alten Streit zwischen Kirche und Wissenschaft, der auf eine Zeit zurück
geht, wo die Priester Gott und die Welt zugleich erklärten, wo die Mythologie
einen großen Teil des Gebiets beherrschte, das spater die Wissenschaft sich zu
eigen gemacht hat. Aber dieser Streit ist nicht notwendig. Die mosaische
Schöpfungsgeschichte hat im Grund nichts mit Religion zu thun, und ob der
Leib des Menschen aus dein der Affe» hervorgegangen ist, berührt nicht die
Meinung, die ich von seiner Seele hege. Läuft nicht alles Wissen in Glauben aus,
gerade wo es ins Allgemeinste, Höchste, Letzte, Fernste, Tiefste und Feinste geht?
In Glauben fortsetzen muß sich jedes Wissen um das, was ist. Wenn wir be¬
denken, wie die Allgemeingiltigkeit aller Naturgesetze nur aus der Erfahrung ab-
strahiert ist und keineswegs als notwendig erwiesen werden kann, so können wir
weder die nächsten noch die letzten Schritte ohne Glauben thun; wir wohnen und
leben sozusagen in einer Welt des Glaubens. Und so stützt sich denn die Tages¬
ansicht auf das Wissen, soweit es reicht; darüber hinaus glaubt sie, was sie
braucht; und erkennt endlich das historische Glaubensprinzip an, das
Fechner in den „Drei Motiven und Gründen des Glaubens" entwickelt hat. Man
könnte es am kürzesten so bezeichnen: ein Glaube erscheint uns um so triftiger, je
allgemeiner und einstimmiger, je haltbarer und wirksamer er sich durch Welt und
Zeit erstreckt, und je fähiger er sich gezeigt hat, mit wachsender Kultur zu er¬
starken und zu wachsen. Fechner hat zwar dieses Glaubensprinzip nur an die
dritte Stelle verwiesen; aber in ihm wurzelt nicht bloß im tiefsten Grunde die
Tagesansicht, sondern es ist mich am bezeichnendsten für die geistige Natur
des Denkers. Die Anerkennung des Rechtes dessen, was da ist und war,
auf eine entsprechende Zukunft sondert Fechner am tiefsten von der Masse der
Naturforscher, die kein historisches Recht in der Gedankenwelt, sondern nur den
Irrtum der Andern und das eigne Fürwahrhalten kennen, jenen zu zerstören
und diesem zum Siege zu verhelfen als ihre Pflicht erachten, jeder einzelne
gewissermaßen Religionsstifter auf seinem engen Gebiet, je entschiedncr, desto
höher ummauert sein Gebiet ist. Fechner hat es selbst ausgesprochen, daß für
ihn der beste Glaube der sei, der sich am widerspruchslosesten mit allem unsern
Wissen und unsern praktischen Interessen vereinbart, und die bisherigen Wider¬
sprüche der verschiednen Glanbensrichtungen versöhnt, statt sie noch weiter zu
sondern. Gerade deshalb erscheint mir Fechner, mit andern Naturphilosophen
verglichen, als ein Denker von hervorragend praktischer Anlage und Bedeutung,
aus dessen Lehren eine dem ganzen Menschen genugthuende und die ganze
Erscheinungswelt umfassende und deutende Philosophie zu gewinnen ist.
Dieser praktische Zug tritt besonders in der entscheidenden Seelenfrage
zu Tage. Die Frage des Zusammenhangs zwischen Leib und Seele, mate¬
rieller und geistiger Schöpfung, ob sie nur ein Wesen oder zweierlei sind, mit
andern Worten Monismus und Dualismus hat Fechner innerhalb seiner Tages¬
ansicht nicht entscheiden wollen, sondern er legte das Hauptgewicht darauf,
immer nur von den Thatsachen der Erfahrung auszugehn, unbekümmert zu¬
nächst um die Deutung dieses Zusammenhangs. Er neigte wohl im ganzen
mehr zu einer einheitlichen Auffassung, aber seiner im höchsten Sinne prak-
tischen Denkweise erschien die Wiederholung des Verhältnisses von Leib und
Seele durch alle Schöpfungen hindurch wichtiger als die Frage nach der Natur
dieses Verhältnisses im einzelnen Fall. Im Gegenteil ist es gerade für seine
Tagesansicht bezeichnend, daß sie die Verbindung zwischen Seele und Leib
nicht bloß als eine ausnahmsweis, bloß für Menschen und Tiere bestehende
und nicht bloß auf das Diesseits beschränkte, überhaupt nicht als eine äußerlich
trennbare ansehen will oder kann. Die Seelenfrage hat ja Fechner lange,
ehe er die Tagesansicht zusammenhängend formulierte, in dem Sinne behandelt,
daß man nicht fragen solle, wo die Beseelung anfange oder aufhöre, da „die
Idee nicht durch Pflanzen und Sterne weht wie ein Wind," und der Geist nicht
an Nerven gebunden sei, sodaß er nur deu Menschen und den Tieren als
vorrechtweise zustehe. Im Sinne der Tagesansicht steigt über die Welt der
einzelnen menschlichen Bewußtseinskreise eine höhere Welt in den Bewußtseins¬
kreisen der Sterne auf, und der enge, hochentwickelte Bewußtseinskreis des
Menschen hat den kindlichen der Pflanzen unter sich. Im Sinne der Nacht¬
ansicht freut und rühmt sich der Mensch der Einheit seines Bewußtseins, worin
er etwas ganz besondres der Zerstreuung der Naturdinge gegenüber zu haben
meint. Aber die Tagesansicht fühlt sich von keiner Zerstreuung der Dinge
bedrückt, denn ihr ist die Einheit des Bewußtseins allgegenwärtig, und der
Mensch hat die seine nicht als eine von der göttlichen unterscheidbare, sondern
ihr untergeordnete. Fechner ruft mahnend: Sich doch nur in dich hinein! Die
Einheit des Bewußtseins ist nicht vergleichbar der Spitze, sondern dem Zu¬
sammenhang der Pyramide: eine Pyramide kann sich gliedern und untergliedern,
ohne sich zu spalten; so gliedert und Stufe sich die Welt. So wie in unserm
eignen Geistesbau die Siuneskreise voneinander geschieden sind, und keiner seine
Empfindung mit dem andern teilt, während unser Bewußtsein sie alle umfaßt,
so ist auch die Scheidung des Bewußtseins zweier Nachbarstufen nur Scheidung
im Bewußtsein einer höhern. Und so wie diese Abstufung in den Menschen
hinein, reicht sie über ihn hinaus. So haben die Menschen und alle andern
Geschöpfe eines Gestirns ihr Gestirn als höhere Stufe über sich, das Gestirn
aber seine Geschöpfe unter und in sich. Und jedes Gestirn hat teil ein der
allgemein menschlichen Bewnßtseinseinheit, dieser Teil ist von dem der andern
Gestirne geschieden, in Gott nur unterschieden. Noch mehr als die Menschen
auf der Erde siud die Sterne am Himmel voneinander verschieden. Innerhalb
dem großen allgemeinen Zuge einer Kraft, die sie ordnet und erhält, hat
jedes seine eigne Schwere, seinen eignen Tages- und Jahreswechsel, seine be¬
sondre Geschichte, sein eignes Leben. Man sehe unsre Erde, wie sie in dem
reinen, feinen, klaren Äther schwimmt, einem großen Ange vergleichbar gebaut,
das Licht einatmend. Sollte es nun für den Äther keine Geschöpfe geben?
Der Abstand zwischen Gott und uns ist groß, die himmlischen Geschöpfe sind
eine Zwischenstufe zwischen Gott und uns, aber auf einer Stufenleiter, in der
die Stufen sich vielmehr ein- als ausschließen; in dieser Welt mag es Ent¬
wicklungsstufen geben, so wie es auf der unsern Menschen, Tiere, Pflanzen,
Embryonen, Kinder, Erwachsene, Greise giebt.
Was aber die Seelen um uns betrifft, so möge der Leser in dem feinen
Büchlein „Nanna" selbst nachforschen, wie es mit der Seele der Pflanzen
steht. Dort scheint uns Fechner den Nachweis besonders glücklich geführt zu
haben, daß zur Beseelung nicht die Nerven der Menschen und Tiere gehöre».
„Willst du es nicht der Welt, den Sternen, den Pflanzen erlassen, daß sie
Nerven wie Menschen und Tiere haben, um sie für beseelt zu halten, wenn
wichtigere Gründe für die Beseelung sprechen? Sie wollen eben nicht Menschen
und Tiere sein und brauchen zur andern Seele anch andre Träger und Aus¬
druck im Reiche der Materie." Wir teilen mit alleu andern Geschöpfen der
Erde die tiefe Zugehörigkeit zu dem Planeten, der in Wahrheit unsre Mutter¬
erde ist: dieselbe Erde, die uns und alle ihre Geschöpfe durch dieselbe Kraft
an sich gefesselt hält, hat auch alle aus sich geboren, nimmt alle wieder in
sich zurück, nährt und kleidet alle, vermittelt den Verkehr zwischen allen und
behält bei allem diesem Wechsel einen durch den Wechsel selbst sich fvrt-
erhaltenden und fortentwickelnden Bestand. Und so wie in diesen materiellen
Beziehungen die Erde sichtbar alle ihre Teile, und anch uns, verknüpft und
damit über thuen allen steht, thut sie es unsichtbar in den geistigen. Die Erde
hat alles, was die Menschen haben, da sie sie selbst hat. Warum sollte sie
noch einmal ein Gehirn in einer Schädelkapsel eng zusammengefaltet haben,
da ihre ganze organische Welt an der festen Erdoberfläche frei dem Licht und
den Schwingungen des Himmels und der Luft dargeboten ist, woraus alle
Nerven und Gehirne ihrer Geschöpfe unmittelbar ihre Anregungen schöpfen,
und wodurch sie sich ihre wechselseitigen Anregungen mitteilen? Aber doch
sagt mau: da der Mensch seinen Geist verliert, wenn man ihm sein Gehirn
nimmt, so ist die Erde von vornherein geistlos, weil sie kein Gehirn hat.
Und von der Schöpfung des organischen Lebens' meint die Nachtansicht, es sei
ein Geborenwerden lebendiger Kinder aus einer toten Mutter, die jene von
sich abgesondert habe und so tot geblieben sei, wie vorher.
Wie Fechner seine Tagesansicht mit der naturUnssenschnftlichen Auffassung
der Natur verknüpft, an der er ja selbst so erfolgreich angebaut hat, kann
hier nicht ausführlich gezeigt werden, wo es uns mehr darauf ankommt, die
Positiven Grundzüge seiner Ansicht zu zeichnen. Wohl aber möchten nur noch
auf Fechners religiöse Ideen zurückkommen, da doch die Gewinnung oder Be¬
wahrung eines beseligenden Glaubens mitten in einer uoch über die alltäg¬
liche Wissenschaft an Tiefe und Weite hinausreichenden Weltansicht als das
eigentümlichste und wirksamste Ergebnis seiner Betrachtungen immer mehr
hervortritt. Fechner hat seine Stellung zum Übel in der Welt ungefähr so
bezeichnet: Das Übel in seiner Entstehung und Fortentwicklung bis zu den
Grenzen, bis zu denen es überhaupt zu gedeihen vermag, ist nicht in dem Willen
oder der Zulassung Gottes, sondern in einer Urnotwendigkeit des Seins zu
suchen, vermöge deren das Sein selbst überhaupt nicht sein könnte, ohne in
zeitlichen Anfängen und endlichen Bezirken dem Übel zu verfallen. Gerade
in der Ausgleichung, Hebung, Versöhnung, Überbietung des Übels liegt der
Quell des größern, allgemeiner!,, höhern Guten, an dem alles fortschreitende,
seineu Daseinskreis erweiternde und erhebende und Einzelne nud Endliche teil
hat. So notwendig das Übel, so notwendig ist die Richtung des göttlichen
Willens auf seiue Hebung. Gerade so notwendig wie das Übel, bildet die
logische Notwendigkeit ein Grundmoment seines Wesens, gegen die keine All¬
macht ankommt. Daß Gott daS Übel nur in sich heben und versöhnen kann,
indem er es in allen seineu Geschöpfen thut, und daß seine Mittel, es zu thun,
so weit über die seiner Geschöpfe in Zeit, Raum und Aufstieg zu höher»
Lebensstufen hinausreichen, sichert diese Hebung und Versöhnung, „Man muß
sie auch nur von da erwarten": hier zieht die scharfe Absondrung der Tages-
nnsicht vou allem Pessimismus:
Aus dieser Auffassung folgt notwendig auch das Begreifen der göttlichen,
d, i, sittlichen Gebote als Anweisungen, das Handeln zum eignen Wohl dem
zum Wohl des Ganzen unterzuordnen.
Wer hat sich noch nicht die Frage vorgelegt, wie es habe kommen können,
daß er das Beten so ganz verlernt habe, das ihn in seinen jungen Jahren
in jeden Tag des Lebens hinein- und ans jedem herausführte? - Nicht der
Wegfall des Bedürfnisses hat es bewirkt, sondern die Gedankenlosigkeit, die
der größte Feind des Lebens der „Gebildeten" ist, Je mehr sie lesen und
hören, desto weniger denken sie. Man könnte die moderne Durchschnitts¬
bildung, und zwar gerade die, die auf die „Halbbildung" von oben herabzu¬
sehen meint, als die Gewohnheit bezeichnen, sich mit einem großen Aufwand
von Lesen, Hören und Reden das Denken an und über die tiefste und wich¬
tigste Frage des Lebens zu ersparen. In diesem Suns von angeblichen
Denken um der Oberfläche hin ist auch das Vetenkönnen verloren gegangen.
Denn da es zum Hinabsteigen in große Tiefen auffordert, ist es mit den Ge-
dankenspiclen der sogenannten Bildung nicht vereinbar. Der gebildete Deutsche
betet in der Regel nur, wenn es ihm an den Hals geht. Ich habe in meinem
Leben nur einmal eine sehr große Schar deutscher Männer aller Stände ernstlich
beten und sich dessen auch nachher nicht schämen sehen; das war aber in einem
Feldgottesdienst nach einem großen Sieg der deutschen Waffen im Jahre 1879,
Vollends nun über das Gebet denken und schreiben, das thun heute außerordentlich
wenig Nichttheolvgen, Darin sind uns Engländer und Amerikaner überlegen, ich
meine in dem Mut, es zu thun, nicht in der Art, wie sie es thun. Denn so
tief wie Fechner hat kaum einer das Beten erfaßt, nicht einmal R, W, Emerson,
Kami Beten die Notwendigkeit bezwingen? fragt er. Nein, das kaun
es nicht, aber nnter ihren Gründen selbst Platz greifen. Gewiß wirkt es im
Menschen und infolge dessen darüber hinaus; denn nichts wirkt ini Menschen,
was nicht seine Wirkungen mittelbar oder unmittelbar, sichtlich oder un¬
sichtlich über ihn hinaus in die mit ihm zusammenhängende Welt erstreckte,
mögen nur auch diese Wirkungen nicht zu verfolgen wissen. Aber warum
sollte eine an Gott als deu Vertreter des Weltganzen gerichtete Bitte ohne
Erfüllung bleiben, da ich doch selbst innerlich in ihm bin? Das Greifbare am
Gebet ist aber die Wirkung, die es auf den Betenden selbst hat. „Nimm das
Gebet aus der Welt, und es ist, als hättest du das Band der Menschheit mit
Gott zerrissen, die Zunge des Kindes gegenüber dem Bilder stumm gemacht.
Ohne den Glauben an die Wirksamkeit des Gebets könnte aber das Gebet
weder diese praktische Wirksamkeit äußern, noch seine historische Bedeutuug ge-
winnen. Selbstverständlich sind der Wirksamkeit des Gebets in der Welt¬
ordnung selbst Schranken gezogen. Der Mensch erbitte von Gott nichts Un¬
mögliches, nichts, was er mit seinen eignen Kräften selbst erreichen kann, da
er ja selber für Gott das nächste oder alleinige Mittel ist, es zu erreiche»
oder zu leisten. An Gott wende er sich, wenn die eignen Mittel erschöpft
sind, und täglich bitte er Gott, daß er ihn imstande hält, das seinige zu leisten,
und erflehe dazu den Segen von oben. Gebet ist aber auch das Vertrauen,
daß Gott alles zum besten wenden werde, und daß das Jenseits vollenden
werde, wozu die Mittel des Diesseits nicht hinlänglich sind. Aber freilich,
dieses Vertrauen setzt deu lebendigen, an uns teilnehmenden Gott der Tages¬
ansicht voraus. Und eine Folge dieses Vertrauens wird das Bedürfnis sei»,
im Gebet zu danken. Was sollte uns endlich abhalten, im Gebet die Ver¬
mittlung vou hiugeschiedneu Lieben oder Heiligen zu suchen, an deren Fort¬
leben wir glauben? Der Glaube an diese Mittler ist viel mißbraucht N'orden;
aber niemand kann leugnen, daß er schön und praktisch wirksam sei."
Da in diese Tage der hundertste Geburtstag Gustav Theodor Fechners
gefallen ist (geb. zu Groß-Särchen in der Niederlausitz am 19. April 1801), wird
von den großen wissenschaftlichen Verdiensten des Mannes nach langer Pause
mancherlei gesprochen werden. Vielleicht regen diese Bruchstücke und Auszüge aus
seinen religiösen Betrachtungen unsre Leser an, sich mit seinen Schriften über
Glaubens- und Seelenfragcn beknuut zu macheu. Den ganzen Manu lernt man
ohnehin nur kennen, wenn man sein Forschen und seinen Glanben als eins
erfaßt. Er gehörte keineswegs zu denen, die erst zu glauben anfangen, wenn sie
zu forschen aufhören; sondern ihn zwang eine innere Notwendigkeit, sich eine
Weltansicht zu schaffen, die dem forschenden Geist und dem Glauben an einen
weltumfassende» und durchdringenden Gott Befriedigung und Glück gewährte.
Die 1843 erschienenen Gedichte zeigen denselben kindlichen Glauben wie seine
letzten Schriften. Gerade in dieser Einheit seines geistigen Wesens liegt sein
Eigentümlichstes und zugleich das Beste, was die Nachwelt von ihm haben kann.
Öffnen wir ihm, der nach seinem eignen Glauben als Geist unter uns fort lebt
und wirkt, die Wege.
in Dezember 1870 waren wir auf dein Marsch nach Rouen, Auf
der Landschaft lag dicker Nebel, die Nächte hatten Glatteis gebracht.
Mühsam schleppte sich die Infanterie hin, bei jedem Schritt mußten
die Leute zusehen, daß sie nicht ausglitieu. Die Kavallerie hatte in
den Morgenstunden absteigen und die Pferde führen müssen. Mit
dem Vorrücken des Tags war dann die Glätte weniger spröde ge¬
worden. An dem letzten Marschtage lernten wir schon die geologische Formation
der liimw Norm-ensis kennen. Im Gegensatz zur hügeligen dnsss MrmimSis ist
jene ein mächtiges Krcideplateau, ein ans der Tiefe des Meeres gehobnes Bruch¬
stück Erdrinde. Die Ränder sind steil und von Bächen zerrissen, die die Nieder¬
schläge nach der See oder der Seine abführen. Anmutige Thäler führen an den
Bächen zur Höhe, sie sind anßer der steil ins Meer abstürzenden Kreidefelsküste
der Hauptreiz der nördlichen Normandie. Da, wo im Süden das Kreideplateau
aufhört, schlängelt sich die Seine hin, sie bespült den Fuß der Felsen, und diese
spiegeln sich in dem Wasser wider. Von den Franzosen wird die Seine mit dem
Rheine verglichen. Auch an der Seine giebt es Burgen, kleine altertümliche Ort¬
schaften und als Hanptplntz das prächtige Rouen, 1a vitio la plus loua>^uA.t)Is
as ?r-nov xonr Iss monnmonts neu wo^su Wenn man von den Franken ab¬
sieht, die vor 14(10 Jahren dorthin vordrangen, so hatte noch nie ein deutsches
Heer diesen Boden betreten, und es war für uns ein erhebendes Gefühl, als wir
von der Höhe der Heerstraße die schöne Stadt zu unsern Füßen liegen sahen. Da
Rouen nicht befestigt war und von den umliegenden Höhen in kurzer Zeit hätte in
Grund und Boden geschossen werden können, so hatten die Franzosen die Stadt
geräumt und sich nach le Havre und Amiens konzentriert. Am (ÜKamp as Uf-rs
vorbei zogen nachmittags um drei Uhr die langen Reihen der deutschen Krieger
die Rue iwporials hinauf nach der Z?IZ.es alö 1'LStel as vitio. Dort, wo das Reiter¬
standbild Napoleons I. der Welt Kunde giebt, daß sechzig Jahre früher Franzosen
bis an die äußerste Ostgrenze des preußischen Staats ihren Kaiser siegreich geleitet
hatten, standen wir nun, die Nachkommen der Besiegten, als Sieger.
Die französischen Städte haben sich wenig verändert, da ihre Bevölkerung nicht
zunimmt. Eine Landflucht, wie in Deutschland, giebt es in Frankreich nicht. Ob
die Existenzbedingungen auf dem Lande besser sind, und dieser Umstand die Be¬
völkerung zurückhält, oder ob die ausgesvrochne Neigung des Franzosen, einen wenn
auch noch so kleinen Besitz auf dem Lande sein eigen zu nennen, dazu beiträgt, lasse
ich dahingestellt. Jedenfalls kennt man in den französischen Provinzen die mächtigen
neuen Vorstädte und Bauten nicht, die in Deutschland jetzt alle Provinzialhanptstäote
umgeben. In Frankreich sind in den letzten dreißig Jahren nur die Läden reicher,
die Villen stattlicher geworden, ein Zeichen, daß sich der Reichtum vermehrt hat.
Wie damals, so durchstreifte ich much jetzt mit Entzücken die herrliche Stadt
Runen, Die beiden quer durch die Stadt führenden Hauptstraßen bestanden schon
vor dreißig Jahren, nach dein Vorbilde Hcmßmanns in Paris hatte die Stadt
Rouen alte, ungesunde Gassen und Gußchen durchbrochen und zwei prächtige Ver¬
kehrsadern mit schönen Läden geschaffen. Nur die Namen hatten gewechselt, ans
der Ruo imxsrialo war die Ruo alö Il>> Ropudli^ne., aus der uns as l'iwxsiÄtrillo
war die Ruo ^vains ä'^re geworden. Die Brücken über die Seine, die meiner
Erinnerung nach Orauä ?ont und ?ont Nsuk hießen, sind in l^ont Lornoillo und
?ont Zoiolclisu zu Ehren dieser beiden großen Bürger der Stadt umgetauft worden.
Aber, wie einst, waren noch die malerischen Thore und Durchgänge, durch deren
dunkle Wölbungen man die erleuchtete wichste Straße sah, wie einst zogen sich zwischen
den Hauptstraßen die gewundnen Gassen mit altersschwachen Häusern hin, auf deuen
sich die Palma von Jahrhunderten angesetzt hatte, wie einst standen noch die Bauten
aus den Zeiten der Gotik und der Renaissance, die Kathedrale, die Kirchen Se. Ouen
und Se. Mnclou, der Turm der HwWo-HorloZ'e, das 1ISW1 ein Lom-Atnoronlcio, das
?a1ius as Mstieo und die Prnnlgräber des Marschalls de BrLze' und der Kardinäle
d'Amboise. Eine Schilderung von diesen Meisterwerken der Gotik und der Renaissance
zu geben hat für den, der sie nicht gesehen hat, wenig Zweck, da eine Schilderung
ihm doch keine Vorstellung von ihrer Schönheit verschaffen würde, wer aber diese
Bauten einmal gesehen hat, vergißt sie nie wieder. Aber das Gesamtbild, das da¬
durch geschaffen wird, kann auch einem Leser vor Augen geführt werden. Rouen
liegt an einer Stelle der Seine, wo diese einen mächtigen Bogen nach Norden
macht, und zwar an der äußern Seite des Bogens. Das Plateau fällt an dieser
Stelle sanft ub und läßt genügend Raum für die Stadt von 110090 Einwohnern.
Die Uranfänge gehn in die gallischen Zeiten zurück, als Rotvmcigns bestand sie
schon zu Cäsars Zeiten. Ihr Entsteh» verdankt sie zweifellos dem Umstände, daß
die Meeresflut bis hierher aufsteigt und die Schiffe mühelos landet. Es war also,
uni mich modern auszudrücken, der natürliche Umschlagshafen für den Austausch der
See- und Landfrnchten. Bevor die großen Dampfer entstanden, war die Nor-
mannenhanvtstadt also eine richtige Hafenstadt, obgleich die Seine erst hundertund¬
dreißig Kilometer uuterhnlb in die See mundet. Auf und an de» Quais zu beiden
Seiten der Seine sind auch jetzt noch viele Zeichen des Schiffsverkehrs, die Matrosen¬
kneipen, die Warenstapel, die Ladekräne und Speicherräume. Aber der Haupt¬
seeverkehr hat sich uach le Havre gezogen, der erst seit vierhundert Jahren bestehenden
Schöpfung Ludwigs XII. Trotzdem ist noch viel Leben auf den Quais, da Rouen
das französische Manchester geworden ist. Zwei Drittel der gesamten Banmwollen-
produkte Frankreichs werden in den Vororten und Nachbarorten von Norm fabriziert,
die Einführung der Rohstoffe und die Ausfuhr der Fabrikate geschieht vou hier aus,
sodaß dadurch der mittlere und der kleine Schiffsverkehr festgehalten wird. Von diesen
Quais hat man eine weite, herrliche Landschaft vor Angen. Die hohen Felsen von
Bonsecour schieben sich auf der einen Seite wie eine Kulisse gegen den Fluß vor.
Ans der Spitze steht die im Stil des dreizehnten Jahrhunderts aufgeführte neue
Wallfahrtskirche Bonsecours, ein Werk, das Millionen gekostet hat und durch seine
Lage einen imponierender Eindruck macht. Der Strom am Fuße teilt sich und
giebt zwei Inseln Raum, die sich mit ihren Baumbeständen bis zum ?ont Lornkills
ziehn. Daun kommen die mit Restaurants, Cafe's und Läden besetzten Quais, und
auf dem andern Ende schließen die Berge von Cautelen, die teilweise mit Wald
bedeckt sind, den Blick ab. Gegenüber der Stadt auf der andern Seite der Seine
liegt eine Vorstadt. Geht man dorthin und wendet sich um, so sieht man die
Stadt Rouen aufsteigen, wie ein Rieseuamphithenter. Und über die Dächer der
Häuser hinaus ragen die zahlreichen Türme der Kirchen, vor allem die lustige
Fleche auf der Kathedrale Notre-Dame und die Cvuronne de Normandie auf
Se. Ouen.
Als vor 1100 Jahren Dänen und Norweger als Seeräuber die Küsten bis
hinunter nach Spanien zu plündern begannen, mußte das damals schon blühende
Rouen ihre Beutelust reizen. Schon im Jahre 841 zogen deshalb dänische Wikinger
die Seine hinauf und plünderten Rouen. Durch den reichen Erfolg ermutigt
drangen 376 neue Scharen Normannen ins Land. Da sie geringen Widerstand
fanden, hielten sie es für das einfachste, ini Lande zu bleiben und es unter sich
zu teilen. Ihr Führer Rollo nahm das Christentum an, leistete den fränkischen
Herrschern den Lehenseid und wurde Herzog der Normandie. In kurzer Zeit
nahmen die neuen germanischen Eindringlinge romanische Sprache und christliche
Kultur und Glauben an, und es blieben wenig Spuren der nordischen Herkunft
übrig. Einzelne Adelsfamilien bewahrten als Überlieferung, daß ihr Ahn als
Wikinger ius Land gekommen war, wie die Grafen von Harcourt. Vielleicht sind
Bezeichnungen wie le Havre, in, Heve, Dieppe (Hafen, Hood Vorgebirge und Tiefe)
auf die Normannen zurückzuführen, da sie ihnen Stützpunkte für ihr Eindringen
waren, bevor sie das Land in Besitz genommen hatten. Sonst aber hat der
Romanismus sie wie alle übrigen germanischen Stämme verschlungen, die nnr mis
Eroberer, nicht als Volk in das römische Reich eingedrungen sind.
Das neue Mischvolk hatte sich von den bisherigen Bewohnern den Glaubens¬
eifer, von den neuen den Unternehmungsgeist angeeignet, beide Eigenschaften drückte»
den Thaten der Normannen in den nächsten Jahrhunderten den Stempel ans. In
keinem Erdenwinkel, außer in der Umgegend von Bozen, giebt es so viel Ortschaften,
die den Namen von Heiligen führen, wie in der Normandie, darunter von recht
vielen deutschen Heiligen, wie Se. Leonhard, Se. Gertrud. Ihre Schiffe richteten
auf der Spitze des Mastes und richten noch jetzt das Kreuz auf. Die Herzöge
und Großen bauten die gotischen Kirchen und Abteien, vor allem hervorragend
Notre-Dame in Rouen. So sorgten die Normannen für ihr Seelenheil, während
sie im übrigen ihr Nciuberlebeu fortsetzte», das ihnen nnn einmal im Blute lag.
Schon um das Jahr 1000 hielten sie es mit dem ruhigen Sitzen nicht mehr aus.
Zuerst auf einzelnen Schiffen, dann als geschlossene Haufen unter dem Grafen
von Hauteville zogen sie nach Sizilien und gründeten dort ein neues Reich. Bald
darauf führte Wilhelm der Eroberer die zurückgebliebnen Völker nach England und
zertrümmerte dort die Herrschaft der Angelsachsen. Der halbe englische alte Adel stammt
von den beutegierigen Wagehälse» ab, die mit Wilhelm über das Meer zogen, und
Familien mit gleichem Namen sitzen jetzt zu beiden Seiten des Ärmelkanals. Und
nun kamen die Kreuzzüge, mau konnte himmlisches und irdisches Gut erwerben
und that sogar ein gutes Werk, wenn man den Ungläubige» ihren Besitz wegnahm.
.Konnte es etwas besseres für einen guten Normannen geben? So sah man um
das Jahr 1100 normannische Schiffe auf dein Wege nach dem gelobten Lande,
und was die Kreuzzüge an Romantik gehabt haben, ist zum großen Teil auf nor¬
mannischen Einfluß zu setzen.
Aber auch dann fand das Wikingerblut nicht Ruhe. Als Jacques Carlier
1534 Kanada entdeckt hatte, zogen wieder Normannen hinüber und schafften sich
im Kampfe mit Indianern und wilden Tieren Runen für ihre Siedlungen. Während
der Ausstellung waren zahlreiche französische Kanadier zu einem Festessen in
Paris vereinigt, und als sie ihre Reden hielten, da glaubten die Vertreter der
Presse das Patois der Normandie zu hören, es hatte sich sogar unverfälschter er¬
halten, als es jetzt in den Städten der Normandie gesprochen wird, wo Paris die
Eigenheit des Dialekts abgeschliffen hat. Und als reformierte Holländer infolge
der Religionsstreitigkeiten nach dem Kaplande auswanderten, schlössen sich ihnen
»»»»MWI
französische Glaubensgenossen aus der Normandie an und schufen ein neues Volk
das zähe Volk der Buren, Wie groß muß früher der Kinderreichtum in der
Normandie gewesen sein, daß sie so viele Massen hat abgeben können! Die fran¬
zösischen Kanadier und die Buren haben sich diesen Reichtum bewahrt. Dem Stnmm-
lande ist nur der Unternehmungsgeist geblieben. Noch jetzt ziehn jährlich Tausende
aus deu Häfen der Normandie ans ihren kleinen Schonerfahrzeugen zum Fischfang
nach den Bänken von Neufundland und bringen von dort die Erträge ihrer Arbeit
in die Heimat.
Solchen Eigenschaften ist es auch zuzuschreiben, daß kein Teil Frankreichs so
zahllose bedeutende Männer auszuweisen hat, wie die Nordwestecke, gleichviel, ob
es Staatsmänner, Feldherren, Künstler oder Schriftsteller sind. Eine dankbare
Erinnerung haben die Landsleute ihnen bewahrt, zahlvnche Denkmäler geben davon
Kunde. Auch einer stammverwandten Fremden hat man in Norm ein Denkmal
gesetzt, der begeisterten Kämpfern, Jemine d'Are. War es den Deutschen, die ihren
Schiller gelesen haben, zu verdenken, wenn sie zuerst deu Turm aufsuchten, wo
die MvvUo ä'Orlskws verurteilt, und den Platz, wo sie von den Engländern ver¬
brannt worden war?
Am Tage unsers Einzugs in Ro»en im Jahre 1870 und am folgenden
Morgen blieb mir wenig Zeit, die Sehenswürdigkeiten der Stadt abzulaufen, es
hieß damals vorwärts. Aber das Kriegsgeschick führte mich noch dreimal nach
Rouen zurück, und ich nützte diese Gelegenheit aus. Es war an dem Tage vor
Weihnachten, als ich zum erstenmal die Stadt wiedersah. In den Straßen drängte
sich das Volk, von der Kathedrale tönten die Glocke». Die Landschaft lag in
Schnee eingehüllt, auf der Seine trieb Eis. Und doch kam keine Weihnachts-
stimmung auf. Es fehlten die frohen Gesichter, die in Geschäftigkeit dahineilenden
Damen mit ihren Einkäufen, die erleuchteten Läden und die Weihnachtsbaume. Ich
ging nach Se. Omen, die Kirche war leer, in Se. Maclou stand vor dem Altar
ein Katafalk, in Notre-Dame sangen die alten Domherren ihre eintönigen Hören.
Aber vor den Kirchen drängten sich Haufen armseliger Menschen an jeden Offizier
und baten um einen pfeil sou. Es waren Kinder und Frauen der Fabrikarbeiter,
die zu Tausenden seit einem Monat keine Arbeit mehr hatten, weil die Fabriken
still standen. Wie war das stolze Volk gesunken! Ich bestieg einen Wagen und
fuhr ab. Meinem Burschen drückte es anscheinend das Herz ab, daß er niemand
gefunden hatte, mit dem er über Weihnachten hatte sprechen können, und daß er
nicht einmal in dem Straßentreiben etwas Weihnachtliches gefunden hatte. Als wir
nun ans die Höhen von Cautelen kamen und das Lichtermeer der schon im Abend¬
dunkel liegenden Stadt sahen, da konnte er sich nicht halten, und er fing an von
Frau und Kindern zu erzählen, die daheim ohne ihn Weihnachten hielten, und es
wurde ihm leichter ums Herz, als ich ihm teilnehmend zuhörte. In Dnclair
feierte ich dann mit den Kameraden Weihnachten unter einem Tannenbnum, dessen
Lichter die halbe Stadt auf deu Quai gelockt hatten. Das begriffen die Leute
nicht, daß wir uns einen solchen Baum geputzt hatten, als ob wir Kinder wären,
und sorglos und fröhlich einander mit Kleinigkeiten beschenkten. Aber auch den
Franzosen ging durch die Lichter des Weihnachtsbaums ein Licht auf. daß wir
lwnz friedliche und gemütliche Leute waren, wenn man uns nicht reizte.
Zum zweitenmale war ich in Norm zu der großen Parade, die dort Mitte
März 1871 abgehalten wurde. Gegen 40000 Mann waren zusammengezogen, der
Kaiser sollte selbst kommen, alle Truppeuteile waren eifrig beschäftigt, die durch
deu Feldzug entstandnen Mangel zu beseitigen. Das war nicht so leicht, wie man
sich das im Frieden vorstellt, denn schon einige hintereinander folgende Märsche
vernichten sehr viel. Ich sah einige Wochen vor der Revue, als der Waffenstill-
stand geschlossen war, die mecklenburgische» Regimenter, die Kilvmeterdivisio», wie
sie genannt wurde, Waren das wirklich deutsche Soldaten? An Stelle des Waffen¬
rocks wurde von vielen die blaue Bluse getragen, die Hosen wechselten von der
schönsten schwarzen Sonntagshose alle Farben durch bis zur Hose aus Sacklein¬
wand. Nur Glückliche konnten sich rühmen, im Besitz von Stiefeln zu sein, sandalen¬
artig befestigte Snbots mußten vielfach aushelfen, Auch die Kopfbedeckung war
nicht durchweg militärisch, und — ob erfunden oder wahr, weiß ich nicht -.....
einige Kameraden wollten einen Soldaten mit einem Cylinder bedeckt gesehen
haben. Auch das Sattelzeug der Kavallerie war vielfach dahin, Schassfelle waren
über den Rücken der Pferde gelegt, die Lederriemen durch Stricke ersetzt. Wer
jemals solche wochenlangen Märsche mitgemacht hat, wird diese Zustande, die ich
selbst gesehen habe, nicht verwunderlich finden.
Wir rückten für die Paradetage nach Cautelen; sobald ich mich freimachen
konnte, fuhr ich nach Rouen. Überall traf ich Bekannte, es war ein freudiges
Wiedersehen derer, die den Gefahren des Kriegs entronnen waren; das mußte
gefeiert werden, für den Abend nach der Revue wurde ein Kommers in der
Brauerei von Rouen verabredet.
Der Kaiser kam nicht, es hieß, er sei krank geworden, aber der Kronprinz
würde ihn vertreten. Die roten Republikaner der Stadt hielten die Gelegenheit
für günstig, K Limss an> clouil national zu demonstrieren, Sie schlössen die Fenster¬
laden, steckten schwarze Fähnchen ans und umhüllten die Schilder der Hänser mit
schwarzem Flor, kurz, sie hatten die beste Absicht, in der allzeit lustigen Normannen-
stadt eine Tranerknndgebung zu veranstalten. Die gute» Leute hatten den Zeit¬
ereignissen etwas vorgegriffen, noch hatten wir ja nicht Frieden geschlossen. Es
wurde also durch die deutschen Behörden bekannt gemacht, daß jeder französische
Patriot, der die schwarzen Farben nicht in bestimmter Zeit entfernen würde, da¬
durch, daß er zehn bis zwanzig deutsche Soldaten ins Quartier nähme, seinen
Patriotismus beweisen solle, Wie schnell verschwanden da Flor und Fahnen! In
Geldsachen hört beim Normannen nicht nur die Gemütlichkeit, sondern auch der
Patriotismus auf, und Rouen war die alte fröhliche Stadt, als der Kronprinz
nun die Truppenschau abhielt. Bei der Rückkehr der Truppen waren die Fenster
fast durchweg mit Zuschauern besetzt, und abends war auf dem Quai ein Völker¬
gewühl, Mit meinen Bekannten und deren Anhang zog ich dann in die Brauerei.
In dem großen Saale wurde eine Kneiptafel hergerichtet, und der Kommers be¬
gann. Es war damals Sitte, daß man zu jedem Glase Bier einen neuen Untersatz
bekam und diesen auf den alten Untersatz setzte, nnr dem Kellner die Kontrolle zu
ermöglichen. So erschöpft ist der Vorrat der Untersätze noch nie worden, wie an
diesem Abend. Als die Kneiplieder durch die offnen Fenster auf die Straße hinaus
schallten, da stauten sich draußen die Massen, und aus ihnen lösten sich immer
wieder Offiziere los, stiegen in den Saal hinauf und schlössen sich der Runde an.
Und die Berge der Untersätze türmten sich höher und höher, daß die Kellner
Grausen erfaßte. So ein Trinken hatten sie noch nicht erlebt.
Und als ich zum drittenmnle in Rouen war, da war es, um heim zu mar¬
schieren. Wer hatte im März von uns geahnt, daß wir durch den Aufstand der
Kommune in Paris noch zwei Monate festgehalten werden würden?
Die ersten Nachrichten davon wurden nicht schwer genommen. Damen, die
Paris zahlreich verließen, ärgerten sich mehr darüber, daß sie gegen alles Her¬
kommen vor dem Beginn der Saison in die Bäder oder die langweilige Campagne
gehn mußten, als daß sie Befürchtungen zeigten. Von ihnen wurde mit größerm
Interesse die Frage erörtert, ob eine bekannte Nouveautehändlerin schon ihren Laden
schließen und mit in die Bäder ziehn würde, als die Frage, wer in Paris die
Ordnung herstellen würde. Aber Paris ohne die gewöhnten Vergnügungen war
zu langweilig, deshalb gingen sie an die Küste. Allmählich wurde die Sache aber
doch ernster, mit den wegwerfenden Bemerkungen über die Leiter des Aufstands
war dieser nicht mehr tot zu machen, und die Erregung griff auch nach der Nor-
mandie hinüber. Die Provinzialbltttter forderten die Provinzialen auf, sich von
Paris nicht am Narrenseil herumführen zu lassen, die Behörden verlangten in
Proklamationen die Unterstützung der legale» Regierung, und die besitzenden Klassen
schickten anch Vertrauensmänner nach Versailles, um dadurch zu zeigen, das; sie
auf seiten der Regierung stünden. Die zu Bettlern gewordne Arbeiter- und
Fabrikbevölkerung aber sympathisierte offenbar mit der Kommune. Züge auf Züge
kamen vou Paris mit Flüchtlingen mich der Normnndie, dort hielten die Deutschen
ja die Ordnung aufrecht, von außen strömten Engländer und Amerikaner herzu,
um sich alles in der Nähe anzusehen, und es entwickelte sich hier im Gegensatz zu
Paris, wo das blutige Ringen der Parteien seinen Anfang genommen hatte, ein
ausgelassenes Leben, an dem sich Deutsche und Franzosen und Engländer nach besten
Kräften beteiligten.
Auch die Kommune hatte dann ausgerungen, und die Ordre zum Rückmarsch
war gekommen. Am letzten Abend saß ich mit dem Maire aus Yerville, bei dem
ein Kamerad im Quartier gelegen hatte, auf dein Quai, um mir noch einmal die
mif- und abwogenden Menschenmnssen anzusehen. Ganz Rouen war ans den Beinen,
es war ein herrlicher Mondscheinabend Ende Mai 1871. Aus der Menschenmenge
trat der Bursche meines Kameraden an den Maire heran und übergab ihm zwei
Briefe mit Photographien, einen für die grau Bürgermeister, den andern für die
Bonne. Hatte er ein Stück seines Herzens in Frankreich gelassen, wie verschiedne
untre Deutsche?
In der Zeit seit dem Waffenstillstand waren viele Beziehungen angeknüpft
worden, man sprach von einer Reihe von Verlobungen deutscher Offiziere und
Soldaten in Rouen und Dieppe nicht nur mit Engländerinnen und Amerikanerinnen,
sondern auch mit Töchtern des französischen Landes. Daß diese Verlobungen vou
dielen Franzosen als Landesverrat angesehen wurden, ist selbstverständlich, namentlich,
als der Kommuneansstand uns noch nicht zu Schützern gemacht hatte. Ich ent¬
sinne mich noch des Entzückens einer Französin darüber, daß eine Landsmännin
von ihr, die Tochter eines der reichsten Fabrikanten Rouens, ihre Liebe zu einem
Kameraden von den Gardedragonern schwer hatte büßen müssen. Der Offizier
hatte einige Wochen bei ihnen im Quartier gelegen und der Tochter den Hof ge¬
macht, daß sie ihrem Vater erklärte, ohne den Preußen nicht mehr leben zu können.
Der alte Herr schwankte zwischen Patriotismus und der Liebe zu seiner einzigen
Tochter. Schließlich siegte die Liebe über alle Bedenken, er teilt dem preußischen
Offizier das Geständnis seiner Tochter mit und will Verhandlungen wegen einer
Verlobung beginnen, als ihn dieser mit den Worten unterbricht: „Aber ich bin ja
verheiratet!"
Andre Verhältnisse fanden jedoch einen befriedigenden Abschluß. In Duclair
lcigen wir längere Zeit während des Kriegs in Quartier, es handelte sich für uns darum,
ein Cafe zu gewinnen, wo wir Eindringlinge wie in einem Kasino Verkehren konnten.
Eines Tags hieß es, daß ein einer jungen Witwe gehöriges Cafe" uns von dieser
zur Verfügung gestellt sei. Wir waren erstaunt, daß eine Frau eine der ersten
war, die gegen den Preußenhaß Front machte, bekamen aber bald den Schlüssel zu
diesem Verhalten. Im Quartier bei ihr lag ein Reserveunteroffizier, seines Zeichens
Monteur in einer großen Maschineubaunnstalt. Wer von ihnen zuerst sein Herz
verloren hatte, weiß ich nicht, aber der Verlust der Herze» war um einmal da,
und die junge Witwe war ins feindliche Lager übergegangen. Zuletzt sah ich sie
beide in Rouen nach der großen Revue aus dem Atelier eines Photographen
herauskommen, er in der Paradeuniform, sie im besten Seidenkleide. Dann, nach
zwei Jahren, als wir friedlich zu Hause waren, und ich an die Geschichte schon
nicht mehr dachte, hörte ich den Schluß. Madame hatte ihr Cafe verkauft und
war eines Tages in der Maschinenbauanstalt erschienen, in der der Monteur be¬
schäftigt war. Dort hatte sie von dem Chef für ihren Geliebten für einige Tage
Urlaub erbeten, hatte ihn dann herausholen lassen und war mit ihm abgezogen.
Am nächsten Tage war in der Fabrik die Nachricht verbreitet, der Monteur habe
sich mit der Französin verlobt, und einige Wochen darauf war die Hochzeit.
Ich sitze auf der Veranda eines Hauses, das die Aufschrift Hötvl av is, marins
führt. Außer mir sind nur noch Engländer da. Wir erwarten die große Flut¬
welle (lo all«oarst), die heute abend die Seine heraufkommen soll. Es ist das
eine Naturerscheinung an der Küste der Normandie, die im übrigen Europa nicht
bekannt ist und ein Seitenstück nur in Südamerika am Amazonenstrom haben soll.
Vor dem Hotel ist der Quai; die Seine liegt träge da, ein Gegenstand, der
im Wasser schwimmt, treibt nur noch unmerklich stromab. Goldige Abenddämme¬
rung liegt ans der Landschaft, die Gruppen der Pappeln um jenseitigen Ufer heben
sich wie Schattenbilder vom leuchtenden Hintergründe ab. Am Strande werden
vom Schiff die letzten Fuhren Heu auf zweirädrige Karren verlade», die Pferde
zu dreien hintereinander davor gespannt, und nun geht es mit „hott" und „hub"
und Peitschenknallen vorwärts. Was an Schiffen und Kähnen ans dem Wasser
liegt, wird jetzt ans das Ufer gezogen oder nach der Mitte des Flusses verankert,
damit es nicht an den Quadern des Quais durch die Kraft des imcscüu'vt, zer¬
drückt wird.
Es wird still und dunkel. Auf der Straße hört man noch Stimmen, die
Personen kaun man aber nicht mehr unterscheide». Plötzlich tauchen bunte Laternen
auf der Straße auf, eine Reihe französischer Radfahrer und Radfahrerinnen fahren
vorüber in lebhafter Unterhaltung. In dem Wnsserdunst, der den Fluß verdeckt,
werden zwei Dampfer hörbar, ihre Signallaterncn gleiten wie rote Feuerkörper
durch die Luft, unter ihnen ein riesiger Schatten, der dunkle Schiffskörper.
Jetzt erscheint in leuchtender Schönheit der Vollmond über dem Fluß, spielend
glitzern zuerst einige Wellen in seinem Glanz, immer zahlreicher vereinigen sie sich,
und schließlich liegt ein breiter langer Lichtstreifen aus dem Wasser. Weder zu
Berg, unes zu Thal ist ein Fließen des Wassers wahrnehmbar. In der ganzen
Natur herrscht eine erwartungsvolle Stille. Ein leises Rauschen kommt plötzlich
weit unterhalb ans dem Strom. Es wird stärker und stärker und kommt näher
und näher, immer mächtiger anschwellend, und jetzt, im Licht des Vollmonds, sieht
man eine mächtige Welle sich erheben, eine unheimlich sich aufrichtende Wand aus
Wasser. Wie ein gehetztes Wild jagt sie die Seine hinauf, stürzt die vier Meter
hohe Anlandestclle herauf und wieder in den Fluß hinab. Ihr nach kommt die
Meute der Wellen, brausend und tosend überschlagen sie sich, und weiter geht die
wilde Jagd die Seine hinauf. Matt und erschöpft sinkt bei Rouen Wild und
Meute zusammen, 130 Kilometer haben sie zurückgelegt. Noch brodelt es eine Zeit
lang im Fluß, hoher und höher steigt das Wasser, dann legt sich die Unrast, und
wie vorhin scheint der Vollmond ans eine ruhige, aber zu Berg gleitende Wasser¬
fläche.
Das ist die berühmte Seineflut bei Caudebee.
Mir fällt dabei das Erstaunen ein, als unsre Leute im Jahre 1870 zum
erstenmal die Flut auf der Seine kommen sahen. Schließlich sagte einer von
ihnen- „En Frankreich es doch allens verreckt, bi vns love dat Woter bloß bargaf,
hier kopt et ok bargop."
(Fortsetzung folgt)
Leider hat uns in dem Artikel „Minimalzölle im Generaltarif" im vorigen
Heft der Grenzboten ein Schreibfehler einen Streich gespielt. Ans Seite 106 soll
es heißen, daß Date seinen Maßstab zur Bemessung der Kvrnzollhöhe im Durch¬
schnittspreis der vierzig Jahre von 1360 bis 1899 (nicht 1890) gefunden hat.
Es ist das vou Bedeutuug, denn er hat dadurch im Unterschiede von andern
Agrariern verstttndigcrweise auch die schlechten Preise der neunziger Jahre mit in
Rechnung stellt.
Wenn in unserm Artikel das vergebliche Bemühen Dades, einen richtigen
Maßstab für die Höhe im Generaltnrif festzulegender Minimalkornzölle zu ge¬
winnen, gegen diese Festlegung überhaupt ins Treffen geführt wurde, so wird die
Unverständigkeit dieser neumodischen Bindung des Rechts des Kaisers bei der
Vereinbarung von Handelsverträgen mich in Bezug auf Jndnstrieschutzzölle durch
folgendes in dieser Frage gewiß sachverständiges Urteil des Zentralverbands deutscher
Industrieller oder doch seiner Mehrheit vollends bestätigt, das in der Denkschrift
des Geschäftsführers des Verbands vom Juli 1900 abgegeben worden ist. Es
heißt dort ausdrücklich, daß die Regierung gar nicht in der Lage sei, „nach den
Angaben der Interessenten einen Minimaltarif zu konstruieren, der ohne Gefahr
für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands im Sinne der Befürworter eines
solchen Tarifs gesetzlich festgestellt werden könnte." Auch der „Wirtschaftliche Aus¬
schuß" werde die befriedigende Lösung dieser Aufgabe nicht gewährleisten können.
Das Urteil über das Minimum des Zollsatzes werde sehr verschieden ausfallen,
wenn die Frage nach der Möglichkeit des Wettbeiverbs mit der ausländischen Ein¬
fuhr und damit des Weiterbestehe»? des betreffenden Produktionszweigs in den
Vordergrund gestellt werde. Dabei werde sich die Thatsache geltend machen, „daß
in ein und demselben Produktionszweige unter sehr verschiednen Bedingungen ge¬
arbeitet wird, und zwar, was hier besonders ins Gewicht fällt, mit verschiednen
Herstellungskosten und demgemäß mit geringerm oder größerm Nutzen." Daß von
diesem Gesichtspunkt ans das Minimum des erforderlichen Zolls sehr verschieden
beurteilt werden könne und auch beurteilt werde, sei zweifellos. In vielen Fällen
würden von den Produzenten auch absichtlich höhere als die durchaus erforderlichen
Minimalzölle als solche angegeben werden. Das Verlangen, von vornherein den
Zollsatz anzugeben, der beim „Schutz der nationalen Arbeit" den geringsten Nutzen
küsse, rufe einen scharfen Konflikt mit dem Eigennutz hervor, und es sei entschuldbar,
wenn dieser den Sieg davontrage. Das sei bei der Anhörung von Sachverständigen
zur Vorbereitung des deutsch-russischen Handelsvertrags wiederholt vorgekommen.
Die schutzzöllnerischen Gegner der Festlegung von Minimalzöllen im General-
tarif wollten in ihm, als dem Verhandlungstarif, verhältnismäßig hohe Sätze be¬
willigen, die bei angemessenen Zugeständnissen des Mitkoutrahenten entsprechend
ermäßigt werden könnten und sollten. Schon der Umstand, daß in großen Produk¬
tionszweigen Gegensätze bestünden, die dnrch Befragen der Interessenten auszugleichen
kaum gelinge» dürfte, lege der Regierung die Pflicht auf, unter voller Berück¬
sichtigung aller einschlagenden Verhältnisse „das letzte entscheidende Wort zu sprechen."
Daß die Regierung mit ihrer Aktion allen genügen könnte, sei ausgeschlossen. Aber
sie sollte in dem sich sicher noch verschärfenden Kampf der entgegengesetzten Mei¬
nungen „unentwegt und fest die Führung nehmen." Nur so wäre zu hoffen, daß
die Neuregelung der Handelspolitik Deutschlands, ein Werk, das in jeder Beziehung
grundlegend sein werde für die Gestaltung der Geschicke des Vaterlands, zu einem
gedeihlichen Ende geführt werden konnte.
Es ist uus nicht bekannt geworden, daß von der Mehrheit der im Zcutralverband
vertretnen schutzzölluerischen Großindustriellen für diese so einleuchtenden, vernünf¬
tigen und konservativen Grundsätze erfolgreich weitergekämpft worden sei. Leider
haben sie in der Denkschrift selbst den agrarischen Minimalzöllner» Wasser auf die
Mühle gegossen, indem sie darin sagte»: alle, auch die gemäßigtsten an dem Prinzip
des Schutzes der nationalen Arbeit festhaltenden Kreise betrachteten die Herabsetzung
der Brotgetreidezölle von 50 auf 35 Mark durch die jetzt geltende» Handels¬
verträge „als de» größte» Fehler, der i» der deutschen Zollpolitik gemacht werden
konnte." Daß das eine heillose Übertreibung ist, hat Buchcnberger schou 1897 durch
den Hinweis darauf gezeigt, daß die Zollerhöhung von 30 auf 50 Mark im
Jahre 1887 ansgesproch»ermaßcn gerade deshalb vvrgemnnme» wurde, daß man
für spätere Hnndelsvertragsverhandlnngen ein wirksames Kompensationsobjekt in der
Hand habe. Der „neue Kurs" hat hier also nur Bismarckische Politik getrieben.
Daß der Zentralverbnnd durch sein Schönthun mit der agrarischen Fronde diese
in ihrer Hartnäckigkeit wesentlich bestärkt hat, ist zweifellos. An ein energisches
Eintreten des Zentrnlverbands gegen die Minimalzölle jetzt noch, kurz vor Thor¬
schluß, kaun man Wohl kaum mehr glauben.
Um so dringender aber sollten die unabhängigen konservativ und monarchisch
denkenden Leute dafür eintreten, daß dem Kaiser sein Recht, eine parlamentarische
Jntcressenwirtschcift zu verhindern, durch nichts beeinträchtigt werde. Solange die
Reichstagsmehrheit auf Minimaltarife in, Generaltarif besteht, sollten die Handels¬
Schanghai, im Februar. Unter den Menschen, denen
man in der chinesischen Frage ein Urteil zutrauen kann, giebt es vielleicht nicht zwei,
die auch nur in den Hauptpunkten ungefähr derselben Meinung wären. Vor allem
gehn die Ansichten über die Gründe des unerwarteten und plötzlichen Ausbruchs vom
vorigen Sommer noch immer weit auseinander. Eine einwandfreie und erschöpfende
Darstellung dieser Ursachen ist deshalb jetzt noch nicht möglich. Was im Folgenden
geboten wird, sind vielmehr nur einzelne Gedankenspäne eines Beobachters, der seit
zwanzig Jahren in China lebt, und der der Entwicklung der Dinge aufmerksam
gefolgt ist.
Zuerst ein Wort über die Frage, ob China vom Abendlande zu schlecht be¬
handelt worden ist. Daß hierüber gerade in deutscheu Zeitungen mehr zu lesen
stand als in denen irgend eines andern Landes, beruht uicht auf Zufall. Deun
die große Tilgend unsers Volkes, an Gerechtigkeitsgefühl allen andern Völkern
voranzuftehn, ist leider von der Schattenseite begleitet, daß wir auch in politischen
Fragen, die doch zunächst Mnchtfragen sind, zu viel über Recht und Unrecht Spintisieren,
und dies ist unter Umständen sehr vom Übel. Die armen Chinesen sollen in
patriotische Verzweiflung darüber geraten, sein, daß ihnen nach einander Kiautschou,
Port Arthur und Weihaiwei lveggenommen worden sind. Der diese Ansicht ver¬
tretende Teil der deutscheu Presse erhielt eine unvermutete Unterstützung in Männern
mit Namen von solchem Klänge, wie Herr von Brandt und Sir Robert Hart.
Auch sie glauben die Boxerbeweguug hauptsächlich auf patriotische Antriebe zurück¬
führen zu müssen. Aber die große Mehrzahl der Kenner des alten Reiches der
Mitte ist trotz dieser Autoritäten andrer Ansicht. Zwar kann man zugeben, daß
es einige weiße Naben unter den Mandarinen giebt, denen die schlimme Lage ihres
Landes echten und tiefen Schmerz bereitet, doch das sind Ausnahmen; die aller¬
meisten Beamten denken nur an ihren Geldbeutel. Sie würden allerdings sämtlich
die Fremden am liebsten ganz wieder loswerden, wenn sie nur wüßten, wie sie das
anfangen sollten; aber sie haben ganz gesunden Menschenverstand, einzusehen, daß
dies nicht möglich ist. Deshalb finden sie sich, mit Ausnahme der unbelehrbarer
Elemente in der Umgebung der Kaiserinwitwe, mit der unbequemen Thatsache der
Gegenwart der Europäer ab und trösten sich damit, daß diese sie noch wenig in
ihrer Hauptbeschäftigung, der Gelderpressung, gestört haben. Der großen Menge
des Volks endlich ist es gleichgiltig, wer sie regiert, so lauge man sie nur uicht
allzu sehr bedrückt und nicht in ihre Lebensgewohnheiten eingreift. Will einer
übrigens ganz ehrlich sprechen, so muß er einfach erklären, daß er außer stände sei,
überhaupt eine Auskunft über die Stimmung der Masse des Volkes zu geben So
etwas ist doch in Europa selbst oft schwer. In China, wo es erst eine sehr wenig
entwickelte Presse giebt, bleibt nichts übrig, als aus einzelnen Anzeichen auf die
Volksstimmung zu schließen, und diese Anzeichen deuten meistens auf eine große
Gleichgiltigkeit in Fragen der hohen Politik hin.
Die Boxerbcweguug ist schwerlich aus dem Haß gegen die Fremde» entstanden.
Wahrscheinlich wurde sie ursprünglich durch eine anhaltende Dürre in der Provinz
Schenkung veranlaßt. Als sie dann allmählich einen bedeutenden Umfang annahm,
scheint der altchinesischen Partei am Pekinger Hofe plötzlich der Gedanke gekommen
zu sein: Diese Menschen, die sich unverwundbar zu machen versteh», lassen sich gewiß
vorzüglich zur Vertreibung der fremden Teufel verwenden! Welcher Prinz oder
hohe Mandarin zuerst einen solchen Einfall gehabt hat, wird sich wohl nicht mehr
mit Sicherheit feststellen lassen. Vermutlich ist es Prinz Trau gewesen; es kommt
aber im Grunde wenig darauf ein. weil alle Altchinesen sofort begierig auf den
Gedanken eingingen. Es fehlte nicht an warnenden Stimmen einzelner Mandarinen,
aber sie verhallten ungehört. Die ganze Regierung schien wie von einem Taumel
ergriffe» und nur noch darauf aus zu sei», den verhaßten Ausländern möglichst
rasch de» Garaus zu machen. Hier liegt anch der Schlüssel zum Verständnis dafür,
wie es eingehn konnte, daß die Gesandten nicht bester über die Absichten der Re¬
gierung unterrichtet waren, und daß ihnen die Sache so sehr plötzlich über den
Hals kam. Man hat ihnen dies zum schweren Borwurs gemacht; ich glaube jedoch
sehr mit Unrecht. Denn obwohl sie allerdings wissen konnte», daß bis in die höchsten
chinesischen Kreise der krasseste Aberglaube herrscht, so waren doch weder sie noch
irgend welche andern in China lebenden Europäer darauf vorbereitet, daß die Kcnserm-
witwe und ihre Umgebung die Boxer für kugelfest halten würden. Dies muß aber
thatsächlich der Fall gewesen sein. ' Nur so ist es zu erklären, wie die Pekinger
Regierung zu dem hellen Wahnsinn kam. ganz Europa. Amerika und Japan den
Fehdehandschuh hinzuwerfen. Ein dermaßen starkes Stück von Aberglauben konnte
aber kein Gesandter voraussehen.
Einige deutsche Zeitungen habe» keinen Anstand genommen, die Besitznahme
von Kiautschou für die Bewegung verantwortlich zu macheu. Diese Besetzung war
indessen nnr ein Glied, und keineswegs das erste Glied, in einer Kette ähnlicher
Ereignisse, wie das iwch jüngst Herr von Brandt nachgewiesen hat. Will man
durchaus einen einzelnen Vorgang aus den Ereignissen der letzten Jahre heraus¬
greifen, der deu Altchinesen unangenehmer gewesen sein muß als irgend etwas
andres, so ist es der Empfang des Prinzen Heinrich am kaiserlichen Hofe in Peking.
Das ist meines Wissens noch nirgends gebührend hervorgehoben worden, obgleich
es die größte Beachtung verdient, da es der Schlußstein der Entwicklung eines
halben Jahrhunderts ist. Die Wegnahme dieses oder jenes Stückchens Land ver¬
letzte den lächerlichen altchinesischen Stolz lange nicht so empfindlich wie die un¬
erhörte Neuerung, daß ein ans einem der fernen und verachteten Barbarenländer
des Westens kommender Prinz vom Sohne des Himmels als gleichberechtigt be¬
handelt wurde. Da muß man sich um Hofe gesagt daheim So weit ist es also
glücklich mit uns gekommen! das darf sich ans keinen Fall wiederholen, und es wird
wirklich hohe Zeit, daß wir dem ganzen ausländische» Spuk in unserm Reiche, der
ohnedies schon viel zu lauge gedauert hat, schnell und gründlich ein Ende machen! Die
unverwundbaren Boxer kamen dann wie gerufen, diesen Plan durchführen zu helfen.
Deutschland hat mit dem Besuche des Prinzen Heinrich im Pekinger Kaiser¬
palast sicherlich einen bedeutenden Anstoß dazu gegeben, den Stein in Ostasien ins
Rollen zu bringen. Dieser große Erfolg unsrer Politik führt uus zu der Frage
hinüber: Was hat überhaupt das Abendland in den letzten fünfzig Jahren von
China gewollt? Hierauf lautet die Autwort! Es hat ursprünglich gar keinen Land¬
erwerb beabsichtigt, sondern es hat die Chinesen, ebenso wie die Japaner, nur
veranlassen Wollen, unter erträglichen Bedingungen Ware» auszutauschen. Das ist
aber sicherlich kein Unrecht. Kein Land auf der Erde kann sich auf die Dauer
völlig von den übrigen Ländern abschließen. Auch die Chinesen haben dies nicht
gethan, sondern sie haben immer Handelsbeziehungen zu andern Ländern unter-
halten. Der chinesische Hof hat dabei jedoch zugleich immer den Anspruch erhoben,
daß es als eine große Gnade angesehen werde, wenn der hoch über allen andern
Herrschern thronende Sohn des Himmels solche Beziehungen erlaubte. Als nun
um die Mitte des abgelaufueu Jahrhunderts die weißen Männer aus dem Westen
diese Ansicht etwas anmaßend fanden, und als sie versuchte», die Chinesen davon
abzubringen, da mußte es bei der starren Uunachgiebigkeit des Pekinger Hofes
notwendigerweise zu Zusammenstößen kommen. Das ist in kurzen Worten die ganze
Geschichte von der angeblichen Mißhandlung der armen Chinesen durch die bösen
Abendländer. Eine scheinbare Unterstützung erhielt die Auffassung von der zu
schlechten Behandlung der Chinesen dnrch den ersten Krieg der Engländer gegen
China. Die Bezeichnung dieses Krieges als Opiumkrieg hat bis zum heutigen Tage
die größte Verwirrung angerichtet. Denn sie führte zu der Meinung, daß die
Engländer nnr deshalb zu den Waffen gegriffen hätten, weil sie den Chinesen das
Opium hätten nnfzwingen wollen. Für jeden Kenner der damaligen Verhältnisse
kann es jedoch gar keinem Zweifel unterliegen, daß der unerträgliche Hochmut der
Mandarinen die Hauptursache des Bruches war, der ebenso gut eingetreten wäre,
wenn es sich nicht um die gewaltsame Beschlagnahme von Opium, sondern um die
von irgend einer andern Ware gehandelt hätte.
China ist dann fortgesetzt nicht zu schlecht, sondern im Gegenteil viel zu gut
und mit übergroßer Nachsicht behandelt worden, die den Mandarinen als Schwäche
erschien. Das Abendland hat der Pekinger Regierung wahrlich Zeit genug ge¬
lassen, sich in die veränderten Verhältnisse zu schicke», wie es die Japaner mit so
großem Erfolge gethan haben. Die Altchinesen verstanden diese Zeit aber nicht zu
benutze», und jetzt müssen sie die Folgen ihrer Unterlassung tragen. Die Dinge
hier liegen im allgemeine» den Bewohnern von Enropa, die gewöhnlich genug mit
ander» Sachen zu thun haben, so fern, daß nur ganz außergewöhnliche Ereignisse,
wie der Krieg mit Japan oder der Angriff auf die Gesandtschaften, ihre Angen
für längere Zeit hierher zu lenken vermögen. Das war der Grund, weshalb die
Mandarinen bei kleinern Übergriffen, die sie sich immer wieder zu Schulden kommen
ließen, mit Hilfe ihrer Verschlepvnngspolitik regelmäßig straflos ausgingen. Das
chinesische Auswärtige Amt (Tsnngli Damen) war von Anfang an so eingerichtet,
und es war seit den vierzig Jahren seines Bestehns immer so besetzt, daß es den
Verkehr mit dem Auslande nicht förderte, sondern hinderte. Natürlich mußte auch
hier der Krug endlich einmal brechen. Hat er jetzt aber einen so starken Stoß
bekommen, daß er nicht wieder ausgebessert werden kann, oder wird der altchinesischc
Hochmut doch noch wieder obenauf kommen? Dies ist die große Frage der Zukunft.
Fast will es scheinen, als ob sich das sprichwörtliche Glück, das die Chinesen immer
wieder in politischen Angelegenheiten gehabt haben, noch einmal zeigen wollte. Um
den Pekinger Brei sind aber viel zu viel Köche versammelt. Die Kriegserklärung
an alle Mächte, die anfangs als der Gipfel der Verrücktheit erscheinen mußte, ist
für die chinesische Regierung jetzt geradezu vorteilhaft geworden. Denn hätten nur
zwei oder drei Mächte mitzusprechen, und wären vor allen Dingen die ihre Sonder-
zwecke verfolgende» Russen und Amerikaner aus dem Konzert heraus, so würde
man viel einfacher und leichter zum Ziele gelangen können.
In aller Geschichte ist es uoch nicht vorgekommen, daß europäische Mächte ein
Land, das längst Unterjochung verdient hätte, schließlich doch wieder sich selbst über¬
lassen müssen, weil alle Welt vor der Riesennnfgabe zurückschreckt, dreihundert oder
vierhundert Millionen Menschen auszuteilen und dann ordentlich zu regieren. In
der ganzen Entwicklungsgeschichte der Menschheit hat es niemals eine so kompakte
Masse von Individuen mit derselben Sprache, denselben Sitten und derselben
Lebensauffassung gegeben, wie es die Chinesen sind. Das Reich der Mitte ist ein
ungefüger Stehimwege für die Ausbreitung der europäischen Kultur. Zu keiner
Zeit Hot es an abendländischen Bewundrern der chinesischen Zivilisation gefehlt,
und es fehlt auch jetzt nicht daran. Einige von ihnen sind nicht ohne Sorge für
unsre Kultur, wenn sie an den bevorstehenden Kampf zwischen ihr und der Zivili¬
sation der Chinesen denken. Aber der Umstand, daß die Chinesen auf eine jahr¬
tausendealte Zivilisation zurückschauen können, beweist noch nichts für deren Stärke.
Ihre ganze Entwicklung ist vielmehr einfach in den für eine Isolierung außer-
ordentlich günstigen geographischen Verhältnissen begründet. Der Sieg der chine¬
sischen Zivilisation hat schon darum wenig Wahrscheinlichkeit, weil sie längst erstarrt
und deshalb unfähig zum Kampf ist, während sich die Kultur des Abendlandes
durch langes und unermüdliches Ringen gestählt hat.
In der Versammlung des allgemeinen deutsche»
Realschulmännervereins, die in der Osterwoche zu Kassel stattfand, hat Friedrich
Pa Ulsen, der bekannte Historiker des gelehrten Unterrichtswesens in Deutschland,
eiuen Vortrag über „die höhern Schulen und das Universitätsstudium um zwanzigsten
Jahrhundert" gehalten. Darin tritt er energisch für die Gleichberechtigung der
Realgymnasien ein und sieht das Haupthindernis dafür in dem Widerstreben der
Juristen. Ganz unsre Meinung, obwohl wir von einem wesentlich verschiednen
Standpunkt ausgehn. Aber sehr entschieden zurückweisen müsse» wir die innere
Begründung dieser Gleichberechtigung, daß nämlich der Idealismus der humamstlsche»
Gymnasien „veraltet" sei. denn er sei. wie der frühere Idealismus überhaupt,
»»sthetisch-litterarisch-romantisch"; der moderne Idealismus, wie ihn vor allem
Bismarck vertreten habe, sei mehr ein Idealismus der That, der Arbeit, der Hin¬
gebung an die großen Zwecke des Gemeinwesens und des Vaterlands. Gewiß ist
diese Beobachtung ganz richtig; aber wer heute dem himinuistischen Gymnasium nach-
sagen kann, es huldige schlechthin diesem „veralteten" Idealismus und pflege den neuen
nicht, der zeigt nur, daß er von dem gegenwärtigen Gymnasium nur eine höchst
unklare Vorstellung hat. Diesen „modernen" Idealismus hat es seit Jahrzehnten
gepflegt, ehe noch vom heutigen Realgymnasium die Rede war: es Pflegt Vater-
ländische Geschichte und Litteratur mindestens ebenso sehr als dieses, und es führt
in den Gestalten der antiken Welt doch wahrhaftig Vertreter der Hingebung an die
Ideen des Staats und des Vaterlands in solcher Bedeutung und solcher Fülle vor,
wie sie die englische und die französische Kultur kaum bieten. Zu ästhetisch-roman¬
tischen Träumern erzieht das humanistische Gymnasium seine jungen Leute wahr¬
haftig nicht; aber es will ihnen allerdings auch die großen ästhetischen Ideale der
frühern Zeit nicht nehmen lassen, deun zu unsrer nationalen Bildung gehören diese
gerade so gut wie der moderne Staats- und Vaterlandsgedanke. Wehe uns, wenn
sie uns jemals verloren gingen! Bei dem Mangel an Formen- und Schönheits¬
sinn, der nun einmal germanische Menschen charakterisiert, sind sie uns noch not¬
wendiger als unsern romanischen Nachbarn.
Es Wäre gar nicht der Mühe wert, eine falsche Ansicht wie die i» Kassel
von Paulsen vorgetragne zurückzuweisen, und hundertmal bis zur Ermüdung Ge¬
sagtes zum huudertuudersteumale zu wiederholen, wenn es eben nicht Paulsen wäre,
der sie ausgesprochen hätte, und wenn nicht die Herdenstimmung unsrer gewöhn¬
lichen Tagespresse in pädagogischen Dingen blind jeder ihr imponierender Autorität
nachliefe. Das häßliche Kampfmittel, die Herabsetzung der Leistungen und der Ziele
des humanistischen Gymnasiums, mir um Stimmung für das Realgymnasium zu
machen, sollte man doch jetzt, wo sich die Vertreter des Humanismus selbst für die
Gleichberechtigung beider Schulgattungen ausgesprochen haben, und diese grundsätzlich
schon anerkannt ist, endlich im Winkel lassen, das ist wirklich „veraltet." Die Zu¬
kunft wird ja zeigen, welche Schulgattnng die innerlich wertvollere und edlere
Bildung vermittelt; theoretische Erörterungen darüber, namentlich, wenn sie von einer
so mangelhaften Sachkenntnis ausgehn, sind jetzt das Überflüssigste von der Welt.
Wir fanden diesen aus dem Französischen ins
Kauderwelsche übersetzten Wahlspruch in einem Feuilleton, das der Oger heißt, und
an dem wir sonst nichts auszusetzen haben. Es hat einen angenehm säuerlichen,
an marinierten Hering erinnernden Geschmack, und da das toujom'Z sur la vscietw
einem der schwarzen Lützowschen Jäger in den Mund gelegt wird, so wäre es — wenn
überhaupt sprachlich denkbar — auch sonst am Platze. Französische Brocken waren
unsern Freiheitshelden der dreizehner und vierzehner Jahre ebenso eigen wie echt
deutsche Gesinnung.
Aber freilich wujour« sur la vociLtts ist eben leider ein Unding, das einem
geradezu den Atem nimmt. Und was das schlimmste dabei ist, ein komisches Un¬
ding. Wenn die Kosaken noch Ungeziefer hätten, was, wie uns ihre Freunde, die
Franzosen versichern, nicht mehr der Fall ist, seitdem Rußland und Frankreich ver¬
bündet sind, könnte die Devise in der beim Oger vorkommenden Fassung zur Not
— wir sage» ausdrücklich zur Not — einem besonders unternehmungslustigen Floh
in den Mund gelegt werden. Man müßte sich dann vorstellen, daß er elektiv-
migrntiv lebte und sich mit Hilfe eiuer Reihe wohlberechneter Sprünge jedesmal
dem Iwan oder Pietr anschlösse, der als Vedette vorzugehn oder zurückzubleiben
hätte. Wenn uns der gute selige Frcmcisque Sarcey vordemonstriert hätte, daß
auch das nicht ganz mit dem Sprachgebrauch harmoniere, sondern ihm leichte
Gewalt anthue, so würden wir klein beigegeben haben, denn es liegt uns selbst nicht
recht auf der Zunge, Vedette im Französischen zur Bezeichnung des als Vedette
haltenden Kavalleristen zu gebrauchen.
Wir sprechen zwar im Deutschen von Doppelvedetten und vom Ausstellen von
Vedetten, über es dürfte uns mit der Vedette wie mit andern dein Französischen
entlehnten Wörtern gegangen sein. Während wir das Wort in unsrer Weise ge¬
brauchten, kam dafür drüben ein von unsrer Auffassung verschiedner Usus auf. Wir
erinnern mir an das französische Wort für Beet (x>a>rwrro alö üours, Mi-torrs as
souvorsills in Erfurt), das wir für Erdgeschoß gebrauchen, während es in diesem
Sinne dem Franzosen, der bekanntlich i-ku-av-eMmWeci sagt, völlig unverständlich ist.
So hat sich auch das Wort vscistts drüben modernisiert. Seitdem die beweg¬
lichen oviaiiours an die Stelle der unbeweglichen Vedetten getreten sind — bei
Beaumont konnte man allerdings sagen, aus les uns et les antros tritt-riont o^r
Isur a,d8MLg - , hat die Vedette die Uniform ausgezogen und erscheint gern
schwarz auf weiß in bürgerlichem Gewände als Schwabacher oder Kaisergotisch;
fere Meo su vsästto wird von Ziffern, Worten oder Titeln gesagt, die allein stehn,
die mau vom Gros der übrigen Buchstaben abgesondert hat, nicht wie man einen
oder zwei Kavalleristen vorschiebt oder zurückläßt, damit sie das Terrain beobachten,
ohne selbst gesehen zu werden, sondern im Gegenteil, damit das on voävtto Gestellte
nnffalle und die Aufmerksamkeit des Beschauers auf sich ziehe,
'
Iousonls on veäötts hätte denn auch der Verfasser des „Oger" seinen alten
Grimmbart sagen lassen sollen: oder wenn es durchaus mit sur sein mußte, tousours
hin- Zo ,un-vive. Vielleicht hat ihm das vorgeschwebt, und am Ende ist das Un¬
glück ja nicht groß. Die Erzählung bleibt doch recht wirkungsvoll und angenehm
zu lesen. Möglich auch, daß der alte Herr die französischen Glocken nur hatte
läuten hören und nicht zusammenschlagen. Wenn die Sache so fein gemeint war
s
Se.
Die allgemeine Ansicht setzt die Wohnsitze
dieses deutschen Stammes nach Westfalen, Doch hatte schon A. Werneburg, königlich
Preußischer Oberförster, in seiner Abhandlung „Die Wohnsitze der Cherusker und
die Herkunft der Thüringer" (Jahrbuch der Königlichen Akademie gemeinnütziger
Wissenschaften zu Erfurt/N. F. X, 1880) die Cherusker nach dem Lande zwischen
Werra, Harz und Mittelelbe gewiesen. Den Spuren der Cherusker allein bei den
alten Autoren nachgehend kommt Ernst Devrient in Jena lMvberheft 1900 der
Neuen Jahrbücher für das klassische Altertum usw.) zu demselben Ergebnis. Er
geht davon aus, daß die bei Cäsar voll, «all. VI, 10 erwähnte Rae,so8 Lilvs,
nicht das waldreiche Gebiet der Mittelweser ist, denn wenn sich nach Cäsar die Sueven
vor den bei Koblenz über den Rhein vordringenden Römern ostwärts bis zur
LilvÄ MevmL, die die Sueven von den Cherusker» scheidet, zurückzogen, so fanden
sie sich nach wenig Tagemärschen an den Wäldern und Schluchten der Hohen Rhön
mit ihren Ausläufern. So heißt auch die Gegend von Fulda schon Anno 742 IZoeoniÄ
Lilvg. in der Chronik des Siegbert, wo von der Gründung des Klosters Fulda
in Loeouis, Lilv-i. die Rede ist. Davon abgeleitetes „Buchenau und Buchen"
findet sich „och im achtzehnten Jahrhundert. Heißt es weiter bei Cassius Dio-
„Drusus gelangte ins Cheruskerland bis zur Weser," so ist mit der Flußbezeichnuug
die Werra gemeint. Früher nannte man den Oberlauf der Weser ebenfalls VisurZis,
und erst im elften Jahrhundert tritt Werra (aus Msarada) auf. Drusus zog über
»der südlich um die Rhön und erreichte die Chernskergrenze ungefähr bei Ostheim.
Bei Satzungen etwa überschritt er die Weser und durchzog Thüringen, bis er Saale
und Elbe erreichte. Keines andern Volkes Name wird erwähnt, somit haben die
Cherusker dieses Gebiet allein bewohnt. Was nun Taeitus I, 56 ff. betrifft, so
wurde Varus von den Chernsl'ern nach der Weser hingelockt. Sicher ist für Devrient,
dem auch die Müuzfunde bei Barenau ohne Waffenfunde nichts beweisen, daß der
Teutoburger Wald nicht im Lande der Cherusker lag. Während im Jahre 15 n. Chr,
Germanicus die Charten überfiel und Cäciua die Cherusker erschreckte, kam dieser gar
nicht in das Chernskergebiet. Auf seinem Rückzüge verbrannte Germaniens Mattinin,
das Devrient mit Maden bei Gudcnsberg identifiziert. Die mit den Chernskern Ver-
bundnen Marsen waren zwischen Dienet und oberer Lippe zu Hause. Nach dem
Besuche des Germmücus im Teutoburger Wald (Tac. aun. I, 61) muß auch noch am
linken Ufer der Mittelweser, also außerhalb des Landes der an der obern Weser
wohnenden Ehernster gekämpft worden sein. Bei Taeitus ist auch später (con. II, 5 ff.)
noch von einem Grenzwall die Rede, den die Augrivarier gegen die Cherusker
errichtet hatten: er war bei dem Dorfe Wahlhausen (Waldufer) bei Allendorf gegen¬
über Bad Sooden. Hier ist die nordwestliche Chernskergreuze anzunehmen. Denn
nach der Schlacht von Jdistaviso zogen die Römer südöstlich und erreichten die
Cherusker bei der Werra (Eichsfeld). Bei Allendorf findet sich noch eine Römer-
schanze, und auch Münzen aus augusteischer Zeit wurden aus dein Boden gezogen.
Von den Angrivariern hatten die Römer im Rücken zu fürchtein sie saßen abwärts
vom Meißner und Sooden. Nach dem Tode Arnims wurden die Cherusker von
den Chadem über die Werra hinübergedrängt, wahrend sie früher noch fast bis zur
Fulda gereicht hatten. Nordöstlich hatte sich ihr Gebiet bis an die Mündung der
Saale und Mulde erstreckt; das Land um Leipzig war chernskisch gewesen. Endlich
ist auch der Meliboeus deS Ptolemcius II, 11, 8 der Thüringerwald; denn da ist
auch die Weserquclle. Während also nach Devrient der Stamm der Cherusker
westlich uoch über der Werra, nördlich ungefähr bis zur Linie Sooden bis Wurzen,
östlich längs der Mulde, südlich an der Linie Zwickau bis Ostheim gewohnt haben
soll, ist er in historischer Zeit nicht mehr aus dem eigentlichen Thüringen herauf¬
gewandert. Diese Feststellungen ans Grund der Autorenberichte als sicher be¬
trachtend, hat Devrient jetzt auch (Neue Jahrbücher vom 12. Februar) die Sitze
der Hermunduren und Markomannen, die weniger seßhaft waren als das Volk
Hermanns, festzulegen versucht. Die Hermunduren wohnten zu Tiberius Zeiten zu
beide» Seiten der Elbe und nahmen dann die Wohnsitze der Markomannen ein,
als diese aus dem Laude zwischen Frankenwald und Elbe ins Böhmische hinein¬
Die traurigen Enthüllungen, die die
Sternbergaffaire sowohl in der Hauptsache als auch in Bezug auf höher gestellte
Beamte der Berliner Kriminalpolizei (Polizeidirektor v. Meerscheidt-Hüllessein, Po-
lizeikommissar Thiel) gebracht hat, und bei deuen man sich auch wieder an den be¬
rühmten oder berüchtigten Tanschprozeß erinnert, lenken die öffentliche Aufmerksam¬
keit von neuem auf die Frage, wie derartigen Vorkommnissen vorgebeugt werde»
könne, durch die das Ansehen der Polizei zweifellos in hohem Grade gefährdet
wird. Dieses möglichst unversehrt zu erhalten, erscheint aber in unruhigen Zeiten,
wie die gegenwärtigen sind, doppelt notwendig. Die Spitzen der Behörde können
hier Gott sei Dank völlig außer Betracht bleiben. Das ist ja einer der Vorzüge,
den die Verhältnisse bei uns vor denen in Frankreich voraus haben, daß die füh¬
renden Persönlichkeiten fast nnsnahmlos von jedem sittlichen Vorwurf in dienstlicher
Beziehung frei find. Was aber die Kommissare usw. betrifft, so scheint uns der
Grundfehler darin zu liegen, daß man in Berlin und vielleicht auch in andern
deutscheu Großstädten diese lediglich ausführenden Organe allzusehr aus den vor¬
nehmern Klassen wählt. Man vergleiche den Titel „Polizeipräsidium" im Berliner
Adreßbuch! Für solche, die a» gesellige» Umgang feinerer und deshalb kostspie¬
ligerer Art gewöhnt sind, ist die unerläßliche (wenn mich nur dienstliche) Berührung
mit finanziell reich ausgestatteten Kreisen mehr als für andre gefährlich. Vielleicht
le französische politische Presse ist im allgemeinen ziemlich zurück¬
haltend gewesen bei der scheinbaren Annäherung zwischen Deutsch¬
land und England, die sich nach der Meinung der deutschen
Presse gezeigt hat, als Krügers Besuch in Berlin zurückgewiesen
wurde, der Kaiser längere Zeit in England verweilte, und der
Schwarze Adlerorden an General Roberts verliehen wurde. Andre, ruhiger
und rationeller urteilende Organe haben freilich immer von neuem darauf hin¬
gewiesen, daß diese Vorkommnisse des tiefern politischen Hintergrunds entbehren,
lind das; der Reichskanzler ohne Zweifel berechtigt war, vor dem Reichstage
zu erklären, daß eine Änderung unsrer Beziehungen zu England durchaus
nicht eingetreten sei, und daß etwaige Bündnisgedanken uns jetzt genau so fern
lägen wie bisher. Wenn demnach die Besorgnisse gewisser deutscher Preßorgane,
daß eine zu große Annäherung an England und damit eine offenbare Ver¬
letzung der Neutralität gegenüber den englisch-burischen Differenzen ins Werk
gesetzt worden sei, vollständig unbegründet ist. so erschien es doch auffallend,
daß die französische Presse, die gewohnt ist, ans Deutschland nach jeder Rich¬
tung hin ein wachsames Ange zu richten, auf diese freundschaftlichen Be¬
thätigungen und besonders ans den langen Aufenthalt des Kaisers in England
nuscheinend sehr wenig Wert legte, und daß Befürchtungen, als könnten
Bimduisgedauken gepflegt werden, nicht zu Tage traten.'
Anders ist es miteinem Teil der französischen militärischen Presse, und
es erscheint uns als sehr beachtenswert, daß beispielsweise in der l?rare,<z
wiüwirs ein militärischer Mitarbeiter — Oberst Gremion — ganz unverhohlen
von einer iMM<n M^o-allsm-Mac spricht und deren Konsequenzen zum Gegen¬
stand der Erörterung macht. Er schreibt: „Das englisch-deutsche Bündnis
schafft für uns noch größere Gefahren (d. i. als die vorher besprochne Erweite¬
rung der Befestiqnngen von Metz). Trotz des Widerspruchs seiner Völker
wird sich der Kaiser, 'der ein ganz bestimmtes Ziel verfolgt, mehr an England
anschliche», dessen Mitwirkung ihm durchaus notwendig ist für die Angliede-
ruug der deutscheu Provinzen Österreichs an heilt Reich; diese Erwägung wird
für ihn immer an erster Stelle stehn." Und später heißt es: „Der Kaiser
wird die ihm zur Verfügung gestellten Land- lind Seestreitkräfte benutzen, um
über die Nordostgrenze in Frankreich einzudringen, indem er zugleich einen
energischen Landuugsversuch an unsern Küsten macht. Zur Durchführung
dieses Unternehmens wird er die alliierte Flotte, als Beherrscherin des Meeres,
zu seiner Verfügung haben und außerdem besondre Trausportfahrzeuge, die
seine Truppen ans Land setzen." Der direkte Zweck dieser Betrachtungen war,
die Aufmerksamkeit der leitenden Stelle auf die Land- und Kiistenbefestiguugeu
Frankreichs hinzulenken und vor allem vor ihrer Verminderung, die schon seit
zwei Jahren als Projekt vorliegt, zu wnrueu. Vor zwei Jahren, um
24. Februar 1899, legte nämlich der damalige Kriegsminister Freycinet den
Kammern einen Gesetzentwurf vor zu einer veränderten Klassifizierung der
Laudesbefestiguugeu. In den Motiven hieß es, daß das System der Be-
festigungen schon seit dem Jahre 1885 in einer .Krisis sei, die in der Haupt¬
sache durch die Erfindung neuer Geschütze und Geschosse hervorgerufen werde.
Die bisherige^Art der Befestigung habe keinen genügenden Schutz mehr gewährt,
und mau sei deshalb genötigt gewesen, Panzerungen für die Artillerie und
betonierte Unterliiuftsräuine für die Mannschaften und das Material anzu¬
nehmen. Wenn diese Maßregeln ohne Zweifel zweckentsprechend seien, so
hätten sie andrerseits den Nachteil, sehr kostspielig zu sein. Die iwtwenoigsteu
dieser Bauten, Veränderungen und Verbesserungen haben in deu letzten Jahren
bei den wichtigsten Festungen stattgefunden; die Höhe der erforderlichen Aus¬
gaben Hütte es aber nahe gelegt, zu erwäge», ob dies in demselben Maße für
alle Festungen möglich und erforderlich sei. Da nun deu befestigten Plätzen
im Kriege sehr verschiedne Aufgaben zufallen, so habe dementsprechend die
Notwendigkeit ihres veränderten Aufbaus beurteilt werde» müssen, und mau
sei auf dieser Grundlage dahin gekommen, eine Neueinteilung aller festen Plätze
»ach dem Grade ihrer strategischen lind defensiven Wichtigkeit vorzunehmen.
Das Gesetz vom 10. Juli 1891 habe alle Befestigungen Frankreichs in drei
Klaffen eingeteilt, und das entspräche auch jetzt noch den Anforderungen der
modernen Strategie.
Hieran anschließend bestimmt nun der Gesetzentwurf, daß die erste Klasse
der Festungswerke alle Plätze und Befestigungen umfassen soll, die ans Grund
der wichtigen einflußreiche» Rolle, die ihnen bei der Verteidigung des Landes
zufällt, mit alleil den Vorkehrungen und Hilfsmitteln ausgestattet werden
müssen, die sie zu einem lauge währenden Widerstande befähigen. Diese
Arbeiten müssen vollständig beendet und fortwährend auf der Höhe aller Ver¬
besserungen für Augriff und Verteidigung unterhalten werdeu. Dieser ersten
Klasse sollen zugeteilt werden: die Festungen Paris, Lyon, Verdun, Toul, die
Forts Frouard, Pont-Saint-Vincent, Mauvnviller; die Festungen Epiunl,
Belfort, das Fort Cognolod, die Festungen Bourg Se. Maurice, Modaue,
Fort du Telegraphe, die Festungen Brian)»», Tonrnoux, Nizza, Fort Barbonnet
»ut die Befestigung von Authiou, Die zweite Klasse umfaßt die Befestigungen,
denen möglicherweise eine Rolle zufällt als Stützpunkte für die innerhalb ihrer
Zone operierenden Feldtruppen, Diese Platze werde» nur in gewissen Grenzen
unterhalten, armiert und verproviantiert. Es sollen dieser zweiten Klasse zugeteilt
werden: die Festungen Maubeuge, Montmedh, das Fort Troyon, die Batterie
des Paroches, die Forts des Camp des Romains, de Liouville, Gironville du
Parmont, Rnpt, Chateau Lambert, Ballon de Servance, Joux-Larmout, die
Festungen Behar^on, Albertville, Aiton-Montperche, Fort Moutgilbert, Festung
Grenoble, Fort Qnehras, Festung Mont Dauphin, Forts Se, Nineent,
Se, Jean la Riviere, Bauma-Negrn, Piceiarvet, die Festungen Port-Vendres-
Collivures, Bellegarde, Montlouis und das Fort Portalct, Die dritte Klasse
endlich, die alle übrigen Befestigungen umfaßt, von deren namentlicher Auf¬
zählung wir hier absehe», soll Nieder unterhalten, uoch armiert, noch vcr-
provianiert werde» »ud auch i» Friede»Szenen keine besondre Garniso» zum
Zwecke einer Verteidigung haben. Diese Plätze gelten mehr oder weniger nur
als Depots,
Großes Aufsehen erregte es nun damals scho», daß die detachierten Forts
von Lille und die Festung Lnngres (mit Ausnahme eines einzigen Forts) der
dritten Klasse zugeteilt worden waren, obgleich Lille als hervorragender Grenz¬
schutz gegen Belgien, Langres aber als Vogesensperrpnnkt eine große Bedeutuug
beigelegt wurde.
Wenn nun schon vor zwei Jahren der oberste Kriegsrat diesen Grund¬
sätzen und dieser Einteilung zugestimmt hat, so ist eine Entscheidung dnrch die
Kammern bis jetzt noch nicht erfolgt. Der Entwurf kam am 25. Mai 1900
zum erstenmal im Senat zur Beratung und wurde vom Grase» Montfort
energisch bekämpft. Er sprach sich dahin ans, daß die Annahme des Gesetzes
ein Znrückgehn bedeuten würde ans die Grundsätze des Gesetzes vom Jahre 1791,
das drei Klassen von Festungen und drei verschiedne Arten ihrer Unterhaltung
schuf, während das Gesetz von 1851 nur zwei Klassen kannte und ausdrücklich
bestimmte, daß alle Befestigungen, auch in Friedenszeiten, in vollständig ver¬
teidigungsfähigem Zustande unterhalten werden müssen. Von militärischer
Seite wurde dieser Anschauung vielfach beigestimmt, und wir entsinnen uns
vor alle», eines ausführliche» Artikels in der ?rkme,6 imliwii'ö vom 9, J»ki
1900, worin es heißt, daß die Motive des Gesetzentwurfs nicht ganz haltbar
erschienen; es werde in ihnen auf die Wirkung der neuen Geschütze und Explosiv¬
stoffe hingewiesen, ferner auf die große Zahl der Truppen, die dnrch die
Festungsbesatzungen den Feldtruppen entzogen würden, und endlich ans die
außerordentlich hohen Kosten, die die Unterhaltung der zahlreichen Befestigungen
erfordre. Hierauf könne man aber erwidern, daß die Wirkung der modernen
Geschosse durchaus nicht unwiderstehlich sei, wie nur» annehme, daß von einer
Feldarmee von 3^ Millionen Soldaten wohl leicht 50000 bis 60000 Mann
zur Besetzung der Festungen abkommen könnten, und daß es bei einem Budget
von 31/2 Milliarde» überraschend erscheine, wenn man nicht genng Mittel habe,
die einmal bestehenden Befestigungen zu unterhalten. Sei dies aber wirklich
der Fall, so müsse man die nötigen pekuniären Opfer vom Lande fordern.
Man könne ja einzelne kleine Plätze, die gar keinen Defensivwert hätten, offen
lassen, aber die großen Plätze, die befestigten Lager und namentlich die großen
Defensivstellungen, wie ganz besonders Lille und Langres, müsse man unter
allen Verhältnissen in vollkommen kriegs- und verteidignngsfähigem Stande
erhalten.
Von größer»: Eindruck als die verschiedne» Äußerungen in der Presse
war aber eine Denkschrift, die der Bürgermeister von Langres im Namen von
sechzig Moires der Städte im Norden und Osten Frankreichs an den Senat
eingereicht hat. Durch diese Denkschrift sah sich der Kriegsminister veranlaßt,
die Senatoren, die der Armeekommission angehöre», zu einer Beratung einzu¬
laden, deren Ergebnis es war, daß der Minister das Projekt vom Jahre 1899
vorläufig zurückzog und eine Abänderung zusagte. Es erscheint nnter diesen
Umständen angezeigt, einige wesentliche Stellen dieser interessanten Denkschrift,
die bei uns ziemlich unbekannt geblieben ist, hier wiederzugeben: „Die Genie-
trnppe, die die Defensive vertritt, nimmt gegenwärtig unglücklicherweise keine
hervorragende Stelle ein; die Artillerie, die Waffe des Angriffs, hat allen
Einfluß an sich gerissen. Der Generalissimus, General Brugere, der Minister,
die Mitglieder seines Militärkabinetts und die meiste» Generale, die den obersten
Kriegsrat bilden, gehören der Artillerie an. Berauscht vou der Wirkung ihrer
Geschütze und von der Macht der neuen Explosivstoffe träumen sie nur von
einer alles vernichtenden Offensive, berauben, um sie durchzuführen, die Defen¬
sive aller ihrer Mittel und erklären sie für illusorisch. Das Projekt der De¬
klassierung der Festungen konnte, dn es unmittelbnr nach den Ereignissen von
Faschodn entworfen wurde, als ein Akt der Verzweiflung betrachtet werden.
Zu den: Zwecke, die Küsten, die ernstlich bedroht erschienen, sofort in verteidi-
gnngsfnhigen Zustand zu versetzen, entwaffnete man die Landesgrenzen, und
die Größe der Gefahr konnte dieses äußerste Mittel rechtfertigen. Aber hente,
wo die Gefahr verschwunden ist, sollte man unbedingt auf diese Maßregeln der
Fassuugslosigkeit verzichten." Indem sich die Denkschrift nun direkt um den
Senat wendet, heißt es weiter: „Ich überlasse Ihnen alle diese Festungen, für
die Sie seit dreißig Jahren so viel Geld und so viele Opfer verlangt haben;
aber ich bitte Sie, für fünf oder sechs Jahre die Entfestigung von Langres
und Lille aufzuschieben und dem Minister, auch gegen seinen Willen, die Mög¬
lichkeit zu erhalten, in einem Augenblicke des Unglücks diese beide» Pforten
Frankreichs zu schließen, die die festeste Bürgschaft für die Neutralität der
Schweiz und Belgiens bieten, die Paris sichern, und die verhindern können,
daß unsre Ostarmee in, Rücken gefaßt werde. Später, wenn günstige Verhält¬
nisse eingetreten sind, wird es nichts schaden, mit der Niederlegung dieser
beiden Festungen gezögert zu haben. Jetzt, in den, Augenblicke, wo sich
Deutschland mit neuen Festungswerken umgiebt, die eine französische Offensive
sehr erschweren, i» dem Augenblick, wo die Welt das Schauspiel eines un¬
gleichen Kampfes vor Augen hat, worin die Defensive eines ganz kleinen
Volkes die Offensive einer großen Nation aufbraucht, machen Sie dem instink¬
tiven Gefühle der in Frage kommenden Bevölkerung das leichte Zugeständnis
und erhalten Sie wenigstens heute Lille und Langres in der zweiten Klasse."
Diesem Auszug aus der Denkschrift möchten nur noch einige wenige Sätze
beifügen ans einem Briefe, den derselbe Bürgernleister von Langres an den
Redakteur der?ri»lips inilitairiz richtete. Auch in diesem Briefe wird der Gesetz¬
entwurf zurückgeführt auf die Entmutigung, die nach dem Ereignis von Faschoda
eingetreten war, nud auf die Angst vor einer englischen Landung. „Das
Projekt, heißt es in dem Briefe, verfügte die sofortige Niederlegung von sechs
Festungen und opferte dreißig andre Befestigungen dadurch, daß sie in die dritte
Klasse versetzt wurden, während es achtundzwanzig weitere der zweiten Klasse
meente, was einem vollständigen Aufgeben nahe kam; nur achtzehn Werke
blieben unberührt. Die der dritten Klasse zugeteilten Befestigungen sollen
weder armiert, noch verproviantiert, noch mit Garnisonen gelassen werden, und
in die zweite Klasse wurden alle Werke versetzt, die unsre zweite Verteidigungs¬
linie bilden, die Paris sichern, und für deren Herstellung und Erhaltung man
seit fünfundzwanzig Jahren Hunderte von Millionen verwandt hat. Laon,
La Fere, Reims, Dijon, Langres und Lille sollen auf diese Weise jedes forti-
fikatorischer Werth beraubt werden. Man will Langres preisgeben, diese aus¬
gezeichnete strategische Stellung, die das berühmte Plateau und alle Verbin¬
dungen zwischen Paris lind der Ostgrenze beherrscht; ebenso Lille, den Schlüssel
unsrer Nordgrenze, um Knotenpunkt der Straßen, Kanäle und Eisenbahnen
an der Nordgrenze, eine Festung, die es seiner Zeit allein Faidherbe ermög¬
lichte, seine Armee zu organisieren und für Frankreich inmitten aller seiner
Niederlagen ein klein wenig Ruhm zu ernten." „Wir bitten Sie, heißt es
zum Schluß, mit uns einen, Alarmruf auszustoßen, der ebenso im Senat wie
in ganz Frankreich gehört werde, und der verlangt, daß man sich vorläufig mit
dem Opfer von zweiundsechzig unsrer befestigten Werke begnüge und wenigstens
für jetzt Lille und Langres unberührt läßt, oder daß man sie wenigstens der
zweiten anstatt der dritten Klasse meent."
In allernächster Zeit wird sich der französische Senat über den Gesetz¬
entwurf schlüssig zu machen haben, und mau weiß jetzt schon, daß man dem
Protest der sechzig Bürgermeister weitgehende Beachtung schenken wird. Diese
Überzeugung hat erneute Bestätigung gefunden durch einen Artikel, der vor
wenig Tagen in dem lönixs erschien, einem Blatt, das bekanntlich gute Be¬
ziehungen'zur Regierung unterhält. Dieser Artikel erinnert noch einmal an
die Thatsache, daß die in Frage kommenden Befestigungen im Laufe der fünf¬
undzwanzig Jahre mit ungeheuern Kosten teils neu hergestellt, teils unter¬
halten worden sind, lind bestätigt auch im übrigen alle die Angaben, die in
der Denkschrift des Bürgermeisters von Langres niedergelegt sind. Der oberste
Kriegsrat könne wohl die Prüfung der ganzen Frage noch einmal und mit
kaltem Blute in die Hand nehmen. Aber — wie man höre sei er bei
seiner ersten Ansicht stehn geblieben, und es sei nun am Senat, neue Erörte¬
rungen anzustellen. Die hauptsächlichsten Bedenken des obersten Kriegsrath
gegen die Erhaltung der jetzigen Befestigungen sind nach dem Artikel des
'Isirixs folgende:
1, Um den Befestigungen die nötige Widerstandskraft gegen die moderne
Artilleriewirkung zu geben, müßten sie dekoriert oder mit andern sehr kost¬
spieligen Bekleidungen versehen werden. Diese Ausgabe würde so groß sein,
daß man darauf verzichten müsse, mit Ausnahme einer kleinen Anzahl, —
Hierzu bemerkt der?sinps, daß diese Erwägung gewiß ihre Berechtigung habe
für Werke zweiten Rangs, wenn es sich aber um so wichtige Punkte handle
wie Langres und Lille, so solle man nur getrost an die Opferwilligkeit des
Volkes appellieren.
2, Man könne und dürfe nicht den oder jenen Teil des Verteidigungs¬
plans beurteilen, wenn man nicht das Ganze des Kriegsplans kenne, — Hierauf
erwidert der 'I'omx8, daß dies wohl richtig sei, aber wie solle man sich die
gleichzeitige Durchführung des Projekts erklären, wenn man nicht annehmen
wolle, daß die französische Armee in Zukunft lediglich zur unbedingten Defen¬
sive verurteilt werden solle, die notwendigerweise zur Niederlage führen müsse.
Sollte, heißt es zum Schluß, der Minister nicht die Initiative ergreifen, das
Projekt zurückzuziehn — wie es jetzt heißt —, so müsse es Aufgabe des
Senats sein, sich gegen die Übertreibungen der Vorlage vom Jahre 1899 nus-
znsprcchen.
Man ersieht ans diesen Betrachtungen, in welche Aufregung und — man
kann wohl sagen — in welche Angst die französische Negierung vor zwei
Jahren durch die Vorgänge in Fcischodn versetzt worden war, und es erscheint
— wenn man jetzt nicht schwarz auf weiß die Bestätigung fände — kaum
glaublich, daß damals wirklich die Küstenbefestigungen weder armiert noch be¬
mannt waren, sodaß man, um einem Handstreiche der englischen Flotte auch
nur annähernd begegnen zu können, genötigt war, die Landbefestigungen, auch
die der Ostgrenze, von Truppen und Geschützen zu entblößen.
Da sich die Denkschrift der sechzig Bürgermeister, sowie alle sonst an die
Öffentlichkeit gelangten Proteste vor allem gegen das Aufgeben von Langres
und Lille wenden, so dürfte es von Interesse sein, über diese beiden Befesti¬
gungen hier einige nähere Angaben zu machen, indem wir uns in der Haupt¬
sache an das Werk von E, Tcnot: II» ^ronbivriz halten,") Die Festung Langres
liegt im Departement Häute Marne auf dem berühmten Plateau de Langres.
Die Plane für die Befestigung stammen ans den Jahren 1814 und 1815, nach¬
dem die österreichisch-rilssische Jnvasivnsnrmce von Basel und Belfort bis zum
Seinebccken vorgedrungen war, ohne Widerstand zu finde», und auf diese Weise
alle in Lothringen liegenden Truppen und Verteidigungslinien im Rücken be-
drohte. Die Befestigungsarbeiten begannen aber erst nach der Julirevolution 1830,
Die alte Mauer wurde erneuert, und es wurde eine Citadelle erbaut. Unter dein
zweiten Kaiserreich fügte man zwei detachierte Forts hinzu, die aber 1870 noch
nicht vollendet waren. Weder Plateau noch Festung spielten im letzten Kriege
eine große Rolle; die Deutschen begnügten sich mit einer Beobachtung durch
einige Bataillone. Trotzdem beschloß der Verteidigungsrat sofort nach dem
Friedensschluß den weitern Ausbau der begonnenen Befestigungen des Lagers.
Heute besteht die Festuugszone aus dem Platze selbst mit seinen alten Mauern
und Wällen und ans einem sehr ausgedehnten Gürtel von Außenwerken, die
alle durch Schienengcleise miteinander verbunden sind. Die beide» im Jahre
1869 begonnenen Forts sind das Fort de la Bonnelle südwestlich von der
Citadelle und das Fort de Prigney im Osten. Diese beiden Forts wurden
während des Kriegs selbst durch verschiedne Werke vervollständigt, deren Ge¬
samtumfang aber nicht mehr als dreizehn oder vierzehn Kilometer betrug. Das
neue befestigte Lager mißt hingegen zweiundfünfzig Kilometer im Umkreise.
Von ganz besonderm Interesse ist es nun aber im jetzigen Augenblick, das
Urteil Tenots über den Wert von Langres kennen zu lernen. Er vertritt
nämlich die Ansicht, daß der strategische Wert nicht sehr bedeutend sei; die
detachierten Forts seien so weit voneinander entfernt, daß eine sehr beträcht¬
liche Garnison erforderlich sei, um sie zu verteidigen. Dieser Übelstnnd werde
aber dadurch gemildert, daß das befestigte Lager von Langres überhaupt nur
als Basis für eine große Operationsarmee dienen könne. Auch als Verteidi-
gnngspivot der zweiten Linie habe es nur einen sehr fraglichen Wert, da eine
feindliche Armee, die die Mosel und die Maas überschritten habe, jedenfalls nicht
in die Sphäre von Langres kommen, sondern zwei bis drei Tagemarsche nörd¬
lich davon vorübermarschieren werde. Keine der großen Operationsliuien
werde durch Langres gesperrt. Durch diese Betrachtungen des sachverständigen
Verfassers erscheint das Projekt, Langres aufzugeben, demnach nicht als ganz
unberechtigt.
Ein andrer französischer Militärschriftsteller, der eine strategische Studie
der Nordostgrenze veröffentlichte,"-» legt allerdings mehr Wert auf Langres;
er schreibt: „Die Stellung von Langres, als Bindeglied zwischen den beiden
Operationsgebieten des Nordens und des Ostens, sperrt nicht allein einer
Jnvasionsarmee deu Weg, die dnrch die Lücke zwischen Tout und Epinal ein¬
brechen würde, sondern sie beherrscht auch die direkte Verbindungslinie von
Basel auf Paris." Immerhin bezeichnet auch er Langres hauptsächlich als
Depotplatz, und als Stützpunkt für operierende Armeen.
Für wesentlich wichtiger hält Tenot die Festung Lille, die den Teil der
Nordgrenze zwischen der Lhs und der Searpe bis zur Schelde deckt. Für einen
von Belgien her in Frankreich eindringenden Gegner - eine Rolle, die auch
Tenot dem rechten Flügel einer deutschen Jnvasivusarmee meent — würde
Lille eine stete Gefahr bedeuten, weil es Rücken und Flanke bedrohen würde.
Bis zum Jahre 1870 hatte Lille nur eine Umwicklung und eine alte Citadelle;
jetzt könnte es nicht nur einem starken Allgriff, sondern auch einer förmlichen
Belagerung widerstehn. Die bastionierte Enceiute ist sehr verstärkt und er¬
weitert worden, und eine große Zahl von Außenfvrts wurde neu erbaut in
einem Umkreis von beinahe fünfzig Kilometern. Lille ist besonders wichtig als
Knotenpunkt der Eisenbahnen, Straßen und Kanäle ini Norden Frankreichs.
nterm 29. Mai 1895, beschwerte sich der Zeuträlverbaud deutscher
Haus- und Grundbesitzervcreme beim Minister darüber, daß eine
Reihe von Hypothekenbanken die damals bestehende Normativ¬
bestimmung, daß nur drei Umfiel des Werth beliehen werden
dürfte», durch schwindelhafte Taxen umginge. Zum Beweise
wurde» einzelne grelle Fälle der Überschätzung geltend gemacht und noch
folgendes i» der Beschwerdeschrift aasgeführt, die ii» Berliner „Grundeigentum"
veröffentlicht worden ist:
Durch Hergabe von Baugeldern, zum Teil schon nach der ersten Balkenlage,
zu hohen Zinsen und sehr hohen Nebenkosten haben sich besonders ausgezeichnet:
der Frankfurter Hypothekcnkreditverein Frankfurt ni. M., die Nationalhypotheken-
lreditgesellschaft zu Stettin, die Preußische Hypothekenaktienbank zu Berlin und die
Pommersche Hypothekennktieubank Berlin.
Es liegt auf der Hand, daß bei derartigen Taxen der Banschwindel anfblühu,
der solide Grundbesitz dagegen auf das schwerste geschädigt werden muß. . . . Dabei
ist anch nicht außer acht zu lassen, daß das Verhalten der Hypothekenbanken, wie
es in Stettin und in andern Städten zu beobachten ist, unter Umständen für die
Besitzer der Hypothekenzertifikate von gefährlichen Folgen begleitet sein und damit
eine verhängnisvolle Rückwirkung auf den städtischen Realkredit überhaupt aus¬
üben muß.
Hierauf antwortete der zuständige Landwirtschaftsminister folgendes:
Berlin, 25. Februar 1896
Auf die Eingabe vom 29. Mai v. I., betreffend die Beleihung städtischen
Grundbesitzes in Deutschland, insbesondre in Stettin, erwidrc ich dem Zentral¬
verband, daß ich eine sorgfältige Untersuchung der Beschwerden, soweit sie sich auf
preußische Hypothekenbanken beziehn, angeordnet habe. Das Ergebnis der seitherigen
Ermittlungen hat mir keinen Anlaß geboten, gegen die beteiligten Banken wegen
der in Frage kommenden Beleihnngeu einen Vorwurf zu erheben. Verkennen läßt
sich nicht, daß die von verschiednen Seiten vorgebrachten Klagen über Mißstände
auf dem Gebiete des Taxwesens im allgemeinen, vor allem auch soweit es sich um
die Abschätzung städtischen Grundbesitzes handelt, einer gewissen Berechtigung nicht
entbehren. Darüber, ob und in welcher Weise diesen Beschwerden abgeholfen werden
kann, sind Verhandlungen unter den beteiligten Ministerien eingeleitet worden.
Das preussische Ministerium hat diese warnende Beschwerde trotz der der
Form nach ablehnenden Antwort doch nicht ganz außer acht gelassen. Sie
bewirkte wenigstens, daß bei den Beratungen über das Reichshypotheteubauk-
gesetz Vertreter der Hausbesitzervereiue gehört wurden, und diese Aussprache
scheint herbeigeführt zu haben, daß die Nationalbank zu Stettin offenbar auf
gewisse vorgebrachte Fälle hin so revidiert wurde, daß die Staatsbehörde ein¬
schreiten konnte. Der Direktor der Anstalt ist schließlich bestraft worden,
jedenfalls sind die Besitzer der Pfandbriefe in Mitleidenschaft gezogen worden,
ganz abgesehen davon, daß die Mitglieder der Nationalbank als Genossen auf
Grund des Genossenschaftsgesetzes stark bluten mußten. Das Hypothekeubank-
gesctz wurde darauf von den zuständigen Körperschaften beraten und schließlich
in einer Form angenommen, die den Hypothekenbanken zu große Freiheit in
der Beleihung von Bauplätzen, Hergäbe von Baugeldern und Abschätzung der
Grundstücke ließ. Denn es wurde ihnen dies alles weiter überlassen, wenn
man auch für die Beleihung der Bauplätze gewisse Grenzen zog. Es dürfen
nämlich die Hypotheken an Bauplätze» nicht mehr als den zehnten Teil aller
Hypotheken betragen und den halben Betrag des eingezahlten Grundkapitals
nicht übersteigen. Diese Grenzen sind jedoch weit genug gezogen.
Während der Beratungen des preußischen Ausführungsgesetzes zum Bürger¬
lichen Gesetzbuch wies nun Voigt in seiner um Himmelfahrtstag 1899 erschienenen
Schrift über Hypothekenbanken und Beleihuugsgrenze nach, daß Hypotheken¬
banken bisweilen sogar bis zum gemeinen Wert Häuser beliehen hatten, jeden¬
falls häufig infolge unzutreffender Abschätzung viel zu hoch. Diese Schrift
bewirkte, daß der Antrag, den Pfandbriefen der Hypothekenbanken Mündel¬
sicherheit zu verleihen, in Preußen nicht durchging/was jetzt nach dem Krach
der Spielhagenbauken wohl von niemand mehr gemißbilligt werden wird.
Man sollte doch meinen, daß dies alles mehr als ausreichen müßte, dem Tax¬
wesen der Hypothekenbanken näher zu treten und es zu verbessern. Indes
das deutsche Hypothekenbankgesetz schreibt nach dieser Richtung nur vor: 1. daß
die Hypothekenbanken nur bis zu drei Fünfteln des Verkaufswerts beleihen
dürfen; 2. daß jede für sich eine Abschätzungsordnung (Anweisung) zu erlassen
habe, die der Genehmigung des Ministeriums bedürfe. Als ob man in Preußen
nicht wenigstens für die Hypotheleubankeu eine allgemeine Abschütznngsordnung
(Taxordunng) ausarbeiten könnte! Es bleibt jeder Hypothekenbank überlassen,
sich eine solche selbst auszuarbeiten. Dabei vermag eine Taxordnung, die sich
mit allgemeinen Normen begnügt, die Überschätzungen überhaupt nicht zu ver¬
hindern. Will man diese der Hauptsache nach beseitigen, so wird mau auch
andre Gewöhnungen der Taxatoren herbeiführen müssen, sodaß diese uicht — wie
es jetzt üblich ist — zunächst sich oder auch andre fragen, wozu die Taxe
gebraucht werde, und wils sie bezwecke, und danach die Taxe einrichten, sondern
daß die Taxe immer gleich hoch ausfallen muß, zu welchem Zweck sie auch
Verwendung finden mag.
Dabei sind in Preußen bei andern Anstalten, wie z. B. bei den Land¬
schaften, derartige Taxgewöhnungen vorhanden und auch strenge Vorschriften
für die Taxatoren schon bekannt, die seit fast einem Jahrhundert mit solchem
Erfolge geübt werden, daß eine landschaftliche Taxe in ihrem Endergebnis keine
große Abweichung zeigen wird, auch wenn dasselbe Gut vo» ganz verschiednen
Personen abgeschätzt wird. Soll eine Taxe zuverlässig sein, so darf uicht alles
der Willkür der Taxatoren überlassen werden. Jede sogenannte Gruudwerts-
taxe oder Taxe des zu ermittelnder Verkaufswerts, von der das Reichs-
hypothetengesetz ausgeht, läßt den Taxatoren viel zu viel Spielraum, sodaß
bei diesen die Willkür schließlich doch ausschlaggebend ist.
Der Verkaufswert, von dem das Reichshypothekenbankgesetz ausgeht, läßt
sich überhaupt uur sehr schwer feststellen und selten zutreffend; es können in
der einen Gegend Häuser oder Grundstücke zu guten Preisen verkauft worden
sein, weil vielleicht beim Käufer ein Interesse dafür vorhanden war. Deshalb
ist dieser Preis für den Wert eines nicht allzuweit davou liegenden Grund¬
stücks noch uicht maßgebend, wenn für dieses keine Käufer mit solchem Interesse
vorhanden sind und voraussichtlich uicht vorhanden sein werden. Auch sind
die Grundstückskäufe, wenn man auch den städtischen Grundbesitz wie eine be¬
wegliche Sache betrachten mag, doch nicht immer so zahlreich und gleichbleibend,
daß man aus diesen wenigen Käufer der letzten Jahre durchaus immer einen
gleichbleibenden Durchschnittspreis berechnen kann. Das ist alles mehr oder
weniger Auffassuugs- und Ansichtssache, d. h. in der Hauptsache von dem Er¬
messen oder besser der Willkür der Taxatoren abhängig. Der Verknufswert
hängt eben von Angebot und Nachfrage ab und ist deshalb sehr schwankend.
Dies haben wohl auch die Landschaften erkannt. Sie kennen eine Wert¬
abschätzung in der Art uicht, sondern schützen nur den Reinertrag nach be¬
stimmten festgelegten Grundsätzen, der dann in bestimmter Weise kapitalisiert
wird, d. h. mit andern Worten, sie legen keine Werttaxeu, sonder» nur Ertrags¬
taxen ihrer Beleihung zu Grunde. Allerdings beleihen sie mir Güter; jedoch
ist bei städtischen Häusern, die in unsrer Zeit hauptsächlich durch Vermietung
genützt werden, der Ertrag ebenso zutreffend und wohl noch leichter festzustellen
als bei Gütern. Wenn Nachbarhäuser oder gegenüberliegende von ähnlicher
Güte bestimmte Mietpreise erzielen, so wird man dieselben Mietpreise bei dem
abzuschätzender Hause zu Grunde legen müsse«, auch wem? es noch nicht ver¬
mietet war. War es schon vermietet, so wird man zweckmäßig wohl den
während der letzten fünf Jahre festgestellten Durchschnitt der Miete dem zu
berechnendem Ertrage zu Grunde legen. Dies alles sind meist gegebne Zahlen
und von dem Ermessen der Taxatoren gar nicht abhängig. Es sind Zahlen,
die lediglich durch Ermittlung gefunden werden, nicht aber oder doch nur er¬
gänzend durch Abschätzung. Der Jahresertrag läßt sich also bei unser» Häusern,
wenn für seine Ernnttluiug bestimmte zu beobachtende Normen aufgestellt werden,
mit ziemlicher Sicherheit und Genauigkeit feststellen. Ebenso die Lasten, die
von dem Bruttoertrage abzuziehn sind.
Schwieriger ist die Kapitalisierung des Ertrags, d, h. die Feststellung
des Multiplikators, also mit welcher Zahl der Ertrag multipliziert werden muß,
wenn man den Wert erhalten will. Da diese Zahl vom Zinsfuß abhängt und
dieser in den letzte» Jahren mit dem Reichsdankdiskont schwankend war, so
müßte auch dementsprechend jedesmal anders kapitalisiert werden.
Wenn es sich jedoch um eine Beleihung handelt und der Zinsfuß der
Hypothek feststeht, so muß dieser Zinsfuß auch die Zahl bestimmen, womit der
Ertrag zu multiplizieren ist, d, h. bei einer vierprozentigen Hypothek würde
der Ertrag mit dem fünfnndzwanzigfachen und bei einer fünfprozentigen mit
dem zwanzigfacheu zu vervielfältigen oder multiplizieren sein. Man gelangt
dadurch scheinbar zu einem logischen Widerspruch insofern, als sich der Ertrngs-
wert des Hauses dann sehr verschieden ergiebt, je nachdem das Haus mit
einer vierprozentigen oder einer fünfprozentigen Hypothek beliehen werden soll.
Indes so widerspruchsvoll, ja unsinnig dies auf den ersten Blick erscheint, so
ist dies doch das einzig Richtige, ja auch Logische, Diesen scheinbaren Wider¬
spruch vermeidet man übrigens sehr einfach dadurch, daß man durch die Taxe
nnr den reinen Jahresertrag feststellen läßt, aus dem sich dann jeder selbst
den Kapitalswert nach dem jedesmal zutreffenden Zinsfuß berechnen kann.
Man hätte also im Reichshypothekenbankgesetz besser die Höhe der Beleihung
nicht von dem nur selten mit Sicherheit festzustellenden Verkaufswerte, sondern
von dem sicher und leicht zu ermittelnder Reinertrage in der Art abhängig
gemacht, daß man die Beleihungsgrenze einfach dahin festgesetzt hätte, daß die
Zinsen einer auszuleihenden ersten Hypothek drei Fünftel des durchschnittlichen
Jahresreincrtrags nicht übersteigen dürfen.
Damit Hütte man alle die Fehler vermieden, die mit jedem Multiplikator
des Reinertrags verbunden sind und verbunden sein müssen. Man wäre damit
zu einfachen klaren Taxgrundsätzeu gelangt und Hütte die Willkür der Be¬
rechnung des Berkaufswerts oder — um es greller zu sagen — den Schwindel
vermieden, der mit dessen Festsetzung meist getrieben wird, und wie die an¬
geführte Beschwerde und die Geschichte der Hypothekenbanken beweisen, auch
wirklich betrieben worden ist.
Die Zinsen der Hypotheken der Preußischen Hypothekenbank bringen ja
zur Zeit vierteljährlich 697000 Mark weniger ein, als die Zinsen der dafür
ausgegebnen Pfandbriefe betragen. Diese erforderten am 1. Januar 1901
einen Betrag von 3 705993 Mark 5 Pfennigen, auf die Hypotheken gingen
aber an Zinsen dafür nur ein 3019852 Mark 27 Pfennige.
Eine Baustelle, die keinen Ertrag bringt und brach daliegt, darf eben nicht
mit einer Pfandbriefhypothek beliehen werden. Was nützt es den Inhabern
der Pfandbriefe, deren Kündigung meist beschränkt, wenn nicht ganz aus¬
geschlossen ist, daß die Baustelle möglicherweise, wenn sie nach einem Jahrzehnt
Veräußert wird, das Kapital ebenso sicher decken wird, wie sie in der Zwischen¬
zeit keine Erträge aliwirft. Den Pfandbriefinhabern liegt doch an erster Stelle
alles an einem regelmäßigen Bezug der Zinsen, dieser wird und kann von
einer Ballstelle niemals gewährleistet werden, sie mag ihrem Werte nach ab¬
geschätzt sein, wie sie wolle. Es ist darum fehlerhaft von dem Reichshhpo-
thekenbankgesetz, daß es den Hypothekenbanken das Beleihen von nicht nutz¬
bringenden Baustellen erlaubt hat; diesen Fehler würde es vermieden haben,
wenn der Gesetzgeber nicht den Verkaufswert, sondern den Ertrag eines Grund¬
stücks zur alleinigen Grundlage von Pfandbriefhypothekcn gemacht hätte.
Dieser eine Fehler erzeugte den andern. Mau würde beide Fehler nicht be¬
gangen haben, wenn man die Erfahrungen gewürdigt hätte, die das Verkehrs-
lebeu mit den Werttaxeu schou zur Genüge gemacht hat.
Nun kann man entgegnen, daß sich der Bauwerk eines Hauses doch
einigermaßen sicher feststellen läßt. In der That läßt sich der Bauwerk eines
Hanfes wohl genau feststellen, weniger sicher jedoch der Wert der Baustelle.
Der gemeine Wert ist auch gar nicht immer der Wert der Baustelle plus dem
Ballwert des Hauses, sondern hängt von der Nachfrage, insbesondre aber auch
von dein Ertrage des Hanfes ab, und es ist eine irrige Auffassung, ihn durch
eine derartige Addition ermitteln zu können, wie die Ballhandwerker meist
glauben. Wie unrichtig aber bei uns in Preußen sogar auch der Bauwerk
allein abgeschätzt wird, haben die Fenertaxen nachgerade zur Genüge er¬
wiesen.
Für jede Fenerversicherungstaxe darf nur der Bauwerk oder die Material-
taxe maßgebend sein, der Grund und Boden, also die Baustelle kaun gegen
Feuersgefahr gar nicht versichert werden. Nun ist es ein offnes Geheimnis
und wird voir allen Seiten offen zugegeben, daß die Fenertaxen der privaten
Fenerversicherllngsgesellschaften bei uns ganz unzuverlässig, in der Regel viel
zu hoch sind. Der Taxator der betreffenden Feuerversicheruugsgesellschaft
schätzt eben meist so hoch ub, als es der zu Versichernde wünscht. Brennt er
ab, dann prüft allerdings die Versicherungsgesellschaft den Wert genau und
meist auch zutreffend und zahlt nicht mehr, als das Haus zu erbauen kostet.
Der Versicherte hat eben solange unnötig hohe Prämien gezahlt; vielleicht ist
es ihm jedoch gelungen, mit Hilfe der hohen Feuertaxe eine hohe Beleihung zu
erlangen, und der Hypothekenglnubiger hat dann möglicherweise das Nachsehen.
Dies muß natürlich den städtischen Realkredit ans die Dauer ungünstig be¬
einflussen.
Alles dies weiß jeder Eingeweihte. Aber der Mißbrauch der hohen
Fenertaxen bleibt nach wie vor bestehn, zumal da er den Versicherungsgesell-
schaften zum Vorteil gereicht. Denn sie erhalten höhere Prämien bei einem
thatsächlich geringern Risiko. Die öffentlichen Sozietäten haben diesen Schwindel
meist nicht mitgemacht, sie sind leider oft in deu entgegengesetzten Fehler ver¬
fallen, daß sie zu niedrig abschätzen.
Der Feuertaxe müssen nämlich die höchsten Materialpreise zu Grunde
gelegt werden, nicht Durchschnittspreise, Denn das Haus kann zu einer Zeit
abbrennen, wo die höchsten Preise gelten, also z, B. in einer Gründerzeit.
War dann das Haus zu niedrigen Materialpreisen abgeschätzt, so kann der
Abgebrannte empfindlichen Schaden leiden, es nützt ihm nichts, das; er den
vollen Wert hat versichern »vollen; denn keine Versicherungsgesellschaft zahlt
mehr, als die Fenertaxe beträgt.
Wie aber eine Fenertaxe anzufertigen ist, dafür bestehn leine besondern
Vorschriften, Es herrscht die reine Willkür der Versicherungsgesellschaften und
ihrer Taxatoren, der bei jeder Police noch dnrch den Stempel der Polizei ein
gewisser Schein der Richtigkeit unnötig verliehen wird.
Mit Recht hat darum Geheimer Regierungsrat Hurtzig in einer Versamm¬
lung in Posen 1898 vorgetragen, daß die Feuertaxen immer von denselben Per¬
sonen, nämlich von besondern Taxämtern hergestellt werden müßten, und er
hat beantragt, daß zu diesem Behufe besondre Taxämter geschaffen werden.
Es ist dies durchaus zutreffend. Aber warum sollen diese Taxmnter nicht anch
die für die Hypothekenbanken maßgebenden Taxen anfertigen? Warum soll
ihnen nicht anch das gerichtliche Taxwesen übertragen werden? Das gericht¬
liche Taxwesen liegt nämlich in Preußen anch seit langem im argen.
Erbittet jemand bei Gericht die Anfertigung einer gerichtlichen Taxe, so
werden oft die Sachverständigen genommen, die er vorschlägt. Diese schätzen
wieder ab, so hoch wie er es wünscht, und das Gericht verleiht denn dieser
Taxe durch Ausfertigung mit Siegel und Unterschrift einen Hähern Glauben.
Um diesem Unfug in etwas zu steuern, ordnete der Justizminister um, daß die
Gerichte die Höhe der Taxe selbst zu prüfen hätten und an die Abschätzungen
der Sachverständigen gar nicht gebunden, im Gegenteil selbst für die Höhe der
Taxe verantwortlich seien. Nun verfielen andre Gerichte in den entgegen¬
gesetzten Fehler, indem sie ans übergroßer Ängstlichkeit einfach die Taxe der
Sachverständigen auf etwa die Hälfte herabsetzten. Daß ein derartiges gericht¬
liches Taxwesen die Hausbesitzer ziemlich kreditlos macht, liegt auf der Hand,
ganz abgesehen davon, daß es oft Monate dauert, ehe man eine derartige ge¬
richtliche Taxe zu erhalten Pflegt, sodaß inzwischen die Zeit zur Beschaffung
der Hypothek abgelaufen ist.
Ganz anders läge die Sache, wenn man ein für alle mal derselben Be¬
hörde die Anfertigung aller Taxen, auch der jetzigen gerichtlichen übertrüge.
Eine solche Behörde kann und wird nicht das eine Haus mit 50000 Mark
abschätzen und das danebenliegende gleich wertvolle etwa mit 100000 Mark;
durch so etwas würde sie in Widerspruch mit sich selbst kommeu, ganz ab¬
gesehen davon, daß dies im Wege der Beschwerde leicht abgestellt werden
könnte. Eine solche Behörde würde nicht die Fenertaxen bis ins Schwindel-
Hafte steigern, sie würde auch allein geeignet sein, die Grundlage für die Be¬
leihung der Hypothekenbanken abzugeben, denn solange jede Hypothekenbank
das Hans selbst abschätzt, solange ist die Vorschrift des Hhpothekenbankgesetzes,
daß nur bis zu drei Fünftel» des Werth beliehen werden darf, ziemlich illusorisch
und steht nur auf dem Papier, Dabei können die Taxen nicht etwa von
einem Negierungskoiinnissnr so ohne weiteres als falsch erkannt und am grünen
Tische sicher nachgeprüft werden. Es muß also neben dem Hypothekenbank¬
gesetz und neben dem zu erwartenden Versicherungsgesetz eine Gesetzesvvrschrift
des Inhalts erlassen werden, daß keine Hypothekenbank höher beleihen darf,
als die Beleihungstaxe des Taxamts ergiebt, und keine Versicherungsgesell¬
schaft höher versichern darf, als die Materialtaxe des Taxamts lautet. Etwas
ähnliches scheint auch in der Schrift von Limen, Die Ursachen der Krisis bei
der Nationalhypothekenkreditgesellschaft in Stettin und den Spiclhagenbanken
in Berlin, Seite 22, gefordert zu werden. Jedenfalls hat der Verfasser die
Übelstände des Taxwesens richtig erkannt. Die Schaffung einer Zentralstelle
allein, die nur deu Sachverständigen zu benennen hat, ist nicht genügend. Es
muß weitergehend Vorsorge dafür getroffen werden, daß alle Taxen immer
uur von einer und derselben Behörde gefertigt werden.
Als man dein Bauschwindel mit einem besondern Gesetz zu Leibe gehn
wollte, fand man, daß man eine Taxe brauche, und daß in Preußen zur Zeit
keine dafür geeignete Behörde vorhanden sei. Der Wallbrechtsche Entwurf sah
deshalb die Schaffung eines Bauschöffenamts vor, und andre Entwürfe ver¬
langten von diesem Amt eine Taxe nach mannigfacher Hinsicht.
Jedenfalls wird man einem solchen Taxamt noch manches andre über¬
tragen können, und dessen Hilfe und Sachkunde kann von den Behörden auch
sonst nützlich in Anspruch genommen werden.
Es fragt sich, wie eine solche Behörde zusammengesetzt sein soll. Man
hat davor gewarnt, ihre Aufgabe etwa als Nebenbeschäftigung Bauhandwerkern,
d. h. Handwerksmeistern (Maurer- und Zimmermeisteru) zu übertragen, denn
diese haben als ausübende Meister immer ein großes Interesse an hohen Taxen.
Dadurch zeigen sie, wie billig sie gebaut haben, und erreichen meist anch eine
günstige Beleihung des neuerrichteten Hauses. Man übertrage die Thätigkeit
eines solchen Amts, das man in den Stadtkreisen dem Magistrat, in den
Landkreisen dein Kreisausschuß angliedern mag, dem Stadtbanrat und dem
Kreisbauiuspektor, dem die erforderlichen Hilfskräfte beigegeben werden mögen,
oder ernenne auch, wenn der Umfang des Amts dies erfordert, dafür besondre
Bauräte mit der nötigen Anzahl Schöffen oder Beisitzern. Kosten wird das
Amt nicht erfordern, da ja die jetzt schon sehr hohen Gebühren für die Taxe
die Unkosten des Amts sicherlich decken werden.
Jedenfalls entbehrt Preußen schon viel zu lange der Wirksamkeit einer
derartigen Behörde, Mancher Schwindel, mancher Betrug, manche Übervor¬
teilung wäre beim Bestehn eines Taxamts, das für alle Taxen zuständig ist,
so gut wie ausgeschlossen. Man könnte dann nicht bloß dem Bauschwindel
zu'ZLeibe gehn, sondern die Auswüchse des Hypothekenbankwesens würden zum
Vorteil der gesunden Entwicklung unsrer Städte beschnitten, und für das
Hypothekenbankwesen die Möglichkeit geschaffen werden, zu gesunden.
Jetzt sucht man sich meist den Taxator selbst ans. Will man eine hohe
Taxe, so wühlt man natürlich den, von dem man weiß, daß er hoch abschätzt!
braucht man eine niedrige, so nimmt man einen Tarator, der geneigt ist, niedrig
abzuschätzen. Bisweilen ist dies auch gar nicht nötig. So habe ich es bei
einem gerichtlichen Sachverständigen erlebt, daß er heute ein Grundstück sehr
hoch abschätzte und einige Wochen, kaum Monate später dasselbe unverändert
gebliebne Grundstück um mehr als ein Drittel niedriger, nämlich um mehr als
100000 Mark geringer! Eine derartige Handhabung ergiebt leider dann die
Richtigkeit des Sprichworts, daß Taxen nur Faxen seien!
WZ?,'»
DU
isM)ergleiche ich nnn die auf Grund einer uneingeschränkten Selbst
Verwaltung organisierte Krankenversicherung mit ihrer jüngern
sozialpolitischen Schwester, der Invalidenversicherung, so scheinen
mir die staatlichen Jnvaliditätsvcrsicherungsanstalten mit staat¬
lichen Beamten an der Spitze sowohl in der Geschäftsführung
als auch in der höhern Auffassung ihrer Aufgabe überlegnere und bessere
Vertreter der Arbeiterversicherung zu sein. Gegen etwaige büreaukratische
Neigungen ist da der aus Vertretern von Unternehmern und Arbeitern be¬
stehende Ausschuß oder Vorstand ein gutes Gegenmittel. Trotz der kürzern
Entwicklungszeit der Invalidenversicherung, und obgleich die .Krankenfürsorge
uicht ihre eigentliche Aufgabe ist, haben sie diese doch mit weitem Blick in
ihren Arbeitsbereich gezogen. Während anfangs die Versicherungsanstalten
ihre Hauptaufgabe in der Bewilligung der Renten sahen, hat sich von Jahr
zu Jahr mehr die Überzeugung Bahn gebrochen, daß die größere Aufgabe
darin bestehe, eine durchgreifende und früh einsetzende Krauteufürsorge anszu-
iiben, und das nicht nur vom reinen Geschäftsstandpunkt ans, um Invaliden¬
renten zu sparen, sondern mich aus humanen Rücksichten, denen die staatliche
Arbeiterfürsorge ihre Entstehung verdankt.
Eine hochsinuige Erfassung und gründliche, umsichtige Bethätigung ihres
sozialpolitischen Vernfs leuchtet z. B. aus den Verwaltungsgrnndsätzen der
Landesversicherungsanstalt in Hannover hervor. Diese Anstalt sieht nicht mir
ihre Aufgabe darin, das Gesetz anzuwenden, sondern auch Belehrung über
dieses zu verbreiten. (Kürzlich sind von ihr 10000 Exemplare der von Pro¬
zessor Hitze verfaßten Broschüre: „Was jedermann von der Jnvalidenversiche-
rung tvisseu muß" gekauft und in geeigneten Kreisen verbratet worden, Flug¬
schriften hygienischen Inhalts sind von ihr den Krankenkassen zur Verteilung
überwiesen worden.) Sie hat die Gemeindeschwestern in ihren Dienst gestellt
und belehrt sie über die Ziele und die Bestimmungen des Gesetzes. Sie sollen
die Leute in geeigneten Fällei? aufmerksam machen auf die Vorteile des Ge¬
setzes, ihnen an die Hand gehn mit. Rat und That bei der Besorgung der
Karten und Marken; sie sollen die aus den Heilanstalten entlassenen Leute im
Auge behalten, ihnen raten und sie in ihren Lebensgewohnheiten kontrollieren.
Die Anstalt sorgt auch für eine entsprechende Beschäftigung der Entlassener.
Solchen Kranken, die nicht in der Lage sind, sich die vorgeschriebnen Klei¬
dungsstücke zu besorgen, verschafft sie die Hilfe der freiwilligen Armenpflege.
Der Vorsitzende selbst erläutert in öffentlichen Vorträgen die Arbeiterversiche¬
rung und giebt Anregung, wo die freie Liebesthätigkeit noch einsetzen kaun
außerhalb des Nahmens der Invalidenversicherung. Eine solche wohlwollende
Handhabung der Versichernngsgesetze, die auch die Versicherten über die Be¬
stimmungen und Motive des Gesetzes, über ihr eignes Interesse aufklärt, dient
wirklich dem Ziel einer sozialen Versöhnung. Da fühlt jeder: Man kommt
mir entgegen, das Versicherungsinstitut will mein Bestes, es klärt mich auf,
wie ich für meine Gesundheit sorgen muß, es scheut nicht vor großen frei¬
willigen Aufwendungen zurück, es belehrt mich, was für Vorschriften ich be¬
folgen muß, um die Anwartschaft auf Rente zu erhalten usw. Bei solcher
Verwaltung kauu der einzelne Versicherte tiefer eindringen in den Geist und
in die Vernünftigkeit der sozialen Gesetze, fühlt sein Solidaritätsgefühl wachsen
und wird sich nicht so leicht dazu versteh», sich unberechtigterweise eine Rente
zu verschaffen. Das ist ein wohlthuenderes Bild, als die Krankenversicherung
durchgehends gewährt.
„Wenn man nun 1883 mit Rücksicht auf die vorhnndneu Kassen und die
Verschiedenheit der Bedürfnisse, mit Rücksicht auf die bei der Krankenversiche¬
rung häufig vorkommenden, vorübergehenden Unterstützungen von relativ ge¬
ringem Kapitalwert, die unverzüglich gewährt werden müssen," eine Vielgestnltig-
keit der Versicherung geschaffen hat, damit sich die einzelnen .Kassen den
jeweiligen Bedürfnissen besser anpassen können, wenn man mit Rücksicht auf
die einfachen, formalen Geschäfte uneingeschränkte Selbstverwaltung gewährt
hat, so hat sich doch gezeigt, daß der Standpunkt des IkisLöi'-tMö auf dem
Gebiete der .Krankenversicherung den mit der umfassenden Zwangsversichernng
vergrößerten Aufgaben nicht gerecht geworden ist. Noch nicht einmal in der
Höhe der Krankengeldlinterstützung zeigt sich eine sich den Verhältnissen an¬
passende Entwicklung. In der Krankenversicherung herrschen meines Erachtens
zu viele Schreier und ehrgeizige Agitatoren, die durchaus nicht von ihrer Auf¬
gabe durchdrungen sind, sondern nur eine Rolle spielen und im Trüben fischen
wollen. Die Interessen der großen Masse der Versicherten, die sich nicht um
die gesetzliche Lage der Dinge kümmern, kommen dabei am schlechtesten weg.
So kommt es, daß die Krankenkassen nicht versöhnend wirken, nicht das Gefühl
der Zufriedenheit bei der großen Masse hervorrufen. Die Versicherten haben
vielfach die Empfindung, als müßten sie den hart- und engherzigen, ihren
Interessen widerstrebenden Krankenkassen ihre Rechte erst abringen. Die ge¬
planten Neugründungen von Krankenkassen, die wesentlich weibliche Mitglieder,
d, h. die zum Gesinde und der Hausindustrie gehörenden Personen umfassen
würden, würden die Mißstände noch mehr verschärfen. Denn gerade die
Krankenkassen mit weiblichen Mitgliedern sind jetzt schon der ungenierteste
Tummelplatz für einzelne unlautere Elemente, da die weiblichen Versicherten
selbstverständlich die ihnen gewahrte Selbstverwaltung mangels physiologischer
Anlage nicht ausüben.
Wegen des Fehlens geeigneter leitender Organe haben denn auch die
Krankenkassen die von der heutigen Wissenschaft gebotnen kräftigern Maßregeln
zur Bekämpfung der Krankheiten nicht angewandt und vielfach auch nicht an¬
wenden können. Der von der Wissenschaft bewiesene» und anerkannten That¬
sache, daß man die auf der Bevölkerung lastenden Todesfälle und Krankheiten
stark einschränken kann, haben die Kmukenkasscn uoch uicht in ihrer Wirksam¬
keit entsprochen. Der große Arzneikonsum hat ja keinen bessernden Einfluß
auf die Erkrankungshäufigkeit und die Sterbeziffer auszuüben vermocht, der
nachgewiesen werden könnte. Die moderne Medizin, die an die erste Stelle
aller Heilmittel die Hygiene stellt und an die allerletzte die Arzneien, verlangt
für die große Masse der Lnngenkranken, Herz- und Nervenleidenden, für die
Kranken mit Blut- und Konstitutionsanomalieu, für die vielen Fälle von chro¬
nischen Bronchien- und Kehlkopfkatarrhen, für Staubinhalationskranke, für alle
entkräfteter Rekonvaleszenten Freiluftkurcu, Sauntorien, Badeanstalten, Turn¬
anstalten, medikomechanische Heilmaßnahmen und keine Arzneien, während heute
alle diese Kranken vielfach durch die kategorischen Anordnungen der Kassen¬
vorstände in die engen Wohnungen gebannt werden und mit ihren von den
Ärzten befürworteten Gesuchen, in benachbarten Dörfern verweilen zu dürfen,
abschlägig beschieden werden. Hygienisch-diätetische, mechanotherapeutische Heil¬
maßnahmen konnten allerdings von den kleinen, zersplitterten Krankenkassen
nicht angewandt werden, da das die Errichtung entsprechender Anstalten, Er¬
holungsstätten im Freien, eines großen Heilapparats, d. h. leistungsfähige
große Krankenkassen voraussetzt. Die präventive Medizin verlangt vor allem,
und da müßte die Krankenversicherung ihre Kraft einsetzen, daß die große Masse
der städtischen Versicherten die unbewußt naturwidriger Lebensgewohnheiten
aufgiebt und zu naturgemäßer Lebensweise erzogen wird, daß die Gefahren,
die das nun einmal in großen Städten notwendige enge Zusammenleben der
Menschen mit sich bringt, durch Belehrung paralysiert werden, durch Reinlich¬
keitspflege der Wohnungen, der Häuser, der Höfe, der Straßen usw. Ohne
Belehrung und Erziehung geht es nun einmal nicht. So dornenvoll diese
Arbeit ist, sie muß gethan werden. Auch die Benutzung von Bade- und Turn¬
gelegenheit, das Bewegungsspiel im Freien usw. kann zur Abhärtung des
Körpers viel beitragen. Darum soll die Krankenversicherung ans Grund ihres
Materials an die Gemeinden herantreten und ans notwendige Maßnahmen auf
dein Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege aufmerksam machen, auf die
Errichtung von Badeanstalten, Turnhallen, auf Entfernung und Verwendung
der Abfallstosfe, auf Straßenreinigung, Riegen eiuer Wohnuugsinspektion, in
der Frage des Vertriebs der Nahrungsmittel Anregungen geben usw.
Auch gegenüber der hente in marktschreierischer Weise auftretenden, aber
sich mit einem wissenschaftlichen Mäntelchen umhüllenden Nahrungs- und
Genußmittelindustrie, die gerade das großstädtische Proletariat zum Absatzmarkt
sucht und findet, müßten die Krankenkassen mit ihrer Autorität ein Gegen¬
gewicht sein und objektive Belehrung z. B. über Nahrungs- und Genu߬
mittel, über Kinderernühruug, über Nahrungsmittelverfälschung usw, gewähre».
Aber wo sind die Hygieniker, die Ärzte, die Leute mit weitem Gesichtskreis
in der Verwaltung der Krankenkassen? Es giebt keine.
Wenn man dem? um einmal reformieren soll, dann gründlich und keine
Flickarbeit! Wenn man zwischen der Kranken- und der Invalidenversicherung eine
Verbindung herstellen Null, dann schaffe mau nichts halbes, sondern eine innere
organische Verbindung, man übertrage der bessern Organisation der Invaliden-
versicherung auch die Krankenversicherung! Dadurch würde mau der von allen
Seiten erstrebten Einheit der Versicherungsarten näher kommen. Denn die
angebliche Lücke im Bezug von Krankengeld und von Juvalideureute, die aus¬
gefüllt werdeu soll, besteht ja in der Regel uur auf dem Papier, wie ans
folgenden Darlegungen hervorgeht.
Vorausgesetzt, daß die bestimmte Wartezeit zurückgelegt ist, und die Bei¬
trüge geleistet sind, sieht das Juvalidenversicherungsgesetz vor: 1. die Gewäh¬
rung einer Invalidenrente für den Fall dauernder Beeinträchtigung der Er¬
werbfähigkeit auf weniger als ein Drittel; 2. eine zeitweilige Renteugewährung
für den Fall einer mehr als sechsundzwanzig Wochen mit Erwerbuufähigkeit
verbundnen Krankheit. Die vorübergehenden mit Erwerbunfähigkeit verbundnen
Krankheiten sollen ja in der Regel durch die Krankenversicherung gedeckt
werdeu.
Weitaus die meisten Fälle von Jnvalidenrentengewährung fallen auf
Nummer 1. Die ganz seltnen, durch Krankheiten von längerer als sechsund-
zwanzigwöchiger Dauer veranlaßten Fälle vorübergehender Invalidität lassen
sich in zwei Unterabteilungen bringen:
a) die Fülle, in denen jemand sechsundzwanzig Wochen ununterbrochen
an Bett und Zimmer gefesselt und keinen Tag und keine Stunde dazwischen
erwerbthütig war;
d) die Fülle, in denen jemand wegen hüufigen Krünkelns immer und
immer wieder seine Beschäftigung unterbrechen oder mit leichtern Arbeiten be¬
schäftigt werden mußte, sodaß er sechsundzwanzig Wochen nur ein Drittel des
normale» Arbeitsverdienstes erreichen konnte, sei es, daß er während der sechs¬
undzwanzig Wochen größtenteils beschäftigt war, aber bei geringer Entlohnung,
sei es, daß er in zwei Perioden je neun Wochen oder in drei Perioden je
sechs Wochen krank war, in der Zwischenzeit aber seinen vollen Lohn verdiente.
Für diese letzte Gruppe 2b der Rentenanwnrter tritt nun eine Lücke im Bezüge
von Krankengeld und Invalidenrente ebensowenig praktisch zu Tage wie für
Gruppe 1, sondern nur für die Fälle 2 a, die aber so sehr Ausnahme sind,
daß sie gar uicht in Betracht kommein
Gewöhnlich handelt es sich bei Jnvalidenrentenanwärtern um Personen,
die wegen irgend welcher Gebrechen und Leiden auf dem allgemeinen Arbeits¬
markt schlechter gestellt sind, die nicht mehr imstande sind, durch eine ihrer
bisherigen Lebens- und Berufsstellmig entsprechende Arbeit ein Drittel von
dem zu verdiene», was ein Normalarbeiter des Berufs verdient, sei es, daß
er häufiger im Jahre für längere Zeit seine Thätigkeit unterbrechen muß, weil
er sich vielleicht als Lungenkranker in den Übergangsjahreszeiten schonen muß,
sei es, daß er nicht mehr zu allen Arbeiten, sondern nur noch zu bestimmten
leichtern Arbeiten fähig ist infolge frühzeitigen Verfalls der Kräfte, Solchen
Leuten soll durch die Gewährung der Invalidenrente eine Erleichterung ge¬
währt werden, damit sie sich im Kampf um das tägliche Brot nicht über ihre
Kräfte anzustrengen brauchen und sich den Rest ihrer Erwerbfähigkeit noch
länger erhalten. In allen diesen Fällen, d. h, vielleicht in 99 Prozent, be¬
steht keine vvrangegangne unnnterbrochne sechsundzwanzig Wochen dauernde
absolute, d, h, hundertprozentige Erwerbunfnhigkeit, Die Grenzen zwischen
Erwerbfähigkeit und Unfähigkeit sind fließend lind schwankend. Im praktischen
Leben gestalten sich die Dinge gewöhnlich so, daß die Zeit vor dem Bezug
der Invalidenrente durch häufige länger oder kürzer dauernde Arbeitsunter¬
brechungen charakterisiert ist. Sind solche schwächliche Personen längere Zeit
krank gewesen, so nehmen sie einmal wieder die Arbeit auf und sind eine Zeit
lang wieder erwerbthätig, müssen aber über kurz oder lang von neuem die zu¬
ständige Krankenkasse in Anspruch nehmen. Ein solcher Zustand kann sich
jahrelang hinziehn. So werden alle Vorbedingungen für den Bezug der
Invalidenrente erfüllt, ohne daß eine Lücke zwischen dem Bezug von Kranken¬
geld und Invalidenrente entsteht. Wenn auch für die verwaltnngstechnische
Geschäftserledigung ein bestimmter Tag für den Eintritt der Erwerlmnfähigkeit
zu Grunde gelegt werden muß, so kann ein solcher Termin nur ans der Ge¬
samterwerbfähigkeit des Antragstellers während der letzten Jahre hergeleitet
werden. Eine gewisse Erwerbfähigkeit und Erwerbthätigkeit kann ja auch nach
Gewährung der Invalidenrente bestehn bleiben, und das ist bei der Mehrzahl
der Fall. Nach der Gewährung der Invalidenrente ist sogar eine Doppel¬
versicherung der Invalidenrentner gegeben. Denn mit der Beschäftigung wird
er wieder der Zwangskrankenversichernng unterworfen, und beschäftigt der
Jnvalidenrentner sich nicht, so steht es ihm gesetzlich frei, freiwilliges Mitglied
der Krankenkasse zu bleiben. Die damit verbundnen Rechte werden von solche,:
Mitgliedern sehr häufig geltend gemacht, da ja die verblichnen 33 Prozent
leicht und häufig auf 0 Prozent sinken, und damit Erwerbunfähigkeit im Sinne
des Krankenversicherungsgesetzes, d, h, auch die Gewährung von Krankenunter-
Stützung, herbeigeführt wird. Thatsächlich beziehn auch die Juvalideuretttuer
koch ansehnliche Unterstützungen ans den Krankenkassen, und die Krankenkassen
müssen ihre Unterstützung gewähren, ob es sich um ein dauernd invalides Mit¬
glied handelt oder uicht, und sogar bei wiederholter Erkrankung muß auch die
Krankenunterstütznng wiederholt gewährt werdeu, ganz unbekümmert darum,
wie oft ein neuer Bedürfnisfall eintritt. Wie weit von dem 8 6a 1, Ziffer 3
und 26g. 2, Ziffer 3 des Krankenversichernngsgcsetzes Gebrauch gemacht ist,
die den Kassen erlauben, statutarisch die Gesanckkrankengelduuterstützuugsdauer
für das Jahr auf dreizehn Wochen zu beschränken, sofern der Bedürfnisfall
immer wieder auf derselben nicht gehobnen Krankheitsursache beruht, ist mir
nicht bekannt. Immerhin hindert der Paragraph nicht, daß die Krankenver¬
sicherung den Invaliden noch sehr zu gute kommt, was ihnen wohl zu gönnen
ist. Mit dem Gesagten möchte ich nur erläutern, daß die oben erwähnte Lücke
zwischen Kranken- und Juvalideugeld nur theoretisch, uicht in nennenswertem
Maße praktisch besteht. Um so klaffendere Lücken giebt es jedoch bei den
innern Beziehungen dieser beiden Nersicherungseinrichtungen, die sich in ihren
Aufgaben und Zielen doch ergänzen und decken sollen.
Warum geht mau nicht an die Aufgabe heran, die beiden Versicherungen
zusammenzulegen? Das wäre eine rstorinaUo in o^xito et insrnbris. Würde
die Krankenversicherung territorial den Versicherungsanstalten angegliedert, so
könnten ihre Aufgaben in ganz andrer Weise in Angriff genommen werden.
Die Anstalten, die alle Beobachtungen und Erfahrungen ein den verschiednen
Orten sammeln und sichten, würden sich den örtlichen Verhältnissen und den
verschiednen Interessen der Berufskategorien mehr anpassen, als es die zer¬
splitterten Krankenkassen thun. In kleinen Städten und uns dein Lande
würden sie andre Einrichtungen treffen als in den Großstädten. In diesen
könnten sie entsprechend den heutigen Ortskrankenkassen die Versicherten in
einer Reihe verwandter Berufe mit gleicher Gefahrenklasse unterbringen. An¬
genommen, in einer Großstadt würden die etwa vorhandnen hunderttausend
Versicherten in zehn verschiedne Sektionen verwandter Berufsarten geteilt. In
einer für die Versicherten und für die Ärzte bequemern Weise ließen sich da
zehn Arzte für die zehntausend Versicherten der Sektion in zehn verschiednen
Distrikten anstellen. Unter diese«: zehn Sektionsürzten könnte auch je nach
den Verhältnissen freie Arztwahl eingeführt werden, die häufig von den Kassen¬
mitgliedern gefordert wird, von der die meisten Versicherten aber keinen Ge¬
brauch machen. Sie wenden fich in der Regel doch an den zunächst wohnenden
Arzt. So würde jemand z. B. dreißig Jahre lang Arzt sein können für den¬
selben Bezirk und dieselben Versicherten. Eine solche Stetigkeit läge im
Interesse der Krankenversicherung eben so sehr, wie im Interesse der Invaliden-
versicherung. Denn wenn man als Arzt jahrelang, jahrzehntelang die Mehr¬
zahl der in dem Bezirk wohnenden, in die betreffende Sektion gehörenden
Versicherten behandelt hat, die ganze Konjunktur und Lage der Berufe kennen
gelernt hat, so wird man auch gerecht urteilen können wegen des Zeitpunkts,
wo für den Einzelnen Invalidenrente beantragt werden kann. Das ärztliche
Gutachten ist ja die wichtigste Unterlage bei der Frage der Gewährung von
Invalidenrenten, Und wenn man sich vergegenwärtigt, wie heikle Fragen bei
einem solchen Jnvaliditätsattest beantwortet werden sollen, z. B, zu welchen
Arbeiten des Berufs (schweren, mittelschweren, leichten, mit oder ohne Unter¬
brechung, im Sitze», im Stehn) der oder die zu Unterstützende noch fähig ist,
oder ol> er zu bestimmten Jahreszeiten noch fähig ist, vollen Tagelohn zu
verdienen, aber in den rauhern Jahreszeiten der Natur seines Leidens wegen
genötigt ist, sich monatelang zu schonen und das Zimmer zu hüten, wie die
häusig an Gicht, Rheumatismus, Tuberkulose leidenden Maurer, Zimmerleute,
Dachdecker usw,, so leuchtet es ein, daß sachverständige Ärzte nötig sind, die
gerade die besondern Berufskrankheiten, Berufsarbeiten, Berufsgefahren genau
beurteilen können. Und ebenso nötig ist es, daß der begutachtende Arzt ent¬
weder eine Krankheitsstatistik zur Verfügung hat, oder noch besser, daß er den
Antragsteller seit Jahren kennt und behandelt hat. Bei so vielen Gebreche»,
und Leiden ist ja ein Urteil ans Grund einer Untersuchung zu fällen nicht
möglich. Das ganze Heer der Rheumatiker und Gichtkranken, der chronisch
Magen- und Darmleidenden, der Neurastheniker usw. läßt sich nur von dem
Arzt beurteilen, der jahrelang den Kranken behandelt hat, oder auf Grund
einer Morbiditätsstatistik. Wie kaun ich einen Antragsteller, den ich heute
zum erstenmal sehe, und der mir z, B, über Schwindel und Krampfanfälle
klagt, bei dem ich aber keine objektiven Symptome feststellen kann, gerecht be¬
urteilen? Bei den heute üblichen Methoden der Begutachtung ist immer eine
Ungleichheit und Ungerechtigkeit der Gutachten die Folge. Daß bei dem heilte
noch vielfach befolgten Modus, das Gutachten eines jeden approbierten Arztes,
mit dem die Anstalt sonst keine Fühlung hat, als Unterlage für die Beurteilung
der Frage anzuerkennen, keine gleichmäßige Handhabung der Invalidenver¬
sicherung erreicht werden kauu, haben schou mehrere Anstalten feststellen müssen,
und sie sind dazu übergegangen, anch für die erste Jnvaliditätsuutersuchuug
Vertrauensärzte anzustellen, zum großen Leidwesen der Allgemeinheit der Ärzte,
weil dadurch wieder einzelne Ärzte, gewöhnlich die Medizinalbcmnteu, bevor¬
zugt werden. Die Verhältnisse möge» vielleicht einen solchen Ausweg not¬
wendig gemacht haben. Denn wenn jeder um seine Existenz ringende, unver¬
antwortliche Arzt, der vielleicht gar keine Ahnung von den großen Zielen der
Invalidenversicherung hat und vielleicht ohne sittlichen Ernst an seine Aufgabe
herangeht, auf Grund einer einmaligen Untersuchung ein innßgebendes Urteil
darüber abgeben kann, ob der Antragsteller in seiner Berufserwerbfähigkeit, nicht
wegen der allgemeinen Lage des Arbeitsmarkts, mehr als zwei Drittel beein¬
trächtigt ist, so wird natürlich die durch keine Kontrolle und Instruktion ein
geschränkte Subjektivität und die daraus folgende Ungleichheit in der Nentenge-
währung eine Rechtsverwirrnng im Empfinden des Volks zur Folge haben. Daß
sich eine gewisse Oberflächlichkeit in der Begutachtung zeigt, wird auch verständlich,
wenn man sich vergegenwärtigt, daß ein und derselbe Arzt ein den gesetzlichen
Bestimmungen gerecht werdendes Gutachten abgeben soll, heute bei einer Auf¬
wartefrau, morgen bei einem Straßenkehrer, übermorgen bei einem Zimmer¬
mann, dann bei einer Haushälterin, Der Arzt steht da immer vor der Frage:
Wo liegt die Grenze der auf ein Drittel beschränkten Erwerbfähigkeit für jeden
einzelnen Beruf? Wie kann das jeder Arzt in sicherer Weise beantworten?
Dus ist unmöglich. Aber der einzelne Klient ersucht darum, und der Arzt
mag sich nicht die Blöße geben, sich für unzuständig zu erklären. Ein Beispiel
möge die Sache illustrieren. Seit Jahren war in meiner Behandlung ein
Zimmermann, den ich als Krankenknssenarzt niemals erwerbuufähig geschrieben
hatte, und der sich nur wegen allgemeiner Vollblütigkeit und Neigung zu
Fettsucht häufig Dampfbäder verordnen ließ. Er verdiente seit Jahrzehnten
den vollen Lohn von 4 Mark 50 Pfennigen täglich, ist nebenbei Kirchendiener
und besteigt mehrmals wöchentlich den Kirchtnm zum Glockenläuten; unter
diesen Umständen habe ich dein Manne auf ein Ersuchen geantwortet, daß ich
ihm schlechterdings kein Jnvaliditütsattest ausstellen könne. Einige Zeit später
kam der Mann durch Veränderung seiner Arbeitsstelle in eine andre Kranken¬
kasse. Jüngst hatte ich nun das Vergnügen, daß derselbe Mann zu mir kam,
»in mir Vorhaltnngen zu machen, daß ich ihm gegenüber eine unnötige Härte
gezeigt hätte; sein jetziger Arzt habe ihm anstandslos ein Attest ausgestellt,
und er beziehe nun schon ein halbes Jahr die Rente. In einem andern mir
bekannten Falle bezieht eine Haushälterin in den besten Jahre» eine Invaliden¬
rente wegen eines Magenleidens und erregt dabei alle Tage das Entsetzen
ihrer Herrschaft durch ihre Leistungsfähigkeit im Essen und Trinken. Wie ist
das möglich? Weil die Invalidenversicherung keine Übersicht hat über die
frühern Erkrankungen, und weil die Ärzte die Antragsteller auch zu wenig
kennen und so den subjektiven Angaben zu viel Wert beilegen. Auch im
Zweifel entscheidet der Gutachter eher zu Gunsten des Antragstellers. Ein
Arzt wird leichter geneigt sein, einen Fall milder zu beurteilen, wenn ein
andres Handeln das Mißfallen eines gewichtigen Patienten erregen könnte,
wenn z. B. die gnädige Frau für ihre Magd ein gutes Wort einlegt. Für
einen ablehnenden Bescheid der Anstalt wird doch in der Regel der Arzt ver¬
antwortlich gemacht. Andrerseits kann man die Einrichtung der ausschlie߬
lichen Begutachtung durch Vertrauensärzte auch nicht als vollkommne Lösung
der Frage betrachten. Ohne Krankheitsstatistik und ohne den Antragsteller
seit Jahren beobachtet zu haben, ist es den einzelnen Vertrauensärzten un¬
möglich, eine humane, den so verschieden liegenden Verhältnissen gerecht
werdende Beurteilung zu haben.
Die Invalidenrenten werden immer beliebter, und die Anzahl der Fälle,
wo Leute mit geringen Schäden Anträge stellen, wird immer größer. Wie ist
da eine gleichmäßige, gerechte ärztliche Begutachtung und Überwachung einzu¬
richten? Diese Frage ist viel leichter zu beantworten, wenn die Jnvaliditüts-
anstalt selbst Trägern: der Krankenversicherung ist, eine Krankheitsstatistik von
Jahrzehnten hat und prinzipiell die Ärzte zur Begutachtung heranzieht, denen
die Antragsteller bei der Krankenversicherung zugehörten, und die mit seinen
Krankheits- und Berufsverhältnissen vertraut sind. So kann der Ungleichheit
der Rechtsprechung und der daraus folgenden Unzufriedenheit, dem Mißtrauen,
dem Neid besser vorgebeugt werden.
Bei einer solchen einheitlichen Organisation der Kranken- und Invaliden¬
versicherung eröffnet sich die schöne Aussicht, daß die wichtigen hygienischen,
mechauotherapeutischen Maßnahmen, die allein die Krankheitszahl herabzudrücken
vermögen, in Angriff genommen werden, daß die vorbeugende Medizin zu
ihrem Rechte kommt. Denn die weitsichtigen! Jnvalideiwersicheruugsanstnlten
sind ja jetzt schon über die Auffassung, als Hütten sie bloß die Verpflichtung
materieller Leistungen, hinausgegangen. Nach einer innern Verbindung beider
Versicherungsarten werden die Anstalten ihre Aufgabe, eine hygienische Er¬
ziehung der Versicherten zu fördern, in verschiedner Hinsicht noch vertiefen
wollen. Die Hygiene fordert z. B. einen Verweudungsschutz, Ich deute mir
nun, eine weltsichtige Versicherungsanstalt ist in der Lage, auch auf die Art
der Beschäftigung der Versicherten, auch auf die Berufswahl einzuwirken. Durch
ihren weitreichenden machtvollen Einfluß wird sie z, B, blutarme Nüheriuueu,
lungenkranke Fabrikarbeiter und Arbeiterinnen zur Beschäftigung in andern für
sie passenden Verufscirten veranlassen und ihnen mit Hilfe von Arbeitsuachweis-
ämtern behilflich sein können. Der Gedanke liegt gar nicht fern, daß dadurch
ein Rückfluß der städtischen Arbeiterbevölkerung nach dem Lande wohlverstanden
im Interesse des Versicherten, eintreten könnte. Man wende nicht ein, daß
ein so weit reichender Machtbereich der Anstalten das heilige Recht der Per¬
sönlichkeit antaste, in die freie Selbstbestimmung eingreife. Die Thatsache,
daß nur eine Zwangsversichernng haben, beweist ja, daß diesen Bevölke-
rungslreisen die sittlichen und wirtschaftlichen Kräfte und Einsichten fehlen,
sich selbst zu helfen. Da hat der Staat eingegriffen mit seinem Zwang im
Interesse derer selbst, deren Persönlichkeitsrechte eingeschränkt sind. Im
Interesse des von der Hygiene geforderten Verweudungsschutzes müßte auch
ein Zwang von den Anstalten ausgeübt werden können. Ich habe schon
manchem Fabrikarbeiter und mancher Arbeiterin, bei denen die Symptome eines
beginnenden chronischen Lungenleidens vorhanden waren, und denen die Jnva-
liditütsanstalt ein Heilverfahren gewährte, eindringlich geraten, die Fnbrikarbeit
aufzugeben, wieder in ihre ländliche Heimat zu gehn oder sich in einer Dicnst-
botenstellung in hygienisch günstigere Lebensverhültnisse zu bringen. Aber ohne
Erfolg, Jn solchen Füllen muß ein Zwang ausgeübt werden.
(Schluß folgt)
!och im Frühjahr 1899 glaubte niemand bei uns im Norden der
Kapkolonie ernstlich um Krieg. Mit Engländern und Kapburen
saß ich manchmal des Abends nach vollbrachten, Tagewerk vor
unserm Häuschen, und das Gespräch wandte sich oft der Politik
!zu und den Beschwerden der Uitlander. Diese Fragen wurden
unes der Buren Art in einer für europäische Begriffe fast mehr als schleppenden
Unterhaltung behandelt, ohne Erregtheit und ohne eine Spur von Leidenschaft.
Dein Lärm der von uns gelesenen englischen Presse legten wir nicht mehr Be¬
deutung bei als dem Geschrei der Schakale, wenn diese sich nach einem von
uns beendeten Jagdzuge des Nachts abseits von unserm Wachtfeuer um ein
verendetes Wild oder um ein gefallncs Schaf stritten. Man sah in den
Klagen über wirtschaftliche Erschwernisse nur das Geschrei vou Finanzlenten,
die darüber ärgerlich sind, daß sie nicht rasch genug reich werdeu können. So
wenig dachte ich selbst an Krieg, daß ich noch im Monat Juni 1899 einen
auf drei Mounte berechneten Jagdausflug in die Kalahariwiiste unternahm.
Wie verändert fand ich die Verhältnisse bei meiner Rückkehr! Der Krieg war
unvermeidlich geworden, und ich stand nun vor einer schweren Entscheidung.
Mein Freund G., ein Kapbure, und ich hatten erst kürzlich einen eignen störe,
ein Handlungshaus, das im besten Gedeihen war, in der südafrikanischen
Republik eröffnet. Wegen des gefährdeten Anlagekapitals erschien mein persön¬
liches Eingreifen während des zu erwartenden Kriegs dort notwendiger als
hier auf englischem Gebiet, das nach unsrer aller Ansicht unberührt bleiben
würde. Ich bat darum meinen Chef, einen Engländer, mich nach der süd¬
afrikanischen Republik entlassen zu wollen. Dringend riet er mir davon ab,
mich in unsichere Verhältnisse zu begeben, und dieses nicht etwa aus Gegner¬
schaft für die Sache der Buren, mit denen ich, wie er wohl wußte, sympathi¬
sierte. Die materiellen Interessen waren schließlich ausschlaggebend. Am
25. September 1899 wurde ich von meinem Chef entlassen. Mit seinem
Wagen ließ er mich auf die Eisenbahnstation bringen, rechtzeitig zum nächsten
Zuge nach Norden. Wir schieden als Freunde, obgleich er wohl wußte, daß
ich kaum nur ein Zuschauer des Kriegs bleiben würde. Er verstand den
Charakter der Buren und meine Zuneigung zu diesem Volte sehr gut, und
unsre Freundschaft hat durch den Krieg keinen Riß erlitten. Ich verdanke ihm
die erste Unterstützung in meiner spätern Gefangenschaft, Er erfuhr diese von
einem seiner Handlungsgehilfen, der mich zufällig auf dem Gefangnentransport
gesehen hatte. In wirklicher Not, als ich kaum noch einen ganzen Lappen
auf dem Leibe trug, hat er mich auf seine Kosten — denn alles Geld war
uns abgenommen worden — gekleidet; er hat als wahrer Freund an mir ge¬
handelt und mein Los zu erleichtern gesucht, soviel in seiner Macht stand.
Es war Mittag, als ich auf der unsrer Farm zunächstliegenden Station
eintraf. Ein Wägelchen mit unserm „Boy" (Kaffernjnngen) als Kutscher er¬
wartete mich, sodaß ich schon nach dreistündiger Wagenfahrt ans der Farm
eintraf, gerade vierundzwanzig Stunden vor der Einstellung des Bahnverkehrs
zwischen der Kolonie und dem Freistaat, Noch war der Krieg nicht erklärt
worden, und mein Freund G. und ich hatten für den Fall seines Ausbruchs
Zeit, unsre geschäftlichen Angelegenheiten bis ins einzelne zu besprechen. Als
Koloniebnre war er ebensowenig wie ich als Deutscher dienstpflichtig, er be¬
absichtigte aber freiwillig anzugehn, während ich das Geschäft überwachen sollte.
Am Morgen des 29, September gegen acht Uhr erhielt der Feast-Feld-
kornett unsers Bezirks, der auf unsrer Farm wohnte und als Oven T. überall
beliebt war, deu Befehl der Negierung, mobil zu macheu. Er ließ ihn sofort
an die elf Familien unsrer Farm und auf den Farmer seines Bezirks durch
einen berittnen Boten herumscigeu, Ani zehn Uhr sollten die Mannschaften
abrücken. Die Pferde wurden rasch gefüttert, getränkt und gesattelt. Für
etwa sechs Tage Proviant wurde zusammengepackt und in der Satteltasche
untergebracht. Eine wollne Decke und ein Gummimantel, beide gerollt und
über den Sattelkopf festgeschnallt, vervollständigten die feldmarschmäßige Aus¬
rüstung. Mit einem Patronenband von sechzig Patronen um die eine Schulter,
um die andre das vor Jahresfrist von der Regierung dem Bürger gelieferte
Mausergewehr gehängt, war man zum Abmarsch fertig. Der Abschied war
kurz und still. Zehn Männer zwischen dreiundsechzig und zwanzig Jahren
fanden sich Puukt zehn Uhr des Vormittags vor dem Schulhause der Farm
zusammen. Ein Kuß, eine zerdrückte Thräne, und im Galopp ging es in das
weite Feld gegen Westen zum Sammelplatz des Distrikt?, wo dessen ganzes
Kommando von fünfhundert Mann mobil zur Verfügung des Oberkommandos
stehn sollte.
Auf unsrer Farm war es noch stiller geworden, als es die ländlichen Ver¬
hältnisse ohnehin mit sich brachten. Zwei Männer von fünfundsechzig und
siebzig Jahren und ich, dabei einige Jungen von zwölf Jahren, die später und
bald nach mir unter die Kämpfenden gegangen find, waren bei den Frauen
und Kindern zurückgeblieben. Nachrichten gingen nur spärlich ein. Aus
Briefen erfuhren wir, daß das Kommando unsers Bezirks nach füufnndzwanzig-
stündigem Ritt an der Grenze gegen Mnfeking zu eingetroffen war und vorerst
dort bleiben werde. Uns Zurückgebliebnen lag es nun ob, den für die Leute
unsrer Farm notwendigen Ochsenwagen auszurüsten und zum Kommando stoßen
W lassen. Der beste Wagen wurde herausgesucht und mit Kleidern und gut
getrocknetem Brot beladen. Nach zehn Tagen konnte er, mit sechzehn Ochsen
bespannt und von zwei Kaffern geführt, abgehn, Kaum war er fort, als bei
uns die Nachricht von dem vierundzwanzigstündigen Ultimatum der Republiken
an die englische Negierung eintraf. Obgleich dieses den Ausbruch des Kriegs
bedeutete, machte die Nachricht weiter keinen Eindruck. So sehr hatte man sie
stündlich erwartet.
Das Geschäft hatte ganz aufgehört. Man besuchte die Nachbarn und
besprach mit Gleichmut die Aussichten des Kriegs, die Buren hoffnungsvoller
als ich. Ein Nachrichteudieust wurde eingerichtet in der Weise, daß ein be-
rittuer Junge von uns immer auf der Eisenbahnstation, wo allein ein Telegraph
durchging, hielt, um uus die eingehenden Depeschen zu überbringen. Die Glocke
des Schulhauses sollte jedesmal die Ankunft des Boten anzeigen und die Leute
herbeirufen, damit diesen der Inhalt der Depeschen dnrch Verlesen bekannt ge¬
geben werde. Bald traf die erste Nachricht von dem Beginn der Feindselig¬
keiten ein, zugleich von unserm Kommando. Sie lautete günstig. Den Eng¬
ländern war vor Mafekiug ein gepanzerter Eisenbahnzug abgefangen worden.
Brieflich erfuhr ich später den sonderbaren Zufall, daß ein Angestellter unsers
Geschäfts in der Kolonie, zugleich ein Freund von uns, in dem Zuge gewesen
und gefangen genommen worden war. Er freute sich uicht wenig, als er dem
mit Kugeln durchlöcherte» gepanzerten Kasten entstieg, die Hände von Freunden
schütteln zu können. Die nächsten Nachrichten kamen von Elandslaagte und
Dundee, die letzte für uns unerwartet günstig. Die Freude hierüber war all¬
gemein, äußerte sich aber niemals laut. Stillvergnügt ging man in den
Häusern umher. Auch dann kam es nicht zu Freudenkundgebungen irgend
welcher Art, als Ladhsmith, Kimberley und Mafeking eingeschlossen werden
konnten. Nach der während meiner Dienstzeit in Deutschland uns als Neserve-
offizieraspiranteu zu teil gewordnen Instruktion über die allgemeinsten strate¬
gischen Grundsätze fiel mir während dieser Zeit nur auf, daß unsre Truppen
nach vier Seiten in ungefähr gleicher Stärke verteilt waren. Nach meinen
allerdings sehr geringen Kenntnissen von Strategie hätte die Haupttruppen¬
macht dort zusammengezogen sein müssen, wo man als Angreifer die Ent¬
scheidung suchen wollte. In dieser Annahme hatte ich erwartet, man werde
die Gebirgspässe an der Natalgrenzc mit wenig Truppen sperren und mit der
ganzen übrigen Macht vereint in die Kapkolonie einbrechen. Dort kannte ich
die Stimmung unter den Kapbureu und die unter ihnen herrschende Begeiste¬
rung für ein „Frei-Südafrika." Bei dieser Stimmung mußte den Burenrepubli¬
kanern nach ihren ersten Erfolgen alles zuströme«; die Entscheidungen würden
vor Kapstadt gefallen, lind Plätze wie Mafeking und Kimberley für die Eng¬
länder Verlorne Plätze gewesen sein.
Noch vierzehn Tage hielt ich es auf unsrer Farm aus. Dann packte
mich die Langeweile, dazu das drückende Gefühl, uuter Frauen, alten Männern
und Knaben zu Hause sitzen zu müssen, anstatt für die Allgemeinheit mitzu¬
wirken. Mit diese» Gefühlen schrieb ich an G., wir wollten monatsweise ab-
wechselnd zu Felde ziehn, ein Vorschlag, der seine Billigung fand. Ich rüstete
mich schleunigst aus, d, h, ich zog die besten Ober- und Unterkleider um, dazu
die stärksten Stiefel, packte einige weitere Kleidungsstücke zum Wechseln zu¬
sammen und ließ unser leichtestes zweirädriges Wägelchen anspannen. Die
Dier vorgespannten Maultiere lenkte unser Boy, dem auch der Weg bekannt
'.war. Nebeneinander sitzend legten wir die bis Mafeking etwa 190 Kilometer
betragende Strecke von morgens acht Uhr bis zum Mittag des folgenden Tags,
-also etwa in dreißig Stunden zurück. Wir fuhren Tag und Nacht, zwischen
je zwei Stunden Fahrt nur zehn Minuten Pause. Unser Weg führte uns
vielfach durch Farnen, wo man uns des Tags freundlichst Kaffee und unsern
Tieren Futter verabreichte; des Nachts waren wir auf uns und unsre Vorräte
angewiesen. Die Nähe des Lagers Mafeking kündigte sich dnrch zahlreiche
weidende Ochsen und Pferde um. Schon auf große Entfernung sahen wir in
dem ganz leicht welligen Gelände die Wagen des Lagers selbst und die
leuchtende Leinwand der Wagcnüberdachungen, Dorthin ließ ich lenken. Auf
die Frage nach meiner Feldkornettschaft (Gatsrand) wies man mich nach dem
linken Flügel des Lagers, wo ich mich, von den Freunden herzlich begrüßt,
zunächst bei Oven T, der inzwischen Kommandant geworden war, meldete. Er
bot mir, nachdem er den Zweck meines Kommens erfahren hatte, die Stelle
seines Adjutanten an, die durch den Weggang von G. frei werden würde.
Diese Stellung verdankten G. wie ich der Beherrschung der englischen Sprache,
sowie unsrer Gewandtheit im Schreiben, nicht etwa militärischen Eigenschaften.
Erleichterungen waren damit nicht verbunden. Mein Dienst unterschied sich
in nichts von dem eines Gemeinen; in der für diesen sonst freien Zeit lag es
mir ob, den Zu- und Abgang des Proviants zu kontrollieren, ihn zu hundelt
und den monatlichen Abschluß an die Generalkanzlei abzuliefern. Außerdem
hatte ich den Kommandanten bei der Befehlsansgabe zu unterstützen, Freund G.,
der Anteil an einem Zelt hatte, trat mir diesen ub, überließ mir auch seine
zwei Pferde und ging mit Urlaubspaß auf die Farm zurück in demsp'^en
Wägelchen, das mich gebracht hatte. Meine Absicht, mich nicht wieder ablösen
zu lassen, hatte ich ihm natürlich verheimlicht; ich versprach, ven Tag der
Rückkehr zeitig anzuzeigen.
Noch am Tage meiner Ankunft traf mich die Reihe, auf Vorposten auf-
zuziehn in ein sogenanntes Fort, ein Erdwerk, d-gZ gegen Mafeking so weit
vorgeschoben war, daß man mit dein Uebel)'..ndertmetervisier in die englischen
Forts hineinschießen konnte. Gegen Abend ritten die zu Vorposten bestimmten
hundert Mann, fünfundzwanzig Manu aus jeder der vier Feldkoruettschafteu
des Kommandos, vom Lager ab. Bei Dunkelheit wurde das Erdwerk erreicht,
und die Mannschaft darin abgelöst. Fünf Doppelposten krochen etwa vierzig
Meter vor das Werk und blieben dort je eine Stunde liegen.
Sehen konnte man des Nachts trotz der sehr hellen Nächte nicht weit;
die Kunst bestand im Erhorchen, Es war erstaunlich, welche Fähigkeiten die
Buren hierin entwickelten. Das Ohr auf einen Fels auflegend konnten sie
auf Entfernungen von Kilometern das Nahen von Pferden und Wagen, jn
sogar mit ziemlicher Gewißheit die Art und die Zahl der Gespanne angeben. Die
im Erdwerk zurückgebliebne Ablösung der Doppelposten schlief so gut und schlecht
es eben ging, Gewehr im Arm, bis einen die Reihenfolge aufzuziehn traf.
Vor Tagesanbruch wurden die Posten vor dem Fort eingezogen und darin
aufgestellt. Am Abend ging es dann ins Lager zurück.
Die Zeit vor Mafeking war eintönig und reizlos. Nachdem ein unbe¬
deutender Ausfall der Engländer ans unser Erdwerk von der dort liegenden
Mannschaft ohne Unterstützung aus dem Lager abgeschlagen worden war,
wurde ein zweiter Versuch während meiner Anwesenheit nicht mehr unter¬
nommen. Unsre wenigen .Kanonen beschossen in langen Zeiträumen die feind¬
lichen Forts, während wir für die feindliche Artillerie unerreichbar waren. Des
Sonntags herrschte vollkommne Ruhe, und diese wurde so streng gehalten, daß
in den Straßen Mcifelings Männer und Frauen, Soldaten und Kinder
spazieren gehn konnten, ohne daß wir sie in diesem Vergnügen, das an den
Wochentagen sehr gefährlich war, störten. Das einzige Vergnügen, das sich
uns bei diesem ewigen Einerlei bot, war die sogar für Burenbegriffe hervor¬
ragende Leistung eines englischen Schützen. Ich denke noch immer mit Ver¬
gnügen daran, wie wir auf Vorposten mit großer Sorgfalt und künstlerischer
Ausführung für ihn eine Puppe herstellten, ihr den Burenschlapphut aufsetzten
und sie dann über die Sandsäcke unsers Erdwerks hervorschauen ließen. Dann
blitzte ein Schuß, nud eine Kugel pfiff so dicht über die Krone des Walles,
daß regelmäßig entweder der Strohmann getroffen oder der davor liegende
Sandsack an der Oberfläche aufgeschlitzt worden war. Der englische Schlitze
erntete dafür ein lautes Bravo.
Wir gedachten die Engländer auszuhungern und lebten ohne Sorge um
die Zukunft Tag um Tag dahin. Da kam plötzlich eine Änderung. Ich war
auf Vorposten gewesen, als wir des Morgens um neun Uhr ganz gegen die
Ordnung unsre Ablösung herankommen sahen. Mit Betrübnis erfuhren wir,
daß ungünstige Nachrichten vom südlichen Kriegsschauplatz über Gefechte von
Graspnn und Belmont eingelaufen seien, und daß 2500 Mann, darunter unser
Kommando, nach Süden zur Unterstützung der Omnjeburen abgerückt seien.
Als wir ins Lager zurückgekehrt waren, ließ mau uns eine halbe Stunde Zeit,
die Pferde zu füttern; absatteln durften wir nicht. Punkt zehn Uhr vormittags
— es war ein Samstag — setzte sich unser Trupp von hundert Reitern in
sogenannten Trippelgang, eine Art Trab, nach der Eisenbahnstation Vercenigung,
von wo aus der Transport der Truppen nach Edenburg, der nächsten Station
unsers künftigen Wirkungskreises, geschehen sollte. Wir ritten, jeder so schnell
er wollte, und ohne im Trupp beisammen zu, bleibe». Wer bessere Pferde oder
solche zum Wechseln hatte, kam schneller vorwärts nud versuchte das Kommando
einzuholen. Wir ritten Tag und Nacht über Sonntag bis Montag früh,
fünfundvierzig Stunden lang, ohne zu schlafen, und gönnten nur den Pferden
die nötigsten Ruhepausen. Die Anstrengungen dieses Rittes waren ungeheuer
und werden mir unvergeßlich bleiben; er bot mir jedoch manches Interessante,
namentlich über die erstaunliche Orientierungsgabe der Buren. Wenn wir des
Nachts so dahin trabten über die meinen Augen keine Merkmale bietende
Ebene, wußte »rein Nebenmann ganz genau, wo wir waren. Zeit und Rich-
tung bestimmte er nach den Sternen, und ich habe mich manchmal auf meiner
Uhr überzeugt, wie genau er die Zeit nach dem Aufgang einzelner Sterne zu
bestimmen wußte; einsame Farmhänser fand er in tiefster Dunkelheit und ohne
von einem Lichte geleitet zu sein, immer zur vorhergesagter Zeit. Ich pflegte
die Häuser erst denn zu erblicken, wenn mein Pferd vor der Hausthür stehn
blieb. Dabei ritten wir querfeldein, nicht etwa auf Wegen.
Teile unsers Kommandos holten wir unterwegs ein, den Rest trafen wir
ans der Station Vcreenigung, wo mir unser Kommandant mitteilte, daß er
mich zu dem Sekretär unsers Kommandos ausersehen habe. Als solchem lag
es mir ob, alle wichtigern Verhandlungen des Kriegsrath in das Protokollbuch,
ein gewöhnliches Schreibheft, einzutragen. Mehr als das Amt freute eS mich,
damit Gelegenheit gefunden zu haben, Einblick in die Kriegsoperationen zu
gewinnen, eine Erwartung, die sich nur zum Teil erfüllte. Ju Vcreenigung
gewährte man uns den sehr notwendigen vollen Ruhetag. Dann wurde unser
Kommando in vier Eisenbahnzügen untergebracht, die uns nur mit mäßiger
Geschwindigkeit in sechsunddreißigstündiger Fahrt nach Edenburg brachten.
Dort bestiegen wir wieder die Pferde, und weiter ging es dreißig Stunden
laug im Sattel bis nach JakobSdaal. Jenseits dieses Ortes war es am Tage
bor unsrer Ankunft zu einem für uns ungünstigen Gefecht gekommen. Den
Kanonendonner der englischen Artillerie hatten wir gehört, aber wir hatten vor
Ermüdung nicht rechtzeitig zur Unterstützung der Unsrigen eintreffen können.
In Jnkobsdaal erhielten wir eine Ruhepause von fünf Stunden, bevor
uns der Befehl des zum Höchstkommandierenden ernannten Generals Cronjc
traf, gegen die unter Methuen vordringende englische Armee in Stellung bei
Scholtznek zu gehn. Im Kriegsrat wurde diese Stellung vom Kommandanten
Delarey, der aus den voransgegangnen Gefechten Erfahrungen gesammelt hatte,
als ungünstig angegriffen, weil sie in steinigem Gelände lag. Solche Stel¬
lungen hatten sich im feindlichen Artilleriefcner besonders wegen der umher¬
springenden Steinsplitter als äußerst gefährlich erwiesen. Delarey schlug deshalb
eine Stellung vorwärts von Scholtznek in sandigem und möglichst ebenem
Gelände vor, wo sich auch der englischen Artillerie keine Gelegenheit bot, er¬
höhte Positionen einzunehmen. Der Kriegsrat trat Delareys Vorschlag bei,
und demgemäß befahl Crvnje, die Stellung von Magersfontein einzunehmen.
Als wir in diese Stellung eingerückt waren, erblickten wir in den, nur
ilanz leicht welligen Gelände den Modderfluß und dahinter das wohlbefestigte
wglische Lager. Die englischen Truppen und die Artillerie waren schon dies¬
seits des Flusses und hatten dort Erdbefestigungen errichtet. Eine Ponton¬
brücke und die wiederhergestellte Eisenbahnbrücke vermittelten den Verkehr
zwischen beiden Ufern. Unsre Stellung, halbkreisförmig und von außerordent-
licher Ausdehnung, überholte die englische. Sie war insofern für die Schu߬
wirkung sehr günstig, als etwas hinter uns eine ganze Reihe von 30 bis
40 Meter hohen Kopjes lag, von denen aus sich das Gelände bis zu den
Engländern hin ganz allmählich senkte, also eine Art sanft abfallenden Glacis
bildete.
In drei Abschnitten sollte diese Stellung besetzt werden; auf je tausend
Mann fiel ein Abschnitt. Uns wurde die Mitte zugeteilt. Während der noch
herrschenden Feuerruhe suchten wir diese Stellung möglichst sicher und un¬
einnehmbar zu macheu. Nach Anweisung des Kommandanten wurde bei Tag
und bei Nacht mit den Spaten der Feldkornettschafteu ein Schützengraben aus¬
gehoben, und zwar so tief, daß jeder Mann darin stehn konnte. Seine Breite
war etwa 75 Centimeter. Die Grabenwand nach dein Feinde zu wurde aus¬
gehöhlt, damit mau sich in der Höhlung gegen Schrapnellfeuer decken könnte.
Der nnsgehvbne Grund wurde möglichst auseinandergeworfen und mit trocknem
Gras und Zweigen bedeckt. Der einzelne Mann sorgte für eine Gewehrauf¬
lage und vertiefte den Schützengraben, wo er ihm für seine Gestalt nicht tief
genug erschien, wie es ihm paßte. Auch fanden wir noch Zeit, einen Stachel¬
draht in einer Entfernung von 30 bis 60 Metern vor unserm Graben ein bis
zwei Fuß über der Erde durch niedriges Buschwerk zu ziehn und an einzelnen
Bäumen und eingeschlagnen Stangen festzumachen. Der Draht wurde den
Augen sorgfältig verborge», damit er Pferde und Mettscheu, die dort gehtt
wollten, zu Fall brächte. Auch Blechstückchen hängten wir am Draht auf, die
bei Berührung des Drahtes aneiuauderschlugen und durch ihren hellen Klang
uns vor Überraschungen des Feindes sichern sollten. Als Hindernis gegen
anrückende Truppen unterstützte uns teilweise ein mannshoher Zaun, gleich¬
falls aus Stacheldraht, ein Überbleibsel ans der Zeit der Rinderpest, der längs
der Freistaatgrenze etwa 70 Meter vor uns her zog. Hinter den Kopjes waren
die Pferde angepflockt und grasten, bewacht von Kaffernjnngen, die auch für
uns kochen mußten.
Nach drei Tage» Arbeit eröffneten die Engländer das Artilleriefeuer. Ich
lag gerade in der Morgendämmerung schlafend, das Gewehr im Arm und in
meine Decke gehüllt hinter dem Schützengraben, als der erste Schuß dicht über
mich hinausflog. Halbwach hatte ich gemeint, mein Nebenmann sei mir mit
der Hand über den Rücken gestrichen, als mich die etwa hundertachtzig Schritte
hinter mir krepierende Granate belehrte, daß der Morgengruß ernster gemeint
war. „Paß op!" rief mir mein Nachbar zu und sprang so eilig auf und in
den Schützengraben hinein, daß er mit seinem Gewehrkolben mir die Brille
— die einzige, die ich hatte — von der Nase und beinahe das Auge ausschlug.
Hilflos tastend suchte ich mit den Händen deu Boden ab, gottfroh, bald die
mir unersetzbare Brille mit unbeschädigten Glase und damit das Gesicht wieder
gefunden zu haben.
An diesem Tage war das Artilleriefener nur langsam, immerhin war es
für uns deprimierend genug, nichts dagegen thun zu können. Wir hatten
nur ein veraltetes Kruppgeschütz für rnuchstarkes Pulver, sodaß es beinahe
unverwendbar war, und eine Maximkanone. Schoß es einmal, dann kon¬
zentrierte sich das feindliche Artilleriefeuer sofort nach der Stelle, wo der
Rauch aufstieg, und machte eine Bedienung des Geschützes unmöglich. Am
siebenten Tage unsrer Beschießung, einem Sonntage, wurde das Artilleriefeuer
furchtbar. Von einem Ballon aus wurde es geleitet und konzentrierte sich
hauptsächlich auf die Gipfel der Kopses, wo wir zu unsrer größten Über¬
raschung — denn wir hatten strengen Befehl, erst auf das Zeichen unsers
Kommandanten zu schießen — ein schwaches Schützeufeuer der Unsrigen mit
rauchstarkem Pulver wahrnahmen. Später hörten wir, Cronje habe dieses an¬
geordnet, und es war zweifellos eine glückliche Idee — vielleicht die einzige
glückliche, die er gehabt hat —, so den Feind über Stärke und Stellung zu
täuschen. Gegen Abend hörte das Feuer auf, und wir eilten, unsre Pferde zu
tränken, was die Engländer wohl für Flucht halten mochten. Die Artillerie
hatte furchtbar gewirkt; war auch im Schützengraben kein einziger Manu ge¬
troffen worden, so war die Verwüstung hinter den Kopjes unter den Pferden
um so schlimmer. Eine einzige Granate hatte z. B. fünfunddreißig Pferde,
darunter meine beiden, zerrissen, merkwürdigerweise ohne den Pferdejungen im
mindesten zu verletzen. Unsre Lebensmittel, besonders aber unsre Wassersäcke aus
Leinwand, waren mit einem grüngelben, mißfarbnen Niederschlag, der von dem
Lyddite der Geschosse.herrührte, überzogen, und alles ungenießbar geworden.
Bei den großen Verlusten an Pferden fiel es mir schwer, noch an dem¬
selben Abend den dringend notwendigen Ersatz zu erhalten; nach langem Be¬
mühen erstand ich einen Braunen für zehn Pfund Sterling, den ich unser»,
Boy, der sich uach dem Verlust der ihm anvertrauten fünfunddreißig Pferde
fortgemacht hatte, jetzt aber zurück war, zur Wartung übergab. Dann kehrten
wir in die Stellung zurück.
(Fortsetzung folgt)
ährend des Kriegs war uns der Name Se. Waudrille unzähligemal
zu Ohren gekommen, aber gesehen hatte es niemand. Unsre Dragoner
rekognoszierten nur bis zur jetzigen Eiscnbahnhaltestelle Jmnieges,
weiter nach Ccmdebec hinunter konnten sie sich nicht wagen, weil sie
hier auf dem Wege eine Stunde lang zwischen senkrecht abfallenden
Felsen und dem breiten Fluß hätten reiten müssen und zwei Kanonen¬
ote», die dort lagen, zur ungedeckten Zielscheibe gedient hätten. Jetzt nach dreißig
Jahren hatte ich Gelegenheit, die alte Kulturstätte ans der Merowingerzeit zu sehen
und die so lange zurückgehaltne Wißbegierde zu befriedigen.
Der Nebel lag noch auf der Seine und dem weiten Werber jenseits des
Flusses, als ich von meinem Hotel aufbrach und durch Caudebce wanderte. Caudebec
ist in seinem Kern ein uraltes Städtchen mit einer herrlichen gotischen Kirche und
liegt lieblich zwischen Höhen und Fluß eingebettet wie ein rheinischer Ort. Dann
schließen sich an die alte Stadt die kleinen reizenden Villen, die eine Spezialität
der Franzosen sind, mit ihren hellen großen Fensterscheiben und den sorgfältig ge¬
pflegten kleinen Gärten mit dem Spalierobst und den kleinen Treibhäusern. Auch
diese Villen gehn zu Eude, und ich wanderte weiter auf der sich zwischen Felsen
und Fluß hinziehenden Chaussee. Wie ich schon erwähnt habe, ist ein Fußgänger
in Frankreich etwas ungewöhnliches! ein Bauer, der mir mit seinem Fuhrwerk nach¬
kam, bot mir mit französischer Liebenswürdigkeit einen Platz auf seinem Wagen an.
Ich dankte herzlich, dem: ich wollte laufen, der Morgen war zu entzückend. Bei
der Station Se. Waudrille öffnet sich links ein Thal. Der Thalgrund ist eine
breite Wiesenfläche, aus der sich wie in einem Park Gruppen von Rüstern, Eschen
und Ahorn heraushebe». An dein Thalrande dann und wann ein Haus, von
Bäumen beschattet, das Strohdach von Moos überzogen. Die Berghänge lagen
umschleiert, man konnte nur undeutlich erkennen, daß sie bewaldet waren. Am Ende
des Thals zeigt sich zunächst der plumpe Turm der Pfarrkirche und diese selbst, in
Kreuzform gebaut mit Rundbvgenfenstern. Im Innern tragen Säulen ans den
ältesten Zeiten des romanischen Stils das gewölbte Hauptschiff, die halbhohen
Seitenschiffe haben ein einfaches schräges Holzdach. Es muß eine der ältesten
Kirchen des Landes sein.
Einige Schritte weiter, und man kommt zur Ruine der alten Benediktinerabtei,
deren Grundstein schon im siebenten Jahrhundert gelegt worden ist, als ein Teil
der Franken vom Christentum noch nichts wissen wollte. Von der Abteikirche, die
im vierzehnten Jahrhundert in gotischen Formen erbaut wurde, stehn nur uoch auf
einer Seite die Mauern und Flügel des Kreuzschiffs, herrliche hohe Pfeiler mit
hochstrebenden Bogen. Ich trete durch die Thüre in das Klostergebäude. Rechts
eine kleine Kapelle, links der Kreuzgang aus dein dreizehnten bis sechzehnten Jahr¬
hundert. Niemand stört mich, meine Schritte machen das einzige Geräusch, ich
habe Muße, mich umzusehen. Welche Verwüstung! Von den Sarkophagen sind
die Figuren herabgestürzt, von den Grabplatten die Wappen weggeschlagen, einer
weiblichen Tvtenfigur ist die Gewandung abgemeißelt, um sie nackt erscheinen zu
lassen. Köpfe, Arme, abgebrochn« Steinverzierungen liegen aufgeschichtet, die einzige
Spur einer menschlichen Fürsorge. Sonst könnte man glauben, daß die Sans¬
culotten, die vor hundert Jahren diese Zerstörung verübten, vor kurzem erst ihre
Gräberschändung verübt hätten. Diese Art des Wandalismus scheint eine fran¬
zösische Eigentümlichkeit zu sein; in Speier haben Mines Soldaten die Grüfte der
deutschen Kaiser, in Caen Hugenotten das Grab Wilhelms des Eroberers, in
Se. Denys Nevolutionshorden die letzten Ruhestätten der französischen Könige ver¬
nichtet.
Aber wieviel Schönheit ist trotz cilledem noch in dem Kreuzgang erhalten.
Die Arme sind den Zerstörern müde geworden, der Stein war zäher als die mensch¬
liche Kraft. Die jetzige französische Regierung sucht auch hier zu verwischen, was ver¬
wüstet ist. Seit sieben Jahren hat sie Benediktinern die Ruine eingeräumt, und diese
wollen jetzt, nachdem sie sich die notwendigen Wohnungen eingerichtet haben, an die
Ausräumung gehn. Vorläufig haben sie alles, was später vielleicht gebraucht werden
kann, zusammengehäuft und unter Dach und Fach gebracht. Im Klostergnrten traf
ich einen Benediktiner. Er sprach mich an, fragte, als ich ihm sagte, daß ich el»
Deutscher wäre, nach Kloster Laach und Beuron und erzählte mir, daß einer seiner
Klosterbrüder deutsch spreche. Ich mußte meinen Namen in das Fremdenbuch ein¬
tragen und schied von ihm mit einem Händedruck.
Von Se. Wandrille führte mich mein Weg nach Jumieges, das ebenfalls berühmt
ist als Kulturstätte aus der fränkischen Zeit. Es war Nachmittag geworden, der
Himmel wolkenlos, die Temperatur etwas warm, aber durch die Seewinde gemildert.
Die Straße führt auf eine Erhebung des Bodens hinauf mit weiter Übersicht. Zu beiden
Seiten der Straße liegen Felder, der Weizen stand noch in Höcker, obgleich es schon
Mitte August war. Schwere normannische Pferde zogen zweirädrige Erntekarren, es
wurde aufgeladen und zur Scheune gefahren. Es war ein anheimelndes Erntebild.
Hinter deu Feldern ziehn sich dunkle Forsten wellenförmig hin, nach allen Seiten
fallen sie zur Seine ab. Das Silberbnnd des Flusses schimmert hier und dort herauf,
und dahinter ringsum eine weite sonnige Landschaft. Diesen freien Blick behält man
bis kurz vor Jnmieges. Dort ragen über die Wipfel der alten Bäume des Kloster-
gartens die beiden mächtigen Tnrmrninen der Abtei auf. Auch hier war es die
Revolution, die die Abtei der Zerstörung preisgab, indem sie die Kirche und das
Kloster auf Abbruch verkaufte. Die Pfeiler der Kirche und ein Teil des Chors
stehn noch, mich die Mauern sind noch in großen Bruchstücken vorhanden, aber die
Bedachung und die Gewölbe sind verschwunden, und ans dem zerstörten Fliesen¬
belag des Bodens wächst Gras und Gesträuch. Dagegen ist ein abseits liegender
Ban erhalten, weil er zu Wohnungen hat eingerichtet werden können; es ist dieses
gerade der älteste Teil der Ordcnsniederlnssnng. In ihm scheinen die fränkischen
Fürsten, wenn sie hierher kamen, und später die weltlichen Gäste der Abtei ge¬
wohnt zu haben. Der jetzige Besitzer des Klostergnts hat diesen Bau aus frän¬
kischer Zeit teilweise zur Aufbewahrung von Erinnernngsftücken an die Abtei be¬
stimmt. Eine Steinplatte von der Grabstclle zweier Mcrvwingerprinzcn, die von
ihren Verwandten hier unschädlich gemacht wurden, giebt Zeugnis von der Mord¬
lust dieses deutschen Atridengeschlechts, von Weiberhaß und Blutschuld. Eine andre
Grabsteinplatte verkündet, daß Agnes Sorel, die Geliebte Karls Vli. und Zeit¬
genossin der Jungfrau von Orleans, unter derselben gebettet gewesen ist. So haben
Menschen der Liebe und Menschen des Hasses an derselben Stelle geendet, aber
niemand weiß, wo ihre Gebeine ruhn, nur die Erinnerung ruft ihre Gestalten
zurück. Ein uralter herrlicher Eibenbanm, lvie ich noch keinen gesehen habe, steht neben
der Abtei; in seinen Zweigen rauscht es heute wie vor vielen hundert Jahren. Hat
er schon die Blutthaten von Fredegunde und Brunhild erlebt, die Liebesherrschaft
der Agnes Sorel gesehen? Wer sein Rauschen zu deuten verstünde! Oder ist sein
Rauschen von dem Sänger des Nibelungenlieds verstanden, als dieser die Gestalten
von Brunhild und Krimhild schuf, und zu Schiller gedrungen, als er die Jungfrau
von Orleans und Agnes Sorel für alle Zeiten der Nachwelt wiedergab?
Imi November und Dezember 1870 war aus Rekruten und Mobilgarden in
le Havre von den Franzosen ein Armeekorps gebildet worden, dessen Stärke etwa
25000 Mann betrug, und das anscheinend dazu bestimmt war, bei einem glück¬
lichen Ausfall aus Paris nach dem Westen unterstützend einzugreifen und zugleich
drohend eine Flankenstellung gegen die deutschen Truppen bei Amiens und Orleans
einzunehmen. Sache der deutschen Heeresleitung war es, diese Aufgaben zu ver¬
eiteln, und so erfolgte der Vorstoß gegen Rouen und die Säuberung des östlichen
Teils der Normandie von Franktireurs und Mobilgarden. Wie schon erwähnt
Worden ist, ist die Lage Rouens so, daß die Stadt schwer zu halten ist. Die
deutschen Truppen mußten deshalb weiter vorgeschoben werden, Rouen selbst aber
blieb infolge seiner festen Brücken der Punkt, von dem aus je nach Bedürfnis vom
linken nach dem rechten Scineufer oder umgekehrt den vorgeschobnen Teilen Unter¬
stützung gebracht werden konnte und sollte. Denn die Franzosen in le Havre
waren in der Lage, durch ihre Schiffe und Eisenbahnen ihre Hauptmasse jederzeit
auf dem einen oder dem andern Ufer des Flusses zu konzentrieren, und mit dieser
Möglichkeit mußte die deutsche Heeresleitung rechnen. Stromabwärts von Rouen
gab es keinen festen Flußübergang mehr.
Mich führte das Kriegsgeschick auf das rechte Ufer der Seine, nach Duclair.
Dort mündet das Austreberthethal. Es zieht sich hinauf nach Barentin, der Station
an der Eisenbahnlinie Rouen-le Havre, und noch etwa sechs Kilometer weiter nörd¬
lich in das Kreideplatean der hauts ^lormauäio hinein. Die Niederschlage, die vor
Jahrtausenden hier einen Abfluß gesucht hatten, hatten im Laufe der Zeit eine tiefe
Schlucht ausgerissen, deren steile Ränder den Marsch größerer Truppenmassen sehr
erschwerten, für uns also eine vorzügliche Verteidiguugsstelluug böte». Bei der ge¬
ringen Anzahl unsrer Truppen waren wir vorläufig auf diese Verteidigung ange¬
wiesen, und die Folge davon war wieder, daß wir fast einen Monat an derselben
Stelle blieben. Eine so lange Seßhaftigkeit an einer Stelle führt natürlich dazu,
daß sich zwischen den unfreiwilligen Quartiergebern und den Zwangsgästen entweder
ein sehr scharfer Gegensatz zuspitzt, der zum Konflikt führt, oder schließlich ein Ver¬
kehr eintritt, bei dem die bounomis und die Formen der guten Gesellschaft zur Gel¬
tung kommen.
Bei uns trat der letzte Fall ein. Es entwickelte sich zwischen den Bewohnern
von Duclair und den Soldaten ein Verhältnis, wie es zwischen Siegern und Be¬
siegten nicht besser gedacht werden konnte. Wenn ich in meinem Quartier, das am
Quai lag, zum Fenster hinaus sah, fand ich ein ganz friedliches Bild. Unter
meinem Feuster floß die Seine, jenseits lagen die Hänser von Berville, halb zwischen
Bäumen versteckt, und ein weites reiches Werber; oberhalb und unterhalb des
Städtchens schlössen die steil aus dem Flusse aufsteigenden Kreidefelsen mit waldigen
Kuppen den Blick ab. Auf dem Quai bummelten unsre Soldaten herum und wun¬
derten sich über Ebbe und Flut. Einige von ihnen hatten die Nachen bestiegen
und trieben auf ihnen Unfug. Die Männer des Landes hatten, wie immer, die
Hände in den Hosentaschen und sahen bedächtig dem mutwilligen Treiben der
Deutschen zu, die Frauen saßen auf den Bänken an ihrem Hause und suchten aus
dieser gedeckten Stellung ihre Neugierde zu befriedige«. Daun und wann freilich
veränderte sich plötzlich das Bild, dafür sorgten die beiden Kanonenboote, die bei
Caudebec auf Vorposten lagen. Sie fühlten während der Flut in der ersten Zeit
täglich das Bedürfnis, die Seine hinauszugehn und auf unsre Patrouillen einige
Schüsse abzugeben. Dann dröhnte die Alarmtrommel, die Bewohner schlössen die
Thüren und Fenster, wir sammelten uns auf dem Markt, luden die Gewehre, Kom¬
mandos ertönten, und eilig besetzten wir die vorher bestimmten Verteidigungs-
stellnngen. Hier steckte man sich seine Cigarre an und wartete, ob die Franzosen
ernst machen würden. Nach ein bis zwei Stunden brachten die Patrouillen daun
die Meldung, daß die Franzosen kehrt gemacht hätten, die Leute wurden entlassen,
und durch einen Schoppen Rotwein suchten wir die verloren gegangne Körperwärme
zu ersetze».
Unsre Armeeleitnng muß diesem Seekrieg eine größere Bedeutung beigelegt
haben, als wir es thaten. Eines Tags wurden vier englische Schiffe aus Rouen
stromabwärts geschafft, bei Duclair verankert, angebohrt und versenkt, um als
Barriere gegen die französischen Kanonenboote zu dienen. Es gab zunächst in den
französischen Zeitungen viel Geschrei. Das .tuum-it du UÄvi'v brachte einen Hetz-
nrtikel an die Adresse Englands und fragte darin, ob es noch eine englische Ehre
gebe. Die Flagge wäre von den Schiffen herunter gerissen, die englischen Ma¬
trosen wären mißhandelt, ihre Habe wäre versenkt worden, ob dies für Geld bei
den Engländern feil sei?
Die Engländer schwiegen zuerst, denn ihnen waren die Schiffe gut bezahlt
worden. Da führte das Geschick den Korrespondenten der limos zu unsern Vor¬
posten, angeblich, um englische Familien aus Römer noch le Havre zu bringen. Der
Engländer redete natürlich unsern Major englisch an. Dieser ließ ihm sagen, englisch
verstehe er nicht. Als der Engländer nun französisch seinen Wunsch vortrug, unsre
Linien passieren zu dürfen, antwortete dieser, französisch spreche er nicht. Als endlich
der Engländer sich bequemte, deutsch zu reden, erwiderte ihm unser grober Major,
er solle sich zum Teufel scheren, durchgelassen würde er nicht. Wütend kehrte der
Engländer um, und einige Tage später brachten die 1'lass eine Schilderung von dem
„kleinen unmanierlichen" Kommandanten von Duclair und seinen Thaten, wie
roh er die englischen Matrosen behandelt hätte, denen nicht einmal Zeit gelassen
worden sei, von den gegen alles Völkerrecht versenkten Schiffen ihr Hab und Gut zu
retten usw.
Am Weihnachtsabend machten wir uns deu Scherz, eine Übersetzung dieses
Artikels, der gesalzen war und anch die Diplomatie ans die Beine gebracht hatte,
als Geschenk dem groben Major unter den Weihnachtsbaum zu legen. Weih¬
nachten 1870!
Unsre Mannschaften erhielten aus deu requirierten Beständen je eine Flasche
Wein, aus den Liebesgaben wurden Cigarren und wollne Unterkleider verteilt,
auf der Mairie wurde ein Weihunchtsbaum angesteckt. Unsre Wirtsleute, die noch
nie eine Weihnachtsfeier gesehen, aber viel davon gehört hatten, durften zusehen.
Dann zogen wir Offiziere zum Hotel, und bei einem guten Souper und Champagner
suchten wir zu vergessen, was wir in diesem Jahre entbehrten.
Mit dem alten Jahre 1870 sollte auch unsre Ruhe zu Ende gehn; einen
solchen Jahreswechsel, wie wir ihn feierten, werden wenige gehabt haben. Wir saßen
am Sylvesterabend beim Souper, als unvermutet die Ordre einging, uns gefechts¬
bereit zu halten, da die Franzosen auf beiden Seiten der Seine vorzngehn ge¬
dächten. In aller Hast wurde alarmiert. Kaum war dies geschehn, als auf der
andern Seite des Flusses Kleingewehrfeuer begann. Bald fingen auch die Kanaren
an zu brummen, und es entwickelte sich ein regelrechtes Gefecht. Auf die Möglich¬
keit hin, jeden Augenblick aufspringen zu müssen, setzten wir uns wieder zu unserm
Souper, das in dem nach dem Flusse zu liegenden Eßsaal des Hotels serviert war,
und verfolgten nun mit Spannung die weitere Entwicklung. Zu sehen war nichts,
man mußte sich auf sein Gehör verlassen. Zwischen acht und neun Uhr abends
wurde dann der Lärm schwächer und schwächer, und gegen neun Uhr schickten uns
unsre Kameraden von drüben durch das Eistreibeu ein Boot mit der Nachricht,
daß der versuchte Überfall der Franzosen mit Erfolg zurückgeschlagen sei. Inzwischen
war bei uns Ordre eingegangen, am Neujahrstage in der Frühe in Bnrentin ein¬
zutreffen, da die Franzosen auf unsrer Seite bis Ivetoi auf der Straße nach Rouen
vorgerückt waren. Noch ein volles Glas auf den Erfolg unsrer Kameraden ans
dem linken Seineufer, und ein zweites auf ein glückliches neues Jahr, dann eilte
jeder von uns nach Hanse, um noch einige Stunden Schlaf zu gewinnen.
So schloß für mich das alte Jahr ab. Das neue Jahr 1871 sah uns im
ersten Morgengrauen auf dem Marsch nach Barentin. Etwa 2000 Mann sammelten
wir uns dort, um 12000 Manu Franzosen aufzuhalten. Es war einer der kalten
Tage jenes Winters, die Sonne kämpfte mit dem Nebel, konnte aber nicht durch-
dringen. Von der andern Seite der Seine begann wieder Kanonendonner herüber
zu tönen, wir wußten daraus, das; die Franzosen ihren Angriff erneuert hatten.
Vor Metz hatten wir zeitweise täglich so gefechtsbereit stehn müssen, aber es war
im Sommer oder Herbst gewesen, der eisige Wind trieb da nicht durch den Körper.
Hier standen wir im Schnee, die Körperwärme wurde weniger und weniger, und
immer warten und warten. Was wäre ein Kanonenschuß für eine Erlösung ge¬
wesen! Aber nichts regte sich; um elf Uhr verstummte auch drüben der Kanonen¬
donner, und zwei Stunden später kam eine Nachricht, das; sich die Franzosen von
Uvetot rückwärts konzentrierter. War die Wahrnehmung unsrer Patrouillen richtig
gewesen? Es wurde drei Uhr, vier Uhr, die geringe Tageshelle verschwand, und
wir standen noch auf demselben Fleck. Endlich Befehl, Alarmqnartier zu beziehn
in zwei Ferner und vier elenden Häusern. Es war doch ein Schutz gegen die
nasse Kälte. Das war der Neujnhrstag. In der Nacht hatten unsre vorgeschobnen
Erknnduugstruppeu Uvetot besetzt und geräumt gefunden, infolgedessen kam Befehl,
in unsre Standquartiere zurückzugehn.
Der Neujahrstag ist in Frankreich der größte Familienfcsttag; meine Wirtsleute
in Duclcnr waren deshalb zu ihren Eltern nach Rouen gefahren. Als ich um 2. Januar
mein Quartier betrat, war das Haus noch leer, nnr die Bonne war zurückgeblieben.
Ich nahm ans der Bücherei des Hanfes einen Band Walter Scott, setzte mich in den
behaglich warmen Salon und gab mich in angenehmer Müdigkeit dem Genuß des
Lesens hin. Da fallen plötzlich Schüsse, die Bonne stürzt bleich ins Zimmer und schreit:
IIs liront,, ils til'vnd,, u» l>g.I g, travoikzs Is, l'vuStro! Ein Blick ans dem Fenster belehrt
mich, daß sich ans dem andern Ufer der Seine eine Schar Franktireurs das Vergnügen
macht, uns in dieser etwas ungewöhnlichen Form ihre verspäteten Neujahrsgrüße
hcrubcrzusendeu. Da wir uus nicht als die Barbaren zeigen wollten, für die wir
von ihnen verschrieen wurden, beeilten wir uns, ihnen diese Ncujahrsgrüße in
gleicher Weise dankend zu erwidern. Das beruhigte sie, und sie verzogen sich.
Ein Dragoner und ein Pferd waren verwundet, einige Thüren und Fenster waren
beschädigt. Am nächsten Tage gab es denselben Scherz. Aber einen guten Scherz
wiederholt man nicht, er verliert dadurch. Vielleicht sahen das die Franzosen ein,
zum drittenmale kamen sie nicht. Dafür zeigten sie jetzt mehr Unternehmungsgeist
ans der großen Straße le Havre-Rouen, und ich bekam Ordre nach Villers-Ecalles.
Alle diese Erinnerungen wurden lebendig, als ich jetzt nach dreißig Jahren
Dnclair von den Höhen von Se. Paul wiedersah. Die alten Königspnppeln jen¬
seits des Flusses, hinter denen sich die Franktireurs gedeckt hatten, spiegelten sich
im Wasser wie einst, die niedlichen Hänser von Berville versteckten sich im Grün
der Gärten, aus dem Städtchen grüßte, wie ein alter Bekannter, der Kirchturm,
dn, wo wir die englischen Schiffe versenkt hatten, zog die Fähre herüber und
hinüber. Die Sonne des schönen Svmmertags war im Untergehn und warf ihr
goldiges Licht auf die Häuser um Quai. Dort standen die Männer auch jetzt
wieder mit den Händen in den Hosentaschen, und die Frauen saßen mit und ohne
Handarbeit auf den Bänken vor ihren Thüren und schwatzten. Verändert hatte
sich nnr zweierlei: ich fühlte mich als Fremder, die Häuser standen mir nicht
mehr offen wie damals, als man als Feind jedes Haus betreten konnte. Und
woher waren die vielen hübschen Gesichter nach Duclnir gekommen? Waren ihre
Mütter vor dreißig Jahren nicht hübsch gewesen, oder waren diese damals von den
besorgten Eltern weggeschafft worden?
Der Name des Hotels, worin wir Weihnachten gefeiert und um Sylvester¬
abend dem scheidenden Jahre den Abschiedstrunk getrunken hatten, war mir ent¬
fallen, meine Notizen aus dem Feldzuge hatte ich uicht zur Hand, ich ging also
in das erste Hotel des Städtchens. Als ich zum Diner in das Eßzimmer hinab¬
ging, kam mir dieses bekannt vor. Aber war es nicht eine Suggestion, arm-
nehmen, daß ich dort schon einmal gewesen sei? In Frankreich repräsentiert in
den Hotels meistens die Wirtin, nicht der Wirt, Ich holte mir also die Wirtin
und fragte sie, ob sie schon vor dreißig Jahren hier gewesen Ware, Sie verneinte
es, sie hätte erst vor fünfzehn Jahren hierher geheiratet. Ich erzählte ihr, daß ich
vor dreißig Jahren schon einmal in Dnclnir gewesen sei als preußischer Offizier.
Dann müsse sie ihren Mann rufen, sagte sie, der könne mir Auskunft geben, und
holte ihre» Ehemann herbei. Der kam ganz freudig erregt und fragte mich gleich:
„Dann haben Sie ja bei uns Weihnachten gefeiert? Hier in diesem Eßzimmer
stand der Tcmnenbnum. Sehen Sie nnr diesen großen Tisch, ich habe ihn mit
Wachsleinwand überziehn lassen, wenn ich die abrisse, würden wahrscheinlich noch
Spuren von den Linien zu sehen sein, die die Herren darauf gezogen hatten, um
zu hazardiercn. Ich war damals ein fünfzehnjähriger Junge und half meiner
Mutter beim Servieren." Und nun fragte er nach dem Kameraden, der Champagner
immer mit Stone gemischt getrunken, und dem, der an einem Abend so viel Geld
verspielt hatte, daß er sich von dem französischen Hotelbesitzer 500 Franken habe
borgen müssen. Der Offizier war ein ehrlicher Mann, fügte mein Wirt hinzu, nach
einer Woche habe er pünktlich seine Schuld bezahlt, obgleich er nicht mehr in
Dnclair gewesen war. Vos hotel-res n'et,a-ihne> luöebants, so schloß er seine vielen
Fragen und Erinnerungen. Dann fragte ich nach dem und jenem. Tot! Aber
zwei Damen lebten noch, die ich einst, wenn auch nur flüchtig, kennen gelernt hatte,
Mutter und Tochter. Die Mutter und ihr damals »och lebender Gatte galten als
die reichsten Leute in Dnelair, ihre Tochter, meiner Erinnerung nach eine hübsche
dunkle Blondine, mittelgroß, war mit einem Franzosen verlobt. Zwei Kameraden
kamen dort ins Quartier. Der eine war bald sterblich in die Tochter verliebt, aber
seine Bemühungen, ihr Herz zu erweichen, waren vergeblich. Denn sie hatte ihr Herz
verloren, aber nicht mehr an ihren Verlobten, sondern an den zweiten Kameraden,
dessen leichter Sinn und lebhaftes Temperament sie gefesselt hatte. Es war wieder
einmal die alte Heimische Geschichte, die ewig neu bleibt. Aus allen diesen Herzens-
beziehnngcn wurde nichts, nach dem Frieden hatte die junge Dame schließlich ihren
französischen Verlobten geheiratet. Jetzt war sie als Witwe wieder zu haben.
In der Kinderzeit hörte ich so manches Märchen von einem verwünschten
Schloß, das still und vergessen mitten im Walde liegt. Der Epheu rankt bis an
das Dach und umspinnt die Mauern, der Bach fließt träumerisch zwischeu den mit
Moos bewachsenen Felsblöcken dahin, die alten dunkeln Tannen strecken ihre Äste
durcheinander und sperre» deu neugierigen Menschen den Zugang. Dieses Märchen
wurde an der Austreberthe zur Wirklichkeit, schöner als meine Phantasie es ge¬
träumt hatte. Als einziger Gebieter zog ich in ein menschenleeres Schlößchen in
einer zaubervollen Tannenwildnis. Ans den grünen Tannennadeln glitzerte der
Reif mit Millionen Reflexen im Sonnenlicht. Kein Land unterbrach die Waldesstille.
Es mutet einen wnndcrbnr an, unbekannte Wohnrnnmc zu betreten, in denen
alles steht und liegt, wie es vor wenig Tagen von den Besitzern hingestellt oder
hingelegt ist. Man sucht sich ein Bild von den Bewohnern zu machen, man glaubt
noch die Wärme der Hand zu empfinden, in der ein Gegenstand geruht hat, man
schaut sich bei jedem Geräusch um, als müßte ein Bewohner zum Vorschein kommen.
Ich ließ von meinen Leuten Feuer im Kamin machen, gab die erforderlichen Be¬
fehle und ließ meiner Einbildungskraft freien Lauf. Da brachte ein ländliches
Fuhrwerk den Besitzer. Es war'ein fabelhaft bescheidner Mensch, dessen ganzes
Auftreten eine Entschuldigung war, daß er existierte. Allmählich laute er auf und
erzählte mir seine Lage, Sein Schwiegervater war ein Mann mit 30000 Franken
Rente gewesen, er baute das Schlößchen. Als dieses fertig war, war der Schwieger¬
vater anch mit der Rente bis auf einen Nest von 6000 Franken jährlich fertig,
er starb zur rechten Zeit, Das schöne Gebäude mußte entsprechend im Innern
ausgestattet werden, die Frau meines Wirts gab den Rest des ererbten Vermögens
dazu her. So blieb nichts übrig, als die Farm aufzubessern, die zu der Besitzung
gehörte. Da kam der Krieg, zur Verproviantierung von Paris mußte alles ge¬
liefert werden, was an Nahrungsmitteln und Vieh entbehrlich war. Von den ver-
blichnen zwei Pferden nahmen unsre Truppen das bessere, Kühe und Wein mußten
zur Verpflegung unsrer Mannschaften hergegeben werden, der Acker war unbestellt
geblieben. Die Geschichte dieses einen Mannes war typisch. Wo auf dein Lande
unsre Truppen längere Zeit lagen, herrschte bald Mangel an lebendem Inventar,
der Krieg ist eben hart. Als mein Wirt sah, daß unsre Truppen im übrigen ganz
gute Kerle waren, ließ er auch seine Frau kommen. Warum diese bei ihrer Häßlich¬
keit geflüchtet war, ist mir unverständlich geblieben.
Ich war nach Villers-Ecalles geschickt worden, um dort einen Feldweg zu
beobachten und zu sperren, der einen Abstieg in das Austreberthethnl ermöglichte
und aus diesem nach Rouen führte, ohne unsre Posten bei Duclair und Barentin
zu berühren. Ich hatte die Aufgabe, mich über die Terrainverhältnisse zu orien¬
tieren, und lernte auf diese Weise das Austreberthethal kennen, ein herrliches Stück
Erde. Es ist ein breiter Thalgrund zwischen steilen Abhängen. Ans den Höhen
ziehn sich weite Forsten ins Land, es sind Reste der Wälder, in denen livbsrr lo
als,b>e sein Jagdhorn hat ertönen lassen und seine Meute auf das Wild gehetzt hat.
In dem Thalgrunde windet sich schlangenartig der kleine Fluß durch die Wiesen,
zwischen ihm und der Fahrstraße liegen Farmer und Dörfer, Villen und Mühlen.
Die Feuer in den Fabriken bei Barentin waren ausgelöscht, die Arbeiter saßen in
ihren Häusern, jede Thätigkeit hatte aufgehört. Frau Sorge war in das Thal
gekommen.
Da, wo der erwähnte Weg ans dem Thal nach Rouen zu aufstieg, lag eine
Mühle. Wie ich die Bekanntschaft des Müllers gemacht hatte, weiß ich nicht mehr,
vielleicht war ich dadurch in sein Haus gekommen, daß ich dort einen Beobachtungs-
posten hingestellt hatte. Fest steht, daß, wenn ich abends meine Runde machte, ich
bei dem alten Müller einkehrte, da er eine originelle biedere Haut war, wie Möller
Voß aus Reuters Franzosentid. Er hatte seine besondern Ansichten von der Welt
und ihrem Getriebe. Die einzige Zeitung, die bei ihm Glauben fand, waren die
Markthallenberichte mit den Getreide- und Mehlpreisen, die Republik verwünschte
er, der Getreideexport von Stettin, Danzig und Königsberg war ihm wichtiger
als alle großsprecherischer Reden Gambettas, Frieden wollte er, um arbeiten zu
können. Beim Schoppen Rotwein, den seine Tochter fleißig heraufholen mußte,
kam er dann auf seine Müller- und Lebensfahrten zu sprechen, und schließlich setzten
sich Mutter und Tochter zu uns, um „Vätern" zu kontrollieren. Eine Flasche
guten Wein setzt Mutter noch auf deu Tisch zum Zeichen für den Alten, daß Schluß
gemacht werden soll. Sie gießt mir und ihrem Alten ein und trinkt diesem die
Hälfte Wein ub, damit er sich des Guten nicht zu viel thut. Aus dem Seufzen
über das Malheur, das über Fraukreich gekommen sei, gelangt sie beim zweiten
halben Glase schon in eine behaglichere Stimmung, und beim dritten halben Glase
fügt sie sich schon ganz willig in den Befehl des tvrriblv ^ruWisn, kuuäiws zu
trinken. Bleibt noch ein Rest zu einem vierten Glase, so trinkt sie ihn auch ohne
Befehl aus, zärtlich faßt sie ihren Alten beim Kragen, und ich bummle durch die
helle winterliche Mondscheinlandschaft nach meinem verwunschnem Schlößchen.
Die alten gemütlichen Müllersleute haben längst von der Erde Abschied ge-
nommer, die Tochter hat wahrscheinlich schon die Würde einer Großmutter erreicht.
Im sonnigen Glänze liegt jetzt das Thal mit seinen grünen Wiesen, statt Schnee
und Reif bedecken Blättermassen die Zweige der Büsche und Bäume, und die jungen
Linden an der Straße sind prächtige starke Stämme geworden. Die Forsten sind
stark gelichtet, grell sendet die Sonne ihre Strahlen ans den Weg, zu dessen
Sperrung ich in das Thal gekommen war. Verschiedne Fabriken sind entstanden,
man hört das Getriebe der Maschinen, man sieht ans den hohen Schornsteinen
den Rauch in die Luft steigen. Ruheloses Leben ist eingezogen. Und du, schone
Austreberthe, was ist aus dir geworden? Ein blitzsaubres Ding warst du einst,
und jetzt so schmutzig? Das kommt davon, wenn man in die Fabriken läuft.
Zur Ablösung unsrer Kameraden, die bis dahin den Aufklärungsdienst gegen
le HSvre gehabt hatten, wurden wir, zwei Kompagnien, eine Schwadron und vier
Geschütze, in der zweiten Hälfte des Januars 1871 vorgeschickt. Wir ließen uns
von ihnen sagen, wer gefallen sei, und erzählte», was wir inzwischen erlebt hatten,
dann ging es vorwärts auf Dvetot zu. II sea-it um roi ni'Ivstot, diese Worte
Berangers waren das einzig Bekannte an der Gegend, die wir beobachten sollten,
alle andern Kenntnisse sollten wir uns erst holen.
Die Ausführung dieser Aufgabe wurde durch zwei Umstände erschwert. Tag
für Tag lagerte dichter Nebel über der Landschaft, zeitweise so dicht, daß mau auf
fünfzig Schritt nicht ein Haus erkennen konnte. Dann hatte die Umgegend von
Ivetot keine geschlossenen Dörfer. Man wurde immer und immer wieder um die
Stelle des Tacitus erinnert, in der es heißt, daß der Germane nicht aneinander
gebaute Wohnsitze duldet, sondern sein Haus dahin baut, wo ein Quell aus der
Erde kommt und Bäume Schatten spenden. Innerhalb der Erdwälle lagen die
Einzelhöfe, die dicht aneinander gereihten Bäume auf deu Wallen gewährten
mindestens so gut wie Palissaden treffliche Deckung und verhinderten zugleich
einen vollen Einblick. Ein unternehmender Befehlshaber in le Havre hätte mit
Hilfe der Bevölkerung unsre Erkundungstruppen nacheinander abfangen können.
Statt dessen gingen die Franzosen nur auf der großen Straße le Havre-Rouen
Kor und zurück und auch mir in geschlossenen Verbänden, obgleich ihnen unsre
schwache Zahl bekannt geworden war. Und die Bevölkerung verhielt sich voll¬
ständig passiv, nachdem wir gleich am zweiten Tage in Bolbec zwei Hänser an¬
gezündet hatten, aus denen auf unsre Truppen geschossen worden war, wobei ein
Offizier getötet wurde. Drei Meilen vor le Havre bekamen wir Fühlung mit den
Franzosen durch ein kleines Gefecht und gingen dann, da wir von den nächsten
deutschen Truppen etwa acht bis nenn Meilen entfernt waren, am dritten Tage
nach Uvetot zurück.
Hier hatte sich die Kunde verbreitet, daß wir aufgerieben wären und die
französischen Truppen jeden Augenblick einrücken müßten. Welche Enttäuschung für
die Bevölkerung! Statt der „siegreichen Armee" von le Havre zogen wir frohen
Muts ein und legten uns ruhig schlafen, nachdem wir noch eine fidele Kneiperei
veranstaltet hatten. Ich war bei dem Souspräfekten in Yvetvt einquartiert. Als
das Kaiserreich zusammenbrach, war der napoleonische Svusprcifekt durch einen
republikanischen ersetzt worden. Als wir dann in die Normandie kamen, war der
republikanische Sousvräfekt ausgerissen, und Yvetot wählte sich jetzt selbst sein Ober¬
haupt, es war mein Gastgeber.
Eine bessere Wahl hätte die Stadt nicht treffen können. Rastlos war der
kleine siebzigjährige Mann thätig, seine Stadt vor Schaden zu bewahren, die bald
Von Franzosen, bald von Deutschen besetzt war. Keinem Teile durfte er Ver¬
anlassung zum Einschreiten geben, und ich habe seine Klugheit bewundert, mit der
er jeden Anlaß zu einem Konflikt vermied. Gelegenheit dazu gab es ja genügend.
Denn wenn man noch weniger als sonst weiß, ob man am nächsten Tage lebt, so
ist man nicht geneigt, große Rücksichten zu nehmen. Und die in der Stadt
wohnende zahlreiche Fnbrikbevölkerung, die nun schon wochenlang beschäftigungslos
war und mit dem Hunger kämpfte, hatte nichts zu verlieren. Mein Souspräfekt
unterhielt aus eignen Mitteln dreihundert seiner Arbeiter. Die französische Regie¬
rung drängte ihn vergeblich, ans die Bevölkerung einzuwirken, bei einem etwaigen
Angriff die französischen Truppen zu unterstützen, und sandte Spione um ihn, um
Auskunft über uns zu erhalten. Durch alle Klippen wußte der Souspräfekt das
städtische Schiff glücklich hindnrchznsteuern mit jugendlichem Mut und männlicher
Überlegung.
Wenn ich nicht ans dem Erkundungsmarsch war oder die Stadtwache hatte,
so saß ich mit dem alten alleinstehenden Herrn um Kamin, und wir tauschten unsre
Gedanken aus. Er las damals die Schriften seines Gegners Louis Blane, und
an diese anknüpfend schilderte er mir die sozialen Zustände in Frankreich. Ich
mußte ihm dafür von deutschen Einrichtungen und politischen Parteiverhältnissen in
Dentschland erzählen. Daran schlössen sich dann Erörterungen und Diskussionen,
und wir traten einander so nahe, wie es bei dem gewaltigen Altersunterschied, der
verschiednen Nationalität und seiner großen und meiner geringen Lebenserfahrung
möglich war. Aus vollem Herzen sagte ich ihm, ich wünschte Frankreich in Zukunft
viele so prächtige Menschen und gute Patrioten, wie er wäre, damit das uns
Deutsche anwidernde Parteiwesen in Frankreich ein Ende erreiche. So vergingen
zehn Tage zwischen anstrengenden Märschen, Frontmachen gegen die Franzosen,
wenn sie uns zu nahe kamen, und Ausruhen in Nvetot. Was sonst in der Welt
passierte, wußten Nur nicht, nicht einmal davon war uns Kunde geworden, daß in¬
zwischen in Versailles das deutsche Kniserreich neu aufgerichtet wordeu war. Unsre
Leute waren fast die ganze Zeit nicht aus den feuchten Kleidern herausgekommen,
die Uniform war beselt geworden, die Infanterie hatte auf den steinigen Straßen
die Stiefelsohlen durch und ihre Füße wnndgelaufen.
Am 28. Januar 1871 sollten wir abgelöst werde». Ich stand ans dem
Markt vor der Wache, als eine Ordonnanz angeritten kam. „Paris hat kapituliert,"
rief sie. Ans meine Frage, ob es eine dienstliche Meldung wäre, erhielt ich zur
Autwort, daß ein Hauptmann in Barentin es seinen Leuten als bestimmt mit¬
geteilt habe. Ich eilte zu den aufgestellten Wachmannschaften, Paris hat kapituliert,
Hurra! rief ich ihnen zu. Ein Hurra ans vollem Herzen und mit aller Kraft
der Lunge gerufen antwortete mir. Die umstehenden AÄmin« hatten nur die Worte
„Paris," „kapituliert" und „Hurra" verstanden, sie stoben nach allen Richtungen
auseinander, und wie ein Lauffeuer war in fünf Minuten durch die Stadt die
Nachricht verbreitet, daß Frankreichs Hauptstadt gefallen sei. Mein Souspräfekt
kam angelaufen, er wollte nicht daran glauben und verlangte Einzelheiten zu wissen.
Als ich ihm aber sagte, was ich wußte, dn fingen die hellen Thränen an ihm über
die Wangen zu laufen, und der siebzigjährige Mann weinte wie ein Kind.
Iiöui'öux, monsieur, sagte er zu mir, ot exensM um liomwo, uni aimo sa, ps-tris.
Nachdem er sich gefaßt hatte, war er auch wieder der thatkräftige Mann, der
liebenswürdige Franzose. Ohne nach Hause zurückzukehren, requirierte er einen
Wagen, ließ seinen Mantel holen und den Maire rufen, mit ihm nach Rouen zu
fahren. Dann trat er um mich noch einmal heran und sagte: „Ich kann Ihnen
heute bei Tisch nicht mehr Gesellschnft leisten, ich hube meine beiden Schwieger¬
söhne beauftragt, Ihnen Gesellschnft zu leisten, und nehme jetzt von Ihnen Abschied.
Unsre Lage ist keine glückliche, und ich eile nach Norm, um die Einleitung zu den
Wahlen zu treffen, damit endlich durch vernünftige Männer diesem Kriege ein Ziel
gesetzt wird. Sollten wir uns nicht wiedersehen, so leben Sie glücklich, und be¬
halten Sie mich ein wenig in Ihrer Erinnerung, Sollten Sie aber je nach
Frankreich kommen, und sei es mit Gattin und Kindern, so kommen Sie zu mir,
ich werde glücklich sein, Sie wiederzusehen." So trennten wir uns.
Ich bin wiedergekommen, aber zu spät.
(Schluß folgt)
In der Rassischer Zeitung stand kürzlich
folgender Herzenserguß, den der Fürst Uchtomski, der „Vertrauensmann der russischen
Regierung in chinesischen Angelegenheiten," wie die Zeitung ihn nennt, in seinem
Blatt, dem Petersburger Wjedomosti, zum besten zu geben vou der gestrengen
Zensur die Erlaubnis erhallen drin „Die Ermordung eines deutschen Offiziers durch
die Chinesen, die nach dem Terrorismus, den Waldersee einzuführen suchte, dicht
unter den Mauern von Peking erfolgt ist. . . . Der Einmarsch chinesischer Truppen
in die für sie verbotne Provinz Tschiki, der offenbar den Zweck hat, einen neuen
blutigen Zusammenstoß mit den Verbündeten zu veranlassen. . . . Der Versuch, den
Feldmarschall selbst in den Flammen des von den Ankömmlingen geschändete»
Palastes der Kaiserin umkommen zu lassen — alles das bringt auf den Gedanken,
daß dieser Sommer den Europäern nicht weniger gefährlich zu werden verspricht
als der vorige. Bei dem weisen Entschluß unsrer Regierung, den weitern Gang
der Ereignisse ruhig abzuwarten, kann man sich nur darüber freuen, daß die frechen,
nur von satanischer Bosheit und maßloser Habsucht verblendeien Ausländer all¬
mählich in die Gruben zu fallen beginnen, die sie andern gegraben haben. . . .
Augenscheinlich naht die Stunde der Buße für die unerhörten Verbrechen, mit
denen sich der »christliche« Westen gebrandmarkt hat, der übers Meer gekommen
ist, um die unschuldige chinesische Bevölkerung zu martern. Auch in China wird
das Jahr 12 (wie 1812, wo Moskau von den Russen in Brand gesteckt wurde)
in der einen oder der andern Form kommen! Mit der Hilfe von Epidemien unter
Ausnutzung jeglicher Mittel des Selbstschutzes wird der Eingeborne dein vertierten
weißen Manu einmal zeigen, daß es ein höheres Gericht über ihn und die ganze
Erde giebt. Mit einem solchen Finale muß man gerechtermaßen von Herzen
sympathisieren."
Man wird gegenüber den Hetzereien in der russischen Presse immer daran
denken müssen, daß sie, wie Fürst Bismarck sagte, sehr häufig vom Ausland bestellt
und bezahlt werden. Aber gerade in diesem Falle, bei dem notorischen Vertrauens¬
verhältnis, worin Fürst Uchtomski zur russischen Negierung steht, müsse» wir in
Deutschland dieses Überlaufen von Gift und Galle immerhin sehr ernst nehmen. Es
wäre ja wohl möglich, daß englisches oder amerikanisches Regierungsgeld — an
die französische Regierung könnte dabei vorläufig nicht gedacht werden, höchstens
an nationalistische und imperialistische Agitationsfonds -- das fürstliche Blatt dazu
benutzen wollte, einen unüberbrückbaren Zwiespalt zwischen der Berliner und der
Petersburger Politik zu schaffen. Aber nach allem, was über die in den leitenden
Kreisen der russischen Politik herrschende Strömung bekannt ist, scheint Fürst
Uchtomski hier doch nicht in ausländischem Solde zu Hetzen, sondern die wirkliche
Herzensstimmnng und die Herzenswünsche der Petersburger Herrschaften zum Aus¬
druck zu bringen. Jedenfalls haben unsre Rusfvphilen, die dem Kaiser und dem
Grafen Bülow fortgesetzt mit den schwersten Vorwürfen darüber in den Ohren
liegen, daß sie nicht unbedingt im russischen Sinne Politik machen, daraus zu ent¬
nehmen, wie sehr sie im Unrecht sind. Wenn wir vor einem halben Jahre noch
Zweifel darüber äußern konnten, ob die tolle Zumutung, die Rußland damals in
dem Vorschlag, Peking zu räumen, den vereinigten Mächten stellte, vielleicht nur
als eine Ungeschicklichkeit des Grafen Lambsdorff angesehen werden müßte, oder ob
man darin einen wohl überlegten Verrat der russischen Politik an dem bisherigen
gemeinsamen Einschreiten der zivilisierten Mächte gegen den unerhörten, jeden
moclns vivoncli aufhebenden chinesischen Völkerrechtsbruch mit einer besondern, gegen
das Deutsche Reich gerichteten Spitze sehen solle, so ist heute der russische Verrat
an den Mächten und vor allem am Deutschen Reich eine Thatsache, an der gar
nicht mehr gezweifelt werden kann. Wir sagen nicht, daß der Zar selbst zum Ver¬
räter geworden sei, nachdem er dem deutschen Kaiser persönlich sein volles Ein¬
verständnis mit dem deutschen Oberkommando erklärt hatte. Der Zar ist in der
russischen Politik augenscheinlich zur Zeit mehr Strohmann als irgend ein kon¬
stitutioneller Monarch in der Politik seines Landes und verdient nnr Mitleid,
nicht Tadel. Die Russen selbst haben ihn schmählich bloßgestellt, indem sie es
waren, die das gemeinsame Oberkommando in Pctschili systematisch zu lahmen suchte«,
obgleich das Deutsche Reich so weit ging, ihnen in der Mandschurei freie Hand zu
lassen, trotz alles Drängens Englands und Japans in der entgegengesetzten Richtung.
Wer von uns Deutschen nnr mit etwas Unbefangenheit den Gang der chinesischen
Wirren im letzten halben Jahre beobachtet hat, der muß sich nach dieser Uchtomskischen
Beurkundung des russische» Hasses gegen die Deutschen doch endlich nicht nnr von
der UnHaltbarkeit der Vorwürfe gegen unsre Regierung überzeugt haben, sondern
auch von der unabweisbaren Notwendigkeit, gegen die russische Gefahr dort eine
Rückendeckung zu suchen, wo sie allein gefunden werden konnte.
Wir sind sehr weit davon entfernt, von der deutschen Presse zu verlangen,
daß sie sich mit Drohartikeln gegen Rußland wende. Die „Dummheit" — um
mit Bismarck zu sprechen — sollen wir lieber bleiben lassen. Wer den deutschen
Kaiser kennt, wird überzeugt sein, daß unsre Politik aus der Uchtomskischen Offen¬
herzigkeit und der ihr zu Grunde liegenden Gesinnung der herrschenden Klasse in
Rußland die nötigen Konsequenzen zu ziehn wissen wird. Aber was wir von der
deutschen Presse verlangen, ist, daß sie endlich von der bis zur Karikatur gediehenen
falschen Beurteilung unsrer Stellung in China im Petersburger Wjedvmosti zu
eiuer unbefangnen, ernsten und patriotischen Beurteilung veranlaßt wird, wie sie
politisch reifen Männern ziemt, statt Alte-Weiber-Politik zu treiben. Denn wahr¬
haftig: je länger der Krieg in China dauert, um so nichr scheint die öffentliche
Meinung über ihn zum alten Weibe zu werden.
Graf Bülow hat in seinem Rundschreiben vom 11. Juli 1900 an die deutschen
Regierungen das politische Ziel der gemeinsamen Aktion mit den Mächten in China
klar dargelegt. Es besteht, wie er sagte, in der Wiederherstellung der Sicherheit
von Person, Eigentum und Thätigkeit der Neichsaugehörigeu in China, in der
Sicherstellung geregelter Zustände unter einer geordneten chinesischen Regierung, in
der Sühne und der Genugthuung für die verübten Unthaten. Wir wünschen keine
Aufteilung Chinas, wir erstreben keine Soudervorteile. — Die deutscheu Regierungen
waren einig in der Überzeugung, daß ohne nachdrücklich kriegerische Machtcntfnltuug
dieses politische Ziel für uns nicht erreicht werden könne, und das Ausland ist in
seinen öffentlichen Kundgebungen dieser Auffassung beigetreten. Klar war von vorn¬
herein, daß schnellen, kräftigen militärischen Erfolgen besondre Schwierigkeiten er¬
wachsen würden nicht nnr ans den Verhältnissen beim Feinde und auf dem Kriegs¬
schauplatz, sondern ebenso sehr aus dem Neid und der Zwietracht der Verbündeten
Mächte. Die Fiktion, zu der sich die überschlaue Diplomatie vereinigte, daß gar
kein Krieg gegen die chinesische Regierung und überhaupt gegen China als Reich
geführt werde, sondern nur ein bewaffnetes Einschreiten gegen Rebellen, die an¬
geblich die Regierung vergewaltigten, diese unglückselige, gleich nach der Rettung
der Gesandten von diesen als durchaus den Thatsachen widersprechend nachgewiesene
Fiktion hat natürlich die kriegerischen Operationen ganz besonders gelähmt. That¬
sächlich ist es seit der Einnahme von Peking unmöglich gemocht worden, irgend
welche militärischen Erfolge zu erzielen, die auch nur das geringste zur Beschleunigung
des sogenannten Friedensschlusses und zur Erreichung des anerkannten politischen
Ziels hätten beitragen können. Sehr treffend urteilte kürzlich auf Grund seiner
an Ort und Stelle gemachten Erfahrungen der Berichterstatter einer Berliner
Zeitung — es war wieder eine freisinnige, das Berliner Tageblatt — über die
Lage der Dinge wie folgt: Bei all dem Unterhandeln und Paktieren und bei den
täglichen Konferenzen und Sitzungen sei man ini Grunde genommen mit den Chinesen
auf dem bisherigen gütlichen Wege nicht um einen Finger breit weiter gekommen.
Und wie die Verhältnisse zur Zeit lägen, sei auch nicht die geringste Aussicht vor¬
handen, auf diese Weise mit den Chinesen zu einem Abschluß zu gelangen, wie ihn
die Zukunft dringend fordre, damit einer Wiederholung der traurigen Ereignisse
des vorigen Jahres ein für allemal vorgebeugt wird. Jm Guten sei nun einmal
mit den Chinesen nicht zum Ziel zu kommen, und endlich diese Überzeugung zu
erlangen, dafür sei doch wirklich Zeit und Geld genügend geopfert worden. Wenn
es den chinesischen Diplomaten gelingen sollte, die Sache noch länger hinzuziehn,
so liege die Gefahr nahe, daß die Uneinigkeit der Mächte den Chinesen allein zu
einem befriedigenden Ausgang verhelfen werde, und das sei doch wirklich eine
Blamage. Nur durch ein ganz energisches Vorgehn, nicht mit Worten — die
machten auf den Chinesen nicht den geringsten Eindruck — sondern nur mit Thaten
könne der bisher langweilige und dabei recht kostspielige bewaffnete Ausflug nach
Ostasien zu einem gedeihlichen Ende gebracht werden.
Man sollte glauben, daß wenigstens in Deutschland die öffentliche Meinung
erkannt haben und einsehen sollte, daß sich die Politik des Deutschen Reichs gerade
in der hier verständigerweise als allein richtig bezeichneten Richtung von vornherein
und bis heute bewegt hat, und daß sie nach den bisherigen Erfahrungen ver¬
suchen muß, diese Richtung fest einzuhalten. Es ist klar, daß die Blamage, in
die die ganze Aktion auszulaufen droht, das Deutsche Reich, das sich nicht blamiert
hat, doch am meisten schädigen würde. Es ist von einem Teil der Mächte mit
Erfolg dahin gearbeitet worden, daß die Chinesen ganz besonders uns Deutschen
die Schuld an den Unbilden geben, die der Krieg ihnen gebracht hat. Sind doch
sogar deutsche Politiker und deutsche Zeitungen so dumm und vaterlnndslos gewesen,
diesen Hetzereien Vorschub zu leisten. Schon dadurch erwächst der deutschen Politik
die doppelte Pflicht, alles aufzubieten, daß der Krieg nicht mit einer Blamage aus¬
läuft, nicht wie das Hornberger Schießen endet. Mögen andre sich blamieren, wir
dürfens nicht, und wir dürfen uns am wenigsten für die Blamage der andern zu den
Prügeljungen machen lassen, auf denen der Haß, die Rachsucht und womöglich gar
die hochmütige Verachtung der Chinesen sitzen bleiben. Dazu kommt aber noch, was
wir schon vor einem halben Jahre an dieser Stelle scharf betont haben, der Um¬
stand, der gar nicht hoch genug angeschlagen werden kann, daß unsre Teilnahme
an diesem Kriege unser erstes Debüt als Welt- und Seemacht ist, die sich auch
außerhalb des Nahmens der kontinentalen europäischen Politik unter keinen Um¬
standen mehr als quimtitv mZgiiAe^dlL behandeln lassen darf, wo immer sie den
Anspruch auf Wahrung nationaler Interessen erhebt. Vollends deshalb dürfen wir
nicht als die blamierten Europäer aus der Affaire nbziehu. Der Schaden wäre
gar nicht wieder gut zu machen. Die deutschen Regierungen und anch der deutsche
Reichstag haben die Politik des Reichs in China gebilligt, sie werden auch hinter
Kaiser und Reich stehn müssen, wenn es gilt, die weitern Schwierigkeiten zu über¬
winden, die sich der Erreichung des gewollten Ziels noch immer entgegenstellen,
zumal da man darauf von vornherein gefaßt sein mußte. Aber auch das deutsche
Volk und bor allem die deutsche Presse sollen sich endlich von den jämmerlichen
Flaumachern und Nörgler» emanzipieren, die bei jeder Nachricht, daß ein deutscher
Oberst erstickt, ein General verbrannt, ein Hauptmnnn meuchlings erschossen ist, oder
daß zwei Reiter, die sich pflichtwidrig unbewnffuet in Gefahr begeben haben, darin
umgekommen sind, immer wieder zu lamentieren anfangen: Ach wären wir doch endlich
aus China raus, wären unsre Soldaten endlich wieder auf dem Paradeplatz, in
der Kaserne, hinterm Ofen! Wenn die sozialdemokratischen Blätter solches Zeug
schreiben, so nimmt uns das nicht wunder. Aber wenn sich sogar in konservativen
Blättern diese klägliche Waschlapperei herauswagt, dann möchte man wahrhaftig an
eine bedenkliche Entartung des patriotischen Sinns und des militärischen Geists in
Dentschland zu glaube» ansaugen. Und wenn solche Erbärmlichkeiten noch dazu
vor der Masse der deutschen Bauern und Kleinbürger breitgetreten werden, um den
Leuten das Vertraue» zum Kaiser und zu seiner Politik zu rauben, so ist das eine
Schuftigkeit, die keine Rücksicht und keine Bemäntelung verdient, mag sich ihrer
schuldig machen, wer es auch sei. Diese traurigen, an sich »»kriegerische» Unfälle,
die gerade die Deutschen neuerdings in China erlitten haben, dürfen, so schmerzlich sie
den Kaiser und uns alle berühren müssen, selbstverständlich gar keinen Einfluß auf das
Urteil darüber gewinnen, was Politisch und militärisch zu thun ist und was nicht.
Auch nicht im Volke. Damit Stimmung für einen schleimigen übers Knie ge-
brochnen Abzug aus China macheu zu wollen, ist eben so tadelnswert, wie es
tadelnswert war, daß einzelne Roheiten deutscher Soldaten zu dem Zweck über¬
mäßig aufgebauscht wurden, die moralisch schädliche Einwirkung eines solchen Kriegs
auf die Mannschaften gegen unsre Politik ausspielen zu könne». Von der sozial-
demokratischen Ausbeutung der „Hunnenbriefe" ganz zu schweige«. Es ist sehr er¬
freulich, daß in neuer Zeit zahlreiche Berichte von ganz unabhängigen Männern,
die der Schönfärberei im Interesse der Truppen von niemand verdächtigt werden
können, veröffentlicht worden sind, in denen der deutschen Disziplin und Humanität
das beste Zeugnis ausgestellt und ausdrücklich gesagt wird — z. B. von dem vorhin
zitierten Berichterstatter —, daß in China eigentlich mit einer fast unverständlichen
Humanität und Rücksicht Krieg geführt werde.
Wir begeistern uns wahrlich nicht für den chinesischen Krieg und glauben,
daß die Lorbeeren, die dort geholt werden können, niemals sehr reich sein werden.
Das ist auch nicht der Zweck, zu dem man Krieg führt. Ganz gewiß soll man
darauf bedacht sein, daß unsre Soldaten möglichst bald zurückkommen können. Aber
doch uicht ehe das Ziel erreicht ist, uicht nach zwecklos vergossenem Blut und
zwecklos geopferten Leben. Muß das Deutsche Reich dem Drängen der übrigen
Mächte ans Vereitlung des gemeinsamen Zwecks nachgeben, so wird es die Aus¬
gabe unsrer Diplomatie sein, vor der ganzen Welt diese dem heutigen Kulturstand
zur Schande gereichende Blamage möglichst ostensibel ins Unrecht zu setzen, wobei
natürlich die deutsche Presse sehr viel wird helfe» können und müssen. Das
Deutsche Reich wird dann aber um so mehr ans selbständige Maßnahmen zur
Sicherung dessen, was es schon hat, bedacht sein müssen, vor allen: i» Kiautschou
und Schankung. Vereiteln die Mächte den gemeinsamen Zweck, dann werden wir
unsre deutschen Sonderzwecke »ut Sonderinteressen verfolgen müssen, ohne Über¬
stürzung, mit aller Mäßigung, aber mit der größten, znhesten Energie, Besonders
lächerlich scheint sich das Konzert der Mächte in der Frage der Kriegs- und sonstigen
Entschädigung machen zu wollen. Man scheint sich gegenseitig unterbieten, vor den
Chinesen beinahe wettkriecheu zu wollen. Das Deutsche Reich wird dafür hoffent¬
lich nicht zu haben sein, sondern ans voller, sehr reichlicher Entschädigung bestehn. —
Mit großer Freude muß man den Sieg unsrer Truppen unter General von Ketteler
über die regulären Chinesen nnter General Liu am 23. April und ein den folgenden
Der nun abgeschlossene erste Band der von vielen Seiten freudig begrüßten
Zettschrift darf als eine vvllgiltige Probe dessen augesehen werden, was der Heraus¬
geber dank der fördernden Teilnahme tüchtiger Fachgenossen zu leisten vermag. Die
»ach dem Erscheinen der ersten Hefte von uns ansgesprochne Hoffnung (Grenz-
boten 1901, I, S. 55), daß der manigfaltige und vielseitige Inhalt sowie die ge¬
schickte Leitung dem neuen Blatte den Dank der Gelehrten und die Gunst ernsterer
Freunde unsrer Muttersprache gewinnen würden, hat sich schon erfüllt, und es wird
dem jungen Unternehmen hoffentlich mich nicht an einer tiefer gehenden Wirkung
und an dauernder Anerkennung fehlen. Obwohl den Hnuptbestand des Schlußheftes
einige streng wissenschaftliche Untersuchungen, zum Teil vorwiegend statistischer Art,
ausmachen, so bieten doch diese auch dem nachdenkenden Laien des Interessanten
und Lehrreichen genng, da sie Fragen beantworten, die jedem, der deutsch redet
und schreibt, gelegentlich auf den Leib rücke«. So dürfen geschichtliche Betrachtungen
von Schwankungen des Sprachgebrauchs, wie z. B. die auch in der Alltagsredc der
Gebildeten miteinander kämpfenden Formen „(ich habe ihm) gewillfahrt" und „(ich
hube ihm) willfahrt" oder „(er hat das) mißdeutet" und „(er hat es) gemißdeutet"
auf die Teilnahme wohl noch andrer als der streng gelehrten Leser rechnen, wenn
nur die Verfasser durch ein gemeinverständliches Deutsch auch dem guten Willen
der Leser entgegenkommen und sich nicht in einem Kauderwelsch gelehrter Termino¬
logien zu bewegen belieben. Übrigens weiß ja jeder ernsthaftere Dilettant, daß von
der Aneignung wissenschaftlicher Forschungen andrer das alte Wort auch für ihn
gilt, daß die Wurzel der Arbeit bitter, ihre Frucht süß ist. Wort- und Sachforschnng,
die in der richtig betricbnen Ethnologie meist Hand in Hand gehn, kommen dieses-
nwl in einem unterhaltenden Aufsatz über „Germanische Völkerschaften in sagen¬
hafter Deutung" gleicherweise zu ihrem Rechte. Der Verfasser, R. Mund, dem wir
auch das hübsche, in die Sache vortrefflich einführende und über den gegenwärtigen
Stand der wissenschaftlichen Forschung zuverlässig unterrichtende Büchlein „Deutsche
Stammeskunde" (Ur. 126 der Sammlung Göschen) verdanken, zeigt an charakte¬
ristischen, die Langobarden, Burgunder, Gepiden und Sachsen betreffenden Sagen,
wie sich unsre germanischen Vorfahren nicht mit der nächst liegenden Erklärung
eines Stammesnamens begnügten, zum Beispiel bei dem Namen der Sachsen nicht
etwa mit der einfachen Herleitung von sans, d, h, Messer, sondern nach einer Be¬
gründung des Namens durch einen bestimmten Vorfall verlangten; ein solcher Vorfall
war die von Widukind (zehntes Jahrhundert) erzählte Zusammenkunft zwischen Sachsen
und Thüringern. Dieser Bericht, der der naiven Denkweise unsrer Altvordern so sehr
zusagte, ging auch in spätere Überlieferung, wie in die Kaiscrchronik und das Anno¬
lied (elftes Jahrhundert), über. — Daß die neue Zeitschrift im Ernst einem „längst
gefühlten Bedürfnis" entspricht und sich voraussichtlich bald bei viele» das Ansehen
einer maßgebenden Auskunftsstelle für entscheidende Anliegen im Bereiche der deutscheu
Wortforschung erringen wird, darauf weisen schon jetzt die An- und Anfragen sowie
zahlreiche Nachträge zu verschiednen Artikeln der frühern Hefte hin. So ist jetzt
die Annahme, Goethe habe dem modischen Schlagwort Übermensch den Zutritt in
unsre Litteratur geöffnet, widerlegt und höchst wahrscheinlich gemacht worden, daß
er das Wort Herdern verdankte, der es ans der theologischen Litteratur empfing
und ihm Wohl den seitdem verblichnen Bedeutungsinhalt verlieh. Ebenso bringt
dieses Heft neue Zeugnisse zu vielnmstrittnen Wörtern, über deren ursprünglichen Sinn
oder deren Herkunft noch jetzt Zweifel walten, wie Philister, böse Sieben u.a.,
über die sich freilich die Akten nicht so bald werden geschlossen haben. Sehr einleuchtend
aber ist eine neue Erklärung, die den alten, an manchen Orten noch volksmäßigen
Namen des Februars, den Hornung aufzuhellen scheint, den man bisher als kleinen
Horn, d. h. Sohn des Januars, gedeutet hat. G. Bilfinger bestätigt und begründet
eine Vermutung Kluges, die dieser schon in der vierten Auflage seines Etymologischen
Wörterbuchs fragweise aufgeworfen hatte, nämlich daß das deutsche Wort mit dem
altnordischen nornnnAr verwandt sei. Dies ist als Adjektiv in dem Sinn „einer
Sache beraubt" nachgewiesen: aus der ursprünglichen Bedeutung „der, der in der
Ecke (dorn) sitzt" entwickelte sich die von „unehelicher Sohn," weiterhin überhaupt
„der, der zurückgesetzt, in seinem Erbteil verkürzt ist," und schließlich verallgemeinert
in der zuerst angeführten Bedeutung spolmtus aliqua. r«z. Mit gemütlichen Humor
wäre denn der Februar mit seinen achtundzwanzig Tagen im Gegensatz zu dem
unmittelbar voraufgehenden Bruder, dem Januar, der einunddreißig Tage hat und
darum auch den Namen „Vollboren" führt, als nicht Vollbürtiger, als einer, der
nicht ein volles, ungeschmälertes Erbteil angetreten hat, kurz als Bastard bezeichnet
worden. Unterstützt wird diese Auffassung durch Benennung des Februars in andern
Sprachen: so heißt er im Vlämischeu mit Anspielung ans die verkürzte Zahl der
Tage Irvt Kork wÄnäoKcm (das kurze Monatchen) und im Wallonischen is polie wen
(— ig pgtit wolf). Freilich bleibt bei dieser einfachen und sonst so plausibeln Er¬
klärung die Benennung des Januars als des großen Horn unergründet. — Neu
hinzugetreten ist in diesem Hefte eine Bücherschall, und geschmückt wird der Band
durch das Bildnis des von Kluge als „ersten Kenners unsrer mittelalterlichen Sprache"
gerühmten Fedor Bens, der im Oktober vorigen Jahres als ehrwürdiger Achtzig¬
jähriger in Zeitz gestorben ist.
Dieses Bändchen ist, wie wenig andre Bücher, die einen ähnlichen Zweck im
Ange haben, geeignet, zu einem tiefern Verständnis des deutschen Volkslieds hin¬
zuführen. Es bietet ein halbes Hundert der schönsten, mit feinem Sinn ans der
fast unübersehbaren Fülle schon gedruckter Sammlungen ausgewählten Lieder, die
der Herausgeber mit den erforderlichen Spracherklärungen versehen und nach der
historischen sowie der ästhetischen Seite in vorzüglichen Einleitungen erläutert hat.
Eine gehaltvolle allgemeine Einleitung handelt über Geschichte und Wesen, Form
und Inhalt des deutschen Volkslieds, und die musterhaft abgerundeten, den ver-
schiednen Gruppen der Lieder vorangeschickten Charakteristiken zeigen, wie bewandert
der Herausgeber ans diesem Gebiete ist, und daß er bei aller Begeisterung für den
Gegenstand sich doch die Selbständigkeit und Unbefangenheit des Urteils bewahrt
hat. Die Würdigungen der einzelnen Lieder zeigen eine bewundernswerte Gabe des
Anempfindens und verraten, anßer den pietätvollen Hinweisen, den würdigen Schüler
Rudolf Hildebrcmds- dessen Geist atmet auch die gemütsinnige Auffassung und
Wärme, und die Fähigkeit, den Lesern die aus den alten Liedern redende Fühl-
und Denkweise unsers Volkes gleichsam dnrch Vorfühlen verständlich zu machen,
erinnert um jenes Meisters Art, der, Herders und Uhlands Spuren folgend, in der
Ausdeutung der schlichten Schönheit unsrer Volksdichtung unter seinen gelehrten
Genossen nicht seinesgleichen hatte und ganzen Generationen von Studenten dnrch
das zündende Wort der lebendigen Rede „die edle Einfalt und stille Größe" unsers
alten Volksliedes erschlossen hat. Wer sich bequem und doch gründlich über Werden
und Wesen des Volkslieds belehren und sich in das seit Friedrich Nicolais „seynem
kleynem Almanach" oft ebenso thöricht verspottete, wie von Goethe, Uhland, Mörike
und andern bewunderte und nachgeahmte, auf die ermüdete Knnstlyrik seinerzeit wie
ein erfrischender Jungbrunnen wirkende Erzeugnis der dichtenden Volksseele zu Er-
quickung des eignen Gemütes vertiefen will, der greife zu diesem kleinen Buch,
dessen Verleger wegen der Beigabe von fünfzehn Musikbeilagen — gern sähe man
ja alle Lieder damit ausgestattet — noch ganz besondern Dank verdient. Alles
auf 180 Seiten in der netten Ausstattung der Sammlung Göschen für den Spott-
Preis von 80 Pfennigen!
Das bewährte Reisehandbuch ist uach dem Tode des verdienten Verfassers
(1898) besonders von den Professoren H. Blümuer und V. Ryssel in Zürich mit
sorgfältigster Benutzung aller seit dem Erscheinen der vierten Auflage (1895) ver¬
öffentlichten Arbeiten und mit der Berücksichtigung der so höchst wichtigen neuen
Ausgrabungen in Rom (bis Ende des Jahres 1900), die das Bild des Forums so
vielfach verändert haben, auf den Stand der gegenwärtigen Kenntnis gebracht worden,
ohne daß der schon beträchtliche Umfang des Werkes stark vermehrt worden wäre.
Das tritt auch in der Vermehrung und Berichtigung der Pläne hervor. Wir er¬
wähnen davon besonders den großen Plan der Fora, des Kapitals und des Palatins,
der diese antiquarisch wichtigste Stadtgcgend auf einem Blatte höchst übersichtlich
und klar zusammenfaßt (die antiken Reste schwarz, die heutigen Straßenzüge und
Gebäude in blaßrotem Unterdrück), das Plänchen des Forums und des Comitiums
zur Zeit der Republik und die Eintragungen der erst 1899/1900 zu Tage ge¬
kommnen Denkmäler auf dem und an dem Forum romannnn die Basilica Amilia,
den Fons Jnturnae, den Lapis niger und die Santa Maria antiqua hinter dem
Kastortempel, ferner die beiden vorzüglichen Karten der nähern und der weitern Um¬
gebung Roms. Ganz neu und sehr vervollständigt ist der Bilderschmuck des Buches.
An Stelle der alten, einen frühern Zustand darstellenden Stahlstiche sind Lichtdrucke
"ach guten Photographien getreten. Neu hinzugekommen sind hier n. a. zwei An¬
sichten des Forum romanum nach der Rekonstruktion von Eh. Hülsen.
Der Verfasser, wohl kein Archäologe von Fach, bietet dem gebildeten Laien in
diesem handlichen Bändchen zunächst eine Geschichte des Palatins von den ältesten Zeiten
bis zu den modernen Ausgrabungen und führt im zweiten Teile den Besucher durch
die heutigen Ruinen. Ein Verzeichnis der nuf dein Palatin gefundnen bildlichen
Reste mit ihren jetzigen Aufstellungsorten, der antiken Schriftsteller, die den Palatin
erwähnen oder behandeln, und der modernen Litteratur, sowie ein Namensregister
erleichtern die Benutzung des Buches. Die neuern Forschungen, besonders Christinn
Hülsens, sind sorgfältig verwertet, sodaß es mit Hilfe der zahlreichen guten und
geschickt gewählten Abbildungen, von denen die drei Rekonstruktionen der Kaiser¬
paläste (der Ansicht von der Area Palatina aus, des jallein bis jetzt größtenteils
ausgegrabnen^ Flavierpalastes und des sogenannten Hippodroms) vor allem instruktiv
sind, nicht schwer ist, sich ungefähr ein Bild von dem Zustande des Hügels in
der Kaiserzeit zu machen. Die Darstellung ist zuweilen etwas breit und bringt den
Überlieferungen aus der ältesten Zeit Roms eine allzu naive Gläubigkeit entgegen,
die eingefügten Verse des Verfassers hätten ohne Schaden wegbleiben können. Die
Ausstattung ist gut, und der Satz in schöner klarer Antiqua in Anbetracht des
Im Anschluß daran machen wir noch auf ein sachlich vortreffliches populäres
Buch über Rom aufmerksam: Vom alten Rom. Von Eugen Petersen. Mit
120 Abbildungen. Leipzig. E. A. Seemann, 1898. 142 Seiten (aus der verdienst¬
lichen Sammlung: Berühmte Kunstflätten). Der Verfasser, einer der Leiter des
kaiserlichen Archäologischen Instituts auf dem Kapitol und einer der besten Kenner des
antiken Roms, giebt darin eine Schilderung der Bnureste des Altertums, indem er
überall auf die Baugeschichte eingeht und aus den Trümmern das Ganze wieder
herstellt. Daran schließt sich eine Übersicht über die in den römischen Museen auf¬
bewahrten Bildwerke. Zwar fehlen Pläne der besprochnen Gebäude, die man aller¬
dings in jedem guten Reisehandbnche findet, aber die Abbildungen sind gut aus¬
gewählt, sehr reichlich und ganz vortrefflich ausgeführt; man kann sie und den oft so
schauderhaften, schmierigen Autotypien, die jetzt die Seiten unsrer illustrierten Zeit¬
schriften verunzieren, und die sich das liebe deutsche Publikum in seinem stumpfen
Geschmack ruhig, ja mit Genuß gefallen läßt, gar nicht vergleichen. Leider birgt sich
dieser vortreffliche Kern in einem sprachgewandt: von oft erstaunlicher Formlosigkeit.
Schachtelsätze, Parenthesen, lange, ganz undeutsche Partizipialkonstrnktionen, schwer¬
fällige Substantivierungen, lässig angehängte Appositionen und dergleichen kommen
fast auf jeder Seite vor. Wann werden endlich die deutschen Gelehrten lernen, gut
und elegant zu schreiben! stein andres Kulturvolk mißhandelt seine Sprache so
schändlich, wie wir Deutschen es nicht nur in dem oft so jämmerlichen Gestammel unsrer
gewöhnlichen Zeitungen thun. Mit dem Rückgange der klassischen Bildung hat dieser
Mangel an Formensinn offenbar zugenommen; wohin werden wir erst geraten, wenn
sie noch weiter zurückgedrängt wirbt Und dabei bilden wir uns ein, unsre Kultur
werde einen Siegeslauf durch die Welt antreten. Dazu gehört vor allem auch
KWb uns die neuerlich aufgetauchten Meldungen von einer Kluft
zwischen dein deutschen Kaiser und dem deutsche» Volke ernstlich
beunruhigen? Gleichgültig sind sie uns nicht; aber wenn man
den ziemlich kunstlosen und plumpen, und dennoch wirksamen
Hanismus von Drähten und Rädern kennt, mit dem die
Parteien hinter den Kulissen arbeiten, wenn man das Leben während eines
längern Zeitlaufs an sich hat vorüberzieht, lassen, so wird man für Schreck¬
schüsse minder empfindlich, und wen» irgendwo ein bedrohliches Gespenst er¬
scheint, geht man ihm zu Leibe.
Es ist zwar unsre Überzeugung, daß für die Handlungsweise derer, die
in gutem oder schlechtem Glauben die Nation ihrem Führer zu entfremden
suchen, kein Tadel zu streng ist, aber wir glauben und hoffen, daß gegen¬
wärtig in Deutschland trotz nltramontaner und sozialdemokratischer Umtriebe
noch eine Anzahl thatsächlicher Umstände zusammenwirkt, die einer wirklichen
Untergrabung des kaiserlichen Ansehns hemmend entgegentreten. Was in dieser
Richtung Leichtsinn, Verschrobenheit, Anmaßung und landesverräterische Absicht
verschulden, wird, denken wir, durch die alte Anhänglichkeit der Preußen und die
neuere aller Deutschen an das Haus Hohenzollern, dnrch die persönlichen Eigen¬
schaften des gegenwärtigen Kaisers und dnrch die Erinnerung an Wilhelm I.,
Friedrich III., sowie an die Jahre 1870/71 wettgemacht.
Es wäre aber doch vielleicht gut. wenn wir uns die. die sich der Haltung
der kaiserlichen Regierung und des kaiserlichen Herrn entfremdet fühlen oder
entfremdet nennen, etwas genauer ansähen. Sie sind an Energie und Ge-
fährlichkeit sehr voneinander verschieden.
Da sind zunächst die, denen — eine Frage des künstlerischen Geschmacks —
die tropenreiche und hochbegeisterte Sprache widersteht, in der sich der Kaiser
bei feierlichen Anlässen, oder wenn er es sonst für gut hält, das Volk mit seinen
Anschauungen bekannt zu machen, auszudrücken pflegt.
Wir würden bei unserm etwas altmodischen Standpunkt nicht glauben,
daß es einem Deutschen zustehe, sich anderswo als im engsten Bekanntenkreise
über diesen Punkt auszusprechen; allein da diese Anschauung offenbar nicht
allgemein geteilt wird, so dürfte hier ehrfurchtsvolles Schweigen nicht ratsam
sein. Das Prinzip, daß es wünschenswert ist, an gewissen Palladien, die wir
für unsre Moral und gesellige wie staatliche Existenz als unentbehrlich ansehen,
überhaupt keine Kritik zu üben, ist durchbrochen, und es ist darum vielleicht
kein Schade, wenn die Sache in schuldiger Ehrerbietung und — wir hätten
im entgegengesetzten Falle geschwiegen — in durchaus beifälliger Weise be¬
sprochen wird.
Wer der Negierung und dem Kaiser Beifall zollt, wird zwar — eine
Errungenschaft der Neuzeit — meist von vornherein als Bedientenseele be¬
zeichnet, wir wollen es aber darauf ankommen lassen. An den Thatsachen wird
doch ohnehin durch dergleichen kleine persönliche Ainönitäten nichts geändert.
Es giebt also durchaus wohlgesinnte, höchst ehrenwerte und geistig be¬
deutende Männer, denen die etwas grandiloquente Art der kaiserlichen Bered¬
samkeit nicht zusagt. Sie verkünden mit einem wehmütigen Zug um den
linken Mundwinkel: die Beredsamkeit Seiner Majestät sei nicht von der Art,
wie sie der Deutsche wünsche und zu schätzen wisse. Vismarck 5. ig, voiins lisurs,
der sei ein Redner gewesen, wie man sich ihn wünsche, kernig, originell, jedem
Gemeinplätze feind, und vor allem Moltke, weil er so überaus selten das Wort
genommen habe.
Ein geistreicher und feiner englischer Litterat hat von Mcicanlays Stil
gesagt, er sei Zorgsous, was man vielleicht durch prunkhaft, allzu prächtig
wiedergeben könnte. Mein Großvater oder — da jeder von uns zwei Groß-
Väter hat — einer meiner beiden Großväter pflegte von begeisterten Ideologen,
die ihn mit ihrer Unterhaltung beehrten, im intimsten Kreise zu sagen, daß sie
immer ans dem Kannrückchen hernmrutschten; unter Kannrückchen verstand man
in seiner Umgebung und wohl überhaupt in der ganzen Gegend ein Karnies,
den obern Teil des Gesimses, dessen Rücken, auf dem man Kannen, Pokale
und Schüsseln aufzustellen pflegte. Ähnlich mag vielleicht der Eindruck sein, den
die haben, die zu ihrem größten Schmerze zu bemerken glauben, daß die kaiser¬
liche Beredsamkeit in ihrer rhetorischen Pracht und Fülle dem deutschen Volke
nicht zusage: sie glauben, man würde etwas Schlichteres vorziehn und es dem
kaiserlichen Redner dank wissen, wen» er sich — sit venia vsrdis — etwas
weniger auf dem Kannrückchen zu thun machte. Es sind, beiläufig gesagt,
dieselben Leute, die an manchen das öffentliche Erscheinen der kaiserlichen
Majestäten begleitenden Zeremonien etwas auszusetzen haben, sie als theatralisch
bezeichnen, und denen namentlich die Fanfaren aus silbernen und nichtsilberneu
Trompeten, ohne die das Erscheinen des kaiserlichen Paares bei feierlichen
Gelegenheiten nahezu undenkbar geworden ist, ein Greuel siud.
of tzustibng non <Z8t äisxuwnäum. Ein italienischer, für das Dekorative
und sensationelle begeisterter Maler hatte für eine große amerikanische Lebens-
Versicherungsgesellschaft ein Reklamebild zu enttverfen gehabt und darauf eine
Fama dargestellt, die mit weiblicher Anspannung des Trompetermuskels (bnovi-
ng>lor) in eine unglaublich dünne, dafür aber um so längere Tuhr blies. Nach
meinem unmaßgeblichen Gefühle wirkte die in kühnem stumpfem Winkel von
der Figur abspringende gerade Linie der Tuba außerordentlich gut. Der
Beamte aber, der das spezielle Ressort der Publizität unter sich hatte — bei
einer amerikanischen Lebensversicherungsgesellschaft offenbar keine Sinekure —,
war entgegengesetzter Ansicht. Er schrieb nach Rom, wo der Künstler lebte,
und legte in seinem Brief dem Pariser Bevollmächtigten des Unternehmens,
der das Plakat bestellt hatte, eine Reihe für den Künstler schmeichelhafter und
anerkennender Worte in den Mund, warf aber das Ganze durch den Zusatz
über den Haufen: ,jo n'ainnz xg.s 1» troinpsttv. Das Reklamedepartement
eiuer amerikanischen Lebensversicherungsanstalt, dem die Trompete am Munde
der Fama nicht behagte, das war stark. Der Künstler war gerade auf die
Trompete besonders stolz; er setzte seineu Standpunkt und wie die Trompete
außerordentlich suggestiv wirken werde, mit zahllosen, entzückend klingenden
italienischen Superlativen auseinander, und die Trompete blieb, nnr einen bis
anderthalb Centimeter kürzer wurde sie gemacht.
Solche Dinge siud eben Geschmacksache, und es dünkt uns nicht weise,
einem Künstler — wir bleiben vorerst absichtlich ganz auf dem künstlerischen
Gebiete — einen Vorwurf daraus zu machen, daß er nicht wie A oder B ist,
A und B mögen so vortrefflich und unübertrefflich sein, wie sie wollen.
Wer an der Beredsamkeit des Kaisers auszusetzen findet, n'aiiniz vviäsnr-
rnvnt pg,s ig. troinveÄö. Als Geschmacksrichtung ist das ja der Beweis eines
überaus geläuterten Gefühls, Ins laste is v<zrx «Kaste inävöä, wie sich die
Engländer ausdrücken; aber aus dem eignen höchst persöickichen Gefühl eine so
allgemeine Bemerkung herleiten zu wollen wie die, daß die kaiserliche Bered¬
samkeit dem deutschen Volke nicht zusage, ist doch sehr gewagt.
0n us pone Ms (ZontöirtM tont le> nouae, se son xsrs. Zu dem deutscheu
Volke gehören wir doch Gott sei Dank auch, und wir könnten nicht behaupten,
daß wir in deu Rahmen der für die Deutschen und ihr angebliches Mißfallen
an der Beredsamkeit des Kaisers schlechtweg aufgestellten Behauptung paßten.
Ein beurlaubter Matrose, den wir ausgehorcht haben, noch weniger. Er war
nicht nur bereit, sich auf dem Flecke für den Kaiser Hände und Füße abhacken
zu lassen — ein Umstand, den wir ungern als Beweis für die Beredsamkeit
Seiner Majestät anführen möchten —, er konnte auch die Ansprache, die der
Kaiser in Kiel bei seiner, des Matrosen, Rekrutenvereidung gehalten hatte,
ziemlich auswendig und sagte sie mit demselben überzeugungstreuen Pathos
und Wonnegefühl her, mit der wir im Juni 1866 deklamierten: Selbst der
Mindermüchtige würde sich entehren, wollte er nicht unberechtigten Forderungen
mit männlichem Mute entgegentreten.
Mein Gott, die Geschmäcker sind einmal verschieden. Moritz Busch fand
an der Proklamation des Königs Johann keinen Gefallen und eilte rastlos
von den Thoren Leipzigs nach der Börsenhalle, um in der Lektüre von De¬
peschen ,',» schwelgen, die die Niederlage der Truppen seines engern Vater¬
lands meldeten; wir strampelten ebenso rastlos mit diesen dnrch Böhmen und
über die Kleinen Knrpaten und fanden die Wendung von den unberechtigten
Forderungen und dem männlichen Mute schön.
Die Achtung vor der Autorität des Herrschers ist ein Gefühl, das zu
fördern und zu hegen Pflicht ist. Wohlgesinnte lind einsichtige Leute, die
ihrem litterarischen oder sonst künstlerischen Geschmack erkunden, auf dem Ge¬
biete eines solchen pflichtmäßigen Gefühls aufzuräumen, begehn damit einen
großen Irrtum, Wir können uns zu dessen Vermeidung alle miteinander
Bismarck zum Beispiel nehmen; denn so viel von ihm anch im Privatleben
gethane Äußerungen bekannt geworden sind, die beweisen, daß er much in Bezug
auf die Herrscher, denen er diente, sein freies Urteil bewahrte, so ist doch alles,
was er nach dieser Richtung hiu öffentlich gesagt hat, von der zartfühlendsten,
kaiserlich und königlich gesinnten Rücksicht und Ehrerbietung durchdrungen; ein
Vorzug, der um so höher anzuschlagen ist, als er auch in der Zeit seiner
unbestrittensten Machtfülle mitunter mit den Trägern der Krone seine liebe
Not hatte, von den letzten Jahren, wo eine solche Rücksicht doppelt schön und
verdienstlich war, gar nicht zu reden.
Nun sind aber, abgesehen von der eben besprochnen künstlerischen, das
heißt litterarischen Kritik, der nnr eine gegensätzliche Geschmacksrichtung zu
Grunde liegt, noch zwei andre Nebelstreifen vorhanden, die die kaiserliche
Sonne verhindern, in ungetrübtem Glänze auf die deutschen Lande zu scheinen:
die Verdächtigungen, die von allen den Parteien ausgehn, denen der Einfluß
eines kräftigen und beliebten Herrschers auf sein Volk im Wege ist, und das
Unerquickliche der gegenwärtigen politischen Lage, die einer unbehaglichen Wind ,
oder wie Goethe sagt, Meeresstille gleicht.
Von den Verdächtigungen wollen wir hier uicht reden: ein Blick auf einen
Teil der Tagespresse genügt. Da es sich bei den beiden extremen Parteien unsers
Volks, den Ultramontanen und den Sozialdemokraten, um einen prinzipiellen
Kampf gegen den Staat handelt, so wäre es ein Wunder, wenn man dabei dessen
Haupt und die von diesem gewühlten Negieruugsorgane verschonte. Lsmxvr
itlicjuiä lig.«rst, etwas von dem, was wir sagen, denken sie, bleibt doch sitzen.
Wo könnte da die Grenze sein, vor welcher ehrerbietigen, taktvollen, billigen
Erwägung sollte man halt machen? Vorwärts geht es, wie der Herbstwind
über die kahlen Stoppelfelder weht. Wenn nichts mehr da ist, was das Leben
lebenswert macht, dann kommen wir ans Regiment, wir, die Schwarzen oder
die Roten. Folgerecht ist ja, wenn mau die Anschauungen dieser Parteien
als zulässige Prämisse annimmt, ihre Handlungsweise, aber auf der andern
Seite für uns alle, die wir nicht denken wie sie, welche Mahnung, daß wir
Kopf und Kragen daran setzen, sie vom Gerüste zu werfen. Wenn man, wie
Anno dazumal, keinen Kaiser hätte, der selbst sieht und urteilt, der führt und
antreibt, der warnt und ermahnt, hätte man im Falle eines trügen Zuwnrtens
die Entschuldigung, die Truppen zugebilligt wird, wem, ihnen der rechte
General fehlt. Man leistet nichts, weil man nicht recht weiß, wo man hin
soll; man gehorcht schlecht, weil schlecht befohlen wird.
Eine solche Entschuldigung - und hierin liegt unsrer Meinung nach der
eigentliche Kern der Stellung Kaiser Wilhelms II, im Staate —, eine solche
Entschuldigung haben wir nicht. Wir mögen in Bezug ans die zu verfolgenden
Zwecke und auf die zu wählenden Mittel andrer Meinung sein als er; die
Presse mag sich über solche Meinungsverschiedenheit noch so unumwunden,
wenn auch freilich immer sachlich aussprechen das eine bleibt doch fest und
unumstößlich: Nur haben einen Steuermann, einen General, einen Führer, der
weiß, was er Null, und das ist in der gegenwärtigen Weltlage ein großer
Segen. Vor der Glanzperiode unsrer Geschichte, in der Kaiser Wilhelm I. und
Bismarck Hand in Hand gingen, hat dieser Segen unsrer Nation nur zu oft
gefehlt.
Und diese Glanzperiode unsrer Geschichte, die der Natur der Sache nach
nur eine vorübergehende sein konnte, da die Bäume bekanntlich nicht in den
Himmel wachsen, ist es denn auch, die im Gegensatz zu der gegenwärtigen ge¬
drückten Windstille dem Kaiser und der kaiserlichen Regierung zum Vorwurf
gemacht wird. Mau sagt: Ja, schöne Worte machen könnt ihr, uns sind
Thaten lieber; wir wollen große Erfolge sehen. Rasch ein zweites sedem,
Milliarden und dergleichen mehr. Und die Leute, die so sprechen, denken noch,
sie haben wunder was männliches und schneidiges gesagt, während ihr ganzes
Gerede im Grunde doch nichts andres ist als Maugel an Männlichkeit, Mangel
an Schneide, weibische Ungeduld, kindische Wünsche, daß Pflänzchen, die man
hente in die Erde grübe, morgen blühn und Früchte tragen.
Die ersten Unzufrieduen, wenn es im Feld, auf der See oder in der
Wildnis nicht klappt, sind immer die Schwächlinge, moralisch und körperlich.
Die Ausdauernden, den Strapazen Gewachsenen haben auch die Eigenschaft,
die dem wahren Mute jederzeit eigen ist: ihr Vertrauen welkt nicht wie ein
wurzelloses Pflänzchen im ersten Ansturm eines widerwärtigen Schicksals
dahin. Dieses mutige Vertrauen zum Führer, das nicht Zeichen und Wunder
zu sehen begehrt, ist es, was brauchbare Seeleute, gute Soldaten und verlä߬
liche Staatsbürger zeitigt.
Der Haufen, die Stimme des Haufens imponiert uns nicht. Horaz mochte
etwas ähnliches erfahren und empfunden haben, als er sein absprechendes: väl
protimnin, vnlAii8 se Mvoo schrieb. Es gehören ganz besondre Umstände, mora¬
lische Vorbedingungen der seltensten Art dazu, daß der Mensch als Herde nicht
kleingläubig, mißtrauisch, ohne Murr und Schneide ist.
Wer zur See ähnliche Katastrophen wie die von Goethe bei seiner Rückkehr
von Sizilien überstandue erlebt, wer im Feld ans der falschen, wir meinen auf
der nicht sieggekrönten Seite gestanden hat, der wird es uns bestätigen, wie sehr
auf den Sand fahren, widrige Winde und Niederlagen das Gemüt der Massen
verändern: man erkennt sie kaum wieder, und die Kluft, die zwischen ihnen
und den Führenden, Befehlenden wie durch bösen Zauber entsteht, muß in den
meisten Fällen der moralischen Undichtigkeit der Gehorchenden, nicht der falschen
Verfahrungsweise der Befehlenden zur Last gelegt werden. Nur Ausnahme¬
naturen haben Spannkraft genug, in solchen Augenblicken dein allgemeinen Sich-
gehnlassen entgegenzutreten. Ja, das Mißtrauen zur Führung spielt bei solchem
aus dem Leime gehn recht eigentlich die Hauptrolle, Bei den Franzosen war jn
in den Jahren 1870 und 1871 das nous soinnws trallis geradezu grotesk,
aber ähnlich, nur weniger ungestüm und durch allerhand, das den Franzosen
fehlte, mehr in Schranken gehalten war auch nach Königgmtz auf der unter¬
legnen Seite die kleinlaute Verzagtheit, das barmende und murrende Mißtrauen
gegen die Führung.
Der Mensch ist nun einmal so geschaffen oder so geworden, daß er Ver-
tranenswechsel auf lange Sicht nicht zu bewilligen vermag: der Menge fehlt
der Genius dazu. Man läßt den Kopf und die Arme hängen; der Kapitän,
der General, der Fürst, heißt es, versteht sein Handwerk nicht. Du mein Gott,
sagt man, wohin wird es mit uns noch kommen, wenn das so fortgeht. Und
wer das schreckliche Mißgeschick, dem man schließlich in vollem Ernste entgegen-
zugehn glaubt, mit den grellsten Farben zu schildern versteht, führt an; seiner
Rede neigt sich willig jedes Ohr. Es ist, wie er sagt, unverantwortlich, wie
sie uns mitspielen, und er giebt nicht ungern zu verstehn, daß ers besser
machen würde. So entsteh« die Meutereien, so wird im Handumdrehn aus
einer brauchbaren kampfesfreudigen Truppe ein rebellischer, ungehorsamer, un¬
williger Haufe.
Was in solchen Fällen fehlt, ist ein greifbarer Erfolg, ein günstiger Wind,
ein Sonnenstrahl des Glücks. Kommt ein solcher, so ist dann die Menge mit
einemmal wie umgewandelt. Der Kapitän, der General, der vor wenig Stunden
nichts von seinem Handwerk verstand, ist plötzlich wieder ein ganzer Mann
geworden, und maßlos, wie man verdächtigte und tadelte, lobt man nun und
vergöttert.
Der Durchschnittsmensch ist kurzsichtig, leicht verzagt, zu Mißtrauen, Neid
und Schadenfreude geneigt, und doch ist er es, dem die öffentliche Meinung,
vor der man anbetend in den Staub sinken soll, ihre Entstehung verdankt,
und er ist es vor allen Dingen, der sie uns zum Gehör und Bewußtsein
bringt.
Liegt es nicht in der Natur der Sache, daß man in seinem Urteil gegen
ein auf so zweifelhaftem Boden gewonnenes Produkt die äußerste Vorsicht ge¬
brauchen muß?
Was der Staat braucht, sind Leute, die mutig und geduldig auf den Er¬
folg zu warten, und bis sich dieser einstellt, dem Führer Vertrauen zu schenken
vermögen. Leute, die von dem Grundsatze ausgehn, daß wenn sich zwischen
Kaiser und Volk wirklich eine Kluft aufgethan Hütte, es die verfluchte Pflicht
und Schuldigkeit eines jeden von uns wäre, sich lieber hundertmal als einmal
zu fragen, ob es, statt an dein Kaiser zu mäkeln, nicht an der Zeit wäre, an
uns selbst zu arbeite», damit sich die Kluft, wemi es eine gäbe, je eher je
lieber schlösse?
Mit selbstbewußtem in den Tag hinein tadeln wird nichts gefördert; sich
mit allen Kräften an den Karren stemmen, an dem der Kaiser — von ihm
kann man es wohl sagen — zieht, das ist echt staatsbürgerliche und patrio¬
tisch
in 19. März haben die preußischen Minister des Innern, des
Kultus und des Handels an die Regierungspräsidenten einen
Erlaß über die Wohnungsfrage gerichtet, den man vielleicht als
die Einleitung zu einer neuen Ära preußischer Wohnnngs- und
Bodenpolitik betrachten darf.
In vielen Teilen des Staatsgebiets, so beginnt der Erlaß, in fast allen
größern und zahlreichen mittlern und kleinern Städten und namentlich in den
Industriebezirken herrschten zum Teil Mißstände im Wohnungswesen der minder
bemittelten Vevölkerungsklassen, deren Beseitigung sowohl im Interesse der
Gesundheit wie besonders im sozialen und sittlichen Interesse dringend ge¬
boten erscheine. Wenn sich auch ein durchgreifender Erfolg nach Lage der
Verhältnisse nnr durch ein umfassendes gesetzliches Vorgehn auf den verschiednen
Verwaltnngszweigen erreichen lassen würde, so erscheine es doch wünschens¬
wert, daß schon vor den „in Vorbereitung befindlichen Änderungen der Gesetz¬
gebung" im Verwaltungswege alle Maßnahmen getroffen würden, die schon
nach dem gegenwärtigen Stande der Gesetzgebung in befriedigender Weise
durchgeführt werden könnten und geeignet erschienen, den bestehenden Wohnungs¬
mißständen wenigstens zum Teil abzuhelfen.
'
Wenn nunauch bis jetzt weder über die grundsätzliche Richtung, in der
sich die Vorbereitung des in Aussicht genommnen umfassenden gesetzlichen Vor¬
gehens bewegt, noch über die Mittel und Wege, die dabei für praktikabel ge¬
halten werden, etwas bekannt geworden ist. so ist doch schon die in dieser
Form gemachte Aulüudiqung einer gesetzgeberischen Aktion großen Stils auf
einem so überaus wichtige» und schwierigen Gebiet von großer Bedeutung.
und sie ist geeignet die in der öffentlichen Meinung schon seit wahren sehr
eifrig betriebne Diskussion über Wohn- und Bodenreform zu noch größerer
Lebhaftigkeit anzufachen. Hoffentlich wird der Gedanke, daß nun kalt mit
solchen Reformen Ernst gemacht werden soll, dazu beitragen, daß die Reform-
ideen ihrer theoretischen und hypothetischen Überschwenglichst und Unklarheit
immer mehr entkleidet werden und zu der Abklärung, Nüchternheit und
Müßigung gelangen, die ihnen vorläufig noch fehlt, und ohne die ihre Über¬
setzung in die Praxis wahrscheinlich ein unverantwortlich leichtfertiger Sprung
ins Ungewisse sein würde.
Der Minister! alerlaß nennt unter den vorläufig ans dem Boden der
geltenden Gesetzgebung ausführbaren Maßnahmen zur Besserung der Wohn-
Verhältnisse zunächst die Beschaffung geeigneter Wohnungen zu angemessenen
Preisen durch den Staat und die Gemeindet? für ihre eignen Arbeiter und
Beamten, sei es in eigner Regie oder dnrch Unterstützung gemeinnütziger Bau¬
genossenschaften, Sodann soll von den Gemeinden ans eine vermehrte Her¬
stellung kleiner, gesunder und preiswerter Wohnungen für die minder be¬
mittelten Klassen überhaupt durch die Unterstützung solcher gemeinnützigen
Genossenschaften und Gesellschaften hingewirkt werden, die durch Statut die
an die Gesellschafter zu verteilenden Dividenden auf höchstens 4 Prozent be¬
schränken. Drittens sei ein Mittel, wodurch schon jetzt mit Erfolg auf eine
Verbesserung der Wohnungsverhältnisse hingewirkt werden könne, „die Er¬
leichterung des Verkehrs nach den Außenbezirken der größern Gemeinden,"
Es werde deshalb überall dort, wo Mißstände im Wohnungswesen besteh»,
auf eine zweckentsprechende Entwicklung der „kommunalen Verkehrsmittel,"
zugleich aber namentlich auch darauf Bedacht genommen werden müssen, daß
für den Verkehr von und nach den Außenbezirken der Arbeiterbevölkerung,
insbesondre auch für die Schulkinder, die erforderlichen Erleichterungen gewährt
werden. Soweit die Gemeinden neue Genehmigungen für Straßenbahnen,
Pferdebahnen und dergleichen erteilen, sollte grundsätzlich eine entsprechende
ausdrückliche Bedingung in den Vertrag aufgenommen werden. Endlich heißt
es viertens: Bon durchgreifender Bedeutung für eine bessere Gestaltung der
Wohnungsverhältnisse sei eine zweckmäßige Bodenpolitik der Gemeinden, Die
herrschenden Mißstände hätten eben ihre Hauptquelle in der ungesunden Boden¬
spekulation, die sich freilich zum Teil mit Erfolg uur nach Abänderung der
Gesetzgebung bekämpfen lassen werde. Ein wirksames Mittel, sie in Schranken
zu halten, biete sich aber auch jetzt schon in der Erwerbung möglichst vieler
Grundstücke durch die Gemeinden, deren stetiges Anwachsen das umliegende
Acker- und Gartenland in immer zunehmendem Maße in Bauland verwandle.
In welcher Weise die Grundstücke, die in der Regel dauernd im Eigentum der
Gemeinde erhalten werden sollten, für die Bebauung nutzbar gemacht werden
könnten, ob insbesondre die Gemeinde selbst, in eigner Regie oder durch
Privatunternehmer, Wohnungen darauf errichten und diese im Wege der Ver¬
mietung oder des Erbbaurechts abgeben wolle, oder ob die Bebauung im Wege
des Erbbaurechts herbeigeführt werden solle, werde der einzelnen Gemeinde
überlassen bleiben können. Einer gesunden Bodenpolitik entspreche es ins¬
besondre, wenn auch da, wo jetzt Wohnungsnot herrsche, die für billige Woh¬
nungen geeigneten Grundstücke im Eigentum der Stadt grundsätzlich nicht ver¬
äußert würden. Eine Veräußerung von Gemeindegrnndstncken zur Bekämpfung
der Wohnungsnot könne wohl vorübergehend den Erfolg haben, daß Woh¬
nungen in größerer Anzahl und zu billigern Preisen hergestellt lind angeboten
würden; auf die Dauer aber nützte sie nur der Terrainspeknlation. Nur
dann werde die Veräußerung von Gemeindegrundstückeu zur Herstellung kleiner
Wohnungen zugelassen werden können, wenn der Gemeinde ein dingliches Vor¬
kaufsrecht vorbehalten werde, oder wenn sonst hinreichende Sicherheit dafür
gegeben sei, daß die Grundstücke der Privatspekulation entzogen blieben.
Der Erlaß an die Regierungspräsidenten hat, wie man sieht, mit dem
Wohnungswesen der landwirtschaftlichen Bevölkerung nichts zu thun. Auch
der zugleich an die Oberpräsidenten unter Mitzeichnung des Landwirtschafts¬
ministers gerichtete Erlaß berührt die landwirtschaftlichen Verhältnisse nur
insoweit, als er die Ausarbeitung vou Polizeiverordnungen über die Unter¬
bringung der Arbeiter verlangt, die in Gewerbe- oder Landwirtschaftsbetrieben,
beim Bergball oder bei Bauten beschäftigt sind, wobei an sogenannte Arbeiter¬
kasernen, Schlafhänser usw, gedacht ist, wie sie in der Landwirtschaft haupt¬
sächlich mir für die sogenannten Sachsengänger und andre vorübergehend
herangezogne ortsfremde Arbeiter gebraucht werden. Die dauernden Wohn¬
verhältnisse der landivirtschaftlichen Arbeiterbevölkerung werden dadurch nicht
berührt. Es truü danach so scheine», als ob die ganze Aktion, auch die um¬
fassende gesetzgeberische, die vorbereitet wird, wesentlich auf die Wohnnngs-
und Bodenpolitik in Industrieorten, namentlich aber in den Großstädten ab¬
zielte, und nicht zugleich auf die des sogenannten platten Landes. Es würde
das dem entsprechen, was die moderne nationalökonomische und soziologische
Schule zunächst als die Wohn- lind Bodenreform behandelt, indem sie dringend
verlangt, daß von Staats und Gemeinde wegen den arbeitenden Klassen in
den Industriezentren billigere und sehr viel bessere Wohngelegenheit verschafft
werde, wozu eine die bisherige Grundeigentumsverfassuug mehr oder weniger
radikal umgestaltende Bodenpolitik unerläßlich sei.
Bei aller Anerkennung der Berechtigung dieser Bestrebungen im all¬
gemeinen kann ich mich doch der Befürchtung nicht verschließen, daß eine
durchgreifende gesetzliche Neugestaltung der großstädtischen Wohnnngs- und
Bodenpolitik allein ° im Sinne dieser Sozialreformer ohne unausgesetzte, ein¬
gehendste Berücksichtigung der Verhältnisse des platten Landes und der är.nem
landwirtschaftlichen Bevölkerung, ja ohne daß zugleich eine fast ebenso um-
fassende Sozial-, Wohnnngs- und Bodenreform in den landunrtschaftlrchen Ge¬
meinden und Kreisen in Angriff genommen würde, leicht zum Schaden deo
Gesamtwohls ausschlagen könnte. Je mehr man den Judustriearbeckeru das
Wohnen in der Großstadt, oder was ihr gleichkommt, verbessert, verschont ver¬
billigt, um so mehr wird wahrscheinlich nicht uur das Zuströmen der land¬
wirtschaftlichen Arbeiterschaft zur Industrie, sondern auch dre örtliche Konzen¬
tration der Industrie selbst befördert werden, was beides doch wohl sehr un¬
erwünscht ist vollends jetzt, wo die rapide Zunahme der Jnduswebevölkernug
und der Großstädte schon in weiten Bezirken des Reichs zu akuten Arbeitcr-
Mangel in der Landwirtschaft und zu einer Entvölkerung des platten Landes
geführt hat, die den nationalen Besitzstand zu bedrohen anfängt. Freilich
haben wir mit der Thatsache zu rechnen, daß die Bevölkerung in Industrie,
Handel und Verkehr und ganz besonders die Arbeiterbevölkerung zu eiuer ge¬
waltigen Masse angeschwollen ist und dadurch eine nationale Wichtigkeit er¬
langt hat, die die Fürsorge für ihre wirtschaftliche, soziale, hygienische Ent¬
wicklung dem Staat in einem viel höhern Grade zur Pflicht macht als vor
zwanzig Jahren, und auch damit ist nun einmal zu rechnen, daß der Zudrang
zur Industrie bis jetzt fast völlig mit der Abwandrung vom Lande nach der
Stadt zusammengefallen ist. Ja wir werden zugeben und sogar froh darüber
sein müssen, daß auch in Zukunft das Gewerbe eine stark wachsende Bevölke¬
rung viel mehr und viel länger im Lande zu halten vermögen wird als die
Landwirtschaft. Wir wollen noch mehr Deutsche in der Welt und namentlich
im Deutschen Reiche haben. Aber das enthebt den Staat doch nicht der
Pflicht, sich zu fragen, ob nicht zeitweise, und zwar gerade jetzt, das Anwachsen
des Gewerbepersonals zu rnpid und ungesund geworden sei, und deshalb eher
zurückhaltende als fördernde Maßnahmen geboten seien. Auch muß doch das
Zuströmen zum Gewerbe nicht notwendig mit dem Zuströmen vom Lande in
die Stadt identifiziert werden, vielmehr kann eine Dezentralisation der Industrie
ins Auge gefaßt werden. Jedenfalls kann dem doch uur mit dem allergrößten
Vorbehalt, ja in der Hauptsache gar nicht, beigestimmt werden, was Brentano
in der Wiener „Zeit" vom 29. Dezember 1900 wieder einmal in seiner über¬
treibender Manier gesagt hat: „Trotz aller romantischen Begeisterung für Land
und Landwirtschaft werden die Menschen zur Stadt und Industrie getrieben.
Und so wird es bleiben, solange die aira nsosssitas des Menschen Schicksal
bestimmt." In Preußen und in Berlin wäre es heutigestags einfach unver¬
antwortlicher Leichtsinn, wenn man der zärtlichen Fürsorge für die Industrie¬
arbeiter und nota v«zu6 auch den Fabrikherren gegenüber, die sich natürlich ganz
besonders darüber freuen könnten, das platte Land und die Landflucht im
Osten als «zMvtit6 nöAligsablö behandeln wollte. Diese ganze Frage — wie
er es nennt: das Stadtproblem — hat Professor Rauchberg ganz neuerdings
in einer Betrachtung über die „Entwicklungstendenzen der deutschen Volks¬
wirtschaft"*) sehr schön und lehrreich, aber freilich auch in mancher Beziehung
sehr einseitig besprochen. Was er sagt, ist so wichtig, daß etwas näher darauf
eingegangen werden muß.
Die Umbildung der Berufsgliederung, schreibt er, in der Richtung ucich
der Industrie und die der Ansiedlungsverhältnissc in der Richtung nach der
Stadt bedeute für Millionen Deutscher einen „gefährlichen Akklimatisations¬
prozeß." Ihn planmäßig zu erleichtern und zu fördern sei eine der wichtigsten
aber auch der schwierigsten Aufgaben der Sozialpolitik. Aber es sei wichtig,
sich klar darüber zu werden, wie notwendig der Zug nach der Stadt mit der
gesamten wirtschaftlichen lind sozialen Entwicklung verknüpft sei, und welche
Aufgaben daraus erwüchsen, Sie machten zusammen das „Stadtproblem" aus.
Es bestehe darin, den jährlich anwachsenden Millionen städtischer Bevölkerung
die Bedingungen für die Wahrung und die Entwicklung voller physischer Kraft,
sittlicher und geistiger Wohlfahrt zu schaffen, um zu verhindern, daß die länd¬
lichen Kulturelemente, dem heimatlichen Nährboden entrückt, verloren gingen,
ohne durch eine andre Kultur abgelöst zu werden. Nicht mit einem Schlage
oder durch vereinzelte Maßnahmen könne dieses Problem gelöst werden, sondern
es durchdringe alle Gebiete des städtischen Lebens und fordre, sie als Akkli¬
matisation der Volksmassen zu betrachten, die durch die Umbildung unsrer
Wirtschaftsverfassung „mit unwiderstehlicher Gewalt" in neue Lebensverhült-
uisse versetzt worden wären.
Auch hier die äirg, nsossÄt^s, wenn auch in etwas bescheidneren Sinne,
Aber sonst liegt darin sehr viel Wahres und Belehrendes; der „Akklimatisa¬
tionsprozeß" kann gar nicht genug betont werdeu. Die Arbeiter, und vollends
die Arbeiterfamilien, die ans ostdeutschen Dörfern auf das großstädtische Pflaster
und in die großstädtischen Mietkasernen oder Mietpaläste, jenachdem wie sie
ihnen vorkommen, versetzt werden, bedürfen in der That einer ganz besondern
Fürsorge, wenn ihr Leben, namentlich ihr Familienleben und ihre Kinder¬
erziehung nicht verkommen soll. Wenn sie alles mit der Zeit lernen, Kinder
in der Großstadt erziehn lernen sie fast nie, weder physisch noch moralisch,
und dadurch werden die bösen Folgen der vernachlässigten Akklimatisation ver¬
vielfacht. Weit entfernt, die ungeheuer ernste Bedeutung des Stadtproblems
Rauchbergs zu unterschützen, erkenne ich auch um, daß die Wohnungsfrage
dabei eine wichtige Rolle spielt, aber nicht die einzige, auch nicht die wichtigste.
Das ganze Großstadtleben thut es in seinem scharfen Kontrast zu den Ver¬
hältnissen, in denen die Arbeiter im Osten aufgewachsen sind. Wie ich schon
früher einmal in den Grenzboten gesagt habe, sollte man nicht vergessen, daß
die Verbesserung der sozialen Lage der Landarbeiter in den Ostprovinzen die
Gefahren der Akklimatisation der in die altpreußischen Großstädte abwandernden
Massen wesentlich mildern würde, vielleicht mehr als alle zärtliche Fürsorge,
die die Großstadt den Zugewanderten angedeihen zu lassen imstande ist.
Das zwanzigste Jahrhundert, meint Rauchberg, treffe schon die größere
Hälfte der Bevölkerung Deutschlands in städtischen Wohnplätzen an. Diese
Thatsache sei eine der wichtigsten in der Entwicklung des deutschen Volkes.
Niemand könne übersehen, welche Führlichkeitcn mit der Verpflanzung so ge¬
waltiger Volksmassen in neue Lebensbedingungen verbunden seien: sowohl vom
Standpunkt des Zuzug- wie des Wegzuggebiets aus müsse sie dre ernstesten
Bedenken erwecken Er sieht also selbst die Gefährlichkeit der Bewegung für
das ..Wegzugsgebiet" ein. aber er unterschätzt den Umfang der Landflucht im
Osten doch stark wenn er nicht nachdrücklich genug hervorheben zu können
glaubt, daß vou einer Entvölkerung des platten Landes nicht gesprochen werden
könne, weil die Abwandrnng aus den: Geburtenüberschüsse schöpfe und mit
geringfügigen Ausnahmen nirgends zu einem absoluten Rückgang der Volks¬
zahl geführt habe. Das ist schon für 1895 zu optimistisch, zumal wenn man
die vom Ausland zeitweise herangezognen Landarbeiter, die am 14. Juni mit¬
gezählt worden sind, abrechnet, und erst recht für hente. An die Möglichkeit
einer Abwendung oder auch nur einer Milderung der Gefahr für die Wegzngs-
gebiete denkt er augenscheinlich ebenso wenig wie Brentano, Wie man auch
immer die Bewegung beurteilen möge, schreibt er, das eine dürfe nicht über¬
sehen werden, daß sie die unvermeidliche Folge der Voltsentwickluug einerseits
und der modernen Wirtschaftsentfaltnng andrerseits sei; die dadurch hervvr-
gerufnen Spannungsverhältnisse seien es, die durch den Zug nach der Stadt
ausgeglichen würden. Das sei unvermeidlich. Aber Tempo und Maß der Be¬
wegung sind nicht so unvermeidlich, daß gegen ein Zuviel von vornherein von
jedem Widerstand abgesehen werden müßte, und keinerlei Beweis liegt vor, daß
nicht rückläufige Bewegungen das ganze Dogma, das ganze Axiom von der
«ur» ne«68Sieg,8 über den Haufen werfen könnten. Rauchberg selbst weist ge¬
legentlich auf sie hin. Gewiß hat er Recht, wenn er sagt, es heiße die Trag¬
weite und die Tiefe der Bewegung völlig verkennen, wenn man sie lediglich
ans die Genußsucht des Arbeiters, auf den Hang nach der Ungebundenheit des
städtischen Lebens zurückführt. Aber es ist ebenso unrichtig, das massenhafte
Zuströmen von Landvolk zur Industrie und vollends das gewaltige Anschwellen
der Arbeitermassen in unsern Großstädten, das den Osten entvölkert, allein
und ganz ans der unbestreitbar der Industrie im Vergleich zur Landwirt¬
schaft natürlich gegebnen „potentiell unbeschränkten Ausdehnungsfähigkeit," wie
Rauchberg sagt, abzuleiten, oder mit Brentano ans dem zwiefachen „Gesetz"
vom zunehmenden Ertrage des auf die Herstellung vermehrbarer Kapitalien ge¬
machten Mehraufwands einerseits und vom abnehmenden Bodenertrage andrer¬
seits. Wenn in den übervölkerten Ackerbnubezirken des Südens und des Westens,
wo Schvllenkleberei und Zwergwirtschaft aufs höchste gediehen sind, die Land¬
wirtschaft die Landleute nicht mehr ernährt, sodaß sie endlich gezwungen sind,
sich zur Industrie und in die Stadt zu wenden, so ist das eine cura useössiwZ,
die wehe thut, aber gesund ist. Im Osten kann die Landwirtschaft noch viel
mehr Leute reichlich nähren, sogar bei der heutigen Betriebsintensität und den
heutigen Bruttoertrügen. Nicht mangelnde Nahrung, nicht einmal zu geringer
Lohn treibt die ostpreußischen, posenscheu, schlesischen Landarbeiter in die
Großstadt, wo sie unter Umständen vielleicht ein Drittel ihres Einkommens
allein für die Wohnung verwenden müssen, wahrend sie zu Hause ein Sechstel
dafür brauchten, sondern es ist die ganze übrige soziale Lage, neben der rück¬
ständigen Arbeitsverfnssung ganz wesentlich anch die rückständige landwirtschaft¬
liche Wohnungs- und Bodenpolitik im Osten. Von der erst recht rückständigen
sozialen Gesinnung und Pflichttreue der landwirtschaftliche» Unternehmer gar
nicht zu reden.
Rauchberg selbst ist sich des großen Unterschieds von Ost und West be-
wußt, „Der Großgrundbesitz des Ostens, sagt er zum großen Teil mit Recht,
und die geschlossene Folge großer Bauerngüter des Nordens haben die Ent¬
wicklung der Bevölkerung unterbunden, indem sie die Familiengründung er¬
schweren und die Aussichten ans Erlangung einer selbständigen Stellung Herab¬
drücken, Der Übergang zur Industrie ist hier in der Regel uur möglich durch
völlige Loslösung von der Heimat, dnrch einen völligen Bruch mit der land¬
wirtschaftlichen Vergangenheit, Ohne Rückhalt an eignem Grundbesitz treten
die Bevölternngsilberschüsse des Ostens in die Reihen des Jndnstrieproletarints
ein. Hingegen haben die Landesteile mit überwiegendem landwirtschaftlichen
Kleinbetrieb oder mit gemischter Grnndbesitzverteilnng schon an und für sich
eine dichte landwirtschaftliche Bevölkerung hervorgerufen, deren Überschüsse zu¬
gleich das Menschemnatcrinl für den gewerblichen Aufschwung jener Gegenden
geben. Hier vollzieht sich der Übergang zur Industrie an Ort und Stelle,
vielfach vorbereitet durch die Ausbildung der Hausindustrie, Die eigentliche
Industrie zieht sich ans das Land und sucht dort ansässige Arbeitskräfte auf.
Häufig findet eine glückliche Mischung von Landwirtschaft und Industrie in der
Form des Nebenerwerbs statt. Und selbst wo die Landwirtschaft die Bedeutung
eines Berufs schon verloren hat, bietet doch kleiner Grundbesitz einen höchst
wertvollen Rückhalt nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in hygienischer
und sittlicher Hinsicht, Die Tradition wird nicht unterbrochen, die Lebenshaltung
nicht plötzlich auf eine neue Basis gestellt. Sondern allmählich gleitet die
Bevölkerung hinüber von der Landwirtschaft zur Industrie, aus der alten in die
neue Zeit," Daran knüpft er dann noch die gleichfalls in der Hauptsache durch¬
aus zutreffende Bemerkung, daß hohe spezifische Dichtigkeit der landwirtschaft¬
lichen Bevölkerung, kräftige Entfaltung vou Gewerbe, Handel und Verkehr und
infolge des industriellen Überbaus auch eine starke Steigerung der Besiedlung
über die agrarische Basis hinaus die Merkmale einer gesunden und kräftigen
Volksentwicklung seien, wie sie im Westen der Elbe ganz überwiegend zuträfen
und glücklicherweise bestimmend gewesen seien für die Entwicklung des deutschen
Volks überhaupt. Dagegen habe sich die Arbeitsverfafsung östlich von der
Elbe unfähig gezeigt, eine derartige Wirtschaftscntfaltung zu zeitigen, jn auch
nur die Überschüsse der Bevölkerung festzuhalten. Der Abstand zwischen den
Lebens- und Arbeitsbedingungen der östlichen Landwirtschaft und der indu-
striellen Kultur des Westens habe eine Spannung hervorgerufen, die schließlich
zur Abwandrnng führen mußte.
Was bleibt denn da von der Notwendigkeit und der unwiderstehlichen
Gewalt Rauchbergs und von dem ehernen natürlichen Gesetz Brentanos übrig,
wodurch zur Zeit die Leute vom Lande in die Stadt getrieben werden? Westlich
»on der Elbe gar nichts, und im Osten die Arbeitsverfassung auf dem Lande, die
sich unfähig gezeigt habe, die Arbeiter in der Heimat zu halte», aber doch wohl
von Rauchberg wie von Brentano nicht für unfähig gehalten wird, verbessert zu
werden. Man liest ja alle Tage von neuen Plänen und auch neuen, nicht aus¬
sichtslosen Versuchen, sie zu verbessern. Je mehr man dem „Stadtproblem" ans
den Grund geht, um so mehr wird man sich überzeugen müssen, daß seiue
Lösung ebenso auf dem Lande liegt wie in der Stadt. Man soll sich hüten, durch
fortgesetzte einseitige Fürsorge für die städtische Arbeiterschaft die „Spannung"
zwischen Stadt und Land fortgesetzt zu verschärfen. Es ist z. B. ganz berechtigt,
daß den Straßenbahnen die Verpflichtung auferlegt werden sollte, die Kinder
großstädtischer Arbeiter schnell, bequem und sicher zur Schule zu befördern,
aber vergessen sollte man dabei nicht, wie es damit auf dem Lande im Osten
noch sehr vielfach bestellt ist, wo in Sturm, Regen und Schnee die Kinder oft
stundenlang über Feld und Wald auf grundlosen Wegen zur Schule gehn
müssen. Das ist ein kleines Beispiel für viele und große.
Ganz besonders ist es für die meines Erachtens einseitige Auffassung uicht
allein Ranchbergs, sondern des ganzen nicht in einseitig agrarischer Richtung
segelnden, sozusagen linken Flügels der modernen Nationalökonomen bezeichnend,
wenn er sich schließlich bei der in der Hauptsache berechtigten Zurückweisung
der Behauptung, die industrielle Entwicklung vermindre die Wehrhaftigkeit der
Nation, folgendermaßen äußert. Die Veränderungen der Berufsgliederung
beruhten zumeist auf Verhältnisse», die durch die staatliche Wirtschafts- und
Sozialpolitik kaum geändert werden könnten: auf dem von dem Stande der
Technik abhängenden Grad der Produktivität, auf der Beschränktheit des Grund
und Bodens, auf der Grnndbesitzverteilung und Arbeitsverfasfung, ans den
freiern und reichern Entwicklungsmöglichkeiten der Industrie und der durch
Lohnhöhe und Arbeitsbedingungen geregelte» Ausgleichung der Bevölkernngs-
spaunuugen. Wir hätten dabei keine freie Wahl. Wohl aber sei es möglich,
in die äußern Lebensverhältnisse der industriellen und der städtischen Bevölke¬
rung einzugreifen: den Akklimatisationsprozeß der nen eintretenden Elemente
zu fördern und planmüßig die Bedingungen herzustellen, nnter denen die volle
körperliche Rüstigkeit auch auf dem Boden der städtischen und der industriellen
Kultur gewahrt bleibe. Je weiter die praktische Sozialpolitik auf diesem Wege
fortschreite, desto mehr werde sich die physische Leistungsfähigkeit der industriellen
und der städtischen Bevölkerung heben, und es scheine ihm höchst zweifelhaft
zu sein, ob die Landwirtschaft ihre Überlegenheit in dieser Richtung auch
fernerhin werde behaupten können. Jedenfalls werde dieser Weg eher zum
Ziele führen als „die phantastischen Projekte innerer Kolonisation im größten
Maßstabe," so sympathisch er auch „für seine Person" allen Bestrebungen
gegenüberstehe, die eine weitere Verstärkung des Bauernstandes zum Zweck
hätten.
Also eine Sozinlreform auf dem Lande, soweit man darunter die Hebung
der Arbeiterklasse versteht, gilt ihm gar nichts. All sein praktisches Interesse
konzentriert sich auf die industrielle, städtische Arbeiterschaft, für das Land
bleibt nur die platonische Sympathie für die „Bauern," die doch seit ihrer
Emanzipation nicht mehr mit der Landarbeiterschcist zusammenfallen. Das
heißt doch die Sache von einem doktrinären einseitigen, die Wirklichkeit igno¬
rierenden Standpunkt beurteile», der in der Praxis zu schlimmen Konsequenzen
führen würde. Man warte mit der Sozialrcform auf dem Lande um Gottes
willen nicht, bis die Sozialdemokratie dort das Feuer angezündet hat. Man
soll das „Stadtproblcm" anerkennen, aber das „Landproblem" nicht leugnen;
man soll dieses thun und jenes nicht lassen.
Und weiter: Ist es denn wirklich so ganz und unbedingt als recht und weise
anzuerkennen, das; den vom Lande in die Industriezentren und Großstädte ab¬
wandernden Arbeitern mehr und mehr jedes Risiko, jede eigne Verantwortlichkeit
dabei abgenommen wird? Unter dem unmittelbaren Eindruck der furchtbaren
Wohnungsnot, die Berlin und andre deutsche Großstädte zu Anfang der siebziger
Jahre in seitdem nicht erlebtem Grade heimsuchte, hatte Ernst Engel der bekannten
Eisenacher Konferenz vom 6. und 7. Oktober 1872 über diese Frage den Be¬
richt zu erstatten. Er bekannte sich dabei im allgemeinen zu scharf staats¬
sozialistischen Grundsätzen, aber das hielt ihn doch nicht ab, folgendes zu sagen:
Bei dem Zusammendrängen so vieler Menschen in den großen Städten litten
die öffentliche Gesundheit, die Sittlichkeit, die Sicherheit der Person und des
Eigentums zusehends mehr und mehr Schaden. Die betreffenden Städte könnten
sich infolgedessen der Notwendigkeit eines enormen Anwachsens ihrer Ausgaben
für die Polizei, für die Gesundheitspflege, für den Verkehr, für die Ent- und
Bewässerung usw. Nieder verschließen noch entziehn. Sie könnten, solange der
Zudrang stattfinde, auch nicht daran denken, durch Kontrahierung von Schulden
der Zukunft die Opfer aufzubürden, die die Gegenwart erheische, denn diese
Opfer wüchsen mit dem Zudrange. Der ganze Bedarf für diese unerläßlichen
Einrichtungen müsse jährlich aufgebracht werden, nicht aber durch Besteuerung
der notwendigsten Lebensmittel, sondern durch direkte Steuern, wobei von einer
Verschönung der sogenannten unbemittelten Klassen, ans denen sich der Zu¬
drang vorzugsweise rekrutiere, und die zu der Teuerung und Unbehaglichkeit
des Aufenthalts in großen Städten ihren vollen Teil beitrügen, nicht die Rede
sein dürfe. Alle, die dahin zögen, müßten wissen, welche Lasten ihrer dort
harrten, und welche sie dauernd auf ihre Schultern nehmen müßten. Das
Hinnehmen und die Verteilung der selbstgeschaffneu Konsequenzen auf alle
Schultern, das sei das Korrektiv des ungesunden Zudrangs nach den Gro߬
städten.
Wie steht die Sache heute? Die zuströmenden Arbeitermassen zahlen
überhaupt keine Gemeindesteuern mehr, und was ihnen trotzdem in der Gro߬
stadt an sozialer Fürsorge, d. h. für die Notdurft und die Annehmlichkeit des
Lebens geboten wird, ist im letzten Menschenalter vervielfacht worden. Daß
sie die „selbstgeschaffneu Konsequenzen" zu tragen haben sollten, der Gedanke
scheint der Gegenwart ganz abhanden gekommen zu sein, und natürlich denkt
man deshalb auch nicht mehr daran, in diesen Konsequenzen ein Korrektiv des
ungesunden Zudrangs nach den Großstädten zu sehen. In einer Zeit, wo
man sich mit dem Satz: Macht geht vor Recht, und mit der Verachtung der
»weichlichen individualistischen Humanitätsideen" brüstet, geht man in weich¬
lichem sozialistischen Humanitätsdusel so weit, daß man den Arbeitern so gut
wie jede eigne Verantwortlichkeit ersparen möchte. Das ist ganz gewiß auch
im zwanzigsten Jahrhundert uicht recht und weise, sonder« wahrscheinlich sehr
unrecht und unweise.
Nicht weniger zutreffend verlangte schon damals Ernst Engel für die
Gemeinde das Recht, von den großen Erwerbskorporationen und Privatunter-
nehmungen zu fordern, daß sie „wenigstens für den Stamm ihrer Arbeiter
die Wohnungsfrage übernehmen und nicht auf die Kommune abwälzen," Im
eignen Interesse hatten schon einige Berliner Großunternehmer mit dem Bauen
eigner Arbeiterwohnungen begonnen, aber die „weniger Humaner" gedächten
schon aus dem, Ums andre thun, Vorteil für sich mit zu ziehn, weil ja, wie
sie sich sagten, jede Abnahme der Wohnungsnchenden vermindernd auf die
Wohnungspreise einwirke. Jede Gemeinde müßte deshalb unbedingt ein Zwangs-
recht auf dergleichen Pflichtsäumige zu üben imstande sein, das äußerstenfalls
bis zur Schließung der betreffenden Fabriken reichte. Leider ist bis jetzt nichts
in der Richtung geschehn, obgleich das, was Engel vor dreißig Jahren forderte,
hente gar nicht mehr ausreicht für eine zeitgemäße großstädtische Wohnungs-
uud Bodenpolitik, Der großindustrielle Betrieb muß zum großen Teil hinaus
aus der Großstadt; nicht nnr in die Vororte, sondern in die Provinz. Ich
werde später noch darauf zurückkommen. Hier nnr noch ein Beispiel dafür,
wie wenig man zur Zeit an Engels Rat denkt: die Konzessionierung der
großen Berliner Straßenbahn durch die Regierung bis zur Mitte des Jahr¬
hunderts ohne die Verpflichtung zum Bau ausreichender Beamten- und
Arbeiterwohnungen, Diese Unternehmung ist örtlich festgelegt; um so mehr
erforderte eine richtige Wohnnngs- und Bodenpolitik den Zwang zur Fürsorge
für Arbeiterwohnungen,
Den engen Zusammenhang und die Notwendigkeit größter, unausgesetzter
gegenseitiger Rücksicht der Wohnnngs- und Bodenpolitik in den Städten einer¬
seits und auf dem platten Lande andrerseits besonders zu betonen, dafür liegt
ein triftiger Grund namentlich auch darin, daß jetzt eine lebhafte Agitation,
vielleicht auch schon eine gesetzgeberische Absicht auf tief eingreifende Reformen
der Agrarverfassuug und der landwirtschaftlichen Bodenpolitik besteht. Wenn
auf beiden Seiten einseitig vorgegangen werden sollte, so könnte um so mehr
geschadet werden,, und die Agitation wenigstens neigt vorläufig noch ans beiden
Seiten bedenklich zur Einseitigkeit, Die wichtige Aktion der innern Kolonisation
im Osten ist schon in Angriff genommen worden, aber über ein bescheidnes
Anfangs- und Versuchsstadinm nicht hinausgekommen, Angesichts der Über¬
völkerung der Großstädte, die zu umfassenden gesetzgeberischen Vorgehn ver¬
anlaßt, sollte die Dringlichkeit großer Maßnahmen zur Beschleunigung der
Kolonisation der Negierung doppelt und dreifach zum Bewußtsein kommen.
Wie die Sachen heute stehn, heißt hier schnell helfen überhaupt helfen. Eng
damit zusammen hängt die „Fesselung" der noch in der Heimat verblichnen
Landarbeiter und wenigstens eines Teils ihres Nachwuchses an den väter¬
lichen Beruf und an die Scholle, die leider nicht väterlich ist, sondern Herr-
schaftlich. Die einseitige Behandlung dieser Aufgabe durch „Repressivnen"
gegen die Abwandruugslustigen ohne Beseitigung des Gruuds, der sie fort¬
treibt, soweit er in der Heimat liegt und sich beseitigen laßt, überhaupt die
einseitige Fesselung der Arbeiter im Interesse der Arbeitgeber wird die Spannung
zwischen Stadt und Land den Arbeitern erst recht empfindlich machen und deu
Zudrang zu den Großstädten und ihren Gewerben steigern statt ihn zu schwache,,,
Oder glaubt man, daß die Steigerung der Getreidepreise, die durch erhöhte
Kornzölle überhaupt erreicht werden kann, dem Landarbeiter so viel höher,.
Lob» verschaffen werde, daß er deshalb zu Hause bleibt? Der Lohn macht,
wie schon gesagt worden ist, nicht allzuviel aus. Das kleine Plus, das im
besten Falle die Zollerhöhnng den, Arbeiter zuwende» würde, wäre doch uur
ein Bruchteil von dein Plus, das er für die Wohnung in der Stadt gern
aufwendet, wenn er nur fort kommt aus der ihm unleidlich gewordnen, ihn
in der Heimat heimatlos machenden alten Arbeitsverfassung in der Landwirt¬
schaft. Es scheint so, daß hier die Einseitigkeit auf beiden Seiten, der städtischen
Arbeiterfrennde wie der agrarischen Nnteruehmerfreuude, hindert, die Hauptsache
an dem gewaltigen sozialen Avancement zu erkennen, das der ostdeutsche Hof¬
knecht und Hofarbeiter zu erleben glaubt, wenn er vom Lande in die Gro߬
stadt zieht, vo» der Landwirtschaft zum städtischen Gewerbe übertritt. Er fühlt
sich vom Knecht zum Herr,, avanciert. Und das ist ganz natürlich, trotz aller
Wohnungsnot, von der er liest und hört, aber viel weniger fühlt. Ans beiden
Seiten wird im Eifer der guten Sache oder auch des eignen Interesses das
großstädtische Elend viel zu schwarz gemalt, dort, um die Vorteile der Gro߬
stadt für den Arbeiter wirklich noch größer zu machen, hier, um sie ihm kleiner
zu schildern, als sie sind. Nur eine große, umfassende, vom rechten sozialen
Geist getragne Aktion wird die Arbeitsverfassung in der östlichen Landwirt¬
schaft so umformen, daß sie fähig wird, eine deutsche Arbeiterschaft aus Platte
Land zu fesseln.
Man agitiert jetzt auch für tiefeiuschueideude Reformen des Erbrechts am
landwirtschaftlichen Boden und des Rechts, ihn zu teile», zu veräußern, hhpo-
chekarisch zu belaste». Mauche wolle» damit die Agrarverfassung des Ostens
davor bewahren, der des Westens ähnlich z» werden, sie wollen sie vor den
Zersetzenden Wirkungen der Stein-Hardenbergischeu Gesetzgebung schützen, die
freilich ein ganzes Jahrhundert lang nicht eingetreten sind, aber doch vielleicht
zwanzigsten eintreten könnten. Und die städtischen Wvhnungs- und Boden¬
reformer stürmen auch gegen Stein-Hardenberg an, die allein Schuld trügen
"» der Bodenspekulation, die allein wieder die hohen Bodenpreise und Wohnungs¬
preise verursacht habe. Der Bodenpreis soll überhaupt gestrichen werden aus
den Faktoren, die den Wohnungspreis bestimmen. Ans agrarischer Seile will
non ihn dagegen anf der Höhe erhalten, ans die er sich seit der Mitte des
neunzehnten Jahrhunderts infolge außerordentlich glücklicher Konjunkturen auf¬
geschwungen hat. Von der städtischem Grundstückspeknlation, ihre» böse»
folgen und ihren, häßlichen Charakter wird viel und zum großem Teil mit
Recht viel Schlimmes gesagt. Der landwirtschaftlichen Bodenspekulation wird
kaum mehr gedacht, obgleich sie den Notstand im Osten ganz wesentlich mit
verschuldet hat. Überall wird, so scheint es, Wahres und Falsches durch¬
einander gemischt, die Unbefangenheit des Urteils durch Vorurteile getrübt.
Das kann wohl in den doktrinären Vorbereitungsstadien großer praktischer
Reformen nie ganz vermieden werden, und es braucht nicht zu tragisch ge¬
nommen zu werden. Aber vor der endgültigen Festlegung solcher Reformen für
lange Zeit hinaus ist Klärung nötig. Vorher würde man sich besser mit
Palliativen und symptomatischer Behandlung im einzelnen begnügen, ohne sich
den Weg zu verlegen und unter steter Beachtung des rum novers. Die
»ationalokonomische und soziologische Litteratur der jüngsten Zeit hat eine
Reihe von Arbeiten über Wohnnngs- und Bodenpolitik zu Markte gebracht.
Darunter einige von hohem Interesse und Wert. An ihrer Hand soll von
dem in diesem Artikel deutlich gewordnen Standpunkt aus die Frage im ein¬
(Fortsetzung folgt)
er königliche Erlaß vom 26. November 1900, der der gegen¬
wärtigen, ihrem Abschluß nahen Reform des preußischen höhern
Schulwesens Ziel und Richtung gab, wies darauf hin, daß einige
wichtige Abschnitte der alten Geschichte mehr gewürdigt werden
sollten, eine Mahnung, deren Spitze vor allem wohl gegen die
bisherige Behandlung der römischen Kaiserzeit gerichtet war. Wenn und
soweit hier ein Verschulden vorliegt, darf man die demnächst ganz oder zum
Teil außer Kurs tretenden Lehrpläne von 1892 nicht verantwortlich machen,
denn an diesem Punkt erweisen sich die oft getadelten gegen alle Vorwürfe
gedeckt. Sowohl auf der untern wie auf der obern Stufe haben sie eine aus¬
reichende Behandlung des Gegenstands vorgesehen: auf der untern, wo das
Pensum der Quarta mit dem Tode des Augustus schließt, bestimmen sie für
Untertertia einen „kurzen Überblick über die weströmische Kaisergeschichte" als
Einleitung in die mittelalterliche Geschichte — mit gutem Bedacht, weil auf
dieser Stufe aus der Kaiserzeit nur das hervorgehoben werden kann, was mit
den Anfängen der deutschen Geschichte zusammenhängt; im obern Kursus legen
sie die römische Geschichte „bis zum Untergang des weströmischen Kaisertums"
in das Pe .usum der Obersekunda. Daß freilich trotz dieser deutlichen Weisung
in den Leistungen ein Defizit vorhanden war, konnte nur dem entgehn, der
znfriedei,t ist, wenn die gedruckten Jahresberichte das vorgeschriebne Pensum
als erledigt melden. Aber auch das Papier der Schulprogramme ist Papier
und geduldig, und soweit Wahrnehmung und Umfrage eines Einzelnen den
We,^ einer Stichprobe haben können, erinnert die römische Kaiserzeit im Kopfe
se^r vieler Dnrchschnittsabiturienten an ein finsteres Gewölbe, worin nur hier
in,d da in ungleichen Abständen ein kümmerliches Licht flackert.
Mehrere Ursachen wirkten und wirken zusammen, die Absicht der Lehr-
plüue zu vereiteln, Bor allem der Umstand, daß die alte Geschichte, für die
früher im obern Kursus zwei Jahre, Unter- und Obersekunda, mit zusammen
hundertsechzig Stunden zur Verfügung gestanden hatten, seit 1892 in einem
Jahre mit hundertzwanzig Stunden erledigt werden muß. Natürlich hing der
Erfolg davon ab, ob es gelingen würde, auf neuen Wegen den Zeitverlust zu
einem Teile einzubringen. Am nächsten lag es — und die Lehrpläne selbst
forderten dazu auf —, den Unterrichtsstoff gründlich zu sichten. Wo man
diesen Wink, sei es aus Unmut über die für verfehlt gehaltne Neuerung oder
in bloßer Anhänglichkeit an eine bequeme Gewohnheit, nicht sofort beachtete,
nicht sehr viel Beiwerk entschlossen ausschied, ergaben sich zwei Möglichkeiten:
entweder die ganze Strecke abzuhasten, um äußerlich ans Ziel zu kommen, oder
irgendwo vorher stecken zu bleiben. Jenes wäre eine pädagogische Sünde der
schlimmsten Art, weil jede Befrachtung mit hastig Angeführten und mir ober¬
flächlich begriffnen Vorstellungen das Gedächtnis schwächt und abstumpft. Je
mehr diese Gefahr dem Lehrer bewußt war, um so wahrscheinlicher verfiel er
der zweiten, das letzte Stück des Pensums, also die Kaisergeschichte, unerledigt
zu lassen. Wirklich trat dies in den erstell Jahren so stark hervor, daß die
Unterrichtsverwaltung den Tod des Augustus als Endziel erlaubte und die
Behandlung der Kaiserzeit der Prima anheimgab, eine Änderung, die den wohl¬
überlegten und klaren Grundriß des Lehrplans verwischt hat, ohne der Sache
selbst viel zu frommen; wir lassen sie deshalb hier ganz außer Betracht.
Ein andrer Grund kommt hinzu, weshalb gerade die Kaisergeschichte die
Kosten der Neuerung zu tragen hatte, die Schwierigkeit des stofflichen und des
didaktischen Problems. Der Lehrer, dem nicht eigne Studien und Interessen die
Zeit vertraut gemacht haben, sieht sich hier von Hilfsmitteln, wie sie ihm für
andre Zeitabschnitte in ausreichender Zahl und Güte zur Hand sind, so ziem¬
lich verlassen. Denn die Kaisergeschichte, die bei souveräner Beherrschung
des Stoffs und der Forschung die Jahrhunderte von Augustus bis Theo-
dosius, ihre hervorragenden Persönlichkeiten, den Stand und die Entwick¬
lung ihres politischen, materiellen und geistigen Lebens in großen, scharfen
Zügen darstellt und mit sicherm Augenmaß in das Gebäude der Universal¬
geschichte einfügt — mit einem Wort, Theodor Mommsens vierter Band der
römischen Geschichte ist noch nicht geschrieben. Aus der großen, beinahe täglich
durch neue Entdeckungen und Funde anschwellenden Menge des Stoffs und
aus der verwirrenden Zahl der strittigen Fragen das hervorzuholen, was den
Zwecken der Schule und zugleich der Wissenschaft gerecht wäre, ist nicht jeder¬
manns Sache, Überdies sind aus dem Altertum nur dürftige litterarische
Quellen erhalten, darunter die meisten so verschüttet und trübe, daß man ver¬
zweifeln muß, aus ihnen ein klares Bild zu schöpfen. Sogar Taeitus, der
mit den übrigen verglichen wie eine Eiche aus niedrigem Gestrüpp hervorragt,
giebt von einem der wichtigsten Abschnitte, der bedeutsamen Regierung des
zweiten Kaisers, nur ein verzerrtes Bild! Ans die Schwierigkeiten des
didaktischen Problems einzugehn, wäre hier nicht der Ort; das Gesagte reicht
aus, die Hauptursachen des in dem allerhöchsten Erlaß vermerkten Mangels
zu erkennen.
Gleichwohl hat die römische Kaiserzeit im Dienste der Aufgabe, die im
Organismus der Schule vornehmlich dem Geschichtsunterricht zugewiesen ist,
einen besondern Wert, Den historischen Sinn wecken — so nennen es die
Lehrpläne —, heißt doch vor allem die Erkenntnis anbahnen, daß jede Gegen¬
wart in ihrer Vergangenheit wurzelt. Auf diese Erkenntnis geht im Grunde
alle ethische Wirkung des Geschichtsunterrichts zurück; deun sie erzeugt die
fromme Scheu vor dem Bestehenden, diese wahrhaft konservative Gesinnung,
die sich auch dann, wenn am staatlichen Bau Änderungen unvermeidlich werden,
bewußt bleibt, daß das Blut und der Schweiß der Väter daran kleben, Nun
giebt es in der Geschichte der drei Jahrtausende, durch die die Schule ihre
Jünglinge führt, keine Zeit, die so vielseitig und stark, so nachhaltig und
sichtbar auf die Entwicklung der folgenden eingewirkt Hütte, wie die römische
Kaiserzeit, Wie vieles von dem, was der mittelalterliche» Geschichte ihr Gepräge
giebt, geht in seineu letzten Gründen auf sie zurück! Wenn sich im Jahre 800
der große Frankenkönig zum römischen Kaiser krönen läßt, leben mit dem
alten Titel auch die großen Tendenzen wieder auf, die das römische Kaiser¬
tum in sich ausgebildet hatte: der Anspruch auf ^i» Weltregiment und auf die
Schntzherrschaft über die Christenheit; diesen Phantomen nachjagend verspritzen
die Ottonen und die Staufer auf Italiens Boden das deutsche Blut, bis ihre
Macht zerfällt, und das Reich zersplittert. Und vollends die andre Macht,
die unter, neben, zuletzt über dem Kaisertum die mittelalterliche Welt beherrscht,
die römische Kirche, erscheint sie nicht in ihrer Organisation und ihren An¬
sprüchen bis auf den heutigen Tag unter der Wirkung von Impulsen, die sie
von dem weltbeherrschenden römischen Imperium empfangen hat! Wenn sich
so die beiden Zentralgewalten des Mittelalters von Erinnerungen an die
römische Kaiserzeit beherrscht zeigen, wird man sich nicht wundern, auch auf
vielen andern Gebieten ihre tiefen Spuren zu finden. Die Entstehung der
romanischen Sprachen, die Entwicklung der mittelalterlichen Litteratur und
Kultur, die Einführung des römischen Rechts — an diese nud andre Er¬
scheinungen erinnere man sich, um zu erkennen, wie mächtig und mannigfach
das römische Kaiserreich, diese vielseitigste und imponierendste Kulturgemein¬
schaft, die jemals zu einem Staate verbunden war, ans die Geschichte der
folgenden Jahrhunderte eingewirkt hat. Dasz die Schule auf solche Zusammen¬
hänge hinweisen soll, bedarf keiner Worte; fruchtbringend aber werden diese
Hinweise dem Lernenden nnr dann, wenn die römische Kaiserzeit ihm nicht
eine von Nacht und Nebel bedeckte Zone bedeutet, die regungs- und zwecklos
zwischen dem Altertum und dem Mittelalter liegt.
Aber nicht allein zum Ausblick ans das Mittelalter beansprucht die römische
Kaiserzeit Raum im Geschichtsunterricht, sondern auch wegen des Rückblicks, den
sie auf die Geschichte der alte» Völker, bor allem der Römer selbst, eröffnet.
Einrichtungen, Tugenden und Thaten kennen zu lernen, die dieses Volk groß
gemacht haben, ist gewiß von hohem Wert; nicht weniger wertvoll aber und
belehrend sind die Ursachen, die es von seiner Höhe herabführen. Die Ge¬
schichte des Verfalls ist die notwendige Ergänzung zu der der Blüte, und die
Lehren, die sie enthält, stehn an Bedeutung und Eindringlichkeit hinter den
andern wenig zurück, am wenigsten für die Jünglinge eines Volks, das eben
zur Konsolidation seines Gemeinwesens gelangt ist und zu eiuer Macht, die
ihnen, dem Nachwuchs, vor allem andern die Pflicht auflegt, das in schwerer
Not und hartem Kampf Gewonnene zu verteidigen.
Unterliegt es nach dem Gesagten keinem Zweifel, daß die römische Kaiser¬
zeit ans der Schule ausgiebige Würdigung verdient, so erhebt sich vor dem
Was und Wie die Frage, woher angesichts der oben dargelegten Verhältnisse
die erforderliche Zeit genommen werden soll. An eine Wiederherstellung der
frühern Stoffverteilung ist natürlich uicht zu denken. Auch vier von der Vor¬
trefflichkeit und der Notwendigkeit der vor neun Jahren erfolgten Neuerung
noch nicht überzeugt sei» sollte, wird doch im Ernste für die Rückkehr zu dem
alten Lehrplnn keine Lanze brechen wollen; das Interesse der eignen Sache
müßte es ihm verbieten. Denn unter den Anklagen, mit denen die Wortführer
einer sogenannten modernen Jugendbildung das humanistische Ghmnasinm be¬
kämpften, war vielleicht keine gefährlicher — denn sie war berechtigt — als
der Hinweis auf die stiefmütterliche Kargheit, womit es die vaterländische Ge¬
schichte behandelte — behandeln mußte, solange es ans der obern Stufe den
Griechen und Römern zwei Jahre widmete. Dieses Mißverhältnis zurück¬
wünschen hieße die gegenwärtig dem Ghmnnsium günstige Konjunktur uicht
verwerte», sondern verspielen, der kleinste Schritt zur Erfüllung dieses Wunsches
wäre für das Gymnasium das Schlimmste, was seine Feinde ihm wünschen
könnten.
Von zwei Seiten sind ernstere Vorschläge gemacht worden, Raum für die
Kaisergeschichte zu schaffen, ohne den Rahmen der gegenwärtigen Stoffver¬
teilung ganz durchbrechen zu müssen. Professor Harnack hat auf der vor¬
jährige» Berliner Schulkouferenz angeregt, auf der Obersekunda die der vor¬
christlichen Zeit gewidmete Stundenzahl möglichst zu verkürzen, wogegen Ober¬
lehrer Mnrcks auf der diesjährigen Osterdienstagversamnckung rheinischer
Schulmänner den Vorschlag machte, in der Unterprima für die römische Kaiser¬
zeit fünfzehn bis siebzehn Stunden anzusetzen. Zuerst ein Wort zu diesem
Borschlag. Ihm beizutreten hindert mich die Erwägung, daß alsdann der
Geschichtskursus der Prima, der am Schluß wegen des Abiturientenexamens
mit einem nicht etatsmäßigen, aber in der Regel empfindlichen Ausfall zu
rechnen hat, auch noch im Anfang von seinem eigentlichen Pensum eine be¬
trächtliche Zeit — nach dem Vorschlage von Marcks fünf bis sechs Wochen —
abzugeben hätte. Schon jetzt aber hört man nicht selten klagen, daß sich das
Pensum der Prima nur mit knapper Not bewältigen lasse, und daß der praktisch
so wichtige Abschnitt des neunzehnten Jahrhunderts in Siebenmeilenstiefeln
zurückgelegt werden müsse. Wollte man angesichts dessen jenem Vorschlag
folgen, so geriete man voraussichtlich vom Regen unter die Traufe.
Den Vorschlag Harnacks bekämpft Marcks, indem er ausführt, daß die
Geschichte der römischen Republik eine weitere Verkürzung nicht ertrage, denn
sie sei nicht nur die Voraussetzung für die Kaisergeschichte, sondern enthalte
auch in ungleich höherm Maße als diese das spezifisch Römische, das für den
Unterricht von besonders bildenden und vorbildlichem Werte sei. Diese Gründe
sind stichhaltig; aber nichtsdestoweniger scheint mir Harnacks Gedanke, auf der
Obersekunda die erforderliche Zeit zu ersparen, auf die richtige Spur zu führen.
Wir stoßen hier zum zweitenmal an eine Stelle, wo Erinnerungen an den
alten Lehrplan die Ausführung des neuen zu erschweren pflegen. Bis zum
Jahre 1892 hatte man aus die griechische Geschichte ebensoviel Zeit verwandt
wie auf die römische, je ein Jahr; und soweit die Lehrbücher, auch die auf
Grund des neuen Lehrplans entstandnen und umgearbeiteten, erkennen lassen,
scheint sich daran nicht viel geändert zu haben. Aber gerade mit der Frage
nach der Berechtigung dieses traditionellen Verhältnisses hätte die Sichtung
des Stoffs einsetzen müssen. Die Griechen in Ehren — aber ihre Größe und
ihre Bedeutung für das Geistesleben der Gegenwart liegt doch nicht in ihrer
politischen Geschichte! Indem das Gymnasium seine Schüler zu den großen
Werken der griechischen Litteratur, zu den Gesängen des Homer, den Tragödien
des Äschylos und Sophokles, den Geschichtsbüchern des Herodot, Xenophon
und Thukydides, zu den Dialogen Platons und den Reden des Demosthenes
führt, und indem es sie in geistiger Zwiesprache die Kraft und den Hauch
dieser unsterblichen Geister verspüren läßt, vermittelt es ihnen das Höchste
und Beste, was die Griechen uns und der Menschheit bedeuten. Das geschieht
in den Stunden der griechischen Lektüre. Einiges andre, wie Architektur und
Plastik, zu würdigen oder, bescheidner gesprochen, ihre Würdigung anzubahnen,
mag der Geschichtsunterricht unternehmen, wofern für diese Aufgabe die nötigen
Anschauungsmittel vorhanden sind; nur lasse man sich durch die sehr in Mode
gekommne Etikette „Kulturgeschichte" nicht davon abbringen, daß der eigent¬
liche Gegenstand des Geschichtsunterrichts, gewissermaßen sein tägliches Brot,
die politische Geschichte bleiben muß. Denn nicht Schöngeister und Ästhetiker
hat er zu erziehn, sondern Männer, die zur Arbeit im öffentlichen, politischen
Leben taugen.
Halten wir hieran fest, so ergiebt die griechische Geschichte im Vergleich
mit der Bedeutung und dem vorbildlichen Wert der römischen ein starkes
Minus. Daß die griechischen Gemeinwesen, die wir mit einer gewissen Hyperbel
Staaten zu nennen pflegen, Zwerggebilde waren — kaum die größten hatten
den Umfang eines mittlern preußischen Regierungsbezirks —, soll nicht zu
ihren Ungunsten in die Wage gelegt werden, weil ja die Einfachheit für den
Unterrichtszweck ein Vorzug ist. Beträchtlich aber wird der Allsfall auf der
Seite der Griechen, wenn wir auf ihre politischen Fähigkeiten und Tugenden
sehen. Wie wenige unter den vielen Männern, die im öffentlichen Leben
Griechenlands hervortreten, widmen sich uneigennützig dem Dienst des Staats!
Der individuelle Trieb, der den Hellenen eigentümlich ist und auf andern Ge¬
bieten eine Quelle ihrer Größe wird, entartet im politischen Leben zur Un¬
fähigkeit, sich ein- und unterzuordnen; das persönliche Interesse und die Partei
gehn vor, und unter den Parteien selbst gewinnen hier schneller, dort lang¬
samer die den Sieg, die den Leidenschaften und Instinkten der Vielen schmeicheln.
Und wie im kleinen, so im großen! In der wichtigen, über die politische
Existenz des Volks entscheidenden Frage der nationalen Einigung kommt es
über einige Anläufe nicht hinaus, sogar in Augenblicken tödlicher Gefahr, als
die asiatischen Horden das Land überschwemmen, lassen ganze Städte und
Landschaften die gemeinsame Sache gleichgiltig oder verräterisch im Stich. Ja
zwei Generationen später ist man so weit heruntergekommen, daß die ehemaligen
Vorkämpfer der nationalen Unabhängigkeit wetteifernd ihr Hcllenentnm schänden,
indem sie im Bruderkrieg um die Hilfe der Barbaren betteln.
Vorbildlich ist die politische Geschichte der Griechen in einzelnen Ereig¬
nissen und Männern, als Gesamtentwicklung dagegen nur im Sinne eines
warnenden Beispiels. Dabei treten die Ideen, von denen sie beherrscht war,
so einfach und deutlich hervor, daß sie von selbst zur Zerlegung in übersicht¬
liche Gruppen auffordern: die Entwicklung der bürgerlichen Freiheit in den
Städten, deren Verteidigung gegen die Perser, die Überwindung der athenischen
Einheitsbestrebungen durch den Dualismus, der Kampf um die Hegemonie bis
zur völligen Zersplitterung, die Unterwerfung unter Makedonien, endlich die
Ausbreitung der hellenischen Kultur im Reiche Alexanders des Großen. Mit
Ausnahme des letzten enthalten diese Vorgänge kein Problem, das nicht schon
auf der untern Stufe dem Verständnis nahe gebracht werden kann. Zudem
bringen die Schiller der griechischen Geschichte — die darum in der Quarta
mit Recht den größer» Raum beansprucht — wegen ihres starken Gehalts an
biographischen Elementen durchgehends ein größeres Interesse entgegen als
der römischen. Auch das ist von einigem Belang für die Frage, ob sie sich
auch auf der obern Stufe mit der römischen zu gleichen Hälften in die Unter¬
richtszeit zu teilen habe. Aber noch ein weiterer Grund kommt hinzu, das
Verhältnis noch mehr zu ihrem Vorteil zu verschieben: die überaus wirksame
Unterstützung durch die griechische Lektüre. Denn dieser stehn für die zwei
Jahrhunderte, in die sich die großen Ereignisse der griechischen Geschichte zu¬
sammendrängen, eine Anzahl der besten zeitgenössischen Autoren zur Verfügung:
Herodot, Thukydides, ^enophvn und Demosthenes, alle nicht nnr NIN ihrer
litterarischen Vorzüge willen geschätzt, sondern auch als Geschichtsquellen ersten
Ranges, denen gegenüber der Kanon der lateinischen Lektüre arm ist und nur
für verschwindend kleine Abschnitte eines viel umfangreichern Gebiets etwas
Ebenbürtiges aufweist. So selbstverständlich es aber scheint, daß der Geschichts¬
unterricht diese Bundesgenossenschaft anerkennt und verwertet, ebenso selbst¬
verständlich sollte es sein, das an diesem Punkte für die griechische Geschichte
vvrhandne Plus bei der Bemessung der Unterrichtszeit in Rechnung zu setzen.
Alle Erwägungen führen zu dem Schluß, daß das traditionelle Ver¬
hältnis 1:1 unter den obwaltenden Bedingungen nicht haltbar ist, weil die
äußerliche Gleichung in Wahrheit eine durch sachliche Gründe nicht gerecht¬
fertigte Schmälerung der römische» Geschichte bedeutet. Mit gleichem Maße
messen, heißt nicht jedem dasselbe, sondern das ihm zukommende geben; das
thun wir, wenn wir der griechischen Geschichte von der auf Obersekuuda ver¬
fügbaren Zeit uicht die Hälfte, sondern etwa zwei Fünftel, fünfundvierzig bis
fünfzig Stunden, vorbehalte». Dann findet auch die Kaisergeschichte um der
Stelle, wohin sie als Abschluß der alten Geschichte gehört, in der Obersekuuda,
wieder nnsreichenden Raum,
Wenden wir uns schließlich mit wenig Worten zu der Frage, worauf
denn bei der Behandlung der Kaiserzeit Gewicht gelegt werde» soll, so ist es
von Interesse, zu erfahren, was Harnack, der das Problem mit besonder»!
Nachdruck gestellt hat, dem Unterricht aufgeben will: den Eintritt des Christen¬
tums in die Weltgeschichte zu schildern, ferner die Spannung zwischen Kirche
und Staat und die allmähliche Verbindung und relative Versöhnung des
Christentums mit der geistigen Kultur der Antike, Nicht wenig also, und doch
zu wenig! Denn während seine Forderungen ans der einen Seite dem Fassungs¬
vermögen der Schüler zu viel zumuten, lassen sie ans der andern Wichtiges
und Wissenswertes unberücksichtigt. Die Hauptforderung Harnncks ginge
übrigens mit größerer Berechtigung an eine andre Adresse: in? Religions¬
unterricht wäre der Platz und wohl anch die Zeit zur Behandlung der ge¬
nannten kirchengeschickMcheu Probleme. Sollte der Geschichtslehrer sie nach
dem Wunsche Harnacks uiid einiger Ausführlichkeit erörtern, so würde er über¬
dies in konfessionell gemischten Klassen auf eine Schwierigkeit stoßen, die zu
lösen seinen» pädagogischen Takt nicht immer gelingen dürfte. Sogar Oskar
Jägers für ähnliche Fälle gutes Rezept, sich auf den rein historischen Stand¬
punkt zu stellen und die theologische Streitfrage, wer Recht habe, auszuscheiden,
würde hier vielleicht versagen, weil schon die bloße Absicht, den Ursprung des
römischen Primats, der doch wohl zur Sprache kommen müßte, historisch, das
heißt als Wirkung geschichtlicher Kräfte zu betrachten, nach katholischer Auf¬
fassung eine Anmaßung und Blasphemie wäre. Auch aus diesem Grunde
wird man es also dabei bewenden lassen müssen, daß die Kaiserzeit vor alle»!
als Profangeschichte behandelt wird.
Als solche würde sie sich zweckmäßig zuerst zu folgenden Fragen wenden:
welche Gründe zum Untergang der Republik geführt haben, worin sich die Ver¬
fassung des Augustus von dem Plane Cäsars unterscheidet, und welche Kaiser
für die Umbildung des Prinzipals und die Vollendung der absoluten Monarchie
von Bedeutung gewesen sind. Wenn man so an dem Faden der staatsrecht¬
lichen Entwicklung des Imperiums die wichtigsten Herrscher vorführt und kurz
charakterisiert, gewinnt der Schüler einen vorläufigen Überblick über das weite
Gebiet. Diese chronologischen Orientierungspunkte kommen alsdann den Aus¬
blicken auf die üuszeru und innern Zustände und Vorgänge zu statten. Die
Schilderung der äußern Lage ist verhältnismäßig einfach und leicht; bei der
Darlegung der innern Zustände verliere man zwei Richtlinien nicht aus dem
Auge: daß es verkehrt wäre, die beiden ersten Jahrhunderte nach Augustus
nur als eine Zeit des Niedergangs anzusehen, und daß gleichwohl Nieder der
materielle Wohlstand noch die äußere Machtentfaltung des Reichs den Bankerott
seiner innern, sittlichen und religiösen Kräfte abwenden konnte. Die Grüude,
die daun im dritten Jahrhundert den Rui» unaufhaltsam machten, und die
Negeneratiousversuche Diokletians und .Konstantins führen endlich von selbst
zu dein Punkte, wo die Geschichte der römischen Kaiserzeit und des Altertums
überhaupt in die des Mittelalters einmündet, indem das Christentum und die
Germanen die alten Götter und Kaiser stürzen und die Herrschaft antreten.
o war es nachts zwei Uhr geworden, als ein Reiter der Brand¬
wache dem Kommandanten den sorglosen, vollen Anmarsch der
englischen Truppen meldete. Ich weckte meinen Nebenmann, rückte
mein Patronenband zurecht und befühlte uoch einmal das Ge¬
wehr, ob es frei von Sandkörnern sei. Dann legte ich es sorg¬
fältig auf meine Gewehrauflage. Eine starke Aufregung hatte mich ergriffen,
und ich gestehe gern ein, daß meine Kniee zitterten, als ich den Sicheruugs-
flugel am Gewehrschloß zurückdrehte und mich schußfertig machte. So ver¬
ging eine halbe Stunde, bis wir in der Stille der zu Eude gehenden Nacht
das Geräusch marschierender Truppenteile deutlich hörten. Das Geräusch kommt
näher und näher, jetzt unterscheidet man mit dem Ange einzelne Trupps,
jetzt auch die einzelnen Gestalten. Ein Teil ist bei dem hohen Stacheldraht
angekommen und steigt darüber weg. Immer noch herrscht bei uns tiefstes
Schweige». Jetzt sind die Engländer vielleicht noch zwanzig Schritte vor uns,
eil? hinteres Glied der feindlichen Truppen ist auch an dem Drahtzaun an¬
gekommen, da hallt ein Schuß über das Feld, und mit einem Schlage fallen
unsre Büchsen ein. Ein wildes Geknatter hat begonnen. Ich sehe Gestalten
am Drahtzaune Sprünge machen wie vom Boden emporgeschnellt, die Hände
in die Höhe werfen und hinten überfallen; einzelne, sofort tot, bleiben am
Stacheldraht in der Luft hangen, andre laufen zurück, ohne sich vor der sichern
Kugel retten zu können. Die ganze feindliche Linie flutet zurück. Vergeblich
suchen die Offiziere, sich dem gewissen Tode aussetzend, die Mannschaften zum
stehn zu bringen. Dies gelingt erst nach und nach, und es entspinnt sich ein
langsameres Schützengefecht, das bis acht Uhr des Morgens andauert. Dann
schläft auch dieses unter der Wirkung der Sonnenglut ein. Der Feind hat
sich immer weiter zurückgezogen. Nur von unsrer linke» Flanke her, wo Delareh
noch im Kampfe ist, hören wir lebhaftes Gewehrfeuer. Die englische Artillerie
hat die Beschießung wieder in voller Stärke gegen uns begonnen und hindert
eine Verfolgung des Feindes.
Eine trotz des Ernstes der Lage der Konnt nicht entbehrende Gefechts¬
szene scheint mir erwähnenswert. Ein englischer Offizier war bei dem ersten
Anlauf bis auf fünfzehn Schritt an mich herangekommen und hatte sich dann,
mich erblickend, zu Boden geworfen. „Wenn er sich erhebe, rief ich ihm auf
Englisch zu, würde ich ihn erschießen." So blieb er denn, platt auf dem
Boden, viele Stunden lang liegen, bei jedem Schuß ans meinem Gewehr
den Kopf tief in den Boden drückend. Es war ein ewiges ans und nieder,
verstecken und wieder auftauchen des Kopfes. Einmal verabreichte ich ihm auf
seine Klagen über Durst mein Trinkwasser, mehr konnte unter dem Geschütz¬
feuer seiner Landsleute für ihn nicht gethan werden. Nachdem dieses am
Abend eingestellt worden war, nahmen wir ihn gefangen, ließen ihn aber einige
Tage darauf wieder laufen, weil wir nichts mit ihm anzufangen wußten. Als
später mein Nebenmann von einem feindlichen Trupp unter dem Befehl des¬
selben Offiziers gefangen genommen wurde, hat er ihm unsre Gutthaten ver¬
golten und dabei bedauert, daß er uicht in der Lage sei, auch ihm die Freiheit
wiederzugeben.
Ein andrer Trupp gefangner Engländer erzählte uns, daß sie unmittelbar
von England angekommen und aus dem bei der Front eingetroffnen Eisen-
bahnzüge, ohne das englische Lager zu berühren, gegen unsre Position geführt
worden seien. Sie sprachen ihre Verwundrung darüber ans, daß wir von
weißer Gesichtsfarbe und keine Schwarzen seien, wie sie gemeint hätten. Die
Gesellschaft war hungrig und durstig und dankbar, daß wir ihnen zu essen und
zu trinken gaben. Noch am Abend thaten sich die Freunde und Bekannten der
vierzig bis fünfzig gefallnen Buren zusammen, um sie zu beerdigen. Man hob
Einzelgräber aus. Nur wo der Tod Freunde oder Angehörige vereint hatte,
legte man sie in ein gemeinschaftliches Grab, doch nie mehr als zwei zu¬
sammen. Ein gemeinsamer Gottesdienst wurde abgehalten; dann schloß man
die Gräber.
Von den Engländer« wurden die entfernter von unsrer Stellung liegenden
Toten unter dein Donner der unsre Stellungen beschießenden Kanonen be¬
erdigt. Als die in unserm sichern Schußbereich unbeerdigt gebliebner Toten
der Engländer um zweiten Tage nach der Schlacht in Verwesung überzugehn
begannen, mußten wir selbst zu ihrer Beerdigung schreiten. Es war eine
schreckliche Aufgabe. Mich traf das Los, mitarbeiten zu müssen. Mit großer
Energie und trotz vielfachen Nbelwerdens trugen wir die Leichen, die schon
hoch angeschwollen und ganz schwarz waren, in ein Massengrab zusammen.
Die Gewehre, die Munition, sowie das in dem Rockschoß eingenähte Verband¬
zeug nahmen wir den Gefallnen ab, weiter nichts. Nur wo wir auf ein teures
Andenken an den Toten schließen mochten, versuchten wir, es seiner Familie
zukomme» zu lassen. So erinnere ich mich des Vorfalls, daß wir bei einem
gefallnen Offiziere, Kapitän Grey von Gibraltar, den Brief seiner Frau fanden,
den er erst am Tage vor der Schlacht erhalten hatte. Sie schrieb darin, eine
Ahnung mache es ihr zur Gewißheit, daß sie ihren Liebling nie wiedersehen
werde; sie habe sich entschlossen, Pflegerin zu werden und wolle nur seinem
Andenken leben. Der Brief rührte uns. Alles, was wir bei ihrem Manne
fanden, packte ich sorgfältig zusammen, schrieb dazu einen Brief, daß wir ihren
Mann auf dem Felde der Ehre bestattet hätten, ihren Schmerz begriffen und
ihn teilten; aus dem beigefügten Eigentume möge sie erkennen, daß wir nicht
die Diebe und Räuber seien, zu denen uus die englische Presse stemple. Das
Paket, das diese Sachen enthielt, adressierter wir über Lourenzo Marques
nach Gibraltar; andre Wertsachen übergaben wir am folgenden Tage dem eng¬
lischen Parlamentär, der um gekommen war, um über die weitere Beerdigung
der englischen Gefallnen zu verhandeln. Ob das Paket des Kapitäns Grey
der Eigentümerin zugekommen ist, haben wir nie erfahren.
Die englischen Toten wurden von da ab durch englische Truppen beerdigt,
aber übereilig und in viel zu geringer Tiefe. Noch graut es mir, wenn ich an
den Anblick denke, der sich uns wenig Tage darauf bot. Aus dein Sande er¬
hoben sich wieder hier und dort Arme und Beine der Begrabueu; der darüber
geworfne Sand hatte sie nicht schwer genug bedeckt. Der Beerdigung der Eng¬
länder wohnten der englische und auch unser Geistlicher bei. Sie unterhielten
sich über die Verluste. Wenn er auch Geistlicher sei, so erwiderte der englische
dem unsrigen auf dessen Angaben, so könne er ihm doch nicht glauben, daß
unser Gesamtverlust bloß zweiundsiebzig Tote betrage; das englische Artillerie¬
feuer müsse allein mindestens tausend Buren getötet haben.
Mit der Beerdigung der Gefallnen war die Waffenruhe abgelaufen, und
wieder begann das feindliche Geschützfeuer gegen unsre Stellungen. Die Schüsse
fielen in langen Zwischenräumen, lind wir gewöhnten uns bald derart daran,
daß der einzelne Schuß nur Anlaß zur Entwicklung des Humors gab. „Achtung,
ein kleiner Kaffer kommt," so warnte man sich vor dem heransausenden schwarzen
Geschoß. Die Verachtung vor dessen Wirkung wuchs trotz einzelner Treffer
so sehr, daß wir nicht krepierten Granaten die Zünder abschraubten und das
in Gazesäckchen darin liegende Lydditc mit einem Schwefelholz anzündeten. Das
grünlich gelbe Pulver verbrannte wie ein Schwefelfaden, brodelnd lind Blasen
treibend langsam und ohne explosive Wirkung.
Gegen den Feind wurde nichts unternommen. Unmittelbar nach der
Schlacht war der .Kriegsrat zusammengetreten, um über die Ausführung eines
Angriffs auf das englische Lager zu beraten. Der Angriff auf dessen Be¬
festigungen wurde für unausführbar erklärt, und ich habe mich später auf dem
Gefangnentransport selbst überzeugen können, daß er anch thatsächlich unaus¬
führbar war. Es hätte zahlreicher und schwerer Artillerie bedurft, um die
von den Engländern geschaffnen Befestigungen sturmfrei für Infanterie zu
machen. So beschloß man im Kriegsrat, zunächst die abwartende Stellung
beizubehalten. Unsre Truppen wuchsen nach und nach auf sechstausend Manu
an, und da die Engländer nichts unternehmen zu wollen schienen, so nahmen
viele der Unsrigen Urlaub in die Heimat, Ich verkürzte mir die viele Zeit,
die der Dienst mir frei ließ, durch Jagd, Mein Kommandant erteilte mir oft
für halbe Tage Urlaub, und so ritt ich mit meinem neu angeschaffte« Pferde
ins Feld, Wir lernten uns dabei gegenseitig kennen, und ich hatte überdies
den Vorteil, mich mit frischem Fleisch Versehen zu können. Ich schoß „Spring-
bokken," eine über ganz Südafrika verbreitete Art von Gazellen von noch
schmackhafteren Fleisch als Rehe. Auch für künftige schlechte Zeiten sorgte ich
vor, indem ich das nicht sofort verzehrte Fleisch in schmale Streifen schnitt
und es an der Luft trocknete, zu sogenanntem Biltong machte. Gegen Weih¬
nachten wurde es immer stiller, und so blieb es bis zur Jahreswende, die
unsrer Sache eine so schreckliche Wendung bringen sollte. Das neue Jahr
begaun mit einem falschen Alarm, Ein Stachelschwein war des Nachts gegen
drei Uhr an den Stacheldraht gestoßen und hatte uns dadurch alarmiert. Am
andern Morgen fanden wir das Tierchen von fünf Schüsse» durchbohrt am
Draht liegen.
Um diese Zeit drängte man im Kriegsrat zu energischeren Handeln, In
den ersten Tagen des Januars wohnte ich einer geheimen Sitzung des Kriegs¬
rath bei, worin ans das Drängen der jünger» »ut energischem Kommandanten,
namentlich DelarehS »ut de Wels der Beschluß gefaßt wurde, die rückwärts
liegende» Verbindungen des Feindes durch Zerstörung der Eisenbahn zwischen
Belmont und Modderriverstation zu »»terbrecheu. Dieser Plan muß den Eng¬
ländern bekannt geworden sein. Ich erinnere mich ganz genau, daß der Kriegsrat
an diesem Tage um zehn Uhr des Vormittags zu Ende war, und daß wir
schon denselben Tag gegen zwei Uhr nachmittags englische Kavallerie und
Artillerie südwärts abrücken sahen. Erst am folgenden Tage erfuhr ich den
Zweck dieser Bewegung von unserm Kommandanten, als er gerade aus dem
Kriegsrat zurückkam. Die Engländer waren ausgerückt, um die Eisenbahnlinie
zwischen den genannten Stationen stark zu besetze» und zur Verteidigung ein¬
zurichten. Unsre Patrouillen (rÄpportAiMAgr«) hatten das festgestellt. So
war das Unternehmen wahrscheinlich infolge schlechter Wahrung des Dienst-
geheimnisses unausführbar geworden. Ich habe nie erfahren können, welche
Stellung der General zu diesem Vorfall genommen hat. Nach wie vor nahmen
sämtliche Kommandanten um Kriegsrat teil, ohne daß man diesen oder jenen
dafür verantwortlich gemacht hätte. Es blieb hiernach ruhig bis Mitte Januar.
Am 16. verstärkte sich das englische Artilleriefener, und der Luftballon stieg
wieder auf. Das Feuer galt weniger unsrer Position, als unsrer Artillerie,
die seit der Schlacht von Magersfontein um einige wenige Stücke vermehrt
und über die ganze Linie verteilt worden war.
Anfang Februar gingen bei uns die ersten Nachrichten über feindliche
Bewegungen gegen unsre rechte Flanke el». Zum Zwecke der Aufklärung
rückten einige hundert Freiwillige mit zwei Geschützen vom Lager ab, die bei
Koedoesberg auf feindliche Truppen stieße» und diese festhielten. Nach ein-
gegcmgner Meldung hiervon brachen eine zweite und dann noch eine dritte
etwa zweihundert Mann starke Abteilung zur Unterstützung auf. Dieser hatte
ich mich angeschlossen. Uns ging der Befehl zu, den Berg, auf dem die
Feinde während des Tags Stellung genommen hatten, zu umzingeln. Nach
dreistündigem Ritt kamen wir gegen Abend und bei eintretender Dämmerung
um Koedoesberg an, den die Engländer inzwischen geräumt hatten. Noch in
derselben Nacht ritten wir deshalb mit den beiden Geschützen nach unsrer
Stellung bei Magersfontein zurück, ohne daß ich selbst ins Gefecht gekommen
war. Am folgenden Tage brachte mir ein Bekannter Trophäen aus der
Koedoesberger Aktion, ein Monocle und zwei künstliche Vorderzähne, die der
Besitzer in der Eile des Rückzugs wohl zurückgelassen haben mochte.
Daß der englische Vorstoß bei Koedoesberg bloß eine Demonstration ge¬
wesen war, die unsre Aufmerksamkeit von der linken Flanke abziehn sollte,
merkten wir erst später, als wenig Tage daraus, wenn ich nicht irre am
12. Februar, Nachrichten eintrafen, Truppenbewegungen fänden auch nach
dieser Flanke statt. Auf solche Meldung trat der Kriegsrat eilig und auf¬
geregt zusammen. General Cronje ergriff wie immer zuerst das Wort und
teilte die cingegnngnen Meldungen mit. Er stellte die Unternehmung gegen
unsern linken Flügel als etwas bedeutungsloses hin und verglich sie mit der
auf Koedoesberg. Doppelte Vorsicht sei vor uns in der Magersfonteincr
Stellung nötig. Cronje begründete anch diese Ansicht und zwar damit, daß die
Engländer mit ihren großen Truppenmassen schon des Trosses wegen nicht
unabhängig von der Bahn zu operieren vermöchten. Dieser Auffassung wurde
von keinem widersprochen, und auch ich war von ihrer Richtigkeit durchdrungen.
Nur de Wet und Delarey schienen nicht recht überzeugt zu sein. Sie ver¬
langten, daß auf der bedrohten Flanke stärkere Truppenteile dem Feinde ent¬
gegengestellt werden müßten. Endlich beschloß man, durch ein Kommando von
einigen hundert Manu unter dem Kommandanten Cronje, dem sehr tüchtigen
Bruder des Generals, den Weg nach Koffhfontein am Rietriver aufklären zu
lassen. Obschon im Kriegsrat von einer Unterstützung des Kommandanten Cronje
durch de Wet und sein Kommando nichts gesprochen worden war, muß dieser die
Erlaubnis erhalten haben, mitzuwirken. Denn er verließ uns mit seinen Frei¬
staatern zugleich mit Kommandant Cronje. Infolge hiervon entging er der
Katastrophe bei Paardeberg. Ich bin jedoch fest der Ansicht, daß sein Weg¬
gang zu unserm Unglück beigetragen hat. Seine Anwesenheit hätte zum recht¬
zeitigen Aufgeben der Magersfonteiner Stellungen geführt, und seine Energie
hätte einen Durchbruchversuch bei Pnardeberg durchgesetzt, der ohne große
Schwierigkeit noch in den ersten Tagen des Umzingeltseins durchführbar war.
Am Tage nach dem Aufbruch de Wels wurde es klar, daß das Ober¬
kommando eine falsche Ansicht gehabt hatte. Am Nietriver zwischen Blauwbanks-
drift und Koffyfontein war es Kommandant Cronje gelungen, hundertsiebzig
Wagen der Bagage des englischen Feldmarschalls Lord Roberts abzufangen,
ein Beweis, daß dieser mit Truppen schon über den Nietriver hinüber war und
zwischen uns und Bloemfontein stand. Am Nachmittag des 12. Februars traf
diese Nachricht bei uns ein. Sofort wurde den Leuten, die ihre Pferde bei
sich hatten — die Pferde, darunter das meinige, standen nämlich acht bis zehn
Reitstunden weit von uns weg auf der Weide bei Petrusberg, halbwegs nach
Bloemfontein, und waren uns von? Feinde abgeschnitten —, der Befehl gegeben,
bei ihrem Kommandanten anzutreten. Der ewigen Schreiberei als Sekretär
und als freiwilliger Briefsteller meiner weniger schreibkundiger Kameraden müde,
wäre ich gern bei der Partie gewesen. Auch war ich des Lagerlebeus, durch
das man verbummelte, und des dort herrschenden Durcheinanders überdrüssig.
Ich suchte darum und fand auch einen Buren, der wenig Lust hatte, dem
Befehl nachzukommen. Er lieh mir sein Pferd, ein mageres Schimmelchen,
mit dem ich mich nebst neunzehn andern, den einzigen Berittnen von den etwa
vierhundertfünfzig Mann unsers Kommandos, bei dem Kommandanten Oven Tom
meldete. Dieser teilte uns mit, es gelte die bei Jakobsdnal liegenden Haupt¬
magazine sowie die dort etablierte deutsche Ambulanz (des Professors Dr. Küttner)
zu schützen, indem man einem Vormarsch des Feindes auf diesen Ort entgegen¬
trete. Sofort stiegen wir, mit Oven Tom einundzwanzig Mann, zu Pferde, ritten
zunächst zum Lager und schlugen dann die Richtung auf Jakobsdaal ein. Dem¬
selben Ziele strebten wohl einzelne zerstreut über die Ebne reitende Trupps
von teils geringerer teils größerer Stärke als wir zu.
Als die Dämmerung eingetreten war, trafen wir vor Jakobsdaal ein, gingen
aber nicht mehr ins Dorf hinein, sondern blieben davor hinter einer kleinen Ge¬
ländewelle liegen. Den Pferden wurden nur die Trensen abgeschnallt, wir selbst
legten uns hin, nachdem wir uns noch durch Posten gesichert hatten. Der vier¬
stündige Ritt hatte mich mit den Eigenschaften meines Pferdes bekannt gemacht,
und diese waren wenig erfreulicher Natur. Das Schimmelchen war offenbar
schlecht gepflegt worden; sein mangelhafter Ernährungszustand machte es wenig
leistungsfähig. Obschon unser Ritt über eine gemütliche Gangart nicht hinaus¬
gegangen war, zeigte es deutliche Spuren von Ermüdung. Dazu kam, daß ich
ihm nichts zu fressen verschaffen konnte, sondern nur zu trinken. Der Zustand des
Pferdes gab mir, während ich auf Vorposten aufgezogen war, mehr zu denken als
die Nähe des Feindes, von dem wir nichts merkten. Nur die hellen Flammen
des in weiter Ausdehnung brennenden Grasfelds, die man am Horizonte sehen
konnte, gaben uns die Richtung an, wo er zu suchen sei. Mit Anbruch der
Dämmerung, gegen drei Uhr des Morgens, stiegen wir wieder muss Pferd
und ritten weiter nach Blauwbanksdrift zu, kehrten aber, als wir nach mehr¬
stündigem Ritt immer noch nichts vom Feinde gewahrten, wieder um.
Näher bei Jalobsdaal sprengte ein Reiter heran mit den Worten: „Die
Engländer sind in Jakobsdaal." Wir beschleunigten den Ritt, schlössen uns
mit andern kleinen Kommandos zusammen und warfen die Engländer, die kaum
mehr als eine starke Kavalleriespitze sein mochten, mit wenig Schlissen zum
Orte hinaus. Während einige Kommandos, darunter das meinige, etwa einen
halben Kilometer vor dem Orte Halt machten und für den zu erwartenden An¬
griff eine Stellung suchten, kämpften andre Kommandos mit der inzwischen wohl
verstärkten feindlichen Kavalleriespitze. Nach der Zahl der zurückgeleiteten Ver¬
wundeten waren unsre Verluste dabei nur gering. Wir verstärkten unterdessen
die gewählte Position, so gut es eben ohne Spaten, die im Lager zurück¬
geblieben waren, ging. Am meisten waren Termitenhügel zur Deckung gesucht,
die sich in müßiger Höhe aus dem Boden erhoben. Dank ihrer Bauart sind
sie für die Kugel des englischen Lee-Metfvrd- wie des Mausergewehrs undurch¬
dringlich, eine Eigenschaft, die den Engländern unbekannt war. Wo Felsen
Deckung boten, wurden sie in die Stellung gezogen, wo sie fehlten, trugen wir
Steine zusammen und richteten uns dahinter ein. Unsre Pferde wurden auch
an diesem Abend nur getränkt und hinter die vordersten Häuser Jakobsdaals
gestellt zu unsrer sofortige« Verfügung. Dann hatten wir, in unsrer Stellung
schlafend, eine ruhige Nacht, die letzte für lange Zeit.
Mit dem Morgen des 15. Februars war es mir klar, daß uns ernste
Stunden bevorstünden. In der Entfernung sah ich mit unbewaffnetem Auge
die Staubsäulen anmarschierender bedeutender Trnppenmnssen. Das war die
englische Hauptmacht. Gegen Mittag sind die Engländer herangekommen, und
bald schlagen in unsrer Nähe die ersten Granaten ein. Der Angriff hat be¬
gonnen. Wir verhalten uus ruhig, bis die feindlichen Schützen auf 500 Meter,
der Tragweite unsers Standvisiers, herangekommen sind. Dann geht auch bei
uus der Tanz los. Die Übermacht des Feindes muß bedeutend sein, denn
wir verspüren keine Wirkung unsers Feuers. Immer stärker wird die feindliche
Schützenlinie, uus weit überflügelnd mit starken souliers dahinter. So feuern
wir wohl eine Stunde, Wir bekommen keine Unterstützungen und sind der
Umklammerung ausgesetzt. Jemand ruft nrir zu, es gehe zurück, und ich sah
auch hier und dort liegende Schützen sich erheben, kurze Strecken zurückkaufen
und dann das Feuer wieder aufnehmen. Als die nächsten feindlichen Schützen
wohl 300 Meter vor uns sprungweise vorgehn, kriechen mein Nebenmann und
ich zur nächsten Deckung zurück. So geht es langsam bis zu den ersten
Häusern Jakobsdaals. Vou dort beschießen wir so lange wie möglich die uns
auf den Fersen folgenden Feinde, dann geht es ans das Pferd hinauf, im
Galopp bis zum nächsten rückwärts liegenden Hanse. Ein Schlag auf den Hals
des Pferdes, es steht sofort still, man springt ab und schießt auf die wohl
auch schon von andrer Seite in das Dorf gedrungnen Feinde. Dann geht es
wieder auf das Pferd hinauf und weiter, immer hinauf und hinab, wo sich
eine Gelegenheit bietet, einen guten Schuß anzubringen, an Hausenten, Mauern
und dergleichen. Diese Art des Kampfes in dem Orte selbst hatte etwas auf¬
regendes und wildes, wenigstens steht es mir so in Erinnerung. Hinter dem
letzten Hause des Dorfes ging es mit äußerster Anstrengung des Pferdes unter
heftigem Verfolgungsfeuer zum nächsten Kopfe, dort wurde» wir heftig aber
vollständig wirkungslos mir von der Artillerie beschossen.
Hinter dem Kopfe sammelte Oven Tom unser Kommando; wir waren immer
noch mit ihm einundzwanzig Mann, hatten also niemand verloren. Im Schritt
ging es dann auf immer matter werdendem Pferde nördlich nach Rondaveldrift
und dnrch die Furt über den Moddcrflnß. Hinter einem am Flußufer liegenden
Kopfe verbrachten wir die Nacht vom 15. zum 16. Februar so ermattet, daß
wir, obgleich uoch seit frühstem Morgen nüchtern, doch nichts zu essen ver¬
mochten. Meine Stimmung war schlecht. Wir hörten zwar, daß unser Lager
bei Magersfontein endlich aufgebrochen aber nicht weit genug zurückgegangen
sei, uns die Aussicht auf ein Durchkommen zu eröffnen. Nach wenig Meilen
hatte es wieder Halt gemacht, während unsre Hauptmacht immer noch die
Magcrsfonteiner Stellung hielt. Auf die Nachricht eines Rapportgüngers,
die weiter rückwärts von uns liegende Klipdrift sei in Gefahr, von den Eng¬
ländern besetzt zu werden, ordnete Oven Tour aus eigner Initiative an, der
Besetzung dieses Modderflnßübergangs zuvorzukommen. Wir beschleunigten
unsern Ritt, erfuhren jedoch an der Drift angekommen, daß die ganze Kavallerie
des Generals French am Tage vorher die Drift passiert habe und, wie sich
später bestätigte, auf Kimbcrleh weiter gegangen sei. Die Furt selbst fanden
wir gegen die nachrückende feindliche Infanterie von Leuten des Lagers besetzt;
aber nur ein Teil von vierzig bis fünfzig Mann schien die Verteidigung ernst
zu nehmen, denn der größere Teil von dreihundert bis vierhundert Buren
drückte sich in dein die herrlichste Deckung bietenden Flußbette herum..
Unser kleines Kommando ging durch die Drift auf das südliche Ufer bis
zu einem. Kopfe vor. Von dort ans sahen wir ans die langen Linien der
flußanfwürts marschierenden englischen Jnfnntericmasscn. Als die Engländer
in ihrer linken Flanke unser auf kaum 800 Meter abgegebnes Feuer erhielten,
entwickelte sich sofort ein Teil der Infanterie gegen unsre Stellung. Bei Ge¬
legenheit dieses Scharmützels wurde ich zum erstenmal über die Rücksichts¬
losigkeit und geringe Kameradschaft der Buren erbittert. Wir hatten die an¬
rückenden feindlichen Schützen nnter heftiges Feuer genommen, als mir plötzlich
auffällt, daß ich neben mir keine Schüsse mehr fallen höre. Ich sehe mich um
und finde mich noch ganz allein auf dem Kopje; die Kameraden waren, ohne
mich davon in Kenntnis zu setzen, aufgesessen und abgerückt. Die Gefahr des
Gefangenwerdens sofort erkennend, springe ich zurück, eile im Sturmschritt den
steinigen Abhang des Kopses hinab zu meinem Pferde und dem Kommando
nach, das ich in weiter Ferne reiten sehe. Das Schimmelchen Sporne ich mit
allen Mitteln, sogar mit dem Kolben meines Gewehrs zu verzweifelter An¬
strengung an, denn wir sind schon in starkem feindlichen Feuer. Rechts
und links von mir, unter dem Schimmel und über nur pfeifen die Kugeln,
bot ich doch auf den, Schimmelchen dem Feinde ein prächtiges Ziel, Mein
Glück verließ mich auch heute nicht. Obgleich nicht mehr als ein rascher
Schritt ans dem Pferdchen herauszuholen war, trug es mich — es war mir
eine Ewigkeit .....- aus dem feindlichen Feuer hinaus bis zu dem schützenden
Flußbett. Dort verschonte ich mein Kommando nicht mit Vorwürfen, nicht
einmal Oven Tom, und besichtigte nochmals mein Schimmelchen. Getroffen
war es nicht, aber doch in hoffnungslosen Zustand; ich stieg darum nicht mehr
auf, sondern trieb es vor mir her dem Lager zu.
Es war schon dunkel, als ein Burenofsizier an mich heranritt und mich
unter Berufung ans das Kriegsgesetz und Androhung des Erschießens auf¬
forderte, das Pferd zu besteigen und mich seinem Kommando anzuschließen;
er mochte mich für einen Ausreißer halten. Ich weigerte mich unter Hinweis
ans den Zustand des Pferdes aufzusteigen, folgte ihm aber zu Fuße. Nach
wenig Schritten blieb mein Pferd stehn, es war nicht mehr von der Stelle
zu bringen. Auch der Offizier mußte eingesehen haben, daß seine Aufforderung
unausführbar gewesen war. Als er mich überdies bei dem Schein eines von
mir angezündeten Streichhölzchens erkannte, empfahl er sich, mir die Richtung
weisend, wo ich das Lager zu suchen hätte. Ich möchte mich, so rief er mir
noch zu, für die Nacht der Wache zur Verteidigung des Lagers anschließen.
Ich nahm um meine Decke von dem Sattel zu mir, erleichterte das Schim¬
melchen von Sattel und Zaumzeug und überließ es auf freiem Felde seinem
Schicksal. Nach mehrstündigem Marsch erreichte ich todmüde die Vorposten des
Lagers, das den ganzen Tag über seine Stelle in einer sogenannten Pfanne
iMn), einer Erdmulde, nicht verlassen hatte. Nachdem man mir etwas Mehl
und Wasser zum Essen verabreicht hatte, schlief ich zwischen den Steinen ein.
Gegen Mitternacht weckte man mich. Die Leute ans der Magersfonteiner
Stellung seien eingetroffen, so hieß es, und das Lager werde gleich aufbrechen.
Ich begab mich sofort dorthin und fand meinen Ochsenwagen nahe beim öst¬
lichen Ausgange der Mulde, dem einzigen, der ans der Nückznglinic lag. Über
die im Lager vorgegangne Ändrung war ich ganz starr. Offenbar hatten über¬
triebne Gerüchte von Mißerfolgen, die Nachricht von dem Entsatze Kimberleys
und die von Magersfontein eingetroffneu Mannschaften eine Aufregung ins
Lager gebracht, die verhängnisvoll wirken konnte. In Unrnhe erwartete man
den Befehl zum Abrücken, dann aber, als er kam, gab es kein Halten. Ganz
ohne Verstand versuchte jeder seinen Wagen zuerst durch den Ausgang zu
bringen, der doch in seiner Breite mir einen einzigen Wagen auf einmal durchließ.
Schon die zwei ersten Wagen fahren im Ausgange ineinander, die Verwirrung
ist fertig. Das Geschrei der die Ochsenwagen antreibenden Kaffern, das scharfe
Knallen der Peitschen, ein wüstes Schimpfen und Schreien über die entstandne
Stockung verhinderten einen, sein eignes Wort zu verstehn. Trotz der Nähe des
Ausgangs sah ich keine Möglichkeit, so bald ins freie Feld hinauszukommen.
Ich ging deshalb zu meinem Wagen zurück, ergriff den Leitochsen am Strick
und befahl dem Kaffern, mich dahin zu führen, wo er zur Mulde hinein¬
gefahren sei. Nach diesem einzigen, nach dem Feinde zu liegenden aber offne»
Ausgange der Mulde schlängelte ich mich mit dem Wagen durch, bald von
andern gefolgt. Wir fuhren dann um die Pfanne, An den Munitionslagern
machten wir noch einen kurzen Halt und luden einige Kisten Patronen auf.
Inzwischen our der versperrte Ausgang wieder frei geworden, und der
allgemeine Rückzug begann. Immer eiliger wurde der Schritt, bald war es
kein Rückzug mehr, sondern Flucht, Flucht in voller Panik. Zu sechs, zu acht,
zu zehn, zu so viel Wagen als nebeneinander Platz fanden und nnter ewigem
Antreiben der Ochsen ging es die. Nacht hindurch zurück. Wo die Wagen in¬
einander fuhren, wo sie auch nur eine geringfügige Beschädigung erlitten, hielt
man sich mit der Reparatur gar nicht mehr auf. Die Ochsen wurden aus¬
gespannt und »veiter getrieben. So ging die Jagd rückwärts bis zum Morgen,
als wir im Rücken Artilleriefell er erhielten. Nun hebt wieder ein Höllenlärm
bei den Wagen an, ein Drängeln, bis wir eine Hügelkette erreichen, die uns
dem feindlichen Feuer entzieht. Gegen Mittag sind wir dicht an dem Modder¬
fluß hinter einem großen Kopje unweit der Klipkraalsdrift angekommen, wo
Halt gemacht und ausgespannt wird. Die Leute werden in den Fluß geschickt,
der in scharfem Bogen eine Schleife um einen großen Teil unsers Kopjes
zieht. Man fürchtet einen Angriff von der Drift aus und will sich durch Be¬
setzung des Flußufers decken. In einer gegen den Feind zu vorspringenden
Uferecke des jenseitigen Ufers gehe ich mit einem Dutzend Buren vor, um das
Vorgelände besser übersehen zu können. Wenig hundert Schritte vor uus
liegt eine kleine Farm mit Haus und einem sich daranschließenden Kraal.
Von dort erhalten wir Feuer, während wir die Staubwolken marschierender
feindlicher Infanteriekolonnen beobachten. Wir fordern unsre Leute, von denen
mindestens tausend Mann im Flußbette stehn, auf, sich uns zu einem Angriff
auf die Farm anzuschließen, aber, traurig genug, nur wenige folgen der Auf-
forderung. Es schien, als Hütten die sonst so tapfern Leute, seitdem sie ohne
Pferde waren, ihren Mut verloren. So gehn wir denn allein gegen das
Häuschen vor, aus dem sich der etwa fünfzig Mann starke Feind, wohl eine
Seitendeckung der Hauptkolonne, eiligst längs der Mauer des Kraals davon
macht. Haus und Kraal werden abgesucht, doch finden wir niemand außer einigen
Toten und Verwundeten. Wir folgen nun den abziehenden Engländern bis
zu einer Höhe, auf der wir nnter dem feindlichen Artilleriefeuer eiuen Mann
verlieren.
Bei eintretender Dunkelheit geht es zum Lager zurück, das sich zum Auf¬
bruch anschickt. Nun rücke» nur wieder die ganze Nacht hindurch flußauf¬
wärts, bis wir am 18. Februar gegen Mittag dicht um Modderriver unweit
Paardeberg bei der Kvedoesranddrift in ungeeignetster Stellung halten, bevor
wir den Übergang versuchen. Die Drift führt nämlich auf die Bloemfonteiner
Straße, die hier ans das südliche Flußufer hinüberspringt. Gerade steige ich
von dem ausgespannten Wagen ab, als die erste feindliche Granate ins Lager
schlägt. Vor uns auf demselben Ufer »nie wir sind feindliche Geschütze aufgefahren
mit starker Kavalleriebedecknng. Ein Passieren der Furt ist nicht mehr möglich,
und so strebe ich mit einer Handvoll Kaplmren, Griqualandrebellen, die sich
mir anschließen, möglichst weit von dem Lager weg den ans belästigenden
Geschützen entgegen. In einer Entfernung von ungefähr einem Kilometer stoßen
nur auf einen von Regengüssen stark ausgewaschnen Weg, der sich zur Ver¬
teidigung eignet. Wir besetzen und Verstürken ihn. Noch während dieser
Arbeit reitet eine Abteilung feindlicher Kavallerie gegen uns an, Sie naht in
geschlossenen Zügen, Auf Standvisier lassen wir sie herankommen, dann geben
wir Schnellfeuer, hierin von eintreffender Verstärkung unterstützt. Die Kavallerie
gerät in Unordnung, einzelne Reiter wenden die Pferde, reißen die andern
mit, und zurück rast die Masse unter Zurücklassung vieler Toter und Ver¬
wundeter.
(Schluß folgt)
ann man glauben, dnß in dem Pfiff der Lokomotive, dem Rauch eines
Fabrikschlots etwas Schönes liegt? Mit nur haben es Tausende schön
gefunden, als mit Eintritt des Waffenstillstands der erste Eisenbahn¬
zug herankam, als die Feuer in den Fabriken wieder entzündet wurden,
und wieder mächtige Rauchsäulen in die Luft stiegen.
Zuletzt vor Eintritt des Waffenstillstands hatte noch ein Wettlaufen
mit den Franzosen stattgefunden. Es war bestimmt, daß die Demarkationslinie durch
die Ortschaften gebildet werden sollte, die wir bis zur Mitternachtsstunde des letzten
Krtegstags erreichen würden. Der Befehl für uns lautete, Dieppe zu besetzen.
Als unsre ersten Truppen vor der Stadt ankamen, kam ihnen von le HSvre aus
ein Parlamentär in den Weg mit der Anzeige, daß eine französische Korvette schou
in den Hafen Von Dieppe eingelaufen sei. Also Halt, und enttäuschte Gesichter. Es
wurde Tag, und ein Offizier wurde in die Stadt gesandt, der die Besetzung durch die
Franzosen feststellen sollte. Aber ihre Soldaten waren nicht zu finden, und die Korvette
erst in Sicht, Also vorwärts, so schnell es ging, und als die Korvette in den
Hafen dampfte, hatte eine deutsche Truppe schon die Stadt betreten. Das ent¬
täuschte Gesicht machte jetzt der französische Kapitän, als er unter Hinweis auf die
falsche Meldung des Parlamentärs gebeten wurde, schleunigst wieder abzudampfen.
Es gab damals viel Geschrei darüber, wir ließen es aber die Franzosen ruhig aus
ihr Revanchekonto setzen.
Das Bild, dus sich jetzt in den nächsten Tagen in Dieppe entwickelte, war
vielleicht nie, mindestens seit den Tagen des großen Diepper Reeders Argo nicht
dagewesen. Dampfer ans Dampfer brachten Lebensmittel und Kohlen in den Hafen,
diese wurden auf die bereit stehenden Güterzüge verladen, und unaufhörlich rollten
die Züge nach dem ausgehungerten Paris. Dieppe war der einzige Hafen in
deutschem Besitz, zu dem eine Eisenbahn betriebsfähig war. Den Frachtdampfern
folgte» bald die Passagierdampfer und setzten Hunderte von Engländern und Ameri¬
kanern beiderlei Geschlechts aus Land, die gekommen waren, ihre Neugierde
zu befriedigen. Von Paris und Rouen wieder langten Personenzüge an, angefüllt
mit einer auffallend großen Anzahl jüngerer Herren in merkwürdigen Kostümen.
Es waren deutsche Offiziere, die irgendwo eiuen Zivilnnzug besserer oder geringerer
Qualität erstanden hatten und nun den. Waffenstillstand benutzten, um in ihrem
Räuberkostüm eiuen Ausflug nach England zu mache». Der leichte Soldatensinn
machte sich verdoppelt geltend, es wurde viel und hoch und überall gespielt, und
was an guten Weinen erstanden werden konnte, wurde getrunken. Dieppe ver¬
diente während der Okkupation durch die Deutschen Unsummen. Selbstverständlich
gab es Mitte Februar «och leine Saison im gewöhnlichen Sinne. Aber auch Pelz¬
jacken und Wintermäntel können Damen reizend stehn, das wußten die Englände¬
rinnen und Amerikanerinnen ebensogut, wie unsre Damen es wissen. Später kam
die Kommune und trieb die Pariserinneu hinaus. Nach Tronville zu gelangen,
war mit großen Schwierigkeiten verbunden, also nahmen sie ihren Weg nach Dieppe.
Doch war dies erst im Monat März.
Als ich in den erste» Tage» des Waffenstillstands dorthin kam, war von
diesem geselligen Treiben noch wenig zu merken. Dafür konnte ich mich um so
ungestörter dem Genuß der schönen Landschaft hingeben. Der erste Gang war
nach dem Leuchtturm. Dn lag es vor mir, das ewige, unendliche Meer, ruhig,
als ob es sich an den ersten warmen Strahlen der Sonne wärmen wollte. Am
Horizont zogen Dampfer dahin. Auf den Klippen, die die östliche Seite der Hafen¬
einfahrt überragen und sich nach Treport hinziehn, hatte einst Cäsar seine CÄstrs.
Stative errichtet. Bon dort aus flogen seine Gedanken, spähten seine Blicke nach
England. Jetzt standen Nachkommen der Barbaren, die er liebte und fürchtete
und als Hilfstruppen in Dienst nahm, dort oben Wache, und ihre Bajonette
blitzten im So»»e»licht. Westlich vo» der Hafeneinfahrt des»te sich die Stadt aus
bis zu den Kreidefelsen, auf denen dus alte, gegen die Angriffe der Engländer er¬
richtete befestigte Schluß aufragt. Die Stadt sah düster aus, obgleich sie schon
lange ein Lieblingsseebad der Pariser war. Die modernen Riescuhotels, die sich
jetzt an der Seeseite erheben, gab es damals noch nicht; die Promenade an der
See war nicht breit und während des Winters mangelhaft unterhalten. Das Kasino
war noch einfach ans Eisen und Glas hergestellt, der Prachtbau in orientalischem
Stil, der das Theater jetzt umfaßt, ist erst später hinzugekommen. Aber schön war
es trotzdem. Und als die Flut kam, der Wind zu heulen begann, und dus Meer
unruhig wurde, als die Möwe» schrieen, und die Wellen sich brnndend am Ufer
überschlugen, da weidete sich die Brust in dem stolzen Gefühl, daß erst die Meeres¬
flut den Siegeszug der Germanen aufgehenden habe.
Als Bad hat sich Dieppe ungemein verschönt. Zunächst hat man dnrch Ab¬
laden von Schutt und Steinen die Promenade um dem Meere ganz bedeutend
verbreitert und das so gewonnene Gelände zwischen Hafen und Schloß, das einen
Kilometer lang ist, in eine einzige Rasenfläche verwandelt. Die Wege sind fest,
trocken und gut gehalten. Dann sucht man die zweifelhafte Güte des Strandes
zu verbessern. An der Seeküste der iniuto MrnuuMo giebt es keine sandige Fläche
wie in der dös8« NormAnSio. Die in den Kalksteinfelsen enthaltnen Kiesel bleiben,
wenn ein Stück der Felswand in dus Meer stürzt, auf dem Bruchplatzc liegen,
wahrend die übrigen Reste weggewaschen werden. Jede Flut unternimmt es, die
Ecken der Kieselsteine abzuschleifen. Schließlich werden sie so glatt und rund, daß,
wenn man sie betritt, sie unter den Füßen nachgeben wie ein Haufe aufgeschütteter
Kartoffeln.
Solch ein Strand ladet nicht zur Promenade unmittelbar am Wasser ein,
weil man sehr bald ermüdet, und auch nicht zum Baden, weil die Badenden, wenn
die Sandalen sie auch gegen den Druck der runden kleinen Steine schützen, doch
keinen festen Stand im Wasser haben. Anscheinend sucht nun Dieppe durch An¬
schüttungen und Aufschüttungen von Kies und Sand diesem Übelstande abzuhelfen,
mir scheint es aber eine Danaidenarbeit zu sein. Was soll man aber machen,
wenn man am Strande nicht gehn und stehn kaun? höre ich fragen. Liegen, sage
ich. Liegen? Gewiß! Auch ich, obgleich ich alle Menschen liegen oder hocken sah,
hielt es für unmöglich, lange auf diesem Kieselgeröll auszuhalten. Probieren geht
aber über Studieren, und als ich mich erst einmal hingelegt hatte und merkte, wie
sich die runden Steinchen unter dem Körper wegschoben, wo es nötig war, da
fand ich auch bald einen weitern Vorzug eines solchen Kieselstrandes, nämlich den
der nnübertroffneu Reinlichkeit. Täglich werden die Steinchen ja zweimal durch
die Flut nbgewaschen und abgerieben, nicht ein Atom Staub kann ans ihnen haften
bleiben, Senkstoffe verschwinden zwischen ihnen in die Tiefe.
So fand ich auch in Dieppe am Strande ein großes Publikum. Wenn es
nicht flanieren konnte wie in Trvuville, so richtete es sich um so gemütlicher seßhaft
ein. Wollte man Toiletten sehen, so mußte man ins Kasino gehn. Dort sah ich
denn freilich auch wie in Tronville Jugend und Schönheit, Reichtum und Leicht¬
sinn auf Eroberungen ausgehn und im stillen Wettkampf untereinander um den
Preis, die Königin zu sein, ringen. So ein Konzertabend, wie ich ihn mitmachte,
bietet zu derartigen Beobachtungen die beste Gelegenheit. In den Pausen strömt
die Welt hinaus in die andern Säle, hauptsächlich freilich in den Spielsaal, den
es in jedem französischen Bade giebt, das ein Kasino hat. Ein Teil des Publi¬
kums setzt schnell einige Franken, rings herum bilden sich Gruppen; es wird
medisiert und kokettiert; ein breiter Strom Meuscheu flutet um diesen festen Kern
ans und nieder, »poetatum vemunt, vomunt, Zpvetentur ut ip«ac. In diesen: Jahre
hieß es anch England gegen Frankreich. Wer da glaubt, daß Faschoda von den
Franzosen vergessen ist, irrt sich. Es war in diesem fast ausschließlich von Eng¬
ländern und Franzosen besuchten Bade zu Dieppe, als ob ein wenn anch kaum
festzustellender Abstand zwischen den beiden Nationen festgehalten würde, und als
ob der weibliche Teil auf dem ihm eignen Gebiete der Toilette dus erste feind¬
liche Geplänkel eröffnen wollte.
Die Umgegend von Dieppe bietet prächtige Ausflüge. In alten Zeiten soll
die See einen tiefen Einschnitt in das Land bis Arques gemacht haben. Jetzt
haben die Bäche, die sich dort vereinigen, durch die Ablagerung der Sentstoffe ein
breites Wiesenthal geschaffen, wo Mühlen und Villen, Ferner und industrielle An¬
lagen reizende Motive für den Landschaftsmaler bieten. In dieses Thal hinein, am
Zusammenfluß des Bethuue- und des Arques-Bachs. schiebt sich ein Ausläufer des
Plateaus. Es ist ein nach drei Seiten steil abfallender Felsrücken, auf der vierten
Seite führt ein schmaler Grat zu dem Plateau hinüber. Da früher die Flut das
Wasser bis an den Fuß dieses Felsrückens hiuangetrieben haben soll und ihn so
durch Überschwenimnng des Thals an drei Seiten vor Angriffen sicherte, ist es
natürlich, daß schon in den ältesten Zeiten dort eine feste Burg angelegt wurde.
Durch Eroberung der Burg gegen seinen Oheim begann der uneheliche Sproß des
normännischen Herrscherhauses, Wilhelm, seine kriegerische Laufbahn, die mit dem
Siegeszuge nach England endigte, Bau ein Bau wurde hinzugefügt, Verließe und
unterirdische Ställe, Vorratsrnume und feste Türme, Und noch ein zweitesmal
wurde es zum Ausgang eines Erobernngszugs. Im Jahre 1589 hielt Heinrich IV,
in den Religionskriegen dort eine Besahung, um einen Stützpunkt für seine Ope¬
rationen gegen die Ligne zu haben, deren Truppen nnter dem Herzog von Mnyenne
in einer Stärke von ?>0 000 Mann ihm gegenüberstanden. Es war einer der nor¬
mannischen Nebeliuorgcn, um dem man, wie mau zu sagen Pflegt, nicht die Hand
vor den Angen sehen kann, als Henry IV, mit 4000 Reitern in dieses Kriegsvolk
der Ligne einbrach und das überraschte Heer vollständig auseiucmdertrieb. Auf
einem Stcinrelief über dem Burgthor von Arques reicht die Viktoria ihrem
Günstling dafür einen Lorbeerkranz. Du combat u, l'^mour, cle l'g.wour an combat,
sagt sergent Bourgogne, ist die Losung des französischen Kriegers, Ohne Liebe
haben die französischen Soldaten nie leben können. Als Königin von Arques setzte
Henry IV. seine schöne Gnbrielle d'Ehern'es ein und zog dann weiter zu neuen
Siegen.
Der Blick vou der Burg ist schön, er fällt auf reiche Thäler und endigt im
Norden mit Dieppe und der See. Wem historische Erinnerungen zu schwer für
einen Sommeraufenthalt sind, der wcindre nach Westen auf der Straße, die uach
Tourvillc führt. Zwischen schönen Villen steigt die Straße am alten Schlosse
hinauf auf den Rand des Plateaus. Rechts dehnt sich unendlich das Meer ans,
das Brander der Wellen an dem Fuße der Klippen dringt herauf bis zur Höhe.
Dann und wann ein Möwenschrei, dann und wann ein Schiff am Horizont. Hell
leuchtet die Sonne auf Wasser und Land; mau fühlt sie bis auf deu Körper
dringen, ohne daß sie lästig wird. Denn mit den Sonnenstrahlen dringt auch die
reine, Stadtende Luft der Seebrise durch die Kleider, und man hat dasselbe Em¬
pfinden der Frische wie hoch oben in den Alpen, wenn der Wind von den Gletschern
herüberstreift.
Les Iss ist Kreuzungspunkt verschiedner Bahnlinien. In meinem Abteil blieb
nur ein Herr, der mir dnrch den Schnitt seines Rockes aufgefallen war. Ein fran¬
zösischer Geistlicher konnte es nicht sein, wohl aber ein deutscher. Was wollte der
aber in Fecamp? Einem Deutschen war ich, abgesehen von zwei Sachsen, die ich
in Trouville sprechen hörte, noch nicht begegnet. Ans unserm Wagen sah man
zufällig in einen herrlichen Park mit einem alten Schloß aus der Zeit der Re¬
naissance. Im Baedeker las ich nur: un ova,u elmteÄU an XVI'' sivcio. Da mir
dies nicht genügte, so fragte ich den Herrn, ob in seinem Reisebuch etwas näheres
über das Schloß gesagt sei. Imi besten Schriftfranzösisch, aber mit so nichtfran¬
zösischer Schwerfälligkeit wurde mir geantwortet, daß ich ihm sofort sagte: „Sie
sind ein Deutscher, warum sprechen wir nicht deutsch?" Das geschah denn, und
wir blieben auch in Mcamp zusammen. Es war mir dies doppelt angenehm, da
ich mich sehnte, wieder einmal deutsche Laute zu hören, und der Ort Feccunp infolge
seiner schlechten Beleuchtung am Abend für den einzelnen Fremden nichts bietet als
das einfache Kasino. So konnten wir die Stunden zwischen Diner und Schlafen¬
gehn verplaudern. Da erfuhr ich denn auch, daß mein Reisegenosse zur Philologie
übergehn wollte und zur Ausbildung in der französischen Sprache einige Wochen in
Fecamp Aufenthalt nehmen wollte.
Mancher Deutsche wird mit dem Namen Fecamp sogleich die Vorstellung von
demi Benedietine verbinden, den er irgendwo getrunken hat. Die Herstellung dieses
Likörs hat auch jetzt noch eine große Bedeutung, aber weniger für das Städtchen
als für die Gesellschaft, die die Fabrikation betreibt. Daß Millionen daran verdient
werden müssen, kann man ans dein Prnnkbau schließen, den die Gesellschaft nach
dem Brande im Jahre 1892 hat aufführen lassen. Er ist verschwenderisch orna-
mentiert, aber kaum mit Geschmack. Mir sind die viel einfacher gehnltnen Schlösser
des normannischen Adels aus der Renaissancezeit lieber. Doch ich war ja nicht
nach Fecamp gekommen, um 1-r Lsnöäietino zu bewundern. Ich wollte ja nur Er¬
innerungen auffrischen und die landschaftlichen Schönheiten der Küste genießen.
Von Valmont war ich im Februar 1871 nach Fecamp gekommen, Valmont
galt deshalb auch mein erster Ausflug. Zu der Hoffnung, daß der Waffenstillstand
zum Frieden führen werde, gesellte sich damals das erste Erwachen der Nutnr.
Nebel und Reif waren von der Sonne verjagt, ungezügelt rauschte der Bach, die
ersten Knospen erschienen an Baum und Strauch, und bläulicher Frühlingsduft
lagerte auf Wald und Feld. Es war, als sollte die Natur im nächsten Augenblick
alle Bande sprengen und laut aufjauchzen. Ich kam zu dem Notar des Städtchens
ins Quartier. Er war ein enrngierter Franzose, aber ein liebenswürdiger Wirt
und angenehmer Gesellschafter. Sein Beruf als Jurist hatte ihn genügend geschult,
daß er bei unsern Unterhaltungen meine Anschauungen mit Ruhe prüfen konnte.
Im übrigen behielt er sich alle Rechte ans Revanche vor. In sieben Jahren, hoffte
er, werde Frankreich zu neuer Kraft gelangt sein, und dann erwarte er, daß, wenn
auch er nach Deutschland mitzöge, ich ihn ebenso entgegenkommend aufnehmen würde,
wie er es mit mir gethan habe. Ich erwiderte ihm, daß die Höflichkeit mir, dem
Jüngern, die Verpflichtung auferlege, ihm mindestens bis zur Grenze entgegen zu
kommen. Seine Frau war eine Pariserin, offen und natürlich wie eine Deutsche;
mit ihren feinen gesellschaftlichen Formen wußte sie deu Unterhaltungen zwischen
ihrem Manne und mir jede Schärfe zu nehmen.
Das Haus des Notars lag dicht an dem Eingang zu dem Abteigarten. Auch
Valmont hatte einst eine berühmte Benediktinerabtei, und wie Se. Wandrille, Jumieges
und Fecamp war die Besitzung von der Revolution eingezogen und verkauft worden.
Auch hier war die Kirche als Steinbruch benützt worden, und außer den einsam
stehenden Säulen war nur die Marienkapelle übrig geblieben. Was war es schon, unter
den uralten Bäumen zu wandeln und den Wind durch den Epheu rauschen zu hören,
der die spärlichen Mauerreste und Säulen umsponnen hatte! Als ich jetzt wieder¬
kam, war es Spätsommer; mit ihrem dichten Blätterdach bannten die alten Nüstern
und Linden die Hitze, die draußen herrschte; in tiefem Frieden lag die Ruine. Die
Pförtnerin schloß mir die Marienkapelle ans. Da lag noch der Ritter von Val¬
mont, der die Abtei im zwölften Jahrhundert gestiftet hatte, in Stein gehalten auf
seinein Grabdenkmal; er hatte den Wandel von siebenhundert Jahren überdauert.
Die zum Gebet gefalteten Hände hatten ihm die Sanscnlvttes bei der Plünderung
der Kirche zwar abgeschlagen, mehr hatten sie ihm aber nicht anthun können oder
wollen. Auch die herrlichen alten Glnsgemä'lde der Kapellenfenster waren unver¬
sehrt und strahlten förmlich im Glanz ihrer unvertilgbaren Farbenpracht. Was sind
solchen Zeiträumen gegenüber dreißig Jahre? Von der Pförtnerin hörte ich, daß
mein Notar und seine Frau schon gestorben seien. Ob es ihm. dem feurigen Fran¬
zosen, als er Abschied von der Erde nahm, wohl leid gethan hat, daß seine Hoff¬
nung auf Revanche nicht in Erfüllung gegangen war?
Vor dem ehemaligen Klostergebäude, dem jetzigen Wohnhause, saß der Besitzer
der Abtei mit einigen Herren. Die Pförtnerin fragte mich beim Abschied, ob sie
Monsieur erzählen solle, daß ich vor dreißig Jahren als feindlicher Offizier da¬
gewesen sei. Ich hatte nichts dagegen. Wie überrascht wird Monsieur ge¬
wesen sein!
Ich stieg zum Schloß hinauf, einer interessanten Gebäudemasse aus dem elften,
fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert. In den Freistunden hatte ich hier ehe-
mals skizziert. Die malerische Vereinigung des plumpen Steinbaus ans ältester
Zeit und seiner trotzigen Türme mit dem feinen Renaissancebau der spätern Jahr¬
hunderte, die prächtigen alten Bäume und der weite Blick in das Thal, auf das
Städtchen, die bewaldeten Berglehnen und die zahlreichen Villen hatten es mir
angethan. Ich fragte eine alte Frau nach dem Namen der Familie, die einst den
feudalen Besitz gehabt hatte. Die Frau nannte mir in dem Glauben, daß ich nach
dem jetzigen Eigentümer des Schlosses fragte, einen bürgerlichen Namen. Ich wieder¬
holte meine Frage, konnte aber keine Auskunft erhalten. Wieder einmal bestätigte
es sich, daß für den Durchschnittsfrnnzosen die Weltgeschichte nnr bis zur großen
Revolution zurückreicht. Was über diese hundert Jahre zurückliegt, ist aus dem
Gedächtnis des Volkes wie weggewischt. Eine einzige gräfliche Familie habe ich
kennen lernen, die sich ihren Stammsitz ans dem Mittelalter erhalten hatte. Was
ich sonst an Schlossern und Edelsitzen gesehen habe, hatten früher Schützlinge der
maßgebenden Revolutionsmänner, später reich gewordne Fabrikbesitzer und Handels¬
herren an sich gebracht. Unter diesen waren auch gut deutsche Namen, wie Glas-
brenner, Lange. Auch Baedeker, der in seinen deutschen Netsebücheru so viele alte
Geschichten andeutet, ist in seinem französischen Reisebuch Franzose; der Sinn für
Sage und Überlieferung ist ihm dort ganz abhanden gekommen. Noch mehr wundert
man sich freilich als Deutscher, daß bei ihm auch die Notizen über die Schlachten
der Jahre 1870 und 1871 so merkwürdig spärlich sind, während er jedes fran¬
zösische Kriegerdenkmal erwähnt.
An der See ist das Thal von Valmont etwa zwei Kilometer breit. Ans der
linken (südlichen) Seite sind die Ränder des Plateaus abgeschrägt, auf der rechten
Seite zieht sich laug hingestreckt und steil das Vorgebirge von Fecamp hin,
das dann im senkrechten Absturz in der See endet. Wie an allen Häfen der
Bretagne und der Normandie ist auf dem Vorgebirge eine Kirche, de Notre-Dame,
errichtet. Die Kirche auf dem Vorgebirge bei Mcamp ist uralt, sie stand zweifel¬
los schon, als man noch nicht an Signalfeuer und Leuchtturm dachte, und war das
Seezeichen für die Fischer vou Fecamp. So grau und verwittert sie aussieht, es
liegt unzerstörbare Kraft in ihrem aus mächtigen Steinblöcken aufgeführten Bau.
Wie wundervoll ist der Blick von dort oben! Als ich vor dreißig Jahren dahin
kam, lag eine stille See zu meinen Füßen, die Wolken türmten sich in mächtige»,
regungslosen Massen darüber auf und spiegelten sich ebenso mächtig im Wasser
wieder. Als ich wiederkam, flimmerte die See in unzählbaren kleinen Reflexen
blan und silbern herauf. Es war uicht das harte Stahlblau der Ostsee, uicht das
dunkle Kobaltblau des Mittelmeers, es war, als ob eine rollende Fläche von
Saphiren leuchtete. Sogar die weißen Segel der Fischerboote erschienen dunkel¬
grau in diesem Licht. Nach Norden und Süden die senkrechten Mauern der Kreide¬
felsen, bis sie im Dunst verschwimmen. Zu Füßen des Vorgebirges liegen in seinem
Schutz die Hafenbassins, jenseits bis zur andern Thalseite zieht sich in langen, ein¬
förmigen Straßen die Stadt hin, überragt von den Türmen der Abteikirche, der
Kirche Se. Etienne und dem Komplex der Benedictinc. In den Straßen der Stadt
sieht mau im Sommer wenig Männer. Auf Hunderten von Fischerschonern sind
sie über den Ozean nach Neufundland gezogen, um die Fischerei zu betreiben, die
echten Nachkommen ihrer unruhigen, kühnen Vorfahren. Zum Winter kehren sie
zurück, dann kann der Hafen kaum die Zahl der Schiffe bergen. Nach den Nummern
der Schiffe zu urteilen, die ich dort liegen sah, muß die Schonerflotte gegen
2000 Fahrzeuge haben.
Es war in der Frühe eines Sonntags, als ich an der südlichen Berglehne
hinaufstieg, um planlos durch die Landschaft zu wandern. Inmitten ihrer Wälle
und Bäume lagen die zerstreuten Gehöfte, kein Laut war hörbar, kein Mensch
sichtbar. Ich kam zu einer Dorfkirche und ging hinein, mich die Kirche war leer;
aber ans dein Innern der Kirche sah man durch die weitgeöffnete Kirchenthür auf
den Friedhof und weiter hinaus ans das Meer, Mir war es, als läge die Ge¬
meinde auf den Knieen, und der Priester segnete vom Hochaltar ans die Lebenden,
die um ihn waren, nud die Generationen, die dahin gegangen waren und auf dem
Friedhof ihre Ruhestätte gefunden hatten, und die vielen, vielen, die das Meer zum
letzten Schlaf gebettet hatte.
Mit dem Beginn des vorletzten Tags des Februars 1871 sollte der Waffen¬
stillstand ablaufen, wenn bis dahin der Friede nicht abgeschlossen wäre. Es ver¬
strich ein Tag nach dem andern, und kein Ergebnis der Friedcnsverhandlnnge».
Unsre Truppen wurden wieder beweglich, hierhin und dorthin wurde konzentriert,
und in die Sorglosigkeit, mit der wir bis dahin gelebt hatten, mischte sich stärker
und stärker das Gefühl der Ungewißheit und der Erbitterung, Ich erhalte am
25. Februar aus zuverlässiger Quelle die Mitteilung, daß der Friedensschluß zwar
uoch nicht offiziell, aber sicher sei, nud trotzdem kommt weder an diesem Tage
noch um nächsten eine Bestätigung, Wir setzen uns am 26, Februar abends zu
einem Skat zusmumcu, um den Befehl und damit die Entscheidung abzuwarten.
Der Befehl kommt, sagt jedoch nichts vom Frieden, bestimmt vielmehr, daß wir uns
marschbereit halten sollen, wenn bis zwölf Uhr nachts kein Gegenbefehl kommt. Wir
warten auch bis zwölf Uhr, aber immer noch kein Gegenbefehl. Ich lege mich zu
Bett, um uoch einige Minuten zu schlafen. Es ist noch dunkel, als ich wieder
geweckt werde; es wird zum Abmarsch geblasen. Also kein Friede. Oräro <lo
We-Mo lautet, daß wir das von den Franzosen besetzte Bvlbee zu nehmen haben.
Ordonnanzen und Adjutanten jagen hin und her, niemand weiß, was werden wird.
Unsre Leute sind wütend oder gedrückt still, je nach ihrem Temperament, dann und
wann hört man einen Fluch oder die Drohung, jetzt keinen Pardon mehr zu geben,
sondern mit Feuer und Schwert alles zu vernichten. Der Morgen graut, Lauquctvt
wird sichtbar, wir machen Halt. Von allen Seiten rücken unsre Truppen heran.
Es kommt die Meldung, daß die Franzosen bis zum Bahnhof Bolbee-Lanquetot
vorgegangen sind und die Höhen bis zur Stadt besetzt halten, „Geladen!" lautet
das Kommando. Wer vergißt den Ernst eines solchen Augenblicks, wenn er ihn
einmal erlebt hat? Und jetzt, wo man sicher auf Frieden gerechnet hat, noch einmal
von vorn anfangen! Durch die Stille tönen kurz und vernehmlich die Kommandos
bei den Kompagnien und Schwadronen, Bewegung kommt in die Massen, vorwärts
geht es gegen den Bahnhof von Lauquetvt. Da kommt ein Dragoner nachgesprengt
mit dem Befehl, zu halten, der Waffenstillstand sei um achtundvierzig Stunden ver¬
längert.
Wir marschierten nach Lanquetot ab. Hierher, als wir uns zum Diner ver¬
sammelt hatten, tum die Friedensbotschaft. „Ist es wirklich wahr? Gott sei Dank!"
sagte unser Ältester. Wir haben nicht darüber gejubelt und nicht darauf getrunken,
aber aufgeatmet haben wir und uns Glück dazu gewünscht, daß wir nun in die
Heimat zurückkehren könnten.
Wie nüchtern erscheint doch alles im grellen Tageslicht! Der Zug fährt in
den Bahnhof Bolbee-Lanquetot ein, wie eine fremde Welt erscheint er mir. Nichts
frischt die Erinnerung an den letzten bedeutsamen Augenblick in Feindesland auf.
Das Stationsgebäude einfach, fast dürftig, wie alle Bahnhofsgebäude in Frankreich,
der Bahnsteig menschenleer, am Ausgang zwei Hotelwagen, deren Kutscher gleich-
giltig den Zug anstarren. Wozu aufsteigen, es hieße der Erinnerung den Reiz
abstreifen. Also vorwärts «ach le Hlivre, das für uns ein unerreichtes Ziel gc-
blieben war, Dn fällt mir ein, daß einer von meinen Kameraden doch dahin gelangt
war. Ob es in Rouen ein Liebesmahl oder eine Kueipenflndicnreise gewesen war, die
er mitgemacht hatte, das weis; ich nicht mehr, jedenfalls war er äußerst ruhebedürftig,
als er sich in den Zug feste, der ihn zu seinem Quartier zwischen Ivetot und
Bulbce bringen füllte. Und der Zug passierte den preußischen Posten der Demar¬
kationslinie, er passierte anch ans dem nächsten Bahnhof den französischen Posten,
niemand bemerkte den schlafenden preußischen Offizier. Der Zug hält in le Havre
im Morgengrauen, der Kamerad wird wach und steigt schlaftrunken aus. Wie er
vom Bahnsteig auf die Straße treten will, kommt ihm soviel zum Bewußtsein, daß
ihm der Ort ganz unbekannt ist, daß sich Menschen um ihn herumdräugen, daß er
Rufe Hort: l^rnssion, un I'russion, »> dö.« lo i>rnKsicui! Die Situation wird un¬
gemütlich, er kaun nicht vorwärts, nicht rückwärts, und wenn er könnte, so wüßte
er nicht, wohin. Da treten zu seinem Glück zwei Gendarmen heran und erklären
ihn für verhaftet. Er wird in einen Raum des Bahnhofs eingeschlossen und nach
einigen Stunden wieder in den Zug geschoben, der nach Rouen abgeht. So war
er in le Havre gewesen, ohne es gesehen zu haben.
Als ich jetzt in den Bahnhof von le Havre einfuhr, wurde auch ich durch eine
gedrängte Menschenmasse, aber in ganz andrer Art überrascht. In le Havre war
seit fünf Tagen Streik der Hafenarbeiter, die Sozialisten hatten sich der Leitung
bemächtigt, es lag ihnen daran, den Streik ans die Nachbarhäfen auszudehnen.
Mein Zug brachte nnn Delegierte ans Rouen und Dieppe, und zum Empfang dieser
war das Aufgebot der Menschenmasse. Vor den Reihen standen zwei Mädchen in
roten Kleidern, roten Strümpfen, roten Schuhen, den Kopf bedeckt mit der roten
phrygischen Mütze. Die Sträuße, die sie hielten, waren aus roten Blumen zu¬
sammengesetzt, rotes Seitenhaut hielt sie zusammen. Dahinter Männer und Frauen
mit roten Schärpen und roten Rosetten. Sie hatten Disziplin, die Leute, kein
Gedränge, kein überlantes Wesen, sondern das ruhige Gebaren der guten Gesell¬
schaft. Es ist merkwürdig, wie tief Höflichkeit und gesellschaftliche Bildung in das
französische Volk gedrungen sind, und wie stark dadurch in ruhigen Zeiten das nervöse
und für jeden Eindruck empfängliche Wesen der Franzosen gemildert und abge¬
dämpft wird.
Le Havre hat mich als Seestadt enttäuscht, durch seine prächtige Lage aber
um so mehr entzückt. Die Stadt hat mit allen Seestädten die Unreinlichkeit in
den Vierteln gemeinsam, ans die sich der Seeverkehr konzentriert. Im Verhältnis
zu den großen Seeplätzen des Kontinents Hamburg und Bremen, Rotterdam und
Antwerpen, Marseille und much Genua schien mir le Havre sehr znrückznstehn. Der
Streik der Hafenarbeiter mag dazu beigetragen haben, daß wenig Leben auf den
Quais herrschte, und die meisten Schiffe still lagen. So günstig die Lage für den
Schiffsverkehr sein mag, da sie das Einlaufen der Schiffe aus der See unmittelbar
in den Vorhafen ermöglicht, so ungünstig ist die Lage für den Fall eines Seekriegs.
Die Stadt geht mit ihren Straße» bis an den ganz ungeschützten Strand, die
Forts, die der Stadt zur Seite liegen, können höchstens die Beschießung durch eine
feindliche Flotte erschweren, aber nicht verhindern. In ähnlicher Weise sind alle
französischen Seestädte am Ärmelkanal einer Beschießung dnrch eine feindliche Flotte
ausgesetzt, und ich schreibe es lediglich diesem Umstände zu, daß in der Buren-
nnd Faschodafrage die Franzosen den Engländern nicht den Krieg erklärt haben.
Es wäre ein Krieg geworden, der Frankreich finanziell nicht bloß schwer belastet,
sondern ruiniert hätte. Erst wenn sich Frankreich eine Schlachtenflotte geschaffen
haben wird, die gegen die englische Küste so vorgehn kann, wie jetzt die englische
gegen die französische, oder wenn die Untersecbvte eine Vollkommenheit erreicht
haben werden, daß sich kein feindliches Panzerschiff ungefährdet vor eine» Hafen
legen darf, kmui Frankreich a» Revanche für Faschvda denken.
Da le Havre erst vor vierhundert Jahren erbaut wurde und sich im letzteir
Jahrhundert erst zur Bedeutung ausgewachsen hat, so sind die Straßen breit und
gradlinig. Dafür fehlt ihnen jeder Charakter, sie sind nüchtern modern mit präch¬
tigen Luder. Im Norden schließen sich dann große. Villcnvorstädte daran, die den
Eindruck der Behaglichkeit machen.
Der Straßenverkehr in den alten Teilen der Stadt ist lebhaft, das Geschrei
auf den Straßen erinnert an Holland. Die erste Rolle spielen hier, wie in allen
größern Städten Frankreichs, die Zeitungsausträger. Durch alle Straßen rasen sie
zu Fuß und zu Rad und rufen die Journale ans, die sie verkaufen sollen. Dann
kommen Karrenschieber mit Obst, Händler mit Leckereien, Muschelverknnfer und
Verkäufer aller möglichen sonstigen Artikel, jeder hält sich für verpflichtet, ans voller
Lunge zu schreien oder zu singen. Ich glaube, diese Ungeniertheit trägt viel dazu
bei, in Frankreich dem Straßenverkehr die Steifheit zu nehmen, die in Deutschland
dein Fremden auffällt. Sonst bewegt sich der Mittelstand der Franzosen ans den
Straßen kaum anders als bei uns. Namentlich um Sonn- und Feiertagen, an
denen alle sonst arbeitenden Leute auf die Landstraße treten, um der Stadt zu
entfliehn und Erholung zu suchen, geht es dort ebenso ruhig und spießbürgerlich zu.
Man sieht dann, daß das Familienleben in der Provinz durchaus gut ist. Draußen
im Freien stellt sich freilich gleich ein Unterschied zwischen den beiden Völkern
heraus. Während der deutsche Ausflügler zunächst ein Wirtshaus aufsucht, um seine»
ewigen Durst zu löschen, verhält sich der Franzose viel mäßiger. Ein sehr geringer
Prozentsah läßt sich zu einem Glase Wein oder Vier nieder, die große Menge
bummelt herum oder lagert sich an einem Aussichtspunkt und unterhält sich. Ein
Aufgehn im Auschau» einer schone» Gegend kennt der Franzose nicht, Sentimen¬
talität habe ich nirgends gefunden. Er giebt sich nicht der Natur hin, sondern
verlangt und ist damit zufrieden, daß diese ihn? einen angenehmen Neiz gewährt.
Im übrigen siud ihm seine Person und seine Interessen wichtiger und interessanter.
Landschaftlich bietet die Lage von le Hnvre sehr viel. Im Süden die breite
Scinemündung und auf der andern Seite den Höhenzug zwischen Honfleur und
Trvuville, im Norden unmittelbar hinter der Stadt aufsteigend das stolze Vor¬
gebirge la Heve mit seinen Villen, seinem Leuchtturm und seiner Notiu-v-une (los
l^Iots. Welches herrliche Bild hat man vor sich, wenn man auf der Nordmole sitzt,
während die Sonne untergeht! In den Fenstern der Villen und Häuschen zwischen
Tronville und Honfleur flimmert und leuchtet es wie Feuer, duftig erscheinen
die Höhen jenseits des Flusses. Auf der Seine werdeu die Farben kräftiger. Das
Vorgebirge la Heve erstrahlt in rötlicher Färbung. Dann schwindet die Sonne
unter dem Horizont, ein letztes Aufleuchten des Himmels, und die Dunkelheit zieht
herauf. Die Menge, die auf der Mole promeniert, lichtet sich, seßhafte Gruppen
bilden sich, die Unterhaltung verliert ihre Lebhaftigkeit. Man hört das Schlagen
der Schiffsschraube eines Dampfers, der aus dem Wasserdunst auftaucht, die Signal-
lichter erscheinen wie glühende Augen eines Ungeheuers. Von la Heve wirft das
Drehfencr des Leuchtturms auf einige Augenblicke weit auf das Meer seine Strahlen
hinaus, von dem Leuchtturm von Trvuville schimmert ein kleines Licht herüber.
Der Lärm der Stadt verstummt, und die Ruhe der Nacht legt sich ans die weite
Fläche.
Der Verlauf der Kmmlkrisis in Preußen hat den pessi¬
mistischen Stimmungen gegenüber, die seit einiger Zeit in der öffentlichen Meinung
die Oberhand zu gewinnen schienen, wieder einmal den Beweis geliefert, daß
der Kurs, den das Stantsschiff verfolgt, fest und sicher von ruhiger, überlegner
Hand geleitet wird. Wer die Urteile der Tagespresse vor und nach dem Land¬
tagsschluß am 3. Mai verfolgt hat, die nicht allein von berufsmäßigen Zeitungs¬
schreibern, sondern von führenden Parteimännern herrührten, wird den erfreulichen
Eindruck von einer sehr starken Abkühlung und Ernüchterung nach ziemlich hohem
Fieber erhalten haben. Und das spricht doch für die gute Konstitution des Kranken
ebenso wie für die Überlegenheit des Arztes. Wir bilden die Kanalvorlage und
die Opposition der konservativen Parteien ihr gegenüber in den Grenzboten einer
scharfen Kritik unterwerfen müssen, deren Berechtigung dnrch den Verlauf der
Kommissionsverhandlungen und ihren Abbruch bestätigt worden ist. Die Schwäche
der Regiernngspvsition und ihre Ausbeutung im politischen Pnrteiinteresse durch
die parlamentarische Mehrheit in dieser um sich ganz unpolitischen, wenn anch hoch¬
wichtigen Frage nationaler Verkehrsentwicklnng gehören der Geschichte an, und alle
Entstellnngs- und Vertuschuugsversuche werden die klar zu Tage liegende Wahrheit
nicht mehr zu fälschen vermögen. Heute auf diese Sünden zurück zu komme», er¬
scheint uus nach der Entschließung der Krone uicht uur unnütz, sondern anch un¬
zulässig. Was man hoffe» kann und verlangen muß, ist vor allein ein ernstes,
ruhiges Jusichgehu der konservativen Parteiangehörigen, sodnß in Zukunft die
schwere» Verfehlungen verhütet werde», deren sich die Parteien unzweifelhaft gegen
die Krone schuldig gemacht haben. Es müßte im höchsten Grade bedauert werden,
wenn sich die Ko»servativen in Preußen der Belehrung, die ihnen in de» jüngsten
Bvrgäugen zu teil geworden ist, verschließen wollten. Die konservative» Parteien
und ihre Presse würden eine unverantwortliche Schuld auf sich laden, wenn sie
sich verleiten ließen, der großen Masse, zumal der draußen auf dem Lande, von
einem Sieg der Parteien über den König vorzupredigen in der Absicht, dadurch
ihre Macht zu erhöhe». Bis jetzt scheint ma» sich ja in dieser Beziehung einer
erfreuliche» taktvollen Zurückhaltung befleißigt zu habe», »»d wir wolle» die Hoff¬
nung nicht aufgeben, daß es dein gesunden monarchischen Sinn der preußischen
Konservative» bald gelingen wird, sich vo» dem Bann los zu mache», in den eine
teils unüberlegte, teils gewissenlose Agitation, die in der Auflehmmg u»d verbissenen
Gehässigkeit gegen die Person des Monarchen ihr wirksamstes Mittel sah, sie nnr
zu sehr schon verstrickt hatte.
Es ist immer mehr die Gepflogenheit der Parteipvlitik aller Richtungen, leider
anch der konservativen geworden, den Parteiirrtümern zu schmeicheln und die
Parteiaugehörigeu ängstlich vor der Erkenntnis der eignen Verfehlungen zu hüten.
Die Grenzboten haben immer wieder die preußischen Konservativen im Interesse
des Konservatismus, der heute allem berechtigt, aber auch dringender notwendig
ist als jemals, auf die verhängnisvollen Praktiken hingewiesen, zu denen die Partei¬
agitation, indem sie namentlich die landwirtschaftliche Krisis cmsbentete, mehr und
mehr ihre Zuflucht unhui, obgleich dadurch, was ganz klar war, die monarchische
Gesinnung in der breiten Masse der ostelbische» Landbevölkermig untergraben
werden mußte; das hatte dann natürlich zur Folge, daß wir uus seit Jahren der
gehässigsten, zum Teil perfidesten Anfeindung der bekannten Fronde gegen de»
sogenannten „neuen Kurs" und des ihr affiliierteu Parteiagrariertums ausgesetzt
sahen. Es war nicht zu vermeiden, und hat uns eher gefreut als geschmerzt.
Wenn die konservative Parteiagitativn den Fürsten Hohenlohe den Altpreußen als
den „süddeutschen. Liberalen" zu verleiden suchte, so ist es uns ein Lob, von ihr
gelegentlich auch liberaler Anschauungen bezichtigt zu werden. Wir verfolgen keine
Partei- und Klasseninteressen und vertreten auch keinen preußische» Pnrtikulnris-
inus. Wir halten uns an kein Parteiprogramm gebunden, sondern verlangen
gerade eine durchgreifende, wenn auch allmähliche Umgestaltung des verlebten, ver-
worrnen, unhaltbare« Parteizustauds. Wir wünschen als wirkliche Konservative
den Ostelbiern recht viel Hohenlohische« Liberalismus, weil dadurch am besten des
Reichs und der Nation Wohlfahrt gedient, der Monarchie jetzt und in Zukunft
die sicherste Stütze geschaffen und des Kaisers patriotischen Wünschen und hohen
Plänen am meisten entsprochen würde. Wenn den Landwirten im Osten vor¬
läufig uoch das Verständnis dafür geraubt wird, so ficht uns das wenig an.
Schmerzlicher schon ist die Wahrnehmung, daß auch in den wissenschaftlich ge¬
bildeten Kreisen Preußens, namentlich im hohem Beamtentum die von der Fronde
geforderte Partei- und Klassenpolitik mit ihrer unausgesetzt gegen den Kaiser und
seinen Kurs gerichteten Spitze immer noch die Gemüter in weitem Umfang ge¬
fangen hält, wie gerade in den letzten Wochen jedem, der Ohren hatte, zu hören,
klar werden mußte. Wir streben nicht nach Agitations- und Massenerfolgen. Aber
dem engern Kreise gebildeter deutscher Mäuner das Verständnis zu wecken und zu
erhalten für den Konservatismus, der gerade in Altpreußen not thut, der sich mit
dein Hohenlohischen Liberalismus deckt, der hoch über dem kleinlichen Partei-,
Klassen- und JnterefscngezKnk steht, und den der Kaiser vor allem von seinen Be¬
amten für die gewaltigen Aufgaben verlangen muß, die er sich stellt und die ihm
gestellt sind —- danach streben wir nach bestem Wissen und Vermögen, und keine
Gehässigkeiten, keine Intriguen von links und rechts werden uns von diesem Streben
abbringen.
Die Verschiebung des Kannlbaus vom Rhein zur Weichsel um ein oder einige
Jahre können wir als kein Unglück ansehen. Abgesehen von der Dringlichkeit des
Gruuderwerbs für die Emscherlinie, ans die schwerlich wird verzichtet werden
können, drängt eigentlich nichts zu besondrer Eile. Wir halten den Ausbau unsers
von Natur schon reichen, aber in gewissem Sinne einseitigen Wasserstraßennetzes im
allgemeinen und den Mittellandkanal, namentlich mit seiner Fortsetzung bis zur
Weichsel, im besondern für eine unabweisbare Aufgabe der nationalen Verkchrs-
politik, und wir würden es mit Freude» begrüßen, wenn anch das Donaugebiet
beizeiten in die Pläne hineingezogen würde. Man wird aber am zweckmäßigsten
einen Teil des Gesamtnetzes nach dem andern in Angriff nehmen und über die
jedesmal nötigen Geldmittel jedesmal besonders beraten und beschließen lassen; das
Zusammenzwängen nicht unbedingt zusammengehörender Projekte in eine Vorlage
aber, wie es in der letzten Vorlage geschehn war, wird vermieden werden müsse».
Ganz besonders wünschenswert wäre es, wenn die große, überaus wichtige Auf¬
gabe einer Dezentralisation der Industrie bei der weiter» Bearbeitung der Kanal¬
projekte eingehende Berücksichtigung funde. Auch sehr bedeutende Geldaufwendungen
sollten nicht gescheut werden, auf diese Weise dem Kanalbau, zumal im Osten, von
vornherein einen günstigen Erfolg zu sichern. Unter nlleu Umständen wird einem
weitern Anschwellen der industriellen und der großstädtischen „Wasserköpfe" durch
die Wasserstraßen vorgebeugt werden müssen. Vorläufig ruht die Kaualvorlagc,
und vor ihrer Neueiubriuguug ist hier nicht der Ort. weiter darauf einzugehn.
Daß sie zur Ruhe gebracht worden ist, muß wegen der bevorstehenden
großen Handels- und zollpolitischeu Entscheidungen im Reiche als ganz besonders
wertvoll erscheine». Wir haben schon im Januar in den Grenzboten betont,
daß die Einbringung der Kaualvvrlage duzn führen würde, daß die auf höhere
Agrarzvllc und namentlich auf ihre vorzeitige Festlegung im Generaltnrif gerichtete
parteiagrarische Agitation noch mehr belebt werden N'urbe, und das ist ja much
reichlich eingetroffen. Trotz aller Versicherungen, daß die Kanal- und die Korn¬
zollfrage ganz voneinander getrennt werden sollten, sind sie thatsächlich agrnrischer-
seits in den engsten Zusammenhang gebracht worden, wie das namentlich aus den
jüngsten Auslassungen in den „Preußischen Jahrbüchern" hervorging. Der Reichs¬
kanzler wird jedenfalls jetzt einen lästigen Druck los sein, wenn er ihn überhaupt
empfunden hat. Vor allem aber kann der Wegfall des in der Kannlfragc ver¬
meintlich gebolneu Druck- und Agitatiousmittcls dazu beitragen, die agrarischen
Heißsporne zu der so dringend notwendigen Mäßigung ihrer Zollforderuugeu zu
veranlassen. Ob dieser Erfolg eintreten wird, liegt zum guten Teil in der Hand
des Reichskanzlers. Daß er mit aller Offenheit und Festigkeit gerade jetzt der
Agrarzvllpartei jeden Zweifel darüber nehmen wird, daß die Fortführung und Er¬
gänzung einer unsrer wirtschaftlichen Expansion förderlichen Haudelsvertragspolitil
unter keinen Umständen durch das Übermaß im Generaltnrif festzulegender Minimnl-
zölle in Frage gestellt werden darf, ist um so mehr zu erwarten, als von den
Intriganten der Fronde erst kürzlich versucht morden ist, ihn in dieser Frage gleich¬
sam gegen den Kaiser selbst scharf zu macheu. Es ist natürlich ausgeschlossen, daß
Graf Bülow für diese Versuche der „Hamburger Nachrichten" eine andre Em¬
pfindung hegt als Verachtung, von wem sie mich ausgegangen sein mögen. Aber
anch jeder Schein, als ob er geneigt wäre, die ihm von dieser Seite angetragne
Siegespalme anzunehmen, würde dazu beitragen, die Einflüsse der von der Fronde
geleiteten ostelbischen Agrardemagogie und ihrer Bundesgenossen im sogenannten
städtischen Mittelstande zu erhalten und zu kräftigen, die die patriotischen, monar¬
chischen, gut konservativen Gefühle der altpreußischen Landbevölkerung seit Jahren
unterwühlen. Wir haben von vornherein unsre Überzeugung dahin ausgesprochen, daß
wenn Graf Bülow von amtlicher Stelle aus der deutschen Landwirtschaft einen ge¬
sicherten, angemessenen und zwar höhern Zvllschutz zugesagt hat, er das in voller Über¬
einstimmung mit seinem kaiserlichen Herrn gethan habe, und wir haben deshalb jeden
Zweifel an der Einlösung dieses Versprechens als eines preußische» Konservativen
unwürdig zurückgewiesen. Wir können uns nicht denken, und können es am wenigsten
als in der notwendigen Machtbefugnis eines Reichskanzlers liegend anerkennen, daß
er solche Versprechungen ohne die Gewißheit vollen Einverständnisses mit dem .Kaiser
abgeben könnte, wie das die Hintermänner der „Hamburger Nnchrichteu" dem Grafen
Bülow unter der Maske fürsorglicher Freundschaft für seine Stellung suggerieren
möchten. Der Kaiser wird am wenigsten dulden, daß der Reichskanzler den Land¬
wirten sein gegebnes Wort bricht, ebenso wenig wie er an der Zusage des Reichs¬
kanzlers, daß die Handelsvertragspolitik mit langfristigen Tarifverträgen fortgesetzt
werden solle, wird rütteln lassen. Wie der Kaiser nicht mir das Recht, sondern die
Pflicht hat, indem er über den Parteien und Interessengruppen steht, die parla¬
mentarische Mehrheit an egoistischen Vergewaltigungen der Minderheit zu hindern,
ebenso hat der Neichsknuzler dieses Recht und diese Pflicht, und wenn ein Kanzler
das nicht erkennen und danach handeln wollte, so würde freilich der Kaiser — was
ihm doch sehr zu wünschen ist — nicht aufhören können, sein eigner Kanzler zu sein.
Ans die Personen der znrnckgetrctnen Minister oder gar ans die der kommenden
hier einzugehn, versage» wir uns. Es kommt dabei nichts heraus- Wir wünschen
dem Grafen Bülow, daß er treue und tüchtige Gehilfen findet sobald als möglich,
in Preußen wie im Reiche, und daß es ihm vor allen Dingen bald gelingen wird,
die Einheitlichkeit im Regieruugsapparat herzustellen, an der es seit einem Jahrzehnt
vielfach sehr gefehlt hat. Diese Aufgabe war 1890 sehr schwer, und sie ist heute
noch schwer. Wer sich dem verschließt, und wer mit Vorwürfen uns den „neuen
Kurs" die Sache abthun zu können glaubt, dem fehlt jedes Verstäuduis für die
Eigentümlichkeit der Lage vor 1890, mit deren Wiederkehr vielleicht in hundert
Jahren nicht zu rechnen ist. Wir sind in Bezug auf den Nachwuchs an Staats¬
männern vorläufig noch sehr wenig Optimisten. Dem Grafen Bülow wird es
ebensowenig erspart bleiben wie dem Kaiser, zeitweise mit Lückenbüßern zu wirt¬
schaften. Um so größer ist natürlich seine Verantwortlichkeit, seine Arbeitslast, aber
auch sein Einfluß und sein Verdienst ums Vaterland. Möchten sich alle vaterlands¬
liebenden Parteien ernstlich bemühn, ihm die ungeheure Last der inuerpolitischeu
Aufgaben nach Kräften zu erleichtern. Das muß um so mehr gewünscht werden,
je mehr sich die Aufgaben der äußern Politik, wie das jetzt entschieden der Fall ist,
in den Vordergrund drangen. Was will schließlich das bischen Mittellandkanal
und das bischen Kornzoll sagen gegenüber dem Ringen des Reichs um seine Welt-
stellung; dabei handelt es sich um seine Existenz, wie es uns von Monat zu Monat
c>is harte, unerbittliche Notwendigkeit immer klarer vor Augen tritt. Wahrhaftig, das
ist doch heute die Hauptsache und die Hauptsorge, und und vollem Vertrauen sehen
darin, Gott sei Dank, alle, die nicht vaterlandslos sind links oder rechts, auf den
Mann, den der Kaiser uns Steuer gerufen hat, auf den Reichskanzler Grafen
Bül
In kleinen Städten bereitet das höhere Schul¬
wesen teils den Familienvätern, teils den Stadtvätcrn schwere Sorgen. Die Stadtväter
lassen sich durch das Drängen der Familienväter zur Gründung von höhern Lehr¬
anstalten verleiten, denen die Finanzkraft des Städtchens nicht gewachsen ist, und die
trotz schwacher Frequenz mit ungeeigneten Schülermaterial überladen werden. Ge¬
schieht das aber nicht, so sind die Eltern bessern Standes und die Eltern begabter
Knaben genötigt, ihre Sohne zu früh auf eine auswärtige Anstalt fortzugehen. Die in
manchen Gegenden üblichen Rektor- und Präfektenschulen aber, die als Lückenbüßer
dienen, leiden an manchen Mängeln. Diese Mängel nun scheinen um einer Anstalt
dieser Art geschickt vermieden worden zu sein. Dr. Sebald Schwarz hat diese
Sprachschule im 2. Heft des Bandes 103 der Preußischen Jahrbücher beschrieben
und bittet uns, seinem Aufsatze zu weiterer Verbreitung zu verhelfen. Wir können
nun natürlich nicht einen Artikel der Preußischen Jahrbücher abdrucken, aber da
die Sache wirklich von Wichtigkeit ist, Wollen wir unsern Lesern wenigstens das
wesentliche daraus mitteilen. Im holsteinischen Neustadt, einem Städtchen von
4000 Einwohnern, ist seit vierzig Jahren an der sehr guten Volksschule ein aka¬
demisch gebildeter Lehrer angestellt, der den talentvollen Schülern der obern Klassen
Unterricht in den alten und den neuen Sprachen erteilt. Die Schüler der Sprachschule
können wöchentlich sechs Stunden Latein, vier Stunden Französisch, vier Stunden
Englisch, außerdem als Privatstunden Griechisch und beim Rektor Mathematik haben.
Nicht alle haben alle diese Fächer, und der Rektor, der die Schüler genau kennt,
bestimmt nach den Fähigkeiten jedes einzelnen darüber, wie viel und welche Fächer er
mithalten soll. Je nach Zahl und Art der Stunden, die einer in der Sprachschule
hat, wird er von mehr oder weniger Stunden des Vvllsunterrichts befreit. Die
Abteilungen bestehn uicht aus feste» Schülergruppcn, souderu je nachdem einer mit
fortkann, gehört er in dem einen Fach einer höhern, in einem andern einer niedern
Abteilung an; wer rasch fortschreitet, wird nicht zurückgehalten, der Langsame nicht
über seine Kräfte getrieben. Auch in demselben Fach werden die einzelnen Abteilungen
bald getrennt, bald zusammen unterrichtet.
Diese Einrichtung, die übrigens schon Pestalozzi getroffen hatte, sichert die Lehrer
vor der Plage des ungeeignete» Schillermaterials und die Schüler vor den Plagen
der Überbürdung der Schwachen und der Langeweile, zu der die Begabtesten in
gewöhnlichen Schulen verurteilt sind, mit einem Wort, sie macht die individuelle
Behandlung möglich. Die Erfolge dieser Schule, die gegenwärtig siebzehn Schüler
zählt, sollen glänzend sein. Manche bereiten sich darin nur für die Kaufmanns¬
lehre vor, die aber aufs Ghmnasium übergehn, werden mit fünfzehn Jahren gute
Obertertianer oder Untersekundaner und zeichnen sich von den Durchschnitts-
ghmnasiasten durch Frische und Lernfreudigkeit aus. Man sage nicht: Was kümmert
uns eine Schule vou siebzehn Schülern in einem winzigen Städtchen! Es giebt
in Dentschland vielleicht zweitausend kleine Städte, deren Bürgerschaft und Jugend
uuter den bestehenden Verhältnissen leidet; es kann sich dabei um dreißigtausend
und mehr Knaben handeln. Die sind es schon wert, das; man den in dem hol¬
steinischen Städtchen verwirklichten Gedanken erwägt. Schwarz weist auch ans die
sozialen Wirkungen hin, die die Verallgemeinerung der Einrichtung haben würde;
sie würde den Zug nach der Großstadt abschwächen, denn viele ziehn nur der er¬
leichterten Schulung ihrer Kinder wegen dorthin, und sie würde zur Versöhnung der
Klassen beitrage», weil die Schiller einer solchen Sprachschule länger mit den Kindern
des ärmern Volks znsnmmensitzen. Freilich dürfte bei der Verwirklichung dieses
Reformgedankens nicht vergessen werden, daß in einer solchen Schule noch viel
mehr als in unsern gewöhnlichen Anstalten auf die Persönlichkeit des Lehrers an¬
kommt. Wenn man vor allem auf Wohlfeilheit halten und meinen sollte, durch-
gefallue oder verbummelte Kandidaten seien gut genug für so ein paar Söhne
nicht sehr vornehmer Eltern, dann wäre die Sache von vornherein verpfuscht.
Von den Antillen zum fernen Westen. Reiseskizzen eines Naturforschers. Von Frnnz
Doflein. Jena, Gustav Fischer, 1900
Für frische, warm empfuudue Reiseschilderungeu bleiben wir immer empfänglich.
Das Publikum kauft zwar solche Bücher nicht in Massen wie Romane, wie uns
die Verleger versichern, aber gelesen werden sie fleißig, wie wir aus eigner Er¬
fahrung bestätigen können. Das vorliegende Werkchen zeichnet sich durch treffliche
Natur- und Völkerschilderungen aus, denen man es anmerkt, daß der Verfasser nicht
bloß naturwissenschaftlich beobachtet, er ist Zoologe, sondern anch künstlerisch sieht
und wiedergiebt. Schade, daß er aus seinem eigensten Studiengebiet, dem Tier¬
leben des Antillenmeeres, nicht mehr geboten hat. Dein künstlerischen Zug der
Schilderung entspricht die hübsche bildliche Ausstattung. Wer Reiseschilderungeu
vergleichend betrachtet, wird in der Dofleinschen den koloristischen Zug in der Dar¬
stellung der Naturszenen beachten. Gegenüber seinen genauen Angaben über die
Farben in der tropischen Landschaft möchte man sogar A. von Humboldt als nahezu
farbenblind bezeichnen. Gesehen hat dieser ja annähernd dasselbe wie Doflein, aber
feine Landschaften begnügte er sich in Umrissen zu zeichnen und leicht zu kolorieren:
genau wie die Maler seiner Zeit.
ind große Männer wirklich im gewöhnlichen Sinne glücklich?
Man wird diese Frage schwerlich ohne weiteres bejahen wollen.
Gewiß haben sie mehr oder weniger zahlreiche Stunden stolzer
und froher Erhebung, in denen ihnen das Bewußtsein ihrer Be¬
deutung, das Hochgefühl ihrer Erfolge die Seele schwellt; aber
die Erinnerung an eine ungeheure Verantwortung wird dieses vorübergehende
Glttcksgefühl immer wieder dämpfen und zurückdränge». Sogar ein Bismarck
wollte in einem langen Leben voll der größten Erfolge nur von wenig
Stunden ungetrübten Glückes Nüssen. Und wie er, so haben auch andre große
Männer ein wirkliche?, innerliches Glück nnr im engsten Familienkreise ge¬
funden; andre haben auch dieses schmerzlich entbehren müssen, zumal Fürsten,
denen die Wahl der Lebensgefährtin zu allen Zeiten so oft durch äußerliche
Rücksichten auferlegt worden ist, wie z. B. Friedrich der Große.
Woher kommt das? Wie erklärt es sich, daß an dem Leben großer Männer
so häufig etwas wie ein Fluch haftet, daß es so oft etwas Tragisches hat?
Die Grieche» sahen darin den Neid der Götter, die den Menschen keine An¬
näherung an ihre Sphäre erlauben, oder sie schrieben das der v/^,^ zu, dem
über das Menschliche hinausgehenden Streben, das, indem es die Schranken
des allgemein Menschlichen überschreitet, die sittliche Vergeltung herausfordert;
ja Herodot hat auf diese Idee seine ganze geschichtsphilosophische Anschauung
begründet, und die attischen Tragiker werden nicht müde, vor der -v/S^ zu
warnen, deren Typus ihnen Tantalvs und die Tantalideu sind, und die
v'all</^<im>//, die Selbstbescheidung und Selbstbeschränkung zu preisen. Sie
wußten wohl, warum sie es thaten. Denn die antiken Menschen, durch kein
festes, objektives Sittengesetz in ihrer Selbstsucht gebändigt, neigten an sich zur
ü/^> und gereichten ihrem Vaterlande trotz reichster Gaben oft weniger zum
Segen als zum Fluch. Der Typus des „Übermenschen," der rücksichtslos seinen
Instinkten und seinen Interessen folgt, ist keineswegs modern, sondern antik,
nicht christlich, sondern heidnisch, schon, deshalb, weil die antike Gottesidee
zwischen der Gottheit und dein Menschen keine so unüberbrückbare .Kluft be¬
festigte wie dus Christentum. Wenn heute der Typus wieder aufgetaucht ist,
so ist das rein theoretisch; unsre nervös gewordne Männerwelt hat nicht das
Zeug dazu, ihn zu verwirklichen. In die Reihe der antiken Übermenschen ge¬
hört Alkibiades von Athen, der abwechselnd Hochverräter und Retter seines
Baterlandes ist, heute zum Tode verurteilt, morgen jubelnd begrüßt wird, ge¬
hört aber mich Alexander der Große, seitdem er sich als Sohn eines orien¬
talischen Gottes proklamierte und damit die Vergöttlichung der Herrscher ein-
leitete, die im Knechtssinn der Völker ihre Ergänzung fand, gehört endlich
Cäsar, der sie auf das Abendland übertrug und schließlich doch daran zu Grunde
ging, daß er mit der Aufrichtung seiner thatsächlichen Alleinherrschaft zwar
das politisch Notwendige that, aber in dein Gefühl einer ungeheuern Über¬
legenheit mit den Einrichtungen und Anschauungen seines Volks allzu schroff
brach, sodaß nicht er der Gründer des Kaisertums wurde, sondern sein ma߬
vollerer Adoptivsohn und Nachfolger Augustus, Das Christentum steigerte
das Gefühl der sittliche» Verantwortlichkeit und drängte damit die alte L/?^
zurück. Wohl lebte seitdem in den Herrschern das Bewußtsein, von Gottes
Gnaden zu sein, keine irdische Gewalt über sich zu haben und also auch keiner
verantwortlich zu sein; aber gerade diese Empfindung schärfte das Verant¬
wortlichkeitsgefühl, lind in den bedeutendsten Fürsten des Mittelalters, wie es
.Karl der Große und Otto der Große waren, um meisten. Wenn sie Unge¬
wöhnliches und vielleicht Unerreichbares wollten, die politische Zusammenfassung
der westeuropäischen Kulturvölker, so floß dieser großartige Gedanke nicht aus
der Selbstüberhebung, der -i!/?^, sondern ans einem hohen Ideal. Vollends
die großen Hohenzoller» haben dieses Vera»twortlichkeitsbeUnißtsei» im höchsten
Maße empfunden; Friedrich II.. der auf sein ererbtes Königsrecht so stolz war
wie irgend einer, betrachtete sich doch als den ersten Diener seines Staats und
hat danach bis zu seinem letzten Augenblick gehandelt. Dagegen zeigt Na¬
poleon I. in der Maßlosigkeit seiner größten Pläne etwas von antiker
ganz natürlich, weil er el» Usurpator war, der alles seiner eignen Kraft ver¬
dankte und mit dem Volke, das er beherrschte, als ein Stammfremder gar keine
innern Beziehungen hatte, darum auch die sittlichen Schranken und Pflichte»
»icht kannte, die eine ererbte Gewalt und der Zusammenhang mit dem eignen
Volke dem Herrscher ziehen. Sogar Ludwig XI V. hat trotz aller Neigung zur
Selbstvergötterung niemals so durchaus unfranzösische, persönliche Politik ge¬
trieben wie Napoleon I., weil er eben ein Vourbon und ein Franzose war.
Aber wenn der Fluch der ,"/?^ »ur »och selten an einem großen modernen
Lebe» haftet, so ist ein andrer fast unvermeidlich und zu allen Zeiten mit
menschlicher Größe verbunden gewesen, die innere Einsamkeit, dus Gefühl der
Vereinsamung. Jeder große Mann hat etwas Dämonisches an sich, etwas,
was über das allgemein Menschliche hinausgeht und darum von den Menschen
»icht verstände», nicht empfunden wird. Stehn sie ihm in ihrer Empfindungs-
weise fern, so bleibt auch er ihnen in der seinen fremd. Wen» die Mensche»
am Kleinen, Einzelnen, Gewohnten haften, n>cum ihre beschränkte Sehkraft nur
über ein enges Gesichtsfeld hin reicht, so überschaut der große Mann weite
Fernen und innere Zusammenhange, von denen der Durchschnittsmensch nichts
ahnt, Damm sind diesem seine Handlungen oft ganz unverständlich, und die
Kritik, die er an ihnen zu üben versucht, fällt deshalb oft so kindisch unreif
aus, Auf der andern Seite wird deshalb die niedrige Schätzung der Menschen,
ja die Menschenverachtung eine ganz natürliche Empfindung, nicht nur bei
Feldherren, wo die Geringschätzung des Einzellebens einem großen Zwecke
gegenüber in der Nntur der Sache liegt keiner ist darin weiter gegangen
als Napoleon 1, —, sondern auch bei Staatsmännern , die immer das Ganze
im Auge haben müssen. Beiden werden die Menschen deshalb nur Werkzeuge,
Schachfiguren, die sie hin- lind herschieben oder beiseite werfen, ohne viel nach
ihren Empfindungen und Sonderinteressen zu fragen. Bei Friedrich dem Großen
war das namentlich in der zweiten Hälfte seiner Negierung ein besonders aus¬
geprägter Zug, und Bismarck hat nicht anders gehandelt; was ihm in den
Weg kam, das schob er beiseite oder zertrat er. Noch in seinen „Gedanken
und Erinnerungen" klingt das nach in den herben, oft geradezu schonungsloser
Urteilen, die er über fast sämtliche Persönlichkeiten seiner Umgebung fällt, und
die alles andre sind als historische Wahrheiten; denn die relative, wenigstens
subjektive Berechtigung eines abweichenden Standpunkts kommt ihm gar nicht
in den Sinn, eben weil er immer als handelnder Staatsmann schreibt, nicht
als Historiker, Darum ist ihm das Gefühl innerer Vereinsamung, trotz des
innigen Verhältnisses zu Frau und Kindern und trotz des regen lebendigen
Verkehrs, worin er fast bis zuletzt gestanden hat, schwerlich erspart geblieben,
so wenig wie Friedrich dem Großen, Wird ihm doch die Äußerung einem
hohen Beamten gegenüber zugeschrieben! „Haben Sie noch das Bedürfnis,
Ihre Mitarbeiter zu achten? Ich nicht," Welch herbe Menschenverachtung,
welches Gefühl unendlicher Überlegenheit spricht aus diesen schrecklichen Worten!
Friedrich der Große vereinsamte viel früher, da er kein Familienleben führte.
Den Ersatz, den er während der ersten Jahre im Umgang mit vertrauten
Freunden fand, verdarb er sich selbst immer wieder sehr bald, weil keiner ihm
geistig gewachsen war, und also keiner ihm ans die Dauer genügte. So wurde
^ frühzeitig ein einsanier harter Mann, viel bewundert, aber wenig geliebt,
und bei seinem Tode atmeten gerade die erleichtert ans, die am meisten mit
ihm zu thun gehabt hatten. Dieses Gefühl, doch schließlich für Menschen zu
arbeiten, die tief nnter ihnen stehn, flößt großen Männern anch oft genug,
wenn auch vorübergehend, sogar Zweifel an der innern Berechtigung ihres
Wirkens ein. In seinen spätern Jahren hat sich sogar Martin Luther zu¬
weilen mit solche» Gedanke» gequält, wenn er überschaute, was aus der von
ihm entfesselten ungeheuern Bewegung hervorgegangen war, wie viel Unheil
sich neben so vielem Großen um seine Fersen geheftet hatte; und Bismarck hat
"i trüben Stunden darüber geseufzt, daß er drei große Kriege veranlaßt und
dadurch wohl viele Menschen unglücklich, aber wenige glücklich gemacht habe.
Nur sehr starke, auf fester religiös-sittlicher Grundlage stehende Menschen, die
in sich etwas von göttlicher Berufung fühlen, können solche Zweifel hegen,
ohne in Verzweiflung zu verfalle»,
Empfindungen solcher Art müssen durch die Masse von Feindseligkeit ver¬
stärkt werden, die jeder große Mann gegen sich aufregt. Um des Ganzen
mulier muß er unzählige persönliche Interessen verletze«, die an sich berechtigt
sind, festgewurzelten, liebgewvrdnen Gewohnheiten und Anschauungen entgegen¬
treten. Abneigung und Haß der Betroffnen sind die Folge, um so mehr, je
weniger verständlich seine Ziele zunächst sind, oder je weniger ihre Berechtigung
allgemein anerkannt wird. Es ist die natürliche Reaktion. Einen großen
Fürsten pflegt sie weniger zu treffen, schon weil das, was in seinem Namen
geschieht, als nicht unmittelbar von ihm herrührend betrachtet werden kaun;
»in so mehr trifft sie andre. Ein Herrscher freilich wie Napoleon >. hat unter
den von ihm besiegten Völkern einen furchtbaren Haß ganz persönlich gegen
sich erregt, mit Recht, weil er in der That seine Politik ganz persönlich machte;
aber die leidenschaftliche Feindseligkeit, die in Preußen und Dentschland die Politik
Wilhelms I. im Anfange der sechziger Jahre hervorrief, hat direkt Nieniger ihn,
als Bismarck getroffen, wieder mit Recht. Denn die Seele dieser Politik, die
mit alle» Empfindungen seines Volks im schroffsten Widerspruche stand, war
er und nicht sein König, Den Haß, der ihn damals verfolgte und bis zu
meuchelmörderischen Anschläge» führte, hat er später, als die Mehrheit der
Nation ihn begriffen hatte und bewunderte, durch den Kulturkampf und das
Sozialistengesetz in weite» Volkskreisen aufs neue erregt, und dieser hat sich
»och heute nicht ganz beruhigt, obwohl von der Maigesetzgebung nicht mehr
viel und vom Sozialistengesetz gar nichts mehr übrig ist. Ja, der gewaltigste
Staatsmann des Jahrhunderts hat im Reichstage überhaupt niemals eine sichere
Mehrheit zusammenbringen können!
Freilich kommt dabei auch noch etwas andres in Betracht, das ist der
gemeine Neid gegen alles Große, der nirgends widerwärtiger und niederträch¬
tiger ist als in demokratischen Zeiten. Deun die Demokratie beruht auf der
Fiktion, daß alle Staatsbürger einander gleich seien; sie kann also Männer,
die dieser willkürliche» Voraussetzung widersprechen, grundsätzlich nicht dulden.
Die oft erzählte Geschichte, daß in Athen ein einfacher Bürger seine Stimme
für die Verbannung des ihm persönlich ganz unbekannte!? Aristides abgiebt,
nur deshalb, weil er sich darüber ärgert, daß der Mann allgemein der Ge¬
rechte heißt, ist dafür typisch. Schade, daß uns die Geschichte den Namen
dieses Biedermanns nicht aufbewahrt hat; er würde für demokratische Neider
großer Männer ebenso typisch sein, wie Klevn für demokratische Maulhelden,
Ephialtes für Landesverräter, Noch viel schimpflicher war es, daß die Athener
deu Themistokles, den Sieger von Salamis, später nicht nur stürzten, sondern
schließlich als Landesverräter verfolgten, weil die Demokratie seine Größe nicht
ertrug. Und wie verstanden später seine Gegner deu großen Perikles, mit dem,
wie man schon damals gennn wußte, die Größe Athens stand und fiel, ins
Herz zu treffen, als sie die Anklage wegen Gottlosigkeit gegen seine geistvolle
Gattin Aspasia erhoben, natürlich i» lautern Eifer für die durch diese» Weib
lichen Freigeist gefährdete Religion!
Die Gegenwart hat keine Ursache, sich hier eines Fortschritts zu rühmen.
Im Gegenteil, seitdem die französische Revolution die allgeineineii Menschen¬
rechte proklamiert hat, ohne ihnen die Menschenpflichten gegenüberzusetzen,
seitdem ist die demokratische Neidhammelei und Gleichheitsflegelei bedeutenden
Männern gegenüber überall riesengroß ins Kraut geschossen, nicht zum wenigsten
in Dentschland, wo die Nörgelsncht obendrein zu den wertvollsten National-
tugendcn gehört. Sachliche Bedenken waren es wahrhaftig nicht, die 1883 die
Mehrheit des deutschen Reichstags bestimmten, eine zweite Direktorstelle für
das Auswärtige Amt trotz oder auch wegen der dringendsten Befürwortung
Bismarcks abzulehnen, sondern der ganz genieine Kitzel, den Gewaltigen,
dessen Überlegenheit die kleinen Geister des hohen Hanfes so oft knirschend
empfanden, einmal die Macht des Reichstags empfindlich fühlen zu lassen. So
etwas muß wohlthun.
Wer von solchem Neid und solchem Haß getroffen wird, empfindet das natür¬
lich als schwarzen Undank, und in der That gehört Dankbarkeit gegen große
Männer nicht zu den hervorstechenden Tugenden der Völker. Fürsten sind
ihren Mitarbeitern, oft dankbar, und keiner war es mehr, als Kaiser Wilhelm I.;
ein Volk ist selten dankbar, denn der Dank kann immer nnr einer Persönlich¬
keit gelten, mit der man sich innerlich verbunden fühlt, die man versteht, und
große Männer werden vom Volke selten verstanden. Leichter als überragende
Größe erträgt es Schwächen, weil diese ihm den Mann menschlich näher
rücken, ihm vertraulicher machen. Bismarck hat gewiß die Dankbarkeit, man
kann sagen des Kernes der Nation in hervorragendem Maße erfahren; aber
so recht nahe gekommen ist er ihr doch eigentlich nicht als der alles bezwingende
gewaltige Staatsmann und nicht wegen der Eigenschaften, die ihn dazu machten,
sondern erst dann, als man einen Einblick in seine rein menschlichen Züge
gewann, und das geschah im vollen Maße erst nach seiner Entlassung, die zu¬
gleich die menschliche Teilnahme für ihn aufgeregt hatte, weil er als der schwer
Gekränkte erschien. Seitdem hat sich sein Bild in der Volksphantasie merk¬
würdig verändert. Die harten Seiten seines heroischen Charakters, die dem
Staatsmann am wenigsten fehlten und fehlen durften, sind übermalt und ver¬
wischt, und Bismarck erscheint nicht mehr so sehr als der eiserne Kanzler, der
jeden Widerstand zerbrach, der große Streitrcdner, der furchtbare Gegner,
sondern mehr als der liebenswürdige, gastfreie, große Herr, der bezaubernde
Plauderer und Erzähler, der zärtliche Gatte und Vater, und lebendiger ist
heute das Bild seiner Erscheinung in der Zeit seines Ruhestands, im langen
schwarzen Rock mit weißer Halsbinde und großem Filzhut, als in der Kürassier-
uniform, die er seit .1.870, solange er im Dienste war, fast immer trug.")
Treuer ist durch diesen Wandel der Auffassung sein Bild nicht geworden, und
es ist auch kein Glück für uns, das; das erste gegen das zweite zurückgetreten
ist. Den» mit dein Bilde des Bismarcks im Ruhestunde verbindet sich die
Erinnerung an seine Entlassung, das frühere führt uns die große Zeit Wil¬
helms I. vor Augen, wirkt also erhebend; das spätere nährt eine Stimmung,
die, so begreiflich sie sein mag, doch zu gar nichts nützt, sondern nur schäd¬
lich ist.
Denn wenn Neid und Haß große Männer in ihrer Wirksamkeit hemmen
und stören, so kann das Gegenteil, kritiklose Bewundrung, zu einer Gefahr
weniger für sie selbst als für ihr Volk werden, Schmeichelei und Liebedienerei,
die sich oft um sie drängen, machen auf wirklich große Naturen wenig Ein¬
druck; wer sich von ihnen bestimmen läßt, gehört nicht in diese Reihe, Viel
schlimmer, zuweilen geradezu als ein Fluch, wirkt die Vewundruug, nicht an
sich — denn der Heroenkultus ist etwas durchaus Berechtigtes und Uueut
behrlichcs —, wohl aber dann, wenn sie ans jedem Ausspruch, den ein großer
Mann bei einer bestimmten Veranlassung gethan hat, einen Glaubenssatz, ans
jeder Maßregel oder jeder Richtung seines Handelns eine unverbrüchliche, für
alle Zeiten, giltige Regel machen, kurz seine Worte und Werke gewissermaßen
dogmatisieren will. Das Dogmntisieren ist zuMeilen unvermeidlich, weil die
unselbständige Masse der Menschen einen festen Halt verlangt, an den sie sich
ohne eignes Nachdenken anklammern kaun; aber ein Nachteil ist es immer,
denn es beschränkt den Gesichtskreis und die Bewegungsfreiheit, es wirkt er¬
starrend und verknöchernd. Schwer hat besonders das deutsche Volk nach
seiner ohnehin doktrinären Anlage unter der Dogmatisiernng dessen, was seine
größten Männer gedacht, gesagt und gethan haben, gelitten. So ist Martin
Luthers Wirken frühzeitig dogmatisiert worden, weil man ihn beinahe als einen
Religionsstifter, nicht als einen Reformator nnter andern behandelte. Sein
Glaubensbekenntnis galt nicht als ein Zeugnis seines Glaubens, der religiösen
Anschauung seiner Zeit, sondern als ein unbedingt bindendes Gesetz, von
dem jede Abweichung eine Ketzerei war, die zwar nicht mit Feuer und Schwert,
aber doch mit kirchlicher Ausschließung und schweren Nechtsnachteilen bestraft
wurde; seine Kirchenverfassung, wahrhaftig für ihn selbst nur ein Notbehelf,
der aus der deutschen Kleinstaaterei hervorging, als sich die Reichsgemalt und
die Bischöfe der unvermeidlichen Reform versagten, und dem deutschen Parti-
kularismus die Kirche überliefert hat bis zur Stunde, wurde zu einem Werl-
zeuge der Herrschaft des ständischen Staats über die geduldigen Unterthanen
vom „Nährstande," die der Regierung und den Grundherren gehorsam die
Steuern zahlten und die Heilsmittel der Kirche ans den Händen des „Lehr-
stands" gläubig empfingein Seine auf die Spitze getriebne Lehre vom „lei¬
denden Gehorsam" „sog deu Lutheranern daS Mark des Willens ans den
Knochen," So verkümmerte dieses gewaltige, einst weltbeherrschende Volk in
ödem Kleinkram, es wähnte, sich einrichten und seine kirchlichen Zänkereien
ausfechten zu können ohne Rücksicht auf die große Welt ringsum, als wenn
es auf einer Insel im Ozean gelebt hätte und nicht in der Mitte Europas;
es verlor darüber den Rest seiner Weltstellung, und es war, als die römische
Reaktion, von der ersten Weltmacht der Zeit getragen, energisch einsetzte, so
unbehilflich und wehrlos geworden, daß es ohne fremde Hilfe schmachvoll er¬
legen wäre. Von der feurigen Thatkraft, dem bergeversetzenden Glauben
Martin Luthers war in den, lutherischen Teile des deutschen Volks gar nichts
mehr, weil es sich in allein Wandel der Zeiten allzu sklavisch an feine Lehre
geklammert hatte, statt sein Wesen in sich lebendig zu erhalten; es verstand
nur noch zu leiden, nicht mehr zu handeln. Darum ist die ganze geistliche
Dichtung der Zeit fast nur eine wehmütige Klage über das irdische Jammer¬
thal, das mir von der Hoffnung auf ein besseres Jenseits schwach erhellt wird;
die Poesie eines thatkräftigen, glaubeiisfreudigeu Volks, wie es die kalvinischen
Niederländer waren, ist sie nicht.
Rascher ist das friederizianische Preußen von seinem Schicksal ereilt
worden. Nicht daß es von den Bahnen Friedrichs des Großen abwich, hat
es nach Jena und Tilsit geführt, sondern daß es ihnen allzu lange und allzu
ängstlich treu blieb. Unverändert blieben auch in dem zwischen 1786 und 180K
fast um das Doppelte seines Umfangs vergrößerten Staate die alten schmalen
Grundlagen, Beamtentum und Heer, die alte Gliederung der Behörden, die durch
den raschen GcbictsztUvachs immer schwerfälliger, nnübersichtlicher wurde, die
schroffe rechtliche Scheidung der Stände, die Vildnng und Taktik des Heeres.
Darum genügte ein Stoß, um das scheinbar so fest gefügte Gebäude in Trümmer
zu werfen, ein Schlachttag im thüringischen Saalgelände, um das Land bis
an die Weichsel in die Hände des Siegers zu liefern, Friedrich der Große
hat eben mehr eine längst begonnene Entwicklung, die Ausgestaltung Preußens
zur Großmacht und zum festgefügten absoluten Staate, abgeschlossen, als eine
neue Zeit begonnen. Diese heraufzuführen, genügte es deshalb nicht, in seinen
Bahnen einfach weiterzngehn, sie mußten verlassen werden, und sie sind seit
1807 verlassen worden.
Auch die Bismarckische Politik, die ans die Vergrößerung des preußischen
Staatsgebiets, die Auseinandersetzung mit Österreich, die feste Einigung der
deutschen Staate» mit Preußen, die Abwehr Frankreichs gerichtet war, hat
vor allem den glänzende» Abschluß einer jahrzehntelangen Entwicklung Preußens
und Deutschlands herbeigeführt, ganz neue Bahnen aber mehr im Innern ein¬
geschlagen, indem sie vor allein die soziale Gesetzgebung Steins »ut Harden-
bergs mit genialen Blick sozusagen auf die städtischen Arbeitermassen übertrug.
Wenn mau diese Thatsache konstatiert, so wird Bismarcks unvergleichliche
Wirksamkeit damit so wenig herabgesetzt wie mit dem ähnlichen Urteile über
die historische Stellung Friedrichs des Großen. Ist doch jeder Abschluss zu¬
gleich die notwendige Voraussetzung zu einer neuen Entwicklungsreihe, nur
daß ein solcher Abschluß niemals als endgiltig aufgefaßt werdeu darf. I»
die Kolonialpolitik ist Bismarck erst sehr spät nud mehr versuchsweise einge¬
treten; ein dringendes Bedürfnis war sie ihm so wenig, daß unter ihm. der
doch durch sie geforderte Ausbau der Flotte unterblieb, und daß er in den
„Gedanken und Erinnerungen" mit Stillschweige» darüber hinweggeht. Die
Politik Wilhelms II. ist dagegen mit vollem Bewußtsein und ganzem Nach¬
druck zur Weltpvlitik übergegangen, muß also vielfach auf neuen Bcchueu
Wandel». Denn um die Enthaltsamkeit ist es eine schone Sache, aber für
einen Staat kaun sie zur tödlichen Schwäche werden, und Deutschland hat so
viele Gelegenheiten unnüederbriuglich versäumt, daß es sich deu Luxus weiterer
Versäumnisse nicht erlaube« darf. Aber gerade weil die Regierung in der
klaren Erkenntnis, daß das unter Wilhelm I. und Bismarck schwer Errungne nur
dann erhalten werdeu kaun, wenn man über die von ihm eingehältnen Grenzen
hinausgeht, wenn man es weiterbildet, deshalb erheben die kritiklosen Be¬
wundrer Bismarcks die schwerste» Borwürfe gegen sie; immer wieder »ruß sie
sich jede Einzelheit seiner Politik als unverbrüchliches Gesetz für Gegenwart
und Zukunft vorhalten lassen. Nicht mir die Tagespresse thut das mit Vor¬
liebe, sondern auch Fürst Herbert Bismarck, der sich offenbar ganz als den
Erben der Traditionen seine? großen Vaters und als ihren berufnen Ausleger
betrachtet, hat das letzthin dnrch seine Kritik unsrer chinesischen Politik im
Reichstage gethan. Sollte das ein Vorstoß gegen die heutige Politik sein,
so war er zu matt, und sollte in der Betonung des Unterschieds ein Vorwurf
liegen, so war dieser grundlos; Graf Bülow hatte also völlig Recht, wenn er
die Kritik in den höflichsten Formen, aber in der Sache sehr entschieden zurück¬
wies. Noch vorsichtiger und zurückhaltender hat sich Fürst Herbert später in
seinem altmärkischen Neichstagslvahlkreise zu Burg und Genthin geäußert;
aber er hat doch auch dort gesagt, daß wir in der auswärtigen Politik anders
(also in seinen, Sinne offenbar schlechter) dastünden als vor zwölf Jahren,
und daß darüber bei der Mehrheit der Bevölkerung und der Presse „eine ge¬
wisse Unruhe" herrsche. Eine solche Empfindung hat weiter nichts Auffälliges,
denn die Deutschen müssen sich eben erst an die neuen politischen Aufgaben
gewöhnen, und das wird nicht gefördert, wenn man ihnen fortwährend vor¬
redet, daß es jetzt schlechter mit uns stehe als vor zehn oder zwanzig Jahre»,
ohne daß ma» diese Behauptung doch im einzelnen zu begründe» wüßte. Un¬
endlich stärker als jetzt war die „Unruhe," als das Ministerium Bismarck 1862
seine Wirksamkeit begann; damals galt Bismarck fast alle» guten Patrioten
keineswegs für el» Genie, sonder» als el» verwegner, waghalsiger Spieler,
der Preuße» ins Unglück stürzen werde, und er erfreute sich deshalb des all¬
gemeinsten Mißtrauens.
In der That hat die landesübliche gedankenlose Dogmatisierung von
Ansprüchen und Maßregeln Bismarcks, die doch immer einer ganz besondern
Lage entsprangen und in ihr begründet waren, ihr sehr Bedenkliches; sie ver¬
dunkelt nur die wirklichen Verhältnisse und erschwert den Deutsche,, das Ver
Stambuls der Gegenwart. Seine ganze auswärtige Politik war beherrscht von
dem Streben, eine große europäische Koalition gegen das neue Deutschland
zu verhindern, also unsre Reibuugsflächeu möglichst zu verkleinern. Er hat
deshalb gelegentlich Deutschland ein „saturiertes" Land genannt, das nichts
mehr erobern wolle. Das war sehr klug zu eiuer Zeit, wo es galt, das an¬
fangs sehr lebhafte Mißtrauen gegen das junge Reich zu beschwichtigen. Aber
soll und kann uns das für die fernste Zukunft binden, uns, denen das Haus
immer enger wird? Er hat wiederholt gesagt, Deutschland habe im Mittel¬
meer und'im türkische» Orient keine „direkten Interessen"; trifft das heute
noch zu, wo auch für uus das Mittelmeer als der nächste Weg unes Ost¬
afrika, Judien, China und der Südsee wichtig geworden ist. und die deutschen
Ingenieure in Kleinasien und Mesopotamien an der Arbeit sind? Er war
ganz zufrieden, wem: sich Rußland im äußersten Osten engagierte und „die
Wetterecke Europas" in Ruhe ließ; kann noch heute auch nur entfernt davon die
Rede sein, daß wir dem Zarenreiche ganz China ohne weiteres überlassen
sollen? Auch hat Bismarck sich über dieselben Dinge ganz natürlich zu ver-
schiednen Zeiten sehr verschieden geäußert, und er hat sehr verschieden gehandelt.
Er hat ein gutes Verhältnis zu Rußland immer empfohlen und auf der weiten
Welt nichts gesehen, was beide Länder in Gegensatz bringen müßte; aber er
hat 1879 das Bündnis mit Osterreich gegen Rußland geschlossen, zum Kummer
Kaiser Wilhelms, der die Spitze wenigstens umbog, und zweimal hat Deutschland
unter ihm dicht vor dein Kriege mit Rußland gestanden. Er wollte von einem
Bündnis oder auch nur von einem Einverständnis mit England nichts wissen,
schon weil ein solches das Mißtrauen Rußlands erregen müsse, aber er hat
sich in kolonialen Dingen mit England immer ganz gut vertragen und jeden
Gedanken an einen Bruch mit Englaud weit von sich gewiesen. Er hat 1866
dem kleiustantlichen Partikularismus das Haupt zerschmettert, und als dieser
politisch unschädlich geworden war, besonders nach 1890 das Festhalten an
jeder landschaftlichen Eigenart warm gepriesen; er hat in dieser Zeit oft genug
die sorgsamste Berücksichtigung der „Imponderabilien der Volksseele" empfohlen,
und doch in seinen ersten, die Zukunft Deutschlands entscheidenden Jahren seine
Politik im Widerspruch mit allen Imponderabilien der deutschen Volksseele ge¬
macht. Er hat die Erzeugnisse der Tagespresse geringschätzig als „Drucker¬
schwärze" bezeichnet, und doch sich ihrer in so ausgiebiger und mannigfaltiger
Weise bedient, wie kaum ein zweiter Staatsmann. Er hat, wie er selbst sagte,
die Monarchie in Preußen und in Deutschland wieder in den Sattel gehoben,
und später durch seiue fortlaufende öffentliche Kritik an den Handlungen seiner
Nachfolger zwar auf diese schwerlich Einfluß gewonnen, wohl aber — das muß
einmal ehrlich gesagt werden — nicht wenig dazu beigetragen, in den guten'
Deutschen die Achtung vor der Autorität der bestehenden Regierung zu schwachen
und ihre alte Neigung zur Krittelei wieder zu erwecken. Den» was in dieser
Form nnr ihm erlaubt sein konnte, weil er der Baumeister des Reichs war,
dazu hält sich jetzt jeder kleine Zeitungsschreiber für berechtigt. Jeder nimmt
es sich heraus, den leitenden Männern selbst in den schwierigsten Fragen der
großen Politik den Text zu lesen und den „Berliner Machthabern" — das
wären allerdings eigentlich die der Stadt Berlin und nicht die des Deutschen
Reichs — von Posemuckel oder Pleiß-Athen aus gute Lehren zu geben, ihnen
Bismarcks Politik als Spiegelbild vorzuhalten. Das nennt man dann politische
Reife des deutschen Volks, dessen Mehrheit immer noch keine politischen Ge¬
danken, sondern nur politische Gefühle hat.
Es kann auf der Welt nichts Dümmeres geben, als die Worte und
Werke dieses größten Realpolitikers dogmatisieren zu wollen, der immer ein
Feind aller politischen Doktrin gewesen ist und in der Politik immer eine
Kunst, die Kunst des Möglichen, nicht eine Wissenschaft gesehen hat. Zum
Glück thun das Kaiser und Kanzler nicht; sie handeln vielmehr gut bismarckisch,
indem sie dasselbe nach ihrer Weise und nach der jeweiligen Weltlage erstreben,
die Größe und das Glück des Vaterlands. Ein bindendes, für alle Fälle
giltiges Rezept dafür giebt es nicht, ein solches hat auch Fürst Bismarck nicht
aufgestellt und nicht aufstellen wollen. Was man von ihm lernen kann, das
sind nicht einzelne Grundsätze und Maßregeln, sondern allgemeine Dinge: nur
deutsche Interessen zur Richtschnur zu nehmen, hohe, klar erkannte Ziele stetig,
besonnen und wenn es sein muß mit dein größten Nachdruck zu verfolgen.
Ob das in genialer oder in mehr geschäftsmäßiger Weise geschieht, das hängt
von der Persönlichkeit der leitenden Männer ab, die doch nicht verpflichtet sind,
Genies zu sein.
Gewiß hat es etwas Tragisches, daß das Wirken auch der größte»
Mnnner, ja man kann sagen gerade der größten Männer in einem gesunde»
Volke immer wieder nur den Ansatz zu »enen Bildungen bietet, die darüber
hinausgehn und von ihnen weder vorausgesehen noch gewünscht worden sind.
Das ist noch tragischer als Haß und Neid und innere Vereinsamung. Aber
es liegt das alles in der Natur der Meuscheu und der menschlichen Dinge,
und versöhnend wirkt dabei zweierlei: »ur durch große Menschen vollzieh»
sich die großen Fortschritte eines Volks, und mag von ihren Werken auch kein
Seel» auf dem andern bleiben, so bleibt doch unvergänglich das Bild ihrer
Persönlichkeit, und in diesem offenbart sich den Nachkommen immer wieder
ogar für einen aufmerksamen preußischen Politiker war es in
den letzten Wochen schwer, sich ein klares Bild von der innern
politischen Lage Preußens zu machen. Fest stand nur, daß die
Mehrheit des Abgeordnetenhauses auch der zweiten, vom Grafen
Bülow in der Thronrede mit großem Nachdruck angekündigten
wasserwirtschaftlichen Vorlage ablehnend gegenüberstand, und daß die Verhand¬
lungen der Kanalkommission eine schier ermüdende, zuweilen an Obstruktion
erinnernde Breite angenommen hatten. Graf Bülow kam nicht in die Kom¬
mission, überließ es vielmehr dem Ressortmiuister von Thielen, die Vorlagen
der Regierung mit allerdings überlegner Sachkenntnis gegen die von den ver¬
schiedensten Seiten dagegen gerichteten Angriffe zu vertreten. Daß die parla¬
mentarischen Chancen der Vorlage, und zwar nicht bloß des Mittellandkanals,
sondern anch andrer höchst wichtiger Teile des Gesamtprojekts schlecht waren
und immer schlechter wurden, war deutlich genug. Aber für eine Kombination,
auf welche Weise die stark engagierte Staatsregierung ihren Hals aus der
immer enger werdenden Schlinge ziehn würde, fehlte es an jedem Anhalt.
Die freisinnigen Parteiblätter ließen sich unter diesen Umständen die Gelegen¬
heit nicht entgehn, mit den gewagtesten Behauptungen alles aufzubieten, um
die konservativen Parteien von der Regierung zu trennen und sich selbst oder
doch ihre Leute den: Kaiser als die allein möglichen Retter ans aller Not an¬
zupreisen. Es kann nicht geleugnet werden, daß die Gelegenheit dazu unge-
mein günstig erschien. Nicht bloß wegen der begeisterten Vorliebe des Kaisers
für den Kanal, sondern in den letzten Tagen anch wegen einer angeblichen
Verstimmung zwischen dem Kaiser und dem Reichskanzler. Mau erzählte ge¬
heimnisvoll - übrigens nicht bloß in liberalen Kreisen —, der Kaiser habe
während der Abwesenheit des Grafen Bülow von Berlin ohne vorherige
Fühlung mit diesem in Petersburg bestimmte Schritte in betreff unsers
künftigen Zollabkommens mit Rußland gethan. Dagegen habe Graf Bülow
sich — natürlich in aller Form und Ehrerbietung — verwahren müssen und
verwahrt, sodaß sein Rücktritt schou in den Bereich der Möglichkeit gerückt
gewesen sei. Ob um dieser Erzählung irgend ein Fetzen Wahrheit war, können
wir nicht verraten, weil wir es nicht wissen. Mißverständnisse und Irrungen
solcher Art sind allezeit möglich, wenn sie sich auch in der Regel ganz anders
abspielen, als sie nachträglich in parlamentarischen Kreisen erzählt zu werden
pflege». Jedenfalls aber war, wenn wirklich etwas derartiges vorgekommen
sein sollte, der Zeitpunkt mit großer Schlauheit gewählt, um unter dem Hin¬
weis auf die ungünstigen Aussichten des Kannlprojekts auf den „kanal- und
kaiserfeindlichen Bund zwischen Junkern und Pfaffen," d, h, zwischen den kon¬
servativen Parteien und dem Zentrum gegen das „konservative" Ministerium
Bülow zu Hetzen. Und merkwürdig! Je tollere Sprünge bei dieser Hetze ge¬
macht wurden, desto glaubhafter und wahrscheinlicher erschien der ganze Spuk
den Zeitnugsphilistern und politischen Windhunden.
In diesen Hexensabbnth dunkler Ehrenmänner fiel am Abend des Donners¬
tags, des 2. Mais, wie ein Sonnenstrahl die offizielle Nachricht, daß Freitag,
den 3. Mai sechs Uhr auf Veranlassung des Staatsministeriums eine vereinigte
Sitzung beider Häuser des Landtags zur Entgegennahme einer allerhöchsten
Botschaft im Sitznngssnnle des Abgeordnetenhauses anberaumt worden sei.
Im Abgeordnetenhause wirkte diese Nachricht geradezu verblüffend, und
zwar gleichmäßig bei allen Fraktionen. „Aha! sagten die Freisinnigen, jetzt
wird Bülow seinen »drei Getreuen« zeigen, was eine Harke ist. Er löst auf."
Die Nativnalliberalen wußten sich keinen rechten Vers ans die Sache zu
machen. „Löst er auf, sagten sie, so täuscht er sich, denn die Kanalvorlage
ist keine sieghafte Wahlparole. Er bekommt eher noch eine kanalfeindlichere,
als eine kanalfrenndliche Majorität. Löst er nicht auf, so kriecht er vor den
Agrariern und dem Zentrum ins Mauseloch." Sogar die Konservativen und
die Freikonservativen waren zweifelhaft und geteilter Meinung. Daß die ge¬
meinsame Sitzung der beiden Häuser nur den Schluß der Session und nicht
etwa Auflösung bedeutete, war ihnen ans frühern Vorgängen klar, und sie
wußten, daß derartige Gepflogenheiten in Preußen nicht leicht aufgegeben
werden. Aber wie sich die Regierung nach dem Schluß der Session zu ihnen
stellen werde, lag vor vielen von ihnen doch in unheimlichen Dunkel. Man
konnte sich darüber nicht täuschen, daß durch den Schluß des Landtags auch
die dringend gewünschte Vorlage wegen anderweitiger Dotation der Provinzen
in den Brunnen fallen würde. An einer Verstärkung der Provinzialdotationen
hatte aber der ländliche Grundbesitz ein sehr großes Interesse. Auch sonst
waren noch einige Gesetze und Anträge im Rückstände, deren Dnrchbemtnng
und günstige Erledigung im Abgeordnetenhause wie im Lande dringend ge¬
wünscht wurde. So, um außer der Kleinbahufrage mir einen Gesetzentwurf
zu nennen, der Plan der Begründung eines besondern Oberpräsidiums für
Berlin. Er lag den Konservativen sehr am Herzen. Nur daß sie keinen
Oberpräsidenten, sondern neben dem Polizeipräsidenten einen besondern Regie¬
rungspräsidenten für Berlin haben wollten. Die verständigem Abgeordneten
sagten sich freilich, daß alle diese Dinge angesichts der Kanalvorlage und der
sich um eine etwaige förmliche Niederlage der Negierung knüpfenden politischen
Konsequenzen wahre Minutien sind, die gar nicht in Betracht kommen können,
wenn es sich um eine wohl überlegte Aktion der Regierung handelt. Ist es
bisher angegangen, die Geschäfte ohne Änderung der Gesetzgebung vrdnungs-
mäßig zu erledigen, so wird das auch noch für ein Jahr länger möglich sein.
Mit den vorhandnen Unzuträglichkeiten wird man sich abfinden, wie mau das
bisher wohl oder übel auch hat thun müssen.
Nicht weniger betroffen als die Abgeordneten erschien das Berliner
Publikum. I» der ganzen Zeit, seitdem das neue Abgeordnetenhaus bezogen
und im Gebrauch ist, sind die Tribünen noch nie so gefüllt gewesen, wie um
Schlüsse der Session in der gemeinsamen Sitzung der beiden Häuser des Land¬
tags. Mau hatte sich eingebildet, Graf Bülow werde irgend einen besondern
Coup ausführen, etwas ganz Sensationelles sagen. Jeder Kundige wußte,
daß dnvou keine Rede sein konnte. Sämtliche Mitglieder des Staatsunuisteriums,
auch die beiden Minister ohne Portefeuille, Tirpitz und Graf Posadowsky,
waren vollzählig erschiene». Außer dem Kriegsminister und dem Marine¬
sekretär, die ihre Uniform trugen, hatten die Minister den schwarzen Frack
ohne Ordeusabzeicheu mit schwarzer Halsbinde augelegt. Graf Bülow verlas
die Botschaft des Königs, die ihn mit dem Schlüsse der Laudtagssessio» be¬
auftragte, fügte einige ruhige Worte der Erläuterung hinzu und schloß dann
im Namen des Königs den Landtag. Mau konnte sich den Verlauf der ganzen
Sache nicht schlichter, ruhiger, staatsmüuuischer und würdiger denken.
Die politische Bedeutuug dieses Akts ist aber uach unsrer Auffassung
folgende.
Das Ministerium des Grafen Bülow ist längst, schon bevor dieser die
Leitung übernahm, ein Ministerium der Sammlung gewesen. Nicht eigentlich
ein Kartellministerinm. Dazu Ware» die einzelnen Minister politisch einander
zu ähnlich: geschäftlich gewiegte, ja hervorragende Männer, dem Kaiser, dem
Lande und ihrer Pflicht bis ans die Knochen treu ergeben; keiner von ihnen
bis auf deu Finanzminister parteipolitisch eingeschworen oder engagiert, und
auch dieser einzige ein Realpolitiker, dem die Erreichung eines dem Lande
nützlichen Ziels über die parteipolitische Tendenz ging, Männer ausgezeichneter
Qualität, zu den allerbesten des Landes gehörig und als solche anerkannt, die
weitaus meisten von ihnen nicht gerade geniale Überflieger nach Art des
Fürsten Bismarck, aber von ausreichender Bedeutung, die Autorität ihres
Ressorts zu wahren und zugleich Sammelpunkte für die fast in allen Fraktionen
vorhandnen parlamentarischen Kräfte zu werden, denen die realen Interessen
des Königtums und des Landes über die Schlagworte und Stimmungen der
Fraktion gehn.
Diese Sammelpolitik ist auch uach der Übernahme der Leitung durch den
Grafen Bülow die allen Ministern gemeinsame Tendenz geblieben. Maßgebend
war diese Tendenz auch noch bei der Einbringung der ersten Kanalvvrlage im
Jahre 1899. Niemand, kein einziger der damaligen Minister konnte den ver¬
hängnisvollen Verlauf dieser Vorlage voraussehen. Sie war ursprünglich als
eine rein wirtschaftliche gedacht. Wäre sie das geblieben, so würde an den
beklagenswerte» Zwiespalt, der ans Grund dieser Vorlage entstanden ist, nicht
zu denken gewesen sein.
Das Gepräge der Vorlage blieb aber nicht rein wirtschaftlich. Der Träger
der Krone trat öffentlich in der Dortmunder Rede mit dem ganzen Gewicht
seiner Persönlichkeit für die Vorlage ein. Diese Rede hatte keinem Minister
vorher vorgelegen. Das hätte nach dem Rezept des dentschfreisinnigen Scha-
blonenparlamentarismns natürlich zu einem großen Konflikt zwischen den
Ministern und ihrem königlichen Herrn führen müssen. In Preußen regiert
aber glücklicherweise die Schablone nicht, und die Minister traten für die Rede
des Königs mit ihrer Verantwortlichkeit ein. Sie konnten gar nicht anders
handeln. Denn sie selbst hatten dein Könige die Vorlage vor der Einbringung
warm empfohlen. Wenn der König sie kraft seiner persönlichen Machtvoll¬
kommenheit vor dein Lande mit der ihm eignen, impulsiver Wärme empfahl,
so mag das für den einen oder den andern Minister, z. B. für Herrn von Miquel,
der wohl von vornherein mit einiger Zurückhaltung und Kühle dem Kanal¬
bauprojekt zugestimmt haben mochte, nicht eben bequem gewesen sein. Wer
aber preußische Verhültuisse, wer den Kaiser und seine Art, mit seinen Ministern
zu Verkehren, wer die Traditionen des preußische» Staatsministeriums auch
nur einigermaßen kennt, der mußte sich von vornherein sagen, daß ein Rück¬
tritt der Minister um jener Dortmunder Kaiserrede willen völlig undenkbar
war. Die Minister haben vielmehr, was für sie selbstverständlich war, die
Dortmunder Rede als ein 5a.it acooiuM hingenommen, für das mit allen
seinen .Konsequenzen einzutreten sie sich auch nicht einen Augenblick besinnen
konnten.
Und doch war dadurch mit einem Schlage die gesamte Situation von
Grund aus verändert. Die an und für sich rein wirtschaftlich gedachte Kanal¬
vorlage war ein weithin leuchtendes politisches Fanat geworden. Wer gegen
sie stimmte und agitierte, stimmte und agitierte ausgesprochnermaßeu gegen den
nachdrücklich und öffentlich erklärten Willen des Kaisers. Eine ganz verzweifelt
schwierige Situation namentlich für die konservativen Parteien. Schon dem
unabhängigen konservativen Abgeordneten wird es nicht leicht, wenn seine poli¬
tische Überzeugung ihn nötigt, dem erklärten politischen Willen seines Landes¬
herrn negierend gegenüberzutreten. Indessen wer ein Abgeordnetenmandat an¬
nimmt, weiß im voraus, daß er in Lagen kommen kann, wo seine Überzeugung
und seine Pflicht als Abgeordneter ihm im ausweichlich gebieten, auch im
Konflikt mit dein Könige lediglich seinem sachlichen Gewissen zu folgen.
Tragisch wurde hier dieser Konflikt aber dadurch, daß eine große Menge kon¬
servativer und auf ihre Kanalgegnerschaft in der Fraktion schon festgelegter
Abgeordneten zugleich nicht bloß staatliche, sondern politische Beamte waren,
königliche Beamte, die in ihrem Hauptberufe politische Organe der Regierung
und als solche genötigt und verpflichtet waren, die politischen Maßnahmen des
Königs und seiner Regierung mit allen ihren Kräften auszuführen und dafür
einzutreten, Landräte und Regierungspräsidenten, deren unbedingter politischer
Gehorsam gegen die Negierung von der Landesgesetzgebung dergestalt voraus¬
gesetzt wird, daß sie der Negierung die Ermächtigung erteilt hat, sie ohne An-
gäbe von Gründen jederzeit zur Disposition zu stellen. Sie kamen in Konflikt
zwischen ihrer Abgeordnetenpflicht und ihren. Beamtengewissen, Es gab damals
für diese Abgeordneten, da sie durch Mandatsniederlegnng nur der von ihnen
bekämpften Maßregel zum Siege verholfen hätten, nur einen einzigen loyalen
Weg, sich aus diesem Konflikte zu befreien, das war die Niederlegung ihres
Amts, Vor dem Könige, vor der Regierung und vor dem Lande würden
sie damit einen Akt der Selbstverleugnung und Pflichttreue vollzogen haben,
den man ihnen hoch, sehr hoch hätte anrechnen müssen und auch angerechnet
haben würde. Die Grenzboten haben seiner Zeit diese Auffassung vertreten,»)
und wenn die Herren Graf Stirn», und vou Heydebraud diese Auffassung in
ihrer Fraktion damals vertreten hätten, so würde das ein Akt weiser Voraus¬
sicht und großer politischer Klugheit gewesen sein. Viel Herzeleid und böses
Blut wären uns dann erspart geblieben. Es kam anders. Die politischen
Beamten stimmten geschlossen gegen den Kanal und brachten ihn zu Fall. Es
erfolgte nunmehr ihre Zurdispositionstellnug. Sie mußte erfolgen, wenn nicht
der König vor seinen Landräten kapitulieren sollte. Darüber hat im Staats-
ministerium unsers Wissens nie eine Meinungsverschiedenheit bestanden. Alle
Minister fühlten das Tiefschmerzliche dieser Maßnahme, einige sogar sehr schwer.
Sie sahen auch die Bitternisse voraus, die aus dieser Saat erwachse» mußten.
Aber alle ohne Ausnahme fühlten sie, daß ihre Verantwortung vor dem Könige
und dem Lande keinen andern Weg zuließ. Es war eben eine gründlich ver-
fahrne Situation. Der verhängnisvolle Irrtum aber lag bei den Abgeord¬
neten, die als aktive Landräte direkt gegen ihre Regierung und — was nach
alle» voraufgegangnen Einzelheiten das Schlimmste war — gegen ihren König
stimmten, statt freiwillig ihr Amt zu opfern, »in für die Bethätigung ihrer
Abgeorduetenüberzeugnug Raum, zu bekommen.
Immerhin alle Achtung vor den Männern, die zwar geirrt haben, aber
tapfer genug waren, mit ihrer ganzen Person für ihre Überzeugung einzustehn!
Es war durchaus richtig gehandelt, daß die Regierung der schweren Lage, in
der diese Beamten schon wegen des Fraktionsdrucks gewesen waren, Rechnung
trug und sie nach und nach wieder anstellte. Der neuerdings von der frei¬
sinnigen Presse wiederholt ausgesprochne Gedanke, daß man gehofft habe, durch
diese Wiederanstellungen eine Mehrheit in der konservativen Fraktion für die
zweite Kanalvorlage zu erzielen, ist so ordinär und subaltern, daß er niedriger
gehängt zu werden verdient. Graf Bülow hat echt ftantsmünnisch gehandelt,
"is er jeden Zweifel darüber ausschloß, daß die Regierung bei ihre», neuen
und erweiterten wasserwirtschaftlichen Projekt — diesesmal sichtlich unter Zu¬
stimmung des Kaisers — ausschließlich vom wirtschaftliche,? Standpunkt aus¬
ging. Ob die Erweiterung dieses zweiten Projekts durch die zugleich vorgelegten
Plane zu den großartigen Kompensationsbanten taktisch richtig war, mag dahin
gestellt bleiben. Es läßt sich ja nicht leugnen, beiß durch diese kolossale Er¬
weiterung des ursprünglichen Mittellaudkanalprojekts auch die Angriffsfläche
für die Gegner der Regierung beträchtlich vergrößert wurde. An sich war die
schnelle Vorlegung und die Vertretung dieser wahrhaft großartigen Projekte
eine bewundernswerte technische und geschäftliche Leistung. Daß diese solide
und mühsame Arbeit für immer unter den Tisch gefallen sein sollte, halten
wir für ausgeschlossen. Wahr ist, daß sich allmählich auch in den Reihen des
Zentrums das Interesse für das Zustandekommen des Mittellandkanals mehr
und mehr abkühlte. Das lag zunächst in der wesentlich ablehnenden Haltung
des Ministers von Thielen gegenüber der vom Zentrum gewünschten Lippelinie.
Aber gerade weil manche Zentrnmslente sich überzeugen mußten, daß die Be¬
vorzugung der Emscherlinie dnrch die Regierung nicht auf einer bloßen Marotte
beruhte, erkaltete ihr Eifer für das ganze Projekt von einer Sitzung der Kom¬
mission bis zur andern mehr und mehr.
Mit Staunen und nicht ohne Sorge sahen patriotische Männer auf den
Verlauf der Verhandlungen in der Kommission. Aber es gab doch in Berlin
auch Männer, die sich zu dem Grafen Bülow zuversichtlich eines rechtzeitigen
und einsichtigen Einschreitens glaubten versehen zu dürfen. Sie haben Recht
behalten. Der Schluß des Landtags war der erfreuliche Ausdruck dieser Aktion.
Von den Mitgliedern der Kanalkommission gehörten zehn zur konserva¬
tiven, vier zur freikvnservativen, fünf zur nationalliberalen Fraktion, sieben
zum Zentrum, einer zur freisinnigen Volkspartei, einer zur freisinnigen Ver¬
einigung. Dieses Verhältnis der Fraktionszugehörigkeit der Kommissionsmit¬
glieder spiegelt ziemlich deutlich die Chancen der Vorlage wieder. Sowohl in
der .Kommission, wie im Plenum. Nun wäre aber zweifellos schon die Ab¬
lehnung der Vorlage, insbesondre des Mittellandkanals in der Konnnission
nicht nur im Lande, sondern in der ganzen Welt als eine Niederlage der Re¬
gierung, in gewissem Sinne kann man sagen als eine Niederlage des Königs
empfunden worden. Es konnte nicht ausbleiben, daß man diesen Widerspruch
gegen einen dringenden Wunsch Seiner Majestät ungeachtet der völlig ver¬
änderten Umstände mit der Ablehnung der ersten Kanalvorlage im Jahre 1899
in eine unliebsame Verbindung gebracht, und daß man, wenn die Staats¬
regierung wieder, Gewehr bei Fuß, dabei gestanden hätte, darin eine Fort¬
setzung ressortmäßigen Weiterwurstelns ohne klare, bewußte und energische
Leitung gesehen hätte. Das hat Graf Bülow klar erkannt. Darum hat das
Staatsministerium dem Könige die Ordre zur Schließung der Session vor¬
gelegt und ihn von deren Nützlichkeit zu überzeugen gewußt. Und dieses
frische, offne, bewußte Handeln des Ministerpräsidenten hat bei allen Patrioten
Freude erregt. Wir Nüssen und sehen doch, Gott sei Dank, wieder, daß regiert
wird, und zwar klug, umsichtig und thatkräftig regiert wird. Darin hatten
die nationalliberalen Abgeordneten mit den langen Gesichtern, die sie am
Freitag in den Foyers des Hanfes machten, vollkommen Recht: eine Auflösung
des Abgeordnetenhauses hätte mit Sicherheit zu einer ganz eklatanten Nieder-
läge der Regierung geführt. Diese Kanalvorlage mit ihren Annexen, diese
kolossale Millionenforderung war keine Wahlparole, die der Regierung eine
bessere Majorität hätte schaffen können. Unter allen Umständen wäre die
Macht des Zentrums durch Neuwahlen noch verstärkt worden. Aber damit
hatten sie Unrecht, dnß sie behaupteten, die Regierung sei vor den Agrariern
und dem Zentrum ins Mauseloch gekrochen. Gerade das Gegenteil ist richtig.
Nicht die Konservativen sind zur Zeit die Herren der Situation, sondern die
Regierung hat sich durch die Schließung ihre volle Freiheit gewahrt. Sie
^ und sie allein — hat jetzt den Schlüssel zur Fortsetzung auch ihrer Kanal-
Politik in der Hand. Sie hat jetzt neun Monate Zeit, sich zu überlegen, wie
sie die Sache weiter angreifen will. Und daß sie freie Bahn geschaffen hat,
ist — alles in allem genommen - - sogar für die Kanalgegner eine Erleichte¬
rung. Auch sie fühlten sich zuletzt nichts weniger als behaglich, wenn sie
auch um der leidigen Konsequenz willen zuversichtlicher thaten, als sie waren.
Aber auch sie wissen, daß die Handelsverträge vor der Thür stehn. Auch für
diese und seine Handelspolitik überhaupt hat Graf Bülow durch die Schließung
des Landtags freie Bahn geschafft. Auch hier ist er vollkommen Herr der
Situation geblieben. Wir können in Preußen in diesem Augenblick keinen
Konflikt brauche,,. Das muß jeder wahre Freund des Vaterlands einsehen,
sofern er nicht durch die Parteibrille sieht. Und diesen Konflikt jetzt glücklich
und unter voller Wahrung der königlichen Autorität vermieden zu haben, das
ist das unbestreitbare, große Verdienst des Grafen Bülow.
Es wird in Preußen regiert, und es wird klug und geschickt regiert.
Das ist das Facit, das man getrost unter den großen Strich der diesjährigen
Landtagssession setzen kann. Thatsächlich liegt jetzt der Schlüssel unsrer
politischen Zukunft allem in der starken Hand des Kaisers und seiner Regierung.
Als den frondierenden Führern das klar wurde, mögen sie wohl etwas verdutzt
dreingeschaut haben. Wenn sie sich die Sache aber in aller Ruhe überlegen,
müssen sie sich bei dem Grafen Bülow bedanken. Daß der Kaiser mit dem
Verhalten seiner „allergetrensten Opposition" nicht gerade sehr zufrieden fein
konnte, war begreiflich genug, sogar für nicht sehr hellhörige Leute. Daß
sich dieses Verhältnis noch verschärft haben würde, wenn Graf Bülow nicht
ein Einsehen gehabt Hütte, ist klar wie die Sonne. Eine konservative Partei
aber in dauernder persönlicher Opposition gegen den König ist in Preußen
ein Unding. Und wer dabei zuletzt den kürzern gezogen hätte, liegt auf
der Hand.
Gewiß ist die Landwirtschaft in Preußen etwas, das sein gutes Recht
hat. Und eine gerechte Staatsregierung wird ihm dieses sein Recht auch bei
dem Neuabschluß der Handelsverträge zu wahren wissen. Aber eine Regierung,
die sich von dem Bunde der Landwirte eine für die Entwicklung der Industrie
tödliche, einseitige Handels- und Zollpolitik wollte diktieren lassen, ist in Preußen
auf die Dauer ebenso unmöglich, wie eine einseitige Judustriepolitik mit brutaler
und ungerechter Vernichtung der landwirtschaftlichen Interessen.
Aber die abgehenden Minister? Nun, die Grenzboten sind keine Tages¬
zeitung. Darum nur soviel davon, daß die Abschiedsgesuche der drei Minister
von Miquel, von Hammerstein und Brefeld zwar zeitlich mit dem Schlüsse
der Landtngssessio» zusammenfallen, daß sie aber thatsächlich durch das Nicht-
zustaudekommen der Kanalvorlage unmöglich veranlaßt sein können. Der
Minister vou Miquel ist im vorigen Jahre beinahe ebensoviele Tage krank
wie arbeitsfähig gewesen. Er hat sich längst nach Ansspnnuung ans dem
drückenden Joche gesehnt. Er ist eine große Kraft. Sein Ausscheiden bedeutet
für den Kaiser und den Grafen Bülow einen großen Verlust. Aber er hat
sich im Dienste des Landes zcrarbeitet. Die Ruhe muß ihm gegönnt werden.
Der Landwirtschaftsmiuister vou Hammerstein ist uoch zwei Jahre alter als
Herr von Miguel. Ganz so warm wie dieser ist er im preußischen Dienste
nicht geworden. Immerhin hat er nach dem Maße seine Kraft geleistet, was
er vermochte. Ein Gehörleiden machte deu mündlichen Verkehr mit ihm in
den letzten Jahren nicht leicht. Daß er die Gelegenheit benntzt, um auf sein
schönes Gut Loxtcn im Osnabrückischen zurückzukehren nud sich dort wohl¬
verdienter Ruhe zu erfreuen, hat nichts Verwunderliches. Der Handelsminister
Brefeld endlich hätte auch ohne Mittellandkanal sein Ressort noch weiter leiten
können. Von ihm läßt sich auch nicht sagen, daß er alt, krank, nrbeitsmüde
sei. Engagiert war er für die Kanalvorlage verhältnismäßig nur wenig, nach
unsrer Auffassung allzuwenig. Wenn auch er den Schluß der Laudtagssession
benutzt hat, sein Entlassungsgesuch einzureichen, so läßt sich dies mir daraus
erklären, daß er sich von den bevorstehenden Verhandlungen über den Abschluß
neuer Handelsverträge keinen Erfolg versprechen zu dürfen glaubt, der völlig
seinen Handelspolitischeu Zielen und Grundsätzen entspräche. Ist das aber der
Grund seines Rücktritts, so muß man die Ehrlichkeit dieses Motivs respektieren.
Alle drei Staatsmänner gehn in allen Ehren. Es ist im modernen Staats¬
leben nicht anders. Die Kräfte werden verbraucht, und neue Männer rücken
allmählich an die Stelle der alten zur Bewältigung der sich unablässig erneuernden
Aufgaben.
Die preußische Regierung hat im modernen Staatsleben eine mehr als
gewöhnliche Bedeutung. In ihr ruht der Schwerpunkt der deutschen Reichs¬
politik. Preußen ist überdies zugleich typisch für das monarchische Königtum
der Neuzeit. Darum sind die Augen der ganzen Kulturwelt nach Berlin ge¬
richtet. Mit den „Augen der ganzen Welt" wird zwar in der heutigen
Publizistik viel Unfug getrieben. Hier aber ist der Ausdruck wahr und keine
leere Phrase. Soweit Menschenaugen reichen, sind wir nnter tapfrer, von
großen Gedanken getragner Führung auf dem rechten Wege. Möge es so
bleiben und fröhlich vorwärts gehn, zum Trotz allen Philistern und Phrasen¬
helden ! ___
vn selbst ergiebt sich bei einer einheitlichen Leitung des Ver¬
sicherungswesens eine bessere Ausbildung und Schulung der Ärzte
für ihre Thätigkeit im Dienst der sozialen Gesetzgebung, Die
Zentrale ist in der Lage und daran interessiert, an den Uni¬
versitäten Justruktionsknrse für die Ärzte abzuhalten, sowohl übor
die für den Arzt wichtigsten Bestimmungen der sozialpolitischen Gesetze, als
auch über die einzelnen Zweige der Gewerbehygiene; sie wird im ideellen und
materiellen Interesse auch auf die Versicherten durch Vortrüge über Berufs¬
krankheiten und Gefahren, über Ernährung, Kleidung usw, belehrend ein¬
wirken, sie wird vielleicht periodisch regelmäßige Untersuchungen aller Ver¬
sicherten veranlassen, um den Verwendungsschutz in geeigneten Fällen anzu¬
wenden, um etwa die ersten Symptome der Tuberkulose festzustellen, die häufig
schon zu weit vorgeschritten ist, wenn der Kranke aus eignem Antrieb den Arzt
aufsucht.
Die weitschauenden unvoreingenommen Spitzen der Anstalten werden sich
auch noch andre Kräfte dienstbar zu machen wissen. Ich denke z, B, an den
deutschen Verein für Bolkshygiene, der sich die Aufgabe gestellt hat, die mo¬
dernen naturwissenschaftlichen Auffassungen vom Wesen der Krankheit und von
den Vorbedingungen der Gesundheit zum Gemeingut des ganzen Volkes zu
machen und befruchtend auf das öffentliche Gesundheitswesen einzuwirken.
Dieser Verein, an dessen Spitze die hervorragendsten Professoren und Fach¬
leute stehn, hat dasselbe Ziel, das sowohl die Kranken- wie die Invaliden¬
versicherung haben. Unterstützt von so sachkundiger Seite werden die Anstalten
"und Einfluß auf die öffentliche Gesundheitspflege gewinnen und Arm in Arm
mit der Mcdizinalverwaltung den Gesundheitszustand ihres Verwaltungsbereichs
überwachen, gesundheitsschädliche Einflüsse und deren Beseitigung erforschen und
allen verineidbareu Krankheiten entgegenwirken.
Diese höhere Aufgabe der öffentlichen Versicherung, bei deren Durch¬
führung sie vor allem auf die verständnisvolle Mitwirkung der Ärzte angewiesen
ist, wird auch dazu dienen, eine innigere Fühlung zwischen Ärzten und Ver¬
waltung herbeizuführen, und wird den Ärzten bei ihrer ärztlichen Thätigkeit
mehr Berufsfreudigkeit gewähren, „Es wächst der Mensch mit seinen größern
Zwecken," Während der heutige Kassenarzt gar keine Möglichkeit sieht, seine
Erfahrungen und Ansichten wegen der gesundheitsschädlichen Zustünde geltend
zu machen, würden von einer wcitansschauenden Versicherungsanstalt die Arzte
gewiß zu Jahresberichten angehalten werden und so ihr Material im Dienste
der öffentlichen Gesundheitspflege verwertet wissen. Habe ich z, B. als
Distriktskassena.rzt für alle im Baugewerbe thätigen Arbeiter täglich, jahraus
jahrein Gelegenheit, den gerade bei Maurern, Zimmerleuten, besonders den
Bauarbeitern so verbreiteten Alkoholismus mit seinen furchtbaren Folgen zu
beobachten, muß ich immer und immer wieder Leberschwellung, chronische
Magen- und Darmleiden, Herzbeschwerden, Verhärtung der Blutgefäße bei
mitunter durch jahrzehntelangen Alkoholmißbrauch verblödeten Leuten feststellen,
sehe ich, wie alle jüngern Elemente immer wieder diesem Laster zum Opfer
fallen, anfangs mit Widerwillen, aber machtlos gegenüber der unglückseligen
Einrichtung, daß die Poliere auf den Bauten den Vertrieb alkoholischer Ge¬
tränke haben und am Umsatz mit Gewinnprozenten interessiert sind, so bin ich
heute dem gegenüber nur ein Nezcpthandwerker, bekämpfe nur die Symptome,
ohne den eigentlichen Ursachen zu Leibe gehn zu können. Daß öffentliche
Mißstände bei den Bauhandwerkern und -arbeitern, und nicht individuelle
Anlage zum Alkoholismus eine große Rolle spielen, kann ich als einzelner
Beobachter schon daraus entnehmen, daß ich z. B. von der gesundheitlichen
und sittlichen Qualität der auch von mir täglich ärztlich behandelte» Metall¬
arbeiter einen ganz andern Eindruck empfangen habe. Ich denke mir nun,
eine Versicherungsanstalt würde die einzelnen Berichte, die keinen absoluten
Wert haben, von allen Baugewerksürzten sammeln und sichten, und sobald sich
aus der Gesamtheit der Beobachtungen ein öffentlicher Mißstand ergiebt, z, B.
daß die Poliere, die Vorgesetzten der Arbeiter, direkt Schaukstütten auf den
Bauten haben, durch Einwirkung auf die Bau- oder Gesundheitspolizei ihn zu
bekämpfen genug Autorität haben und den Kampf gegen ein solches Übel
durch Belehrung in Wort und Schrift noch schärfer und erfolgreicher führen.
Wie naheliegend ist es z, B, auch, daß die Landesversicherungsanstalten als
Träger der Krankenversicherung mit Hilfe des großen Netzes geschulter Ärzte der
zur Zeit so viel erörterten Wohnungsfrage ihr Augenmerk widmen, Enqueten
veranstalten darüber usw.
Wie soll uun aber die Arztfrage geregelt werden? Es ist recht und
billig als Prinzip aufzustellen, daß jedem approbierten Arzte, der sich um diese
Thätigkeit bewirbt, nach der Anciennität ein seinen Wünschen möglichst an¬
gemessener Arbeitsbereich zugewiesen wird. Nehmen wir um, es würden sich
15000 Ärzte an der kassenärztlichen Thätigkeit beteiligen wollen, so hätte
jeder Arzt nach der geplanten Ausdehnung der krankenversichernngspflichtigen
Bevölkerung auf etwa 12 Millionen achthundert Versicherte in seinem Distrikt.
Dann Hütte jeder Arzt seinen gleichmäßigen, versicheruugsärztlichen Arbeits¬
bereich, den er gründlich beherrschen könnte, als Grundlage einer Existenz,
Eine dauernde gesicherte Anstellung als Distriktsarzt und daS Aufhören des
Wechselns in der Kassenzugehörigkeit würde auch festere Beziehungen zwischen
Arzt und Kranken mit sich bringen. Ans Grund jähre- und jahrzehntelanger
Bekanntschaft mit den Klienten kann der Arzt alle Krankheitszustände des
Patienten besser versteh« und besser behandeln, und er tritt jedem einzelnen
Versicherten seines Distrikts menschlich näher. In dem Maße, wie sich ein
innigeres Vertrauensverhältnis zwischen dem Arzt und dem Distrikt herstellt,
werden auch die Versicherten nicht so leicht in die Stimmung kommen, sich als
Arbeitgeber zu gerieren, deren Äußerungen für den heutigen Kassenarzt so
demütigend sind. Dann würde es nicht mehr vorkommen, daß ein Kassenarzt
täglich hundertfünfzig Konsultationen und Besuche erledigt, und die kassen¬
ärztliche Thätigkeit zu einer Farce wird. Der heutige beschäftigte Kassenarzt,
der sich um jeden Preis sein kassenärztliches Honorar erhalten will, erledigt
die Arbeit äußerlich so gut es eben geht, sinkt aber allmählich von selbst gegen
die Stimme des Gewissens und gegen seine Berufsauffassung zum Rezepthand¬
werker herab. Die Verhältnisse sind eben mächtiger als der Einzelne, Wenn
er gezwungen ist, täglich fünfzig bis hundert bis hundertfünfzig Patienten
abzufertigen, so ist es'klar, daß keine ernste wissenschaftliche ärztliche Thätig¬
keit dabei möglich ist; da entwickelt sich dann von selbst die Gewohnheit, jeden
Patienten möglichst rasch mit einem wertlosen Rezept wegzuschicken und in¬
folgedessen durch Arzneiverschwendnng, die bei solchem Massenbetrieb beobachtet
wird, die Kassen zu belasten. Denn nur dadurch, daß der Arzt den Instinkten
der Masse nachgebend jeden, möglichst rasch einen Heiltrank (zweistündlich einen
Eßlöffel voll) verordnet, der in den Augen der Patienten eine mystische Heil¬
wirkung birgt, kann er die Arbeit bewältigen. Es fragt sich nur wie! Dem
Patienten ist nicht geholfen, der Arzt bildet sich zum Charlatan aus und ver¬
flacht durch seine übermäßige Arbeitslast, Ist da der Arzt noch Freund und
Helfer in der Not? Ist da eine ruhige, sachliche Beratung noch möglich?
Werden dabei die Krankheiten nicht häufig übersehen? Und dabei wohnen
ringsum die arbeitswilligen, aber von den Kassen an der Arbeit gehinderten
Kollegen und bedauern, daß sie wegen mangelnder Beschäftigung in ihrer Kunst
zurückkommen. Das sind Zustände, die eine sehr schlechte Versorgung mit ärzt¬
licher Hilfe für die Versicherten bedeuten, und die den allgemeinen sozialen
Niedergang des Ärztestandes bewirkt haben. Die vorgeschlagne Organisation
der ärztlichen Hilfe schafft dagegen gleiches Recht für alle Ärzte und ist sowohl
für die Versicherten wie für die letzten Aufgaben der Versicherung ein wesent¬
licher Fortschritt. Um die Ärzte dauernd an die versichernngsürztliche Thätig¬
keit zu fesseln, könnte für die Honorierung die Einrichtung gewählt werden,
einen Grundgehalt mit Alterszulagen zu gewähren. Wenn nun das Angebot
ärztlicher Arbeitskräfte nach den äußern Schwierigkeiten der Praxis nach länd¬
lichen und städtischen Verhältnissen verschieden ist, so könnte man nach dem
für Bolksschullehrer geschaffnen Muster den Grundgehalt nach den örtlichen
Verhältnissen zwischen einer Maximal- und Minimalgrenze schwanken lassen.
Eine andre für die Ausgestaltung der Krankenversicherung auf der breiten
Basis der Invalidenversicherung sprechende Rücksicht ist folgende: Die heilte
so oft von dem Arzte und vielleicht auch von der Invalidenversicherung ver-
mißte Fühlung zwischen den Anstalten und den Ärzten würde geschaffen. Wenn
ich heilte der Jnvaliditütsanstalt einen Kranken mit einem Attest überweise zur
etwaige» Übernahme des Heilverfahrens, oder wenn ich mit ausführlicher
wissenschaftlicher Begründung die Allschaffung irgend eines Heilapparats, eines
künstlichen Glieds oder dergleichen empfehle, so werden solche Anträge vielfach
berücksichtigt, mitunter aber auch abgelehnt, ohne daß jemals dem Arzt eine
amtliche Antwort zu teil wird, eine in den heutigen Organisationsverhältnissen
liegende Nichtachtung der so wichtigen ärztlichen Mitarbeit an den sozialen
Einrichtungen, die ärztlicherseits unangenehm empfunden wird. Denn that¬
sächlich gehn die Ärzte den Kranken, die gewöhnlich über die Organisation
und die Leistungen der Versicherungen gar nicht unterrichtet sind und sich
selbst nicht zu helfen wissen, auch im allgemeinen in rein formellen Dingen
ratend zur Hand und sind ihnen behilflich bei der Wahrung ihrer Rechte.
Dabei ist mau in den sozialen Gesetzen bisher merkwürdigerweise über die
gesetzliche Fixierung der Rechte und Pflichten der Ärzte hinweggegangen. Die
Ärzte, deren Thätigkeit wesentlich mit ein Gegenstand der Versicherung ist,
sind einfach als Stand unberücksichtigt geblieben, und bei der Ausführung der
Gesetze werden die Standesinteressen erdrückt zwischen Merkantilismus, Nepo¬
tismus, Bureaukratismus, Charlntcinerie usw.
Daß bei der vorgeschlaguen Regelung alle Krankenkassen in die Landes¬
versicherungsanstalten einverleibt würden, geht aus dem Gesagten hervor.
Warilin die Innungs- und Betriebskrankenkassen in ihrer Zersplitterung er¬
halten werden sollen, wie es von den Regierungen scheinbar beabsichtigt wird,
dafür scheinen mir keine genügenden Gründe vorzuliegen. Deshalb möchte ich
einiges über die Betriebskrankenkassen anführen, deren Leistungen so besonders
laut gepriesen werden, und deren Erhaltung so energisch gewünscht wird.
Als Mehrleistung der Betriebskrankenkasseii wird angeführt, daß deren
statutenmüßige Unterstützungsdauer durchschnittlich achtzehn Wochen beträgt,
während die der Ortskran kenkassen nur 15,6 Wochen beträgt. Hält man aber
dagegen die statistisch berechnete thatsächliche Dauer der Unterstützung mit
Krankengeld auf einen Durchschnitts krankenfall. so betrügt die thatsächliche
Unterstützungsdauer bei Betriebskrankenkassen nur 15,8 Tage, bei Ortskranken-
kasseil 17,3 Tage. Bemerkenswert bei Erläuterung des Gegensatzes zwischen
statutenmüßiger und wirklicher Leistung der Betriebskrankellkassen ist mich, daß
im Jahre 1896 an Kur- und Verpflcgungskosten entfielen auf hundert Mit¬
glieder durchschnittlich bei den Ortskrankenkassen 188 Mark, bei den Betriebs¬
krankenkassen 144 Mark, bei allen Knsscnarten durchschnittlich 171 Mark. Bei
den Betriebskrankenkassen, in denen die Betriebsinhaber imumschrünkt herrschen,
muß man von der großen Mehrzahl der übrigen die einzelnen Betriebskranken¬
kasseii unterscheiden, die unter der Leitung von wohlwollenden, verständigen
und kapitalkräftigen Judustriefcudalen vielfach Musterkrankenkasscn geworden
sind. Wie der heutige Unternehmer häufig durch die Konkurrenz verhindert
wird, seinen Arbeitern erträgliche Arbeitsbedingungen zu bewilligen, so ist er
auch durch die Konkurrenz gezwungen, möglichst wirtschaftlich in den Betriebs-
krankenkassen zu arbeiten. Man kann von dem wirtschaftlichen Egoismus nicht
verlangen, daß er in dem allgemeinen Nutzen den eignen Vorteil sieht. Der
Fabrikant muß zunächst daran denken, Nutzen aus seinem Betrieb zu ziehn, und
kann sich nicht darum kümmern, ob eine übertriebne Arbeit in engen Räumen
und bei schlechter Luft die Gesundheit seiner Arbeiter oder Arbeiterinnen
schädigt und ihr Leben verkürzt. So lassen sich denn auch die Schattenseiten
der Betriebskrauteukassen, die mit den Grundprinzipien der sozialen Gesetze
nicht im Einklang stehn, ans den wirtschaftlichen Egoismus zurückführen.
Eine große Ungerechtigkeit liegt zunächst darin, daß die Ortskrnntenkassen
alle chronisch Kranken, die in der Gesundheit Schwachen als Mitglieder haben,
während die Betriebsunternehmer ihre Kassen davon entlasten. Die Arbeits¬
kräfte, die eingestellt werden sollen, werden vorher ärztlich untersucht, alle
Arbeitsuchenden, deren Gesundheitszustand zu irgend einem Bedenken Anlaß
giebt, werden abgewiesen. Ist jemand sonst gesund, hat aber z. B. einen
Leistenbruch, so heißt es: „Schaffen Sie sich zunächst von Ihrem Gelde ein
Bruchband an, dann kommen Sie wieder!" Findet der Arbeiter dagegen Be¬
schäftigung bei einem Unternehmer, der keine Betriebskrankenkasse hat, so wird
er z. B. bei der Ortskrankenkasse angemeldet und läßt sich auf deren Kosten
ein Bruchband verschreiben. Ein so ungleiches Verfahren liegt nicht im Sinne
der sozialpolitischen Gesetzgebung; für den Arbeitsuchenden, der vielleicht aller
Mittel bar ist, liegt darin oft eine grausame Härte, es ist aber eine ebenso
notwendige Folge einer ökonomischen Verwaltung, wie folgendes Vorgehn:
Angenommen, ein Schlosser war bisher Mitglied bei einer Ortskraukeukasse
mit getrennten Lohnklassen und rangierte in der Lohnklasse von 4 Mark täg¬
lichem Arbeitsverdienst, und er wird nun durch Wechsel der Arbeitsstätte Mit¬
glied einer Betriebskrankenkasse, worin für alle Versicherten ein Durchschnitts¬
arbeitsverdienst von Mark zu Grunde gelegt ist, so werden dadurch die
Leistungen der Kasse für ihn wesentlich verschlechtert. Außerdem wird dieser
Durchschnittsarbeitslohi, zur Berechnung der zu klebenden Jnvalidenmnrken zu
Grunde gelegt, und so wird während der Dauer dieses Arbeitsverhältnisses
der Versicherte in der Invalidenversicherung von der fünften Lohullasse mit
36 Pfennig-Beitragsmarke herabgedrückt auf die dritte Lohnklasse mit 24 Pfennig-
Beitragsmarke. Denn für die Zugehörigkeit des Versicherten zu den Lohn¬
klassen der Invalidenversicherung ist nicht der thatsächliche, sondern der für die
Krankenversicherung maßgebende Arbeitsverdienst entscheidend. Wer um jähre
oder jahrzehntelang einer solchen Betriebskrankenkasse angehört, wird natürlich
eine viel niedrigere Invalidenrente bekommen als ein Berufsgenosse mit dem¬
selben wirklichen Arbeitsverdienst, der aber zufällig einer Ortskrankenkasse an¬
gehörte.
Als nationalökonomisches Kuriosum tönt ich mir nebenbei erwähnen, daß
bei der geschilderten Art dein kleinen Unternehmer ohne Betriebskrankenkasse
gegenüber eine geringere Belastung der großen Unternehmer mit Betriebskranken¬
kassen durch die Festsetzung eines verhältnismäßig niedrige», der Berechnung
zu Grunde liegenden sogenannten Durchschnittsarbeitsverdienstes erzielt werden
kann. Ob in dieser Hinsicht ein verbreiteter Mißbrauch besteht, weiß ich nicht,
und es läßt sich auch schwer feststellen, ich habe ihn nur gelegentlich gefunden.
Eine verführerische und auch übliche Art, die Betriebskrankenkassen finanziell
zu entlasten, besteht auch darin, daß der Fabrikkassenarzt, wenn er sich bei der
Boruntersuchung und Entscheidung der Frage, ob ein Arbeitsuchender zur Auf¬
nahme geeignet sei, geirrt hat, nachher, sobald er beobachtet, daß ein Arbeiter
doch zu häufigen Erkrankungen und finanziellen Ansprüchen an die Kassen
neigt, ihn dem Betriebsinhnber zur Entlassung vorschlägt. Daß die geschilderte
Praxis furchtbare Härten birgt, und deu Arzt häufig zum Heuler macht sür
den mit einem Gebrechen behafteten Arbeitsuchenden, der vergebens von Fabrik
zu Fabrik geht und sich auf dein Arbeitsmarkt wie ein Geächteter vorkommt,
ist bekannt.
Daß die häufig als Muster hingestellten Fabrikknssen infolge freundschaft¬
licher oder verwandtschaftlicher Beziehungen zwischen Inhaber und Arzt diesem
ein höheres Gehalt zahlen als notwendig wäre, und als beispielsweise eine
selbständige Arbeiterkasse zahlt, in dein Falle, daß sie mit dem Arzte kontra¬
hiert hat, ist ebenso notorisch, wie es für die Kasseninitglieder ungerecht und
für die Ärzte unwürdig ist. Die Statistik sagt, daß die Arztkosten bei deu
Fabrikkrankenkasseu auf je ein Mitglied im Jahre 1890 4 Mark 47 Pfennige
betragen, bei den Ortskrankenkasse» 2 Mark 79 Pfennige, durchschnittlich bei
alleu Kassen 3 Mark. Diese Zahlen sagen genug. Im großen und ganzen
habe ich gefunden, daß die Versicherten in den Betriebskrankenkassen keine
wohlthätigen Institute sehen, und sich in der Vertretung ihrer Rechte sehr be¬
hindert fühlen.
Wenn wegen der Überlastung mit Arzneikosten von den Krankenkassen so
viel Aufhebens gemacht wird, so sehe ich den einzigen Grund dafür, daß es
eine Apothekerfrage in der Krankenversicherung giebt, in dem Vorhandensein
von etwa 23000 Trägern der Krankenversicherung. Die Krankenkassen haben
größtenteils noch nicht die Preisbildung auf dem Arzneimarkte begriffen und
verstehn nicht, wie nur infolge ihrer mangelnden. Sachkenntnis das Arznei¬
ausgabenkonto so gewaltig gestiegen ist. Auf Grund einer sorgfältigen Be¬
arbeitung dieser Frage sagt Dr. Landmann in seiner Broschüre „Die Apotheker¬
frage und die Krankenkassen": Der Laicnstandpunkt der Verwaltungen, der
einem Eindringen in die Geheimnisse des Arzneiverkehrs und die Geschäfts¬
praktiken der Apotheker hinderlich war, dazu der Mangel an einen, einheit
lichen Vorgehn infolge der Zersplitterung des Krankenkassenwesens konnte ein
andres Ergebnis (als das einer allmählichen Überlastung) nicht zeitigen. Dafür
dient auch zum Beweise, daß die deutsche» Krankenkassen, die 1885 mit einem
jährlichen Arzneiunfwande von 1 Mark 62 Pfennigen für das Mitglied be¬
gonnen hatten, im Jahre 1898 schon bei einer Steigerung dieser Zahl auf
etwa 2 Mark 50 Pfennige angelangt waren; und so sehr man sich mich be-
mühn mag, bei der Beurteilung der Resultate der Neichsstatistik alle Momente
zu ihrem Recht kommen zu lassen, so kann mau die Thatsache uicht aus der
Welt schaffen, daß gegenwärtig der Arbeiter alljährlich einen vier- bis fünf¬
fach höhern Betrag zu den Einnahmen der Apotheker beisteuert, als vor der
Einführung der Krankenversicherung; wie sich denn auch auf der andern Seite
direkt nachweisen läßt, daß die krankenversichernngspflichtigen Arbeiter in
Deutschland auf den Kopf einen etwa doppelt so hohen Betrag an die
Apotheken entrichten wie die übrige Bevölkerung, Und alle diese Thatsachen
erscheinen in einem noch bezeichnendem Licht, wenn man bedenkt, daß sich der
Gesundheitszustand der Arbeiterklasse trotz dieses überreichlicher Arzneikousums
uicht nachweislich gebessert hat, daß vielmehr die zwanzig Millionen Mark,
die heute von der krankenversichernngspflichtigen Bevölkerung an die Apotheke»
abgeführt werden, zu mindestens zwei Drittel» lediglich ein Tribut der Un¬
wissenheit an den Eigennutz darstellen. — Diese Gedanke» treffe» deu .Kern
der Sache. Sobald die Kraukeiikasse» zentralisiert sind, wird die Zentrnlleitnng,
die mit gröhlen Zahlen rechnet, die große soziale Bedeutung von ärztlicher Ver-
ordmmgsweise, Apothekerpreisen, Arzncimitteltaxen erkennen »ut dnrch berufne
Sachverständige nach wissenschaftlichen Grundsätze» den Ausgabeposten unter¬
suchen und verringern durch ständige Kontrolle der Rezepte auf Taxe und
Verorduuttgsweise, durch fortgesetzte Statistik über die von de» einzelne» Ärzten
durchschnittlich verursachten Arzueiansgabeu, durch Kontrolle der Preisberech¬
nung der Apotheker für die dem freien Verkehr übergebueu Arzneimittel , die
beim bar bezahlten Handverkauf jetzt vielfach unter den staatliche» Taxpreise»,
den .Kasse» aber z» deu Taxpreise« abgegeben werden. Außerdem besteht für
die Apotheker bis jetzt meistens kein Grund, bei den Arz»eiwaren, die nicht in
den staatlichen Taxe» erwähnt sind, sich den Kassen gegenüber an die orts¬
übliche» Preise zu halte», weil sie dazu von den Kassen nicht gezwungen
werden. Die Preise für die staatlich nicht taxierte» Arzneiwaren unterliegen
ja den sonst ii» Handel maßgebenden Grundsätze», d. h. der freie» Nereiu-
barnng zwischen .Käufer und Verkäufer. Die Kassen üben jedoch vielfach ihr
Mitbestimmnngsrecht bei der Preisbildung nicht aus und bezahlen das doppelte
und dreifache des ortsüblichen Preises. El»e sachverständige Kontrolle wird
auch die Ärzte z» erzieh» wissen, die ans Unkenntnis der Dinge häufig die
teuern patentamtlich geschlitzten Artikel verordne», wem, man absolut dieselbe
Ware »uter anderen Name» in» einen Bruchteil des Preises erhalten kann,
oder die statt der heutzutage so billigen und exakter dosierten fabrikmäßigen
Herstellungen nach alter Gewohnheit die dnrch den Apotheker zuzubereiteten
und um ein vielfaches teurer berechnete» Arzneien verordne». Daß die
Patieuteii bei geringerm Arz»eivcrbrcmch uicht schlechter fahre», ergiebt sich
aus der überall festgestellten Thatsache, daß größere oder geringere Ausgabe!?
für Arznei auf die Dnrchschnittsdauer der Krankheiten keinen Einfluß haben.
Die vieleir kleinen Kassen können sich in dieser Apotheterfrage gar nicht helfen,
während große Organisationen nicht versäumen werden, das Arzneikonto in
einer noch steilern Kurve hinabzudrücken, als es seit der Gründung der Kassen
mangels Kontrolle in unnatürlicher Weise gestiegen ist, abgesehen davon, daß
auch eine gesicherte Stellung die Ärzte von dein Drucke der Apotheker und
von dem Zwange befreit, allzusehr dem Arzneiaberglanbeu der Versicherten
Rechnung zu tragen.
Daß die Krankenversicherung in großen territorialen Verbunden ein ein¬
heitliches System von Lohnklassen, vielleicht dieselben wie bei der Invaliden
Versicherung zu Grnnde legen und dadurch der Verwirrung, die durch das
Durcheinanderlaufen von ortsüblichen, wirklichem und durchschnittlichen Tage-
lohn geschaffen ist, ein Ende machen und mit der Zeit eine Verschmelzung der
Beiträge zur Krankenkassen- und Invalidenversicherung durchführen würde, ist
eine selbstverständliche Folge der Zusammenlegung beider Bersicherungsarten
und würde von allen beteiligten Kreisen als ungeheure Wohlthat und Ver¬
besserung empfunden werden. Auch in nebensächlichen Punkten würde die
Organisation auf breiter Grundlage große Vorteile bieten. Daß durch ein syste¬
matisch angelegtes großes Netz von Ärzten, von Zahlnngsstellen, vou Kassen-
und Kvntrollbeamten eine Vereinfachung, Verbillignng und Vervollkommnung der
Krankeilkontrolle geschaffen wird, liegt in der Natur des Großbetriebs. Wie
klar liegt dann anch die Überwachung der Invalidenrentner, deren kranken-
versicherungspflichtige Beschäftigung nach Dauer und Lohnhöhe dann auch vou
den Landcsversichernngsanstalten gebucht wird. Nur muß der Gefahr einer
schwerfälligen, bureaukratischen Geschäftsführung dadurch vorgebeugt werden,
daß für die leitenden Stellen sozial gesinnte höhere Beamte, Ärzte, Hygieniker
gefunden werden, denen Ausschüsse der Unternehmer und der Arbeiter zur Seite
stehn. Denn so wenig diese Arbeiterversicherluigsinstitute uuter der ausschlie߬
lichen Leitung und Verwaltung der beteiligten Kreise im großen und ganzen
ihrer Aufgabe gerecht geworden sind, so gut hat sich doch die Teilnahme an
der Verwaltung und Rechtsprechung bewährt, indem dadurch den Mitarbeitenden
die Grenzen des Ausführbaren klar werden, und indem dadurch einer schema-
tischen Geschäftserledigung vorgebeugt wird.
Dann würde auch die jetzt bei der Krankenversicherung fehlende, aber
unbedingt notwendige strenge Dieustaufsicht durch sozialpolitisch geschulte, von
den interessierten Kreisen unabhängige Beamte geschaffen und dafür mehr Sorge
getragen werden, daß alle Exekutivorgane der Versicherung in dem humanen,
sozialen Geiste der N^rür clmrw der sozialpolitischen Gesetzgebung, der aller¬
höchsten Votschaft Kaiser Wilhelms 1. vom Jahre 1881, jeder an seiner Stelle,
ihre Pflicht erfüllte», sodaß wir nicht nur sozialpolitische Gesetze, sondern auch
eine wohlwollende, lebendige, aber anch gerechte Handhabung Hütten.
Im Rahmen dieser Gedankengänge muß sich die Revision des Kranken
Versicherungsgesetzes bewegen, und auf dieser durch seine hohen Ziele und Auf
gaben gegebnen Grundlinie muß eine alle Parteien, die Unternehmer, Arbeiter,
Ärzte und Kassenbeamte versöhnende Lösung gefunden werdend)
^lie Neue Bachgesellschnst, über deren Gründung und Zweck die
Leser seiner Zeit unterrichtet worden siud, hat kürzlich ihre ersten
Hefte veröffentlicht und ihr erstes Wachsest abgehalten, ihre öffent¬
liche Thätigkeit also begonnen.
Die Hefte bringen fünfundsiebzig von Sebastian Bach kom¬
ponierte oder bearbeitete geistliche Lieder und Arien in doppelter Form. Das
erste Heft legt sie als Sologesänge mit Begleitung des Klaviers (auch für
Harmonium oder Orgel zu gebrauchen), das zweite als vierstimmige Chvr-
gesänge vor. Die Quellen dafür sind das Schemellische Gesangbuch und das
zweite „Notenbuch" von Anna Magdalena Bach, des Komponisten zweiter
Frau. Aus Schemelli stammen neunundsechzig, ans dem Notenbuch sechs
Stück. An beiden Stellen sind sie in dein abgekürzten Stil des achtzehnten
Jahrhunderts notiert, d. h. im zweistimmigen Satz: Sopran und Baß. Und
so sind sie im Laufe unsers Jahrhunderts wiederholt, zuletzt noch in der Bach¬
ausgabe (39. Jahrgang) nengedruckt worden. Auch jeder bessere Dilettant ver¬
stand sich zu Bachs Zeit darauf, den Baß bei leichtern Kompositionen vom
Blatt „auszusetzen," durch volle Harmonien und Kontrapunkte zu ergänzen.
Die zahlreichen Sammlungen deutscher Lieder, die wir von den dreißiger
Jahren des siebzehnten Jahrhunderts ab besitzen, sind alle in dieser unvoll¬
ständigen Weise gedruckt; erst als sich am Ende deö achtzehnten Jahrhunderts
die Berliner Schule an die große Menge wendet, wird allmählich der be¬
zifferte Baß durch ein ausgeführtes Accompagnement ersetzt, die Klavierpartie
ans zwei Systemen, so wie sie klingen sollte, mitgeteilt. Von da ab ist die
Kunst nach dem bloßen Baß zu spiele» in Laienkreisen mehr und mehr aus¬
gestorben, infolgedessen sind auch die originalgetreuen Neudrucke der Bachschen
Lieder fast gänzlich unbenutzt geblieben, und Bachs Beiträge zu Schemellis
Gesnugbuch habe« el» bloß sagenhaftes Dasein geführt. Es war ein glück¬
licher Gedanke der Neuen Bachgesellschaft, hier einzugreifen lind ihren Mit¬
gliedern diesen Schatz geistlicher Hausmnsik in der Fassung vorzulegen, in
der ihn die Gegenwart einzig gebrauchen kann. Denn die Hausmusik ist
und bleibt die natürliche und unentbehrliche Grundlage aller Musikpflege;
wird sie für den unbekannten, oder unverstandnen Teil der Bachschen Kunst
gewonnen, so ist viel gewonnen. Die deutschen Familien, in denen noch, sei
es auch nnr an Sonntagabenden, einige geistliche Lieder gesungen werden,
sind ja in jedem Ort leicht zu zählen, aber erloschen ist die schöne Sitte noch
nicht. Kann sie überhaupt wieder erstarke», so wird das am ersten durch eine
Musik ermöglicht, wie die hier gebotne, Musik läßt sich bekanntlich nicht er¬
schöpfend beschreiben - - sonst brauchten wir sie nicht , aber wenn sie über¬
haupt Gehalt und Wert hat, läßt sich ein Begriff davon geben. Der bietet
sich hier um einfachsten durch einen Verweis auf die bekannten geistlichen Lieder
Wolfgang Francks, des ersten Klassikers der Gattung, von. dem wir glücklicher¬
weise jetzt ab und zu das „Sei uur still" oder ein andres seiner innigen und
reichen Stücke wieder in deu Kirchenkonzerten hören. Von dieser Franckschen
Art sind auch die Bachschen Lieder - einfach, volkstümlich, aber durch und
durch voll Leben, mit Empfindung und Phantasie bis in die kleinsten Spitzen
getränkt. Mit dem, Vergleich ist schon gesagt, daß sie keine eigentlichen
Kirchenlieder sind, obwohl sie zum ganz überwiegenden Teil zuerst in einem
Gesangbuch herausgekommen sind, und obwohl einzelne die Choralfermaten
haben. Wie das Frehliugshallseusche und andre Gesangbücher des achtzehnten
Jahrhunderts, so rechnete auch das Schemellische mehr als ans den Gottes¬
dienst auf die häuslichen Andachten, Das spricht sich in den Melodien selbst
ans, die viel freier gebant, flüssiger und rhhthmisch frischer siud als die zu
jener Zeit schon in Erstarrung geratnen Weisen des eigentlichen Gemeinde¬
gesangs,
Georg Christian Schemelli, Schloßlanlor in Zeitz, scheint dnrch seinen,
Sohn und Amtsnachfolger Christian Friedrich Schemelli, der im Jahre 1735
in Leipzig immatrikuliert wurde, mit Bach in Verbindung gekommen zu sein
und benutzte das, als er im Jahre 1736 ein Gesangbuch für das Stift Naum-
burg-Zeitz herausgab, das dem pietistischen Frehlinghnnsen Konkurrenz machen
und wie dieses zu deu Texte» auch Melodien bringen sollte. In demselben
Jahre war dnrch die berühmte „Singende Muse" des Sperontes die Komposi¬
tion einstimmiger Lieder mit Begleitung überhaupt in Deutschland wieder in
Fluß gekommen; den Sammlern und Herausgebern war für den Wettstreit an
berühmten Namen gelegen, und deu bot Bach wenigstens für den Sprengel,
um den es sich handelte. So macht denn auch die Vorrede des Scheinellischen
Gesangbuchs besonders darauf aufmerksam, „daß die in diesen, Mnsicalischen
Gesangbuch befindlichen Melodien von Sr, Hochedlen Herrn Johann Sebastian
Bach, Hochfürstlich-sächsischem Kapellmeister und Dirootoro oliori Nusioi in
Leipzig theils ganz neu eomponiret, theils auch von Ihm, im Generalbaß ver¬
bessert worden sind." Man hätte - heißt es dann weiter — noch mehrere
beifügen können, und es lägen bei gutem Absatz der erstem Auflage noch andre
zweihundert zum Stiche bereit. Das ergiebt also mit den gedruckten eine
Summe von mehr als zweihundertsechzig von Bach komponierter oder be-
arbeiteter geistlicher Lieder, und dazu stimmt eine von Spitta aufgedeckte Notiz
in Breitkvpfs „Verzeichnis uslv," aus dem Jahre 1764, nach der eine Bachsche
Sammlung von zweihuudertvierzig in Melodie und Generalbaß notierten
Choralgesängen abschriftlich angeboten wird. Diese beiden Thatsachen bestätigen
demnach die bei einem Leipziger Musiker jener Zeit naheliegende Vermutung,
daß sich Sebastian Bach mit dem deutschen Lied, dem geistlichen wenigstens,
fleißig beschäftigt hat. Leider aber sind die Schemellischen Stiche ebenso wie
die Breitkopfschen Handschriften verschollen, und nur das in Schemellis Ge¬
sangbuch wirklich gedruckte Viertel und die wenigen im Notenbuch aufgezeich¬
neten Stücke noch erhalten. Auch die neunundsechzig Lieder ans Schemelli
sind, wie schon angedeutet worden ist, nur zum Teil Originalkompositionen;
nach Spitta beträgt ihre Zahl neunundzwanzig, uach den neuern Feststellungen
F. Wnllners vierundzwanzig. Die übrigen Melodien entnahm Bach ältern
Sammlungen; einzelne den französische» Psalmen, mit Vorliebe wandte er
sich um den Berliner Crüger und an Johann Schop. Andern Quellen, die
man an erster Stelle erwartet, wie dem Scheinschen Cantional, ist er vor¬
beigegangen. Das erklärt sich bei näherer Prüfung jedoch ziemlich einfach,
Scheins Kompositionen waren an sich vollkommen, die der andern Tonsetzer
der Verbesserung fähig, Bach gab ihnen einen neuen „Generalbaß," Harmonien
von eignen Bachschen Gepräge, So vertreten die von Bach mir bearbeiteten
Schemellischen Lieder melodisch die Zeit, harmonisch den großen Künstler, und
vereinigen somit das beste, was die Spanne vom sechzehnten bis zum acht¬
zehnten Jahrhundert auf beiden Gebieten anzuweisen hat.
Manchem Leser wird es unklar sein, warum die Neue Bachgeseilschaft die
Lieder in doppelter Bearbeitung vorgelegt hat, denn in neuerer Zeit kommt
es bis auf verschwindende Ausnahmen, bei Mozart, Beethoven z, B,, nicht
mehr vor, daß eine Komposition so oder so ansgeführt werden kann, jeder-
mann hat sich an die vom Komponisten im Druck vorgeschriebue Besetzung zu
halten, niemand wagt es gegen diese endgiltige Willensmeinung zu verstoßen.
Auch im achtzehnten Jahrhundert waren Kompositionen, die in Singstimme
und Baß gedruckt wurden, in erster Linie als Sologesänge mit Begleitung
eines Harinouieinstrnments gemeint, aber eine andre Verwendung war nicht
ausgeschlossen, Sie konnten als reine Jnstrnmentnlstücke passieren, noch häusiger
wachte mau Chvrgesüngc daraus. Die Begriffe über Haupt- und Nebensache
am Kunstwerk waren viel freisinniger, als sie hente in der Musik sind, bei der
Übertragung von ursprünglichen Sologesängen ans den Chor kam noch ein
Gegensatz zwischen alter und neuer Zeit ins Spiel, der in Deutschland zu
stärker», Ausdruck gelangte als in andern Ländern, Während in Italien am
Anfang des siebzehnten Jahrhunderts der neue Sologesang die Chormusik
einfach zur Seite schob, drängte man in Deutschland von vornherein ans Ver¬
mittlung, So mußte gleich Heinrich Albert zahlreiche Nummern seiner ein¬
stimmigen Arien für spätere Auflagen zu Chorliedern einschreiben. Dieser eine
Fall genügt, das Verfahren, das die Neue Bachgesellschaft für den prnt-
dischen Gebrauch der Nachsehen Lieder eingeschlagen hat, zu begründen, Hinzu¬
fügen könnte man, daß einzelne Stücke schon früher zu Ehorsätzen eingerichtet
und so aufgeführt worden sind. Wir erinnern uns einer sehr schönen Bc-
nrbeitnng der Nnimner 20: „Es ist vollbracht," dnrch Wilhelm Nllst. Daß
auch die Melodie dieses Stücks, die ans Freylinghausen stammt, von Ruft
trotz beachtenswerter Gegenbeweise für eine Bachsche Erfindung gehalten werden
konnte, weist darauf hin, daß sich im melodischen Werte die von Bach kom¬
ponierten und die bloß bearbeiteten Scheinellischen Lieder gleich stehn.
Sowohl für die Ausgabe der Lieder als Sologesänge mit Klavierbeglei¬
tung, wie für die als Chorsätze hat die Gesellschaft bewährte Bachkcnuer ge¬
funden; die erste Arbeit hat Professor Ernst Naumann in Jena, die zweite
Kapellmeister Franz Wüllner in Köln durchgeführt. In der Natur der Sache
liegt es sowohl, daß beide Bearbeiter im wesentlichen übereinstimmen, als auch,
daß die Naumannsche Arbeit im ganzen einen einfachern Eindruck hinterläßt.
Wnllners Rhythmik ist an mehreren Stellen bewegter, unruhiger, als der Chvr-
satz an sich verlangte, seine ganze Auffassung der Bachschen Vorlagen subjek¬
tiver, an Stellen, wo der Baß durch Verzicht ans Ziffern Freiheit ließ, oft
wundervoll romantisch in der Harmonik. Die Nortragsliezeichuungen und
Temponngaben Wülluers hätten sich auch für die Naumannsche Ausgabe em¬
pfohlen. Ein guter Musiker braucht hierin seinein natürlichen Gefühl keine
Schranken anzulegen, wenn es durch historisches Wissen geregelt ist, und wenn
er seine Zuthaten als solche kenntlich macht. Wir hoffen, daß beide Ausgaben
fleißig benutzt werden; der Bachschen Vokalmusik, die von vielen mit Recht ge¬
fürchtet wird, können durch diese Lieder nur Freunde erstehn.
Viele Mitglieder der Gesellschaft haben den Wunsch, etwas über die
weitern Publikationen zu erfahre» und deren genauen Plan, der doch wohl
feststeht, kennen zu lernen. Mit Befriedigung erfüllt das grundsätzlich gegebne
Versprechen, daß nicht bloß Noten, sondern auch Schriften geliefert werden
sollen. Wissenschaftliche aber gemeinverständlich gehaltne Arbeiten, die über
Bachsche Kunst aufklären, fehlen sehr empfindlich,- die Bachbiographie Spittns
hat noch viel übrig gelassen und bedarf, soweit es sich um rein musikalische
Fragen, um richtige Auffassung, sogar um richtiges Lesen Bachschcr Komposi-
tionen Haiwelt, häufig der Berichtigung. Um die Bestimmung von Daten und
Hergängen, um die genaue geschichtliche Einstellung Bachs, um die Kenntnis
seines Bildungsgangs, seiner Vorläufer und Mitarbeiter hat sich Spider un¬
geheure Verdienste erworben. Aber die Fülle des Stoffs schloß auch auf diesem
Gebiet eine erschöpfende Bewältigung aus; es ist eine Pflicht der Neuen Bach¬
gesellschaft, seine Arbeit da fortzusetzen, wo er sich auf Anregungen beschränken
mußte. Das wäre zunächst das Studium der deutschen Zeitgenossen Bachs.
Auch da vertrauen wir dem Naturgesetz, daß Riesenbäume nicht im Gestrüppe
wachsen.
Die Bedeutung der Gesellschaft liegt nicht bloß in der speziellen Bach¬
propaganda, sondern ebenso sehr darin, daß sie ein weiteres, wichtiges An-
fangsglied zu der praktischen Organisation bildet, deren die auf Wieder¬
belebung alter Tonkunst gerichteten Bestrebungen schon lange bedürfen. Die
Einsicht, daß es die Neudrucke allein nicht thun, scheint noch immer nur
wenigen klar zu sein, und die Bemühungen der uoch wenigen?, die nach ihr
seit Jahrzehnten thätig gewesen sind, haben nirgends ins Weite gewirkt. Was
und wer im heutigen Musikwesen beachtet werden will, muß mit Geräusch und
Ansprüchen auftrete». Dieser Notwendigkeit folgend, hat Chrysandcr seine
neuen Einrichtungen Händelscher Oratorien zuerst in Händelfesten vor die
Öffentlichkeit gebracht, und diesen, Beispiel will die Neue Bachgesellschaft mit
ihren Bachfesten folgen.
Das erste hat sie an Bachs Geburtstag anknüpfend, das hundertfünfzigste
Jahr seines Todes nachfeiernd, in den Tagen vom. 21. bis 23. März zu
Berlin mit drei Konzerten, einer Ausstellung und mit Zusammenkünften der
Besucher begangen.
Die Wahl Berlins als Festort begründet die von Kretzschmar verfaßte
Festschrift mit den Sätzen: „Daß diese Bachfeste in Berlin einsetzen dürfen,
hat nicht bloß wegen der musikalischen Mittel der Reichshauptstadt, die sogar
erlaubt haben, den Ausführungen eine Ausstellung hinzuzufügen, Wichtigkeit,
sondern darin kommt die Thatsache zum Ausdruck, daß Berlin an der Bach¬
bewegung von jeher die größtem Verdienste gehabt hat. Hier in Berlin lebte
mit den andern großen friedcrizianischen Erinnerungen Bachsche Kunst auch
in den Zeiten, wo sie für das andre Dentschland tot war. Hier wirkten Kirn-
berger, die Singakademie, Zelter, Pölchau, hier zeigte der junge Mendelssohn
kühn der erstaunten Welt, daß der als Fugenschmied und Rechenmeister ge-
fürchtete Bach ein Tondichter vom größten Maßstab war. Otilie Berlin hätten
wir heilte keinen Bach mehr, und much die Gesamtausgabe seiner Werke ist
zum ganz überwiegenden Teil Berliner Sammlungen, vor allem der .König¬
liche!, Bibliothek zu danken." Die Thatsache, daß Berlin in entscheidenden
Zeiten Hauptträger der Bachbewegung gewesen ist, läßt sich uicht bestreiten,
zu vervollständige« wäre sie vielleicht mit dem Hinweis, daß, wenigstens in
der romantischen Periode, israelitische Kreise die Führer und die besten Stützen
stellten. Das zu betonen verlangt die Gerechtigkeit, die lockende Untersuchung
der Gründe und Folgen dieser noch heute vorhandnen Hinneigung wäre eine
Sache für sich. Den für Berlin sprechenden Pietatsgrüuden standen aber sicherlich
auch Bedenken gegenüber, das stärkste in der Zerrissenheit des Berliner Musik¬
lebens. Das hat sich bei den. Bachfeste doch fühlbar gemacht.
In die Aufgabe hatten sich der Philharmonische Chor, die Königliche Hoch¬
schule für Musik und die Singakademie mit rühmlichsten Eifer und mit einer
ihren Dirigenten nicht genug zu dankenden Hingebung so geteilt, daß jedes der
drei Institute ein selbständiges Festkonzert durchführte. Der Philharmonische
Chor brachte am ersten Tage die drei .Kantaten: „Gott der Herr ist Sonn und
Schild," „Christ lag in Todesbanden," „O Ewigkeit, dn Donnerwort" und drzu
zwei Kanlatenbruchstücke, die Altarie: „Schlage doch, gewünschte Stunde" und den
gewaltigen Chvrsatz: „Nun ist das Heil und die Kraft"; die Hochschule am
nächste» Tage: Präludium 6-aur und Fantasie über „Jesu, meine Freude" für
Orgel, die fünfstimmige Motette „Jesu, meine Freude," die ^-aur-Sonate für
Klavier und Violine, das erste und das zweite Brandenburgische Konzert, zwischen
ihnen die Vaßarie „Mit Verlangen" ans der weltlichen Kantate: „Der Streit
zwischen Phöbus und Pein," die Singakademie am dritten Tage: die (kleine)
Messe in ^-aur, das sechste Brandenburgische Konzert, das Musikdrama: „Der
zufriedengestellte Aotus." Sie beschloß das Fest mit dem ersten Sah aus dem
Gloria der F-elur-Messe. Das sind mit Ausnahme der beiden Messen lauter
vollwertige Werke, nud wem es darauf ankam, überhaupt einmal viel Bach
hintereinander zu hören, der ist bei diesem Programm ans seine Kohle» ge-
kommen. Schweizer nud Wiener Besucher des Festes habe» das auch dankbar
anerkannt und noch ausdrücklich dabei die sichern, teilweise glänzende» Chor-
leistnngen gerühmt, Berliner Berichterstatter dagegen bemängelt, daß ihnen das
Fest mir wenig geboten habe, was sie nicht zu gewöhnlichen Zeiten mich haben
könnten. Wenn sie daraus geschlossen haben, daß die Bachfeste und die Neue
Bachgesellschaft überflüssig seien, kennen sie deren Statuten nicht. Einer der
Herren schien nicht einmal die Festschrift gelesen zu haben, wenigstens hat
er es übersehen, daß dort die von ihm vorwurfsvoll angeregte Einführung
der Bachschen Kantaten in den Gottesdienst, die schon der Schlnßbericht der
Bachausgabe gefordert hat, klar genug wieder verlangt wird. „Sie (die.Kan¬
taten) der .Kirche wieder zuzuführen - heißt es da Seite 20 — muß eine
Hauptaufgabe der Nacharbeit für die uüchste Generation sein. Einstweilen
zwingt die Not, sie ins Konzert zu stelle»." Derselbe Herr hat gegen die
Gesellschaft auch die leichtfertige Beschuldigung erhoben, daß sie willkürlichen
Kürzungen Bachscher Werke das Wort rede. Leichtfertig nenne» Nur das,
weil der Herr — es handelt sich um den Berichterstatter der Berliner Neuesten
Nachrichten - - nicht unwissend genug ist, zu glauben, daß Matthäuspassion
und ähnliche Werke jemals haben vollständig, d. h. bei jeder Ausführung mit
allen Arien aufgeführt werden sollen.
Es läßt sich gleichwohl der Bachgesellschaft der Vorwurf nicht ersparen,
daß das Programm des Festes den Zwecken nicht entsprach. Bachaufführungeu
haben wir genng, die Bachfeste sollen belehrend und ergänzend dazwischen
treten, sie werden eines akademischen Z»sah»nes nicht entbehre» können
und ihre Auswahl nach einheitlichen, in die Augen springenden Absichten
gestalten müssen. Die Berliner Programme zeigten die Bachbedentnng der
ausführenden Institute im möglichst günstigen Licht, auf die Bachpropaganda
richteten sie sich erst in zweiter Linie. Sie waren infolgedessen am zweiten und
am dritten Tage etwas bunt, am erstell boten sie nicht el!? einziges von den
unbekannter« Werke», die die Statuten in den Vordergrund stellen. Was sich
aber »ach dieser Richtung hin leisten läßt, das hat der Erfolg des „zufrieden¬
gestellte» Aotus" gezeigt, der, obwohl el» Teil der Arie» »»genügend wieder¬
gegeben wurde, durchschlug. Max Kalbect äußert im Neuen Wiener Tageblatt
das höchste Erstaunen, in diesem Werke Bach als Vorläufer Offenbachs zu
finden; nach der Auslegung, die Spitta von diesem ckramiriÄ in »M8i<z» giebt,
hatte das mich niemand erwarten können. Auch die Vorführung dreier Braudcn-
burgischer Konzerte gehört zu den uttbcstreitbareu Verdiensten des Festes,
Als reproduktive Leistungen boten die Aufführungen des Ausgezeichneten
genug, und auf verschiednen Wegen wurde es erreicht. Von der Hochschule
durch feste Ausprägung des Grundcharakters der Sätze, eminent musikalisch,
von andern durch das Streben nach sinnliche!? Wirkungen oder im geraden
Gegensatz dazu durch Schlichtheit und Natürlichkeit. Nerschiednes, einzelne
Sätze aus der Kantate „Christ lag in Todesbanden," die Violinsonate, die
Motette, Mescharts Meistergesang, der erste Chor ans dem Aotus, aus dem
Gloria der ?-<tur-Messe wird deu Festteilnehmern noch lange nachklingen.
Daß manche Sätze, manche Stellen versagten, muß offen ausgesprochen werden.
Langweile sich das Publikum hente und liest morgen, daß alles vollendet und
herrlich war, so wird es am Komponisten irre oder verfällt der schon ge¬
nügend entwickelten Mnsikhcnchelei noch mehr. Solche tote Augenblicke nud
Minuten gab es beim Berliner Bachfest mehr als einmal. Zuweilen waren sie
dnrch mangelhaftes Eindringen in Text und Situation, durch NichtVerständnis
von Bachs Intentionen verursacht. Einen Hauptfall dieser Art bot in der
Kantate: „Gott der Herr" das Duett: „Gott, und Gott, verlaß die Deinen
nicht." Daß die Orchesterstellen hier eine Kriegsmusik bedeuten, die die Betenden
erschrecken soll, konnte aus dem matten Vortrag niemand ahnen. Noch häufiger
zeigte sich Nnbekauutschnft mit feststehenden Gesetzen des Bachstils, falsche Be¬
handlung des Accompagnements, der Besetzung und der Dynamik. Durch
farblose und leblose Begleitung der Orgel oder des Cembalos gingen viele
schöne Sätze verloren: fast der ganze Dialog „O Ewigkeit," die Arien der
Frauen und des Tenors im „Zufriedengestellten Aotus," auch manche Ab¬
schnitte in deu Konzerten. In der Besetzung begann das Fest sofort mit einer
Enttäuschung: die Hörner waren im ersten Satz der ersten Kantate nicht im¬
stande, das führende Thema zur gebührenden Geltung zu bringen. Ähnlich
blieb es bis zum Schluß des dritten Tages: nirgends ein wirklich Bachsches
Orchester, sondern bis auf kleine Modifikationen das gewohnte moderne Orchester
mit dem kolossalen Mergewicht der Streicher. In der Dynamik konnte man
zwei entgegengesetzte Methoden bemerken: vollständig subjektives Ermessen auf
der eitlen Seite, auf der andern strengster Gehorsam gegen den Wortlaut der
Noten. Beide sind vom Übel, die gefährlichere ist aber wohl die zweite. Mit
ihr kam es in der ^ eappölla vorgetragnen Motette „Jesu, meine Freude"
sogar zu falsche» Akkorde»; man hatte die geschichtlich genügend verbürgte
Thatsache, daß auch die Bachschen Motetten mit sechzehnfüßigen Orgelstimmen
begleitet wurden, außer acht gelassen und nicht einmal für nötig oder erlaubt
gehalten, an den Stellen, wo die Bässe über die Tenöre hinausschreiten , die
untere Oktav mitsingen zu lassen. Um derartigen Vergehen gegen Bach fernerhin
zu steuern, um über Schwierigkeiten, wie sie in Berlin z. V. die Hörner boten,
aufzuklären, sind die Bachfeste da. Nach dieser Richtung hat das erste nur den
bisher herrschenden Zustand noch einmal festgestellt und den Nachfolgern die
Aufgabe hinterlassen, Wandel zu schaffei,. Dazu wird nötig sein, daß für
das nächste ein Ort gewählt wird, der eine einheitliche Leitung ermöglicht.
Sehr erwünscht wäre es, wenn dabei der Gedanke einer Bnchausstellung
wieder aufgenommen werde» könnte. Dem Berliner Apparat wird man es
auswärts nicht gleich thun können, aber es ist nicht ausgeschlossen, daß man
z. B. in Thüringen einen ganz hübschen Borrat von Instrumenten aus
Bachscher Zeit zusammenbringt und damit zugleich das laudsmaunschaftliche
und lokale Juteresse an Dingen der Musikgeschichte fördert. Das Vorzeigen
von Autographen halten wir dabei für minder wichtig, aber das Vorspielen
und Erklären Bachscher Instrumente für wesentlich. Das ist allerdings leichter
gesagt als gethan und müßte von langer Hand vorbereitet werden. Denn
wo hat man die Musiker, die Lauten, Gauden, Clarins spielen können?
Daß es aber noch welche giebt, hat das Berliner Bachfest gezeigt: ein junger
Hochschüler blies in dein zweiten Brandenburgischen Konzert die für unaus¬
führbar erklärte, bis ins dreigestrichne A reichende Trompetenpartie original¬
getreu. Vielleicht verlohnt es sich für später seineu Namen zu merken: er
hieß Stolle.
Auch noch andre Zugaben zu einem Bachfest liegen nahe. Eine ist
statutenmäßig versprochen und diesesmal ausgeblieben: Versammlung mit Vor¬
trägen und Diskussionen, wie sie sich bei der Goethe- und der Shakespeare¬
gesellschaft bewährt haben. Sind einmal Bachleute zusammen, so wäre es
leicht und einfach, den eigentlichen Festkonzerten noch einige kleinere Matineen
und Reeitals anzuhängen, Spezialkonzertchen für Orgel, für Klavier usw.
Dergleichen wird sich alles von allein gestalten. Der gemachte Anfang, hat das
eine, das die Hauptsache ist, bewiesen: daß für Bachsche Kunst ein Publikum
da ist, auf das weitere Pläne gegründet werden können.
'^WG^
^>>FL?
worden ist.ir bekamen nun Ruhe; uur vou dem jenseitigen Modderufer
hallt ein heftiges Jufanteriefeuer herüber. Dort muß »och ein
schweres Gefecht im Gange sein. Das Geschützfeuer auf unser
Lager hat etwas abgenommen, wohl weil die Aufmerksamkeit
des Feindes wie die unsrige auf die eigne Artillerie abgelenkt
In der Richtung nämlich, wo wir hergekommen sind, sehen wir
Geschützrauch. Daran erkennen wir unsre Geschütze, Es mag Wohl de Wer
sein oder ein andres Kommando, das uns zu helfen sucht. Gegen Abend
nimmt das Artilleriefeuer auf unser Lager zu. Einige Wagen brennen, auf
andern explodiert die anfgeladne Munition. Meine Griqnaländer, die heute
zum erstenmal ins Gefecht gekommen sind, möchten unter dem Schutze der
Nacht einen Handstreich gegen die vor uns ausgefnhrnen Geschütze unter¬
nehmen. Ich bin dabei und werde als einziger, der den General kennt, be¬
auftragt, dessen Einwilligung einzuholen. Ich mache mich auf den Weg und
finde Cronje mit dein Schnmbok, einer Peitsche, in der Hand an dem Flußufer
stehn; er imponierte mir durch seine Ruhe. Ich trage unser Anliegen vor,
werde aber kurz abgefertigt mit dem Worten: „Unterläßt das, ihr würdet
unsre eignen Leute treffen," Als ich weiter reden wollte, wandte er sich einem
andern zu, sodaß ich mich als entlassen betrachten mußte, Cronjes Antwort
verstand ich damals so, als seien schon genügend andre der unsrigen in derselben
Absicht wie wir unterwegs; jetzt glaube ich, er hat damit entweder das Kom¬
mando de Wels oder die aus Natal herbcigernfnen Unterstützungen gemeint.
Ich berichtete zunächst meinen Kameraden den Mißerfolg meiner Sendung,
Wir beschlossen nun ins Lager zu gehn, um uns mit Lebensmitteln zu ver¬
sorgen. Unter den: Lichte des Mondes, den grellen Blitzen der springenden
Granaten und Schrapnells ging es vorsichtig zu meinem Ochsenwagen. Er
war noch unversehrt. Wir luden im Lichte einzelner brennender Wagen zu¬
nächst die Munitionskasten ab bis auf den Teil, den wir mitzunehmen ge¬
dachten, und vergruben sie. Dann packten wir Wasser und Lebensmittelsäcke
auf, nahmen die Spaten und Munition mit und zogen uns, immer die uns
beschießende Artillerie scharf im Auge haltend, zu unsrer Stellung zurück.
Dort heben wir mit der ganzen Energie, die nur der Selbsterhaltungstrieb
giebt, und die durch das fortwährende Sausen der Granaten in uns wach
gehalten wird, einen tiefen Graben aus, bringen unsre Schütze hinein und
erwarten dann den Morgen. An Schlaf war vor Aufregung nicht zu denken.
Dazu ließ einen der schreckliche Lärm der krepierenden Granaten, das Stöhnen
der vererdenden Zugochsen im Lager und das Geschrei der Knffern nicht zur
Ruhe kommen. Unausgesetzt erzitterte die Erde von einschlagenden Granaten,
ähnlich wie das ein nah vorbeirollender Eisenbahnzug thut. Das wirkte aus
die Nerven!
Gegen Morgen wird die Beschießung stärker. Der Feind muß Artillerie-
verstärkuug erhalten haben. Noch vor Sonnenaufgang beginnt ein starker
Jnfanteriecmgriff auf unsre Stellung, der vollständig scheitert; schon um acht
Uhr ist er abgeschlagen. Überall vor uns sehen nur das Feld mit Toten und
Verwundeten bedeckt; aber mich wir haben Verluste, Es mochte wohl eine
Stunde des Wiederaufatmens vergangen sein, als das Artilleriefeucr eingestellt
wird. Ein kurzer Hoffnungsstrahl! Bald hören wir, daß wir nicht befreit seien,
sondern daß General Cronje nur um einen vierundzwanzigstündigen Waffen¬
stillstand zur Beerdigung der Toten gebeten habe. Mein erster Gedanke war,
die Ruhepause für alle Fälle anszuiliitzen. Ich nehme einige Leute zu meinem
Wagen zurücke Überall stoße ich auf die furchtbarste Zerstörung, Beinahe
alle Ochsen sind tot; von ihren hoch aufgetriebnen Leibern stehn die Beine
in die Luft. Die Wagen bilden zum größten Teil ein wildes Chaos, das
hier und dort brennt. Fortwährend höre ich Detonationen von sich em
zündender Munition. Über dem Lager liegt der gelbgrüne Rauch des Lhddits,
der mir den Atem nimmt. Von meinem jetzt beschädigten Wagen nehme ich,
was ich an Lebensmitteln in Säcken fassen kann. Mein Maat,") der mich
um Wagen gefunden hat, hilft dabei. Auch Munition graben nur wieder aus,
und schwer bepackt geht es in die Stellung zurück. Sie ist noch nicht erreicht,
als das Artilleriefeuer von neuem beginnt. Der Waffenstillstand ist also ab¬
gelehnt, die Belagerung geht weiter. Da gewinnt unsre Last doppelt an
Wert, und wir lassen sie auch uicht im Stich. Ohne Verlust kommen wir
über und über vom Lydditrnuch gelbgrün gefärbt in der Stellung an, der
nächsten Sorge überhoben. Langsam schleicht Stande um Stunde dahin, ohne
daß sich unsre Lage bessert. Von einer Hilfe von außen verspüren nur immer
noch nichts.
Abends acht Uhr läßt mich Oven Tom rufen und nimmt mich mit zum
General Cronje. Wir treffen ihn mit seiner Fran in einer weiten Höhle des
Flußufers, wo sie sitzen und Kaffee trinken. Er tritt an mich heran und fragt
mich, ob ich den Mut habe, durch die feindlichen Linien zu gehn. Ich bejahe und
erhalte nnn den Befehl, eine geheime Botschaft mündlich an de Wat zu über¬
bringen. Mit „Goeden Avond, General, goeden Avond, Tande" nahm ich Ab¬
schied. Es war Mitternacht, als ich zur Ausführung des Befehls unsre äußersten
Posten verließ. Auf allen Vieren schlich ich vorwärts, das Gewehr um die
Schulter gehängt. Ich kroch mit dem Gesicht möglichst dicht am Boden, gegen den
Hellem Himmel scharf ausspähend, ob sich nicht die feindlichen Vorposten davon
abhoben. Nach einiger Zeit sehe ich die Postenkette der Engländer und muß
mich nun entschließen, an welcher Stelle ich sie durchbrechen will. Ich schleiche
um ihrer Front entlang; die Posten stehn dicht. Da finde ich eine größere
Lücke. Das ist der richtige Platz. Langsam rutsche ich vorwärts, jetzt bin
ich auf gleicher Höhe mit den Nebenposten und fühle mich schon in Sicher¬
heit, da, noch ein Schritt, ich erschrecke, und gleich mir mein Gegenüber. Ans
der Erde erheben sich Gestalten; einige laufen davon, einige stürzen sich über
mich, Rimcls up, schreit es, viele Hände halten mich fest, ich bin gefangen.
Ich meine in den Boden versinken zu müssen vor Schmach und Schande und
bleibe ganz apathisch gegen das, was man mit mir thut. Nach meiner Ent¬
waffnung und Wegnahme alles dessen, was ich bei mir trage, werde ich unter
Schimpfreden hinter der englischen Posteilkette entlang und um unser Lager
nach rückivärts liegenden Abteilungen geführt. Wir machen einen mehrstün-
tigem Nachtmarsch, unausgesetzt von den Posten angerufen. Gegen Morgen
treffe ich bei dem Obersten des kanadischen Regiments ein, dessen Leute mich
gefangen genommen hatten. Die Offiziere fitzen vor einem Farmhaus gerade
bei dem Frühstück, als ich vorgeführt werde. Es erfolgt eine eingehende Ver¬
nehmung mit allerhand Kreuz- und Querfragen, Ich bleibe dabei, daß ich
ein Bure sei, der sein davougelanfnes Pferd verfolgt habe. Ich sage aus, daß
die eingeschlossenen Buren mit Lebensmitteln und Munition in Hülle und Fülle
Versehen seien, was auch wahr war, und daß sie sich noch viele Tage halten
könnten und auch wollten. Man giebt mir darauf mein Eigentum bis auf die
Waffen zurück, meine Briefe erst, nachdem mau sie gelesen hat. Die Behand¬
lung seitens der Offiziere war liebenswürdig; man lud mich sogar zur Teil¬
nahme am Frühstück ein, und mehr aus Höflichkeit als aus Hunger »ahn ich
eine Tasse Thee und einen Biskuit.
Als das Regiment aufbrach, wurde ich in ein Zimmer des Farmhanscs
eingeschlossen, eine Schildwache kam zu mir, eine andre trat vor das Haus.
Erst am Nachmittag wurde ich ius englische Hauptlager befördert. In einem
Nachen setzte man mich über den Modderflnß, dann ging es in einer halben
Stunde zum Lager, fortwährend der Neugier und dem einigen Verhör aus¬
gesetzt. Im Lager wurde ich zu den in den letzten Tagen gefangnen Buren
geführt, siebenunddreißig fast ausschließlich verwundeten Leuten, die mich gegen
meinen Willen ius Gespräch zöge». Als es bekannt wird, daß ich Englisch spreche,
kommen von dein dicht vor uns liegenden Kopje, auf dem der optische Telegraph
stand, englische Offiziere zu mir. Wir besprechen natürlich den Krieg und die
Ereignisse der letzten Zeit. Ein Major, der sich besonders liebenswürdig gegen
mich zeigt, sagt mir, sie hätten auch ihre eignen Ansichten über die Ursachen
des Kriegs, da aber um einmal Krieg sei, müßten sie dem Befehle nachkommen.
Da erhebt sich plötzlich ein Lärm: Crouje habe sich soeben ergeben, heißt
es, und der Major schüttelt mir die Hand mit den Worten: „Wenn wir uns
im Leben wiedersehen, dann hoffentlich als Freunde." Ich erkläre noch die
Meldung für unmöglich richtig, als er sich mit zuversichtlichen Lächeln weg-
begiebt. Es dauerte noch keine Stunde, als der Major mit verschiednen Offi¬
zieren wieder an mir vorbeikommt. „Sie haben doch Recht gehabt," rief er
mir zu, „der Heliograph ist falsch abgelesen worden." Die Nacht verbrachte
ich im Lager. Ich litt darunter, denn sie war kalt, und ich hatte weder eine
Decke noch einen Regenmantel, um mich und meine Kleider vor niedergehenden
Regenschauern zu schützen.
Am dritten Tage wurden wir den Fluß abwärts nach Mvdderriverstation
geführt. Zwei Tage dauert der Marsch. Meine Bekleidung leidet sehr, meine
Stiefel sind durchgelaufen. Eine Schonung der Gefangnen auf diesem Marsche
giebt es uicht. Als wir von der ausgefahrnen, schmutzigen Straße herunter und
neben ihr hergehu, ruft ein vornehmer Offizier der Cith Imperial Volunteers
seinen Leuten näselnd zu: vo 70a ösoort tho xrisoneriZ or do tlro priMnsrs
vsoort, xou? So treibt man uns wieder auf die fast ungangbare Straße. Später
suchen wir uns auf einem Halt in den Schatten eines Baumes an der Straße
zu legen. Ein andrer, auch sehr vornehmer Offizier erscheint und jagt uns
auf unsern Weg. Wir müssen in die Sonnenglut zurück; der schattige Platz
bleibt unbenützt. So wiederholen sich die kleinen aber sehr empfindlichen
Quälereien, deren sich wirkliche Frontofsiziere, so weit meine Erinnerung reicht,
niemals schuldig gemacht haben. Von Schimpfworten, die uns überall und
sehr reichlich zu teil wurden, sehe ich ab, auf zarte Behandlung rechnete keiner.
Aber die ewigen Nadelstiche empörten einen doch, und es schien, als wollten
alle die Leute, die ihren Thatendurst bisher nicht im Kugelregen hatten be¬
thätigen können, ihn jetzt hinter der Front an uns auslassen.
Wir kommen am Magersfonteiner Lager, unseligen Angedenkens, vorbei
und durch das englische Lager am Modderrivcr, das wie eine Festung aus¬
gebaut ist. Auf der Station werden wir achtunddreißig Gefangnen und zwölf
Mann Bedeckung in einen Güterwagen gepfercht, und nun geht es drei Tage
und Nächte lang nach Simonstown. Die Fahrt bei toller Hitze war zum ver¬
rückt werden. Liegen konnten wir nicht, da unsrer zu viele im Wagen waren. Ein
Engländer, der Transvaalbürger und mit uns ins Feld gezogen und gefangen
war, hatte schweren Rheumatismus. Ihm allein wurde Platz zum liegen ge¬
macht; wir andern standen oder hockten. In Simonstown wurden wir, von
johlendem Pöbel empfangen, ins Lager geführt. Im Burenlager begrüßen uns
die Gefangnen mit Jubel, und ich gestehe, es empörte mich damals in meiner
Stimmung. Wie können sich diese Menschen nur freuen? so fragte ich mich.
Doch auch dieses Gefühl verflachte sich, und ich habe später eintreffende Buren
mit derselben Freude begrüßt, die ich zu Anfang unverständlich gefunden hatte.
Ans die Nachricht, ein Deutscher sei unter den neu Angekommncn, suchte mich
Oberst Schiel sofort auf und lud mich, schmutzig wie ich war, zu einem Glase
Rotwein. Nachdem ich diese Erfrischung zu mir genommen und das neuste vom
Kriegsschallplatz berichtet hatte, war mein nächstes eine gründliche Reinigung
meines verwahrlosten Körpers. Das erfrischte! Dann nahm mich ein andrer
Deutscher in Beschlag, der unter dem Vorgeben, magenkrank zu sein, sich die
herrlichsten Fleisch-, Gemüse- und Obstkonserven als Krankenkost zu verschaffen
gewußt hatte. Von diesem Landsmann wurde ich fürstlich bewirtet. Dann
ging es spät in der Nacht in das mir angewiesene Zelt.
Unser Lager, ein Quadrat, war dicht am Meeresufer. Es war ein¬
gefriedigt unten mit Drahtgitter, oben mit Stacheldraht. Gegen das Meer
zu war ein Thor angebracht, das zum Strand führte und morgens und abends
zwei Stunden lang zum Baden für jedermann im Lager geöffnet wurde. Das
war eine köstliche Einrichtung. Das Lager wurde von Schildwachen bewacht,
die auf den Ecken standen und die Längsseiten abpatrvuillicrten. Die Ge¬
fangnen, etwa 250 an Zahl, wurden zweimal des Tags gezählt. Zu diesem
Zweck traten wir in Zügen zu zwei Gliedern an, jeder Zug vor den dazu ge¬
hörigen Zelten. Der Kommandant des Lagers, ein dicker, erregter Engländer,
zählte uns, sein Adjutant noch einmal gleich hinterher. Das Essen war gut
und reichlich. Besonders die Buren in der Nähe Kapstadts versorgten uns
mit Lebensmitteln, darunter waren die herrlichsten Früchte, auch köstliche
Trauben. Auch aus Holland kamen zunächst diele Sendungen an, sodciß wir
keinerlei Mangel litten. Ich selbst hatte mich neu ausstaffiert. Auf der
Station Krankuil war ich von einem Angestellten meines frühern Chefs unter
den Gefangnen erkannt worden, und dieser hatte mir ein schönes Sümmchen
ins Lager geschickt, von dem ich mir Ober- und Unterkleider, Schuhe und Hut
und sonstige nötige Gegenstände kaufen konnte. So lebte ich mich ins Lager-
leben ein, als die Nachricht von der Übergabe Crvnjes eintraf. Das war für
uns alle ein Schlag. Traurig überließen wir uus unsern Gedanken, allein,
oder wir tauschten sie aus und besprachen hier und dort das Ereignis. Draußen
vor dem Lager spielte»? die Kapellen, die Schisse in der Simvnsbai flaggten
und feuerten Viktoria. Bald trafen die ersten Gefangnentransporte ein, und
wir erhielten genauere Nachricht über das Schicksal der Armee Crvnjes.
An dieser Stelle mag eingeschaltet sein, was ich damals und zum Teil
auch noch später aus Se. Helena über die Borgänge bei Crouje seit dem Tage
meiner Gefangennahme von glaubwürdigen Personen erfahren habe. Die Be¬
schießung war acht Tage lang fortgesetzt worden, aber Jnsanterieangriffe waren
nicht mehr erfolgt. Noch am 20. Februar kam von außerhalb ein Karren
de Wels ins Lager, um Lebensmittel und Munition für die außen Kämpfenden
zu holen. Bei dieser Gelegenheit wurde Cronje aufgefordert, einen Durchbruch
zu versuchen; die geeignetste Seite wurde ihm dabei bezeichnet. Der Karren
ging mit Erfolg und beladen zu de Wet zurück. Crouje folgte ihm nicht.
Andre Auswege stauben ihm sogar später noch frei. Zwischen den haushohen
Flußufern des Modder, zwischen den vielen und gewundnen trocknen Flu߬
rinnen konnte er durchkommen, wenn er sich zur Zurücklassung des Lagers
entschloß. Was war an diesem noch gelegen? Die Ochsen waren tot, die
Wagen zum größten Teile verbrannt. Es ist mir bis heute ganz unver¬
ständlich, auf welche Macht Cronje baute, als er starr an dem Gedanken fest¬
hielt, gerade in dieser Stellung werde er die Engländer schlagen. Einzelne
sprachen von Verrat. Ich glaubte mit der großen Mehrheit der Gefangnen
nicht daran. Viel wahrscheinlicher ist, daß der Einfluß seiner Frau für seine
Handlungsweise mitbestimmend gewesen ist. Die Hauptursache der Katastrophe
liegt meines Ernchteus in der Verschlossenheit der Natur Crvnjes, seinein Starr¬
sinn und der Geringschätzung der Uitlander, der Engländer sowohl wie der im
Lager auf Burenseite wirkenden ausländischen Offiziere. Wären die Ratschläge
dieser Offiziere berücksichtigt worden, so würde das Ergebnis des Rückzugs,
ja vielleicht des ganzen Feldzugs anders geworden sein. Auch verließ sich
Cronje wohl zuviel auf die ihm versprochne Hilfe von außen. Schließlich war
Cronje uur ein guter Kommandant, kein Feldherr. Er litt schwer unter seinem
Schicksal; denn ans Se. Helena verfiel er der allgemeinen Verachtung, die sich
darin äußerte, daß jedermann ihn mied. Man sprach mit ihm nur das Not¬
wendigste.
Als sich die Aufregung über die Gefangennahme der Croujischeu Armee
gelegt hatte, kehrte die alte Ordnung im Lager wieder ein. Wir waren sehr
zahlreich geworden, und die Zelte wurden eng belegt. Die Muße, die wir ge¬
nossen, brachte uus auf Fluchtversuche. An dreien war ich beteiligt. Das
erstemal wurde dicht bei den Gruben mit bloßen Händen ein unterirdischer
Gang nach einen: außerhalb der Lagerumfriediguug liegenden Busch gegraben.
Der Sand wurde in zugebundne Hosen gethan, nach den Zelten getragen und
dort sorgfältig ausgestreut. Da die Temperatur in dem Gang zum Ersticken
war, wurde all seinem Ende zur Durchlüftung eine zwei Finger starke Öffnung
gemacht. Schon war die Reihenfolge, in der wir in den Gang zur Flucht
in der nächsten Nacht hineingelassen werden sollten, durch das Los bestimmt,
als ein Foxterrier das Ganze vereitelte. Er schnupperte an der Luftöffnung,
fing an zu graben und verschwand plötzlich vor den Angen der Schildwache
in die Erde. Der Posten war leider neugierig und meldete sofort das Wahr-
gcnommnc. Unsre saure Arbeit war also umsonst gewesen.
Ein zweiter Versuch glückte zum Teil. Wir gingen gewöhnlich in großer
Anzahl baden. Der durch das Los zur Freiheit Bestimmte mußte sich dicht an
dein Abhang des steilen Badestrands hinlegen. Sein Gesicht wurde mit einem
Handtuch bedeckt, und dann wurde er leicht aber vollständig mit Sand zu¬
gedeckt und liege» gelassen. Nach Ablauf der Bndestundeu gingen nur übrigen
in das Lager zurück, und die Badeposten wurden eingezogen. Der Begrabne
konnte nun aufstehn. Er kroch vorsichtig an dem Ufer entlang, bis er eine
Stelle faud, wo er landeinwärts verschwinden konnte. Ich erinnere mich eines
Flüchtlings, der, so befreit, dicht an dem Lager vorbeiging, uns mit dem
Taschentuch ein „Lebewohl" zuwinkte. Viele kamen auf diesem Wege nicht
durch, denn eines schönen Tags, als wir das Unternehmen wieder geglückt
wähnten, erschien der Kommandant und grub eigenhändig den von uns so
liebevoll bedeckten Freund aus. Es gab eine große Untersuchung, die ergebnis¬
los verlief. Das Fehlen der Entkommncn hatten wir dadurch beim Zähle»
zu verschleiern gewußt, daß aus deu abgezahlten Zügen bestimmte Leute in
die durch Weggang entstandnen Lücken der noch nicht abgezählten Züge ein¬
traten und dadurch doppelt mitgezählt wurden.
Bei dem dritten Versuch erlangte eine größere Zahl Gefangner die
Freiheit. In der Mitte der einen Lagcrseite hatten wir eine Öffnung in die
Drahtnmfriedignng geschnitten. An einer Seite hing der Draht mit dein
Zaune so zusammen, daß der hernusgeschnittne Teil wie eine Thür geöffnet
und geschlossen werde» konnte. Bei eintretender Dunkelheit hielten dazu be¬
stimmte Leute die Schildwachen an den Ecken des Lagers fest, während Nur
in aufgelöster Reihenfolge durch die Öffnung krochen. Ich war Nummer
siebzehn und hatte meinen Kopf gerade in die Öffnung gesteckt, als mein
Vordermann von dem aufziehenden Wachtposten wahrgenommen und fest¬
gehalten wird. Sofort wird Alarm geblasen, und die Truppen treten n».
Die ganze Bui wird mit den Scheinwerfern der Kriegsschiffe abgesucht und
das Lager beleuchtet. Der Kommandant erscheint und stellt durch Zahlung
bei schärfster Kontrolle die Zahl der Flüchtigen fest. Er tobt und flucht und
droht alle Beteiligten erschießen zu lassen. Sein Adjutant ist der entschieden
Vernünftigere und bewahrt seinen Vorgesetzte» vor thörichtem Handeln. Einige
der Flüchtigen wurden wirklich eingefangen und wieder eingeliefert. Dieser
Versuch fiel in die letzte Zeit meines Aufenthalts in Simonstown.
Anfangs Mai wurde uns bekannt gegeben, daß wir, hauptsächlich die
Transvaalbürger und die Angehörigen der fremden Nationen, nach Se. Helena
gebracht würden, der Fluchtversuche wegen, sagte der Oberst. Einige Tage
später wurden wir ausgerufen und in zwei Extrazügen nach Kapstadt an den
Quai befördert, wo man uns, fünfhundert Mann, sofort in dem Lagerraum
eines großen Dampfschiffes unterbrachte. Die numme für uns warm entsetzlich
eng bemessen, die Temperatur schrecklich. Drei Tage blieb das Schiff auf der
Bai liege», sieben Tage dauerte die Überfahrt, drei Tage hielt das Schiff vor
Se. Helena, bis wir in Kriegsschiffspinassen an Land befördert wurden. Die
Schilderung unsers Lebens während dieser zwei Wochen unterbleibt besser. Es
ist mir die schrecklichste Erinnerung des ganzen Kriegs. In welchem Zustande
wir ankamen, mag daraus entnommen werden, daß wir zu unserm Marsch in
das Deadwoodlager fünf Stunden brauchten, auf einem Wege, den wir später,
als unsre Beine wieder kräftiger geworden waren, in zwei Stunden be¬
quem zurücklegten. So hatte die Behandlung auf dem Schiffe auf die Kräfte
unsers Körpers gewirkt. Das Lager auf Se. Helena, auf der Höhe dieses
Aschenkegels, unterschied sich in Größe und Anordnung nicht von dem bei
Simvnstown. Es war dem ewigen Südostwiud und den Wirkungen des täglich
niedergehenden Regens sehr ausgesetzt. Der Boden war immer feucht, und da
wir darauf schlafe» mußten und gegen die Einwirkung der Nässe »ur durch
eine wollne Decke geschützt Ware», so träte» bald Ruhr und Typhus auf.
Die Zelte waren furchtbar dicht belegt, zu zwölfe mußten wir in einem schlafen.
Eine zweite wollne Decke schützte uns nach oben, unsre zusammengerollten
Kleider lieferten das Kopfkissen. Am empfindlichsten war anfänglich der
Waffenmangel. Je zwölf Mann erhielten zum Trinken, Kochen und Waschen
einen Eimer voll Wasser; erst später wurde es auf unsre »nansgesetzten Be¬
schwerde« hin besser. Das Lager war von Stacheldraht umgeben, anfangs
nur von einem einzigen Zaune, an deu nicht herangetrete» werde» durfte,
später vo» el»em doppelten. Es war nämlich einer der Unsrigen, als er des
Morgens a» die dicht am Zan» stehende Abfallkiste gehn wollte, von einem
Posten erschossen worden. Natürlich erregte der Borfall bei uns furchtbare
Aufregung, die deu Engländern so gefährlich erschien, daß die Mnximkanonen
auf das Lager gerichtet und die Posten verstärkt wurden. Wohl mit Rücksicht
auf diesen Vorfall wurde ein zweiter Zaun errichtet. Der Zwischenraum
zwischen diesem und dem ersten hieß die äsaä uns (Totenlinie), und wer ihn
betrat, setzte sich der Gefahr ans, erschossen zu werde». Die Überwachung
des Lagers war überhaupt viel schärfer als i» Simonstoiv», obgleich mau
hier hätte Milde walten lassen können. So war es eine thörichte, ja grau¬
same Bestimmung, daß man nur aller vierzehn Tage einen vier Seiten langen
Brief, kleines Format, zur Post aufgeben durfte; grausam für mich, grausam
für meine Angehörigen, am grausamsten für einen Familienvater. Im Lager
entstand nach und nach eine Stadt von 2500 Mann. Aus dein Blech der
Visluitknsten wurden ganze Häuser gebaut. Auch das Handwerk gedieh. Ich
erinnere mich vornehmlich eines Buren, der sich aus Blechbüchsen und Holz¬
stücken eine Windmühle baute, an die er eine selbst angefertigte Drehbank an¬
schloß. Mit staunenswerter Vollkommenheit verfertigte er aus Horn und aus
den Knochen der geschlachteten Ochsen die verschiedensten Gegenstände, die als
„Erinnerung an Se. Helena" auch durch die Engländer zu hohen Preisen gern
gekauft wurden.
Mir selbst war das Lagerleben verhaßt. Nur wenn an mich die Koch¬
wache kam, hatte ich Arbeit, und während dieser Zeit ist in mir auch das
Verständnis für die Sorgen einer Hausfrau um ihre Küche aufgegangen. Ich
zerbrach mir den Kopf, wie man in daS ewige Einerlei von o<it<ö8 und vorrnzä
dock, oornöä dost und vn-Kos Abwechslung hineinbringen könne. Selten gab
es Brot und frisches Fleisch, fast nie Gemüse, dazu kam die schreckliche .Knauserei
mit Wasser. War ich frei, so konnte ich nicht einmal spazieren gehn, denn
das Lager war bald so aufgeweicht, daß das Gehn in dem thatsächlich fu߬
hohen Schlamm »»möglich wurde. Ganz starke Naturen ließ auch dies kalt.
Ein deutscher Offizier. Oberst von Brum, der sich auf das ihm zustehende
Recht, spazieren geh» zu dürfe», berief, betrat, als el» Spaziergang innerhalb
des Lagers nicht mehr möglich war, die ckzg.'l tun, »»bekümmert um die
Androhungen des Erschießens dnrch die Posten. Diese meldete» de» Vor¬
fall dem englischen Obersten, dem Kommandeur des Lagers, der mit Oberst
von Brau» parlameutierte. Das Ergebnis war, daß Braun zu unsrer aller
Vergnügen täglich stolz wie ein Spanier auf der uns spazieren ging
zum Ärger der Posten. Auch zu einem Gesangverein, „Halbe Lunge," wie
er genannt wurde, Schwange» sich die Deutsche» auf. Wir kultivierte» de»
deutsche» Gesang von „Deutschland, Deutschland über alles" bis zur „Holz¬
auktion."
In dem Lager lernte ich allmählich allerlei Leute kennen, doch beschränkte
sich mein Verkehr hauptsächlich auf Deutsche. Für meine» inzwischen auf
Se. Helena eingetroffnen Kommandanten Oven Tom behielt ich meine Ver¬
ehrung bei; seine Neigung, Gottesdienst zu halten, störte leider etwas unser
sonst gutes Verhältnis. Er lud mich in väterlicher Zuneigung zu seinen
religiöse» Übungen immer besonders ein, und diese Einladungen waren häufig.
Mit dem Beginn des Gottesdiestes wartete er bis zu meineiu Erscheinen, und
er »'artete oft sehr lange, manchmal vergeblich. An dem offiziellen Gottes¬
dienst des Morgens und des Abends nahm ich regelmäßig und gern teil,
wenn aber bei dem ersten Morgengrauen, während ich noch im besten Schlafe
lag, ans jeden, der umliegende» Zelte el» andrer Choral angestimmt wurde,
dann erregten die Mißklänge meinen äußersten Zorn, und ich ließ mich zu
recht häßliche» Verwünschungen hinreißen. Oven Tom. glich dann mit sanften
Ermahnungen alles ans, und ich versuchte, um den guten Manu nicht zu
kränken, in seinein Sinne zu leben. Seine Vorwürfe, daß ich meinen Charakter
sehr zu meinem Nachteil geändert hätte, suchte ich zu entkräften, indem ich
seinen Privatgottesdieust — fünfmal täglich hielt er solchen ab — besuchte.
War ich dessen satt, so führte mich der Teufel wieder zu den Varietevor-
stellungen, die es im Lager gab; besonders ein Jrländer, ein geborner Komiker,
leistete darin großartiges. Bei einer solchen Gelegenheit, lieber Oven, habe
ich dir mit Absicht und voller Überlegung einen Streich gespielt: gegen
deinen Geistlichen habe ich mich schwer versündigt. An dem Geburtstage des
Präsidenten Krüger sollte eine Festvorstellung stattfinden mit gemischtem Pro¬
gramm. Im Waschhaus war die Bühne, der übrige Raum war mit Benzolin-
kannen reihenweise besetzt, diese stellten Parkettplätze vor, die anch gegen Regen
geschützt waren, zu drei Pence das Stück. Ich kaufte ganze fünfzehn Plätze
und lud meine Freunde, darunter den Pfarrer, als Honoratioren ein. Hinter
dem Parkett, unter freiem Himmel, standen die übrigen Leute, eine undurch¬
dringliche Menschenmauer. Die Vorstellung beginnt, der erste Vortrag ist
sehr ernst und sehr würdig; dann kommt etwas heitres. Meines Pfarrers
Gesicht wird länger und länger. Was er hört, ist in keiner Bibel zu finden,
er kann nicht fort; so muß er wider Willen aushalten und sich schließlich noch
bei mir für die Genüsse bedanken.
In nahem Verkehr stand ich mit dein Hauptmann W, dem Leutnant R.
und dem Missionarssohn V. Als ich eines Tags dnrch das Lager ging, hörte
ich mich beim Namen rufen. Ich sah mich um und erkannte einen Mann, der
mit mir die Schulbank gedrückt, zuletzt in Metz als Offizier gestanden und
seinen Abschied genommen hatte, um den Krieg mitzumachen. Die alte Schul¬
freundschaft wurde sofort erneuert. Durch R. lernte ich den Hauptmann W.
kennen, der zuvor in Deutsch-Südwestafrika gestanden hatte. Er war ein vor¬
züglicher Schachspieler. Baden-Powell hatte ihm in Mafckiug ein Schachspiel
geschenkt, und Nur mußten zum Spiel antreten, aber immer aufs neue er¬
fahren, daß nur ihm nicht gewachsen waren. V. war eine Unternelunernatnr;
mit ihm habe ich Pläne ausgeheckt, wie wir nach dem Kriege in wenig Jahren
in die Zahl der südafrikanischen Krvsnsse einrücken werden.
Mit der Zeit wurde ich anch mit englischen Offizieren unsrer Oberwache
bekannt. Man nahm uns manchmal außerhalb des Lagers mit. Solcher
Gefälligkeit verdanke ich den Besuch von Napoleons Wohnhaus und Grab.
Auch führte man uns bei Privatleuten in Jamestvwn ein, was eine angenehme
AlNvechslnng in diesem so eintönigen Leben war.
Unsre Gesnndheitsverhültnisse waren mittelmäßig. Die Erkrankten wurden
nach Jamestvwn transportiert. Bei der oben erwähnten Erschießung eines
Kameraden war eine Sammlung im Lager veranstaltet worden, um einen Leichen¬
stein für ihn und für die nicht wieder Genesenden zu beschaffen. Bis zu meiner
Adi^ise warm 1200 Mark eingegangen. Der Stein ist so gewählt, daß darauf
alle Namen der auf Se. Helena Verstorbnen Platz finden Zierden.
Hier mag noch erwähnt sein, daß unter uns eine Anzahl vortrefflich ge¬
heilte Schwerverwundete war. Einer der interessantesten Fälle war ein Bure,
der anfangs Januar vor Magersfontein zugleich mit seinem Bruder von den
Sprengstücken einer Granate getroffen worden war. Sein Bruder verlor das
Leben, ihm wurde die untere Gesichtshälfte zerschmettert. In der deutschen
Ambulanz zu Jalobsdaal wurden die Knochen, soweit es möglich war, mit
Silberdraht hergerichtet. Das von Professor Küttncr vollbrachte Meisterwerk
wies er jedem, der ihn deshalb ansprach; zum Schluß zog er dann aus seiner
Tasche ein Stück seiner Kinnlade hervor, in der noch die Zähne saßen.
Mit der Zeit kamen auch Sendungen für die Gefangnen an, die Deutschen
waren spärlicher bedacht als die andern Nationen, Die Holländer unterstützten
uns am meisten, anch am zweckmäßigsten, besonders in der Auswahl der heiß
begehrte» Lektüre, Die Büchersendungen aus Deutschland enthielten zu viel
Erbaunngsschriften, davon mochten wir wenig lesen. Ich fand in meinen fünf
Bibeln, die ich bei mir trug, an wirklicher Erbauung mehr, als mir tausend
Traktütchen bieten konnte». Daß mau statt verwässerter Erbanungslcktüre gern
andre gehabt hätte, wird wohl jedermann begreiflich finden. Ich griff des¬
wegen zu holländischen und englischen Biichersendungen,
Die Engländer sorgten allmählich mehr für unsre Bedürfnisse; vielleicht
hatten sich Stimmen gegen die uns widerfahrne Behandlung in England selbst
erhoben. Wenigstens erschien eines Tags eine Engländerin, Mrs, Green, im
Lager, die das größte Aufsehen machte. Sie war mit der entschlossenen, that¬
kräftigen Natur, die englische» Damen eigen ist, auf eigne Faust nach Se. Helena
gegangen, um sich persönlich von der Lage der Gefangnen zu überzeugen. Sie
war der Gegenstand allgemeiner Verehrung; mancher sah in ihr den Engel,
den die Gebete des Lagers gerührt hätten. Ich lernte die Dame auf der Rück¬
kehr nach Europa auf meinem Schiffe näher kennen. Sie verdiente wirklich
die Bewundrung, die mau ihr allgemein zollte. Ihre Schrift ist im englischen
Parlament verlesen worden und hat hoffentlich auch auf die Gefangnen zurück¬
gewirkt. Endlich schlug die Stunde meiner Befreiung. Schon am 14. Juli
hatte ich meine Entlassung nach Europa auf Ehrenwort beantragt. Anfang
Oktober - schon hatte ich am Erfolg verzweifelt — war mein Gesuch ge¬
nehmigt worden. Mit dem nächsten Dampfer verließ ich Se. Helena. Nach
vierundzwanzig Tagen kam ich in London an; dorthin mußte ich wohl signa¬
lisiert gewesen sein, denn es folgte mir ein Zivilist, den ich bald als Kriminal¬
schutzmann erkannte; sein Schritt beständig hinter mir machte mich nervös. Ich
sprach ihn darum an und bat ihn, wenn er mir folgen müsse, dann wenigstens
mein Begleiter zu sein. Er zeigte nur ein Stück von London, fuhr mit mir
nach Dover und verabschiedete sich erst, als das Schiff im Begriff war, die
Landungsbrücke zu verlassen. In Herbesthal betrat ich endlich deutschen Boden.
Erst jetzt kam das Gefühl vollkommnen Geborgenseins über mich. Wie wohl-
thuend wirkte die Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit der deutschen Beamten
im Vergleich mit den Beamten des Auslands, In Köln hatte ich mehrstündigen
Ausenthalt, den ich dazu benutzte, mein noch sehr lmreuhaftes Äußere, das
mehr als billig die Aufmerksamkeit meiner Umgebung auf sich zog, beseitigen
zu lassen. Auch mochte ich meinen Angehörigen keinen Schreck einjagen. So
vertraute ich mich einem Friseur und einem Kleiderhändler an und bestieg,
hochmodern aussehend, den Schnellzug in meine Heimat, In Mainz leistete
ich mir wahrend des Aufenthalts in der Bahnhofrestauration einen vorzüglichen
Hasenbraten, den ersten seit vielen Jahren, O deutscher Hase, was bist du für
ein edles Tier, du edelster deiner Sippe, dn Hase der Heimat, Noch drei
Stationen, und ich war zu Hause, bei der Mutter geborgen.
Damit hat meine Geschichte ihr Ende erreicht; aber noch lange nicht hat
es die Geschichte des südafrikanischen Freiheitskampfes gethan. Möge» auch die
Republiken im Kampfe gegen die zwanzigfache englische Überlegenheit untergehn;
gewiß ist, daß der Gedanke „frei Südafrika" nicht nilsgelöscht werden kann,
und daß die Kolonie, die England zuerst vor allen verlieren wird, die ist, die
sie eben nnter riesigen Menschen- und Geldopfern kumm hat erobern können.
Der preußische Justizminister hob jüngst in
seinen Reden im Abgeordnetenhause hervor, daß die Assessoren jetzt durchschnittlich
über fünf Jahre auf Anstellung warten müßten. Er beklagte dies im Sinne der
Assessoren, Gewiß mit Recht. Aber in noch höherm Maße ist dies im Interesse
der Justizpflege zu beklagen. Das unbezahlte Assessorentmn ist der größte Krebs¬
schaden der Justizpflege, der an ihr frißt, nagt und sie schädigt, wenn er sie auch
nicht gerade töten kann und wird.
Wenn ein Jurist die Schwierigkeiten der Assessorprüfuug, also der großen
Staatsprüfung überstanden hat und glücklich Assessor geworden ist, so hat er ein
gewisses Bedürfnis nach Ruhe und Erholung, Ans Anstellung oder Bezahlung
seiner Thätigkeit als Hilfskraft (kommissarischer Assessor) kann er zunächst nicht
rechnen. Es wird ihm nun bei den Gerichten irgend eine unbedeutende wenig
Arbeitskraft erfordernde Thätigkeit übertrage», die einem Richter als dem ange¬
stellten Beamten abgenommen und dem Assessor „zu seiner weitern Ausbildung"
übertrage» wird. Der Assessor findet, daß dies eigentlich noch viel zu viel Arbeit
ist, da ja seine Thätigkeit vom Staate nicht entschädigt wird, und entweder der
Staat sich diese Bezahlung erspart — was früher häufig zutraf —, oder seine
Thätigkeit einen bezahlten Beamten, einen Richter, zum Überfluß entlastet, was heute
häufiger zutrifft. Mau kann es ihm nicht gerade verdenken, daß er nicht sonder¬
lich bemüht ist, diesem Beamten, der gewissermaßen für ihn den Gehalt einstreicht,
»och mehr freie Zeit zu verschaffen und diesen noch mehr zu entlasten. Er denkt
nicht daran, sondern findet, dnß ihm schon viel zu viel aufgebürdet wird, er fühlt
die ihm aufgebürdete Arbeit als eine Last, obgleich sie vielleicht ganz unbedeutend
ist. Er findet keine Freude um der Arbeit. Dies hat natürlich mich auf die Art
der Erledigung der Arbeiten einen gewissen Einfluß, das Publikum fühlt dies sofort
heraus und erkennt in dem unbezahlten Assessor nur eiuen Mietling, dessen Amt
gnr nicht das seine ist, und der nach Wochen oder Monaten ebenso schnell ver¬
schwindet, wie er gekommen war, und dann vielleicht wieder auf einige Wochen
oder Monate plötzlich erscheint und schließlich ans Nimmerwiedersehen verschwindet.
Daß das Publikum zu einem solchen Beamten kein Zutrauen gewinnen kann, liegt
in der Natur der Sache und in dieser unglückseligen Stellung eines unbezahlten
Assessors. Wenn nun auch die Erledigung der Arbeiten hierunter mehr oder
minder leidet, so ist dies immer noch der geringere Nachteil; denn der Richter, der
nach einiger Zeit seine alten Akten wiederbekommt, sucht die Sache wieder in das
alte Gleis zu bringen, das vom juristischen Standpunkt nicht gerade immer das
richtigere zu sein braucht, jedenfalls aber das bessere für die Gewohnheit des Publi¬
kums und der Justizpflege ist.
Ein viel größerer Nachteil dieser Art der Erledigung der Arbeiten und der
Beschäftigung des unbezahlten Assessors erwächst für diesen selbst. In dem Alter,
wo der Mensch die größte Arbeitskraft hat, empfindet er schon den dritten Teil der
gewöhnlichen Arbeitslast eines Richters — denn mehr wird ihm für gewöhnlich
gar nicht übertragen — als eine große Last, als ihm zu Unrecht aufgebürdet. Er
richtet sich in seinen Lebensgewohnheiten so ein, daß er gerade noch mit dieser Last
fertig wird — manchmal spät genug —, er verlernt das juristische Arbeiten, wen»
er es überhaupt als Referendar ordentlich gelernt hat, er wird — nnfleißig, um
nicht den Ausdruck faul zu gebrauchen. Wenn ein junger Maun fünf Jahre lang
oder auch noch mehr Jahre so gelebt hat, und es wird ihm dann endlich eine
Richterstelle übertragen, also ihm dann auf einmal zugemutet, die volle Arbeitskraft
eines Juristen zu entwickeln, so ist dies für ihn zu viel. Er ist nicht gewöhnt so
viel zu erledigen, er hat es entweder überhaupt nicht gelernt oder schon wieder
verlernt, ist nun aber auch nicht mehr so jung, daß er sich rasch und schnell
einarbeiten könnte. Es leidet so nicht bloß das Amt unter dem neuen Richter,
sondern dieser selbst leidet, er wird mürrisch und bleibt unzufrieden über sein Amt
und seine Beschäftigung, wie er dies schon als unbezahlter Assessor war.
Eine ähnliche Einwirkung hat das unbezahlte Assessorentnm ans den angestellten
Richter. Diesem ist, weil immer ein unbezahlter Assessor den andern ablöste, jahre¬
lang ein Drittel der Arbeit abgenommen worden, er soll nun plötzlich — weil kein
Assessor mehr erscheint — dieses Drittel auch wieder mit erledigen, er hat es aber
im Laufe der Jahre verlernt, ist etwas bequemer geworden, und so wird er unter
der Erledigung dieses ihm wieder übertragnen Drittels unzufrieden und mürrisch
und wünscht sich einen unbezahlten Assessor zurück, der ihm wieder etwas Arbeit
abnimmt und ihn wieder erleichtert. In der Erwartung, daß diese Sehnsucht
nächstens erfüllt wird, kommt es bisweilen auch vor, daß einige Sachen für den
erwarteten Assessor aufgespart werden.
Die Rückwirkung, die dies alles wieder auf das Amt äußert, brauchen wir
hier nicht zu schildern. Es genügt, hier dargethan zu haben, daß dieses unbezahlte
Beschäftigtwerdcu eiuen nachteiligen, ja unheilvollen Einfluß auf den Assessor selbst
und den entlasteten Richter üben kaun, der sich an der Justizpflege räche» muß.
Nun kaun entgegengehalten werden, daß manche Richter, die sich vielleicht neben
ihrem Amt litterarisch beschäftigen, durchaus nicht verkommen, sondern sich nur
dieser ihrer Nebenbeschäftigung besser widmen, ebenso daß manche Assessoren überaus
fleißig, eifrig und pflichtgetreu sind, obgleich sie keine Entschädigung erhalten. Dies
soll alles als Ausnahme zugegeben werden. Trotzdem bleibt es wahr, daß sich der
Durchschnittsmensch gern bor unnötiger Arbeit drückt und nicht mehr zu erledigen
sucht, als er eben erledigen muß. Ein Assessor, dessen Arbeitskraft nicht ganz in
Anspruch genommen wird, weil er überflüssig ist, wird durch seine zu geringe Be¬
schäftigung nicht „weiter ausgebildet," sondern nimmt in seinen Fähigkeiten ab.
Für die Justizpflege ist er aber gerade so nützlich wie das fünfte Rad am Wagen.
Wie ein Schriftsteller früher einmal ausgerechnet hat, wieviel es dem alten
Deutschen Reiche gekostet hat, daß ihm der gewählte Kaiser nichts gekostet hat, so
wäre es eine noch verdienstlichere Mühe, einmal dem preußischen Staate vorzu¬
rechnen, was es ihm und insbesondre seiner Justizpflege kostet, daß er in dieser un¬
bezahlte Assessoren beschäftigt. Die Summe wird nicht unbedentend sein, wenn sie
sich auch weniger in Zahlen als mehr auf ideellen Gebiet in dem Abbruch der
wertvollsten und besten Güter einer Justizpflege äußert.
Also weg mit deu unbezahlten Assessoren!
Andre Staaten kommen ohne solche aus, und zwar besser. Warum sollte es
in Preußen nicht möglich sein? Warum soll in Preußen gerade die Justiz das
Aschenbrödel von allen Verwaltungen sein? Denn keine andre Verwaltung be¬
schäftigt, anch in Preußen nicht, dauernd Personen, die in ihr überflüssig sind.
Thöricht wäre es, einwenden zu wollen, daß die Assessoren anch nach dem
Bestehn ihrer Prüfung weiter beschäftigt werden müßten zum Zweck ihrer weitem
Ausbildung. Das Bestehn der großen Staatsprüfung befähigt die Assessoren zur
sofortige» Anstellung so ziemlich in alleil andern Verwaltungen, in denen sie bis dahin
nicht gearbeitet haben, warum sollen sie ihre Befähigung erst noch in der Justiz
durch weitere Beschäftigung nachweisen, in der sie doch schon vier Jahre lang als
Referendare beschäftigt gewesen sind?
Wäre dieses Verlangen gerechtfertigt, so müßten eben die Referendare anders
beschäftigt und ausgebildet werden, bevor sie zur großen Staatsprüfung zugelassen
werden. Aber uach bestanduer Prüfung darf nicht noch von der Notwendigkeit
einer weitern Ausbildung die Rede sein.
Wohl aber können die Assessoren in andrer Weise beschäftigt werden. Mögen
sie zu Rcchtsauwälten geh» und bei diesen als Hilfskräfte arbeiten, mögen sie der
Staatsanwaltschaft überwiesen werden, mögen sie bei Magistraten arbeiten. Ebenso
kann ihnen der Staat als Amtsanwälte in kleinern Städten — vorübergehende —
Beschäftigung gegen die festgesetzte Entschädigung gewähren. Sie werden in allen
diesen Zweigen mehr lernen und sich durch eigne Arbeit besser ausbilden in der
Richterthätigkeit, wahrscheinlich anch einen größern und selbständiger!! Gesichtskreis
gewinnen, als wenn sie sich immer uur in der Thätigkeit üben, die ihnen gerade
später als Richtern obliegt. Mögen sie anch nllerschlimmfleufalls auf lange Zeit
beurlaubt werden, bis eine Hilfsrichtcrstelle oder die Vertretung eines Richters ihre
Thätigkeit gegen Vergütung beansprucht. Sie werden sich dadurch noch besser vou
den Anstrengungen der Prüfung erholen und bessern, fröhlichem Lebensmut, z. B.
dnrch Reisen, gewinnen können, als wenn sie nutzlos die Wenzimmer der Gerichte
auf kurze Zeit besuchen.
So wie bisher darf es aber nicht weitergehn, wenn die Justizpflege nicht noch
größern Schaden nehmen und noch mehr bergab gehn soll.
Daß an dem gewaltigen Aufschwung, den fast alle Volker
Europas im verflossenen Jahrhundert genommen haben, auch das entlegne, aber
neuerdings viel auch von Deutschen besuchte Island nach Maßgabe seiner Bolkszahl
und Leistungsfähigkeit beteiligt ist, lehren die Erhebungen, die man über die Zu¬
stände der Insel gemacht und um der Wende des Jahrhunderts veröffentlicht hat.
Die erste Jahresnummer der Zeitung Ihn,tu1ä enthält eine vergleichende Tabelle,
der wir folgendes entnehmen:
Unsre Zustünde ^ÄnÄsIi-^gir vorir)
Dem entsprechend ist auch der volkswirtschaftliche Aufschwung hinsichtlich der
Einfuhr und der Ausfuhr, der Viehzucht und des Fischfangs, was hier jedoch Über¬
gängen werden kann. Bemerkt soll nur noch werden, daß, während Island im
Jahre 1800 noch kein gedecktes Fischerboot hatte, es deren jetzt gegen 150 hat —
eine der wichtigsten Folgen der Aufhebung des dänischen Handelsmonopols, weil
zu dessen Schutz den Jsländern durch königliche Verordnung verboten war, die
Fischerei mit gedeckten Fahrzeilgen zu betreiben.
!er Reichstag ist wieder einmal mit dem Antrag ans Diäten-
gewührung beschäftigt worden, und es verlautet, die Reichs-
rcgierung sei geneigt, in dieser lange streitigen Frage nachzugeben.
Das mag sein, denn viele Tropfen hohlen den Stein, und das
j Zentrum ist für den Antrag. Und nicht in dessen Kreisen allein
ist die politische Moral gesunken; unsre leidige Gewohnheit, jederzeit „Grund¬
sätze" im Munde zu sichren, hat — Iss extrSmss 8ö tonolievt — zur Folge
gehabt, daß wir Epigone» im politischen Handeln kaum mehr welche kennen,
während der unbefangne Verkündiger des av ut usf in gewissen nicht eben
zahlreichen, aber wirklich grundlegenden Fragen der eiserne Kanzler war. Zu
diesem festen Bestände gehörte die Ansicht, daß unsre Reichstagsabgeordneten
für Diäten zu hoch stünden.
Als Anhänger der Bismarckischen Tradition werden wir den Umschwung
beklagen und unsre Stellung behaupten, jedoch auch hier mit der thatsächlichen
Entwicklung rechnen müssen, und auch damit, daß gewisse Gründe der Gegner
für die Volksanschauung viel Einleuchtendes haben. Unsrerseits glauben wir,
daß es nicht der Mangel an Diäten, sondern der Mangel an Verständnis für
die Pslichtseite des Abgeordnetenberufs ist, Ums den Reichstag so häufig be¬
schlußunfähig macht, aber weit mehr Leute werden zustimmen, wenn die Sache
so erklärt wird: „Kann man es jemand verdenken, daß er nicht drei, vier
Monate, ein halbes Jahr ans seiner Tasche in Berlin bleiben mag? Ich
ginge als Abgeordneter mich mir hin, wenn es absolut sein müßte." Es wird
also, fürchten wir, nicht anders kommen: der Antrag wird Gesetz werden, und
dieses wesentliche Stück unsers Verfassuugsbaues, ein Eckstein im Sinne Fürst
Bismarcks, fallen. Damit, ja schon mit der ernstlichen Gefährdung, fällt aber
much der Grund weg, weshalb wir bisher weit anfechtbarere Bestimmungen der
Reichsverfassung als unabänderlich hingenommen haben. Auch darin folgten
wir einer Bismarckischen Mahnung, drängender ist jetzt eine andre, die aus
seinem ganzen Thun spricht , niemals bei bloßer Defensive zu verharren und
sich nicht vom politischen Gegner das Kampffeld bestimmen zu lassen.
Welche Bestimmungen der Reichsverfnssung um hat Fürst Bismarck seiner
Zeit angenommen, obgleich sie ihm unzweckmäßig oder bedenklich erschienen?
Welche hat er trotz ungünstiger Erfahrungen unangefochten gelassen, weil sie
einmal bestanden? Was ist an die Stelle zu setzen? Im allgemeinen Inter¬
esse und in dem besondern des Reichstags, um dessen Ansehen wieder zu
heben und ihm die besten Kräfte unsers Volks zu erhalten oder wiederzu¬
gewinnen.
Unter den Ursachen, die das Interesse an den Rcichstagsverhandlungen
lahmen, fällt keine mehr ins Auge, als die jedes Jahr mehrere Monate in
Anspruch nehmende Beratung des Budgets. Immer wieder die endlose Breit-
treterei, Besserwisserei und Nörgelei! Wer liest das alles? Wer ist imstande,
es mit Aufmerksamkeit zu verfolgen, und trägt, wenn er dazu gezwungen ist,
ein andres Gefühl davon als Widerwillen? Und wozu dient es? Doch wohl
um in der Reichsverwaltung zu sparen. Mir hat einmal ein Offizier, der
genau Bescheid wußte, gesagt, im Kriegsmimsterium sei man gar nicht so schlecht
auf Herrn Richter zu sprechen, denn er lasse mit sich reden, nur müßte es
nach seiner Weise ins Budget eingestellt werden, billiger würde es dadurch
nicht. Ich habe seitdem — es ist schon eine Weile her — von der Mit¬
thätigkeit dieses großen Finanzkünstlers fast immer den Eindruck gewonnen,
daß sie formalistisch wirkt, bureaukratisch, möchte man sagen, und daß er uns
eine erkleckliche Zahl von Millionen kostet. Ist er unsern Herzen nicht teuer,
so doch unserm Geldbeutel, lind von den kleinern Sternen hat jeder sein
Steckenpferd, das für Partei und Wahlkreis Parade geritten wird. Wenn die
Ausgaben beraten werden, verlangt jeder, wenn aber die Einnahmen, ist für
die notwendige Steigerung keiner zu finden; da muß die arme Regierung als
herzlose, volksbedrückeude Sündenbüßerin herhalten. Und sowas wiederholt
sich jedes Jahr, in einer Sitzung nach der andern, sinnverwirrend und, was
hier die Hauptsache ist, das Ansehen des Reichstags herabsetzend, andre, wirkliche
Aufgaben zurückdrängend und hemmend.
Niemand im Reich hat ein größeres Interesse daran, mehrjährige Budget¬
perioden zu wünschen, als der Reichstag selbst. Würden in die Reichs-
verfassung nur zweijährige statt der jetzt verfassungsmäßig einjährigen gesetzt,
so wäre auch das von Fürst Bismarck so oft beklagte gleichzeitige Tagen von
Reichstag und Landtagen bald beseitigt, denu die Einzelstaaten würden, gern
oder ungern, das Beispiel des Reichs befolgen und den Anfangspunkt ihrer
zweijährigen Bndgetperiodc, selbstverständlich auch die Vorlegung und Beratung
des Staatshaushaltplaus, in das vom Reiche freigelassene Jahr verlegen.
Sollten die Kammern Anstand nehmen, so würde reichsgesetzlicher Zwang
kaum als Gewaltthat empfunden werden. Und ums die Ersparnis bei allen
nicht von vornherein feststehenden Ausgaben betrifft, so frage man jeden be¬
liebigen Geschäftsmann, ob er nicht teurer fährt, wenn er bedeutende Mittel
mit einer für jedes Jahr gebuudnen Marschroute aufwenden muß, als wenn
er sich nach einem zwei- oder mehrjährigen Verwenduugsplnu einrichten darf.
Wir würden alle befreit aufatmen und es froh begrüßen, unsre Aufmerk¬
samkeit den Reichstagsverhaudluugeu wieder zuwenden zu können. Der Reichs¬
tag selbst würde wieder Muße für seine Hauptaufgabe haben, die Gesetze des
Reichs zu beraten und feststellen zu helfen. Doch auch da ist er an gedeihlicher
sowohl wie volksmäßiger Wirksamkeit dadurch behindert, daß er nicht bloß die
leitenden, das Detail beherrschenden Gedanken — bei jedem Gesetze oder Ge¬
setzesabschnitte sind es immer nur wenige zu beraten und zu genehmigen
hat, sondern auch dieses ganze Detail selbst, das durch die übliche Anwendung
des Amendemcntsrechts noch wächst und ganz unübersehbar wird. Es kommt
infolgedessen leicht dahin, daß die Grundsätze — hier ist das vielmißbrauchte
Wort am Platze — verdunkelt werden; für den größten Teil der Abgeordneten
wenigstens, der jn den Sinn für das im öffentlichen Leben wesentliche und
dienliche haben soll, aber den für Interpretation und Ausarbeitung eines Ge¬
setzes gar nicht haben kann und auch nicht zu haben braucht. Das ist eine
technische Fertigkeit, worin man besonders geschult sein muß. Die Juristen
und die Beamten sind es, und sie sind auch meistens redcfertig, weshalb sie
in den Parlamenten unentbehrlich erscheinen und leicht in die vordersten Reihen
gelangen, obgleich ihnen der eigentliche Abgeordnetenverstand, der praktische
Blick für die Verhältnisse und Bedürfnisse des Lebens, recht oft fehlt. So
kommen die Abgeordneten, die die Sache versteh», nicht zur Geltung, und die
Abgeordneten, die die Gesetzestechnik versteh» lind zur Geltung kommen, ver¬
steh» die Sache nicht. Ein unerfreulicher Zustand, dessen Folgen vor allein
bei der Ausführung unsrer vielen neuen Gesetze, aber anch sonst schwer gefühlt
werden, nicht zuletzt darin, daß die Reichstagsverhandlungen sehr oft unver¬
ständlich sind und unser Interesse, geschweige denn unsre thätige Teilnahme
kalt lassen. Die Mitglieder des Reichstags halten sich von den langweiligen
Detailsitzunge» fern, und mit den Leistungen des Reichstags sinkt wieder sein
Ansehen, Kann dem abgeholfen werden?
Jn England ist es bei der letzten Wahlreform vorgekommen, daß dem
Unterhause statt eines in seinen Einzelheiten ausgearbeiteten Gesetzes die für
dessen Inhalt in Aussicht gcnommnen Hauptpunkte, in wenige aber klare und
Zweifel ausschließende Sätze gefaßt, zur Beratung und Abstimmung vorgelegt
wurden, Ju Frankreich war, wie schon nach frühern Verfassungen, auch nach
der des zweiten Kaiserreichs, das Amendiernngsrecht der Kammern beschränkt.
Die parlamentarischen Abänderungsvorschläge gingen an den Staatsrat, der
die Gesetze auch vor ihrer Einbringung formulierte. Dort wurden die Amende-
ments geprüft, und zwar mehr auf ihre zweckmäßige Fassung und ihre formelle
Vereinbarkeit mit dem übrigen Gesetzesinhalt als auf ihre politische Bedeutung,
denn der französische Staatsrat ist keine parlamentarische oder parlaments¬
ähnliche Körperschaft, sondern eine beratende Hilfsbehördc der Regierung, deren
Einfluß mir darauf beruht, daß darin jederzeit die besten Köpfe der Adami-
stration vereinigt sind. Der im Stnatsrat festgestellte Text war es, über den
die Kammern endgiltig abstimmten. Wer die französischen Gesetze vor 1870
kennt, weiß, daß sie allgemein ebenso vortrefflich redigiert als in den Einzel¬
heiten praktisch ausgedacht und mit dem bestehenden Recht gut verbunden waren.
Kann dies much der wärmste Anhänger des Inhalts unsrer neuen Gesetze von
ihrer formellen Seite behaupten? Man denke beispielsweise an den gesetz¬
geberischen Bandwurm, zu demi sich unsre Gewerbeordnung nnsgewachsen hat.
Eine ebenso große formelle Gewähr bietet der englische Präzedenzfall nicht,
aber er hat den Vorzug, daß er den Teil des künftigen Gesetzesinhalts, auf
den es wesentlich ankommt, in anschaulicher, jedermann verständlicher, für jeder¬
mann übersehbarer Gestalt als Gegenstand der parlamentarischen Verhandlung
heraushebt und zusammenfaßt. Jeder Abgeordnete weiß dann, wozu er ja
oder nein sagt, und der Leser der Neichstagsberichte wird es anch wissen. Das
ist ein Sporn zu allgemeiner politischer Arbeit, diesem wichtigen Kennzeichen
und Prüfstein der echten Freiheit. Und dieser Modus ist auch für den, der
den Gesetzesantrag einbringt, ein Antrieb, das, was er in die Hand nimmt,
sorgfältig zu überlegen. Er ist gezwungen, sich vorher klar zu machen, was
an der betreffenden Materie Hauptsache und Grundsatz ist, also ins Gesetz
gehört, und was als Konsequenz und Ausführung dem Verordnuugswege und
der Verwaltung überlassen werden kann. Und muß nicht auch derlei diesen
Instanzen verständigerweise überlassen bleiben, weil es etwas Technisches ist
oder je nach der Lage des einzelnen Falles zu wechseln hat? Nach diesen
Merkmalen hat einst die staatsrechtliche Theorie die Gebiete von Gesetz, Ver¬
ordnung und Verwaltung abgegrenzt.
So vereinigen sich die Natur der Sache und die Autorität der Wissen¬
schaft mit politischem Bedürfnis und dein, was uns die Erfahrung lehrt, um
eine neue Art parlamentarischer Gesetzesarbeit zu empfehlen. Und wiederum
müßte gerade dem Reichstag eine solche Änderung wünschenswert erscheinen,
weil seine qnnntitative Selbstbeschränkung die Qualität seiner Leistungen steigern
und seinen Einfluß auf die Gemüter wieder verstärken würde. Daran sind
alle Parteien gleich beteiligt, nur die Vernfsparlamentarier, die Herren von
der parlamentarischen Bureaukratie, würden schlechter fahren.
Um diese neue Beratungsart einzuführen, bedarf es keiner Änderung der
Reichsverfassung, denn das Amendierungsrecht bleibt dabei nicht bloß gewahrt,
sondern wird sogar aufhören, ein Privilegium der „Schriftgelehrten" zu sein
und weit mehr als bisher ein Gemeingut aller Abgeordneten werden; nur seine
mißbräuchliche Anwendung wird sich selbst korrigieren. Auch die Gesetzes¬
initiative des Reichstags bliebe unberührt. Nichts würde einen Abgeordneten
hindern, nach dem Muster des englischen Präzedenzfalles einen Antrag aus¬
zuarbeiten und einzureichen, mit der Schlnßklausel, daß das Gesetz nach den
endgiltigen Beschlüssen zu redigieren und zu verkünden sei. Die Verordnuugs-
gewalt des Bundesrath für Detail- und Ausführungsbestimmnngen steht rechtlich
fest, und dafür, daß bei diesen wie bei der Redaktion die in den Anträgen
festgestellten Grundsätze nicht gefälscht werden, ist verfassungsmäßig der Reichs¬
kanzler verantwortlich. In der Regel freilich würden die Anträge, wie jetzt
die meisten Gesetzentwürfe, aus der Initiative des Bundesrath hervorgehn.
Es besteht auch gar kein Bedürfnis, die Machtbefugnisse der Träger der
gesetzgebenden Gewalt gegeneinander anders abzugrenzen. Wohl aber bedarf
der Bundesrat einer beratenden Hilfsbehörde, einer solchen womöglich, die so
wirksam arbeitete, wie es der französische Staatsrat mehr als siebzig Jahre
gethan hat. Und er bedarf ihrer nicht allein für die Redaktion der Gesetze,
sondern anch für deren Vorbereitung. Denn auch da bestehn Mißstände:
Überhastung und Zusammenhanglosigkeit, Unbekanntschaft mit den Forderungen
des wirklichen Lebens, Einschnürung der örtlich handelnden Verwaltung und
Borwnlteu dessen, was Fürst Bismarck den Ressortgeist genannt hat. Die
politische That hat ja für das Reich im Reichskanzler einen einheitlichem
und wirksamer» Mittelpunkt gefunden, als Preußen in seinem Ministerkolleginm
hat, aber für das Feld der Gesetzesvorbereitung ist der Reichskanzler ans Hilfs¬
kräfte angewiesen geblieben, die gewöhnlich in den Ressorts thätig sind oder
aus ihnen entstammen und darin Geistesschnluug und Geistesrichtung empfangen
haben. Es fehlt ihnen sehr häufig Sinn und Blick fürs Ganze. Daß anch
in dieser Hinsicht Gcsamtarbeit, aus einem Geist und Guß, not thut, hat Fürst
Bismarck sehr wohl erkannt. Er hat seine eigne Abneigung gegen die In¬
stitution des Staatsrath überwunden und diesen, zunächst für Preußen, aber
im Hinblick aufs Reich, wieder ius Lebe» gerufen. Seine Versuche nebst den
spätern Fortsetzungen sind jedoch Anläufe geblieben; zu regelmäßigem, lebendigem
Funktionieren ist der Staatsrnt nicht gediehen.
Daß dieselbe Institution in Frankreich zu so großem Einfluß gelangt ist
und ihn trotz des ewigen Wechsels an der Spitze des Staats bewahrt hat
— erst der tolle Parlamentarismus der seit 1870 herrschenden Republik hat
diesen Einfluß gebrochen —, das hängt nicht mit Menge und Stärke der dem
Staatsratc gesetzlich eingeräumten Befugnisse zusammen, denn Rechte hat der
Staatsrat als beratende Behörde der Regierung gegenüber gar nicht. Die
Gesetze sollen ja durch ihn vorbereitet und redigiert werden, aber es fehlt an
jeder Kontrolle, ob und wie es geschieht. Gewisse Regierungserlasse müssen
die Formel enthalten: nach Anhörung des Staatsrath; aber wie weit diese
Anhörung geht, ob auf das Gutachten etwas gegeben wird oder nicht, hängt
rechtlich von der Regierung allein ab, zwingen kann sie niemand. Am wenigsten
vermag dies der Staatsrat selber. Der besteht ausschließlich aus Beamten
und wäre schnell „epnriert"; ohne Ausnahmegesetz, wie es der Freiheitsdrang
der dritten Republik gegen den Richterstand erwirkt und angewandt hat.
Der Grund, daß eine rechtlich so machtlose Versammlung eine thatsächlich
so große Macht errungen und so lange festgehalten hat, liegt darin, daß ihr
genialer Schöpfer, Napoleon I., zu ihrem Ferment den Ehrgeiz wählte. Er
machte den Staatsrat zur Schule und Durchgangsstufe des höher« Beamten¬
tums, in ganz ähnlicher Weise, wie es bei uns der Generalstab für die Truppen-
führung ist. Wie bei uns der höchste Ehrgeiz des jungen Offiziers dahin
geht, zum Generalstab kommandiert zu werden, so strebte, wer in der franzö¬
sischen Verwaltung nach oben kommen wollte, in den Staatsrat. Dessen
Weisheit mochte in den grauen Häuptern der mit Sitz und Stimme aus¬
gestatteten eoussillors beruhn, das treibende Leben lag in den jüngern und
jugendlichen Berichterstattern und Hilfsarbeitern, die ein- und ausgingen, die
örtliche Verwaltung mit den Traditionell und Erfahrungen der Zentralstelle
befruchteten und dafür diese immer wieder mit Frische und neuen Gedanken
versahen. Alle, jung und alt, fühlten fich als Elite, Aller Liebe, Ehrgeiz
und Einfluß kamen der Zentralstelle zu gute. Und diese hatte als Sachver¬
ständigenkollegium die größte Macht, ohne je, nach der einen oder andern
Seite, politisch unbequem zu werden.
Auch bei uns ist das Rezept anwendbar: ein deutscher Generalstab des
Zivildienstes wird für diesen ebensoviel leisten wie der militärische für unser
Heer. Der Austausch zwischen Zentralstelle und örtlicher Verwaltung ist etwas
umständlicher, aber mit gutem Willen läßt sich das leicht ausgleichen, und wenn
auch hier wieder der Haupteinfluß Preußen zufallen muß, so können doch auch
die Ankläger des preußische« „Partikularismus" nicht behaupten, daß im Reichs¬
dienst die Richtpreisen zurückgesetzt seien. Und es werden wie in Frankreich
die Besten des ganzen Vcamtennachwnchses sein, die in den Staatsrat „streben"
werden. Das ist berechtigter Ehrgeiz. Jetzt suchen sie ins Parlament zu
kommen, um sich geltend zu machen. Das ist verwerfliches Strebertum. Es
wird dann eine Zeit kommen, wo die Ausschließung der Beamten vom Reichs¬
tage — ein Lieblingsgedanke Fürst Bismarcks — gesetzlich ausgesprochen
werden kann. Sie gehören nicht hinein, denn ihre parlamentarische Unab¬
hängigkeit oder Abhängigkeit wirkt gleich verderblich, jene für die Autorität,
diese für das echte Ehrgefühl. Jetzt sind sie noch unentbehrlich. Schlimm
genug und ein Grund mehr dafür, die parlamentarische Beratung und Beschlu߬
fassung in dem hier verfochtnen Sinne von Zuthaten zu entlasten, die nur
durch eine besondre, technische Schulung bewältigt werden können.
Nicht alle hier vorgctmgnen Anregungen stammen von Fürst Bismarck,
sie lehnen sich jedoch alle an Gedanken an, die er ausgesprochen hat; sie sind
eine Frucht des Bemühens, in seinem Sinne zu wirken und seine Tradition,
fortzupflanzen. So möchten sie aufgenommen, beherzigt und weiterentwickelt
sein. Eigentlich gehört noch die weitere Frage hierher, wie das Bismarckische
Kompromiß in betreff des allgemeinen Wahlrechts vor fernerer Anfechtung zu
schützen sei, sie ist jedoch schon in den Tages- und Parteistreit gezogen und
le Bau- und Wohnungspolitit des Merkantilismus ist
der erste Hauptteil einer kürzlich vom Institut für Gemeinwohl
in Frankfurt ans dem Nachlaß des Verfassers herausgegebnen
Schrift eines leider im vorigen Jahre in den Alpen verunglückten
vielversprechenden jungen Berliner Nationalökonomen, Dr. Paul
Voigt, über „Grundrente und Wohnungsfrage in Berlin und seinen Vor¬
orten,"") Der zweite Hauptteil behandelt die moderne Entwicklung der Berliner
Vororte, namentlich seit 1871. Das Werk ist leider ein Bruchstück geblieben,
aber diese beiden Hauptteile sind in sich abgeschlossene Untersuchungen, deren
wissenschaftlichen Wert auch der anerkennen muß, der nicht überall mit der
Wirtschafts- und sozialpolitischen Tendenz des Verfassers einverstanden ist. Die
jüngere staatssozialistische Schule in Berlin und die auf praktische Bethätigung
ihrer Anschauungen in Gesetzgebung und Verwaltung eifrig hinarbeitenden
Sozialreformer, deren Organ die „Soziale Praxis" ist, legen der Arbeit freilich
eine ganz außerordentliche, wie es scheint, bahnbrechende und epochemachende
Bedeutuug bei.
In der „Sozialen Praxis" hat kürzlich Dr. von Mangoldt in Dresden
über das Buch unter anderen folgendes geschrieben. Die öffentliche Meinung
habe in den letzten Jahren ein dunkles Gefühl dafür bekommen, daß bei den
grundlegenden Einrichtungen zur Befriedigung des Wvhnungsbedürfuisfes nicht
alles in Ordnung sein könne, und daß insbesondre die ungeheure Steigerung
der Werte und Preise des bebrüten und des unbebauten Bodens der Städte
eine Quelle großer Mißstände sei. Ein kleiner Kreis von Eingeweihten
wisse aber, daß unsre ganze, fast vollständig privatwirtschaftliche Art der Be¬
friedigung des Wohnungsbedürfnifses tief einschneidender Änderungen bedürfe,
und er wisse insbesondre, daß aus der gegenwärtigen Überantwortung des
Wohnungsbodeus in deu Städten, der Existenzgrundlage der ganzen städtischen
Vevölkernng, an die private Spekulation die schwersten Nbelstäude hervorgingen:
ans der einen Seite ungeheure, unverdiente Reichtümer, ans der andern Seite
Druck und Not, Elend und Entwürdigung im reichsten Maße. Woran es
bisher gefehlt habe, das sei einmal die Aufzeichnung eines wirklich großen,
anfeuernden Thatsachenbeispiels, wie es anders sein könnte, und zweitens die
genaue, statistische wissenschaftliche Erforschung der Bewegung der Grundrente,
der damit zusammenhängenden Übelstände und der das ganze treibenden Ur¬
sachen. Das Voigtsche Buch leiste beides: das erste durch die Darlegung
der glänzende» Boden- und Wvhnnngspolitik der Hohenzollern von der Mitte
des siebzehnten bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts; das zweite
durch die wissenschaftliche Erforschung der Entwicklung der Berliner Vororte
bis zur jüngsten Vergangenheit, Das ist in der That viel gesagt, beweist
ein sehr kräftiges Selbstgefühl der jüngern historischen Staatssozialisten und
berechtigt zu hohen Erwartungen. Übrigens haben sich die öffentliche Meinung
und auch kleinere Kreise Eingeweihter unter anderm auch gerade vor dreißig
Jahren sehr eingehend mit dem Problem und den Mitteln zu seiner Lösung
beschäftigt, wie das Referat Ernst Engels in der Eisenacher Versammlung
1872 über „die moderne Wohnungsnot" (Leipzig, Duncker und Humblot, 1873)
am besten zeigt. Dieses Referat kann aus jeder Seite als eine so sehr vor¬
bildliche und grundlegende Vorarbeit auch für die Voigtschen Untersuchungen
anerkannt werden, daß wenigstens hier daran erinnert werden möge, wenn es
die jungen Forscher für unnötig halten. Die jungen Herren haben weder das
Problem entdeckt, uoch die Ursachen und die Wirkungen zuerst aufgedeckt, noch
auch neue Mittel zur radikalen Lösung gezeigt.
In Voigts Darstellung der Berliner Wohnungs- und Bodenpolitik bis 1800,
mit der sich die nachstehenden Betrachtungen hauptsächlich beschäftige» sollen,
spiegelt sich die Vorliebe wieder, die Schmoller für die Nationalökonomie der
großen brandcnburgisch-preußischen Regenten vom Großen Kurfürsten bis zu
Friedrich dem Großen in seineu langjährigen archivalischen Forschungen ge¬
wonnen und bethätigt hat, und wer seit anderthalb Menschenaltern und vou
Eltern und Großeltern her gewöhnt ist, das Ganze der staatsmännischen
Leistungen dieser gewaltigen, einzeln wie vollends in ihrer Reihenfolge bei¬
spiellos in der deutschen Geschichte dastehenden Fürsten mit ehrfurchtsvoller
Vewundrung vor Augen zu haben, den wird dieser Zug in dem Voigtschen
Bilde von vornherein sehr sympathisch berühren. Der wird es auch versteh»,
wie junge Forscher, von dem Gegenstand hingerissen, der ihnen viele über¬
raschend schöne Seiten zeigt, haben dazu kommen können, was ihnen neu war
für neu entdeckt zu halten und sich hier und da durch eine gewisse Liebhaberei
für die Zeiten vor 1800 zu etwas einseitiger, ungerechter Beurteilung des
neunzehnten Jahrhunderts verleiten zu lassen.
In der innern Politik — sagt Voigt am Eingang seiner Darstellung
der Bau- und Wohnungspolitik des Merkantilismus — sei dieser Zeitraum
charakterisiert durch die Ausbildung des absoluten Fürstentums, das in hartem
Ringen die Selbständigkeit der ständischen Gewalten vollends vernichtete, das
den moderne» Staat schuf und mit ihm erst die nationale Volkswirtschaft be¬
gründete. „Es ist die Periode des Merkantilismus, jeues gewaltigen Systems
einer umfassenden staatlichen oder staatssozialistischen Wirtschaftspolitik, die sich
auf alle Gebiete des volkswirtschaftlichen Lebens in gleicher Weise erstreckte,
jenes Systems, dessen wirkliche Bedeutung von den ältern liberalen Ökonomen
gänzlich verkannt, und dem erst unter dein Einfluß von Schmoller die neuere
wirtschaftsgeschichtliche Forschung gerecht geworden ist." Mehr Leute, mehr
Reichtum dem Staat zu schaffen, an seine Machtstellung zu heben und zu
sichern, das war das große Ziel dieses hohenzollerschen Merkantilismus, und
die städtische, namentlich auch die Berliner Wohnungs- und Bodenpolitik ist
ein wohl berechnetes und berechtigtes und auch sehr wirksames Glied in dieser
Kette gewesen.
Von den beiden Säulen — belehrt uns Voigt weiter —, auf dem das
brandenbnrgisch-preußische Heer finanziell ruhte, der ländlichen Kontribution
und der städtischen Accise, war die Accise die wichtigere, weil sie der bewegliche,
der steigerungsfähige und beständig rasch steigende Teil der Staatseinnahmen
war, während die Kontribution im großen und ganzen unverändert blieb. Die
Vergrößerung des Heeres, dieses Hauptziel der preußischem Politik, war also
zunächst von der Steigerung der Aeeiseeinnahmen abhängig. In einem Memorial,
das Grumbkow 1713 an Friedrich Wilhelm I. richtete,'heißt es ausdrücklich,
daß „der Städte Nahrung, Wohlstand, Handel und Wandel diejenigen Quellen
seynd, woraus die Accise und folglich die Konservcition Ew. Königl. Mayst.
Militär-Etats herfließet." In derselben Richtung, fährt der Verfasser fort,
habe die Sorge für die Unterkunft der Soldaten mit ihren Weibern und
Kindern gewirkt; auch sie habe die Vergrößerung der Städte, die Vermehrung
ihrer Häuser und Wohnungen verlangt. Dieser doppelte Zusammenhang mit
den Lebensinteresse» des Staats, nämlich mit seinen fiskalisch-militärischen
Interessen müsse scharf hervorgehoben werden, wenn man die damalige Städte-
Politik in ihrem geschichtlichen Zusammenhang wirklich verstehn wolle; aber
ebenso energisch müsse auf der andern Seite betont werden, daß es volkswirt¬
schaftlich und sozialpolitisch gesunde Maßregeln gewesen wären, durch die man
die erstrebte Erhöhung der Einnahmen herbeizuführen gesucht Hütte. Denn
nicht etwa durch maßlose Steigerung der Accisetarifsätze, sondern durch Hebung
des wirtschaftlichen Gedeihens der Städte, durch Vermehrung ihrer Einwohner¬
zahl, durch Steigerung ihrer Konsnmkraft, durch Schaffung einer blühenden
Industrie wie eines blühenden Handwerks suchte die landesherrliche Regierung
ihr Ziel zu erreichen. Einwandrer wurden ius Land gezogen, das durch deu
Dreißigjährigen Krieg entvölkert worden war; Fabriken und Manufakturen in
jeder Weise begünstigt; der Gewerbebetrieb nach Möglichkeit auf die Städte
beschränkt, für fehlende Handwerker neue angesetzt, und auf dem Lande um¬
gekehrt nur wenige Gewerbe geduldet. Der Erfolg war, daß die Bevölkerung
Berlins von 1654 bis 1685 von etwa 10000 auf 18000 stieg, von 1685
bis 1709 aus 55000, und daß ums Ende des achtzehnten Jahrhunderts die
brandenburgisch-preußische Hauptstadt mit ihren 170000 bis 180000 Einwohnern
schon zu den ersten Städte» Europas gehörte und i» Deutschland nur von
Wien übertrosfe» wurde. Die Berliner Acciseerträge betrugen 1684 etwa
60000 Thaler, 1707 schon 185000, 1739: 314000, beim Tode Friedrichs
des Großen 915000 und 1801 sogar 1215000 Thaler. Im Jahre 1740
belief sich bei einem Gesamtetat von 7 Millionen Thalern der Aceiseertrag
im ganzen Staat auf fast anderthalb Millionen, wovon Berlin den fünften Teil
beisteuerte.
Man erkennt aus diesen wenigen Zügen des Voigtschen Bildes, daß auch
in Brandenburg-Preußen der Merkantilismus wie überall, wo er klug und
energisch durchgeführt wurde, den Zug nach dem Gewerbe und zugleich den
Zug nach der Stadt erfolgreich förderte, um Leute und Reichtum ins Land,
Geld in die Kassen und eine starke Armee für den Staat zu bekommen. Es
ist gewiß von Interesse, die Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts damit
zu vergleichen, wo sich dieses heiße Verlangen jener großen Merkantilisten in
ungeahntem Maße verwirklichte, freilich ganz ohne merkantilistische Kunst¬
leistung; so sehr sogar, daß das „Stadtproblcm" anfängt, den Staatsmännern
im umgekehrten Sinne Sorge zu machen, wie den Fürsten und Ökonomen von
1650 bis 1800. Schon dieser flüchtige Vergleich zwischen einst und jetzt
scheint mir darauf hinzuweisen, daß es nicht so leicht sein wird, für die Wol)--
nnngs- und Banpolitik des zwanzigsten Jahrhunderts richtige Grundsätze aus
dem achtzehnten zu gewinnen.
Die praktischen Maßnahmen zur Erreichung des in der Berliner Wohnungs¬
und Vaupolitik verfolgten Ziels richteten sich unter dem Großen Kurfürsten
zunächst hauptsächlich auf die Wiederbebanung der infolge der Notjahre sehr
zahlreich gewordnen „wüsten Stellen." Das Verfahren dabei wird durch
folgende, wie Voigt sagt, tief in alle privatrechtlichen Verhältnisse einschnei¬
dende Bestimmung aus einem Patent von 1667 charakterisiert: „Weil wir
vernehmen, daß viele . . . darüber abgeschrecket worden, weil ihnen die wüsten
Stellen nicht umbsonst gegeben, sondern theuer angeschlagen, auch wohl gar
die Schoße und Contributionsreste gefordert werden wollen, also verordnen Wir
hiermit, allen und jeden, die aufbauen wollen, die wüsten Stellen frey umb¬
sonst und ohne einiges Entgeld zu geben und anzuweisen, auch ihnen wegen
der alten restierenden Schosse und Contributionen . . . nichts abzufordern. . , .
Es wäre denn, daß etwann noch Leute vorhanden, denen solche wüsten Stellen
zugehöreten, und dieselben wieder aufbauen wollte«, auf welchen Fall sie billig
vor anderen den Vorzug hätten, welche aber auch bald, und zwar zum längsten
in einem halben Jahre zum Bau wirklich thun sollen, widrigenfalls sie ihres
darall habenden Rechtes verlustig und die Stelle demnach demjenigen, der solche
alsofort wieder bebauen wollen, umbsonst gegeben werden soll." Dazu wurde
den Baulustigen das Bauholz geschenkt, anch bare Zuschüsse von 10 bis 15 Pro¬
zent des Bauwerks aus der Aecisekasse geleistet. Das Enteignungsrecht zu
Gunsten Baulustiger fand, wie Voigt sagt, nach einem „sehr formlosen und
abgekürzten Verfahren auf der Basis des obrigkeitlich festgestellten Ackerwerts"
statt, die große Masse des für Umbauten in Betracht kommenden Geländes
gehörte aber den Regenten selbst und wurde einfach verschenkt.
Auch unter dem ersten Könige wurde in gleicher Weise fortgefahren. Den
Baugrund in der neuangelegter Friedrichstadt erhielten die Baulustigen zum
Geschenk „gänzlich umsonst und zu freiem Eigentum," dazu Bauholz, Kalk,
Steine und 15 Prozent der Baukosten aus der Aeeisekasse. Nach dein Tode
Friedrichs I, folgten zunächst schlechte Zeiten für die Gewerbtreibenden und
Grundbesitzer. Ein starkes Sinken der Häuser- und Mietpreise, wie es scheint,
sogar eine Abnahme der Bevölkerung trat ein. Erst nach 1720 begann
Friedrich Wilhelm I. seine gewaltige Bauthätigkeit, die vor allem durch das
von der starken Vermehrung der Garnison gesteigerte Bedürfnis veranlaßt
wurde. Schon ein Edikt von 1722 schrieb kategorisch vor, daß zweihundert
Hänser jährlich gebaut werden sollten. Große Barmittel zu hohen Bauprümien
wurden zu der schon früher üblichen Überlassung des Baulands, der Bau¬
materialien usw. zur Verfügung gestellt. Im Jahre 1725 sagte ein Erlaß, „daß
die Baumaterialien und Prozentgelder keineswegs, wie böswillige Leute aus¬
gesprengt hätten, nur als Vorschuß gereicht seien, wofür der König sich die
erste Hypothek reserviere, sondern daß sie ein wahres Geschenk zum Anbau dar¬
stellten, das die freie Verfügung der Besitzer über ihre Häuser in keiner Weise
beeinträchtige; sie könnten sie selbst bewohnen, vermieten, verkaufen oder hypo¬
thekarisch belasten, wie sie wollten." Die Baustellen wurden jetzt meist in un-
gemeiner Größe ausgemessen, sodaß viele Hänser große Gärten erhielten, und
trotzdem wie bisher durchweg verschenkt. Wo Terrain, das der König für seine
Bebannngspläne brauchte, im Eigentum Privater stand, wurde enteignet. Im
Jahre 1729 nahm der König das 825 Quadratruten große, schon damals
mitten in der Stadt liegende Gelände des heutigen Gendarmeumarkts, für das
die Besitzerin zuerst 1000, dann 600 Thaler verlangt hatte, gegen eine Ent¬
schädigung von 2041/4 Thaler, d. h. sechs gute Groschen für die Quadrat¬
rute, weg.
Voigt macht zu dieser Baupolitik im vvrfriederizianischen Berlin unter
anderm folgende allgemeine Bemerkungen- Wenn man die „doch überhaupt
nur moralische,," Zwangsmaßregeln, die Friedrich Wilhelm 1. zur Beförderung
des Anbaus der Friedrichstadt ergriffen habe, richtig beurteilen wolle, müsse
man vor allem bedenken, daß von 1721 bis 1740 die Zivilbevölkerung um
beinahe 20000, die MilitKrbevölkerung fast um 11000 Köpfe, die Gesamt¬
bevölkerung um etwa 50 Prozent zugenommen habe. Die Jahre 1728 bis
1735 hätten den Höhepunkt der industriellen Entwicklung Preußens unter diesem
Könige bezeichnet. Die Neuzuziehenden seien zudem meist arm gewesen; sollte also
nicht Wohnungsnot einreihen, so habe der König entweder selbst bauen oder
einen gewissen Druck auf die Privatkapitalisten ausüben müssen, um sie zum
bauen zu bewegen. Jedes kritische Eingehn auf das Verfahren lehnt er schlie߬
lich mit den: Satze ab: „Wer die Banpolitik des achtzehnten Jahrhunderts
nicht mit den Augen des freisinnigen Berliner Hauswirth ansieht, wird in den
Maßregeln Friedrich Wilhelms I. nicht Akte eines sinnlosen bauwütigen Des¬
potismus erblicken, sondern sie im ganzen für sachlich durchaus gerechtfertigt
und der gegebnen Situation entsprechend erachten, wenn sie auch in einzelnen
Fällen recht hart und ungerecht gewesen sein mögen."
Friedrich der Große hat bis zum Ende des siebenjährigen Kriegs die
Erweiterung der Stadt und die Bauthätigkeit in Berlin gar nicht vernach¬
lässigt, doch setzte die seiner Regierung charakteristische Baupolitik eigentlich
erst nach der Wiederherstellung des Friedens el», veranlaßt durch die infolge
eines immer empfindlicher gewordnen Wohnuugsmangels, nnter dem nament¬
lich die Offiziere litten, beginnenden Preistreibereien, sowohl bei den Miet- wie
bei den Bauplatzpreisen, dnrch die Grundbesitzer. Voigt glaubt die ganze Ban-
Politik der zweiten Hälfte seiner Regierung als „bewußten Kampf gegen das
Spekulantentum" charakterisiere» zu sollen. In einer Verordnung vom 15. April
1765 hob der König zunächst für die „Residenz Berlin die bisher beobachtete
gemeine Rechts-Regni: Kauf bricht Miete" auf, um dem Künfer das Recht
zu nehmen, „den Mieter, ungeachtet sein mit dem Verkäufer eingegangner
Kontrakt noch nicht zu Ende, nach Gefallen auszutreiben, oder vou ihn, ein
so hohes Mietequantnm durch die Drohung der Austreibung zu erzwingen, daß
Käufer sich dadurch entschädigt, ja gewonnen, wenn er auch das Haus weit
über seineu wahren Wert erkaufet." An demselben Tage befahl der König,
um „den, eingerissenen Wucher mit Häusern und der aufs höchste getriebnen
Steigerung der Mieter" noch wirksamer zu begegnen, daß außer denen, die
„wegen ihrer Bedienungen, nombreuser Familien oder starken Verkehrs große
Häuser allein zu bewohne» sich genötigt sehen, diejenigen Christlichen Parti-
culiers auch Juden, so die besten und größten Häuser an sich zu bringen Ge¬
legenheit gefunden haben, auch noch damit kontinniren, und dadurch guten
teils an der Steigerung der Mieter schuld sind, solche aus Übermut und
zur Üppigkeit nicht ferner allein bewohnen, sonder» so viel Familien, als nach
Beschaffenheit der Häuser füglich darin wohnen können, miethweise darin auf¬
nehmen möchten." Wenn sie sich dazu nicht gutwillig verstünde», so sollten
sie „durch rechtlichen Zwang" angehalten werden.
Ging der König schon in dieser Beziehung ohne Rücksicht auf das Ideal
des Einfamilienhauses vor, so zeigte er in seinen weitern positiven Maßnahmen
sogar eine gewisse Hinneigung zum Mietkaseruentum, über die sich unsre
Bodenreformer eigentlich entsetzen könnten. Obgleich er es in der Hand hatte,
an der Peripherie Neubauten zu veranlassen, griff er, wie Voigt sagt, doch
nicht zu dieser Maßregel, sondern er begann, um das Übel im Kern zu treffen,
die Wohnungen in der Innenstadt direkt zu vermehren, indem er die hier noch
zahlreich vorhandnen kleinen ein- bis zweistöckigen Häuser auf Staatskosten
dnrch große drei- bis vierstöckige Gehn'nde ersetzen ließ. In ganz erstaunlich
schnellem Tempo scheint der König mit diesen Neubauten vorgegangen zu
sein. Von 1769 bis 1777 wurden in der Innenstadt 149 Bürgerhäuser
auf Staatskosten neu errichtet und sämtlich an die bisherigen Besitzer der
Grundstücke „bedingungslos verschenkt." Von 1780 bis 1785 wurde allein
über eine Million Thaler für dieselben Zwecke ausgegeben. Neben der Absicht
— bemerkt Voigt dazu —, die Wohnungen zu vermehren, habe den König
auch der Wunsch geleitet, den Hauptstraße» der Residenz ein stattliches Aus¬
sehen zu geben, weshalb er auch die Baupläne meist persönlich kontrolliert,
jn teilweise selbst entworfen habe. Auch Friedrich Wilhelm II. hat allein in
den beiden ersten Jahren seiner Regierung noch etwa hundert Privathüuser
errichten lassen und verschenkt. Dann schlief der Baueifer allmählich ein, wenn
auch die alte merkantilistische Baupolitik noch bis in die Regierungszeit Friedrich
Wilhelms III, nachwirkte.
Das sind die Hauptzüge des Bildes, das Voigt von der Berliner „Ban-
und Wohimngspolitik des Merkantilismus" entwirft. Ergänzend kommen natür¬
lich dazu die Bautaxen und der sonstige Apparat des Polizeistnats, auf den
hier einzugehn Nieder möglich noch nötig ist. Auch das ziemlich dürftige
statistische Material an Boden-, Bau- und Mietpreisen, das für die Zeit
vor 1800 als wirklich zuverlässige Grundlage allgemeiner Schlußfolgerungen
zur Verfügung steht, kann hier ganz außer Betracht bleiben, Auf keinen Fall
ist gerade durch dieses Material ein irgendwie hinreichender Beweis dafür er¬
bracht, daß Voigt Recht hat, wenn er schließlich sagt: „Im ganzen läßt sich
unzweifelhaft behaupten, daß bis zum Tode Friedrichs des Großen in Berlin
bei Wohnhäusern eine wirkliche Grnndrentenbildung so gut wie gar nicht, und
auch bei Geschäftslokalen nur in relativ geringem Umfang vorhanden war,"
Es liegt wohl auf der Hand, daß bei einer Bodenpolitik, wie der geschilderten,
eine Bildung und Entwicklung der Ballplatzrente, von der hier nur zu reden
ist, wie die Theorie sie sich vielleicht als die natürliche vorstellt, nicht möglich
war. Aber daß eine Bauplatzrentenbildung überhaupt nicht stattgefunden hätte,
scheint mir nicht nur unwahrscheinlich, sondern unmöglich. Die sicher sehr
absonderlichen Zickzackwege, die sie genommen hat, zu verfolgen, ist selbstver¬
ständlich heute ausgeschlossen. Die Mietzinse waren jedenfalls auch zur Zeit
Friedrichs des Großen für die gleichen Räume im Zentrum des Verkehrs im
großen und ganzen höher als an der Peripherie, am Schloßplatz höher als
im „Vogelart," Auch Gebäude, die mit demselben Kapitalaufwand, in derselben
Einrichtung und Ausstattung in den verschiednen Stadtteilen erbaut wurden,
brachten gewiß auch damals sehr vielfach einen verschiednen Mietertrag und
dadurch „für dieses Kapital wie Schonberg sagt — einen verschieden hohen
Reinertrag, eine verschieden hohe Rente,"*) Der Grund des Unterschieds ist
die Lage der Gebäude, Bei deu am ungünstigsten liegenden ergiebt sich für
das Bnukapital nur ein Reinertrag, der der üblichen Rente für sichere Kapital¬
anlagen entspricht, bei den günstiger liegenden dagegen ein höherer Reinertrag,
„dessen Differenz gegenüber jenem die Grundrente ist," Diese städtische Grund¬
rente, die Bauplatzrente, „ist stets die Differenz zwischen den Mietpreisen für
gleiche Räume in verschiednen Gebäuden, die lediglich ihren Grund hat in der
Lage, in dem Standort der Gebäude." Wenn schon die bedingungslos frei
umsonst zu vollem Eigentum verschenkten Bauplätze und die Lieferung von
Baumaterial und eines Teils der Baukosten verbunden mit besondern Bau-
prämieu nicht geeignet sein konnten, die Grnndrentenbildung auszuschließen,
so erscheint mir der auf Staatskosten den Grundeigentümern „bedingungslos
geschenkte" Umbau alter einstöckiger Häuser in neue vierstöckige in der Innen¬
stadt eher das Gegenteil von einer Verhinderung der Grundrentenbildung ge¬
wesen zu sein. Durch das Verschenken von Bauplätzen und Häusern zu freiem
Privateigentum, ohne Beschränkung im Verkaufen und in der hypothekarischen
Belastung und ohne Festsetzung der Wohnungsmieten durch die Behörde, auch
Menn im öffentlichen Eigentum stehendes Gelände in nächster Nähe noch über¬
reichlich vorhanden ist, wird man in einer sich in hundert Jahren von der
Landstadt zur Großstadt aufwachsenden Residenz wohl zeitweise ein ungesundes
Wachsen der Bauplatzrente verhindern können, aber wenn man die Bauplatz-
rentenbildnng überhaupt aus der Großstadt ausschalten will — und sie dauernd
unbeweglich machen, heißt dasselbe —, so muß man sich vor allem nicht scheuen,
auch die Beseitigung des Privateigentums am Grund und Boden zu verlangen;
dann darf man aber auch nicht in der Berliner Bodenpolitik des achtzehnten
Jahrhunderts dem zwanzigsten ein Beispiel vorhalten wollen, das zur Nach¬
ahmung anfeuern soll.
Es soll später noch auf die Frage: Grundrente und Privateigentum all
Grund und Boden zurückgekommen werden, wenn die beklagenswerten Extra¬
vaganzen in der Grnndrentenbildung im neunzehnten Jahrhundert besprochen
werden. Hier möchte ich nur kurz meinem aufrichtig und lebhaft empfundnen
Zweifel daran Ausdruck geben, ob dieses die Grundrente betreffende Ergebnis
der Voigtschen Untersuchung überhaupt einen wirtschaftspolitischen, d. h. einen
für die praktische Wohnungs- und Bodenpolitik in den Großstädten in der
Gegenwart und in der Zukunft wirklich schätzbaren Wert beanspruchen darf.
Damit wird ihren vorzüglichen Qualitäten als historische Studie nicht im ge¬
ringsten zu nahe getreten, und den kritisierten Mangel würde sie, wenn die Kritik
berechtigt ist, wohl mit sehr vielen, auch sehr bewunderten Leistungen der
modernen archivalisch-historischen Staatswissenschaft gemeinsam haben.
Der Verfasser faßt das Ergebnis seiner Untersuchungen über die merkanti-
listischc Periode dahin zusammen: „Vom Mittelalter bis zum Ausgang des
achtzehnten Jahrhunderts hat die Anlage und Erweiterung einer Stadt, die
Schaffung der Existenzgrundlage für die städtische Bevölkerung als eine im
eminentester Sinne öffentlich-rechtliche Angelegenheit und deshalb auch stets
als Aufgabe der städtischen oder staatlichen Gewalt gegolten, erst dem neun¬
zehnten Jahrhundert blieb es vorbehalten, die Schaffung der Existenzgrundlage
der ganzen Bevölkerung der privaten Spekulation zu überantworten." Herr
von Mangoldt fügt dem hinzu: „Oder um es schlagwortartig auszudrücken:
Bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts herrschte in der Berliner und
wohl überhaupt in der preußischen Städteentwicklung, gefördert namentlich durch
das kraftvolle Eingreifen der preußischen Könige, ein gut Stück Sozialismus,
seitdem aber der privatkapitalistische Individualismus."
Was mit solchen Sätzen, mögen sie mehr oder weniger schlagwortartig
formuliert sein, wissenschaftlich und praktisch gedient sein soll, ist mir nicht recht
begreiflich. Zunächst hat es doch nur mit sehr viel Einschränkungen und Vor¬
behalten Sinn, die mcrkautilistische Wvhnungs- und Bodenpolitik des acht¬
zehnten Jahrhunderts als ein Stück Sozialismus oder mit Voigt selbst als
Staatssozialismus zu bezeichnen. Was ist dann nicht alles Sozialismus? In
vielen Stücken schlägt dieser Merkantilismus den allerwesentlichsten Postulaten
jedes Sozialismus, der den Namen verdient, ins Gesicht. Es könnte fast so
scheinen, als wenn die jungen Herren Kathedersozialisten ihre Farbe durch einige
reaktionäre Streiflichter — man nehme das Wort ohne Parteibedeutung —
etwas annehmbarer, sozusagen regierungsfähiger zu machen wünschten. Adolf
Wagner — klüger als sie — hat kürzlich in einem im Kreise der Boden¬
reformer über „Wohnungsnot und städtische Vodenfrage" gehaltnen Vortrage
sehr energisch gegen die weite Anwendung des Worts Sozialismus protestiert.
Er will das, was die Herren wollen, vielmehr „Anknüpfungen an ältere Rechts¬
formen" genannt wissen. Für was alle schwärmen, Wagner wie Voigt und
Mangoldt, das ist: radikaler Bruch mit der Wirtschaftspolitik des neunzehnten
Jahrhunderts; weg mit dem, was seit Stein-Hnrdenberg als klug und weise,
gerecht und nützlich gegolten hat. Das klingt natürlich den sehr mächtigen
Parteien, Klassen und Cliquen, die in Preußen seit neunzig Jahren der Devise:
„Zurück hinter Stein-Hardenberg" gehuldigt haben, als herrliche Melodie in
den Ohren, und es kann nicht fehlen, daß jener nationalökonomische Historismus
den waschechter, im engsten Sinne des Worts so zu nennenden altpreußischen
Reaktionären auch praktisch einen gewaltigen Vorspann leistet, mögen es die,
die den Merkantilismus des achtzehnten Säkulums so volltönend besingen,
wollen oder nicht.
Man wird dabei, glaube ich, dem bösen neunzehnten Jahrhundert denn
doch viel weniger gerecht, als man von einem gewissenhaften Historiker und von
einem nüchternen Volkswirt, auch einem konservativen, erwarten sollte. Die un¬
sterblichen Verdienste, das in der That anfeuernde, glänzende Beispiel der branden¬
burgisch-preußischen Regenten vom Dreißigjährigen bis zu den Napoleonischen
Kriegen wird durch die Anerkennung der Thatsache wahrlich nicht verkleinert,
daß mit dem Zusammenbruch des alten Preußens am Anfang des vorigen
Jahrhunderts auch das Merkantilshstem zusammenbrach, weil es auch alt,
morsch, unhaltbar, bankerott geworden war. Das an sich bewundernswerte
Gebäude des Polizeistaats jener großen Regenten trug in sich den Todeskeim,
der sich vielleicht in Preußen um so kräftiger entwickelte, als so kräftige Herrscher
so lange auch für das wirtschaftliche Gedeihen ihrer Unterthanen grundsätzlich in
jeder Beziehung sorgten. Es war die Erziehung zur fortschreitenden Unmündig¬
keit und Unselbständigkeit des Volks, dnrch die das alte Regime den Sturz in
kommenden Stürmen unvermeidlich gemacht hatte. Es war nicht der Krieg
an sich und allein, der den Zusammenbruch heraufbeschwor. Treitschke hat
Recht, auch in Bezug auf die wirtschaftspolitische Lage, wenn er sagt: „Das
historische Urteil vermag nicht abzusehen, wie die Demütigungen von 1806 der
alten Monarchie hätten erspart werden sollen. Nur die durchschlagende Be¬
weiskraft des Kriegs konnte dein verblendeten Geschlecht den innern Verfall
jener friederizianischen Formen zeigen, die durch den Zauber des Ruhms alle
Thatkraft verloren hatte." Wie konnte es anders sein? Hundert Jahre am
Gängelbande, wie Voigt sie uns geschildert hat, und wie sie auch auf allen
andern Gebieten des wirtschaftlichen Lebens verlaufen waren, müssen solche
Folgen haben. Wahrhaftig nicht nur im Recht war das neue Geschlecht, sondern
hohes Lob hat es verdient auch von dem jungen Geschlecht von 1900, wenn
es, wie Treitschke sagt, nach 1806 im Gegensatz zum friederizianischcn System
alles entfernen wollte, was den Einzelnen bisher hinderte, den Wohlstand zu
erwerben, den er nach dem Maße seiner Kräfte zu erwerben fähig war. Es
wirft ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Zustände in Berlin an der vorletzten
Jahrhundertwende, wenn die Männer, die nach dem Kriege berufen waren,
den Gewerbestand in die Höhe zu bringen, darüber klagten, daß in der Haupt¬
stadt BauuNvvllenfabrikanten mit hundert bis zweihundert Stühlen nur mit
Mühe ihre Namen schreiben, Bücher nicht führen könnten und bei jeder Stockung
im Geschäft nichts andres zu sagen wüßten, als daß die Regierung ihr ab¬
helfen müsse, und daß überhaupt nur wenig Bedeutendes zu sehen sei, was uicht
aus der unmittelbarsten Einwirkung der Staatsbehörde» hervorgezogen wäre,
und auch dabei sich nicht fast ganz auf die von ihr ausgesuchten und aufgestellten
Muster beschränkte.
Und das sollten sich unsre jungen archivalischen Nationalökonomen, wie
schon, angedeutet worden ist, doch auch immer vor Augen halten, daß die Wirt¬
schaftspolitik der preußisch-deutschen Hohenzollern mit ihrem so arg verketzerten
sogenannten Individualismus im neunzehnten Jahrhundert thatsächlich auf Er¬
folge zurücksehen kann, die denen des achtzehnten Jahrhunderts gewiß um nichts
nachstehn, auch im Berliner Wirtschaftsleben. Die Entwicklung der städtischen
Bevölkerung, Industrie und Steuerkraft ist so gewaltig gediehen, die Macht¬
mittel des Staats und des Reichs sind dadurch so erfreulich gewachsen, wie
es im merkantilistischen Zeitalter kaum jemand geträumt hat. Die Großmacht
ist zur Weltmacht, die Großstadt zur Weltstadt geworden. Und wo viel Licht
ist, da ist auch viel Schatten. Das ist auch im achtzehnten Jahrhundert reichlich
so gewesen wie im neunzehnten Jahrhundert, und es wird wohl auch im
zwanzigsten so bleibe». Dabei wolle man sich auch wieder ein wenig daran
zu erinner» anfangen, daß Friedrich der Große aus dem brandenburgisch-
preußischcn Polizeistaat und der despotischen Willkürherrschaft des umoisn
rvAiine den Rechtsstaat Preußen geschaffen und sich damit denn doch auch ein
„soziales" Verdienst erworben hat, das sehr hoch emporragt über alle seine
Berliner Ballten miteinander. In dem Rechtsstaat, den er geschaffen hat, war
für die despotische Wohnungs- und Baupolitik seines NaterS kein Platz mehr,
da war Respekt vor dem Recht auch des Bürgers, auch vor seinem Recht an
Grund und Boden die Regel geworden. Es wäre vielleicht lohnend, dein
Unterschied zwischen Friedrichs Berliner Baupvlitik und der seiner Vorgänger
in dieser Beziehung etwas nachzuspüren. Jedenfalls brachte das Geschlecht vor
hundert Jahren ein beträchtliches Quantum mehr Rechtssinn und juristisches
Gewissen aus der friederizianischen Schule mil herüber ins neue Jahrhundert,
als unsre heutigen Staatssozialisten zum Teil aus dem neunzehnten ins
zwanzigste Jahrhundert herübergebracht haben. Den Rechtsboden gleichermaßen
mißachtend ruft ihr linker Flügel nach sozialdemokratischen Umsturz, und der
rechte preist den fürstlichen Despotismus des siebzehnten und des achtzehnten
Jahrhunderts, vor dem kein Recht des Bürgers bestand, als anfeuerndes That¬
sachenbeispiel.
Voigt sagt, gewiß hätten militärische und finanzielle Rücksichten für
den Merkantilismus voraugestanden. Es wäre sein Hauptziel gewesen, den
wachsenden Wohlstand der Unterthanen in steigendem Maße in staatliche Macht
zu verwandeln. Es sei „merkwürdigerweise" neuerdings vielfach üblich ge¬
worden, das mit einer gewissen Nuance des Vorwurfs zu konstatieren, „als ob
eine Sozialpolitik dadurch an Wert verlöre, daß sie nicht von einem schwäch¬
lichen Mitleid oder einem sentimentalen Individualismus, sondern von dem
Streben nach Erhöhung der außen Macht des Staats getragen sei." Ich will
den Spieß nicht umkehren, obwohl man wahrhaftig oft in Versuchung geführt
wird, über den sentimentalen Sozialismus zu spotten, der den riesigen Macht¬
fortschritt des neunzehnten Jahrhunderts, der doch auch mit kräftigen sozialen
Hebungen verbunden war, über die großstädtischen Mietkasernen und Bauplatz¬
renten vergißt. Viel, sehr viel ist im neunzehnten Jahrhundert gefehlt worden,
und vieles deshalb zu bessern. Aber weder historisch noch nationalökonomisch
hat es Sinn, weder praktisch noch wissenschaftlich ist es richtig, das achtzehnte
Jahrhundert so, wie das jetzt Mode geworden ist, in den Himmel zu erheben
und das neunzehnte mit einer sehr starken, die ganze Stimmung beherrschenden
Nüance des Vorwurfs herabzusetzen. Als der König rief und alle, alle kamen,
ist Preußens Volk zum Bewußtsein seiner Pflicht und seines Rechts gekommen,
hat Preußen seinen herrlichsten, gewichtigsten Ruhmes- und Rechtstitel errungen
als Vormacht deutscher Einheit und Unautastbnrkeit. Das preußische Volk,
Adel, Gelehrte, Bürger und Bauern zusammen, nicht der inilss vsrpswus, auch
nicht der preußische Junker, haben dem preußischen Staat und dem preußischen
Könige die Schlachten der Freiheitskriege geschlagen in hingebender begeisterter
Vaterlandsliebe und Königstrene, wie sie einzig dasteht in der ganzen branden¬
burgisch-preußischen und deutschen Geschichte, Wahrhaftig, wir Altpreußen,
die wir von den Vätern und Großvätern gehört haben, wie man damals in
Preußen fühlte, wir haben Recht, uns die Erinnerung an dieses Erwachen des
Volksbewußtseins zu Steins und Hardenbergs Zeiten mit all seinem natürlichen,
berechtigten, auch wohl vielfach unklaren Liberalismus lind Individualismus
nicht verleiden zu lassen und seiner Geschichte, die Wilhelm I. in ihrer ganzen
Bedeutung wie keiner sonst verkörperte, den vornehmsten Rang erhalten zu
wollen unter den patriotischen Erziehungsmitteln für die preußische Jugend auch
im zwanzigsten Jahrhundert, für die Königsöhne wie für die Bürgersöhne.
(Fortsetzung folgt)
er bekannte eifrige Agitator für die Verbreitung von Volks¬
bildung, Ernst Schultze (siehe den 4. Band des Jahrgangs 1900
der Grenzboten, S> 104), hat das Ergebnis seiner langjährigen
Studien über seinen Gegenstand in einem hübschen, mit vielen
Illustrationen versehenen Bande niedergelegt: Freie öffentliche
Bibliotheken. Volksbibliotheken und Lesehallen (Stettin, Dannen-
berg u. Comp., 1900). Freie öffentliche Bibliotheken ist die in den angel¬
sächsischen Ländern übliche Bezeichnung für die mit Lesehallen verbundnen
Volksbibliotheken. In diesen Ländern pflegt die Zeitschriftenlesehalle das
erste zu sein und die Bibliothek nachzufolgen, bei uns ist es bekanntlich um¬
gekehrt.
In einer langen Einleitung beweist der Berfasser, daß eine Erhöhung
der Volksbildung notwendig und nützlich sei. Die Frage nach dem Werte und
den Wirkungen des Bücherwissens und Zeitungslesers ist so unzähligemal und
so gründlich erörtert worden, daß es keinen Gebildeten giebt, der die Für und
die Wider nicht am Schnürchen hätte, sodaß es überflüssig erscheint, Schultzes
Ausführungen zu rekapitulieren. Wir wollen nur ein paar Gründe für die
Errichtung von Volksbibliotheken anführen, die wir nicht erst aus Schultze
gelernt haben, und die auch der Anhänger der Stiehlschen Regulative gelten
lassen muß. Daß bei den untern Ständen vielfach ein starker Lesehunger
erwacht ist, steht fest. Nun wird dieser großenteils durch Kolportageromaue
der scheußlichsten und verderblichsten Art befriedigt und durch Tagesblätter,
die entweder bloß auf Sensation spekulieren oder Parteiblätter von irre¬
führender Einseitigkeit sind. Gelesen wird also allgemein und bei dem heutigen
Mangel an vernünftigen Veranstaltungen meist Schlechtes oder wenigstens
Wertloses. Da ist es denn doch besser, es wird dem Volke wenigstens die
Gelegenheit geboten, Gutes zu genießen. Dann: wie Schultze erzählt, hat
ein Beobachter in einer öffentlichen Bibliothek den Eindruck gewonnen, daß
viele der Lesenden Arbeitlose seien. Und es ist ja auch von vornherein an¬
zunehmen, daß die vielen Arbeitlosen, die es jederzeit in jeder Großstadt giebt,
infolge einer wirtschaftlichen Depression oder wegen eines Ausstands, einen
Teil ihrer Zeit in den Museen und Lesehallen zubringen, wenn auch nur zum
Zeitvertreib oder — im Winter — um sich zu erwärmen. Nun ist eine
Bibliothek jedenfalls ein vorteilhafterer Aufenthalt für junge Menschen als
eine Penne oder Klappe, und für einzelne mag eine unfreiwillige Feierzeit,
die sie großenteils auf ein Lesen verwenden, das durch Umfang und Dauer
zum Studium wird, die Grundlage für das spätere Lebensglück abgeben. Das
gilt natürlich nur für die Talentvollen und Strebsamen, aber solche giebt es
doch überall, und darunter so manches Genie. Bringt die Bibliothek an jedem
Ort in jeder Generation auch mir ein Talent zur Entfaltung, so hat sie schon
dadurch ihren Zweck erfüllt und der Gesamtheit genützt; die Natur verschwendet
ja Millionen Samen, um nur einem einzigen Individuum das Dasein zu
sichern. Schnitze erinnert um den großen Carnegie, der eine freie Bibliothek
für das beste Geschenk erklärt, das man einem Gemeinwesen machen könne,
und der aus seiner Jugendzeit, wo er Arbeitsbursche war, erzählt, ein Oberst
Anderson habe den armen Burschen des Orts seine kleine Bibliothek von vier¬
hundert Bänden geöffnet und ihnen jeden Sonnabend Bücher ausgegeben.
Mit unaussprechlicher Sehnsucht hätten sie jede Woche den Sonnabend herbei¬
gewünscht, und er fühle sich dem edeln Manne zeitlebens verpflichtet. Damals
habe er sich gelobt, wenn er jemals zu Reichtum gelange, öffentliche Biblio¬
theken zu stiften. Übrigens bleibt denen, die sich zu dem Geiste des preußischen
Staats bekennen, dem Geiste, der zwischen 1806 und 1813 das neue Preußen
geschaffen und damit das neue Reich vorbereitet hat, keine Wahl: dieser Geist
ist nun einmal dem von stiehts Regulativen entgegengesetzt. Schultze zitiert
ans Fichtes Reden an die deutsche Nation die berühmte Stelle, die mit den
Worten schließt: „Es bleibt uns sonach nichts übrig, als schlechthin an alles
ohne Ausnahme, was deutsch ist, die neue Bildung zu bringen, sodaß diese
nicht Bildung eines besondern Standes, sondern daß sie Bildung der Nation
schlechthin als solcher und ohne alle Ausnahme einzelner Glieder werde." Nun
weiß aber jedermann, daß die Volksschule noch nicht die Bildung mitteilt,
sondern nur den Zugang zu ihr öffnet, und daß sie selbst erst später durch
Lesen erworben wird. Daß höhere Geistesbildung die Lust und die Fähigkeit
zu körperlicher Arbeit raube, bestreitet Schultze mit Recht. Er meint ganz
richtig, die Scheu vor einem nützlichen Gebrauch der eignen Hände und Arme,
die manche Kreise beherrscht, komme nicht von der Bildung, sondern von der
Mode, und er Hütte noch anführen können, daß in dieser Beziehung ein Um¬
schwung eingetreten ist, seitdem sich die Söhne der höhern Stände in großer
Zahl den technischen Fächern widmen und nach bestandner Abiturientenprüfung
Schlössern oder in einer Grube arbeiten. In dieser Beziehung muß man es
als einen Segen betrachten, daß die ausschließliche Herrschaft des Humanismus
gebrochen ist; in den heute maßgebenden Kreisen entscheiden die mehr oder
weniger „soignierten" Hände nicht mehr über die Gesellschaftsfähigkeit. Aller¬
dings giebt es auch Gegenströmungen, die aber nicht aus der humanistischen,
auch nicht aus der höfisch-aristokratischen, sondern aus der plutokratischen Ecke
kommen. Wenn der Luxus immer verrücktere Formen annimmt, meint Schnitze,
dann kann es wohl kommen, daß sich auch im Volke der Wunsch regt, jede
körperliche Arbeit zu meiden, und daß ein bloß noch der Verdauungsthätigkeit
— und Schaulust, wollen Nur doch hinzufügen — gewidmetes Schlaraffen¬
leben als Ideal erstrebt wird. Eines allerdings, was Schultze unerwähnt läßt,
darf uicht übersehen werden: zu gewissen sehr widerwärtigen und schmutzigen
Arbeiten versteht sich der gebildete Mann nicht leicht, und Arbeitsbedingungen,
die des freien Mannes unwürdig sind, läßt er sich nicht gefallen; das ist der
Punkt, wo sich die Fichtische Staatsidee in einen Widerspruch mit der Wirk¬
lichkeit verwickelt, der bis heute noch nicht gelöst ist, auch nicht theoretisch,
wenn man nicht den Sozialismus als Lösung gelten lassen will.
Das klassische Land der öffentlichen Bibliotheken sind die Vereinigten
Staaten. Schon Franklin hat 1732 in Philadelphia eine Bibliothekgesellschaft
gegründet. Aber die Nichtmitglieder der Gesellschaft mußten eine kleine Leih¬
gebühr zahlen, und die großartige Wirksamkeit der neuen Volksbibliotheken
beruht gerade darauf, daß die Benutzung umsonst ist. Zur Zeit zählen die
freien öffentlichen Bibliotheken der Vereinigten Staaten über 31 Millionen
Bände, von denen 16^/z Millionen auf die nordöstlichen Staaten kommen, und
unter diesen wiederum steht Massachusetts mit 5^/z Millionen voran, ein
Ländchen, das ein klein wenig größer als Württemberg ist und nur ein paar
tausend Einwohner mehr hat als dieses. Es ist noch nicht sehr lange her,
daß das Bibliothekwesen einen so großartigen Aufschwung genommen hat. Im
Jahre 1847 machte der Bürgermeister von Boston den Vorschlag, eine freie
öffentliche Bibliothek auf Gemeindekosten zu gründen und die Genehmigung
des Staats dazu nachzusuchen. Dergleichen Ausgaben dürfen nämlich in Nord¬
amerika wie in England nicht aus den ordentlichen Kommunaleinnahmen be¬
stritten, sondern müssen durch eine besondre Steuer aufgebracht werden, zu der
die Genehmigung der Staatsregierung erforderlich ist. Die Genehmigung
wurde erteilt, und obwohl Schenkungen den Steuerzahlern zu Hilfe kamen,
wurde doch die Steuer fortwährend erhöht, sodaß Boston, eine Stadt von
500000 Einwohnern, heute über eine Million Mark jährlich für seine Volks¬
bibliothek ausgiebt. Die Hauptbibliothek besteht aus einer wissenschaftlichen
Abteilung mit einem Lcsesaal mit 275 Sitzplätzen, die nach einem ihrer Wohl¬
thäter Bates Hall genannt wird, und einer populären Abteilung, der Lower
Hall. Dazu kommen Lesesäle, in denen 300 Zeitungen und 630 Zeitschriften
aus allen Teilen der Welt aufliegen und 589 Zeitschriften, die man auf Ver¬
langen erhält. Mit der Vergrößerung der Bibliothek, die nach der letzten
Angabe 700000 Bünde enthielt (die Königliche Bibliothek in Berlin hatte
vor 10 Jahren 1100000 Bände), ist auch die Benutzungszeit stetig gewachsen;
im Jahre 1890 waren die Bates Hall 4000, die Lower Hall 4200 und die
Lesesüle 4400 Stunden geöffnet, also 10 bis 13 Stunden täglich. Etwa
170000 Bände stehn nicht in dem neuen monumentalen Hauptgebäude, sondern
in zehn über die Stadt verstreuten Zweigbibliotheken, neben denen noch eine
Anzahl von Ansgabestellen eingerichtet ist, sodaß die ganze Stadt mit einem
Netzwerk von Lesegelegenheiten überzogen ist. Den Dienst versehen 269 Be¬
amte, von denen 208 auf die Zentralbibliothek, 61 ans die Zweigbibliotheken
kommen. In der ersten sind an den Wochentagen den Tag über 151 be¬
schäftigt, während die übrigen 57 ihre Amtszeit des Abends und an den
Sonntagen haben. 17 von den 208 arbeiten in der Buchbinderei, die Zahl
der in den Nebenausgabestellen Beschäftigten ist nicht angegeben. Schultze
legt dar, daß erst diese große Zahl von Beamten die Bibliothek ertragreich
für die Volksbildung macht. Dreißig bis vierzig Personen seien allein dazu
nötig, eine so große Bibliothek in Ordnung zu halten. Nun gebe es ja aller¬
dings in Europa Bibliotheken von der Größe der Bostoncr, die alles in allem
nicht mehr Beamten hätten, aber das seien denn auch bloße Büchergräber,
keine Volksbildungsmittel. „Die paar tausend Bücher, die dann jährlich aus¬
gegeben werden, stellen doch nur eine sehr kümmerliche Abschlagszahlung vor
im Vergleich zu den großen Schätzen, die in der Bibliothek aufgehäuft sind
und dort auf ihre Benutzung harren. Ich denke hier namentlich an eine große
Bibliothek in einer der Hauptstädte des europäischen Kontinents, die noch vor
einem halben Jahrhundert uuter den großen Bibliotheken der Welt mit in der
ersten Reihe stand, die aber seitdem durch Knauserei heruntergekommen und
nur noch ein Stern zehnter oder zwölfter Größe ist, und bei der von Be¬
nutzung kaum noch gesprochen werden kann." Die Hauptaufgabe der amerika¬
nischen Bibliothekare ist aber, das Publikum zur fruchtbaren Benutzung des
Bücherschatzes anzuleiten und ihm dabei behilflich zu sein. Anschläge fordern
die Besucher auf, sich mit Fragen an den diesen Dienst versehenden Herrn zu
wenden, der jederzeit bereit steht und nichts andres zu thun hat. „Wenn der
Arbeiter in dem großen, über eine Million Zettel enthaltenden Zettelkatalog
ein Buch über einen bestimmten Zweig des Kunstgewerbes sucht, so zeigt er
ihm, wie man rasch ermitteln kann, ob es vorhanden ist oder nicht. Er ist
der jungen Dame behilflich, die uuter den 50000 frei zugänglichen Werken
der Nachschlagesüle eine deutsche Litteraturgeschichte sucht. Er erteilt im Patent¬
raum dem Techniker Rat, der sich in der Litteratur über elektrische Uhren um¬
sehen will. Er zeigt im Lesesaal der Jugendabteilung dein Knaben, wo er
ein Buch über den amerikanischen Bürgerkrieg findet, er geht dein jungen Ge¬
lehrten zur Hand, der einen Aufsatz über das Verhältnis Voltaires zu Friedrich
dem Großen schreiben will." Diesem freundlichen Entgegenkommen entspricht
denn auch die reichliche Benutzung. Obwohl Boston noch eine Menge andrer
Bibliotheken hat, hat die freie Volksbibliothek im Verwaltuugsjahre 1898
bis 1899 an 64973 Leser 1245842 Bücher verliehen. Und ähnlich ists im
ganzen Ländchein von seinen 349 Stadt- und Landgemeinden haben nicht
weniger als 342 eine freie öffentliche Bibliothek. Die sieben zurückgebliebnen
Gemeinden haben zusammen nicht ganz 11000 Seelen. In Massachusetts
dürfte also das Fichtische Ideal eines durchaus und gleichmäßig gebildeten
Volks so ziemlich erreicht sei». Das kleine Land hat mehr Bibliothek-
gebärde als das ganze Deutsche Reich, und die Geschenke und Vermächtnisse,
die seinen Volksbibliotheken bis jetzt zu teil geworden sind, belaufen sich auf
32 Millionen Mark, Die Buchhändler machen dort glänzende Geschäfte, denn
diese öffentlichen Bibliotheken kaufen jährlich für etwa 800000 Mark Bücher.
Auch Friedrich Ratzel hat in seinem Werk über die Vereinigten Staaten
dieser großartigen Erscheinung die gebührende Beachtung geschenkt und unter
anderm hervorgehoben, daß der herrschende Zug zum praktisch Nützlichen die
Schätzung des Schonen, die vorzugsweise durch Lektüre genährt werde, nicht
hindre, und daß die Amerikaner ihre Dichter nicht verhungern ließen. Nicht überall
steht es um das Bibliothekwesen so glänzend wie in Massachusetts, besonders
in Newyork nicht, am schlechtesten natürlich in den Südstaaten, aber das
Streben nach Verbreitung von Volksbildung ist überall lebendig, und die
Grundsätze, nach denen die Bibliotheken verwaltet werden, sind überall die¬
selben wie in dem Musterstaat.
In England hat es sogar schon vor dem Jahre 1500 ein paar öffent¬
liche Bibliotheken gegeben, aber bei dem bekannten Zustande des englischen
Volksschulwesens konnte bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von
allgemeiner Volksbildung keine Rede sein. Schultze erinnert daran, daß es u. a.
die Grubenarbeiter gewesen sind, die für, und die Grubenbesitzer, die gegen
den Schulzwang gekämpst haben, und daß sich der Londoner Gewerkverein der
Setzer 1868 eine Bibliothek von 6000 Bänden angeschafft hat, die so stark benutzt
wird, daß jährlich viele Bücher buchstäblich zerlesen werden. Als in Blackbnrn
eine freie öffentliche Bibliothek gegründet werden sollte, brachten Arbeiter durch
Sammlung unter sich einen Beitrag von 8000 Mark auf. Den Anstoß zu
der Bewegung für Volksbibliotheken gab William Ewart, der 1849 ein Gesetz
einbrachte, wonach der Bürgermeister jeder über 5000 Einwohner zählenden
Stadt die Steuerpflichtigen darüber abstimmen lassen müsse, ob sie eine
Bibliotheksteuer zahlen wollten; zu deren Einführung sollte eine Zweidrittel¬
mehrheit erforderlich sein. Die Bill wurde angenommen und drei Jahre später
auf Schottland und Irland ausgedehnt. Von da ab entwickelte sich das
Bibliothekwesen in ähnlich großartiger Weise wie in Nordamerika und nach
den dort geltenden Grundsätzen. Merkwürdig ist, daß die Bewegung in Schott¬
land auf eine hartnäckige Opposition stieß. In Edinburgh wehrten sich die
Gegner dreizehn Jahre lang mit Händen und Füßen dagegen, bis endlich
Carnegie telegraphisch ein Geschenk von 50000 Pfund anbot, das zurückzu¬
weisen die Bürgerschaft denn doch Anstand nahm. Carnegie hat im ganzen
24 Millionen Mark für freie öffentliche Bibliotheken gespendet, davon 2 Mil¬
lionen seinem Vaterlands Schottland. Vor kurzem hat er, wie die Zeitungen
melden, Newyork durch sein Angebot, der Stadt 5 Millionen Dollars zu dem
Bau von fünfundsechzig Bibliothckgebüuden zu schenken, in Verlegenheit gesetzt.
Er knüpft nämlich sein Anerbieten an die Bedingung, daß die Stadt die Bau¬
plätze hergebe, die Bücher liefere und sich verpflichte, die Bibliotheken zu er¬
halten. Man schätzt die der Stadt zugemutete Kapitalanlage auf 22 Millionen
Dollars und fragt sich, ob damit nicht ein Geschenk von 5 Millionen zu teuer
bezahlt wäre,
Schultze berichtet über den Stand des Volksbibliothekwesens in allen
Ländern der Erde, die wilden nicht ausgenommen. Das Ergebnis entspricht
dem, was man nach den bekannten Bildungsverhältnissen der Länder erwartet,
im allgemeinen; im besondern giebt es allerdings Ausnahmen, so z. B, steht
die Schweiz nicht so hoch, wie sie könnte und sollte, dagegen entsprechen die
Siebenbürgener Sachsen, „das gebildetste Volk der Erde," der Erwartung,
Sonst steht es in Österreich-Ungarn nicht zum besten aus, abgesehen von Wien,
wo . die Bibliotheken des Volksbildungsvereins im Jahre 1898 über eine
Million Bände ausgeliehen und damit Berlin weit überflügelt haben. Daß
Luegers Gemeinderat die Subvention gestrichen hat, die der Verein von der
Stadt in deren liberaler Ära erhalten hatte, wird der „christlich-sozialen" Ära
nicht unter die Ruhmestitel gerechnet werden. Einer Musterbiblivthek erfreut
sich das Städtchen Zwittau in Mähren, nicht dank dem Genie seiner Bürger¬
schaft, sondern dank einem nach Amerika ausgewanderten Zwittaner, Oswald
Ottendorfer. Dieser hat ein Bibliothekgebäude nach amerikanischem Muster
bauen und einrichten lassen und eine junge Dame zur Verwalterin bestellt, die
das Bibliothekwesen in Amerika studiert hat. Damen werden dort in der
Bibliothekverwaltung, für die sie sich vorzüglich eignen, vielfach verwandt.
In unserm Vaterlande hat Großenhain mit den öffentlichen Bibliotheken
den Anfang gemacht, wie denn überhaupt Sachsen auch in diesem Zweige des
Volksbildungswesens den ersten Rang unter den deutschen Staaten behauptet.
In Berlin hat Friedrich von Raumer den ersten Anstoß gegeben, nachdem er
ans einer Reise in Amerika zu seinein Erstaunen Arbeiter getroffen hatte, die
mit Pluwrch vertraut waren. Als den Hauptmangel des heutigen Berliner
Vvlksbibliothekenwesens bezeichnet Schultze das Fehlen einer Zentralbibliothek.
Die Reichshauptstadt hat siebenundzwanzig kleine Volksbibliotheken; jedes gute
Buch muß also in siebenundzwanzig Exemplaren angeschafft werden. Das
wäre, wenn eine Zentralbibliothek bestünde, nicht nötig, weil manche gute
Bücher nur von wenigen gelesen werden, und die Ersparnis könnte auf Ver¬
vollständigung der Bibliothek verwandt werden. Diese siebenundzwanzig
Bibliotheken enthalten zusammen nicht mehr als etwas über 104000 Bünde,
und aus dem oben gesagten kann man ungefähr berechnen, wieviel verschiedne
Werke das sein mögen. Dazu ist die Benutzung auf das äußerste erschwert.
„Unglaublich aber wahr," die meisten sind nur sechs Stunden die Woche ge¬
öffnet: Mittwoch und Sonnabend von zwölf bis zwei und Sonntags von elf
bis eins; das macht 312 Stunden im Jahre, gegen 4000 bis 4600 in Boston.
Mit Lesehallen sind nur zwei dieser Bibliotheken verbunden; die eine der
„Hallen" ist ein kleines elendes Zimmer in einem Hinterhause, während fast
alle amerikanischen und englischen Volksbibliotheken stattliche Gebäude haben,
die nur diesem Zweck dienen, für ihn entworfen und eingerichtet sind. Die
Benutzung hat sich im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts von 334837
auf 628198 Bände erhoben. Zu einer gründlichen Reform fehlt es am besten:
am Gelde. Vor sechs Jahren hat die Gesellschaft für ethische Kultur im Hause
der Volkskaffee- und Speisehalleugesellschaft auch eine Lesehalle errichtet, die
vom Magistrat mit 3000 Mark jährlich subventioniert wird und im Jahre
1899 von beinahe 90000 Personen benutzt worden ist. Der Magistrat hat
denn zwei weitere solche Hallen errichtet, denen im Laufe der nächsten Jahre
uoch acht folgen sollen. Nach einer Reihe von Jahren werden für Volks¬
bibliotheken die Zinsen eines Vermächtnisses des Professors F. A. Leo zur
Verfügung stehn.
Über das deutsche Vaterland im allgemeinen nach Schultze zu berichten,
wäre überflüssig, da sich ja jeder Leser nur an seinem Wohnort umzusehen
braucht, um sich zu überzeugen, daß nichts oder so gut wie nichts da ist; jeden¬
falls nichts, was den amerikanischen Mustern entspräche. Nur ein nicht sehr
erfreuliches Kuriosum wollen wir hervorheben. In den sechziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts hatte die Pariser IiiZ'nez as I'snsöig'römhild (sollte es
nicht heißen as l'öusöig'nsmout vorMglrö?) das Elsaß mit einem Netz von
— natürlich französischen — Volksbibliotheken überzogen; diese sind nach 1870
eingegangen und nicht durch deutsche ersetzt worden, sodaß das Reichsland
heute ärmer an solchen Vvlksbildungsmitteln ist als irgend ein andres deutsches
Land. Fabrikbibliotheken sind in Deutschland nicht ganz selten, und manche
Großindustriellen haben in dieser Beziehung viel gethan. Die von Krupp in
Essen ist nach Schultzes Urteil die beste freie öffentliche Bibliothek, die wir
in ganz Deutschland haben. Sie enthält über 16000 Bände und wird von
einem Fachmann, Herrn Dr. Ladewig, verwaltet, dem zwanzig Helfer zur Seite
stehn. Die Stadtbibliotheken rechnet Schultze nicht zu den Volksbildungs¬
anstalten; sie seien weit davou entfernt, freie öffentliche Bibliotheken zu sein.
Ihren ursprünglichen Zweck habe man vollständig aus deu Augen verloren.
Anstatt die Schätze der Litteratur jedermann zugänglich zu machen und dem¬
entsprechend Bücherbestand und Benutzungsbedingungen immer mit den Bedürf¬
nissen der Zeit in Einklang zu erhalten, habe man sich darauf beschränkt, zu
dem vorgefuudueu Bücherbestand, der hauptsächlich Theologie, Geschichte und
Philologie enthielt, Bücher aus denselben Fächern hinzuzukaufen und die
Bibliothek einigen Gelehrten zu öffnen. Als dann der Staat die Ausgaben
für seine Bibliotheken erhöhte, hätten auch die Stadtverwaltungen mehr auf
ihre Bibliotheken verwandt und versucht, mit den Universitüts- und Landes-
bibliotheken zu konkurrieren. Damit hüllen sie Fiasko gemacht, sowohl im
Bücherreichtum wie in der Einheitlichkeit des Anschaffungsplans, und in der
Benutzungszeit blieben die städtischem weit hinter den Staatsbibliotheken zurück.
So kosteten sie den Städten Unsummen, die weit zweckmäßiger für wirkliche
freie öffentliche Bibliotheken verwandt werden könnten. Zwei Städte seien
von dieser Kritik aufzunehmen, weil sie weder eine Universitüts- noch eine
Landesbibliothek hätten und doch, als große Städte, eine große gelehrte
Bibliothek brauchten: Hamburg und Frankfurt a. M-, womit nicht gesagt sein
solle, daß ihre Einrichtungen über jeden Tadel erhaben wären, aber welchen
Zweck z. B. die Stadtbibliothek von Breslau hätte, das vermöge er nicht zu
ergründen.
Dem letzten Abschnitt seines Buches, der von der Einrichtung und Ver¬
waltung der Bibliotheken handelt, stellt der Verfasser drei schone Model voran:
?lis dost rvsMnA, lor tbs lar^ost, numi>or, g,t Uio lsg.8t oost sWahlsprnch der
American Library Association). Der Bibliothekar ist die Hauptsache bei einer
Bibliothek, mit ihm steht und fällt sie. (Nörrenberg, eine Autorität in der
Bibliothetlvisscnschaft.) Das Gängelband gehört nicht in deinen Umgang mit
Männern, und wenn du ihnen gegenüber ein Riese an Kenntnissen wärest
(F. A, Lange). Das Technische werden ja wohl alle, die sich von' Amts
wegen oder freiwillig mit Bibliotheken befassen, in Schultzes Buche studieren.
Hier wollen wir uur ein paar seiner Bemerkungen zusammenstellen, die die
drei Wahlspruche zu beleuchten bestimmt sind. Der erste bedarf keiner Recht¬
fertigung, sondern nnr einer Anweisung, wie er ausgeführt werden soll. Um
jeder Bibliothek zum beste» Lesestoff zu verhelfen, wäre ein Musterkatalog er¬
forderlich. Einen solchen giebt eS leider in Deutschland noch nicht und wird
es wohl auch so bald nicht geben, weil Nur Deutschen nicht allein reicher an
Schriftwerken, sondern auch reicher an anseinnnderstrebenden geistigen Rich¬
tungen sind als irgend ein andres Volk. Dazu sind denn doch auch die Ver¬
hältnisse, auf die man bei der Zusammenstellung der Bibliothek Rücksicht zu
nehmen hat, sehr verschieden in Stadt und Land, in großen und kleinen
Städten, in Agrar- und Industriebezirken. Für ländliche Bibliotheken hat
Wilhelm Bube einen Katalog von neunhundert Nummern angefertigt, den
Schultze als brauchbar bezeichnet. Nur tadelt dieser, daß Bube einige gegen
die Sozialdemokratie gerichtete Schriften politischen Charakters aufgenommen
habe; Volksbildungsanstalten müßten jeden Versuch politischer Beeinflussung
grundsätzlich ausschließen. Ausschließen solle mau auch Schriften, die eine auf¬
dringliche religiöse Tendenz verraten, uicht aber Belletristik und Jugendschriften.
Gute Belletristik sei sehr nützlich, zunächst ein Labsal für den in der Berufs¬
arbeit Abgerackerten, das dem Volke zu mißgönnen geradezu grausam sein
würde, dann doch auch voll Belehrung und heilsamer Auregung, und endlich
für den gemeinen Manu die Vorstufe zu wirklichen Studien. Der geistig wenig
Geschulte und im Lesen Ungeübte müsse sich erst an unterhaltenden Büchern
Heranslesen, ehe er Fachwissenschaft verdauen könne. Und wenn die schreckliche
Nataly von Eschstruth die gelesenste Novcllistin sei, so sei eben der Bibliothekar
daran schuld.
Genauer gesagt, daß es in Deutschland geschulte Bibliothekare, die die
Leser beraten könnten und wollten und Zeit dazu Hütten, gar noch nicht giebt.
Eine andre Autorität im Bibliothekfach, R. Januasch, schreibt: „Es genügt
nicht, einen Bibliothekar anzustellen, der an einigen Wochenabenden mechanisch
Bücher ausgiebt, sondern es müssen sehr vielseitig gebildete und erfahrne
Männer angestellt werden. Der Bibliothekar hat die individuellen Wünsche
und Neigungen der Leser zu prüfen, ihnen entweder entgegenzukommen oder
sie auf andre Gebiete hinüberzuleiten; er hat zur Anschaffung die Bücher vorzu¬
schlagen, die für die sozialen Verhältnisse des Orts am besten passen; er be¬
darf also einer gründlichen Kenntnis der Litteratur und des praktischen Lebens.
Nur unter der Leitung solcher Männer werden die Bibliotheken geistige Rüst¬
kammern für das Volk." Auf dem Dorfe, führt Schultze fort, sei freilich der
Lehrer der geborne Bibliothekar. In größern Städten aber müsse man aka¬
demisch gebildete und womöglich für das Bibliothekfach vorgebildete Männer
anstellen. Dieses Fach sei heute schon eine umfangreiche Wissenschaft, die man
sich nicht nebenbei aneignen könne. In Amerika, wo die Berufstände nicht
scharf geschieden sind wie bei uns, wo man heute Seifensieder, morgen Pre¬
diger und übermorgen Arzt sein kann, und von Berechtigungen wenig weiß,
werde gerade für die Bibliothekverwaltung eine besondre Vorbildung verlangt,
und in die leitenden Stellungen würden nur Fachleute berufen.
Sehr lebhaft polemisiert Schultze gegen alle Bevormundungsversuche. Das
widerspricht eigentlich seiner Zeichnung des idealen Bibliothekars, der ja die
unerfahrnen und namentlich die jungen Leser zum besten hinleiten soll. Aber
er meint eben nur eine bestimmte Bevormundung: die zu dem Zweck, kirchliche
und politisch konservative Gesinnung zu züchten. Allerdings verwirft er auch
die entgegengesetzte Tendenz, und er führt zwei Fälle an zum Beweise dafür,
daß jede politische Tendenz nicht mir ihr eigentliches Ziel verfehle, sondern
bei dem heutigen mißtrauischen Unabhängigkeitssinn der Arbeiter das ganze
Unternehmen gefährde. Als der dänische Adel versucht habe, zwei der treff¬
lichen Volkshochschulen, die die ländliche Bevölkerung des kleinen Staats auf
eine Bildungsstufe gehoben haben, die der der siebenbürgischen Sachsen nahe
kommt, in den Dienst seiner Partei zu ziehn, da seien sie sofort verödet. Ganz
ebenso sei es aber auch der sozialdemokrntischen Arbeiterbildungsschule in Berlin
ergangen; anfangs habe sie starken Zulauf gehabt; aber als die Arbeiter
merkten, daß ihnen hier nicht objektive Wissenschaft, sondern für den Partei¬
zweck präpariertes Wissen dargeboten werde, seien sie weggeblieben. Sollte
das wirklich der Grund gewesen sein? Das wäre ja sehr erfreulich; es könnte
aber auch sein, daß die Berliner Arbeiter überhaupt keine Lust hätten, sich
nach des Tages Last und Hitze uoch mit Wissenschaft zu plagen, sondern die
Kneipe und den Tingeltangel vorzögen. Schnitze will also, daß man bei der
Auswahl von Büchern und Zeitungen ganz allein den litterarischen Wert ent¬
scheiden lasse, wobei allerdings zwei verschiedne Maßstäbe anzutuenden seien,
da der litterarische Wert der Zeitungen im allgemeinen sehr gering sei. Fehlen,
meint er, dürfen sie nicht, weil sie zuerst den Appetit zum Lesen wecken, aber
Parteirücksichten dürfen bei ihrer Auswahl nicht entscheiden. Im Gegenteil
wirken gut ausgestattete Lesehallen gerade dadurch heilsam, daß sie Blätter
aller Richtungen darbieten. „Wohin sollen wir kommen, wenn keine Partei
mehr die Gründe der andern hören null? Und wer hat Lust und Geld, mehr
als eine Zeitung zu halten? Wo anders als in einer öffentlichen Lesehalle
findet der gemeine Mann Zeitungen aller Richtungen beisammen?" Die Vor¬
nehmern finden sie schon im teuern Cafe oder in ihrem Klub, wo sie aller¬
dings nicht besonders viel zur Verständigung beitragen, weil auch da gewöhn¬
lich jeder nur sein Leibblatt liest; doch werfen die meisten wenigstens hier und
da einmal einen Blick in andre Blatter. Gerade die sozialdemokratischen Zei¬
tungen, heißt es weiter, sollte man nicht ausschließen. Denn in eine Lesehalle,
wo sie fehlen, gehe der sozinldcmokratische Arbeiter nun einmal uicht, und so
genieße er denn erst recht nichts andres als seine Parteitost und verbohre sich
immer tiefer in seine einseitigen Anschauungen. I. Teos, der Generalsekretär
der Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung, hat in dem Artikel „Volks¬
bibliotheken" in Reinh Encyklopädischem Handbuch der Pädagogik geschrieben
„Leider liegt die Sache so, daß die Sozialdemokratie viele Arbeiter überhaupt
erst zum Zeitunglesen bringt. Deren orthodoxer sozialistischer Glaube ist nun
um so fester, je mehr sie von jeder andern Lektüre abgesperrt sind. Für sie
ist die unparteiische Lesehalle ein wahres Sanatorium. Nicht daß diese sie der
Sozialdemokratin abspenstig machte, das soll sie auch gnr nicht, aber sie kühlt
ihren Fanatismus ab, erschließt ihnen das Verständnis für andre Richtungen
und trägt so dazu bei, deu politischen und sozialen Kampf seines giftigen
Charakters ein wenig zu entkleiden."
In einer Übersicht der verwandten Bestrebungen von Behörden, Kirchen¬
gemeinschaften und Vereinen, worin auch die Bibliotheken der Schiffe, Kranken-
häuser und Gefängnisse erwähnt werden, kommt Schultze zu dem Ergebnisse,
daß die Schul-, Fortbildungsschul-, Vereins- und Fabrikbibliotheken, sowie die
Lesevereine und Lesezirkel kostspieliger seien als freie öffentliche Bibliotheken
und dennoch in ihrer Gesamtheit diese nicht ersetzen könnten. Den Schluß
bildet eine Statistik der deutschen Volksbibliotheken. Sie sind leider nicht
numeriert; nach oberflächlicher Schätzung zählen wir zweihundert. — Hoffentlich
wird das Buch wenigstens von allen Stadtbehörden beachtet, und sein Inhalt"
wird von ihnen beherzigt; es könnte wohl sein, daß die amerikanischen Volks¬
bibliotheken die wirtschaftliche Überlegenheit der Vereinigten Staaten über alle
europäischen Staaten noch ganz bedeutend steigerten.
in Laufe des Aprils hat der Reichstag über die Neugestaltung
des musikalischen Urheberrechts beraten und beschlossen. Die Be¬
ratungen und Verhandlungen siud mit ungewöhnlichem Eifer,
mit der ganzen der hohen Versammlung für den Fall möglichen
Gründlichkeit geführt »morden, die Beschlüsse haben jedoch die
musikalischen Kreise arg enttäuscht. Die Ursachen dieses Ergebnisses festzu>
stellen, über die Sachlage für die früher oder später unvermeidliche Wieder-
aufnahme des Gegenstandes aufzuklären, ist der Zweck der nachfolgenden Be¬
merkungen.
Die Regierungsvorlage ging von der Ansicht aus, daß die Lage der
Komponisten verbessert werden müsse, und schlug für dieses Ziel als Haupt¬
mittel vor: 1. Berläugernug der Schutzfrist für Kompositionen vom dreißigsten
auf das fünfzigste Jahr nach dem Tode des Komponisten. 2. Allgemeine Ver¬
pflichtung, dem Komponisten und seinen Rechtsnachfolgern das Aufführungs¬
recht zu vergüten. Der Reichstag war im großen und ganzen mit der Regierung
gewillt, für die Komponisten etwas zu thun, fürchtete aber, daß die vvrge-
schlagnen Maßregeln Interessen der Allgemeinheit oder wichtiger Stände und
Erwerbszweige schädigen würden, daß sie zum Teil anch schwer oder gar nicht
durchzuführen wären, und gelaugte zu dem Schluß: die Verlängerung der
Schutzfrist glatt abzulehnen, die Verpflichtung aber zur Vergütung des Auf¬
führungsrechts durch eine Reihe von Ausnahmen zu durchlöchern.
Für die Ablehnung der Schutzfrist scheint ein Gespenst mitgewirkt zu haben,
die durch irgend welche Seitenthür in den Reichstag gebrachte Besorgnis, daß
die Maßregel im einseitigen Interesse von Bayreuth getroffen werden solle.
Will man den „Parsifal" frei haben und die Phantasie des deutschen Volks
um die abenteuerliche Gestalt der „Kuudry" bereichern? Ärgert man sich, daß
die Ertrügnisse des „Bühnenweihefestspiels" nur den Wagnerschen Erben zu
gute kommen? Wir wissen es nicht. Die Regierungsvertreter haben jenen
Argwohn bekämpft, aber die sachlichen Gründe, die dafür sprechen, musikalische
Kompositionen länger zu schützen als andre Geistesprodukte, sind nicht erschöpft
worden, die vorgebrachten haben nicht durchgeschlagen. Mau hat gefragt:
Warum sollen Musiker fünfzig Jahre haben, wenn Ingenieure sich mit fünf¬
zehn begnügen müssen? Die Antwort hätte lauten dürfen: Weil die Ingenieur-
Welt viel vernünftiger ist. Mit ihren Erfindungen wird der Verstand ver-
hältnismüßig schnell fertig, die Neuerer und Eigenherren in der Komposition
haben dem Gefühl, dem Geschmack, der Mode ihrer Zeit gegenüber einen viel
schwerern Stand. Die Anerkennung bleibt deshalb oft sehr lange, sie bleibt
zuweilen auch ganz aus. Um diese Thatsache zu belegen, sind im Reichs¬
tag die Namen Handels, Bachs, LöweS und Lortzings angeführt worden, die
ersten beiden ganz mißverständlich, die letzten mit zweifelhaftem Recht. Denn
Löwe wie Lortzing sind zu Lebzeiten genügend gefeiert worden, nnr sind sie
durch die Anerkennung nicht reich geworden; das ging aber vor 1870 allen
Komponisten so. Wohl aber hätte man Franz Schubert nud Robert Schumann
nennen sollen, Schubert, dessen U-moll-Sinfonie 1862, ziemlich vierzig Jahre
nach der Entstehung, zum erstenmal aufgeführt wurde, Schumann, dessen Novel-
letten vom Verleger vernichtet wurden, weil sie wie Blei dalagen. Die Fälle
Schubert und Schumann weisen zugleich auf einen andern Umstand hin, der
für die Verlängerung der Schutzfrist sehr ins Gewicht fallen müßte: den frühen
Tod vieler der begabtesten Komponisten. Wissenschaftlich ist diese Thatsache
allerdings nicht aufgeklärt, geschichtlich steht sie durch alle Jahrhunderte fest,
kein Dilettant, dem sie nicht bekannt wäre! Was diesen Gründen gegenüber
die Volksbildung für höhere Rechte haben soll, ist schwer einzusehen. Ist sie
ohne den Parsifal oder ohne Meyer-Helmund wirklich notleidend in einer Zeit,
wo ihr eine unendliche Reihe Meister von Dufay bis Chopin zur Verfügung
steht? Wenn dennoch jn, wäre es da nicht das Nächstliegende, daß die reichen
Volksfreunde den Parsifalbedürftigen der ärmern Klassen Bayreuther Extra-
aufführungen besorgten?
Durch alle die Humanitätsgründe, mit denen die Fordruugen der Regie¬
rungsvorlage bestritten worden sind, zieht sich der Gedanke: die Musik ist frei
wie die Luft, und wenn für eine gute Sache Opfer gebracht werden sollen,
da sind die Musiker die nächsten dazu. Diese Anschauung, eine Folge der
Organisationslosigkeit, des Konkurrenzelends im Mnsikerstnnd, vielleicht anch
eine Folge der Sorglosigkeit und Gutmütigkeit dieses Künstlervölkchens, hat
sich in Deutschland so festgelebt, daß es widernatürlich gewesen wäre, wenn
sie der Behandlung des Urheberrechts ganz fern gestanden Hütte. Die ganze
Beratung über die Verpflichtung, das Aufführungsrecht zu vergüten, war auf
diesen Grundton gestimmt. Man hat der Neuerung grundsätzlich zugestimmt,
aber folgende Ausnahmen zugelassen: Frei sind Aufführungen, die 1. von
Verwaltungen im Militär-, Marine-, Kirchen-, Schul- und Gemeindebereich
veranstaltet werden, 2. Aufführungen bei Volksfesten, 3. Musikfeste, 4. Wohl¬
thätigkeitskonzerte, 5. Vereinskonzerte, die eine weitere Öffentlichkeit aus¬
schließen. Es mag gleich hier noch ein sechster Ausnahmefall angeschlossen
werden, obwohl er im Gesetz auf einen formell fremden Boden gestellt ist.
Frei sind noch die Aufführungen solcher mechanischer Musikwerke, die nuslös-
bare Platten und Scheiben verwenden. Das ist der Tod der armen alten
Leierkasten, die ja schon längst im Aussterben sind. Ihren vornehmen, neuen
Vettern wird das Leben erleichtert, deren Fabrikanten ist der Kompositionsraub
erlaubt. Warum? Die deutsche Industrie muß gegen die ausländische Kon¬
kurrenz geschützt werden. Die deutsche Musikwerkiudnstrie hat Geld für Holz
und Metall, sie hat aber — ungereimt genug — keins für die Komposition,
ohne die sie doch im Grnnde ganz unmöglich wäre. Sie würde wahrscheinlich
immer noch konkurrenzfähig bleiben, wenn sie auch die Stücke, die gespielt
werden, ihren Verfassern bezahlte. Aber lassen wir einmal den Einwand der
deutschen Fabrikanten, daß sie nicht ungünstiger gestellt sein wollen als die
Schweizer und die Franzosen, gelten. Doch koimneu wir zu einem andern
Schluß: Unsre Reichsregiernng muß dafür sorgen, daß die gegen die Musiker
unbillige Bestimmung der Berner Konvention beseitigt wird. Hier sind also
beim Schützen die armen Fabrikanten den reichen Musikern vorgezogen worden.
Wie stehts nun mit den übrigen Ausnahmefnllen?
Dn wollen wir die Wohlthätigkeitskonzerte zunächst für sich herausnehmen,
weil im Reichstag niemand ein Wort für ihr wahres Wesen gefunden hat.
Es läßt sich viel Erbauliches darüber sagen, von dem schönen Vorrecht schwärmen,
das den Musikern erlaubt, mit ihrem Beruf Elend zu mildern, Wunden zu
heilen. Die Sache hat aber auch ihre andre Seite. Mit den Wohlthätigkeits¬
konzerten wird Unfug getrieben, einmal von geizigen Menschenfreunden, zweitens
von musikalischen Strebern. Jeder Virtuos und jeder Dirigent weiß von den
gemeinnützigen und edeln Seelen zu erzählen, die sofort mobil macheu, wenn
ein Dorf abgebrannt, wenn der Nährvater einer kinderreichen Familie verun¬
glückt ist. Ju den eignen Säckel zu greisen, bei Bekannten zu sammeln, fällt
ihnen nicht ein, der Bettel wird in die Form eines Konzerts gekleidet. In
der Regel ist dessen Ausgang: Naummiete, Beleuchtung, Heizung, Drnckkosten
verschlingen die Hnupteinnahme, der hochgesinnte Unternehmer wird in allen
Zeitungen gelobt, unter Umständen mit einem Orden dekoriert, für den armen
Musikdirektor, der wochenlang Extraarbeit gehabt hat, fällt ein Dankschreiben ab.
Warum wehrt er sich nicht gegen eine solche Blutsteuer? In kleinern Orten
würde ihn eine Weigerung gesellschaftlich und damit geschäftlich unmöglich machen,
in größern würde er damit nur einen Konkurrenten fördern. Denn es giebt
Elemente, die sich durch solche Wohlthätigkeitskonzerte in eine musikalische
Position bringen, denen sie die erwünschte Gelegenheit geben, zu klettern oder
doch den Ehrgeiz zu befriedigen. Die sinds auch, die sich über den Reichs¬
tagsbeschluß am meisten freuen werden, sie kommen durch ihn in die Lage,
interessante neue Werke unter billigern Bedingungen aufführen zu können. Die
Zahl der Wohlthätigkeitskouzerte wird beträchtlich wachse».
Alle die andern Ansnahmcfülle stützen sich auf dasselbe Schlagwort:
Volksbildung, Musikpflege. Der Abgeordnete Traeger hat dieses Argument
treffend beleuchtet: „Die wichtigsten Träger der Musikpflege — sagte er —
sind die Komponisten." Leider hat dieser Satz auf das hohe Haus keinen
Eindruck gemacht. Mangel an Wohlwollen für die Komponisten hat das
nicht verschuldet, aber Mangel an Einsicht in die Lage des Komponisten¬
gewerbes, in die Bedingungen seines Gedeihens, in die Verhältnisse des
deutsche Musikwesens, lvie sie U'irklich sind. Es sind über diese Dinge im
hohe» Hause Ansichten aufgestellt morden und unwidersprochen geblieben, die
bedauerlich dafür spreche», daß sich die gebildeten Stände, die Juristen ins¬
besondre, um die deutsche Musik, obwohl mit ihr gelegentlich Staat gemacht
wird, spottwenig kümmern. Am deutlichsten haben das die Debatten über die
Kapitel Lied und Musikvereine bewiesen. Der Abgeordnete Dr. Rintelen, ein
Hauptrufer im Streit, beantragte, daß „Lieder ohne Orchesterbegleitung" frei
sein sollten. Diese Begriffsformulieruug setzt eine Gruppe „Lieder mit Orchester-
begleituug" voraus, von der die Musiker bis dahin gar nichts gewußt haben.
Sie hat niemals existiert, nur als ganz verschwindende Ausnahme, als Be¬
arbeitungen sind vom Orchester begleitete Lieder in neuer Zeit aufgetaucht.
Noch verwunderlicher war die Begründung des Freigebens von Liedern. „Der
Komponist — sagte Dr. Rintelen — wirft die kleinen Lieder in einem Augen¬
blick der Begeisterung aufs Papier." Ja, das hat allerdings Franz Schubert
zuweilen gethan, aber auch er nnr zuweilen. Das hohe Haus hat sich mit
großem Interesse die neuste Art aus der Familie Leierkasten, das Pianolo,
vorführen lassen und sich dabei musikalischer Belehrung allzu zugänglich er¬
wiesen. Hätte sich doch jemand die Mühe genommen, Herrn Dr. Rintelen in
die Natur der Liedkomposition einzuführen, einige Schubertsche Autvgraphc
oder noch einfacher die vier gedruckten Bearbeitungen vorgelegt, in denen
L. our Beethoven mit der Aufgabe gerungen hat, für Goethes „Nur wer die
Sehnsucht keimt" eine das Gedicht richtig deckende Liedmelvdie zu finden!
Gewiß hätte sich das Haus davon überzeugt, daß die Komposition eines guten
Lieds eine ernste Sache ist, die außer der angebornen spezifischen Begabung
viel Kunst und Arbeit verlangt. Aber auch wem, es die Regel wäre, daß
man ein Lied wie einen Witz hinwirft, bliebe bis zur Schuldigkeit der Gattung
immer noch ein weiter Schritt. Denn es giebt Spezialistin des Lieds, Kom¬
ponisten, die vom Genius gedrungen nichts andres als Lieder schreiben. Einer
der Besten aus neuerer Zeit, Robert Franz, ist bei der Gelegenheit genannt
und als erblindet bedauert worden. Das Augenlicht blieb ihm bis zum Tod,
aber er war taub, wie Beethoven, Methfessel und viele andre Musiker. Daß
wir solche Spezialistin, für die kleinen Formen, für Lied und Tanz, haben, ist
ein Segen und eine Notwendigkeit auch für die sogenannte große Kunst. Denn
sie nimmt die Grundgedanken von dorther, und wer die Lanner, die Strauß
und Abt preisgiebt, verdirbt auch den Wagner- und Brahmsnatureu die
Lebensluft,
Ähnliche Unbekanntschaft mit dem wirklichen Sachverhalt trat auch in den
Erörterungen über das musikalische Vereinswesen in Deutschland zu Tage.
Die Absicht, es zu fördern, ist löblich, aber man soll die Vereine nicht ver¬
ziehen. Engen Richter hat betont, daß wir mit unsern Musikvereineu dem
Ausland voraus sind. Noch und quantitativ voraus sind, hätte er sage» solle».
Sein Vergleich der deutschen mit den französischen Zahlen war unvollständig.
Wenn Frankreich, Belgien, England heute viel weniger musikalische Dilettanten-
vereine habe» als wir, so kommt das daher, daß sie das Institut erst seit
wenig Jahrzehnten eingeführt haben, Gehn sie damit in demselben Schritt
weiter wie bisher, so ist die fM, wo sie uns auch numerisch einholen müssen,
nicht mehr fern. In ihren musikalischen Leistungen stehn sie uns trotz un¬
günstigerer Vorbedingungen schou lange nicht mehr nach, sondern wenn die
Deutschen mit ihnen ans gleicher Linie bleiben wollen, werden sie das gesellschaft¬
liche Element und die Gemütlichkeit ihrer Zusammenkünfte und Ilbnngen stark
beschränken müssen. Diese Bereitnnlligkeit scheint dermalen noch nicht zu bestehn.
Der Abgeordnete Veckh, der im Vorstand des Dentschen Sängerbundes sitzt,
gab die vielsagende Erklärung ab, daß die Sängerfeste für den Fall einer Be¬
steuerung der Musikfeste als Volksfeste aufgefaßt werde» müßten, Gut! Dann
soll man aber auch weniger von Idealen und von Bedeutung für die Kunst
trompeten und nicht davon sprechen, daß die Sängcrbundesstistung „bereits"
den Betrag von 200000 Mark erreicht hat, und daß Nur kein Komponisten¬
elend mehr haben. Hat nicht noch für Robert Franz und für Theodor Kirchner
ein „Ehrensold" gesammelt werden müssen? Wie groß ist denn das Opfer,
das den kleinen Vereinen mit der Aufführnngsstener auferlegt werden soll? Die
vom Allgemeinen deutschen Musikverein gegründete und wieder eingegangne An¬
stalt für Aufführungsrecht erhob von jedem neuen Stück ungefähr eine Mark,
Das würde für einen Jahresverlmuich von zwölf kleinen Novitäten zwölf Mark
ergeben. Der inzwischen ins Leben getretne Verein der Komponisten wills
viel billiger machen, für eine Jahresablösung von fünf Mark, An diesen
fünf Mark, versichert der Abgeordnete Haußmann, geht in Süddeutschland das
ganze musikalische Vereinsleben zu Grunde! Dann laßts zu Grunde gehn!
Für die Musik wäre es besser. Wie die Theater samt und sonders, die Kirchen
zum Teil für ihre Musik von jeher auf die Hilfe von Dilettanten verzichtet
haben, so wird auch das Kouzert über kurz oder lang wieder Chöre von Be-
rufssängern verwenden müssen. Die Notwendigkeit wird kommen, sobald die
heute schou wankende Vorherrschaft der Instrumentalmusik überwunden ist. Es
liegt uns fern, deu wenigen guten Dilettautenchörcn zu nahe zu treten, aber
die Mehrzahl der deutschen Singvereine und Liedertafeln verdient dieses Prädikat
nicht, sie kommen für die .Kunst nur indirekt, anhangsweise in Betracht, und
ihr unordentlicher Musikbetrieb kostet uns Jahr um Jahr eine Anzahl guter
Dirigenten, die in dem Vereins-Marstall schneller und elender verbraucht
werden als die ärmsten Droschkenklepper,
Bei den größern Mnsikvereinen hat Dr, Örtel sehr richtig darauf auf¬
merksam gemacht, daß sie allein durch das Institut der passiven Mitglieder sehr
wohl in den Stand gesetzt seien, zu Gunsten der Komponisten eine kleine
Mehrausgabe auf sich zu nehmen.
In irgend einer Form läßt sich die Vergütung des Aufführungsrechts
überall durchführen, ohne daß Volksbildung und Musikpflege geschädigt werden,
und keine der vom Reichstag durchgesetzten Ausnahmen ist sachlich notwendig
oder auch mir genügend gerechtfertigt. Ob die Einziehung der Steuer Um-
stände macht oder nicht, ob sie von dem Berein der deutschen Komponisten,
ob von erst zu bildenden oder anzuschließenden Agenturen, oder von sonst wem
besorgt wird, darüber hätte der Reichstag leichter hinweggehn können, „Wir
zerbrechen uns die Köpfe der Komponisten," mahnte Müller aus Meiningen.
Daß die Sache geht, ist in Frankreich und Österreich bewiesen, und wenn ein
Tanzkomponist wie Ziehrer auf Grund der Einrichtung im Laufe der Jahre
40000 Franken einnimmt, so ist sie wichtig.
Die übertriebne Bedenklichkeit, die nun einmal zum Deutschen gehört, hat
mit dazu beigetragen, daß die guten Absichten der Regierung ganz oder teilweise
vereitelt worden sind. Zu grauen braucht sich deshalb niemand. Die Vor¬
lage war gut gemeint, aber sie war nicht gut. Wäre die Schutzfrist verlängert
worden, das Aufführungsrecht genau nach den Anträgen bewilligt worden, so
hätten doch die Komponisten nichts davon oder nur in seltnen Fällen etwas ge¬
habt. Die Vorlage traf den Kern des Übels nicht. Wo dieser sitzt, ist von
einzelnen Rednern berührt, aber es ist von niemand versucht worden, die ganze
Heillosigleit des heutigen musikalischen Verlagsrechts aufzudecken. Es war
ein Fehler, das musikalische Urheberrecht mit dem schriftstellerischen zu ver¬
quicken, es war ein zweiter Fehler, die Komponisten vor Benachteiligung bei
Aufführungen schützen zu wollen und an die viel ärgere, die sie durch die
Praxis in: Musikverlag erfahren, nicht zu rühren.
Es ist zwar ein sehr starkes Vertragsansinnen eines Leipziger Musik¬
verlegers während der Verhandlungen verlesen worden, aber daß der Reichs¬
tag von den im Mnsilvcrlag herrschenden, von, Buchhandel grell abstechenden
Zuständen keine Vorstellung hatte, zeigte sich, als einer der Redner eine ge¬
schichtliche Erklärung der Verbessernngswnnsche der Komponisten anschnitt. Die
kommen daher, meinte er, daß heute die Komponisten viel mehr lernen müssen,
besonders, wurde hinzugesetzt, im „Generalbaß." Da war er sehr schlecht be¬
raten, was das Lernen wie das Verdienen betrifft. Richtig war nur die Be¬
merkung, daß die meisten Komponisten heute nur im Nebenamt Komponisten
sind. Aber ist das mit den Wissenschaftlern als Schriftstellern anders? Früher
gabs zahlreiche Komponisten im Hauptamt für Kirche und Oper. Die standen
sich nicht schlecht. Händel z. B. erhielt als Hofkomponist in London ein
Jahresgehalt von achttausend Mark, allerdings eine Kleinigkeit gegen seine
übrigen Einnahmen, aber für die wenigen Auftrüge eine sehr anständige Ent¬
schädigung. Für Opern zahlte man Anfängern hundert Dukaten, Künstlern
mit Namen das Doppelte, dazu kam ein beträchtliches Honorar für das Spiel
am ersten Cembalo bei den Aufführungen und die Möglichkeit, im Jahre
mehrere Opern, vielleicht für jede der drei Spielzeiten eine, zu schreiben. Eine
andre nicht zu verachtende Einnahmequelle floß den .Komponisten aus den
Dedikationen. Schließlich pflegten sie auch sehr häufig gedruckte Werke selbst
zu verlegen und sich gegen Nachdrucker Privilegien zu erbitten. Erst als im
achtzehnten Jahrhundert das Institut der Haus- und Hofkomponisten schwindet,
kommt ein eigner kaufmännischer Vcrlegerstand zu größerer Bedeutung und
arbeitet, weil das Abschreiben von Noten freigegeben war, nud geschriebne
Noten den gedruckten bei weitem vorgezogen wurden, mit durchschnittlich großen
Schwierigkeiten, Nur wenige vom Glück begünstigte, besonders tüchtige Häuser
hielten sich länger. Daß sich die Verleger unter diesen Umständen nicht mit
großen Ausgaben an die Komponisten beschweren konnten, läßt sich begreifen,
sie übernahmen den Verlag großer Werke in der Regel nnr, wenn der Kom¬
ponist selbst soviel Subskribenten zusammengebracht hatte, daß die Herstellungs-
kosten gedeckt waren. In dieser Zeit entstand der Panschalvertrng: der Kom¬
ponist wurde ein für allemal mit einer Summe abgefunden, von der Zahl der
Auflagen, von ihrer Höhe hatte er keine Vorteile und erfuhr er nichts. Die
Verleger schafften die Jahreszahlen auf den Titeln ub. Dieser ehemals ver¬
nünftige Zustand hat aufgehört, recht und billig zu sein, seit das Gesetz
die Vervielfältigung von Musikalien verbietet, und es ist seitdem kein aus¬
reichender Grund mehr vorhanden, im Musikverlag anders zu verfahren als
im Bnchv erlag.
Den ausländischen Komponisten ist das früher klar geworden als den
deutsche», ja unsre für das Konzert schreibenden Musiker Hütten vielleicht noch
lange nicht an einen materiellen Ertrag ihrer Arbeit gedacht, wenn nicht für
ihre Kollegen von der Oper Tantiemen eingeführt worden wären. Die Fran¬
zosen zuerst haben Kampfgcnossenschaften gegründet, die den Verlegern Be¬
dingungen stellen, unter ihnen auch die Forderung einer Aufführuiigssteuer.
Das Aufführungsrecht war zuerst hauptsächlich als ein Mittel gedacht, sich die
Qualität von Neuaufführungcn zu sicher», es hat sich aber auch finanziell als
nützlich erwiesen. Durch diesen Erfolg veranlaßt hat es Deutschland vor Jahr¬
zehnten als fakultativ zugelassen; die Komponisten, die davon Gebrauch machten,
mußten es auf dem Titel bemerken. Der Verleger Simrock in Berlin machte
diesen Vermerk zur Regel, seine Komponisten standen sich dabei gut, und auf
diesem Weg ist das Verlangen nach obligatorischer Aufführungssteiler durch
die ganze deutsche Komponistenwelt gedrungen, in die Regierungsvorlage ge¬
kommen und schließlich, allerdings verstümmelt, Gesetz geworden. Daß es von
den Komponisten nnr denen nützen wird, die ihren Verlegern befehlen können,
scheint so lange gewiß, als die Gesetzgebung das musikalische Verlagsrecht nicht
mit dein im Buchhandel üblichen in Einklang bringt, so laiige der Musikverleger
mit oder ohne einmaliges Honorar nicht bloß das Manuskript, sondern anch
alle Urheberrechte, mit Einschluß von Schutzfrist und Aufführungssteiler, halb
oder ganz an sich bringen, Neuauflagen ohne Befragen und ohne Entschädigung
des Autors veranstalten darf. Wie den Schriftstellern muß auch den Komponisten
ein Anteil am Absatz gesichert werden. Daß das ganz wohl ohne Schaden für
Volksbildung und Mnsikpflcge durchgesetzt werden kann, beweist das Ausland.
Die höchsten Vorteile vom Absatz hat der Komponist in England. Arthur
Sullivan ist durch ein einziges Lied ?luz lost vllvrcl ein vermögender Mann
geworden. Hat der Komponist von den verkauften Exemplaren Prozente, dann
kann er viel eher ans eine Aufführungssteuer seiner Lieder verzichten. Sie ist
ohnedem gerade beim Lied nur schwer gerecht durchzuführen. Die öffentlichen
Vorträge lassen sich kontrollieren, sie spielen aber doch nur eine untergeordnete
Rolle gegen den Liedverbrauch in der Hausmusik,
Kommt es also wieder zu Anträgen im Reichstag, so mag der Verein der
deutscheu Komponisten in der hier angegebnen Richtung vorgehn, aber vorher
für bessere Information der Reichsboten sorgen.
ir, Rudolph Constanz Freiherr von Geyr zu Schweppenbnrg, Kur¬
fürstlicher Durchlaucht zu Köln Kämmerer und Hofrat und Fürstlich
Essenschcr Amtmann zu Breysich, Herr des Hauses Andrinwnt und
Erbvvgt der Markgrafschaft Franchimout, verordnen durch Unsern
lieben getrewen Schloßkaplan, den ehrwürdigen Herrn Pancratius Sack¬
mann, Unsern derzeitigen Administrator zu Schweppenburg, was folgt:
In Anbetracht der elenden und gar erbärmlichen Zeitläufte erlassen wir Unsern
getrewen Unterthanen zu Niederlützingen, Alk und Poles für dieses, das 1794. Jahr
nach der Geburt unsers Heilands oder das 2547. nach der Erbauung der Stadt
Rom, den Frucht- und Weinzehnten, desgleichen dem Pächter Unsrer Mühle am
Brohlbach die Pacht, ohne Uns Unsrer Rechte und Kompetenzen zu begeben, legen
vielmehr dafür Unsern Unterthanen, Zehntbauern, Halfen und besagtem Pächter ans,
sich am künftigen Montage als am 22. mensis Octobris auf Unsrer Burg allhier
zur Ableistung der Handdienste einzufinden, auch sich mit Unserm obbemeldten
Administrator ernstlich zu beraten, wie dein drohenden Einfall der Gallier, so man
gemeiniglich Franzosen nennet, zur Vermeidung arger Kalamität an Leib und Leben,
Geld und Gut zu begegnen sei. Unsrer getrewen Unterthanen ?c. Gehorsam ge¬
wärtig, haben wir diesen Befehl ausfertigen und Unser Jnsiegel beidrücken lassen.
Gegeben auf Unserm Schloß Schweppenburg, am 19. msnsis Octobris ^. v.
1794.
So seltsam wie dieses Schriftstück war der Maun, der es aufgesetzt hatte und
sich nun anschickte, mit einer Umständlichkeit und Feierlichkeit, die der antiquierten
Fassung des Erlasses entsprach, auf eine vorher sorgsam abgezirkelte und mit einer
Kreislinie bezeichnete Stelle des Papiers Siegelwachs zu träufeln und dieses mit
dem in Messing geschulteren Wappen derer von Geyr zu petschieren.
Der ehrwürdige Herr Pancratius Santana — denn diesen haben wir in
eigner Person vor uns — gehörte zu den größten Männern seiner Zeit, wenigstens
hinsichtlich seines Körpermaßes, Er dürfte sich der stattlichen Lange von sechs Fuß
drei Zoll rheiuläudisch rühmen, und dieser Länge entsprach seine Stärke. Als er
jetzt das Petschaft aufsetzte und zur Vergrößerung des Druckes das Gewicht seines
Oberkörpers auf die kleine Fläche des Siegels konzentrierte, begann sogar der
mächtige Eichentisch zu ächzen. An Pancratius Sackmauns Körperkraft war mithin
nicht zu zweifeln. Seine Größe kam jedoch mir dem zum vollen Bewußtsein, der
den sonderbaren Mann mit der halb geistlichen halb weltlichen Kleidung neben
gewöhnlichen Sterblichen sah, wozu sich freilich selten Gelegenheit tot, da der Riese
fast nie ausging und den Verkehr mit andern Menschen nach Möglichkeit vermied.
Wenn es für „obbemeldten" Pancratius einen Lebenszweck gab, so war es
die Lösung des nicht ganz leichten Problems, wie seine geistige Bedeutung mit der
leiblichen in Einklang zu bringen sei. Denn das stand für ihn von jeher fest:
hatte das Schicksal ihn mit einem außerordentlichen Körper bedacht, so hatte es ihm
damit auch die Verpflichtung auferlegt, etwas Außerordentliches zu vollbringen. Es
konnte anch nicht in der Absicht der gütigen Mutter Natur liegen, mit dem denkbar
größten Aufwande von Material einen Koloß aufzubauen und ihn nach Ablauf der
einem Menschen vergönnten Lebensfrist thaten- und ruhmlos wieder vergehn zu
lassen. Wer als ein Herakles gehöre» wird, dessen warten auch ungewöhnliche
Arbeiten — Arbeiten, die die Welt in Staunen sehen und ihrem Vollbringer einen
Platz im Tempel der Unsterblichkeit sichern. Heute freilich — auch das verhehlte
sich Pancratius uicht — war es mit körperlichen Arbeiten nicht gethan. Würde ihn
das Schicksal dazu berufen, eine große Aufgabe zu lösen, und daß dies einmal ge¬
schehn werde, war für Sackmann eine ausgemachte Thatsache, so wurde an deren
Lösung auch sein Geist mitzuwirken haben. Und weil er dessen gewiß war, so
hielt er es für seine Pflicht, besagten Geist nach besten: Vermögen zu schärfen und
zu bilden.
War es wirklich die Absicht des Schicksals gewesen, durch unsern Freund
Großes geschehn zu lassen, so hatte es sich selbst zuzuschreiben, wenn das Resultat
weit hinter seinen Erwartungen zurückblieb. Denn schwerer als ihm war es noch
keinem Menschen gemacht worden, außerordentliche Thaten zu vollführen. Ihn, der
schon in den ersten Augenblicken seines Daseins die Angehörigen und namentlich
die um das Bett der Mutter versammelten Gevatterinnen durch seine Größe in
Erstaunen gesetzt hatte, hatte man, noch ehe er den ersten Schrei nnsgestoßen hatte,
gleichsam als ein lebendes Vvtivgeschenk für den Himmel und seine Heiligen dem
geistlichen Stande bestimmt. Dieses Gelübde mußte erfüllt werden, ganz gleich,
ob Pancratius Neigung verspürte, deu ihm vorgezeichneten Lebensweg einzuschlagen,
oder nicht. Hätte man den ungewöhnlich kräftigen Knaben nach seiner eignen
Meinung gefragt, so würde er keinen Augenblick gezögert haben, sich für den mili¬
tärischen Beruf zu entscheiden, der in jenen kriegerischen Zeiten die besten Aussichten
für die Zukunft bot. Pancratius war in dem Eifeldorfe Dann geboren, das damals
mit Stolz auf die strategischen Großthaten seines berühmtesten Sohnes, des Grafen
Leopold Joseph Daun, sah. Es versteht sich von selbst, daß dieser, zumal seit er
bei Kolin und Hochkirch deu großen Gegner muss Haupt geschlagen hatte, den Geist
seines jungen Landsmanns im Wachen und Träumen beschäftigte. Hätte Pancratius
gewußt, daß auch der Feldmarschall in seiner Jngend für den geistlichen Stand
bestimmt gewesen war, aber mit entschlossener Hand den Priesterrock von sich ge¬
worfen hatte, wer weiß, ob ihm dies nicht als ein Wink des Himmels erschienen
wäre, dem Beispiele Dauns zu folgen. Hier hatte das Schicksal also schon etwas
versäumt.
Der Jüngling absolvierte wie tausend andre das Seminar und wurde durch
die Freigebigkeit eines wohlhabenden Verwandten in die Lage gesetzt, sich bei den
Jesuiten zu Ingolstadt tiefere Kenntnisse der Theologie und des kanonischen Rechts
zu erwerben, als sie die Durchschnittsgeistlichen jener Tage hatten. Nun mußte er
jedoch, als er wohlgewappnet mit dem Rüstzeuge der Gelehrsamkeit in die Heimat
zurückkehrte, die Erfahrung machen, daß die Wissenschaft, der er sechs Jahre seines
Lebens geopfert hatte, in der Achtung der Welt stark gesunken sei. Noch gebärdete
sich zwar die Theologie als Königin, aber an den Füßen ihres Thrones nagten
imnblässig feindliche Gewalten, und der Tag schien nicht mehr fern, wo sie und mit
ihr das Institut der römischen Kirche ein Ende mit Schrecken nehmen würde. Die
Aufklärung, die Philosophie und die Naturwissenschaft waren noch nicht einmal die
schlimmsten unter ihren Feinden, bedenklicher waren die Schlangen der Zweifelsucht,
des Widerspruchsgeistes und der Lässigkeit, die sie am eignen Busen genährt hatte,
und die nun, vom Geiste der Zeit begünstigt, als gallikanische und febrönianischc
Häresie ihr Haupt erhoben. Sogar das Volk wurde von der antikirchlichen
Strömung ergriffen: es gab Dörfer, wo man die Geistlichen bei Nacht und Nebel
über die Grenze schaffte und ihnen im Falle der Rückkehr den Tod androhte. Daß
also das Schicksal unsern Pancratius zu einer solchen Zeit in den Priesterrock ge¬
steckt hatte, war ein zweiter Fehler gewesen.
Er that, was jeder andre in seiner Lage wahrscheinlich auch gethan hätte:
er wartete geduldig auf einen Umschwung der Verhältnisse. Sein Verwandter,
der in Beziehungen zum kurfürstlichen Hofe in Trier stand, und dem ein Dom¬
herr versprochen hatte, bet Gelegenheit ein empfehlendes Wort für den jungen
Geistlichen einzulegen, schmeichelte sich mit dem Gedanken, diesen einst als Kanonikus
von Se. Simeon zu sehen, weil der Domherr von einer solchen Stelle beiläufig
gesprochen hatte. Pancratius begab sich deshalb nach mehreren Jahren des Wartens
selbst einmal nach Trier und vernahm dort zu seiner größten Enttäuschung, daß
im Kapitel augenblicklich nicht nur keine Aussicht zur Neubesetzung einer Stelle
vorhanden sei, sondern daß es in der nächsten Umgebung des Kurfürsten nicht an
Aspiranten für das Kanonikat fehle, und daß man auch seit Jahrzehnten leinen
Bürgerlichen mehr in das Kapitel aufgenommen habe.
Von diesen drei Gründen reichte jeder einzelne hin, unserm Freunde dos
Warten zu verleiden. Um eine große Hoffnung erleichtert reiste er wieder nach
Hause. Aber der Besuch in Trier war für Pancratius nicht ganz unfruchtbar geblieben.
Je mehr die Kirche des heiligen Simeon für ihn an Interesse verlor, desto er¬
habner und gewaltiger deuchte ihn der alte römische Riesenbau, in dessen Quader¬
mauern das christliche Gotteshaus eingefügt oder, wie es dem Beschauer immer
deutlicher bewußt wurde, eingeflickt worden war. Zum erstenmal lernte der junge
Priester hier die Römer von einer Seite kennen, die ihm Bewundrung abnötigte.
Wie mächtig mußte ein Volk gewesen sein, das mitten im fremden Lande so festen
F»ß gefaßt hatte, daß es ein solches Bauwerk aufführen konnte!
Bisher hatte sich Pancratius unter den Römern kaum etwas andres als Menschen
vorgestellt, deren ausschließliche Beschäftigung darin bestand, christliche Märtyrer zu
steinigen, mit glühenden Zangen zu zwicken, in Öl zu sieden, als Ziel beim Bogen¬
schießen zu benutzen oder bei gelindem Feuer langsam zu rösten. Nun wurde ihm
mit einemmal klar, daß ihnen eine solche Einseitigkeit gänzlich ferngelegen hatte, und
d"ß sie wenigstens ihre Mußestunden zu Arbeiten verwandt hatten, die ihnen heute
so leicht keiner nachmachte. Der riesenhafte Mann fühlte sich zu dem riesenhaften
Thorbau durch das Band einer Art von Kongenialität hingezogen. Wie er selbst
die Menschen um mehr als Haupteslänge überragte, so reckte sich auch das düstre
Römerkastell über die Dächer der benachbarten Häuser gigautisch empor. Auch dieser
Bau hatte eine lange Zeit des geduldigen Wartens — man sprach von fünfzehn¬
hundert Jahren — hinter sich, und immer noch schien sich das ihm bestimmte
Schicksal nicht erfüllen zu wollen. Pancratius empfand es zum erstenmal als ein
Glück, daß er leidlich Latein verstand und sprach; es waren doch die Laute, die
dieses Denkmal der Vergangenheit wie ein Gruß aus seiner Jugendzeit nannten
wußten. Wenn er abends im Dämmerlicht um die hohen Mauern strich und sehn-
süchtige Blicke zu den Obergeschossen des mächtigen Turmpaares emporscmdte, konnte
er sich nicht enthalten, die Gebete seines Breviers halblaut vor sich hinzusprechen.
Das war zwar Latein, aber ein Latein ohne Trotz und Stolz, das zu seinen Ein-
pfindungen ebensowenig paßte, wie der Ton des schrillen Vespergtöckleins drinnen
im Innern des düstern Quadergefüges zu diesem. Am letzten Tage seines Anf-
enthalts in Trier nahm er von dem alten Römerthore schmerzlichen Abschied, ver¬
kaufte bei einem Trödler seine silberne Sackuhr und erstand für das erlöste Geld
die Zweibrücker Ausgabe des Livius. Als römischer Deutscher war Pancratius
nach Trier gekommen, als deutscher Römer hatte er die Stadt wieder verlassen.
Von jetzt an war er mehr in Bibliotheken als in Kirchen zu finden. Er las,
was ihm von römischen Litteraturwerken in die Hände kam, obgleich Livius sein
erklärter Liebling blieb, der seiner Meinung uach von keinem Frühern oder Spätern
übertroffen wurde. Es reizte thu hierbei wohl mehr der Gegenstand als die Dar¬
stellung. Das Ringen des jungen römischen Staats um seine Selbständigkeit, die
Thaten der Könige, die ihrer Bedeutung unbewußt ein Weltreich vorbereiteten, die
Kämpfe der Republik gegen innere und äußere Feinde erschienen ihm bewundrungs-
würdiger als der Glanz der Kaiserzeit.
Ju Koblenz, wo er sich, bescheiden, wie er in seinen Ansprüchen war, von
demi Ertrage lateinischer Stunden nährte und gelegentlich einen Geistlichen vertrat,
lernte ihn ein Herr von Geyr kennen. Dieser suchte gerade einen Hauskaplcm für
seine Besitzung im Brohlthal. Der damals schon ältere Priester gefiel ihm um
so mehr, als er seine eignen freiern Anschauungen teilte und zugleich die Fähigkeit
zu haben schien, die Schloßbibliothek und eine Sammlung innerhalb des Burg¬
friedens gefundner römischer Münzen, Inschriften und Autikaglien zu ordnen und
zu verwalten. Pancratius zögerte keinen Augenblick, auf das Anerbieten einzugehn.
Nach einer solchen Stelle, wie sie ihm jetzt ohne sein Zuthun geboten wurde, hatte
er sich schon lange gesehnt. Er erkannte daraus, daß das Schicksal ihn seiner Be¬
stimmung einen Schritt näher bringen wollte, obgleich er über ihre Art auch da¬
mals noch völlig im unklaren war.
Die Bibliothek, die vorzugsweise aus historischen Werken älterer und neuerer
Zeit bestand, war in einem Zustande heilloser Unordnung. Sie war zum größten
Teil zugleich mit der Burg selbst in deu Besitz des Großvaters des jetzigen Herrn
übergegangen und seitdem vou keiner Hand mehr berührt worden. Die Bücher
lagen in einem bisher verschlossenen Zimmer in hohen Stößen an den Wänden
entlang aufgestapelt; sie waren unter einer Staubschicht verborge», die hauptsächlich
aus dem feinen grauen vulkanischen Traß bestand, der, aus den Steinbrüchen der
Umgegend verschleppt, die durch das Thal führende Landstraße fußhoch bedeckte
und sich bei jedem Windstoß als weißliche Wolke in die Luft erhob. Es war ein
litterarisches Herkulanum oder Pompeji, das der Wiederauferstehung zum Lichte
des Tages harrte. Als Pancratius zum erstenmal den Raum betrat und den Blick
über die Stätte eiuer verschütteten Kultur schweifen ließ, drohte ihm der Mut zu
sinken. So ungefähr muß Herakles ausgesehen haben, als ihn König Augias
seligen Angedenkens bei einem Rundzange durch seine Ökonomiegebäude aufforderte,
die handgreiflichen Resultate einer viele Jahre lang durchgeführten Stallfütterung
in einem Tage zu beseitigen.
Der Gedanke an Herakles richtete unsern Freund denn auch wieder auf, und
er beschloß, wie dieser bei dem Reinigungswerke die Elemente zu Hilfe zu nehmen.
Hatte der Wind durch die Fugen der schlecht schließenden Fenster den Staub
hereingetragen, so sollte er ihn auch wieder beseitigen. Nachdem sich der Burgkaplan
und zukünftige Bibliothekar davon überzeugt hatte, daß die chaotische Unordnung
des Bücherbestands auch durch den gewaltsamsten Eingriff nicht mehr zu vergrößern
war, wartete er auf den ersten starken Weststnrm, der, wie man ihm gesagt hatte,
im Brohlthale jedem Gewitter voranzugehn Pflegte, schürzte, als dieser sich endlich
einstellte, sein geistliches Gewand, versah sich mit einem Besen, öffnete nicht ohne
Anstrengung die lange verschlossen gewesenen Fenster der „Bibliothek" und des ihr
gegenüberliegenden Raumes und fegte über die pnpiernen Mauern hin, daß sie in
ihren Grundfesten erbebten. Der starke Wind, der durch die ganze Tiefe des
Burghauses tobte, ergriff die sich erhebenden Staubwolken und trieb sie durch die
Fenster der Ostseite ins Freie, wo sie als lange weißgraue Streifen weiterzogen
und erst im Walde jenseits des Brohlbachs verschwanden. Es war ein erhebender
Anblick, wie der geistliche Herr so dastand und mit erhabnen Besen den Teufel
der Unsauberkeit auftrieb. von dem die erlesenen Geister in Pergament und Schweins¬
leder so manches Jahrzehnt besessen gewesen waren. Der Himmel selbst schien sich
des großen Sänberungswerks zu freuen, denn Jupiters Blitze zuckte» hernieder und
beleuchteten mit bläulichem Licht die wiedergewonnenen Schütze. Die grobe Arbeit
war nun gethan, und die feinere, die im sorgsamen Abreiben jedes einzelnen Buches
bestand, versprach dem geistlichen Herakles eine lange Reihe genußreicher Tage.
Tage? Nein, daran glaubte er selbst uicht recht. Um in dieses Chaos
Ordnung zu bringen — denn Reinigen und Ordnen mußten Hand in Hand gehn —,
bedürfte es zum mindesten einiger Wochen. Aber aus den Wochen wurden Monate,
nus deu Monaten Jahre. Das kam so. Wenn man eine Bibliothek ordnen und
dabei nicht dem Prinzip des Kasseler Bibliothekars folgen will, der die seiner
Obhut anvertrauten Bücher fein säuberlich nach Größe und Format klassifizierte,
so muß man einen Blick auf das Titelblatt werfen. Kennt man das betreffende
Buch nun von früher her, so entsinne man sich meist auch einer Stelle, die man
einst mit besonder», Vergnügen gelesen hat, man lolii die Erinnerung daran auf¬
frischen, beginnt zu blättern, findet die Stelle meist erst nach langem vergeblichen
Suchen, liest sie. ist von neuem entzückt, entdeckt stilistische Schönheiten, Gedanken
oder historische Thatsachen, die man früher nicht nach Gebühr gewürdigt hat, liest
weiter und hört erst ans, wenn man auf der letzten Seite angelangt ist. Kennt
man das Buch jedoch uoch nicht, so hat man als Bibliothekar die Verpflichtung,
sich wenigstens über deu Standpunkt und die Absichten des Verfassers zu unter-
, richten. Dazu bietet die Lektüre des Vorworts die beste Gelegenheit. Da nun
aber der Autor im Vorwort seine Stellung zu dieser oder jener Frage meist nur
kurz rechtfertigt, im übrigen aber auf dieses oder jenes Kapitel seines Buches selbst
verweist, ein Kapitel, aus dem Zusammenhange losgelöst, jedoch leicht zu irriger
Auffassung führt, so sieht man sich gewöhnlich genötigt, das bisher nicht gekannte
Buch auch zu lesen. Und dazu gehört Zeit, viel Zeit. Die hatte Pancrattns nun
in so reichem Maße, daß er es sich zum Grundsätze machen durfte, überhaupt jedes
Buch von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen, ehe er ihn: seinen Platz auf
den mit eigner Hand gezimmerte» Regalen anwies. Von früh bis spät konnte
man ihn zwischen den Bücherhaufeu stehn sehen, unter dem Arm den Federwedel,
über der Schulter das Staubtuch und in der Hand bald einen mächtigen Quartanten,
bald ein zierliches Oktavbändchen, das aber zwischen den Riesenfingern unsers
Freundes auf Duodez oder Sedez zusamme»zuschrnmpfen schien.
Herr von Geyr, der übrigens allsommerlich nur für wenig Wochen in der
Burg Aufenthalt nahm, für gewöhnlich aber auf seinen Besitzungen am Niederrhein
wohnte, ließ seinen Burgkavlau um so lieber gewähren, als dieser unter dem
Bücherwnste einige längst vergessene Dokumente wiederentdeckt hatte, die gewisse
mit dem Besitz des Unwesens verbundne Gerechtsame betrafen. So hatte er nnter
andern Urkunden das Instrument gefunden, ans dem der rechtliche Anspruch der
Familie an einen bei Tönnisstein liegenden wertvollen Wald hervorging, der ihr
seit langem von den Kolben zu Wassenach streitig gemacht worden war. Der geist¬
liche Herr wußte also, wie man sieht, nicht nnr die himmlischen, sondern auch die
irdischen Vorteile des Hauses zu wahren, und der Gehalt, den er erhielt, oder in
bösen Jahren wenigstens gutgeschrieben bekam, durfte als keine schlechte Kapital¬
anlage gelten.
Leider erschienen der bösen Jahre immer mehr. Die Ereignisse in Frank¬
reich warfen ihre düstern Schatten bis an den Rhein. Handel und Wandel be¬
gannen zu stocken, und alles deutete darauf hiu, daß die scheinbare Ruhe, die im
Lande herrschte, uur die Stille vor dem Sturme war. Im Brohlthale hatte man
im allgemeinen von den Absichten der Republikaner nur höchst unklare Vorstellungen.
Was man gelegentlich von Koblenz erfuhr, wo sich die versprengte Aristokratie
Frankreichs sammelte und in einer aus Verzweiflung, Rachedurst und unglaublichem
Leichtsinn gemischten Stimmung den kommenden Tagen entgegensah, war so wider¬
sprechend, daß es die Gemüter mehr verwirrte als beruhigte.
In diesen trüben Zeiten erlebte Pancratius eine unerwartete große Freude.
Schon immer waren im Burgbereich und namentlich auch in dem seit Menschen¬
gedenken zu Heilzwecken benutzten Salzbrunnen, der in einem nur wenig hundert
Schritt entfernten Thälchen sprudelte, römische Münze» und Votivgaben gefunden
worden. Unser Freund hatte eine ansehnliche Kollektion davon geordnet und kata¬
logisiert und hierbei die Beobachtung gemacht, daß Münzen und Inschriften in un-
unterbrochner Folge einen größern Zeitraum umfaßten. Er glaubte daraus den
Schluß zieh» zu dürfen, daß in der Gegend eine dauernde Niederlassung der Römer
bestände» habe, und hegte im stillen die Vermutung, daß diese eben an der Stelle,
an der sich jetzt die Schweppenburg erhob, zu suchen sei. Der Ort war in der
That für die Anlage eines befestigten Lagers oder Kastells der nllergünstigste. Der
niedrige, ziemlich isoliert liegende Hügel beherrschte das ganze Thal, er bot Schutz
gegen feindliche Überfälle wie gegen das Hochwasser, das sich zu Ende des Früh¬
lings fast alljährlich einstellte, und erlaubte überdies der etwaigen Besatzung, sich
im Notfall unbemerkt in den dahinter ansteigenden Bergwald zurückzuziehn. Diese
Vermutung sah Pancratius bestätigt, als man beim Ausschachte» eines neuen
Spargelbeetes im Burggarten auf einen Vvtivaltnr stieß, den, wie die vorzüglich
erhnltne Inschrift sagte, Soldaten der sechsten, zehnten und zweiundzwanzigsten
Legion demi Mars Militaris, dem Herkules Saxanus und dem Genius des Ortes
gewidmet hatten. Der Altar wurde im Bibliothekzimmer aufgestellt und war von
nun um das Heiligtum, an dem der Burgkciplan seine liebsten und brünstigsten An¬
dachten verrichtete. Jetzt konnte kein Zweifel mehr besteh», daß die Stätte, an der
er lebte und wirkte, durch klassische Erinnerungen geheiligt war. Der Genius des
Ortes waltete auch heute noch, er war es, der den eifrig Suchenden auf so wunder¬
bare Weise belohnt und ihm zur Bestätigung seiner scharfsinnigen Hypothese das
schöne Denkmal in die Hände gespielt hatte.
Aber der Altar war auch noch andern Gottheiten gewidmet. Zunächst dem
Herkules Saxanus. Auch darin sah Pancratius eine geheime Beziehung auf sich
selbst. Mau hatte, um deu Stein zu heben, über der Grube eine Wiude auf¬
gestellt. Aber die Stricke waren gerissen, ehe sich die gewaltige Last noch merklich
aufgerichtet hatte. Da war Pancratius, einer Eingebung folgend, in die Vertiefung
gesprungen, hatte den Stein mit seinen Armen umklammert und ruckweise bis über
den Rand des Loches emporgehoben, wo er von ander» Händen gehalten worden
war, bis ihn der Herr Kaplan, nachdem er eine Schulter darunter geschoben hatte,
mit dem Aufwand seiner höchsten Kraft ganz ans Licht gefördert hatte. Das war
eine Leistung, der sich Herkules Saxanus nicht hätte zu schämen brauchen, und nun
fand sich, daß sie gerade diesem zu Ehren vollbracht worden war.
Nun blieb »och der Mars Militaris übrig. Der Beiname des Gottes war
ungewöhnlich. Aber Pancratius war tief genug in den Geist der spätern Latinität
eingedrungen, daß er ihn richtig deuten konnte. Hier war nicht der Kriegsgott
im allgemeinen, sondern der spezielle Beschützer der Legionare und ihres Lagers
gemeint. Ein neuer Beweis dafür, daß auf der Fundstelle ein römisches Kastell
gestanden hatte! Der Bnrgkaplan hielt es für angezeigt, die in den Kellermauern
noch erhaltnen Teile eines ältern Gebäudes, das sich bis zur Mitte des sechzehnten
Jahrhunderts hier erhalten hatte, auf ihre Konstruktion hin zu untersuchen. Er
hoffte Spuren römischer Fundamente zu finden, was ihm jedoch nicht gelang, so
sorgsam er auch jeden Stein mit seiner Blendlaterne beleuchten und untersuchen
mochte. So sehr ihn auch hier eine Bestätigung seiner Vermutungen gefreut
hätte, so wenig schmerzte ihn doch der Mißerfolg der Kelleruntersuchung. Er war
seiner Sache schon zu gewiß, als daß er noch irgend eines weitern Beweises be¬
durft hätte. Die erhebende Thatsache stand unumstößlich fest: Er, Pancratius
Sackmann aus Daun, war vom Schicksal dazu nuserseheu, eine Stätte mit historischer
Vergangenheit zu hüten und als ein vivis row-mus mitten im Barbarenlaude das
Andenken an antike Großthaten und Tugenden wachzuerhalten.
Dieser Gedanke, anfangs ein harmloses Spielzeug seines Geistes, eine bunte
Kugel, mit der er in müßigen Stunden Fangball spielte, wurde bei ihm allmählich
zu einer Art von fixen Idee. Er begann sich immer mehr als Römer zu fühlen
und schrieb seinem Herrn eines Tags einen Brief, worin er unter Hervorhebung
der republikanischen Einfachheit seiner Sitten erklärte, daß er in Zukunft auf seinen
Gehalt verzichte. Herr von Geyr nahm diese Erklärung nicht weiter übel, er
stimmte ihr um so lieber zu, als er in der letzten Zeit große Verluste erlitten hatte
und sich gezwungen sah, seine Ausgaben ans das allernotwendigste zu beschränken.
So kam es, daß auf der Schweppeuburg das Gesinde bis auf die alte Slina, eine
ehemalige Kammerzofe der gnädigen Frau, der aber seit mehr als dreißig Jahren
die Besorgung der Küche und die Pflege der Schweine oblag, entlassen wurde.
Pancratius bekam hierdurch auch mehr zu thun. Seit dem Altarfunde hatte er
den Burggarten selbst bestellt, teils weil er befürchtete, die Ungeschicklichkeit eines
Mietlings könnte bei der Entdeckung von Altertümern nicht mit der nötige» Vor¬
sicht zu Werke gehn, teils weil er gelesen hatte, daß auch Cincinnatus, bevor er
zum Diktator gewählt worden war, als praktischer Ökonomiker Bedeutendes geleistet
habe. Jetzt übertrug ihm Herr von Gebr die Verwaltung des ganzen Schweppeu-
burger Besitzes, stattete ihn mit weitgehenden Befugnissen aus und machte ihm zur
Pflicht, alljährlich am 2. Januar einen Rechenschaftsbericht über das verstrichue
Jahr an ihn einzusenden. Mit den Bauern oder, wie Pancratius sie lieber nannte,
den „Unterthanen" wurde er vorzüglich fertig. Seine Größe und seine Körper¬
kraft kamen ihm dabei nicht minder gut zu statten als sein geistliches Gewand.
Zudem ließ er sich bereit finden, ihnen in leiblichen und seelische» Nöten beizustehn,
und drückte ein Auge zu, wenn die Zchnthühner und Zehntferkel oder die sonstigen
Abgabe» einmal verspätet oder in mangelhafter Beschaffenheit einliefen. Daß er
sich im Verkehr mit den „Unterthanen" gern der Sprache einer längst vergangne»
Zeit bediente, erhöhte de» Eindruck seiner „Erlasse" und schmückte sein Haupt in
den Augen der Bauern mit dem Nimbus ungewöhnlicher Gelehrsamkeit.
(Fortsetzung folgt)
Es ist niemals Gewohnheit der Grenz¬
boten gewesen, von der freundlichen oder unfreundlichen Kritik, die die Tages¬
zeitungen ihnen haben cingedeihen lassen, ernsthaft Notiz zu nehmen. Bei dem
heutigen Zustand in den politischen Parteien und ihrer Presse wäre es erst recht
unangebracht, damit anzufangen. Wo auch in dieser Presse die Grenzboten seit
Jahr und Tag im Parteiinteresse als Eideshelfer angeführt oder als Missethäter
heruntergerissen worden sind, da war die Hauptsache unsrer Ausführungen ver¬
schwiegen, und nur einzelne Sätze waren mit mehr oder weniger Geschick aus dem
Zusammenhang herausgegriffen worden, um dem lieben Publikum nur ja die unbe¬
quemen Wahrheiten, die wir gesagt hatten, vorzuenthalten. Das scheint die leidige
Parteidisziplin heute so mit sich zu bringen. Für uns hatte es nur insoweit
Interesse, als wir aus dem, was die Parteiblntter ihren Leuten verschwiegen, am
besten ersehen konnten, was „gesessen" hatte, d. h. was sie als wahr und überzeugend
anerkennen mußten und deshalb vor den Herren Parteigenossen geheim halten zu
müssen glaubte». Es geht uns natürlich nicht allein so. Die ganz und gar nn-
wahrhafte, ungesunde und unhaltbare heutige Parteiorganisation kann nur noch durch
ein rücksichtslos durchgeführtes und zu einer gewissen Meisterschaft gediehenes System
von Fälschungen der Wahrheit für einige Zeit am Leben erhalten werden.
Wenn wir heute zunächst einige gegen uns gerichtete Angriffe der Parteipresse
einer kurzen Besprechung würdigen, so geschieht das deshalb, weil diese Augriffe
sachlich einen Krebsschaden im politischen Leben der Gegenwart dem Leser besonders
deutlich vor Augen führen, den mit allem Nachdruck und unermüdlich zu bekämpfen
wir für unsre Pflicht halten: die Fälschung der konservativen Gesinnung in Preußen.
Wir beschränken uus dabei in der Hauptsache auf das Beispiel, das die Kreuz-
zeitung in dieser Beziehung giebt, und berühren nnr beiläufig das eines früher
hochachtbaren Proviuzialblatts, der Schlesischen Zeitung.
Diese Zeitung brachte am 29. April eine Kritik unsers Artikels über deu
landwirtschaftlichen Groß- und Kleinbetrieb und die Erhöhung der Brotgetreidc-
zölle (Heft 17 vom 25. April), die, soweit sie überhaupt etwas, was wir gesagt
haben, betrifft, eine so arge Oberflächlichkeit und Leichtfertigkeit des Kritikers verrät,
daß es sich hier nicht lohnt, näher darauf einzugehn. Aber am Schluß sagt er:
„Hüten sollte man sich aber, den Kaiser als Schleppenträger der Agrarier zu be¬
zeichnen. Diese Unterstellung ist ebenso unsinnig wie etwa die Behauptung, der
Kaiser wolle der Börse zu Diensten sein, wenn die Regierung keine Erhöhung der
Getreidezölle vorschlagen würde." Hier kann von Fahrlässigkeit nicht mehr ge¬
redet werden. Der Kritiker mußte wissen, auch wenn er den Artikel, und was die
Grenzboten sonst zur Sache gesagt haben, nur oberflächlich gelesen hatte, daß dieser
Schlußsatz, auf die Grenzboten bezogen, eine Lüge war. Die Schlesische Zeitung
wird zu prüfen haben, ob er gewollt hat, daß die Leser den Satz so auffassen
sollten, als ob die Grenzboten diese unsinnige Unterstellung ausgesprochen hätten,
und wenn sich das ergeben sollte und die Zeitung sich trotzdem nicht beeilte, ihre
Leser über die Wahrheit aufzuklären, so würde sie sich selbst der bewußten Lüge
— der politischen Lüge, oder der Parteilüge, wie man vielleicht sagen darf —
schuldig machen. Die Grenzbotenleser werden auf alle Fälle daraus ersehen können,
bis zu welchem Grade die parteipolitischer Fälschungen leider auch in der konser¬
vativen Parteipresse schon gediehen sind.
Die Kreuzzeitung hat neuerdings, so viel uns zu Gesicht gekommen ist, am
25. April und am 2. und 12. Mai ihren Lesern über unsre Stellung zu der
Getreidezoll- und der Kanalfrage, namentlich aber über unsre Ansichten von dem un¬
richtigen Verhalten der heutigen konservativen Parteien gegenüber der Krone einige
Mitteilungen gemacht, die ebenso geeignet sind, die Wahrheit zu falschen, wie der
erwähnte Schlußsatz in der Kritik der Schlesischen Zeitung. Leider hat sich das
aristokratische Blatt dabei in steigendem Maße zu sehr plebejischen Schimpfereien hin¬
reißen lassen, die wir als Zeichen des Verfalls der politischen Sitte auch auf dieser
Seite sehr bedauern, hier aber natürlich ignorieren. Ganz besonders unbequem ist
ihr augenscheinlich zunächst die Wahrheit gewesen, die wir den preußischen Konser¬
vativen über das Drängen auf gesetzliche Festlegung von Miniinalkornzöllen im
Gencraltarif gesagt haben (Heft 16 vom 18. April). Wir hatten dabei ganz aus¬
drücklich als den Hauptgrund, weshalb ein solches Verhalten eines Konservativen
unwürdig sei, die notorische Thatsache bezeichnet, daß seit Jahr und Tag von der
Parteiagitntion vor der kritiklosen Masse der Landwirte die Notwendigkeit der
Minimalzölle im Generaltarif unverblümt und unverhohlen mit dem Mißtrauen
motiviert werde, das man gegen den Kaiser haben müsse, er werde sein Wort, den
Landwirten durch eine angemessene Erhöhung der Kornzölle zu Hilfe zu kommen,
uicht halten. Diesen in der That sehr schweren aber gerechtfertigten Vorwurf ver¬
schweigt die Kreuzzeitung vollständig, weil sie die Thatsache selbst und ihren jede
wirklich konservative und monarchische Gesinnung ins Gesicht schlagenden Charakter
anerkennt, das Pnrteiinteresse aber verlangt, daß die Parteigenossen nicht zu dieser
Erkenntnis kommen. Sie sucht vor ihren Lesern unsre eingehende und eindringliche
Darlegung der Sache als „völlige Sinnlosigkeit" hinzustellen, indem sie einige
Phrasen darüber macht, die dieses liebenswürdige Prädikat wirklich vollauf ver¬
dienen, aber mit dem, was wir gesagt haben, überhaupt nicht in logischem Zu¬
sammenhang stehn. Nicht weniger läuft auf eine Fälschung der Wahrheit folgendes
Kunststück hinaus. Wir hatten in einer Besprechung der Kanalkrisis (Heft 20 vom
9. Mai) unter andern: gesagt: „Trotz aller Versicherungen, daß die Kanal- und
die Koruzollfrage ganz voneinander getrennt werden sollten, sind sie thatsächlich
ograrischerseits in den engsten Zusammenhang gebracht worden, wie das namentlich
eins den jüngsten Auslassungen in den Preußischen Jahrbüchern hervorging."
Höhnisch fragt die Kreuzzeitung: „Was können denn die von den Absichten der
Konservativen wisse»? Glauben denn die Grenzboten, daß Professor Hans Delbrück,
Weil er früher im Reichstage auf deu Bänken der Reichspartei gesessen hat, unser
Vertrauensmann ist?" Und doch hatten die Preußischen Jahrbücher rede» einigen
c>und uns sehr wenig vertrauenerweckend scheinenden Phrasen des Herausgebers eben
den viel besprochnen programmatische» Kanalartikel des Freiherrn von Zedlitz ge¬
bracht, worin, ebenso wie gleichzeitig in der Post, klar und unzweideutig die Zu¬
stimmung zum Mittellandkanal vo» dem Ausfall der Zollfrnge abhängig gemacht
war. Da hört doch jede Ehrlichkeit den Lesern gegenüber völlig ans.
Allem setzt es aber die Krone auf. wenn die Kreuzzeitung dann fortfährt:
»Ebenso niedrig und sinnlos zugleich ist es, was das Blatt über die angeblichen
»Machenschaften und Ränke der ostelbischen Fronde« gegen de» Kaiser und gegen
den Grafen Bülow sagt, während es die maßlosen Unverschämtheiten, die sich die
liberalen Kannlfreunde und Landwirtschaftsfemde in diesem Sinne täglich erlauben,
mit der wohlwollendsten Miene verschweigt." Warum sagt die Kreuzzeitung ihren
Lesern nicht, daß wir bei den von ihr kritisierten Ausführungen ausdrücklich ein
neues, ganz bestimmtes, schwarz auf weiß vorliegendes corpus civlieti der „ost¬
elbischen Fronde," die die Grenzboten seit Jahren als die Hauptvcrderberin der
konservativen Gesinnung in Preußen bekämpfen, vor Augen hatten, den beispiellos
perfiden und hinterlistigen Artikel der Hamburger Nachrichten, worin, wie wir uns
freilich recht deutlich ausdrückten, der Versuch gemacht wurde, den Kanzler gegen
den Kaiser scharf zu machen? Will sie sich zum Schildhalter dieser Perfidie machen?
Man muß es annehmen, womit dann allerdings ein neuer trauriger Beweis für
das verhängnisvolle Unisichgreifen der Korruption des Konservatismus in Preußen
erbracht wäre. Seit zehn Jahren hat diese Fronde ihre giftigen Pfeile gegen die
Person des Kaisers abgesandt, weil sie ihre werbende Kraft auf den großen Haufen
kannte, seit zehn Jahren ist Von ihrer Presse alles aufgeboten worden, dem Kaiser
das Vertraue» der konservativen Masse der Landbevölkerung zu stehlen, und die
Kanalfrage in beiden Auflagen, ebenso wie die Koruzollfrage ist zu diesem Zweck
in geradezu beispielloser Weise ausgebeutet worden und wird noch ausgebeutet.
Und das nenut sich „noch konservativ"! Nicht uns kann die Kreuzzeitung diesen
Namen absprechen, sondern wir können ihn ihr absprechen, solange sie in dieses
Horn bläst. Und wie grnndunehrlich ist auch die Andeutung, wir hätten still¬
schweigend den „liberalen Unverschämtheiten" unser Wohlwollen bewiesen, wo wir
doch unausgesetzt die Impotenz, Entartung und Unehrlichkeit des Liberalismus
ebenso rücksichtslos gegeißelt haben, wie die Korruption des parlamentarisch über¬
mächtigen Parteikonservatismus, und wo wir immer und immer wieder hervor¬
gehoben haben, wie unendlich verhängnisvoller für das Gemeinwohl diese Korruption
ist, eben weil es Konservative sind, die ihr verfallen. Parteilugen, nichts als Partei¬
lügen sind es, mit denen die gutgläubigen Leute draußen noch im Bann der alten
Parteien festgehalten werden, und wer diesen Bann brechen will, wer über den
Parteien stehn will, der darf um Gottes willen nicht zu Worte kommen, der muß
totgeschwiegen oder totgelogcu werden, damit nur ja das Volk die Wahrheit nicht
hört und den Parteilügnern die Thür weist. Die Grenzboten können ein Lied davon
singen, sie haben schon lange die Ehre, von den Parteilügnern links und rechts ver¬
folgt zu werden, wie kaum ein andres politisches Wochenblatt in Deutschland.
Aber, Gott sei Dank, Lügen haben kurze Beine, auch die Parteilügen, auch die
nnter konservativer Flagge. Aber schon mehr als zu viel haben wir uns mit diesen
unerquicklichen Details der Parteitaktik von heute beschäftigt.
Zur Naturgeschichte der Parteipolitischeu Fälschungen im allgemeinen hat vor
einiger Zeit ein Wissender, wie es scheint, Herr Bneck vom Zentralverband deutscher
Industrieller, einen trefflichen Beitrag geliefert. In einer Versammlung des
Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland
und Westfalen sagte er bei der Besprechung der Kanalfrage nnter anderen folgendes.
Als er vor vielen Jahren für die dortige Industrie zu wirken begonnen habe, und
das Vereinsleben, dem er diente, die ersten großen Blüten gezeigt habe, da habe er
sich des Abends hingelegt und sei des Morgens aufgewacht mit dem Gednuken,
was zu beginnen sei, um die Aufmerksamkeit der Mitglieder zu erregen und sie
rege zu halten für die wichtigen Punkte, die das Interesse des Vereins erweckten.
So sei es auch in der großen Organisation der Landwirte. Wenn sich ein Agita¬
tionsmittel so außerordentlich ergiebig erweise, wie die Lehre, daß die Kanäle die
Interessen der Landwirtschaft schädigten, so lasse man als Leiter eines Vereins
eine solche Agitation nicht gern fahren. Darin sehe er die Ursache des zähen
Widerstands, der allen bessern Einwendungen zum Trotz gegen die Kanalvorlage
festgehalten werde. — Wer sich die Mühe genommen hat, die Praxis und das Wesen
unsers politischen und wirtschaftlichen Parteitreibens praktisch kennen zu lernen, wird
zugeben, daß der Mann weiß, und daß er auch die Wahrheit darüber sagt, wie
es gemacht wird. Aber verschließen sollte er sich auch der Erkenntnis nicht, daß
diese Praxis notwendig zu einer Korruption der politischen Gesinnung, zu einer
Verlogenheit im gesellschaftlichen, staatsbürgerlichen Leben führen muß, der nicht
scharf genug entgegengetreten werden kann. Was hat die Suche nach solchen er¬
giebigen Agitativnsmitteln nicht schon für Unrat angerichtet? Um so ärger, je
findiger die Sucher waren. Der deutsche Parteiliberalismus, der lange Zeit ein
gewisses Monopol dieser Findigkeit hatte, ist schließlich dadurch bankerott geworden.
Jetzt scheint sich der Parteikonservatismus mit Ungestüm auf die Sache zu werfen.
Wir fürchten sehr, er wird dabei gleichfalls bankerott werden. Das muncius vult
ciseipi, orZo ein-eipmwr ist ein zweischneidiges Schwert, das zuletzt immer den am
schwersten schlägt, der es führt. Vollends jetzt, wo die Zahl der klug gemachten
denn doch verhältnismäßig sehr dick großer ist als früher, und auch der große
Haufe es sehr viel übler nimmt, dumm gemacht zu werden. Mit dem alten Rezept
der parteipolitischer Fälschungen ihr Glück zu versuchen, wäre wahrhaftig das
dümmste, was die konservative Partei unternehmen könnte.
Als vor vierundvierzig Jahren die preußischen Konservativen im Landtage den
Steucrvorlagen der Regierung, wie es scheint, faktiöse Opposition machten, schrieb
König Friedrich Wilhelm IV. an Manteuffel folgenden Brief, den Poschinger
kürzlich veröffentlicht hat, und der bet der gegenwärtigen Lage ein eigentümliches
Interesse hat:
„Seien Sie so gut, lieber Manteuffel, den Herren Ministern in meinem Namen
den Auftrag zu sagen: »Ich sei nach vielfacher Überlegung und im lebhaften Gefühl
der Situation des Moments und der Stellung der Regierung und des Königs in
Person gegenüber der aristokratischen Opposition des Herrenhauses zum Entschluß
gekommen, die Steuervorlage je eher je lieber zurückzuziehn, d. h. vor Ende der
Osterferien.« Diese Opposition ist im Begriff und Anlauf, mich und die Minister
in eine schiefe Lage zu versetzen und verfolgt das Beginnen mit einer bedenklichen
Jnstance und Siegesgewißheit. Ich will weder mich selbst noch meinen höchsten
Rat der Gefahr aussetzen, im Blachfeld geschlagen zu werden. Die Konsequenzen
scheinen mir unberechenbar bei der höchst eigentümlichen Auffassungsweise deutscher
mißleiteter Aristokraten, bei der nach dem »Siege« veritablen Verdrehtheit derselben,
bei ihrer notwendigen Befestigung »ans dem Holzwege.« Wir müssen dieser
Aristokratie womöglich das lebendige Gefühl ihrer gefälschten Lage der Regierung
gegeuüber beibringen. Das geht, wenn nicht alles trügt, allein auf dem bekannten
Wege, den geschickte Ringer anzuwenden wissen. Durch plötzliches, unvorhergesehenes
Loslassen mitten im Ringen, wodurch der Gegenpart hintenüber fällt. Der Fall
auf den Hinterkopf kann hier das kranke Kopforgan gesund machen., Die Kur ist
eine heroische, ober ich weiß kein andres Mittel, aus der Situation heraus zu
kommen in einem Augenblick, wo diese Opposition nahe dabei ist, den Habitus eines
schnell wachsenden Polypen mit tausend Armen anzunehmen. Ich warne das Stnats-
ministerium vor einem Kampfe, bei welchem nichts gewiß ist als die Niederlage.
Gönnen wir dem Feinde den Katzenjammer, den ein plötzliches Nüchternwerden aus
dem Rausch hier gewiß erzeugt."
Wir können nur recht sehr wünschen, daß es der Regierung in Preußen wie
im Reich gelingen wird, den konservativen Parteien recht bald das lebendige Gefühl
ihrer gefälschten Lage der Regierung gegenüber beizubringen. In der preußischen
Kanalfrage sind sie ja vorläufig auf den Hinterkopf gefallen, aber ob das sobald
zu dem Nüchternwerden, das nötig ist, und dem Katzenjammer, den wir ihnen
gönnen, führen wird, steht noch dahin. Sie erhoffen noch auf einem andern Blach¬
feld den „Sieg," der sie natürlich erst recht „auf dem Holzwege" befestigen
würde. Das würde aber jeder, der wirklich konservativ denkt, aufs tiefste beklagen
Wer durch den östlichen Teil der
oberitalienischen Tiefebne fährt, der hat ein von jeder deutschen Landschaft weit
abweichendes Bild vor sich. Wo bei uns offne Feldbreiten weite Flächen bedecken,
und Dörfer um einen Kirchturm zusammengedrängt, von Grün umrahmt, dazwischen
liegen, da sieht er dort lange gerade Reihen von Maulbeerbäumen und Pappeln,
durch Weinreben verbunden, über die Felder ziehn, wie ein dichtgespanntes Netz,
das den Blick überall einengt, dazwischen halb versteckt zahllose weiße Einzelhöfe,
dann und wenn auch eine Kirche, ein stattliches Herrenhaus, aber keine Dörfer,
und er gewinnt leicht die Vorstellung, auf diesem üppigen Boden, der zugleich Ge¬
treide, Bäume und Wein trägt, müsse ein wohlhabendes glückliches Volk Hansen.
Leider trügt hier der Augenschein. Die Leute, die hier wirtschaften, sind fast niemals
die Eigentümer der Bauernhöfe, sondern Pächter ans kürzere oder längere Zeit;
die Besitzer dieser Herrenhäuser und der Fluren ringsum leben höchstens einige
Sommerwochen hier und kümmern sich nicht um die Bewirtschaftung, von der sie
auch gar nichts verstehn, sondern sie wohnen in den Städten und beziehn ihre Renten
von ihren Pächtern. Die Leute, die die Hauptarbeit thun, sind in der Mehrzahl
besitzlose Tagelöhner (^iornalieri, braoeikmri), die buchstäblich von der Hand in den
Mund leben und sich, wenn die ländliche Arbeit ruht, kläglich und kärglich durch
deu Winter bringen.
Unter diesem ländlichen Proletariat ist nun seit einer Reihe von Jahren eine
Bewegung entstanden, die ihren Mittelpunkt in der Provinz Mantua hat, dem
alten Herzogtum desselben Namens, und vou dort immer mehr in die Nachbar¬
landschaften übergreift. Man berechnet hier den durchschnittlichen Jahresverdienst
des erwachsenen ecmtgäino mit Einschluß dessen, was er vom Garten, vom Hühner¬
hof, von der Seidenwürmerzncht lösen kaun, auf etwa fünfhundert Lire, eine Summe,
die im Vergleich mit andern italienischen Landschaften nicht ungünstig erscheinen
mag, aber in der That doch niedrig genug ist. Doch noch viel drückender wirkten
wenigstens früher die Verdienstlosigkeit im Winter, die in manchen Gegenden der
Landschaft die armen Leute zwang, sich während dieser Zeit von wildwachsenden
Wurzeln zu ernähren, und die Unsicherheit der Lohnverhältnisse, da die Arbeiter
vielfach nur wochenweise ohne feste Bestimmung über den Lohn angenommen
wurden. Das führte denn fortgesetzt zu agrarischen Verbrechen aller Art, nament¬
lich zur Beschädigung der Weinreben und zu Brandstiftungen an Scheunen und
Ställen, die teils Racheakte waren, teils Verzweiflnngsthaten, um Arbeitsgelegen¬
heit zu schaffen, und die so überhnnd nahmen, daß die Fenerversicherungsgesellschaften
teils die Prämien verdreifachte», teils in dieser Provinz überhaupt keine Versicherungs¬
verträge mehr abschlossen. Endlich kam es 1884 zu großen Arbeitseinstellungen.
Die Behörden griffen scharf ein, über zweihundert Leute wurden verhaftet und im
Februar 1886 unter der Anklage des Aufruhrs vor das Schwurgericht in Venedig
gestellt. Dieses aber sprach sie frei, trotz der vielfach ausgesprochnen Befürchtung,
ein solches Urteil möge den offnen Aufstand entfesseln.
Dazu kam es jedoch keineswegs. Die Landarbeiter des Mantucmischen er¬
griffen zwar das Mittel der Selbsthilfe, aber nicht in der Form von Gewaltthaten,
sondern sie bildeten Arbeitsgenossenschasten (sooieta, coopeiÄtivo), die sich zu einer
Vereinigung für die ganze Provinz zusammenschlossen. Doch waren die Erfolge
zunächst nicht besonders günstig. Da griffen etwa seit 1890 die Sozinlisten be¬
sonders von Mailand aus in die Bewegung ein, und durch eine überaus rührige
Agitation in Wort und Schrift, die von städtischen, wissenschaftlich gebildeten
Männern geleitet wurde, gründeten sie eine Menge sozialistischer Verbindungen
l>eAUL) in der ganzen Provinz Mnntua, brachten schon im Juli 1893 die anfangs
widerstrebende Gesamtvereinigung der Arbeitsgenossenschaften sksäki^lors activ
cooxoi'g.divo) zum Anschluß und vereinigten endlich alle Iizgbs al migliorawento der
Provinz zu einer mächtigen Organisation, mit der auch die sozialistischen Vereine
der benachbarten Provinzen in Verbindung traten. Ihre Ziele: Verbesserung der
Löhne um 20 bis 60 Prozent der bisherigen und Verkürzung der Arbeitszeit
haben sie bis zu einem gewissen Grade schon erreicht, sie haben, wie ihre Freunde
behaupten, ihre Leute fest diszipliniert und sie mit dem Bewußtsein der Gemein¬
samkeit erfüllt, sodaß heute die agrarischen Verbrechen fast aufgehört haben, und daß
mich bei den aufrührerischen Bewegungen im Mai 1898 die Provinz Mantua voll¬
kommen ruhig blieb. Sie haben die Pächter und die Eigentümer gerade durch ihre
höhern Lohnforderungen zu intensiverer Wirtschaft durch ausgedehnte Verwendung
landwirtschaftlicher Maschinen und künstlicher Düngemittel, also zur Steigerung der
Erträge genötigt, und eben jetzt sind um Gonzaga und Ostiglia großartige Ent-
wässerungsarbciten begonnen worden, die mit einem Kostenaufwande von etwa zehn
Millionen Lire in drei bis vier Jahren mehrere Tausende von Hektaren vor den
Überschwemmungen des Po sichern und in fruchtbares Ackerland verwandeln sollen.
Jedenfalls ist die ganze Provinz Mantua „fast vollständig zum Sozinlismus belehrt"
und seine stärkste Burg in Italien geworden.
Dieses Ergebnis erfüllt mit stolzer Genugthuung und Zuversicht die eiuen,
wie einen ihrer thätigsten Führer, Enrico Fern, der in dem Riesenprvzeß von 1886
die Angeklagten verteidigen half und dadurch der warme Freund ihrer Sache wurde
(siehe seinen Aufsah in der Uuova, ^utolciAis,: I^s. lotta al ewsss nslls e«,wpag'lie>
Aantovans, Heft vom 16. April 1901), mit banger Besorgnis die andern. Diesen
Standpunkt vertritt z. B. der Senator Antonio d'Arco, der in demselben Prozeß
einer der wichtigsten Belastungszeugen war (II tvrmsnto nslls oamp^no Aantovans,
im Heft derselben Zeitschrift vom 1. April 1901). Nach seinen Ausführungen haben
vor allem ehrgeizige städtische Agitatoren die Bewegung veranlaßt und für sich
ausgebeutet. Bald aber würden die Grundbesitzer den erhöhten Arbeitslohn nicht
mehr zahlen können, ohne sich selbst zu ruinieren; sie würden, wenn etwa die
städtische Verzehrsstener auf Getreide (et^üio cU ocmsumo sul Aiano, d. h. Weizen),
wie vorgeschlagen worden ist, um fünf Lire für den Quintal (Zentner) herabgesetzt
würde, eiuen jährliche» Schaden von zusammen anderthalb Millionen erleiden, weil
das auch sie zur Preisherabsetzung zwingen würde; sie würden durch das alles un¬
fähig werden, ihren Betrieb zu verbessern, und das Kapital würde von landwirt¬
schaftlichen Unternehmungen abgeschreckt werden, das Grundeigentum also eine noch
gar nicht absehbare Entwertung erfahren. Aber auch die Arbeiter würden dadurch
schwer betroffen werden, und sie würden obendrein Gefahr laufen, daß Arbeiter aus
andern Gegenden Italiens, wo die Lohnverhältnisse noch ungünstiger lägen als im
Mantncmischen, einströmten und den Einheimischen die Arbeitsgelegenheiten ver¬
kümmerten.
Dem sei nun, wie ihm wolle. Jedenfalls hat d'Arco recht mit der Schlnß-
bemerkung: „Das Schauspiel (einer ganzen sozialistischen Provinz) ist so neu und
so wichtig, daß es die Aufmerksamkeit jedes Menschen erregen muß. Seine Be¬
deutung wird noch dadurch erhöht, daß sich die Organisation reißend schnell auf
die Nachbarprovinzen ausdehnt. Das würde in jedem Lande eine imposante Er¬
scheinung sein, aber sie wirkt noch alarmierender in einem armen Lande wie
Italien, wo die Kräfte der Klassen, die der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung
günstig sind, eine schwache Minderheit darstellen, die jetzt fast unfähig ist, den
Kampf mit den immer wachsenden und immer leidenschaftlichem Massen des Prole¬
tariats zu führen. Diese Ungleichheit der Kräfte ist für jeden, der zu sehen ver¬
steht, das charakteristische Merkmal, der Schlüssel für fast alle Erscheinungen und
fast alle Rätsel unsers Volkslebens." In diesen Worten liegt freilich das Ein-
geständnis, daß dus gegenwärtige parlamentarische Regiment in Italien den
Schwierigkeiten der innern Lage nicht gewachsen ist. Diese Erkenntnis scheint doch
auch dort allmählich aufzudämmern, bei allem Stolze auf die Freiheit des Landes;
wenigstens lesen wir im neusten Hefte der ^uovs, ^utoloAia, den Satz: „Italien
wird immer ein unglückliches Land fein, solange nicht in den hohen Staatsämtern
die Männer bleiben, die unbestritten die Probe bestanden haben, solange jeder
In dem „Kunstwart, herausgegeben von Ferd. Avenarius, findet sich
im ersten Märzheft ein mit K. H. unterzeichneter Anfsntz über „das Deutsch in der
Schule," der geradezu als eine grobe Verleumdung unsrer höhern Schulen bezeichnet
werden muß. An dem Bildungs- und Wissensstand eines heutigen Gymnasial- oder
Realschulabiturieuten falle bekanntlich, so sagt der Verfasser, „vor allem eins auf:
das Halb- und Scheinwissen, das prunkende Vielwisser, das an alle Dinge mit roher
Hand bereits gerührt hat, ohne auch uur sür eins sich ein tieferes und reicheres Ver¬
ständnis anzueignen," und es scheine die Signatur unsrer heutigen Schule zu sein:
„eine phrasenhafte Behandlung aller Wissenschaftlichkeit, ein gedankenloses Plätschern
an der Oberfläche, ohne jeden ernsthaften Versuch, einmal in der Tiefe Fragen zu
berühren, durch die vielleicht der Gang der Tretmühle ausgehalten werden könnte,
eine Unterdrückung aller feinern wissenschaftlichen und religiösen Anschauungen, ein
starres Festhalten an Dogmen auf allen Gebieten." Und diese sinnlose Heruuter-
ziehung dessen, was die deutschen höhern Schulen leisten, wird wie ein Ausdruck
der öffentlichen Meinung hingestellt. Die Resultate im klassischen Unterricht gipfeln
danach im allgemeinen darin, „daß man mit Mühe und Not einen Satz aus dem
Griechischen oder Lateinischen in ein undcntsches Deutsch übersetzen kann." Und
im deutschen Unterrichte sei weder von einem Eingehn ans die Entwicklung der
deutschen Sprache die Rede, „noch von einem Aufdecken der wundervollen Zu¬
sammenhänge bei der Bildung eines Wortes, der Nachahmung von Naturlauten
und Geräuschen, der Empsindungsauslösungen usw." Bei den Aufsätzen werde „in
sehr vielen Fällen" nicht die Äußerung eigner Gedanken von dem Schüler gewünscht,
sondern einfach, daß er „die Weisheit des Lehrers wiederhole," es komme sogar
vor, daß man „die Übertragung vollendeter Verse in schnlübliches Prosadeutsch und
die Ersetzung poetischer Wendungen und Worte durch gebräuchlichere" verlange.
Die Schullektüre werde mangelhaft gewählt. Es solle einmal die Frage beiseite
gelassen werden, „ob es nicht rätlich wäre, auch die Dichter mit heranzuziehn,
die das Fühlen der Gegenwart auszudrücken suchen, und deren Namen unsre Jugend
auf Schritt und Tritt begegnet," aber die Klassiker würden „verekelt," und mit
„echter Lyrik" — der Verfasser meint natürlich mit „moderner" — beschäftige
man sich überhaupt nicht. Und mit einem solchen Sammelsurium falscher Anklagen,
gedankenloser Forderungen und lächerlicher Ratschläge, bei denen man nicht weiß,
ob die Unkenntnis oder die Dreistigkeit größer ist, fällt man über unsre höhern
Schulen her, und anständige Zeitschriften öffnen solchem Geschreibsel ihre Spalten!
Das ist auch ein Zeichen unsrer Zeit. Eine Widerlegung verdient dieser Unsinn
is einen Notschrei wird man eine Schrift bezeichnen können,
die Bozidar Nikaschinowitsch (im Kommissionsverlag von Thor¬
mann und Goethes in Berlin, 1901) herausgegeben hat unter
dem Titel „Bosnien und die Herzegowina nnter der Verwaltung
der österreichisch-ungarischen Monarchie und die österreichisch-
ungarische Balkanpolitik, Eine politisch-ökonomische Darstellung der gegen¬
wärtigen Zustände in vier Bänden." Der erste Band behandelt auf 171 Seiten
den Berliner Kongreß von 1878 nud die Agrarfrage. Bezieht sich der aus¬
gesetzte Preis von 6 Franken 25 Centimes auf diese 171 Seiten, so darf er
wohl als ein Phantasie- und Liebhaberpreis bezeichnet werden. Druck und
Papier sind zwar gut, aber Ausstattungskosten hat diese, wie wir sagen würden,
volkswirtschaftliche Studie gnr nicht verursacht, da ihr keinerlei Karten, Pläne,
Tabellen oder Abbildungen beigegeben sind, und was den Inhalt betrifft, so
kann von irgend welcher kostspieligen Arbeit des Autors keine Rede sein.
Dieser — früher Lehrer in Neljevo — ist nicht nur, wie er sagt, des Deutschen
unvollkommen mächtig, soudern sein Buch enthält neben vielen Schnitzern, die
der Verlag nicht hätte durchgeh« lassen sollen, auch vielfach Sätze, die man
uicht versteh» kann. Dazu kommt, daß Verwechslungen von Knltnsfreiheit
und Kulturfortschritt (S. 21), vou paralysieren und parallelisieren (S. 148)
doch über eine bloße Unvollkommenheit in der Sprache ziemlich weit hinaus-
ttchn, und wenn Herzog Wilhelm von Württemberg, der Organisator von
Bosnien und der Herzegowina nach der österreichischen Okkupation, wiederholt
als „Großherzog von Württemberg" bezeichnet wird, so beweist dies eine große
Politische Unwissenheit im allgemeinen und eine verblüffende Unkenntnis des
Allerwichtigsteu von der unmittelbarsten Vergangenheit der behandelten Länder
im besondern. Hätte Nikaschinowitsch von den zwei namhaften Werken, die über
Herzog Wilhelm erschienen sind, much nur das letzte, die ausführliche und vor¬
treffliche Lebensbeschreibung von Oskar Treuber (Wien, Seidel und Sohn, 1889)
einem eingehenden Studium unterworfen, so wäre er in der Lage gewesen, eine
wertvolle und dabei seinen Österreich feindlichen Bestrebungen sehr viel mehr
dienliche Arbeit zu liefern.
Statt dessen giebt er auf Seite 1 bis 24 seines Buchs den Abdruck von
Artikel 25 des Berliner Kongresses und der sich anschließenden Konvention
zwischen Österreich-Ungarn und der Türkei, sowie der österreichisch-ungarischen
Proklamation beim Einmarsch in Bosnien mit einigen oberflächlichen Rand¬
bemerkungen und bespricht Seite 25 bis 150 unter einer Flut von Anschuldi-
gungen gegen den Reichsfinanzminister von Knllay und Seitenlängen, balknn-
bündlerischen und scrbophileu Drohungen gegen den Kaiserstaat „die Agrar¬
frage" und „die landwirtschaftlichen Institutionen der neuen Verwaltung,"
ohne etwas wesentlich andres zu bringen, als was die im Anhang Seite 151
bis 171 veröffentlichte Bittschrift böhmischer Bauern um den Kaiser vom
20. April 1897 schon enthält. Von der Bittschrift unterscheiden sich Nika¬
schinowitsch eus Ausführungen nur durch ihre uoch handgreiflichem Über¬
treibungen; so wenn er (S. 75) den Zustand unter türkischer Herrschaft als
ideal gegenüber dem unter österreichischer darstellt. Wer Karl Brauns türkische
Reise (Stuttgart, 1876 bis 1878) gelesen hat, weiß, was man davon halten
muß, noch mehr weiß das, wer in der Türkei gelebt hat. Wenn Nikaschinowitsch
(S. 67 ff.) herausrechnet, der böhmische Bauer müßte selbst in Normaljahreu
nicht nur seine ganze Ernte drangeben, sondern alljährlich noch einen Teil
seines Viehs veräußern, nnr um seine Steuern und Abgaben zu bezahle», so
muß man doch sagen, einen solchen jährlichen Ruin hätte das Land nicht
zwanzig Jahre lang aushalten können.
Wenn hier an das Buch von Nikaschinowitsch eine eingehendere Be¬
sprechung der höhnisch-herzegowinischen Zustünde geknüpft wird, so liegt hier¬
nach die Veranlassung dazu in diesen Zuständen selbst. Einerseits ist die
böhmische Agrarfrage volkswirtschaftlich sehr interessant und nach Überwindung
der Hörigkeit im übrigen Europa einzig in ihrer Art, andrerseits sind die leb¬
haften Ausbrüche des Hasses gegen das von innern Stürmen erschütterte
Österreich in den okkupierten Gebieten der Balkanhalbinsel, wie sie dieses Buch
bringt, bei der nimmerrnhenden Thätigkeit von Nußland in dieser Wetterecke
von Europa wohl der Aufmerksamkeit wert.
Während überall in Europa, sogar in Nußland, im neunzehnten Jahr¬
hundert die letzten Reste der Leibeigenschaft aufgehoben wurden, fanden die
Österreicher sie bei der Okkupation von Bosnien und der Herzegowina im
Jahre 1878 in voller Blüte vor, und zwar hatte diese Wirtschaftsverfassung
in dein fast nur Ackerbau und Viehzucht treibenden Lande deshalb ein be¬
sonders übles Aussehen, weil die Gutsbesitzer Muhammedaner waren, während
die „Kneten," die an die Scholle gelmndnen hörigen Bauern, als Christen
zum weit überwiegenden Teil der orientalisch-katholischen, zum kleinern als
„Lateiner" der römisch-katholischen Kirche angehörten. Dieser doppelte Gegen¬
satz zwischen dem muhammedanischen Gutsherrn und den christlichen Schollen-
dauern wurde zwar unter türkischer Herrschaft zeitweise zurückgedrängt durch
eine milde und nachsichtige türkische Proviuzialregieruug und durch die patriar¬
chalischen Sitten, die nicht nur unter der Naja, sondern auch zwischen dieser
und den muhnmmcdanischen Gutsherren walteten, führte aber dazwischcuhiueiu
immer wieder zu blutigen Aufstünden und Kämpfen in dieser am weitesten
zwischen Länder einer mehr fortgeschrittncu Wirtschaftsvcrfassuug hinaus vor¬
geschobnen türkischen Provinz; zuletzt zu den schweren Aufständen, die seit 1875
in diesen Landen wüteten und im Bunde mit den bulgarischen Metzeleien zu
den Kriegen Serbiens, dann Rußlands und Rumäniens gegen die Türkei 1876
bis 1878 führten.
Der unmittelbare Erfolg dieses Kriegs war für Rußland der, daß es sich
südöstlich wieder bis an die Donau vorschob und hier das im Krimkrieg Ver¬
lorne Land wieder gewann; der mittelbare aber, und uoch viel bedeutendere,
war, daß die südslawische Bevölkerung der Balkanhalbinsel wieder ihr ganzes
Vertrauen auf den rassen- und religionsverwandten Zarenstant im Osten setzte.
Ganz abgesehen davon, daß Osterreich nun durch die rumänisch-russisch-bul¬
garische Barre der Ausweg nach dem Schwarzen Meer endgiltig versperrt
war und nur noch die eine Aussicht blieb, bei einem etwaigen Verfall der
Türkei über Saloniki ans Meer gelangen zu können, mußte Österreich im Hin¬
blick uns diese Stimmung in der Balkanhalbinsel ein Gegengewicht suchen gegen
das Überwiegen Rußlands. Dieses suchte und fand Andrassy auf dem Berliner
Kongreß, von Bismarck kräftig unterstützt, in einer Besetzung von Bosnien
und der Herzegowina, auf deren Gewinnung schon Radetzky und Tegetthoff
hingewiesen hatten, indem sie es für unmöglich erklärten, das schmale Dal-
matien auf die Dauer zu halten, wenn nicht dessen Hinterland in Österreichs
Hände komme. Den Rechtsgrund aber für das europäische Mandat zur Be¬
setzung von Bosnien und der Herzegowina, das Österreich erteilt wurde, gaben
die vielfachen laugen Unruhen hier, die für den benachbarten Kaiserstaat
namentlich auch dadurch empfindlich waren, daß z. B. 1878 nicht weniger als
150000 Flüchtlinge aus deu Aufstandsgebieten von ihm erhalten werden
mußten.
Daß min Österreich mit der Übernahme dieses Maubads die Verpflichtung
mit übernommen habe, much die Quelle dieser Unruhen zu verstopfen und die
überlebte Baucruhörigkeit auch hier abzuschaffen, kann kaum bestritten werden.
Dazu kommt aber das weitere, daß es auch sehr im politischen Interesse Öster¬
reichs gewesen wäre, wenn es, und zwar in kürzester Frist, in den von ihm besetzten
Gebieten Zustände geschaffen hätte, auf die die in weit überwiegender Zahl
bäuerlichen Bewohner der Balkanhalbinsel mit Bewundrung und Neid hätten
sehen können. Ein solches Imponderabile wäre für die Zukunft von Öster¬
reichs Orientpolitik von weit größerer Bedeutung gewesen als jede positive
Machtstellung und Erhöhung seiner eignen Angriffsfähigkeit, und uach Er-
reichung oder auch nur Anbahnung dieses Erfolgs Hütte kaum das Urteil mehr
ausgesprochen werden können, zu dein sich Adolf Beer 1883 in seinein Werke
„Die orientalische Politik Österreichs seit 1774" veranlaßt sieht: „Soweit sich
die Tragweite der Oricntpolitik des Grafen Andrässh gegenwartig überblicken
läßt, ist dem österreichischen Staate keinerlei Vorteil aus derselben erwachsen,
und eine wcitcrblickende Staatsleitung würde durch andre Mittel den berech¬
tigten Interessen Österreichs im Oriente Rechnung getragen haben."
Zur Erreichung des gesteckte» hohen Ziels für Österreich war niemand
geeigneter als Herzog Wilhelm von Württemberg, der als erster Organisator
in das Land kam. Die Aufgabe war sehr groß, die ihm durch die chaotischen,
in vierhundertjähriger Mißwirtschaft völlig verkommnen Zustände des Landes
und die verwickelten Verhandlungen der neuen Negierung mit den Zentral¬
behörden erwachsen war. Im Lande selbst fehlten bis auf die fahrbaren
Straßen alle Einrichtungen, die als Basis eines modernen Kulturlebens un¬
erläßlich sind; überall waren Ruinen und Brandstätten, und was die Bevölke¬
rung betraf, so war der materiell und der Intelligenz nach bedeutendste Bruch¬
teil der Bevölkerung, der muhammedanische, feindlich gesinnt; der seiner Zahl
nach größte Bestandteil der Bewohnerschaft, das serbisch-orthodoxe Element,
sah wohl die Okkupation nicht ungern, stellte aber an das neue Regime die
unerfüllbare Forderung der Umwälzung der bestehenden, auf gesetzlicher Grund¬
lage ruhenden Agrarverhältniffe. Ein kleiner Bruchteil endlich, der römisch¬
katholische, erwartete von der katholischen Großmacht eine weitergehende Patro-
nisierung, als mit der Gerechtigkeit vereinbar war. Daß der zur Lösung seiner
Aufgabe von der Natur besonders begünstigte Herzog Wilhelm scheiterte, liegt
trotzdem weniger an den traurigen Zuständen des Landes, als an ünßern Ur¬
sachen. Vor allem an der Unzulänglichkeit der Mittel, die Österreich für die
neugewonnenen, so weit zurückgebliebnen Gebiete aufwandte. Von Anfang an
wurde dem Herzog die möglichste Sparsamkeit empfohlen, die Notwendigkeit von
Aufwendungen und Darlehen zwar anerkannt, die Höhe etwaiger Zuschüsse aber
in keiner Weise festgestellt. Von vornherein war sich der Herzog klar über die
Notwendigkeit, ein Kataster als Vorbedingung für die Regelung der agrarischen
Verhältnisse aufzustellen, und er verlangte ein Programm für den systematischen
Ausbau der Straßen und der dauernden Truppeuuuterbriuguug, einen Eisen¬
bahnbau bis Sarajevo und die Vollendung der Bahn Sissck-Baujaluka, endlich
brachte er die Notwendigkeit einer hinreichenden Dotation für die Hebung des
Ackerbaus und des Schulwesens und für Gotteshäuser aller Konfessionen zur
Sprache. Allein das Katnsterprojekt ging verloren; bezüglich der Schulen, wobei
er mit gutem Grunde ans Jnterkonfessionalität drang, erhielt er erst nach
monatelangem Warten eine ausweichende Antwort. Als endlich des Herzogs
Klagen über die böhmische (Vcrzögernngs ^Kommission Gehör gefunden hatten,
und Baron Hofmann als Reichsfinanzminister die böhmischen Agenten in sein
Ressort erhalten hatte, war kaum viel gewonnen. Denn die Weisungen, die
Baron Hofmann von Anfang an empfing, gingen vor allem auf eine möglichst
regelmäßige und ausgiebige Eintreibung der bestehenden Steuern, sodann
dahin, daß die Administration, den Sicherheitsdienst einbegriffen, so wohlfeil
gehalten werden müsse, daß sie jedenfalls durch die eignen Einnahmen gedeckt
werde; ja man hoffte sogar, die erforderlichen militärischen Organisationen
würden dnrch die Landeseiukünfte gedeckt werden können und erwartete, man
werde von den Einkünften noch so viele Mittel erübrigen, daß man damit unter
Ausnützung der technischen Truppen die bleibende Herstellung der Kommuni¬
kationen betreiben könnte.
Während der Herzog so beim Neichsfinanzministcrium auf die äußerste
Kargheit stieß, fand er mit seinen Straßen- und Bahnentwürfen nicht einmal
beim Neichskriegsministerium llnterstütznng. Erst im Laufe langer Jahre
wurde wenigstens ein Teil von Herzog Wilhelms Forderungen erfüllt, nach¬
dem inzwischen ganz unverhältnismäßige Summen für die Verpflegung der
Truppen in dein kommnnikationslosen Land verbraucht worden sind, und auch
heute ist die militärisch und handelspolitisch gleich wichtige Bahnverbindung
von Bosnien mit der Küste nur erst auf der Linie Metkvvitsch-Mostar-Sarajevv
erreicht, die Verbindung der Nordgruppe der dalmatinischen Häfen Sebcnieo-
Tran-Spalato mit dem böhmischen Hinterland aber immer noch ebensowenig
hergestellt als die Bahnvcrbindnng mit deren Südgrnppc, mit Gravosa und
den Boeche ti Cattaro, einem der größten und bedeutendsten natürlichen Kriegs-
und Haudelshüfen, die die Welt überhaupt kennt.
Auf den stärksten Widerstand stieß Herzog Wilhelm in Wien jedoch bei
seinen Bestrebungen, das Schulwesen auf interkonfessioueller Grundlage zu
heben. Offenbar wirkte ihm hier uicht nur der lokale Fanatismus der Muham-
mednner und namentlich der Griechisch-Orthodoxen entgegen, sondern auch die
uicht minder verbohrte römisch-katholische Unduldsamkeit im Zentrum des Reichs.
Immerhin gelang es dem Herzog, mit der im ganzen Lande eingeführten
Katastralvermcssnng die Basis zu schassen, die Besitzverhältnisse genan fest¬
zustellen, die Steuerkraft in rationeller Weise zu heben und zu regeln, die
Grundlage zur Heranziehung von Arbeitskräften und Knlturelementen dnrch
Kolonisation zu gewinnen; dazu kamen die Anbahnung der topographischen Auf¬
nahme des Landes, eine Volks- und Viehzählung und eingehende Nnch-
forschuugeu nach den. schon im Altertum teilweise bekannte» reichen Erzlager¬
stätten des Landes. So war schon im Jahre 1879 eine Wandlung auf allen
Gebieten des öffentlichen Lebens angebahnt oder in vollem Zuge. Überall
reges, thatkräftiges Leben, zukunftsreiche Plane und Entwürfe, mit deren Aus¬
führung nicht gezögert wurde, solange es Geld in den Kassen gab!
Während aber der Herzog wie alle schöpferischen Geister zunächst fast nur
Undank bei der Bevölkerung erntete, sodaß er zu der verstimmten Äußerung
kam, „das System unparteiischer Gerechtigkeit mache schließlich unbeliebt bei
allen Teilen der Bevölkerung," mußte er sich schon 1880 überzeugen, daß es
ganz unmöglich sei, die gestellte Aufgabe mit den vorhandnen Mitteln und Kräften
zu bewältigen. Aus des Herzogs hinterlassenen Papieren geht klar hervor,
wie er einerseits mit dem Mangel einer sichern, einheitlichen und verständnis¬
vollen Zentralleitnng zu kämpfen hatte, andrerseits damit, daß nicht mir die
finanziellen Mittel ungenügend waren, sondern es auch an der erforderlichen
Zahl und Tüchtigkeit des Beamtenpersonals fehlte. Was Trenbcr hierüber
veröffentlicht, ist deshalb vom größten Interesse, weil es nicht mir das Scheitern
Herzog Wilhelms in den Okkupationsgebieten und die nicht völlig befriedigenden
Ergebnisse der österreichischen Verwaltung in diesen erklärt, sondern weil es
einen Einblick gewährt in die Gründe der Verwirrung und des Niedergangs im
heutigen Österreich überhaupt. Neben den Weisungen seiner hinlänglich zahl¬
reichen unmittelbar und mittelbar vorgesetzten Behörden empfing er noch von
besondrer Stelle Direktiven, offenbar vom Kaiser selbst. Diese Direktiven trafen
nun zwar nicht nur mit seinen eignen Anschauungen zusammen, souderu trugen
auch der Sachlage am besten Rechnung, entsprachen aber durchaus nicht immer
den Ansichten seines vorgesetzten Ministeriums. Neben rückhaltloser Anerkennung
des Geleisteten durch den Monarchen enthalten diese Briefe positive Ratschläge
und Hinweise auf besondre Wünsche, aber oft mit dem einschränkenden Vermerk,
davon nach keiner Richtung Gebrauch zu machen, da man in gewissen Ämtern
andrer Allsicht sei, weshalb eine Durchkreuzung des Gewünschten zu fürchten
wäre. Dazu kam dann noch die auffallende Verschiedenheit der Ansichten bei
der österreichische» und der ungarischen Regierung über einzelne sehr wesent¬
liche Einrichtungen im Okkupationsgebiete, wie Eisenbahnen, Schulen usw.
Der Herzog mußte angesichts dieser divergierenden Anschauungen und Stand¬
punkte zu dem Glauben gelangen, daß man an der Zentralstelle selbst kein
feststehendes Prinzip, kein klares Ziel habe.
Man sieht, ganz abgesehen von den Reibungen zwischen Militär- und
Zivilbehörden, einen verwickelten, reibungsreichen Verwaltungskörper, dabei
ein an Zahl und Güte unzulängliches Ausführungspersonal, und zu cilledcm
noch den schroffen Gegensatz zwischen den ungarischen und den österreichischen
Interessen und Ansichten, der einen unwillkürlich an die Karikatur von 1848
erinnert, die die Germania unter dem Doppeladler in Verzweiflung auf einem
Wagen darstellt, an dem vorn und hinten Pferde nach beiden Seiten hin aus
Leibeskräften ziehn. Kaum irgendwo aber wird man das Bild des Kaisers
so deutlich gezeichnet finden wie hier, wo er sich voll Verstand zeigt in der
Beurteilung dieser so ganz besonders schwierigen Angelegenheit, während ihm
zugleich einerseits die Macht oder die Entschiedenheit fehlt, sein besseres Wissen
in die That umzusetzen, andrerseits die Entsagungsfühigkeit, sich des Drein-
sprechens und einer uuter alleu Umstände» am meisten verderblichen Neben¬
regierung zu enthalten. Sollte dies nicht den Schlüssel in die Hand geben
zum Verständnis der unglückseligen Lage überhaupt, in der Osterreich heute ist?
Rechnet man dazu, in welchem Umfang Herzog Wilhelm mit religiösen,
politischen und nationalen Vorurteilen, mit Selbstsucht und Protektioussucht
kämpfen mußte, wie oft der dem Soldaten gegenüber hervortretende büreau¬
kratische Unfehlbarkeitsdünkel Verlegenheiten bereitete, zieht man noch das
Intriguen- und Denunziautentum, unvermeidliche Chnrakteriftika jeder Ver¬
waltung im Orient, in Betracht und bedenkt man, daß er in ganz unglaub-
licher Weise durch die Klagesucht der Bevölkerung in Anspruch genommen
war, die dann folgerichtig bei manchen seiner Beamten ein rauhes und brutales
Benehmen erzeugen mußte, so kann man die Treue, mit der Herzog Wilhelm
aushielt, uur bewundern.
Schon im Dezember 1879 hatte der Herzog den drohenden Aufstand
vorausgesagt. Das fiskalische Borgehu der dem Einfluß des Herzogs fast
gänzlich entzognen, ja später ihm programmmäßig entgegengesetzten Landes-
finanzdirektion, Mißgriffe einzelner untergeordneter Organe, vor allem aber die
Schwäche des Ministeriums, jede Klage und Beschwerde durch eine kleine Kon¬
zession zu beruhigen, nährte die Unzufriedenheit. Wollte der Herzog nicht
schließlich die Verantwortung für die vou ihm bekämpfte Mißregiernng des
Landes mitübernehmen, so blieb ihm nichts übrig als zu gehn. An die Stelle des
Baron Hofmann, der den Herzog verehrte und ihn der nachdrücklichsten Unter¬
stützung versichert hatte, war 1880 der Ungar Joseph Slavy als Neichsfinanz-
minister getreten, und das Verhältnis des Herzogs zu diesem war keineswegs
günstig. Zu diesen persönlichen Verstimmungen kam aber und gab den Ausschlag,
daß der traurige Grundsatz der möglichsten Selbsterhaltung des Landes in Wien
siegte und im Budget von 1881 Anerkennung fand. Wenn Trenber sagt, der
Herzog sei unter diesen Umständen zu der Überzeugung gekommen, daß er gegen
eine Strömung nicht auszukommen vermöge, die die Erfüllung der durch die
Regierung gestellten Fordrungen mit den verfügbaren bescheidnen Mitteln von
einem besonders geschäftskundigen Manne modernster Schule, der frei von allen
Bedenken die Kunst der Bndgetregierung und der politischen miss la sehne
beherrscht, zu erwarten schien, so wird der kurze Sinn dieses etwas gewundne»
Ausdrucks sein: Der gescheite und grundehrliche Mann wollte sich nicht zu dem
einfältigen Schwindel hergeben, den man den österreichisch-ungarischen Parla¬
menten und der Welt vorzumachen gedachte, als habe mau über Nacht und
kostenlos die in Bosnien und der Herzegowina übernommne schwere Aufgabe
gelöst.
Damit man sich, wenigstens nach dem vorauszusehenden Krach einer
solchen miscz «zu soöns, der bleibenden Aufgaben im Okkupationsgebiet ent¬
sinnen könne, reichte der Herzog vor seinein Rücktritt eine Denkschrift ein; von
ihr sagt Treuber, auf dessen Angaben sich diese Ausführungen in weitem Um¬
fange wörtlich stützen: „Heutzutage haben die Ratschläge des Herzogs die Zu¬
stimmung aller Kenner böhmischer Verhältnisse erlangt." In dieser Denkschrift
verlangt er eine Regelung des Steuerwesens mehr nach nationalökonomischen als
nach deu allerdings bequemern fiskalischen Grundsätzen. Vor allem aber fordert
er die Schaffung eines freien Bauernstandes unter Wahrung der gerechten An¬
sprüche beider Parteien, des muhammedanischen Grundherrn wie des christlichen
Kneten (Pächters). Er warnt vor den politischen Gefahren eines laissör Wrg
auf dem Gebiete des Volksunterrichts, das bei dem Maugel an Interesse bei den
Muhammedanern nnr das orthodoxe Element fördern und in wenig Jahren
Z»r absolutem Herrschaft des serbischen Elements führen winde; dem entgegen
dringt er wieder auf interkonfessionelle Schulen mit Schulzwang, Einer Teil¬
nahme der Eingebornen an der Regierung steht er zunächst völlig ablehnend
gegenüber, da es den Muhammedanern an allen Kenntnisse«, den Christen an
Fähigkeit und Autorität hierzu fehle. Dagegen sieht er in der Errichtung einer
höhnisch-herzegowinischen Wehrkraft für die Zukunft ein Mittel, die öster¬
reichische Heeresmacht zu vermehren, da die Kriegstüchtigkeit der Bewohner
der okkupierten Länder außergewöhnlich groß sei. Vor allein aus strategischen
Gründen aber verlangt er die Schaffung von Kommunikationen; denn ein
Gebirgslnnd wie Bosnien und die Herzegowina sei ohne solche für die Offensive
unbrauchbar, da fich weder Truppen noch Nachschübe bewegen könnten, in
der Defensive eine Falle für die dort stehenden Truppen.
Völlig verwirft er das Verlangen des Ministeriums, daß unter Bei¬
behaltung der gegenwärtigen Organisation die Einnahmen des Landes alle Be¬
dürfnisse decken und nur solche Aufwendungen gemacht werden sollten, deren
unmittelbarer Gewinn in sicherer Aussicht stehe. Diese Fordruug, sagt der
Herzog, schade dem materiellen Aufschwung, untergrabe die Autorität, hemme
den Fortschritt und gefährde politisch wie militärisch die Stellung Österreichs
im Lande. Habe man dem Lande eine seinen momentanen Bedürfnissen kaum
entsprechende moderne teure Verwaltungsorganisation gegeben, so sei man ver¬
pflichtet, ihm auch die erforderlichen Mittel zu den wichtigster, Jnvestiernngen
zu reichen, damit es sich hebe und die auferlegte Organisation zu trage» ver¬
möge. Während er sich demnach dagegen wehrte, daß der Chef der Landes¬
regierung zu einer Figur degradiert werde, die sich uach der jeweilig im
Ministerium herrschenden Strömung bewegen solle, verlangte er für die nächsten
Jahre ein von den unzuverlässigen schwankenden Landeseiuuähmen unabhängiges
Normnlbudget und nu Stelle der Politik von Fall zu Fall die Aufstellung
eines Arbeitsprogramms für einige Jahre voraus.
Wie bekannt, brachte das provisorische Wchrgesetz vom 24. Oktober 1881,
das die allgemeine Wehrpflicht auf Bosnien und die Herzegowina sowie ans
die Bocchesen der Krivosije Süddalmatiens ausdehnte, die sich schon 1869 mit
Erfolg gegen diese aufgelehnt hatten, im Okkupationsgebiet die Unzufriedenheit
vollends zur Reise. Der allgemeine Aufstand namentlich auch in der Herzego¬
wina wurde 1882 durch Feldmarschallleutnant Jovanovitsch niedergeschlagen,
und an die Stelle Slnvys trat im Juni 1882 als Neichssiuanzminister, dem,
unter Beihilfe des ständigen böhmischen Bnrenus in Wien, die Regierung des
Okkupationsgebiets zusteht, Benjamin von Kallav, der in Belgrad sechs Jahre
lang als Generalkonsul thätig gewesen war und während dieser Zeit mehrfach
große Reisen in der Balkanhalbinsel gemacht hatte, und daun auch als Delegierter
der ostrumelischcn Kommission um Berliner Kongreß 1878 teil genommen hatte.
Eine gute Kenntnis der Balkanhalbinsel und des Serbentums, also der Bevölke¬
rung auch von Bosnien ihrer Hauptsache nach — 1877 gab er einen ersten
Band einer serbischen Geschichte heraus —, ist demnach bei ihm vorauszusetzen,
und es wird vou ihm gerühmt, er sei für die Hebung der okkupierten Gebiete
mit großem Erfolge thätig gewesen. Wenn man nun aber auch den fortgesetzten
gehässigen Angriffen von Nikaschinowitsch auf den Minister von Kallay kein
allzugroßes Gewicht beilegen wird, und sich eines abschließenden Urteils ent¬
halten wird, bevor mau das von der Landesregierung 1899 zu Sarajevo
heransgegebne Werk „Die Volkswirtschaft in Bosnien und der Herzegowina"
gesehen hat, so bleibt es doch auffallend, daß Treuber seine angeführten scharfen
Äußerungen über den Routinier einer Parlaments- und Budgetregierung nicht
etwa auf den unmittelbaren Nachfolger des Barons Hofmnnn, Slavy, beschränkt
hat, und daß er nirgends von einer Erfüllung der Aufgabe spricht, die Herzog
Wilhelm einer das wirkliche Wohl der okkupierten Länder mit Ernst betreibenden
Regierung in seiner Schlußdenkschrift gestellt hat. So wird man auch den
Einwendungen, die Nikaschinowitsch gegen die Landesregierung von Bosnien
und der Herzegowina unter Kallay erhebt, immerhin Beachtung schenken dürfen.
Freilich den Mißgriffen bei der Einführung von Musterwirtschaften, beim
Zuckerrübenbau und bei den Versuchen, die Rindviehzucht zu heben, über die
sich Nikaschinowitsch umständlich verbreitet und lustig macht, wird man keine
nllzugroßc Bedeutuug zumessen, auch wenn die Versehen in dem angeführten
Umfang gemacht worden wären. Es scheint aber sowohl ans der Jmmediatein-
gabe böhmischer Bauern von 1897 als aus den Darlegungen Nikaschinowitschens
über die Agrarfrage in den Okkupationsgebieten hervorzugehn, daß dieses wichtigste
Problem in keiner befriedigenden Weise gelöst worden ist. Im Gegenteil, allem
Anschein nach hat sich die Lage der böhmischen Bauern unter österreichischer
Regierung wenigsteus teilweise verschlechtert.
Unter türkischer Herrschaft mußte der christliche Bauer außer der Militür-
stener und der Hutweideabgabe ein den Staat oder an den Steuerpächter in rmwra,
deu Fruchtzehnten abliefern; außerdem mußte er um den gleichfalls muham-
medanischen Gutsherrn ein Drittel der Ernte abgeben, jedoch erst nach Abzug
des zur Aussaat erforderlichen Getreides. Dafür aber dürfte er von der
Scholle nicht entfernt werden, außer bei einer durch gerichtliches Erkenntnis
festgestellten Vernachlässigung der Arbeit. Während aber schon bei der An¬
legung der Kataster durch Ungenauigkeiten, die natürlich mehr die unwissende
Masse der Schollenbanern als die Gutsherren trafen, namentlich die Weide¬
rechte verkürzt wurden, verschlimmerte sich die Lage der Bauern, die nun
kurzerhand als Pächter bezeichnet wurden und damit von der Scholle viel
leichter entfernt werden konnten, besonders dadurch, daß der Zehnte nunmehr
dor Abzug der erforderliche« Saatfrucht in Geld statt in imwrg, entrichtet
werden muß, und zwar statt in vier Jahresraten in einer einzigen in den
Monaten Oktober bis Dezember, wo der Frnchtprcis am niedrigsten steht, daß
ferner die Schätzung auf dem Halm erfolgt und vou einer Kommission vor¬
genommen wird, in der nicht mir der Vaner in der Minderheit ist, sondern
in der die Mehrheit an einer möglichst hohen Schätzung direkt interessiert ist.
Doppelt und dreifach empfindlich ist dies dadurch, daß nach dem für deu
Staat geschätzte» Zehnten das an den Gutsherrn zu liefernde Drittel bemessen
wird. Dazu kommt dann, daß Agrarstreitigkeiten, die unter türkischer Herrschaft
zur Kompetenz der ordentlichen Gerichte gehörten, unter österreichischer den Ver¬
waltungsbehörden zur Entscheidung überwiese» worden sind, was gleichfalls
zum Nachteil der Bauern nusschlagen muß. Man wird kaum leugnen können,
daß man hier eine rein fiskalische, also recht kurzsichtige Behandlung der Agrar¬
frage in Bosnien und der Herzegowina dnrch die österreichische Regierung vor
sich hat. Von der Schaffung eines tüchtigen freien Bauernstandes, wie sie
Herzog Wilhelm geplant hatte, und wie sie bei der Indolenz der Südslawen anch
ohnedem schwierig genng wäre, ist man anch noch dadurch weiter abgekommen,
daß man den Bauern, der als Höriger früher in patriarchalischer Natural¬
wirtschaft mit dem Gutsherrn zusammen lebte, zum Pächter herabgedriickt hat,
dem nicht einmal der Schutz des Richters in seinen wirtschaftlichen Verhältnissen
zusteht.
Daß diese Verschlimmerung ihrer Lage eine große Mißstimmung in weiten
Kreisen der serbische» orthodoxen Bevölkerung gegen den katholischen Kaiser¬
staat erzeugt hat, das kann man ans der Jmmediateiugabe böhmischer Bauern
an den Kaiser von 1897 klar ersehen, und Nikaschinowitsch giebt dieser Ver¬
stimmung sehr unzweideutigen Ausdruck. Ju den schärfsten Worten beschwert
er sich über die Bedrückung der orthodoxen Serben wie der Muhammedaner,
über eine unerhörte Proselytenmncherei der katholischen Propaganda. Er ruft
die brüderliche Teilnahme der slawischen Nachbarvölker an. Indem er Serbiens
sämtliche Mißerfolge der Hinneigung Milans zu Österreich zuschreibt, das
Fiasko der österreichischen Politik in Bulgarien darzuthun sucht und Montenegro,
dessen Fürst nitida ein Ideal aller Serben ist, gegen den Kaiserstaat aufzu-
hetzen sich bemüht, muntert er auf zur Schaffung eines slawischen Balkanbnndes,
der für sich immer einen Schutz bei dein mächtigen Rußland finden werde, dem
bluts- und konfessionsverwandten Lande, dem von der ganzen Welt Ehrfurcht
erwiesen werde.
Den: Notschrei eines, wie es scheint, aus Österreich geflüchteten Lehrers
an einer höhern Landeslehranstalt in Neljevo und seinem Hilferuf an die
slawischen Völker der Balkanhalbinsel und an den Glaubens- und National¬
protektor Rußland könnte man versucht sein weniger Gewicht beizumessen in
dem Gedanken daran, daß der Himmel hoch und der Zar fern ist, und in der
Erinnerung an die widerwärtige Klagcsucht der Bevölkerung von Bosnien und
der Herzegowina. Außerdem ist bekannt, daß alle diese Südslawen, vielleicht
mit alleiniger Ausnahme der stark mit turkotatarischem Blut untermischten
Vnlgaren, groß sind in Träumen und Worten und klein in Thaten. Einige
Bedeutung muß man der Sache aber doch wohl zusprechen, einerseits im Hin¬
blick ans die schwere innere Zerrüttung Österreichs, andrerseits deshalb, weil
in der That Österreich in Bosnien und in der Herzegowina die 1878 über-
nommne Kulturmission ^ trotz vieler und verdienstlicher Bemühungen nament¬
lich im vergangnen Jahrzehnt doch nur in bescheidnen Maße erfüllt hat,
und diesen Länder» in der Hauptsache, in der Agrarfrage, statt eines Fort-
Schritts zum Teil wenigstens eher einen Rückschritt gebracht hat, der nicht nur
dort selbst bittere Unzufriedenheit erzeugt, sondern ans der ganzen überwiegend
ackerbautreibenden Balkanhnlbinscl Österreichs Ansehe» nnr vermindern und
lie Strafgerichtsbarkeit erster Instanz ist in den Neichsprozeß-
gesetzcn sehr buntscheckig geregelt. Über die leichten Fälle ent¬
scheiden Schöffengerichte, bestehend ans einem rechtsgelehrten
Richter als Vorsitzenden und zwei Laien als Beisitzern, die
! schwerern Fälle werden von den Strafkammern der Landgerichte
abgeurteilt, die nnr mit Juristen besetzt sind, und in das Urteil über die
schwersten teilen sich zwölf Geschworne, also wieder Laien, und drei Juristen
so, daß jeder Teil seine Funktionen für sich ausübt. Dazu kommt anßer-
ordentlicherweise noch, daß die Aburteilung des Hoch- und Landesverrats gegen
das Reich dein Reichsgericht obliegt, und daß in den süddeutschen Staaten
„die Zuständigkeit der Schwurgerichte für die durch die Presse begangnen straf¬
baren Handlungen" von der Reichsgesetzgebung „unberührt" geblieben ist.
Diese Buntheit ist begreiflicherweise nicht das Ergebnis justizpolitischer
Erwägungen, sondern beruht auf staatspolitischem Kompromiß. Die Gründe
dafür wirken zum Teil noch nach. Polnische oder gallische Schöffen und Ge¬
schworne zu Richtern über Hoch- und Landesverrat gegen Deutschland einsetzen,
hieße den Bock zum Gärtner machen, und es wird ja bei uns außer Polen
und Französlingen vielleicht noch Leute geben, die diese „politischen" Ver¬
brechen ans dem Strafgesetzbuch entfernen möchten, aber sie werden ebensowenig
wie die Beteiligten selber leugnen können, daß diesen unter deu Juristen keine
bessern und unparteiischern Richter gegeben werden konnten als die Mitglieder
unsers höchsten Gerichtshofs. Und wenn das süddeutsche Reservatrecht in Preß-
fachen weniger stichhaltig sein mag, so würde doch seine politische Anfechtung
die erbittertsten Kampfe hervorrufen; gerade die Gegner werden das zu dem
vielen, was uns trennt, nicht hinzufügen wollen. Anders steht es mit den
Normalfällen der Strafrechtspflege. Dn haben sich die Ansichten geklärt, die
Frage, ob Juristen-, Schössen- oder Schwurgericht, wird weit weniger als
spezifisch politisch angesehen, und der Umstand, daß der Reichstag eine Straf-
Prozeßnovelle vorgelegt erhalte» hat, fordert dazu auf, auch diese Frage zu
Prüfen und eine zweckmäßigere Lösung anzuregen.
Mir ist noch kein Jurist vorgekommen, der ein überzeugter Anhänger der
Schwurgerichte gewesen wäre. Manche Anwälte haben als Verteidiger lieber
mit Geschwornen als mit Kollegen zu thun, fragt man sie jedoch, warum, und
ob wegen der größern Weisheit der Geschwornen, so lächeln sie bedeutsam.
Nur wenn der Jurist ins Parlament kommt, stellt sich bei ihm gern eine
gewisse Neigung für die Institution ein; der Schluß liegt nahe, daß »lehr eine
Degeuerierung des Rückgrats als eine Erleuchtung des Gehirns mitwirkt. Den
meisten Schein hat noch, und die meiste Anerkennung, bei Juristen und Nicht-
juristeu, findet der eine Empfehlungsgrnnd, daß Geschworne im Zweifel eher
ein Nichtschuldig aussprächen — wie man es irriger-, aber bezeichnenderweise
in der Regel ausdrückt, eher freispräche»! — als rechtsgclehrte, berufsmäßige
Richter; das sei sehr viel wert, denn besser tausend Schuldige zu Unrecht frei¬
gesprochen als ein Unschuldiger verurteilt. Der Emphase entkleidet, und die
Möglichkeit, den Irrtum im Gnadenwege zu heilen, außer Betracht gelassen,
ist das ja ganz richtig, aber seine thatsächliche Voraussetzung ist es nicht.
Weder die unerwiesene Schuld, uoch die wirkliche Unschuld ist dnrch eine Gc-
schwvrnenbank besser als durch ein Richterkollegium geschützt. Es giebt Gegenden
in Dentschland, in denen, wie Kenner behaupten, die Geschwornen bei Brand-
stiftung fast immer auf Nichtschuldig, andre, in denen sie fast immer auf
Schuldig erkennen. Ist das die Folge größerer oder geringerer Gewissen¬
haftigkeit? Eher wohl die verschiedne Wirkung der Vorstellung, der rote Hahn
könne einem auch wohl aufs eigne Dach fliegen; der Schutz davor mag von
dem einen Teil in einer Art von «cliMtio osiiLv<i1srckig,<z, von dem andern,
dem energischer», in der Abschreckung oder darin gesucht werden, daß der An¬
geklagte vorläufig unschädlich zu macheu sei. Ich sage nicht, daß sich die Leute
dieser Motive vollständig klar bewußt seien, aber jeder Seelenkundige weiß,
daß unbewußte oder halb bewußte Seelenrcgungen oft am stärksten wirken, daß
gerade die erwähnten dem Einzelnen sehr nahe liegen, und daß sie sich unter
zwölf Männern „aus dem Volke," die im entscheidenden Angenblick allein ge¬
lassen sind, durch Austeckuttg leicht verbreiten und noch mehr Verstürken. Jeder
Beobachter weiß ferner, daß ländliche Geschworne gewisse Dinge anders an¬
sehen als städtische, bald laxer bald strenger, und umgekehrt, und daß diese Auf¬
fassung auf das Schuldig oder Nichtschuldig Einfluß hat. Genug, es mag
sein, daß Geschworne bis zu einem gewissen Grade eher geneigt sind, den
„armen Teufel" laufen zu lassen, aber es ist das nur Stimmung, eine Stim-
mung neben vielen andern, und es besteht gar keine Gewähr dafür, daß diese
andern nicht das Übergewicht erhalten, daß sie nicht zu einem Schuldig sichren,
wo es Nichtschuldig heißen sollte. Eine meiner ersten Erinnerungen ans der
Praxis ist die an einen Notzuchtsfall, bei dem die Geschwornen mit einem
Schuldig aus dein Beratungszimmer herauskamen, während die zahlreich an¬
wesenden Juristen, einschließlich des damals fünf Mitglieder zählende« Schwur¬
gerichts, alle freigesprochen haben würden, und obgleich der Angeklagte von
einem Anwalt verteidigt worden war, der im Rufe stand, die Geschwornen
„am Bündel" zu haben; der Präsident war so verdutzt, daß er den Obmann
veranlaßte, den „Wahrspruch" noch einmal zu wiederhole», was mit einem ge-
Wisse,? Siegesstolze geschah, der mir noch vor Augen steht. Jeder hat von
der Schreckenszeit gehört, aber weniger bekannt ist, daß das Revolutions-
tribunal, das in zwei Jahren 2700 Menschen der Guillotine überlieferte, ein
Geschwornengericht war; es bestand, wie noch jetzt die französischen Assisen,
aus fünf Richtern nud zwölf Geschwornen. Wie herrlich hat sich da die
Neigung bewährt, lieber tausend Schuldige freizusprechen als einen Unschuldigen
zu verurteilen! Wie herrlich auch der gesunde Menschenverstand und die Un¬
befangenheit, die nicht so allgemein, aber doch noch oft genug den Geschwornen
im Gegensatz zu den Juristen nachgerühmt werden! Das ist doch reine Phrase.
Kann man es den Juristen verübeln, daß sie dergleichen mit der bekannten
Erwiderung abfertigen, dieser gesunde Menschenverstand und diese Unbefangen¬
heit seien durch keinerlei Sachkenntnis getrübt?
Es ist nicht anders: jeder einzelne Straffall, für sich genommen, kann
keinen bessern Richter finden als den, der seinen Geist daraufhin ausgebildet
und geschärft hat, als den berufsmäßigen Richter. Das ist ebenso selbstver¬
ständlich, wie es natürlich ist, daß der Arzt eher heilt als der Quacksalber,
daß der Lehrer bessere Schulstunden giebt als der Handwerksmeister, und daß
der Pfarrer im Predigen mehr bewandert ist als der Küster. Aber wie der
Arzt, wenn er im Menschenleib nicht den Tempel der unsterblichen Seele sieht,
der Gemütsroheit verfällt, wie aus dein Lehrer ein Pedant wird, wenn er der
Versuchung unterliegt, den Geist des Schülers zu knechten, und wie uns der
Pfarrer, der gemütsarm der Neigung zu Selbstgerechtigkeit und Gesalbe front,
ans der Kirche hinauspredigt, ebenso hat der Richterberuf seine Gefahren und
Versuchungen, die gleich ungünstig wirken können. Von diesen bedenklichen
Einflüssen kommt für unser Thema besonders einer in Betracht: die Macht
der Gewohnheit.
Im Gegensatz zu der Meinung, die sich die Leute aus Kriminaluovellcn
und Gerichtszeituugen bilden, sind die Strafsachen im Durchschnitt sehr wenig
„interessant," sehen sich sehr ähnlich und haben insbesondre für die Übuiig des
juristisch geschulte» Verstands weit geringern Reiz als die Zivilsachen. Man
könnte sagen, ihre intellektuelle Bedeutung stehe im umgekehrten Verhältnis zu
ihrer Wichtigkeit; dem Geiste bieten die Gerichtsfälle, in denen es sich um
Freiheit, Ehre und Gut, unter Umstünden sogar ums Leben handelt, im all¬
gemeinen weniger als die, bei denen es sich bloß um Vermögeusfragen dreht.
Es giebt nur eine kleine Anzahl von Anwälten, die die Strafpraxis noch
Pflegen, wenn sie es zu einer guten Zivilpraxis gebracht haben, und der Spott¬
name „Schlafkammern" für Strafkammer» ist ein Wertmesser für ihre Schätzung
in Nichterkreisen. So liegt denn in der berufsmäßigen Beschäftigung mit Straf¬
sachen etwas, was den Richter zu schablonenhafter Behandlung verführt. Es
ist das sogar bei den Richtern, die den Vorsitz führen, zu beobachten; sie haben
ja viel mehr spontane Thätigkeit zu leisten, haben sie jedoch erst die Führung
des Borsitzes, namentlich das sehr schwierige Befragen der Angeklagten und
der Zeugen, gelernt — oder glauben sie es —, so verfallen auch sie leicht
einer gewissen Gleichförmigkeit und Verdrossenheit, und es kommt sicher nur
sehr selteu vor, daß sich solche, die für die Geschäftsverteiluug den Vortritt
haben, die Lnudgerichtspräsideiiteu z. B., den Vorsitz in einer Strafkammer
aussuchen. Für die ganze Anschauung ist es charakteristisch, weshalb ichs er¬
wähne, daß ein Richter, der für einen sehr tüchtigen Juristen galt und zugleich
eine Vorliebe für Strafsachen hatte, der kriminalistische Wollüstling genannt
wurde.
Die Sache ist alt und allgemein anerkannt; es wird auch in unsern
Kreisen gar kein Geheimnis daraus gemacht, obgleich mir vielleicht nicht wenig
Berufsgenossen den Vorwurf macheu werden, aus der Schule geplaudert zu
haben. Von den Nichtjuristeu wird die Sache mehr gefühlt als klar erkannt.
Das Gefühl ist jedoch sehr stark. Und weil unklar, verwandelt es sich leicht
in einen moralischen Vorwurf gegen uns, was mich schlimmer dünkt, als die
Folgen offnen Eingestehens. Denn die Nichtjuristeu sind die große Mehrheit,
das Volk, und dieses hier nicht im Sinne von xrolÄnuin vulgus, sondern in
dem des xopulus, dessen Meinung uns nicht gleichgiltig sein darf. Für mich
ist es zweifellos, daß dieses Gefühl die Hauptursnche ist, weshalb noch jetzt
die Geschwornengerichte von so vielen Wohldenkenden überschätzt werden; die
Gründe, die kalte werden, sind ja sehr fadenscheinig, aber die meisten Menschen
urteilen mit dem Gefühl, nicht mit dem Verstände, in politischen Dingen zumal.
Dieses Gefühl ist auch ein Glied in der Kette von Umständen, wegen deren
man uns nicht liebt, obgleich wir unentbehrlich sind, obgleich wir die „Macher"
sind lind bleiben werden. Also lieber volle Offenheit! Und an und für sich
ist es gar nicht gerechtfertigt, uns einen Vorwurf zu machen, denn eine Er¬
scheinung, die erfahrungsmäßig überall und im Wechsel der Zeiten immer
wiederkehrt, hat andre als moralische Ursachen. Oder ist etwa der Assessor,
der seine erste Strnfsitzling als Richter mit Feuereifer mitmacht, moralischer
als der ergraute Lnndgerichtsdirektor, der darin als gewohntes Tagespeusum
den Vorsitz führt?
Nicht auf sittlich höherer Stufe steht der Assessor, aber er ist frischer.
Und so ist es auch seine Leistung: sie hat noch nichts voll den schlechten
Seiten des Gewohnheitsmäßigen. Wenn er noch nicht alle Schliche geriebner
Angeklagter oder die Finten mancher Verteidiger so klar durchschaut, so ist er
für individuelle Eindrücke und für warmen Herzenston empfänglicher. Wenn
es ihm eher passiert, einen Gesctzesparngraphen zu übersehen oder den un¬
richtigen anzuwenden, so hat er sich noch keinen Jntcrpretationskodex gebildet,
der einer sich ewig fortschleppenden Krankheit sehr ähnlich sehen mag. Wenn
er geneigter sein wird, dem einen oder dem andern Zeugen zu viel zu glauben,
so hat er sich noch keine Kategorien von Zeugen gebildet, denen er gar nichts
mehr glaubt. Er denkt ja wie wir Menschen alle nach Kategorien, aber die
eine: „Alles schon dagewesen," wirkt für ihn als Strafrichter noch nicht mit.
Er führt sie Wohl im Munde, öfter vielleicht als der alte Richter, aber das
ist eine Art von Renommage, Kopf und Herz wissen nichts davon und könnens
gar nicht, er handelt nicht danach. Diese eine Kategorie um wirkt in der
Strafrechtspflege sehr ungünstig. Nicht sowohl darin, daß zu viel verurteilt
wird, denn das in änvio vro reo ist noch stärker, aber so, daß die ganze Ver¬
handlung, namentlich die Beweisaufnahme, schablouisiert wird. Darunter
leiden alle Beteiligten: der Angeklagte wird zur Nummer, die Zeugen kommen
nicht dazu, volles Zeugnis zu leisten, und das Gericht selber büßt an Würde
mi. Dem ist, soweit Einrichtungen dienlich sind, nur durch Zuziehung des
Laienelements abzuhelfen, aber nicht so, daß die Laien als Geschworne in dem
Augenblick der Urteilsfällung sich selber, ihren Stimmungen und Irrtümern
überlassen bleiben und mir einen Teil des Nichtermuts erfüllen, sonder» so,
daß sie für die betreffende Sitzung gleichberechtigte und gleichverpflichtete Richter
find und mit ihren berufsmäßigen Kollegen in Wechselbeziehung treten, Frische
und den Antrieb zu individueller Behandlung einwerfend, Erfahrung und Be¬
lehrung eintauschend.
Das ist das Wesen der Schöffengerichte, und ich mochte glauben, daß
ihre Zuständigkeit auf die ganze Strafrechtspflege, mit Ausnahme der Preß-
sachen in Süddeutschland und der Reichsgerichtssacheu, ausgedehnt werden
sollte. Dafür spricht auch, daß die Strafkammern von der Befugnis, den
jetzt nur bei den Amtsgerichten bestehenden Schöffengerichten eine Reihe von
Landgerichtssnchen zu überweisen, einen sehr umfassenden Gebrauch machen;
es mag das, wie behauptet wird, manchmal aus Bequemlichkeit geschehn, es
würde jedoch uicht so häufig sein, wenn bei den Juristen Mißtrauen herrschte.
Meinesteils habe ich als langjähriger Vorsitzender des Schöffengerichts reichliche
Erfahrungen gesammelt, allerdings fast mir in ländlichen Verhältnisse». Ich
war schon einige Zeit praktischer Jurist, als ich Richter wurde, kam mit eiuer
gewissen Borliebe für die Einrichtung ins Amt n»d bi» darin bestärkt worden.
Ich habe ja auch da Enttäuschungen erlebt, aber um fehlen sie ganz? Und
es ist ja richtig, daß jeder gern Schöffe heißen will, daß sich aber mancher
gern drückt, wenn es gilt, Schöffe zu sein, als solcher zu Gericht zu sitzen:
ist das bei andern Ehrenämtern nicht auch der Fall? Dann kommt es vor,
daß sich manche Schöffen vor der Sitzung beeinflusse» lasse»: wenn ichs ge¬
merkt habe, ist ihnen der ernsteste Vorhalt nicht erspart geblieben, „fürsorglich"
habe ich es jedoch möglichst vorgezogen, Sachen, die nicht eilig waren, von
Schöffen aus ander» Dörfern behandeln zu lassen. Der Richter setzt ja die
Termine in>. Alles in allem genommen hat ein Richter, der es ernst nimmt,
ohne Brüskieren großen Einfluß auf die Schöffe», nicht wenige sind ihm für
den Ernst sogar dankbar, und er kann von ihnen lernen. Nicht selten habe
ich meine Auffassung, was bewiesen sei, für und wider den Angeklagten,
durch die der Schöffe» berichtigt gefunden; und die Notwendigkeit, mich ihnen
verständlich zu mache», meine Worte ihrem Vorstellungs- und Gedankenkreise
anzupassen, war für mich eine sich stetig erneuernde Selbstkontrollierung dafür,
daß ich dies mich bei der Befragung des Angeklagten und der Zeugen erstreben
>müsse. Dieser Antrieb fehlt, we»» der Vorsitzende bei der Beratung »ur mit
andern Juristen zu thun hat, denn da versteht man sich, wie überall unter
Berufsgenossen, in vielen Dingen mit halben Worten, und man wiegt sich
leicht in dem Glauben ein, die schwere Kunst des Fragens zu beherrschen,
weil man sie virtuos übt. Genug, ich habe mich als Vorsitzender des Schöffen¬
gerichts mannigfaltig gefördert gefunden; ich habe es als gegenseitiges Gebe»
und Empfangen, als Austausch vou geistige»? Gütern im öffentlichen Interesse,
als echt soziale Institution erprobt. Und ich möchte glauben, daß diese Er¬
fahrungen keine rein persönlichen sind, sondern auch einen gewisse»? typischen
Wert haben. Es sind ja auch viele andre Juristen für die Verallgemeinerung
der Schöffengerichte.
Nur zweierlei habe ich als Mangel empfunden. Nach der Strafproze߬
ordnung nehmen die Schöffen nicht nur an der Nrteilssiillnng, sondern auch
an etwaigen Zwischenentscheidnngen teil, z. B. über Beweisanträge und in
Fragen der Sitznngsdisziplin. Dafür haben sie kein Verständnis, und es ist
ihnen auch keins beizubringen, denn die Umstände, worauf es bei der Er¬
wägung ankommt, sind zwar in den einzelne» Fällen höchst verschieden, die
Fälle selber also in besonder»! Maße individuell gefärbt, aber das Gesetz giebt
für die Entscheidung keine Regel, der Entscheidende muß sie sich selbst bilden,
aus allgemeinen rechtlichen Erwägungen und aus der Praxis, was deu Laie»
nicht möglich ist. Hier ist daS Feld frei für solche Verteidiger, die ihre»
Klienten und dem Publikum ihr ganzes „Können" und ihre Wichtigkeit vor¬
führen wollen: sie jagen eins aufs andremal de» Richter und die Schöffen
ins Beratnngszimmer. Eine Verleitung für deu Richter, „durchzufahren" und
dies auch sonst als Gewohnheit anzunehmen; eine Qual für den besonders
gewissenhaften, der sich nicht dazu entschließen kann. Und dabei sachlich ganz
zwecklos, ja zweckwidrig. Für diese Zwischenentscheidnngen ist nur das an¬
gebracht, was nach französische»? Vorgang die dislretionäre Gewalt des Vor¬
sitzenden genannt wird. Die Sache erklärt sich aus dein Wort von selbst als
des Vorsitzenden uicht willkürliches, aber freies Ermessen, ans eigne Verant¬
wortung zu beschließen; mit dein Recht, aber ohne die Pflicht, das Kollegium
beschließe!! zu lassen. Das zweite, worin die Schöffengerichte hinter reinen
Berufsgerichten zurückstehn, ist, daß ihre Anwendung des weiten Spielraums,
den unsre Gesetze für die Festsetzung der Strafe gewähren, uoch milder aus¬
fällt, weil die Schöffen noch „gutmütiger" sind als die Richter, denen Fürst
Bismarck dieses Prädikat beigelegt hat. Gutmütigkeit oder Gütigkeit ist an
Herren eine köstliche Eigenschaft, aber das Richteramt ist kein Herrenrecht,
sondern Dienstverwaltung des Gesetzes. Gnade steht nur dein Fürsten zu. Es
giebt Fülle, in denen auf das gesetzliche Strafmimmum zu erkennen im Sinne
des Gesetzes ist, aber dies zu einer Art von Regel zu machen und uns darauf
etwas zu gute zu thun, wie wir es lieben, und worin uns die Schöffen noch
überbieten, ist Pflichtwidrigkeit, und wenn man es analysiert, einesteils Willkür,
andernteils schwächliche Furcht vor Verantwortung. Es ist eine Zeitströmung;
feste Richter würden sich auch feste Schöffen heranbilden.
Damit die zugezognen Schöffen den rechten Einfluß haben, müssen sie
die Mehrheit haben. Sonst rechnet der Jurist mit ihnen nicht. In einem
Fünfmännergericht, das aus drei Juristen und zwei Laien besteht, sind diese
mundtot oder Krakeeler, Das ist schroff ausgedrückt, aber zweifellos richtig.
In deu jetzigen Schöffengerichten besteht das Zahlenverhältnis von zwei zu
eins; in denen, die an die Stelle der Strafkammern und der Geschwornen¬
gerichte treten sollten, mögen die Grundzahlen wechseln, und sie werden es,
ihrer größern Bedeutung entsprechend, wohl auch müssen, aber in allen muß
die Mehrheit den Schöffen bleiben, die große Mehrheit sogar. Meinesteils
würde ich vor einem Zahlenverhältnis von vier Laien und einem Juristen nicht
erschrecken, wahrscheinlicher ist, daß eine andre Kombination gewählt werden
würde. Etwa fünf zu zwei. Oder vou neun zu drei, was jedoch den vor-
handnen Bestand von geeigneten Schöffen überschreiten oder überspannen hieße.
Die mehreren Juristen nun sollten im Borsitz und in der damit verbundnen
Leitung der Verhandlung abwechseln, und zwar nicht sitzungsweise, sondern
innerhalb jeder Sitzung von Fall zu Fall, nach einer festen, ständigen Ordnung.
Die Befriedigung des Ehrgeizes, die der Wechsel im Vorsitz gewährt, würde
sehr wohlthätig wirken und insbesondre zur Folge haben, daß ältere und er¬
fahrnere Mitglieder der Landgerichte gern Strafrichter wären, wie sie jetzt gern
Schwnrgerichtspräsidenten, aber in der Regel sehr ungern Beisitzer der Straf¬
kammern sind. Untereinander wurden sich diese alternierenden Vorsitzenden
kontrollieren, ohne Kleinlichkeit, und doch wirksam, in der Ausübung der dis-
kretivnären Gewalt zum Beispiel. Bei der Beratung des Endurteils würde
ihre Gleichstellung so hervortreten, daß zur Aufklärung der Laienmchrheit
mehrere sachverständige Auffassungen zu Worte kämen. Und gegen ebenso
wunderbare wie gefährliche Velleitäten dieser Laienmchrheit, wie sie zuweilen
vorkommen, wird die Juristemninderheit fest zusnmmenstehn.
In dieser Anwendung ist der Gedanke, den Vorsitz abwechseln zu lassen,
soviel ich weiß, neu, in andrer hat er sich durch die Erfahrung schon erprobt.
So geschah es in einem unsrer kleinern Staaten vor dem Inkrafttreten der
Reichsprozeßgesetze hänfig, daß der ständige Vorsitzende des Strafgerichts dem
Referenten den Vorsitz einräumte; sich selbst behielt er nur die Verteilung und
die bedeutendsten Sachen vor. In clnbiis libört-iL: wenn nur meine Lösung
dieser Einzelfrage als die richtigere erscheint, so mögen andre anders denken,
und es wird auch nicht vom Übel sein. Aber in nlzo688grus uniws. Das,
worin meines Ernchtens Einigkeit not thut, ist die Einsicht, daß unsre Straf-
gerichtsverfassnng größere Einheitlichkeit erfordert, und daß diese politisch nur
mit umfassenderer Laienbeteiligung, zweckmäßig nur in der Form des Schöffen¬
ir Nordländer stehn zum klassischen Altertum ganz anders als
die Völker des klassischen Südens. Für uus ist es im wesent¬
lichen ein Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung und ein
hervorragendes Bildungsmittel, jedenfalls ein in sich abge¬
schlossenes Ganze; für die Südländer ist es ein fortlebendes Stück
der nationalen Vergangenheit, mit der der Zusammenhang niemals unter¬
brochen worden ist. Mag in Griechenland diese Erkenntnis mehr ein Ergebnis
der neugriechischen Renaissance sein, die auch die neugriechische Sprache der
Gebildeten als eine Art von Kunstprodukt geschaffen hat, so ist doch die Kette
der Zeiten trotz aller Barbarenstürme anch dort niemals ganz abgerissen, und
namentlich in abliegenden Hochgebirgsthälern, die der moderne Verkehr um so
weniger erreicht, als Griechenland heute von seinen großen Linien mehr um¬
gangen als geschnitten wird, haben sich uralte „homerische" Zustünde bis
heute erhalten. Die Entwicklung Italiens aber reicht im Bewußtsein seines
Volks in ununterbrochnem Zusammenhange bis ins fernste Altertum zurück.
Auch seine Denkmäler haben die Italiener niemals als etwas bloß Historisches
und darum Ehrwürdiges empfunden; sie haben sie zu allen Zeiten, bis tief
in die Renaissance hinein, zu Zwecken der Gegenwart abgebrochen, beraubt,
umgestaltet, sodaß das päpstliche Rom größtenteils einfach aus antikem Ma¬
terial hergestellt worden ist. Denn wozu sollte man Säulen und Quadern
und Marmortafeln erst mühsam aus Steinbrüchen gewinnen, wenn man sie
an unbenützten antiken Gebäuden in reichster Fülle und schönster Ausführung
vorfand?
Auch Italien ist im Mittelalter von fremden Einwandrern überschwemmt
worden; Ostgoten und Langobarden, fränkische und deutsche Geschlechter haben
sich im Norden und in der Mitte. Griechen, Normannen, Spanier und Araber
in Süditalien und Sizilien niedergelassen, aber sie sind spurlos ausgesogen
worden bis auf bedeutungslose Neste und haben nnr in zahlreichen Personen¬
namen und in der Sprache Erinnerungen an ihr Dasein hinterlassen. Sie er¬
scheinen deshalb fast nur als störende, nur selten als aufbauende Kräfte. So
beherrscht heute eine auf den ersten Blick sehr gleichmäßige Kultur die gnuze
Halbinsel von den Alpen bis zum afrikanischen Meere, und dem Fremden fällt
in der Volksart zunächst nur die von: Norden nach dem Süden zu wachsende
Lebendigkeit ans. In Mailand und Florenz sieht der Droschkenkutscher den
ihm sofort erkennbaren torestisrö, der an seinem Stande vorübergeht, nur er¬
wartungsvoll an; in Rom streckt er ihm die rechte Hand mit aufgerichtetem
Zeigefinger entgegen nud ruft ihm zu: Vuols? In Neapel schreit er ihn an,
zappelt am ganzen Leibe und führt ihm nach. In der That sind die land¬
schaftlichen und dialektischen Unterschiede in Italien außerordentlich groß; das
Piemontesische und Sizilianische ist auch für den, der das Italienische leidlich
beherrscht, sogar wenn er es gedruckt vor sich sieht, ganz unverständlich, und
der Lombarde kann sich mit dem Neapolitaner in seiner Mundart gerade so
wenig verständigen wie der Ostpreuße mit dem Schwaben. Aber diese tief¬
gehenden Verschiedenheiten in Volksart und Sprache beruhen nicht ans jenen
mittelalterlichen Zuwandrungen, sondern der Hauptsache nach auf der sehr
bunten Volks Mischung des Altertums.
Waren schon die Latiner von den ihnen doch nahe verwandten umbrisch-
sabellischen Stämmen sehr verschieden, so standen ihnen Kelten, Ligurer, Veneder
und Griechen, obwohl Arier wie sie, noch viel ferner, und die Etrusker wie
die Punier auf Sizilien gehörten ganz andern Rassen an. Nur langsam hat
die sprachliche Latinisiernng die Halbinsel überwältigt, Sizilien überhaupt nicht,
der ethnologische Untergrund selbst ist niemals zerstört, sondern nur mit ladi-
nischen Elementen durchsetzt worden. Indem nun allmählich — sicher erst seit
der letzte» Zeit der Republik — die von Rom politisch mühsam geeinten
Stämme Italiens zu einer Kultur- und Spracheinheit und erst dadurch zu
eiuer Nation verschmolzen, die sich mit Stolz als Weltbeherrscherin fühlte,
drangen auch in die römische Litteratur stammfremde, unlatinischc Elemente
ein und bestimmten ganz wesentlich ihren Charakter. Eine ganze Reihe ihrer
bedeutendsten Vertreter waren weder Latiner noch vollends Römer. Livius
Andronicus war ein Grieche, Ennius wenigstens ein Halbgrieche, Terenz sogar
ein Afrikaner, Plnutus stammte aus Umbricn, wie später Properz, M. Cicero
aus dem Volskcrlcmde, Virgil war unzweifelhaft keltischer Abkunft wie der
feine Lyriker Catull und der Historiker Livius, und Horaz war ein Apulier von
der lntanischen Grenze. So sehr sie sich alle politisch als Römer fühlten, und
obwohl sie alle lateinisch schrieben, ihrer eingebornen Bolksart entäußerten sie
sich deshalb doch nicht und konnten es auch gar nicht. Deshalb wurde denn
much die Litteratur und vor allem die Dichtung nichts spezifisch Römisches oder
auch nur Latinisches, sondern sie wurde italisch schlechtweg, und die Menschen,
die sie vorführt, sind keineswegs immer Römer, Männer von gemessener Würde
und ruhigem Selbstbewußtsein, die an nichts andres denken als an Staats-
gchhäftc, wie wir sie uns nach gewissen rhetorisch aufgeputzten Idealbildern
Ma vorstellen, sondern ganz andre Menschen, Menschen, die der altrömischen
Grandezza eines M. Porcius Cato und eiues Q. Fabricius viel weniger ent¬
sprechen, als modernen Italienern. Die zwei Jahrtausende, die dazwischen liegen,
thun hier wenig zur Sache; unzweifelhaft stehn die heutigen Italiener den
Zeitgenossen des Augustus unendlich näher als wir modernen Deutschen den
Germanen Arnims; denn hier entscheidet die Kulturstufe viel mehr noch als
die Volksgenosseuschaft, die Abstammung, und die Renaissance hat hier die
zerschlissenen Fäden mit Bewußtsein wieder angeknüpft.
Diese innere Verwandtschaft tritt vielleicht nirgends so deutlich hervor,
als in der römischen Satire, dein originalsten Erzeugnis der lateinischen Poesie,
für uns also vor allem in den Satiren des Horaz, Denn unzweifelhaft kommt
die besondre Art des Dichters und des italischen Wesens in diesen zwanglosen
Plaudereien stärker und reiner zum Ausdruck, als in seinen den Griechen nach¬
gedichteten Oden und auch in den Briefen, in denen die Reflexion das Lebens¬
bild überwiegt.
Denn Lebensbilder, Bilder ans dem vollen alltäglichen Menschenleben
seiner Zeit, ganz realistische Bilder zeichnet Horaz in seinen Satiren, „die am
Boden hinschleichen" (sörmoriss rsxcmtös xsr liunrum,bald mit breitem
Pinselstrich, bald mit feiner Radiernadel, Heute würde er derartiges gar nicht
in Versen, sondern in Prosa, als geistreiche Feuilletons, schreiben, und er weiß
ja selbst auch recht gut, daß seine Satiren gnr keine Poesie sind. Diese locker
gebauten, mit zahllosen Elisionen behafteten Hexameter find ihn: ja selbst dem
Charakter nach ssrmo rnsrus, die reine Prosa, ^) und man thut thuen Unrecht,
wenn man sie in deutsche Hexameter übersetzt, die bei uns viel zu viel epische
Würde haben; dem innern Stil nach entsprechen ihnen etwa gereimte oder un¬
gereimte leichtgebaute Füuffüßlcr, wie sie C. Barde, der Direktor des Joachims-
thalschen Gymnasiums in Berlin, in seiner nachdichtenden Übersetzung (Berlin,
Weidmann, 1900, 2. Auflage) mit vielem Glück angewandt hat.
Doch sehen wir uns die Menschen des Horaz nach Charakter, Lebens¬
führung und Lebensideal etwas näher an. Horaz selbst ist ein Süditaliener
aus Vennsia, und das, was ihn zum guten Satiriker, besser zum Lebens-
schildercr macht, das ist ein echt italienischer Zug: die geistige Lebendigkeit
und Beweglichkeit. Sie zeigt sich zunächst in der außerordentlichen Schärfe
der Beobachtungsgabe, einem Erbteil des Vaters, dem er ein so liebevolles
und dankbares Andenken gewidmet hat. Wenn Vater Horatius seinen Buben
Quintus, jedenfalls einen sehr geweckten Jungen, vor Fehltritten bewahren
wollte, so hielt er ihm keine trockne Moralpredigt, sondern zeigte ihm an
praktischen Beispielen, die er in seiner Umgebung beobachtet hatte, wozu Ver¬
schwendung und Leichtsinn führen. ") Auch Lucilius, Horazens ebenso eifrig
nachgeahmter wie getadelter Vorgänger, hatte es ähnlich gemacht und die Er¬
fahrungen seines ganzen Lebens in seinen Satiren ausgebreitet, sodaß dieses
vor den Nachkommen lag wie ein aufgeschlagnes Buch, oder nach Horaz „wie
eine Votivtafel,"^) Und so machte er es denn auch selbst. Das Forum mit
seinen Säulenhallen, die Via sacra, das Marsfeld, die öffentlichen Bäder, die
Landstraße, das waren sein Arbeitszimmer: „Hab ich dann Zeit, dann werf
ichs aufs Papier."») Und welche Fülle von Typen, stadtbekannte Leute, weiß
er oft mit wenig Strichen zu zeichnen"): Verschwender wie Mäuius und
Nvmentanus, Knauser und Geizhalse wie Nmmidius und Opiums, nichts¬
nutzige Wucherer wie Nerius, Cicuta und Fufidius, launenhafte, inkonsequente
Menschen wie den großen Sänger Tigellius aus Sardinien, eingebildete Narren
wie Marius oder den reichen Staberius, aufdringliche stoische Tugeudschwntzer
wie Crispinus, Wüstlinge wie Sallustius, Damen der Halbwelt wie Cerintha
und Catia, Hexen wie die böse Canidia, und tvieder wackre Bauern draußen
in den Landstädten wie Ofellus, der dem modischen großstädtischen Tafelluxus
seinen einfachen Tisch nach der Väter Weise entgegenhält,') oder Kleinstädter
wie den braven Servius Oppidius in Canusium, der auf dem Sterbebett seinen
Söhnen flucht, wenn sie sich beikommen lassen sollten, sich um ein Staatsrat
zu bewerben. ^) Und wie lebendig weiß uns Horaz selbsterlebte oder ihm auch
mir berichtete Szenen darzustellen! Es sind zuweilen geradezu Auftritte ans
einem Lustspiel: die nächtliche Fahrt in dem Ziehschiff auf dem langweilige»
Kanal von Forum Appii uach Terracina hin mit der Bummelei und den
Schimpfreden am Anfang, den stechenden Mücken und quakenden Fröschen
unterwegs, dem Wettgesang zwischen dein verliebten Maultiertreiber und dem
angetrunknen Schiffer, bis endlich alle einschlafen, der Kahn stillsteht, und das
Maultier, sich selbst überlassen, am Ufer grast,") die drollige Szene in Benevent,
wo der eifrige Wirt beim Braten der Krammetsvögel beinahe Küche und
Speisezimmer in Brand steckt, das drastisch geschilderte Erlebnis des Priapus
mit deu beiden Liebeszauberei treibenden Vetteln draußen bei den alten
Friedhöfen der Esquilicn,"') endlich und vor allem die Begegnung mit dem
sich wie eine Klette anhaftenden Schwätzer auf der Via sacra,") den er
schlechterdings nicht los werden kann, durch verbindliche Höflichkeit nicht, durch
saufte Anspielungen nicht, durch Lügen nicht, durch direkte Ablehnung nicht,
bis ihnen endlich der begegnet, für den der Mann Bürgschaft geleistet hat und
den lästigen Menschen zum Termin vor Gericht schleppt. Inmitten welches
regen Verkehrs muß Horaz gestanden haben, wenn er so vielseitig und lebendig
schildern konnte!
Diese scharfrenlistische Bevbachtungs- und Schilderungsgabe ist echt ita¬
lienisch. Die Italiener haben die Novelle in ihrer ursprünglichen Gestalt er¬
funden, die Erzählung einer „neuen" interessanten Begebenheit, und sie haben
ihr in Boccaccios Decamerone die erste klassische Ausprägung verliehen. Ihre
heutigen Nachkomme» haben sich diese Fähigkeit bewahrt. Mnssimo d'Azeglios
Kiooräi z. B. geben in scharfen, treuen Zeichnungen ein überaus fesselndes
Bild des italienischen Lebens in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts,
und einer ihrer bedeutendsten jetzt lebenden Schriftsteller, Edmondo de Amicis,
will in seinen zahlreichen, in Italien eifrig gelesenen Büchern gar nichts andres
als die Schilderung des ihn umgebenden Lebens. Seine <ni»rcWÄ al tutti
(Omnibus, Straßenbahn) zeigt uns zahllose Einzelbildchen, Charakterfiguren,
Geschichten, die zusammen das Dasein Turins nach den verschiedensten Seiten
Vergegenwärtigen, und das noch weit interessantere Buch Luli' »oolmo führt uns
im Rahmen eines großen genuesischen Dampfers, der 1600 Auswandrer nach
Argentinien bringt, nicht nur wundervolle Bilder des Meeres in allem seinein
Wechsel vor, sondern auch Typen des italienischen Volks so ziemlich in allen
seinen Stünden, Ernstes, Trauriges, Heitres, Komisches bunt durcheinander,
die echte llrnx LitwiÄ. Und wie die Italiener ausgezeichnete Erzähler sind,
so sind sie auch ausgezeichnete Schauspieler. Seitdem ich Masmgnis bekannte
OiZ-v^llorm rü8lieg,im als Drama von einer allerdings vorzüglichen italienischen
Truppe gesehen habe, mag ich sie von unsern Leuten auch als Oper nicht mehr
hören; das war wirkliches, echtes, leidenschaftliches Leben ans der Buhne vom
Anfang bis zum Ende.
Dieselbe geistige Lebendigkeit, die in der Beobachtung und Darstellung
hervortritt, verrät sich bei den Zeitgenossen des Horaz wie bei den modernen
Italienern in dem schlagfertigen Witz, dem Sinn für das Komische. Diesen
Leuten ist es ein wahres Bedürfnis, herzlich zu lachen. Wie amüsiert sich
die vornehme Reisegesellschaft des Mücenas auf dem Wege nach Brnndisium,
wo schwierige Verhandlungen ihrer harren, über den aufgeblasenen Prätor,
der zu Fundi dem vornehmen Herrn in voller Gala seine Aufwartung macht! ^)
Wie freut sich Fuscus Aristius, als ihm Freund Horaz auf der Via sacra mit
dem Schwätzer begegnet und, schon halb verzweifelt, ihm mit den Augen winkt,
ihn an der Toga zupft, deu Arm drückt, damit er ihm helfe! Der „boshafte
Schalk" (rruils sg-thus) schützt einen jüdischen Feiertag vor und läßt ihn in der
Klemmet") Wie lachen die vornehmen Gäste des Parvenus Nnsidienus, dessen
ganze geistreiche Tischunterhaltuug in Küchenrezeptcu besteht, als der Bal¬
dachin über dem Tische polternd und stand aufwirbelnd herunterfällt und der
gedemütigte Hausherr darüber verhüllten Hauptes heult, als ob ihm ein hoff¬
nungsvoller Sohn gestorben wäre! Varins, Horazens Freund, muß die Serviette
zu Hilfe nehmen, um sein unhöfliches Lachen zu ersticken.^) Auch die Knaben,
die ja allerdings für das Komische much außerhalb Italiens einen scharfen
Blick haben, umtcmzen hänselnd den Stoiker im langen wüsten Philosophen¬
bart.") Die berufsmäßigen Possenreißer, die 8ourrg,ö, gehören zu jedem vor¬
nehmen Haushalt.") Als Cvccejns Nerva auf der Reise nach Brundisium
Mäcenas mit seiner Gefolgschaft in seinem Landhause bei Caudinm beherbergt,
da laßt er bei Tisch zwei seurras, den kleinen Sarmcntns und den großen
ungeschlachten Osler Messius Cicirrns auftreten, die in höhnender improvisierter
Wechselnde ihren Witz offenbaren , und die Herren aus Rom finden das so
belustigend, daß sie die Tafel in die Länge ziehn.") Auch die sonderbare
Sitte, arme Schlucker aber witzige Köpfe als uinbrg.6 mit zu Tische zu bringen,
beruht auf diesem Bedürfnis nach witziger Unterhaltung, und die beiden uindrsiz
des Müeeuas bei Nnsidienus befriedigen es, während sie selbst zum Entsetzen
des Wirts ganze Weinkrüge leeren, nach Kräften.") „Lachend die Wahrheit
zu sagen," hält Hornz für sein gutes Recht, denn „das Lächerliche wirkt meist
mehr als der Ernst."")
So haben auch die modernen Italiener das Lustspiel sehr fein ausgebildet
^ man denke nur an Goldoni —, und sie haben eine Vorliebe für komische
Vortrüge bei jeder Gelegenheit. An einem wundervollen Nachmittage zu An¬
fang November 1899 machte ich — nicht zum erstenmal — die herrliche Fahrt
von Capri über Sorrento nach Neapel. Himmel, Meer und Land strahlten
in lichtem Glänze, in dunkelm Blau stand Cnpri, gelbgrün schimmerten die
steilen Felswände von Sorrent mit den hellen Häusern und den Orcmgcnwüldern
darüber, in violetten Sammet hüllte sich der elegante Kegel des furchtbaren
Vesuv über dem weißleuchtenden Stüdtekranz an seinem Fuße, und ich konnte
mich an all der Farben- und Formenpracht nicht satt sehen. Die Italiener
aber an Bord horchten mit größtem Interesse auf die komischen Gesangsvor-
trüge eines Quartetts, das allerdings nicht nur saug, sondern die Szenen bei-
nahe darstellte, und riefen ihr lautes draoi!
Die scharfe Beobachtungsgabe der Italiener hat auch eine Neigung in
ihnen entwickelt, die dem Fremden zuweilen unangenehm auffüllt und ihn wohl
mich zu falschen Urteilen über den Volkscharakter verleitet, die Neigung, andre,
namentlich Fremde, beim Handel zu übervorteilen. Dabei ist weniger Gewinn¬
sucht im Spiel, als das Gefühl der Überlegenheit über den schwerfälligem,
unbeholfnem Käufer, dessen Schwäche der Italiener sofort durchschaut und
selbstverständlich benützen will. Aber auch bei uns war noch vor vierzig oder
fünfzig Jahren im Kleinverkehr das „Handeln" üblich; der Verkäufer „schlug
vor," der Käufer fragte nach dem „genausten Preise," und im Großhandel,
im Börsenverkehr wird noch heute „gehandelt" und wird immer gehandelt
werden, denn so vollzieht sich eben die Preisbildung im großen. Versteht
man den Italiener zu nehmen, bietet man ihm etwa kaltblütig die Hälfte des
Geforderten, so steigt man sofort in seiner Achtung und kaun die Preisbildung
sehr zu seinen eignen Gunsten beeinflussen. Unter den Zeitgenossen des Horaz
gelten vor allem die Kleinkrämer und Schenkwirte, die oauxonss, für betrüge¬
rische Gesellen, wie Zöllner und Sünder im Neuen Testament zusammenfallen; er
verfehlt nicht, anzuerkennen, daß der Umschlagplatz Forum Appii vollgestopft
sei von solchen, und giebt dem vimxo als typischer Figur ohne weiteres als
selbstverständlich den Beisatz xsrüäuL.^)
Der geistigen Lebendigkeit und Beweglichkeit entspricht eine beinahe nervöse
Erregbarkeit und Empfänglichkeit, die ebensowohl auf einer feinern
Organisation als auf der ältern Kultur beruhn mag. Daher kommt zunächst
das hitzige Aufbrausen. Bei Horaz ist der Hitzkopf, der osrsdrosus, eine
thpische Charakterfigur.^') Leicht giebt es homerische Schimpfreden: nnter leb¬
haftem Gezänk zwischen den Schiffern und den Sklaven der Reisenden voll¬
zieht sich die Einschiffung in den Ziehkahn bei Forum Appii; ^) ^„o Mist
dn hin, Halunke?" ruft auf der Via sacra den lustigen Schwätzer sein Gegner
an, und unter großem Geschrei schleppt er ihn mit sich fort.^) „Was willst
du, Narr?" muß sich Horaz schelten lassen, wenn er sich durchs Gedränge
arbeiten will.'") Das ist noch heute so. Mit einer Flut von Schimpfreden
setzen sich Weiber aus dem Volke zik, und rasch greift der Mann in solchem
Falle zur volkstümlichen Waffe, zum Messer; auf der Pferdebahn in Neapel
habe ich es erlebt, daß selbst zwei „Herren" — wenigstens sahen sie so aus —,
die doch ihre Frauen und Kinder mit im Wagen hatten, um deu Platz beinahe
handgemein wurden, und die kamen am Allerheiligentage vom Friedhofe zurück!
Sie sind eben Menschen des Augenblicks, von der augenblicklichen Stimmung
in hohem Grade abhängig, Sie sind es auch darin, daß sie niemals so recht
Eile haben. Sie können recht wohl pünktlich sein, aber eine Pflichtsache ist
das für sie nicht gerade. Der Fremde wartet verzweifelnd auf deu Esel oder
die Droschke und sieht zehnmal nach der Uhr; der Italiener sagt lächelnd:
Möisnög,! und man thut dort wohl, sich dieses beruhigende Zauberwort anzu¬
eignen. Horaz wartet in Forum Appii ungeduldig auf die Freunde, die ge¬
mütlich zu Abend essen, während er selbst fastet, weil er dem schlechten Wasser
der Sumpfgegend nicht traut, die aber lassen sich durchaus nicht stören:
Mnisn?!,,! 25) Bis das Fahrgeld einkassiert, das Maultier augeschirrt ist, ver¬
geht eine ganze Stunde: pu-isicm^! Auch die Naivität, mit der dort der etwas
angctrunkne Kahnschiffer zusammen mit dem Treiber wetteifernd die ferne
Geliebte besingt, ohne dran zu denken, daß doch die Reisenden ein gewisses
Anrecht auf Schlaf habe», und mit der dann der faule Bursche, als er selbst
müde wird, kaltblütig anhält und den Maulesel abschirrt, ohne sich im mindesten
darum zu kümmern, ob das den — inzwischen allerdings eingeschlafncn —
Fahrgästen paßt, ist echt italienisch: x^im^^!
Aus derselben Wurzel entspringt die Weichheit des Gefühls, die leicht
zur Sentimentalität wird. Die Äußerungen der Freundschaft wie der Eltcrn-
und Kindesliebe erscheinen in der modernen italienischen Litteratur Würmer,
leidenschaftlicher als bei uns, und man kann dergleichen wohl auch selbst be¬
obachten. Auf der Fahrt von Orvieto nach Florenz stieg in mein Coupe ein
Ehepaar gebildeten Standes mit drei Knaben ein, die alle die kleidsame Tracht
der Lyceisten, dunkelblau mit goldnen Tressen, trugen und offenbar von einem
weitern Ausflüge kamen — es war der Geburtstag der Königin Margherita,
der 20. November —-, also ziemlich müde waren. Als sich nun der jüngste,
ein hübscher, schwarzäugiger Junge von etwa zehn Jahren, zum Schlafen streckte,
machte der selbst noch sehr jugendliche und bewegliche Vater die Mutter, eine
große starke Blondine mit auffallend langsamer, lässiger, weicher Sprechweise,
entzückt auf das in seinen Augen sehr anmutige Bild aufmerksam, und die
Mama liebkoste vor allem Volke den Sprößling zärtlich, der sich denn das
auch behaglich, wie ein Kätzchen, gefallen ließ. Ein deutscher Sextaner wäre
dabei ganz gewiß ungezogen geworden und Hütte sich dagegen mit Männer¬
stolz gewehrt. Diese mütterliche Zärtlichkeit geht auch auf die Amme thaten)
über, die in keinem vornehmen italienischen Hause fehlt und selbst stattlich
mit bunten seidnen Bändern und schmucken Kopfputz ausstaffiert, das ImnMno
im Arme, die Mutter auf die Straße zu begleiten pflegt, und dieses Verhältnis
ist gegenseitig, ja es begründet eine Verbindung fürs Leben.
Sehr merkwürdig tritt diese Weichheit des Gefühls auch bei Horaz hervor.
Als er auf der Reise nach Bruudisinm in Sinnessa mit seineu Freunden
Plotins, Varius und Virgil zusammentrifft, da umarmen sie sich zärtlich, und
als Varius sich in Cciuusium von ihnen trennt, da ist er selbst tieftraurig, und
die andern vergieße» Thränen.^) Zärtlich sucht der Vater einen körperlichen
Maugel des Sohnes durch einen euphemistischen Ausdruck zu verdecken: wenn
der Junge schielt, sagt er, er blinzte (stiÄdo-Mews); hat er X- oder O-Beine,
so ist er sein „Teckelchen"; wenn er zu klein ausgefallen ist, nennt er ihn
„mein Hühnchen" (xrülus). 2?) Ist der Bengel eigensinnig, so reicht er ihm
einen Apfel, und wenn der ihn nicht nehmen will, so sagt er schmeichelnd:
„Nimm doch, mein Hündchen." ^«) Wie stolz ist Horazens Vater, als er den
Sohn in Rom zur Schule schickt; er strengt sich fast über sein Vermögen an,
um ihn zierlich herauszuputzen und ihm Sklaven mitzugeben, die dem Kleinen
Ränzchen und Tafel tragen und ihn sicher durchs Gedränge geleiten.^) Nur
auf die Tiere erstreckt sich diese Weichheit des Gefühls damals so wenig wie
heute, ein Zug des italienischen Volkscharakters, der, namentlich im Süden,
den Nordländer so oft abstößt und empört. Aber der Italiener sagt kaltblütig
von dem mißhandelten Tier: non im airimg.! oder noir ö Ol8tiimo! Damit
ist für ihn die Sache erledigt. Unzweifelhaft wurzelt dieser Zug in der antiken
Tradition; ein Volk, das sich jährlich an der scheußlichen Roheit der Gladia¬
torenkämpfe und Verhetzen erfreute und das imstande war, die Abbildungen
solcher Blutszenen ans einem Fußbodenmosaik wie das in der Villa Borghese
in Rom als Zimmerschmuck zu verwenden, mußte sein Herz gegen Tiere ebenso
verhärten wie gegen Menschen unfreien Standes.
Auch dem gewiß gutmütigen Horaz ist diese Gleichgiltigkeit zuweilen
nicht fremd. Wenn der Hitzkopf auf dem Ziehkahn über das grasende Maultier
wie allerdings auch über deu faulen Schiffer mit einem Weidenknüppel her¬
fällt,"") so ist das in dieser Situation verzeihlich, aber echt italienisch ist es
ebenso, wie wenn Horaz selbst es als einen Vorzug seines bescheidnen Standes
preist, daß er ans einem „beschundnen Maultier" durch ganz Italien bis
Tarent reiten könne, oder sich, von dem Schwätzer, den er uicht abschütteln
kann, gepeinigt, mit einem verdrießlichen Esel vergleicht, der mit gesenkten
Ohren eine allzuschwere Last auf den Rücken nimmt.'")
Auch hierin ist der Italiener trotz der alten Kultur ein natürlicherer
Mensch als der mehr unter der Herrschaft des Willens und der ruhigen Über¬
legung stehende Nordländer; er ist es uicht weniger in einem Punkte, den die
Italiener selbst als einen Grund der Schwäche diesen gegenüber bezeichnen,
in der naiven oder raffinierter unverhüllten Sinnlichkeit. Daß Horaz selbst
in dieser Beziehung ein echter Südländer ist, braucht nicht erst näher nach¬
gewiesen zu werden;^) aber auch in der modernen, für ein gebildetes Publikum
bestimmten italienischen Litteratur werdeu diese Dinge mit derselben Unbe¬
fangenheit und Ungeniertheit behandelt. Es ist beidemale etwa die Stimmung
von Goethes römischen Elegien.
Hängt nun mit dieser leichten Erregbarkeit der ausgeprägte Formeu-
und Schönheitssinn in seinen mannigfachen Äußerungen zusammen? Dem
Italiener ist die Kunst kein Luxus der obern Zehntausend, sondern ein Volks-
bedürfuis. Dieser Sinn hat das ganze Land mit einer unsäglichen Fülle von
Kunstwerken bedeckt, vou der man im Norden gar keine Ahnung hat. Und
wenn das Volk auch uicht in die Museen geht — die sind ihm viel zu teuer
und wesentlich für die Fremden —, so ist doch fast jede Kirche ein immer offnes
Museum, und zahllose Kunstwerke stehn auf der Straße, Statuen und Büsten
bedeutender Männer und zuweilen sogar berühmte Bildwerke des Altertums
und der Renaissance, wie in der herrlichen Loggia dei Lanzi um der unver-
gleichlichen Piazza Signoria im unvergleichlichen Florenz, ohne das; doch jemals
eine rohe Beschädigung oder Beschmutzung vorkäme, was bei uns leider un¬
vermeidlich wäre. Die Stadtgemeinde Florenz hat sich an der prachtvollen
Domfassade von de Fabris bankerott gebant, und in demselben Florenz wurde
die Frage, welche von den beiden neuen Bronzethüren dieser Fassade die schönere
sei, 1899 in der ganzen Stadt mit wahrer Leidenschaftlichkeit erörtert bis zu
den armen Stiefelputzern herab. Wo käme dergleichen bei uns vor? Wie
sehr den Alten eine kunstgeschmückte Umgebung zum Leben gehörte, das be¬
weisen vor allem Pompeji und die Bronzesäle des Museums in Neapel, und
C. Verres wurde zum Kunstrünber, nur weil er ein Kunstkenner und Kunstnarr
war. An ähnlichen Typen fehlt es auch bei Horaz uicht. „Den einen fesselt
Silbergeschirr, und Bronzen entzücken den Albins";^) ein dritter schwärmt
für Antiquitäten und ist stolz auf ein Gefäß, das der sagenhafte König Evander
benützt hat,''") Damasippns kauft, ehe er sich nach seinem Bankerott zur stoischen
Lehre bekehren läßt, um schweres Geld Kunstwerke aus Marmor und Bronze,
sogar ein Becken, das König Sisyphos von Korinth, der schlauste der Heroen,
benützt hat. Wieder ein andrer begeistert sich für die Bildchen des berühmten
Pausias.»«)
Dieser Formensinn wirkt auch auf die äußere Erscheinung des Menschen.
Wein die Toga schlottrig herabhängt, der Schuh schlecht sitzt, der macht sich
lächerlich;-^) wer uurasiert herumläuft, ist ein Bauer, die alltägliche Körper¬
pflege mit Baden und Salben ist auch bei dein kleinen Manne selbstver¬
ständlich, und der unAv.srckg.rin8 gehört zu jedem vornehmen Hanse. ^) Der
heutige Italiener wundert sich, wenn Deutsche durch Rom oder Florenz in
Lodenanzügen laufen, als wenn sie in Tirol eine Gletscherpartic machen wollten;
ihm selbst ist, wenn seine Mittel irgend so weit reichen, die Sorgfalt in
der Toilette das Natürliche, und bei vornehmen Hochzeiten in Neapel wird
von den Zeitungen nicht nur bei den Damen die Kleidung in allen Einzel¬
heiten geschildert, etwa wie bei unsern Hofbüllen, sondern auch bei den Herren
genau angegeben, was sie an Schmuck, an Ringen, Busennadeln, Uhrketten
und dergleichen getragen haben. Zum äußern Auftreten gehört auch die
Höflichkeit. Die heutigen Italiener aller Stände sind ein sehr höfliches und
liebenswürdiges Volk, das Grobheiten ebensowenig ausübt wie verträgt, und
die Zeitgenossen des Horaz sind es auch, wenn sie nicht etwa „die Hitze fliegend
überfällt," Dein Schwätzer gegenüber wird Horaz zwar zuweilen etwas deutlich,
aber niemals grob, mit vornehmer Gelassenheit nimmt Mäcenas die Albern¬
heiten des Protzen Nasidienus hin, und auch seine Genossen maskieren den
wirklichen Grund ihres unbezähmbaren Gelächters dadurch, daß sie sich harm¬
lose witzige Geschichtchen erzählen, über die sie dann lachen können, ohne die
Höflichkeit außer Augen zu setzen.
Wer selbst soviel Wert auf die eigne Erscheinung, das eigne Auftreten
legt, der wird auch geneigt sein, die Persönlichkeit des andern zu achten.
Wohl wollen die Römer zur Zeit des Horaz nur von vornehmen Männern
regiert sein, und von Emporkömmlingen niedern Standes wollen sie nichts
wissen;^') sie beneiden deshalb auch den Horaz um seiner vornehmen Ver¬
bindungen willen.''") Aber in ihren gesellschaftlichen Gewohnheiten huldigen
sie sehr demokratischen Grundsätzen. Mäcenas selbst, obwohl von hohem
etruskischen Adel ans Arretimn (Arrezzo), legt bei der Auswahl seiner Um¬
gebung auf Standesunterschiede gar keinen Wert; er zieht den Horaz in seinen
Kreis, obwohl dieser nur der Sohn eines Freigelassenen und kleinen Beamten
ist,und verschmäht es nicht, bei dem Parvenu Nasidienus zu speisen, ja einige
uinbras seines Umgangs zu würdigen.'^) Horaz wieder nimmt es ruhig hin,
als ein Possenreißer zu ihm sagt: „Du bist nichts Besseres als ich und
vielleicht was Schlechteres."^) Auch zu den Sklaven, wenigstens zu denen
des Hauses, stehn die Herren in einem freundlichen Verhältnis, obwohl es
nicht an Beispielen harter Behandlung fehlt.") Daß der Sklave seinen ein¬
fältig verliebten jungen Herrn init überlegner Lebensweisheit zur Vernunft
mahnt, ^°) ist ein echter Zug der Komödie, und wenn Horaz auf seinem
Sabinum sich um eignen .Herde so recht behaglich fühlt, so füttert er seine
„dreisten Sklaven" mit den Überbleibseln seines einfachen Mahls/"') jn er läßt
sich von dem Sklaven Davus an den Saturnalien im eignen Hause schnöde
Wahrheiten sagen/") so gut wie von dem neubacknen Stoiker Damasippus,
den er weiter gnr nicht kennt. ^) Denn an diesem Feste herrschte Masken-
und Redefreiheit, etwa wie beim Karneval. Schon dieser übermütige Brauch
wurde bezeugen, daß die modernen Italiener ähnlichen demokratischen An¬
schauungen huldigen, denn die Maske macht alle Stände gleich. Aber auch
sonst tritt das im Verkehr hervor. So schroff die Vermögensunterschiede
sind, der Italiener niedern Standes ist niemals devot und knechtisch, wie z. B.
der Russe, und der Vornehme begegnet ihm nicht hochfahrend, sondern achtungs¬
voll und höflich; beide sehen in dem andern den Menschen, nicht nur den
Bettler oder den Principe. Auch der einfachste Maun aus dem Volke weiß
sich eben in solchem Falle zu benehmen. Garibaldi, der eigentliche Nntional-
held des modernen Italiens, dessen Gestalt schon von dem Schleier der Sage
umwoben ist, war von Gelmrt und Erziehung gewiß kein vornehmer Herr,
sondern ein einfacher Schiffer, ohne alle wissenschaftliche Bildung, aber er
hatte die Manieren eines Aristokraten und imponierte dadurch selbst einem so
scharfblickender fremden Beobachter wie Theodor von Bernhardt. Auch auf
das Heer überträgt sich diese Höflichkeit im Verkehr der Stände. Auf der
Fahrt von Venedig nach Padua, eines Sonntags, saß in meinem Coupe ein
stattlicher Unteroffizier der Artillerie mit seinem Mädchen, der zu Ehren er
zweiter Klasse fuhr. Als einige Stationen nachher ein junger Jnfanterieoffizier
einstieg, stand der Unteroffizier zwar auf und nahm seine Cigarre an die Seite,
aber mit einer gewissen Lässigkeit; doch der Leutnant winkte sofort ab, und
dann unterhielten sich beide durchaus kameradschaftlich, als ob zwischen ihnen
nicht der geringste Standesunterschied vorhanden sei. In ihrem Benehmen trat
ein solcher auch nicht hervor.
(Schlus; folgt)
DÄ.^>erodot erzählt eine merkwürdige Geschichte von dem ägyptischen
König Psammetich, die ziemlich bekannt geworden und gewiß
manchem Leser nicht nen ist. Sein Bericht kündet: Ehe Psammetich
König wurde, glaubten die Ägypter, daß sie die allererste»
! Menschen gewesen seien. Seitdem aber Psammetich König ge¬
worden war, der wissen wollte, wer wirklich die ersten waren, halten sie die
Phryger für älter und sich selbst nur für älter als die übrigen Völker.
Psammetich nämlich forschte unes, und als er gar kein Mittel finden konnte, z»
ergründen, wer die ersten Menschen gewesen seien, ersann er folgendes sinn¬
reiche Verfahren. Er nahm zwei neugeborne Kinder von den ersten besten
Eltern und gab sie einem Hirten, daß er sie bei seiner Herde folgendermaßen
ausziehe: niemand sollte irgend einen Lund vor ihnen hören lassen, in einer
einsamen Hütte sollten sie für sich allein liegen, nnr sollte er ihnen zu be¬
stimmter Zeit Ziegen zuführen, und wenn er sie gestillt habe, auch die sonstigen
Dienste verrichten. Das that Psammetich, und diese Weisungen gab er, weil
er hören wollte, welche Sprache bei den Kindern hervorbrechen würde, wenn
die Zeit der undeutlichen Schreilnute überwunden wäre. So kam es denn auch.
Der Hirt that das alles, und als ein Jahr darüber verstrichen war, warfen
sich ihm eines Tages, wie er die Thür öffnete und eintrat, beide Kinder zu
Füßen und riefen, die Hände ausstreckend: bekvs! Zunächst behielt der Hirt,
da er das hörte, die Sache für sich. Als sich aber dieses Wort, wenn er kam
und die Kinder besorgte, mehrmals wiederholte, zeigte er sie seinem Herrn an
und brachte auf sein Geheiß die Kinder vor sein Angesicht. Und als es nun
Psammetich ebenfalls hörte, forschte er nach, welches Volk irgend etwas betos
nenne, und brachte in Erfahrung daß die Phryger dus Brot so nennein Das
war für die Ägypter der Beweis, daß die Phryger älter sind als sie, und sie
geben es jetzt zu.
So erzählt Herodot, Er hat die Geschichte sicherlich geglaubt, jedenfalls
hat er die Anschauungen, von denen der König Psammetich dein Berichte nach
ausgegangen ist, geteilt. Und wie wunderlich sind diese! Die Ursprache des
Menschengeschlechts soll bei jeden, Kinde, das sich selbst überlassen aufwächst,
wieder hervorbrechen! Und diese für erblich gehaltne Ursprache soll sich un¬
verändert erhalten haben, eine lebende Sprache soll die Ursprache selbst sein!
Wir wissen längst, daß diese Ansichten verkehrt sind. Und doch, so veraltet
sie sind, manches mutet uns fast modern an. Wir finden da in dieser zwei-
uudeinhalbes Jahrtausend zurückliegenden Zeit nicht nur ein regelrechtes Ex¬
periment — und dieses Forschuugsmittel ist dem Altertum, ja sogar noch dem
Mittelalter im allgemeinen fremd -—, wir sehen den König Psammetich auch
von der ganz richtigen Erwartung beherrscht, daß das Verhalten der Kinder
in den ersten Lebensjahren wichtige Aufschlüsse liefern kann. Ja man könnte
noch mener gehn und sagen: Auch die Fragestellung des ägyptischen Königs
ist durchaus nicht ganz verkehrt, nur verbesserungsbedürftig. In der That, wenn
man so fragte: Treten bei verschiednen, sich selbst überlassenen Säuglingen
gleiche artikulierte Lautgebilde auf als Bezeichnungen für Dinge oder Vorgänge
der Außenwelt? dann sähen wir uns mitten in den Streit der Meinungen ver¬
setzt, wie er heute geführt wird. Doch greifen Nur nicht vor. Halten wir uns
zunächst an jenen allgemeinen Gedanken. Unsre Kleinen sind für den Sprach¬
forscher ein unschätzbarer Bevbachtuugsgegeustand. Nichts giebt ein deutlicheres
Bild von dem Wesen und von der Entwicklung der Sprache als die Art, wie sie
zu verstehn und sich verständlich zu machen beginnen, mit all den anscheinend
wunderlichen Fehlern, die uns so sehr belustige,,. Diesen Fehlern, d. h. den
Veränderungen, die das Kind vornimmt, entsprechen immer Veränderungen in
den Sprachen der Völker. Das Kind ändert die Laute, bildet eigentümliche,
neue Formen, nennt die Dinge mit selbstgeschasfnen Namen — ebenso wir
Erwachsenen, nur daß wir uns einer Abweichung von, Üblichen meistens nicht
bewußt oder doch nicht klar bewußt sind, und daß diese Berändernngeu auch
nur in verhältnismäßig geringer Zahl auftreten. Und die Übereinstimmung
geht noch weiter: das Neue entsteht dort wie hier auch auf eine gleiche Art.
Mögen beim Kinde die Sprachwerkzeuge noch so ungeübt, mag der Verstand
>was so unentwickelt sein, die physiologische und psychologische Anlage ist doch
dieselbe wie beim Erwachsenen, und der Sprnchwandel unterliegt denselben
Gesetzen. Ein Unterschied besteht nur in der Ursache der Änderung. Das
Kind ändert, weil es das Richtige nicht treffen kann. Bei den, Erwachsenen
tritt dieser Grund zurück: wirkliches Unvermögen kommt fast nur bei der
— zunächst unmerklichen — Verschiebung der Laute in Betracht. Er ändert
hauptsächlich aus andern Gründen, und zwar aus sehr verschiednen, unter
denen die so mannigfach umgestaltend wirkende Bequemlichkeit nur einen dar-
stellt. Aber dieser Unterschied ist nicht von Belang, die Übereinstimmung in
allein Wesentlichen bleibt bestehn. Wir dürfen deshalb schließen: Haben schon
die weitvorgeschrittnen Kultnrsprachen in ihrer Entwicklung alle wesentlichen
Züge mit der Kindersprache gemein, herrscht eine noch größere Ähnlichkeit
zwischen dieser und den Sprachen der Naturvölker, dann muß den Anfängen
der Kindersprache die Ursprache nahezu völlig gleich gesehen haben.
In derselben Lage wie die eben sprechen lernenden Kinder, die mir wenig
Begriffe mit Lauten bezeichnen, deren Zunge uoch ungeübt ist, warm ja zweifel¬
los auch die ersten Sprachbildner. Und wenn auch ein großer Unterschied
darin besteht, daß das Kind geleitet wird, daß es zum mindesten an der
Sprache der Erwachsenen eine Stütze findet und ein Vorbild, dem es die
eignen Bildungen immer mehr annähert, während beim Urmenschen jede Hilfe
fehlte: so bleibt bei der Selbstthätigkeit der Kleinen, die trotz aller Anleitung
immer noch erforderlich ist, des Gemeinsamen genug. Wir haben nur alles,
was von unsrer Sprache in die der Kinder übergeht, wegzudenken, und wir
dürfen annehmen, ein ziemlich getreues Bild der Ursprache zu haben. Einzelne
an der Kindersprache gemachte Beobachtungen hat man schon längst zu solchen
Schlüssen verwertet. Seit einiger Zeit hat man aber die Beobachtungen auch
planmäßig angestellt. Sehr zuverlässige und ausführliche Mitteilungen ver¬
danken wir z. B. Darwin und Preyer; und neben diesen sei statt aller andern
Lindner genannt, dessen Buch „Aus dein Natnrgarten der Kindersprache" allen
jungen Eltern auf das wärmste zu empfehlen ist. Aber es kann nicht genng
beobachtet werden, noch manche Fragen harren der Antwort, und es wäre sehr
zu wünschen, wenn Lindners liebenswürdiges Buch recht viele dazu anregte,
die geistigen Fortschritte ihrer Kinder aufzuzeichnen. Freilich, richtig zu be¬
obachten und zu deuten ist nicht so leicht. Aber Lindner mit seiner vor¬
sichtigen, besonnenen Art kann da jedem ein Muster sein,^) Eine sehr
dankenswerte Zusammenstellung der bisher gewonnenen Ergebnisse giebt Franke
(„Sprachentwicklung der Kinder und der Menschheit" in Rems encyklopädischen
Handbuch der Pädagogik, auch im Sonderabdruck erschiene!,). Auch sei das
Büchlein von Agatholl Keder „Zur Philosophie der Kindersprache" erwähnt,
das eine hübsche Sammlung von allerlei Äußerungen aus Kindermund bietet.
Die folgende Darstellung geht von gemeinsamen Zügen der Kindersprache
und unsrer eignen Sprache aus und verfolgt die Übereinstimmung zurück bis
zu den Anfängen der Sprachentlvicklnng. Die angeführten Beispiele sind zum
Teil einer eignen kleinen Sammlung entnommen. Wenn das Kind piter für
spielen, Blümßen für Blümchen, Kaftoffel oder gar Kafkoffel für Kartoffel
sagt — um aus dem äußerst mannigfaltigen Gebiete des Lautwandels ein
paar Beispiele herauszugreifen —, so thut es im Grunde nichts andres, als
was wir Erwachsenen auch thun, Oder haben wir nicht Laute unterdrückt?
Ist uns nicht (freilich auf dem Wege allmählicher Verflüchtigung, nicht plötz¬
lichen Auslassens) das ursprünglich wie es gesprochne h vor einem r, l, w im
Anlaute abhanden gekommen, ganz wie das s in dem Kinderworte piter? Mau
vergleiche die althochdeutscher Wörter nruolÄn, trink, lrvsrbün mit unsern
rufen, laut, werben. Auch anlautendes p schwindet wohl vor f. In manchen
Gegenden spricht mau deutlich Ferd, Feife und Fennig. Ersetzt das Kind,
wenn es z. B, München sagt, den Gaumeillaut es durch den scharfen Zisch¬
laut, so lassen wir das Zäpfchen-r an die Stelle des Zungen-r treten. Das
Zungen-r wird immer mehr verdrängt. Wir sprechen es fast nur beim Singen,
und es herrscht noch auf der Bühne. Auch denn an deu Lautwechsel in sanft
und sacht, Schlucht und schiltst, Quetsche und Zwetsche, Quehle und Zwehle
und noch an manches andre erinnert werden. Und Ungleichungen und An-
ühnelungen an vorhergehende, sowie an folgende Laute — in der Bildung
Knfloffel finden sich beide Arten vereinigt — weist unsre Sprache in Fülle
ans. Nur erstrecken sie sich bei uns gewöhnlich auf unmittelbar benachbarte
Lante, selten ans entferntere. Sind die Laute voneinander getrennt, dann ist
bei uns Verunähnlichung des gleichen häufiger als Angleichung des verschiednen.
Bergleiche Knäuel für Kleuel, Knoblauch für Kloblauch. Für Angleichung
und Anühnelung zwischen benachbarten Lauten genügen wenig Beispiele. In
Wimper, früher vintbrg. (d. h. eigentlich gewundne Braue) ist durch Anähue-
lung des b an den vorhergehenden harten Laut das p, später durch Anühne¬
lung des Zahnnasenlauts n an den folgenden Lippenlant p das in entstanden.
Wir sprechen zuweilen Anfang für Anfang, Jnmfer für Jungfer, im Platt¬
deutschen ist aus schelten schellen, aus Kinder Kinner geworden u. s. f.
Was von den Lauten gilt, gilt auch von den grammatischen Formen.
Bis zum siebenten Jahre bilden die Kinder Formen wie gelügt und ausgezicht
für gelogen und ausgezogen. Wir Erwachsenen pflegen darüber zu lachen
und ganz zu vergessen, daß unsre eigne Sprache eine Reihe durchaus ent¬
sprechender Bildungen aufweist, die ursprünglich ebenfalls Mißbildungen waren
und nur durch den Gebrauch deu Stempel des Regelrechten erhalten haben.
Dahin gehören die Vergangenheitsformen backte für but, spaltete für das längst
abgetommne spielt. Und während bei diesen beiden Zeitwörtern wenigstens
noch die starken Partizipien gebacken und gespalten gebräuchlich sind, ist ver¬
hehlen ganz in die schwache Biegung übergetreten, und nur unverhohlen er¬
innert noch an die ursprüngliche Bildungsart. Das so bequeme Anfügen eines t
an alle Vergangenheitsformeu ohne jede Veränderung des Stammvokals ist
bei einer so großen Anzahl von Zeitwörtern üblich, daß sich diese Bildungs¬
weise auch da aufdrängt, wo sie ursprünglich nicht berechtigt ist. Überhaupt
bewirkt die Analogie in dem Formenbestand der Sprache gewaltige Um¬
wälzungen. Ihr verdanken wir die bequeme Gleichförmigkeit in deu Ver¬
gangenheitsformen der starken Zeitwörter, daß wir also jetzt sagen: ich sang
mir sangen, ich flog — wir flogen, ich ritt — wir ritten, nicht mehr ich
sang — wir sungen, ich stone — wir fingen, ich reit — wir rnen und noch
manche andern willkommnen Änderungen. Ja wenn uns die Sprache den Ein¬
druck eines planmäßigen Baues macht, was sie doch nicht ist, so ist das die
Folge der von Fall zu Fall wirkenden Analogie.
Noch wunderlicher will es uns anmuten, wenn die Analogiebildung mit
einem Mißverständnis verbunden ist, wie bei der von einem siebenjährigen
Mädchen gebildeten Neunforn gillen statt gelten („das kann nicht gillen").
Die Verkennung des t in gilt, wo es ja zum Stamm gehört, konnte nach
dem Muster von stillt — stillen u. dergl. leicht auf die sonderbare Form
führen. Ganz entsprechendes wird sich allerdings aus unsrer Sprache nicht
nachweisen lassen, aber sehr ähnlich ist es doch, wenn wir aus der Mehrzahl¬
form Hymnen eine Einznhlfvrm die Hymne bilden, die neben die ältere der
Hymnus tritt, oder aus Typen die Einzahlform die Type. Eine Rückbildung
ist auch Ärger aus ärgern, das gar nicht von einem Hauptwort, souderu von
der Steigerungsform ärger abgeleitet ist, ebenso ist der Name der Krankheit
Aussatz rückgebildet aus NiisötM, das den Aussätzigen, d. h. den Ausgesetzten,
in ein Leprosenhaus, ein „Lazarett," verwiesenen bezeichnete.
Am belustigendsten sind die Bezeichnungen, die sich die Kinder für Dinge,
Vorgänge und Eigenschaften bilden. Aber auch ihnen lassen sich ganz ent¬
sprechende aus unsrer Sprache an die Seite stellen. Wenn ein Kind die
Hobelspäne holzige Locken nennt, so lachen nur darüber, weil uus der Ver¬
gleich ungewohnt ist. In Wahrheit ist es doch aber eine wunderhübsche
Metapher und von Ausdrücken wie Hals der Flasche, Arm und Knie des
Flusses, Fuß und Rücken des Berges gar nicht verschieden. Im Kopfe des
kleinen Sprachschöpfers arbeitet eine dichtende Phantasie so gut wie in dem
des großem Komisch klang es, als ein Kind die auf den Tisch kommenden
Maccaroni mit den Worten begrüßte: „Heut giebts Löcher!" Und doch that es
weiter nichts, als daß es den Gegenstand nach seinem auffallendsten Merkmal,
freilich unter Verzicht auf jede Klassifikation (die etwa zu dem Ausdruck Loch-
uudelu oder Röhreunudelu hätte führen müssen), mit einfacher Übertragung
benannte. Aber ist es denn um ein Haar anders, wenn wir einem Strauche
nach seinein hervorstechendsten — im recht eigentlichen Sinne hervorstechendsten —
Merkmale, dem Dorn, den Namen geben (Weißdorn, Notdorn)? Und ist es
nicht ganz ähnlich, wenn man in Süddeutschland Fuß für Bein sagt? Zu
derartigen Übertragungen, Metonymie» und Synekdochen, greifen wir über¬
haupt sehr häufig. Ihre Unterarten sind zahllos. Wir nennen so ein Ge¬
bäude nach der Einrichtung, in deren Dienst es steht: Kirche, Schule, Post,
einen Gegenstand nach seinem Stoffe: Papiere Schriftstücke, insbesondre
Ausweise, eine Mehrheit von Menschen nach ihrer Eigenschaft oder Thätigkeit:
Menschheit, Nachbarschaft, Begleitung, einen Gegenstand oder Zustand nach
der Handlung, durch die er entsteht, oder zu der er sonstwie Beziehung hat:
Stiftung, Ordnung, Sendung, Kleidung, übertragen Eigenschaften, die mir
Personen zukommen, nuf Sachen und umgekehrt: traurige Nachricht, milde
(d. h. eigentlich freigebige) Gabe, andrerseits gleich giltiger Mensch u, s. f. Diese
letzten Ausdrücke sind zweifellos recht gewagt und vermögen vor dem Richter-
stuhle der Logik nicht zu bestehn. Genug: Übertragungen wie jene kindliche
sind unsrer eignen Sprache keineswegs fremd.
Den Beschluß mache ein Kinderwort, das allem die Krone aufzusetzen
scheint. Die Aufmerksamkeit eines vierjährigen Mädchens war jedesmal beim
Vorbeigehn vou dem bekannten Schmucke eines eben vollendeten Dachstuhls,
einem Bäumchen, gefesselt worden. Eines Tages war dasselbe verschwunden,
und diese Wahrnehmung begleitete das Kind mit deu Worten: „Sieh mal, das
Bäumchen ist weggewachsen." Der Ausdruck erregte natürlich die Heiterkeit der
Erwachsenen, und unlogisch ist er ohne Zweifel. Wie kann man das Unsicht-
barwerden als ein Wachsen, das doch ein Größer- und Sichtbarerwerdcn ist,
bezeichnen! Aber dieses anscheinend fehlerhafte Denken muß deu Kleinen über¬
haupt eigen sein. Ganz ähnlich sagte einmal ein andres Kind zu einem Kahl¬
köpfigen: „Dir sind deine Haare abgewachsen." Und so unglaubhaft das zunächst
klingt, wir machen es selbst nicht besser. Nicht in Betracht kommen natürlich
Scherzbilduugeu, wie sich entloben, einen Gast wieder ausladen, die Treppe
hinauffallen. Bei solchen Ausdrücken handelt es sich um bewußten und beab¬
sichtigten Widersinn, der als solcher auch empfunden, werden soll. Gemeine sind
die keiner Knltursprciche fremden Bildungen wie ausschließen, aufdecke», ab¬
spannen, entladen. Oder ist das Ausschließen ein Schließen und nicht vielmehr
das Gegenteil davon? Und trotzdem scheint es von der Sprache unter den Begriff
Schließen einbezogen. Ebensowenig ist das Aufdecken ein Decke», das Ab¬
spannen ein Spannen, das Entladen ein Laden. Diese Bildungen entsprechen
also auf das genauste den Kinderwörtern wegwachsen und abwachsen, und sie
lassen sich auf dieselbe und zwar auf sehr einfache Art erklären. In der Verlegen¬
heit des Augenblicks, wenn sich der zutreffende Ausdruck nicht einstellt oder ein
Ausdruck überhaupt fehlt, greift man zu der Bezeichnung für eine Vorstellung,
die sich gerade aufdrängt, weil sie mit der gemeinten assoziiert ist, sei es
durch das Band der Ähnlichkeit, sei es durch das irgend einer nahen oder
entfernter» Beziehung, sei es — und das ist i» den vorliegenden Beispielen
der Fall — durch das des Gegensatzes. Denn auch entgegengesetzte Vor-
stellungen assoziieren sich, und die eine ruft leicht die andre hervor: kalt die
Vorstellung warm, böse die Vorstellung gut. Es braucht ja nur an Wort¬
bildungen wie ungerecht, unschön, Untiefe erinnert zu werden, die auf dieser
Verbindung der Gegensätze beruhen. So lag nichts näher, als z. B. eine
besondre Art des Öffnens nach dem Schließen (ausschließen), eine besondre Art
des Leerens nach dem Laden (entladen) zu benennen. Daß dabei unlogische
Ausdrücke herauskamen, darum machten sich ihre Schöpfer wie so oft keine
Sorge. Deshalb aber die großen oder die kleine» Sprachbildner fehlerhafte»
Denkens zu bezichtige» hat ma» kein Recht.
Doch genug der Beispiele. Soviel dürfte deutlich geworden sein, daß
sich die Entwicklung unsrer Sprache und der der drei- bis sechsjährigen Kinder
ziemlich in derselben Richtung vollzieht. Welches ist nun die Sprache der
jüngern, der ein- bis zweijährigen Kinder, und was kann sie uns für die Ge¬
schichte der menschlichen Sprache lehren? Wir gehn vom Wortschätze aus
und können damit unmittelbar an das Vorhergehende anknüpfen.
In der Sprache eines einjährigen Mädchens spielte das Wort apu eine
große Rolle. Es bezeichnete nicht nur den Apfel — Apu war natürlich aus
Apfel entstellt —, sondern erstens alles Runde, den Ball sowohl wie die Kar¬
toffel, zweitens aber auch alles, was gut schmeckte, insbesondre Kuchen. Nicht
minder vieldeutig pflegt ein beliebtes Wort der Ammeusprache, haha, zu sein.
Das Kind bezeichnet damit nicht nur das Schlafen, sondern auch das Bett, das
Kissen, das Nachtkleid. Und — noch wunderlicher: ein Kind gebrauchte auf
auch für herab, warm auch für kalt, ein andres zu viel auch für zu wenig,
ein drittes nein auch für ja, ein viertes Hut aufsetzen much für Hut absetzen.
Also auch Gegensätze werden von den Kindern mit einem und demselben Aus¬
drucke benannt.
Dieselbe Wortarmut hat nun auf der Kindheitsstufe der Menschensprache
geherrscht. Auch da haben viele Dinge, Thätigkeiten, Eigenschaften, wenn
sie einander irgendwie ähnlich waren, in irgend einem Zusammenhange oder
endlich im Gegensatze zu einander standen — wir sehen, es sind wieder dieselben
Assoziationsbande, von denen im vorigen Abschnitte die Rede war —, einen
und denselben Namen gehabt. Es ist das nicht allein nach der Analogie der
Kindersprache vorauszusetzen, es ist auch nachgewiesen, nachgewiesen insbesondre
für den so sehr merkwürdigen letzten Fall. Die älteste Sprache, die aus schrift¬
lichen Denkmälern zu uns redet, das Ägyptische, bietet uns dafür Beispiele.
Dort werden z. B. „schwach" und „stark" durch das eine Wort Keu bezeichnet.
Man fragt wohl: Wie war es möglich, daß sich die Menschen bei einer der¬
artigen Vieldeutigkeit ihrer Worte miteinander verständigten? Nun, unsre
Kinder zeigen uns die Möglichkeit. Ihnen gelingt es jedenfalls trotz ihrer
höchst unbelMichcu Ausdrucksweise sich verständlich zu machen. Das Kind,
das für „Hut abnehmen" und „Hut aufsetzen" nur eine Bezeichnung hat, kann
doch in der Regel nicht mißverstanden werden. Die Lage, in der es die Worte
anwendet, zeigt jedesmal deutlich genug, was von beiden gemeint ist: hat es
den Hut auf dem Kopfe, so kann es, zumal wenn noch ausdrucksvoller Ton,
Miene, Gebärde hinzukommen, nur das Abnehmen bedeuten, und entsprechend
umgekehrt. Aber auch wenn aus den äußern Umständen der Sinn nicht er¬
kennbar ist, wird ein Mißverständnis meistens ausgeschlossen sein. Dann reden
Gesichtsausdruck, Ton und Gebärden eine ausreichend deutliche Sprache. Und
diese letztgenannten Hilfsmittel haben wir nnn auch für die ältesten Stufen
der Sprache der Menschheit in Anspruch zu nehmen, bilden doch noch heute
bei unzähligen Völkern, und nicht bloß Naturvölkern, Gebärden die unerlä߬
liche Begleitung der Lcmtsprachc. Sie haben auch bei der Vieldeutigkeit eines
Ausdrucks und insbesondre much in den: wunderlichen Falle, daß für zwei
Gegensätze nur einer zur Verfügung stand, über den Sinn, in dem der Redende
ihn verstanden wissen wollte, keinen Zweifel gelassen. Damit sollte auch zu¬
gleich die Frage nach der Entstehung der Vieldeutigkeit entschieden sein. Die
verdeutlichenden Gebärden sind doch ein Beweis dafür, daß der Ausdruck immer
eindeutig gemeint ist, und die Eindeutigkeit wird in den angeführten Fällen
meistens das ursprüngliche, die Vieldeutigkeit erst durch Übertragung entstanden
sein. Für die Metapher (vergl. das obige Beispiel apu) ist das ziemlich all¬
gemein zugestanden. Nur ist nicht immer leicht zu entscheiden, ob das Kind
mit dem gehörten Worte von Anfang an einen weitern Begriff verbindet oder
in der Verlegenheit um einen Ausdruck zur Übertragung greift. Auch das
erste, also mißverständliche Auffassung, kommt ja zweifellos vor: das Kind
nennt z. B. alle Geldstücke Pfennig, eine Silbermünze einen weißen Pfennig u.s.f.,
denn es meint, das Wort Pfennig bedeute Geldstück überhaupt. Nur genauste
Beobachtung, an der es bisher noch fehlt, kann entscheiden, was von den
beiden vorliegt: mißverständliche Erweiterung des Begriffs oder eigentümliche
Namenschöpfnug durch Übertragung. Auftritten ist dagegen die Erklärung der
Vieldeutigkeit in den andern Füllen. Man hat gemeint, daß das Kindcrwort
duba „die ganze Anschauung, den gesamten Zustand des Schlafs, die Person,
die Wiege, das Kissen mit einbegriffen" bezeichne, oder daß auf der Wnrzel-
stnfe der Menschheitssprachc, wenn z. B. eine Wurzel Vogel, Flügel, Flug
fliegend bedeutete, „die mehreren Dinge, Thätigkeiten, Eigenschaften in einer
Anschauung noch ungemischt zusammen" gewesen seien. Aber einen derartigen
Bcgriffsbrei anzusetzen, aus dem sich erst allmählich die einzelnen Begriffe ge¬
staltet hätten, dazu nötigt jene Vieldeutigkeit durchaus nicht. Nur das muß
zugegeben werden, daß in gewissen Fällen Vieldeutigkeit mit Unklarheit ver¬
bunden ist. Wenn das Kind in weinerlichen Tone haha sagt, so kann das
ebensowohl heißen: Ich möchte schlafen, wie ich möchte ins Bett gelegt werden.
Baba bezeichnet hier ebensowenig bestimmt den Zustand des Schlafens wie
das Zimmergerät, es bezeichnet vielmehr beides: das Kind denkt um das
Schlafen im Bette. Geht es doch uns Erwachsenen in entsprechenden Fällen
nicht anders. Ein Gastwirt, der beim Empfehlen seiner Wirtschaft die „auf¬
merksame Bedienung" rühmt, würde gewiß in Verlegenheit geraten, wenn wir
ihn fragten, was er denn unter Bedienung verstehe, die Handlung des Bc-
dienens, oder die bedienenden Personen. Bedienung kann ja sowohl die
Thätigkeit wie das ausübende Subjekt bezeichnen. Er hat eben an beides zu¬
gleich gedacht. Solche Verschwommenheit des Denkens ist mit Mehrdeutigkeit
des Ausdrucks ohne Zweifel verbunden, aber doch nur in bestimmten Fällen.
Im allgemeinen fehlt, wenn ein Wort mehrere Bedeutungen in sich vereinigt,
nicht die Fähigkeit, diese auseinander zu halten. Die richtige Erklärung ist
doch wohl die, daß auch in Fällen wie dem angeführten infolge der Ver¬
legenheit um einen Ausdruck Übertragung stattgefunden hat. Das Kind benennt
das Bett nach dem Zustande des Schlafens, für den es den Ausdruck haha schou
hat, das Kissen wiederum nach dem nun ebenfalls mit haha bezeichneten Bette.
Die Sprache hält eben mit der geistigen Entwicklung nicht Schritt, sie vermag
dem vorwärts eilenden Geiste nicht immer und überall zu folgen und bleibt
arm, wahrend dieser sich bereichert. Immerhin wäre eine Vermehrung unsers
Beispielvorrnts aus der Kindersprache mit genauster Angabe des Verhaltens
der Kleinen bei Verwendung der Ausdrücke sehr zu wünschen, damit der Beweis
noch überzeugender geführt werden kann.
Auf der andern Seite wird man sich aber anch nicht zu der Ansicht be¬
kennen können, daß das unentwickelte Denken über Begriffe verfügt, zu
deren Bildung nur der gereifte Verstand gelangen kann. Selbstverständlich
ist auf niederer Stufe das Unterscheidnngsbedürfnis gering, die Sprechenden
verwenden vielfach nicht besondre, sondern allgemeine Begriffe — man unter¬
scheidet etwa nicht heiß und warm, kalt und kühl, hat für die verschieden¬
artigsten Thätigkeiten vielleicht nur einen Ausdruck wie machen u. dergl. —,
zum Teil überrascht uus auch wohl eine solche Bezeichnung, indem sie uns
die Höhere Einheit zeigt, an die wir bei unsern besondern Ausdrücken gewöhn¬
lich nicht denken, z. B. wenn hoch und tief, wie im Lateinischen, mit einem
Worte iMns) benannt werden, das also weder das eine noch das andre für
sich, sondern beides, die Ausdehnung in senkrechter Richtung, bezeichnet: aber
sollen wirklich Ausdrücke wie das ägyptische Jaen und die entsprechenden der
Kindersprache ursprünglich uicht den einen der beiden Gegensätze, stark oder
schwach, sondern das „Verhältnis zwischen beiden" und den „Unterschied
beider" bedeutet haben? Kann man dem Menschen in den Ansaugen seiner
geistigen Entwicklung die Fähigkeit zutrauen, einen solchen verhältnismäßig
hohen Begriff zu bilden? Abel, der auf jene Eigentümlichkeit des Altägyp¬
tischen hingewiesen hat, hat in seiner sehr lesenswerten Schrift „Vom Gegen¬
sinn der UrWorte" thatsächlich diese Ansicht aufgestellt. Er meint, die Gegen¬
sätze hätten ursprünglich nur miteinander gedacht werden können, und erst einer
spätern Zeit sei ihre Scheidung, das Denken des einen ohne den andern,
möglich geworden. Jener „Gegensinn" sei für alle Sprachen auf älterer Ent¬
wicklungsstufe vorauszusetzen; er sei ein „grundlegendes Denk- und Sprach¬
gesetz der Menschheit." Dagegen wird man wohl vor allem einwenden dürfen,
daß zuvor ein Nachweis aus der Gebärdensprache gebracht werden müßte, die
doch der Lautsprnche vorangegangen ist, dann lange ihre Begleiterin gewesen
und erst allmählich vou ihr verdrängt worden ist. Es scheint jedoch, daß
gerade die Gebärden von Anfang an eindeutig gewesen sind. Als Gesetz der
Lautsprache ist der Gegensinn allerdings nicht anfechtbar. Nur gehört er einer
sehr frühen Stufe der Entwicklung an — Adels Versuche, ihn auch noch ans
andern Sprachgebieten als dem ägyptischen zu belegen, sind nicht geglückt —,
und er wird am einfachsten durch Übertragung vermöge der Assoziativ» des
Gegensatzes erklärt. Für diese Art der Entstehung spricht auch die Analogie
der eigentümlichen Wortbildungen auf späterer Stufe — wegwachsen, auf¬
schließen usw. —, die doch niemand durch „Gegensinn" wird erklären wollen.
Also wunderlichste Vieldeutigkeit, das ist das Zeichen, in dem der Wort-
schätz auf dieser niedrigen Sprachstnfe steht. Das Kind ist nun in der glück¬
lichen Lage, daß ihm unausgesetzt neuer Wortvorrat aus der Sprache der Er¬
wachsenen zuströmt. Zum Teil hilft es sich aber auch mit eignen Mitteln
heraus, und dieses Verfahren ist wieder lehrreich. Das Kind schreitet zu¬
nächst zur Wortzusammensetzung vor. Ein noch nicht zwei Jahre alter Knabe,
der bisher alles Bedeckende, Kopfbedeckungen so gut wie Kannendeckel, mit huta
bezeichnet hatte, schuf sich auf diesem Wege ein neues Wort, indem er eine
Pelzmütze aßhnta nannte; nß war der Name für seinen mit rauhem Fell be¬
kleideten Ziegenbock. Entsprechend bildete ein englischer Knabe, der alle Nahrung
mit ilium (mon) bezeichnet hatte, einen Namen für den Zucker: sbumum
(schumvm), sun war natürlich eine Verstümmlung des englischen su^r. Die
Ausdrucksweise ist unbeholfen aber verständlich, und vor allem zeigt sich darin
ein großer geistiger Fortschritt. Das Kind hatte eine begriffliche Unterscheidung
vorgenommen, und das Bedürfnis nach einem Ausdrucke dafür hatte zur
Wortzusammensetzung getrieben. Dasselbe Ausdrucksmittel haben wir für die
Ursprache in Anspruch zu nehmen. Dahin gehören nnter anderm die höchst
merkwürdigen jüngern Bildungen des Ägyptischen wie fernnah, altjung im
Sinne vou nahe und jung. Ein andres Mittel dagegen findet in der Kinder¬
sprache nur spärliche Verwendung, das der Bedeutuugsdifferenzieruug. Es
kommt in der Sprachgeschichte häufig vor, daß sich an zufällig eiugetretue
ländliche Verschiedenheit im Laufe der Zeit auch ein Bedeutuugsuuterschied
knüpft. Knabe und Knappe, Reiter und Ritter waren ursprünglich gleich¬
bedeutende Doppelformen. Der Lcintspaltung aber ist Bedeutungsspaltung ge¬
folgt. Dergleichen beobachten wir in der Kindersprache selten. Ein Beispiel
ist das eben angeführte aß; ein Freudenruf des Kindes, el, hatte sich in el
und eiz, weiter aze und aß gespalten, el blieb dann Ausruf der Freude, aß
wurde Name für den immer mit Freude begrüßten Ziegenbock und wurde später
von da auf manches andre übertragen. Um so weitere Ausdehnung wird aber
die Differenzierung in der Ursprache gehabt haben. Einen Beweis dafür
liefert wieder das Altägyptische. Hier waren z. B. die Wörter für decken und
aufdecken, binden und trennen, hören und taub sein lautlich nur ganz wenig
verschieden. Es hatte sich offenbar jedesmal die eine Wortform ans der andern
durch bloßen Lautwandel gebildet, und dann war die ländliche Verschiedenheit
benutzt worden, um die bis dahin gleich benannten Gegensätze besonders zu
bezeichnen. Daß es sich bei diesem Vorgange um nichts Plötzliches und nichts
Beabsichtigtes handelt, daß sich die eine Bedeutung nur zufällig mehr mit dieser,
die andre mehr mit jener Wortform verbindet und dann Umdeutung eintritt,
die zu völliger Trennung führt, bedarf wohl keiner besondern Bemerkung.
(Schluß folgt)
>le kriegerischen Ereignisse des Jahres 1792 lenkten die Anfmerksamkeit
unsers Freundes auf militärische Dinge. Ans der Thatsache, daß
kleinere, zu der Armee des Generals von Eroach gehörende Ab¬
teilungen der Österreicher das Brohlthal passierten, um mit den Ver¬
bündeten um der französischen Grenze zusammenzustoßen, glaubte er
auf die hohe strategische Bedeutung des Thales und damit natürlich
auch auf die der Schwcppcnbnrg schließen zu dürfen, eine Voraussetzung, die tu
keiner Hinsicht zutraf. Als Straße für große Truppendurchmärsche nach oder von
Westen kam in der ganzen Gegend nur das Moselthal in Betracht, und die
Schweppeuburg war, obwohl sie das Brohlthal beherrschte, ihrer Anlage nach alles
andre als eine Festung. Man konnte sie nicht einmal als ein festes Schloß, sondern
höchstens als ein Burghaus bezeichnen, worin man zur Not vor Überfällen und
Plünderungsgelüsten zuchtloser Marodeure gesichert war, das aber einem ernstlichem
Angriffe niemals Widerstand zu leisten vermocht hätte. Das Gebäude erhob sich,
wie schon angedeutet wordeu ist, auf einem Hügel von mäßiger Höhe, es war weder
mit Mauern noch mit einem Graben befestigt und hatte weder Türme noch Schie߬
scharten. Seine einzige Starke lag in dem außerordentlich massiven Mauerwerk.
Überdies waren die Fenster des Erdgeschosses mit schweren Gittern versehen, die
Thür von außen und von innen mit Eisenplatten beschlagen. Mehr konnte man,
so glaubte Pancrntius, von einem Kastell nicht verlangen. In Rom, das wußte er
ganz genau, hatten im Altertum und im Mittelalter noch ganz andre Bauwerke
als Festungen und Burgen gedient und sich in blutigen Kriegen glänzend bewährt.
Hatten sich die Gaetani und nach ihnen die Savelli nicht jahrelang im Grabmal
der Cäcilia Metella verschanzt und manche» Sturm erfolgreich abgeschlagen? Hatte
Benvenuto Cellini nicht von der Engelsburg aus, die doch auch mir ein Stein-
kvloß ohne Wall und Graben war, ganz allein mit fünf Geschützen, die er selbst
bediente, einen vollen Monat das bourbonische Heer in Schach gehalten?
Pancratius, der Mann des Friedens und der stillen Freuden, die nur die
Beschäftigung mit den Wissenschaften zu gewähren vermag, fühlte etwas wie den
Geist eines Feldherrn in sich erwachen. Es verstand sich von selbst, daß er, der
sich am „Pompejaner" Livius herangebildet hatte, gegen die Revolution und die
brutale Herrschaft des Pöbels Partei ergriff. Die Begeisterung, mit der man am
Rheine fast überall die ersten Erscheinungen der großen verheißungsvoller Um¬
wälzung begrüßte, hatte er »le geteilt, und er hatte seinen Bauern, die schon von
Freiheit und Gleichheit und von dem Aufhöre» aller Verpflichtungen gegen ihren
Lehnsherrn zu faseln begannen, so derb den Kopf gewaschen, daß ihnen die Lust,
mit dem Bnrgkaplan zu politisieren, vergangen war. Die bedenkliche Wendung der
Dinge hatte er, weil sie seinen Befürchtungen Recht gab, wenn auch mit Abscheu,
so doch mit einer gewissen Genugthuung beobachtet. Er lebte jetzt abgeschlossener
als je, versenkte sich in seine Bücher und wartete geduldig ab, was die Zukunft
bringen würde. Als er zufällig vernahm, es sei ein Streifkorps des Generals
Dumouriez ganz in der Nähe vorübergezogen, blieb er lange unentschieden, ob er
in der Thatsache, daß es die Schweppenbnrg nicht angegriffen habe, eine Mißachtung
seiner Person oder den Respekt der Gallier — anders nannte er die Franzosen
nämlich nie — vor der ihm uneinnehmbar erscheinenden Burg erkennen sollte.
Der Krieg wurde länger als zwei Jahre mit wechselndem Glück geführt, doch
war der Schauplatz immer so entfernt, daß Pancratius ernstlich zu zweifeln begann,
ob das Schicksal, das ihn auf einen so wichtigen Posten gesetzt hatte, ihm je Ge¬
legenheit bieten würde, in den Gang der Ereignisse entscheidend einzugreifen. Ein
Blick auf den antiken Altar richtete ihn gewöhnlich wieder auf. Er pflegte den
Stein zu bekränzen, sobald die Nachricht von einem Siege der Verbündeten eintraf.
Wäre in solchen Augenblicken nicht jedesmal noch rechtzeitig sein gut katholisches
Gewissen erwacht, er würde nicht gezögert haben, dem Mars Militaris ein kleines
Dankopfer darzubringen.
Nachdem der Leser von diesem curriculo vita-o Kenntnis genommen hat,
wird ihm das am Kopfe unsrer Geschichte mitgeteilte Schriftstück, bei dessen Pet-
schiernng wir Pancratius verlassen haben, nicht mehr gar zu seltsam erscheinen. Er
hatte es ans die Kunde hin, daß die Franzosen von Koblenz gegen Andernach
marschierten und wahrscheinlich auch dem Brohlthale eiuen Besuch abstatten würden,
aufgesetzt. Über das „wahrscheinlich" mußte er im stillen lächeln. Es stand für ihn
unumstößlich fest, daß die „Gallier" diesesmal mit der Absicht kamen, das Thal
als Defilee auf ihrem Marsche nach Belgien zu benutzen, und daß für sie alles
darauf ankam, sich des einzigen festen Punktes, der ans ihrem Wege lag, zu be¬
mächtigen. Der Gedanke, er, Pancratius Sackmann aus Dann, sei berufen, den
feindlichen Feldzugsplnn zu hintertreiben, die Armee aufzuhalten und so den Öster¬
reichern Gelegenheit zu geben, dem Feinde in den Rücken zu fallen, machte sein
Herz höher schlagen. Als er der alten Slina von seinen Absichten Mitteilung
machte und, da er ihrer Zuverlässigkeit nicht ganz sicher war, ihr zur Warnung
die Geschichte der Römerin Tarpeja erzählte, deren fluchwürdiger Verrat von den
siegreichen Sabinern statt belohnt durch grausame Tötung bestraft worden sei, sah
ihn das brave Wesen mit erstaunten Blicken an und erklärte uach kurzer Überlegung,
daß es unter sothnnen Umständen lieber die Burg verlassen und zu einer in Nieder-
meudig verheirateten Nichte ziehn werde. Mit den Franzosen wolle sie im Guten
und Bösen nichts zu thun haben, und thuen auszuweichen, so lange es noch Zeit
sei, wäre sie ihrer jungfräulichen Ehre schuldig. So zog sie denn in Begleitung
zweier Federbetten und einer Kommode aus Kirschbaumhvlz ab, nicht ohne von ihren
grunzenden Pflegebefohlueu thrnnenreichen Abschied genommen und sie als teure
Hinterlassenschaft dem geistlichen Herrn mit bewegten Worten ans Herz gelegt
zu haben.
Im Grunde genommen nahm ihr Pnncratins die Fahnenflucht nicht weiter
übel, er wußte ja, daß der Starke allein um mächtigsten ist. Trotzdem hielt er
es für seine Pflicht, auch die „Unterthanen" von seinen Planen in Kenntnis zu
setzen und sie aufzufordern, sich und ihre bewegliche Habe im Burgbereich in Sicher¬
heit zu bringen. Wollten sie dies nicht, und das war bei dem bekannten Starrsinn
der Bauern sogar wahrscheinlich, so hatte er wenigstens seine Pflicht gethan und
brauchte sich keinen Vorwurf zu machen, wenn sich der Feind an ihrem Besitztum
schadlos halten und sie für den Widerstand, den die Burg geleistet hatte, an Leib
und Leben strafen würde. Man sieht, daß sich unser Freund durch die Kampflust,
die ihn beseelte, keineswegs den Blick für die Lage der Dinge und das Verständnis
für Recht und Billigkeit trüben ließ.
Den „Erlaß" mit liebevollen Blicken betrachtend wanderte er jetzt eine Weile
in dem Gemach auf und nieder, trat dann an eines der Fenster, öffnete es und
setzte eine Glocke in Bewegung, die unter dem Dachvorsprunge angebracht war und
ursprünglich die Bestimmung gehabt hatte, bei nahender Gefahr die Landleute aus
der Umgegend zur Hilfe herbeizurufen. Jetzt galt ihr Klang einem der Mühl¬
knappen, die in der nahen Mühle beschäftigt waren und ab und zu für deu Burg-
laplau einen Weg zu gehn sich bereit finden ließen. Als der Bursche bald nachher
erschien, warf ihm Pancratius das Schriftstück in die Schürze und rief ihm die
Weisung hinunter, es zunächst seinem Meister, dann aber den ihm wohlbekannten
„Unterthanen" in den drei Dörfern zur Kenntnisnahme vorzuzeigen. Darauf unterzog
er das Arsenal seiner Festung einer eingehenden Besichtigung. In einer Boden¬
kammer hatte er vor Jahr und Tag drei nicht mehr ganz vollständige Pruuk-
rüstnngen aus der Ausgcmgszeit des sechzehnten Jahrhunderts entdeckt. Sie lagen
auch jetzt uoch verstaubt, verrostet und, was das Lederzeug nubetrcif, von Würmern
zerfressen neben etlichen alten Degen, Pistolen und Spontvus in ihrem Winkel.
Der neuzeitlichen Kriegführung und ihren Anforderungen an Schutz- und Trutz-
Waffen entsprachen sie freilich nicht, ließen sich jedoch im Notfalle vielleicht noch
verwenden. Er zog sie ans Licht, putzte sie, so gut ers vermochte, und trug sie in
die Bibliothek, deu einzigen Raum, wo er sich heimisch fühlte. Sodann öffnete er
den Schrank, in dem Herr von Geyr seine Jagdgewehre verwahrte. Hier war die
Ausbeute schon besser. Namentlich eine lange doppelläufige Entenflinte, ein schönes
englisches Stück, das der Besitzer zu benutzen pflegte, wenn er an den beschilften
Ufern des nahen Laacher Sees auf Wassergeflügel pürschte, erschien dem streitbaren
geistlichen Herrn für seine Zwecke äußerst brauchbar. In einem mächtige» Stein¬
topf fand sich auch Schießpulver in genügender Menge. Nur der Bleivorrat er¬
wies sich als unzureichend, doch hier wußte Pancratius Rat. Er riß vou einem
der Bodenfenster aus ein Stück Dachrinne herunter und hielt es zum Einschmelzen
in Bereitschaft.
Sein einziger Kummer war, daß es ihm an grobem Geschütz fehlte. Ein paar
Böller oder Katzenköpfe, die in frühern Zeiten zum Vivatschießen bei festlichen
Gelegenheiten gedient hatten, waren allerdings vorhanden, aber ob diese sich zu
ernstern Zwecken verwenden ließen, ohne der Bedienungsmannschaft gefährlicher zu
werden als dem Feinde, schien sogar dem unerschütterlichen Optimismus unsers
Freundes zweifelhaft.
Aber die Not macht erfinderisch. Als Pancratius ein Fenster nach dem Garten
hin öffnete, um zur Prüfung seiner Treffsicherheit einen Schuß aus der Eutcnflinte
auf das Haupt einer Sonnenblume abzugeben, fiel sein Blick auf einen großen
Haufen von Basaltsteinen, die vor Jahren zur Neupflasteruug des Hoff angefahren
aber niemals benutzt worden waren. Die handlichen, schweren und scharfkantigen
Steine, die man von den Fenstern des höchsten Stockwerks ans auf etwaige An¬
greifer hinabfallen lassen konnte, waren auf alle Fälle wirksamer als Geschützkugelu
und Granaten, bei denen man nie weiß, ob sie auch wirklich an ihrem Bestimmungsort
ankommen. Es war freilich keine leichte Arbeit, den ganzen Vorrat von Steinen
zweihundertachtzehn Treppenstufen hinnufzufchaffeu, aber dafür hatte man ja seine
„Unterthanen," die an drei Tagen im Jahre zur Ableistung von Hnnddicusten
verpflichtet waren, und deren Hilfe Pancratius ohnehin bedürfte, um die Burg in
Verteidigungszustand zu setzen.
Nachdem auf solche Weise die Armieruugsfrage erledigt war, galt es für die
Verpflegung der glücklicherweise recht kleinen Besatzung Sorge zu tragen. Dank
der Umsicht und Sparsamkeit der braven Slina fehlte es auf der Schweppenburg
nicht an Speise nud Trank. Schinken, Würste, Rauch- und Pökelfleisch waren
reichlich vorhanden, und in der Vorratskammer fanden sich rede» wohlgefüllten
Erbsen- und Linsensäcken zwei Fässer Sauerkraut, eine Tonne Heringe und ein
ganzer Berg Stockfische, Im Besitze solcher Dinge brauchte man sich vor dem
Ausgehungertwerden nicht allzu sehr zu fürchten. Und dann waren ja auch noch
zwei lebende Schweine vorhanden, rosig und schön, wahre Urbilder der Gesundheit
und des ewigen Lebens. Da diese aber selbst der Verpflegung bedurften, so schwankte
unser Freund lange, ob er sie am Leben lassen oder so bald wie möglich schlachten
sollte. Das eine wie das andre hatte ebensoviel für wie gegen sich. Schinken,
Pökelrippchen, Speckseiten und Würste find leichter zu behandeln als lebende Schweine,
aber andrerseits hat die Gesellschaft eines lebenden Wesens für einen von der Welt
abgeschnittnen Menschen etwas ungemein Tröstliches. Nicht ohne Grund hat die
Legende dem frommen Denker Antonius von Padua einen behaglich grunzenden
Gefährten seiner Einsamkeit zugesellt. Und dann können für eiuen Belagerten Zeiten
kommen, wo der Genuß eines Stücks frischen Fleischs die Lebensgeister zu neuem
Widerstande anregt, wo der Duft eines lustig brutzelnden Koteletts mehr zum
tapfern Ausharren begeistert, als der Gedanke an Pflicht und Nachruhm.
Als weiser Mann wählte Pancratius den goldnen Mittelweg: er beschloß eins
der Rüsseltiere zu schlachten, das andre aber als treuen Verbündeten mit in seine
Burg zu nehmen und an den Freuden und Leiden der Belagerung teilnehmen zu
lassen. Ein Winkel unter der Treppe, der sich durch eine vor die Öffnung ge-
schobne Kiste absperren ließ, sollte dem rundlichen Tiere Unterkunft gewähren. So
weit war also alles aufs beste überlegt. Die Frist bis zur Ankunft der „Unter¬
thauen" wurde dazu benutzt, die letzten Gnrtenfrüchte und Kartoffeln einzubringen
und sämtliche vorhandnen Waschgeräte, Fässer und Kufen mit frischem Trinkwasser
zu füllen.
Ruhig, wie ein Mann, der alles gethan hat, was in seinen Kräften stand,
konnte Pancratius Snckmann der Zukunft entgegensehen.
Der 22. Oktober kam, und mit ihm erschienen die handdienstpflichtigen Bauern
aus Niederlützingen, Alk und Poles. Sie betraten in dem Augenblicke, als die
Sonne sich über die Berge erhob, den Burghof. Sie kamen, weil es seit Menschen¬
gedenken so der Brauch gewesen war, obgleich sie im stillen die Überzeugung hegten,
daß es ihrer Menschenwürde schlecht anstehe, dem adlichen Herrn und seinem geist¬
lichen Stellvertreter Frondienste zu leisten. Aber abgesehen von dieser Erwägung
kamen sie nicht ungern, denn Pancratius hatte es seit dem Beginn seiner Amts¬
führung angeordnet, daß sie zum Vesper Brot, Käse und Wein erhielten, und diese
Vergünstigung, zu der für den Lehnsherrn keine Verpflichtung vorlag, hatte sie
einigermaßen mit der ihnen unbequemer Last ausgesöhnt. Allerdings war das
Vesperbrot oder vielmehr die Frage, weshalb es ihnen gereicht würde, schon lange
ein Gegenstand angestrengten Nachdenkens für sie gewesen, dessen endliches Resultat
wiederum eine Frage war, die Frage nämlich, ob sie nicht ebenso gut ein Frühstück
erhalten müßte». Diese Frage bei nächster Gelegenheit aufs Tapet zu bringen,
hatten sie schon in einer geheimen Versammlung beschlossen.
Wie groß war nun das Erstaunen der guten Leute, als sie der Burgkaplan,
statt sie auf die Felder und in den Wald zu schicken, in den Festsaal führte, dessen
Tisch mit einem mächtigen Steinkruge und zehn Gläsern besetzt war! Hatte er
ihre Wünsche schon erraten? Hatte einer unter ihnen ihm einen Wink gegeben?
Sie waren ein wenig verstimmt, daß man ihnen zuvorgekommen war. Das Be¬
wußtsein, durch gemeinsames Vorgehn etwas von der Herrschaft erzwungen zu haben,
Ware ihnen wertvoller gewesen als das Frühstück selbst.
Sie blieben an der Thür stehn, drehten ihre Mühen in den Händen und be¬
mühten sich, mit keiner Miene die Gefühle zu verraten, die in diesem Augenblick
ihr Inneres bewegten. Der eine oder der andre sandte dem geistlichen Herrn
einen argwöhnischen Blick zu, der ihn nur streifen und dann irgend einen gleich-
giltigen Gegenstand im Gemach treffen sollte. Aber es ging allen gleich: das
Auge versagte den Gehorsam und blieb an Pancratius stattlicher Gestalt hängen.
Was war das? War der Riese plötzlich noch gewaltiger geworden? Gewächsen
schien er nicht zu sein, aber seine Natur schien verändert, sein Oberkörper hatte um
Umfang ein erheblich Teil zugenommen. Dieser oder jener glaubte dies Phänomen
rin dem Verschwinden der alten Slina in Verbindung bringen zu müssen. Man
wußte, daß sie etwas „genan" war, und daß sie den Kaplan in allem, was des
Leibes Nahrung und Notdurft anging, ein wenig knapp gehalten hatte. Aber die
Slina war noch keine acht Tage fort, und in einer so kurzen Zeitspanne kann wohl
ein Kürbis seinen Umfang um ein volles Drittel vergrößern, nicht aber ein Mensch,
und wenn er auch Tag und Nacht in der Speisekammer zubrächte.
Der Gegenstand des allgemeinen Erstaunens schritt langsam zu dem für ihn
bereitstehenden Sessel an der einen Schmalseite des Tischs und ließ sich mit einer
Schwerfälligkeit, die man an ihm nicht gewohnt war, darauf nieder. Er forderte
die „Unterthanen" durch eine großartig würdevolle Handbewegung auf, sich gleich¬
falls zu setzen. Sie kamen dieser Weisung nach, nicht ohne einander erst lange
zum Vortritt genötigt zu haben, da sie nach Baueruart auf Zeremoniell hielten
und ein feines Organ für die subtilen Abstufungen von Rang und Persönlicher
Bedeutung hatten. Die beiden Ehrenplätze neben dem geistlichen Herrn gebührte»
nach stillschweigender Übereinkunft aller Anwesenden dem Pächter der Mühle und
dem alten Peter Keuffer aus Niederlützingen; diesem, weil er seinen Bergacker mit
vier Ochsen zu pflügen pflegte, jenem, weil er sich bei der Leistung der Handdienste
dnrch zwei Knechte vertreten ließ und heute uur wegen der auf die Tagesordnung
gesetzten Beratung erschienen war.
Pancratius ließ den Blick über die Tafelrunde schweifen, räusperte sich und
begann:
Im Namen unsers gnädigen Herrn heiße ich euch, liebe und getreue Unter¬
thanen, allhier willkommen!
Ich möchte den ehrwürdigen Herrn Kaplan darauf aufmerksam machen, daß
ich kein Unterthan, sondern ein freier Mann bin, unterbrach ihn Johann Grüne¬
wald aus Poles. Pancratius sah ihn ohne ein Zeichen von Erregung an und ent-
gegnete ruhig:
Wenn Er ein freier Mann ist, weshalb hat Er dann Unserm Befehl, allhier
zu erscheinen, Folge geleistet?
Weil ich halt gemußt hab, erwiderte der junge Bauer in leiseren Tone.
Ergo, wenn Er gemußt hat, ist Er kein freier Mann, sondern ein Unter¬
than. Dünkt Er sich etwa bester zu sein als hier diese wackern und verständigen
Männer?
Johann Grünewald schwieg, und die übrigen verrieten dnrch bedeutsames Kopf¬
nicken, daß sie dem geistlichen Herrn recht gaben. Im Grunde genommen teilten
sie freilich mehr oder minder Grünewalds Ansicht, aber daß er, der jüngste von
allen, das Wort ergriffen hatte, stimmte sie gegen ihn. Das fehlte noch, daß so
ein Kuhbauer das Maul aufthun wollte, wenn Leute, die mit vier Ochsen Pflügten,
schwiegen!
Liebe und getreue Unterthanen, fuhr der Geistliche unbeirrt fort, ich habe euch
im Namen unsers gnädigen Herrn herbeschieden, um eure Dienste in Anspruch zu
nehmen. Zuvor aber möchte ich mit euch Rates Pflegen, wie wir dem uns
drohenden Einfall der Gallier begegnen und sie mit der Schärfe des Schwertes
ans unserm Lande vertreiben können. Ich, der ich hier als Stellvertreter unsers
Herrn stehe, kenne die Aufgabe, die meiner harrt, ich weiß, daß die Augen der
Welt auf mich gerichtet find, und daß man von mir erwartet, ich werde einen
ehrenvollen Tod dem schimpflichen Frieden vorziehn. Europa soll sich in Pancratius
Sackmann nicht täuschen!
Ich glaube, ihr alle wisset die Welthistorie uach Gebühr zu schätzen, sie, die
die Thaten der Völker und der einzelnen Menschen, so sie Rühmliches geleistet,
mit demantnem Stifte in ihre ehernen Tafeln einträgt, auf daß sie den nachgebornen
als Richtschnur in ähnlichen Lagen dienen mögen. Ist einer unter euch, der Titum
Livina kennt?
Die Zuhörer sahen einander an.
Wo soll der wohnen? fragte Andreas Bickebach aus Alk.
Titus Livius ist mehr denn siebzehnhundert Jahre tot, erklärte Pancratius
mit wehmütigen Lächeln. Er lebte in Rom am Hofe des Kaisers Augustus, den
ihr, wie ich weiß, alle kennet.
— daß alle Welt sich schätzen ließe. Und diese Schätzung war die allererste
und geschah zu der Zeit, da — da —
Die Erwähnung des Kaisers Augustus hatte in der Erinnerung Peter Keuffers
den Wortlaut des Weihnachtsevangelinms ausgelöst. Das Rädchen schnurrte los
und würde noch weiter gelaufen sein, wenn sich ihm nicht der Name des Land-
Pflegers Cyrenius als unüberwindliches Hindernis in den Weg gelegt hätte.
Ihr habt Euern Katechismus mit Nutzen gelernt, sagte Pancratius, indem er
den bibelfesten Alten auf die Schulter klopfte. Nun aber laßt uns zu besagtem
Livina zurückkehren. Er hat uns in seinen unsterblichen Schriften eine Historia
des römischen Volks hinterlassen, die gar erbaulich und nützlich zu lesen ist. In
diesem Buche hier — er zog einen Pappband aus der Tasche seiner Soutane —
findet sich Titi Livii Bericht von dem Einfall der Gallier in Rom, so im Jahre 390
vor der Geburt unsers Herrn und Heilands stattgefunden hat.
Die Bauern sahen einander mit überlegnem Lächeln an. Daß man damals
von Christi Geburt noch nichts wissen und mithin auch nicht die Jahre nach ihr
zählen kounte, stand für sie felsenfest. Sie waren nur einfache Leute, aber das
wußten sie denn doch besser!
Unser Freund blätterte in seinem Buche und behielt es aufgeschlagen in
der Hand.
Ich will euch, damit auch ihr eine Richtschnur für euer Thun und Lassen
in den Tagen der Gefahr habet, die besagte Stelle vorlesen, allwo es heißet
wie folgt.
Er las mit bewegter Stimme den Abschnitt, der die Entsendung der drei
Söhne des Oberpontifex M. Fabius Ambnstus an die gallischen Häuptlinge, ihre
voreilige Teilnahme am Kampfe und ihre Ernennung zu Kriegstribuuen behandelt,
ging dann zu Brennus und der Schlacht an der Allia über und gelangte schlie߬
lich zu dem Punkte, von dem er sich die stärkste Wirkung auf das männliche Gemüt
seiner Zuhörer versprach, zu der Verteidigung des Kapitals und dem entscheidenden
Eingreifen des Camtllus,
Während dieses Vortmgs mußte er einmal husten. Er hielt mit dem Lesen
inne, griff nach dem Steinkrug und goß sich von dessen Inhalt in sein Glas, auf
das sich in diesem Moment neun Paar Augen mit gespannter Aufmerksamkeit
richteten. Als auf der Hochzeit zu Kana aus den Wasserkrügen Wein floß, werden
die Gäste kaum verdutztere Gesichter gemacht haben, als es jetzt die neun „Unter¬
thanen" thaten. Aus dem Weinkruge strömte nämlich Wasser, ganz gewöhnliches
klares Brunnenwasser! Hatten die Sympathien der Zuhörer bis dahin den Römern
gehört, so trat jetzt plötzlich eine Wendung ein. Umsonst ließ Pancratius die
heiligen Gänse der Juno schnattern, umsonst griff Maulins Ccipitolinus zu Schwert
und Schild — neun in ihren Hoffnungen schmählich getäuschte Eifeler Bauern, in
deren Adern das alte Keltenblut zu rebellieren begann, fielen dem Verteidiger des
Kapitols in den Arm und ließen ihn erst los, nachdem alle Gallier den Gipfel
des Burgbergs erklommen hatten. Als unser Freund seine Vorlesung beendet hatte
und sich mit leuchtenden Augen im Kreise seiner Vasallen umschaute, fand er sich
mit seiner Begeisterung allein. In den Mienen dieser Barbaren war nichts zu
lesen als Enttäuschung, Hohn und Langweile. Aber auch das beirrte ihn nicht.
Wollt ihr nun, da anch unserm Laude ein Einfall der Gallier droht, mit mir
zusammen diese Burg als das Kapitol unsrer Gegend bis zum letzten Blutstropfen
verteidigen und dafür den Schutz genießen, den diese festen Mauern euch bieten,
so gehet nach Hause, holet Weib und Kind und alle Habe und kommet wieder
hierher.
Mit Erlaubnis des Herrn Kaplans möchte ich bemerken, daß wir dazu uicht
verpflichtet sind, erwiderte unter beifälligem Kopfnicken der andern Peter Kcuffer,
davon steht nichts in unsern Briefen. Und was die Franzosen sind, so wolle» wir
mit denen schon allein fertig werden. Die wollen anch bloß den reichen Herr¬
schaften und den Fürsten und, mit Erlaubnis des Herrn Kaplans, den geistlichen
Herren an deu Kragen und werden sich »in uns Bauern den Teufel kümmern.
Und was die Gänse sind, fügte Andreas Bickebach hinzu, so schlachten wir
die vorher selber, und daß das Viehzeug heilig sein soll, davon haben wir auch noch
nichts gehört, und das wird der Herr Kaplan wohl auch selber uicht glauben.
Und wenn der Herr Kaplan uns Gläser hinstellt und meint, er müsse uns
eiuen Frühtrunk vorsetzen, so könnts ein Rheinbrohler sein. Für Wasser danken
wir, das können wir zu Hause auch haben, meinte Nikolaus Aldenkircheu aus
Niederlützingen, ein Mann, dessen zart geröteter Nase man ansah, daß er das,
was er zu Hause auch haben konnte, im besten Falle als äußerliches Mittel zu ge¬
brauchen pflegte.
Pancratius hatte für alles das «ur ein mildes Lächeln. Er glich einem Manne,
der die beruhigende Überzeugung hat, nichts unterlassen zu haben, um seine Mit¬
menschen vor dem ihnen drohenden Verderben zu bewahren, und der nun zusehen
muß, wie sie blindlings dem Abgrunde entgegenrennen.
Gut, sagte er mit fester Stimme, thut, was euch gut scheint. Ich bedarf
eures Schutzes nicht. Diese Mauern werden mir Sicherheit gewähren. Wenn es
aber im Buche des Schicksals geschrieben stehet, daß ich für das Besitztum meines
Herrn und für das eigue Leben mit gewappneter Hand kämpfen soll, so wird mich
dieses hier schützen —
Er riß die Soutane auf und wies auf seine Brust, die ein Harnisch aus
leidlich blankem Stahle bedeckte. Und das Gewand wieder zuknöpfend sagte er
ruhig, als sei nichts besondres vorgefallen:
So, Leute, nun geht an die Arbeit. Ihr sollt die Pflastersteine, die im Hofe
liegen, ins Haus schaffen und zwar in das Zimmer, das ich euch bezeichnen werde.
Habt ihr das gethan, so sollen Peter Keuffer und Johann Grünewald das eine
der Schweine schlachten, ihr andern aber sollt mir helfen die Fenster verrammeln.
Wenn ihr mit diesen Arbeiten heute noch fertig werdet, so sollen euch die beiden
andern Frontage geschenkt sein.
Die Bauern begaben sich in den Hof und betrachteten, während Pancratius
in der Thür stehn blieb, den Steinhaufen, den sie, offenbar weil ihn der geistliche
Herr für einen Berg von Edelsteinen hielt, in Sicherheit bringen sollten. Sobald
sie sich allein sahen, schüttelten sie bedenklich die Köpfe, und Johann Grünewald
als der jüngste und vorlauteste von ihnen flüsterte seinem Nebenmann zin Der
Kaplnn ist übergeschnappt. Habt ihrs gesehen? Er hat sich den Muskessel vor den
Bauch gebunden!
Mehr noch als das wachsame Auge des „Übergeschnappten" spornte die Leute
bei der Arbeit die Aussicht um, mit einem Frvntage davonzukommen. Sie schleppten
denn auch mit einem Eifer Steine die Treppen hinauf, als gelte es einen babylo¬
nischen Turm zu bauen. Pancratius nahm ihnen oben ihre Last selbst ab, wog
jeden der Steine mit behaglichem Schmunzeln in der Hand und schichtete sie kunst¬
gerecht zu beiden Seiten des Fensters auf, das gerade über der Hausthür, oder
wie unser Freund lieber sagte, über dem Burgportale gelegen war. Als der letzte
Stein an seinem Platze lag, konnte Pancratius sich nicht enthalten, den Vorrat zu
überzählen. Achthundertvierzehu Stück, sagte er wohlgefällig, das bedeutet ncht-
hnndertvierzehn tote Gallier! Dann kletterte er die Stiege zum Boden hinauf,
zwängte, was wegen des Brustharnischs mit vielen Schwierigkeiten verknüpft war,
den Oberkörper durch eine Dachluke, drohte mit der geballten Faust gegen Westen
und rief: Rom ist in Kriegsbereitschaft! Wenn ihr Barbaren noch die Söhne jener
Männer seid, die das Kapitol zu bezwingen gedachten, so kommt! Ihr werdet,
wenn auch keinen Camillus, so doch einen Marcus Martius finden!
Während er diese einfachen aber würdigen Worte sprach, siel ihm ein, daß
der Feind nicht von Westen, sondern von Osten her anrücken werde. Er ließ die
Faust darum laugsam einen Halbkreis über die Linie des Horizonts hin beschreiben,
bis sie seinem Auge den engen Thaletugaug verdeckte, schüttelte sie nochmals mit
großem Nachdruck und schlüpfte dann wieder in die Bodenkammer zurück. Jetzt
verriet drunten im Hofe das ohrenzerreißende Jammergeschrei des Schweines, daß
die Kriegsfurie ihr erstes Opfer fordre. Omen ^eoipio! sagte der Burgkaplan
mit antiker Geistesgegenwart, ich nehme das gute Vorzeichen an! Vas viotis!
Dann begab er sich in das Erdgeschoß, aus dessen Zimmern er alle Möbel
beseitigen ließ. Er gab Befehl, die Fensterflügel und die Verbindungsthüren auf-
zuheben, jene auf deu Boden zu schaffen, diese aber vor die Fensteröffnungen zu
stellen und durch eingeklemmte Querbalken zu befestigen. Zum Überfluß wurde noch
Erde angefahren und gegen die Thürflügel zu einem hohen Walle aufgeschüttet.
Die nach dem Vorsaale führenden Thüren verschloß Pancratius mit eigner Hand und
versteckte die Schlüssel unter einer locker gewordnen Steinplatte des Vorsaalbelags.
Es begann schon zu dämmern, als man mit all diesen Arbeiten fertig wurde.
Der Geistliche verabfolgte jedem der Leute eine Flasche Wein und eine frische Wurst,
entließ sie und verriegelte hinter ihnen das „Portal" mit einer Sorgfalt, als ob
schon in der nächsten Nacht ein feindlicher Angriff zu erwarten sei.
(Fortsetzung folgt)
Dem ausführlichen Bericht über Liebmanns Werk im 14.
und 15. Heft schicken wir noch einen kürzern nach über einige Schriften, die sich
ebenfalls die Förderung und den Ausbau der Kantischen Philosophie zum Ziele
gesetzt haben. Während Liebmann nicht Kantianer sein, sondern nur die streng
kritische Methode befolgen will, hält sich Kurt Laßwttz in dem Buche „Wirklich¬
ketten, Beiträge zum Weltverständnis" (Berlin, Emil Felder, 1900) streng an Kant
und hat sich augenscheinlich, ohne es ausdrücklich zu sagen, die Aufgabe gestellt, die
schwierigste Leistung der Kantischen Philosophie, die Aussöhnung der Notwendigkeit
mit der Freiheit, vollends ins reine zu bringen. Seit Lotze neigen die idealistischen
Philosophen der Auffassung zu, daß die Elemente der Welt: Atome, Monaden oder
wie immer man sie nennen mag, ein zweifaches Dasein haben: ein äußerliches,
räumliches, das die Körperwelt bildet, und ein innerliches, das sich im Menschen
zum Geiste steigert. Laßwitz verwirft diese Scheidung in zwei Erscheinungsformen.
Mit einer gewissen Heftigkeit bekämpft er im Anschluß um Goethes Gedicht „Aller¬
dings" („Ins Innere der Natur" — o du Philister! usw.) die Auffassung, daß die
Natur ein geheimnisvolles, unerforschliches Innere berge. Wir selbst seien Natur,
Natur und erkennender Geist sei eins» das eine nicht denkbar ohne das andre.
Hinter dem, was wir von der Natur erkennen, stecke nichts mehr; nur insofern sei
unsre Naturerkenntnis Stückwerk, als wir eben nur Stücke, nicht das Ganze über¬
schauen, aber das erkannte Stück durchschauen wir nach Laßwitz ohne Rest. Der
äußere Gegenstand ist nicht ein Haufen qualitätsloser Atome, deren Schwingungen
in unserm Innern in Farben und Töne umgesetzt würden, sondern der geschaute
Mond z. B. und der wirkliche Mond sind ein und dasselbe. Nicht zwischen Jnnern
und Äußern liegt die Grenze, die die Welt in zwei ganz verschiedne Hälften
scheidet, sondern zwischen der Nnturerkenntnis und den Werturteilen, die auf einem
Gefühl beruhen, zwischen dem Gebiet der Notwendigkeit, zu dem unser individuelles
Ich gehört, und dem überindividuellen Gebiet der Freiheit. Unsers Erachtens ist
es Laßwitz ebensowenig wie seinen Vorgängern gelungen, diese Kantische Auffassung
vollkommen klar zu machen und ihre Richtigkeit überzeugend nachzuweisen, und wenn
es Laßwitz nicht gelingt, der überall sonst die Klarheit selbst und ein Meister der
Darstellung ist, so wird die Aufgabe wohl unlösbar sein. Oder liegts am Stumpfsinn
des Rezensenten? Vielleicht bekommen die Leser Lust, selbst zu prüfen, wenn wir
ihnen ein paar Stellen vorlegen, die man wohl als Leitsätze bezeichnen darf. „Was
uns in der täglichen Erfahrung entgegentritt, wird ans dem naiven, unwissenschaft¬
lichen Standpunkte der Weltbetrachtung einfach für das Wahre, Wirkliche, Seiende,
für die Dinge selbst gehalten. Aber es ist keineswegs das Ursprüngliche, es ist
vielmehr schon ein Produkt .der Arbeit des Bewußtseins, der Abstraktion und Kom¬
bination <S. 84). Was das Seiende ohne unser Bewußtsein ist, bleibt eine Frage,
die man offenbar nicht beantworten kann (S. 85). Wenn es gelänge, die Gerüche
ans mathematische Gesetze zu bringen, so würde offenbar ein neues Naturgebiet
geschaffen werden, von dem man jetzt nicht sagen kann, welche neuen Verkehrsmittel
für die Subjekte es darbieten würde. In diesem Sinne ist Natur niemals etwas
Abgeschlossenes, sondern entwickelt sich mit der Erkenntnis und unter fortwährender
Korrektur durch die Erkenntnis zu einem System, das als eine gesetzliche Verbindung
vou Erscheinungen sich immer deutlicher von den Vorgängen sondert, die wir in
den individuellen Systemen der menschlichen Leiber erleben. Diese lösen sich da¬
durch nicht von der Natur, sondern lassen die Art ihrer Verbindung mit dieser
um so genauer erkennen, je strenger die von ihnen unabhängigen Erscheinungen
gesetzlich bestimmt werden als das System des objektiven Naturgeschehens. Die
Natur als Produkt der Erkenntnis auffassen, heißt keineswegs an der Realität der
Naturerscheinungen rütteln. Deal Erkenntnis ist ja gerade der Vorgang, wodurch
objektive, allgemein giltige Thatsachen festgelegt werden. Aber diese idealistische
Auffassung des Seins ermöglicht ein Verständnis für die Realität der Objekte,
wonach nun die subjektive Realität der Vvrstellungswelt in gleiche Linie mit ihnen
gestellt werden kann, indem sich beide als ein notwendiger Zusammenhang derselben
gesetzlichen Entwicklung ergeben, nicht als ein Übergang zweier verschiedner Arten
des Seins in einander. Ein Körper ist nämlich nichts andres als eine gesetzliche
Bestimmung, daß sich gewisse Veränderungen im Raume vollzieh,! müssen, die wir
als Wechselwirkung mit andern Körpern oder — mit dein modernen naturwissen¬
schaftlichen Ausdruck — als Energienmwandlungen bezeichnen. Zu dieser Bestimmung
gehört es auch, daß, wenn der Körper zu meinem menschlichen Leibe in eine ge¬
wisse räumliche Beziehung tritt, Veränderungen in diesem meinem Leibe auftreten
(S, 94 bis 95). Die Welt geht ihren Gang, aber ich schlafe oder sterbe und weiß
nichts davon. Die physische Einheit bleibt bestehn, die psychische nicht. Erkläre mir
diese Beziehung des individuellen Ich zur Natur! Und weiter, wenn sich mein
individuelles Bewußtsein in Abhängigkeit von der Natur befindet, wie soll ich es
verstehn, daß die kritische Auffassung nun dem persönlichen Bewußtsein doch einen
Rang über der Natur zugesteht? Innerhalb der Naturwissenschaft giebt es nicht
Persönlichkeiten, sondern mir Individuen. Der Naturforscher hat daher mit dieser
Frage gar nichts zu thun; erst insofern er die Frage aufwirft, wie sich die Natur¬
wissenschaft zur Ethik, Ästhetik und Religion zu stellen hat, tritt der Begriff der
Persönlichkeit auf (S. 123). Außer deu Gesetzen der Anschauung und des Verstandes
giebt es noch Gesetze, die sich weder sinnlich bestätigen noch mathematisch oder logisch
beweisen lassen. Diese Gesetze nennen wir Ideen. Eine Idee ist ein Gesetz, das
eine Bestimmung enthält, die niemals in Raum und Zeit wirklich vollzogen ist,
sondern nur als Forderung besteht. Solche Forderungen sind die Idee der Freiheit
und die Idee der Zweckmäßigkeit. Obwohl sich in der Natur weder Freiheit noch
Zweckmäßigkeit f?j nachweisen läßt, bestehn sie doch als Forderungen, als eine be¬
stimmte Form, wie etwas sein soll. Das, was sein soll, gehört nicht zur Natur,
sondern erst sein Werden. Der ganze Komplex des sittlich handelnde» Individuums
findet sich als eine Thatsache in der Natur, nur die ursprüngliche Bestimmung des
Sollens findet sich nicht darin. Daß ich das, was ich bin, auch sein soll, das liegt
nicht in der Natur, sondern in dem Gesetz der sittlichen Person, und ich darf es
nicht etwa in ein unbekanntes Innere der Natur verlegen. Es gehört einem andern
Gebiete der Gesetzlichkeit an. Was Natur ist, haben wir ja als das Notwendig-
Seiende von dem Sein-sollenden abgeschieden; wir dürfen es nicht noch einmal
spalten (S. 156 bis 157). Weil die Natur keinen Zweck kennt, ist auch der Mensch
in der Natur kein Endzweck. Das Ich, das sich in der Persönlichkeit als Selbst¬
zweck fordert, ist nicht der Inhalt, durch den sich ein Individuum vom andern unter¬
scheidet; es ist vielmehr die Einheit, die allein individuellen Inhalt gemeinsam ist,
der Charakter, ein Ich zu sein (S. 167 bis 168). Allerdings entwickle ich mich
notwendig, insofern ich in der Zeit bin; aber die Bestimmung über meine Ent¬
wicklung ist kein Vorgang in der Zeit, sondern für die Zeit, sie selbst ist zeitlos.
Deswegen bin ich frei, weil meine Selbstbestimmung, die über meine Entwicklung
entscheidet, nicht in irgend einer Zeit diese Entscheidung festgestellt hat" <S. 182).
Laßwitz ahnt nicht, wie viel Dogmatismus auch noch in seinem Kritizismus steckt,
und wie er mit seiner zeitlosen Willensentscheidung in die bedenkliche Nachbarschaft
des Mystikers Dn Pret gerät, den er energisch bekämpft. Daß der Kritizismus
uicht allein die Ethik, sondern auch die Religion vor jedem Angriff der Natur¬
wissenschaften sicher stellt, ist von vornherein klar, und Laßwitz widmet diesem Gegen¬
stand eine sehr schöne Abhandlung, die den Theologen dringend empfohlen sein mag;
auch die Wunder läßt er zu. Andrerseits zeigt er, wie gefährlich es für die Re¬
ligion ist, wenn sie mit einer bestimmten Naturphilosophie verquickt wird; ganz in
seinem Element ist er in dem prächtigen Kapitel „Gerade und Krumm," aus dem
wir erfahren, daß Giordano Bruno verbrannt worden ist, weil sich Aristoteles zu
dem richtigen Begriff der Kreislinie, den später Archimedes erfaßt hat, nicht durch¬
zuringen vermochte. Im Schlußkapitel weist er darauf hin, wie der Technik und
der Industrie eine poetische Seite abgewonnen werden könnte. Bekanntlich hat er
das selbst in seinen phantasievollen Erzählungen aus zukünftige» Jahrhunderten mit
glücklichem Erfolg versucht.
In das Verständnis des Kantischen Apriorismus führt Dr. Adolf Wagner
recht geschickt ein mit dem dritten seiner kleinen und netten populärwissenschaftlichen
Bündchen, die er unter dem Titel: Studien und Skizzen aus Naturwissen¬
schaft und Philosophie bei den Gebrüdern Bornträger in Berlin herausgiebt. —
Von schwereren Kaliber sind die Marginalien (nebst Register) zu Kants Kritik
der reinen Vernunft, die George Samuel Albert Mellin, zweiter Prediger der
deutsch-reformierten Gemeinde zu Magdeburg, im Jahre 1794 herausgegeben hat,
und von der Dr. Ludwig Goldschmidt, mathematischer Revisor der Gothaischen
Lebensversicherungsbank, eine neue Ausgabe (Gotha, E, F. Thienemann, 1900) ver¬
anstaltet hat, der er eine sehr gründliche eigne Würdigung des unsterblichen Werkes
beigiebt. Die Marginalien: kurze Sätze, die den Hauptinhalt jedes Abschnitts
prägnant wiedergeben, sind vortrefflich geeignet, den Studierenden in die Vernunft-
kritik einzuführen und das Verständnis des schwierigen Werkes zu erleichtern. —
Nicht diesen Zweck verfolgt Dr. Raoul Richter, Privatdozent an der Universität
Leipzig, mit den Kant-Aussprüchen, die er zusammengestellt hat (Leipzig, Ernst
Wunderlich, 1900), als ein Gegengewicht gegen den überspannten Subjektivismus
und Individualismus unsrer Tage. In der That muß die Lebensauffassung dieses
wirklichen Weisen als Heilmittel wirken bei jedem von irgend welcher Afterweisheit
angekränkelten, der es einnimmt, und man muß dem Zusammensteller dankbar dafür
sein, daß er diesen Weisheitsschntz Kreisen zugänglich macht, denen die Werke Kants
verschlossen bleiben.
Wir fügen noch eine Schrift an, die sich nicht mit Kant befaßt: Die Unend¬
lichkeit der Welt nach ihrem Sinn und nach ihrer Bedeutung für die Menschheit.
Gedanken zum Angebinde des dreihundertjährigen Gedächtnisses des Martyriums
Giordano Brunos von Max Schneidewin (Berlin, Georg Reimer, 1900). Die
Schrift ist Troels-Lund gewidmet. Dieser hat (siehe Jahrgang 1899 der Grenz¬
boten, 4. Vierteljahr, S. 83) der Zerstörung des mittelalterlichen Himmelsbildes
eine für den Kirchenglauben verhängnisvolle Wirkung auf das gesamte Denken der
Menschen zugeschrieben. Schneidewin stellt fest, daß die Entdeckung Giordano Brunos,
der das vermeintliche Himmelsgewölbe in eine unendliche Welt von Sonnen auf¬
löste, diese Wirkung bis jetzt noch nicht gehabt hat, ist aber überzeugt, daß sie durch
Troels-Lunds Buch herbeigeführt werden werde, und daß es namentlich, was ihn
mit Trauer erfüllt, um den Glauben an die Erlösung geschehn sei. Er sucht nach
Trostgründen und Ersatzmitteln, die wir für überflüssig halten; daß und warum
uns die Unendlichkeit der Welt am Glauben nicht irre zu machen braucht, habe»
Wir seinerzeit ausführlich dargelegt. Was Schneidewins Buch trotzdem für Laien
empfehlenswert macht, ist der kleine populäre Kursus in der Astronomie, den es
enthält.
IZpx. II, I, 250 f. — ") Vgl. bes. I, 4, 39 ff. — ") I, 4, 105 ff. — ») II, 1, 30 ff. —
») I, 4, 133 ff. - «) I, 1,101 ff.; 8/11. II, 1, 22; 3, 17g. 224. I, 1, 95 sf. II, 3, 142 ff. II, 3,
69. 175; 1, 2, 12 ff. 1,3, 4 ff. II, 3, 84 ff. 1,1,120.4.7,45. 1,2,48. 1,2,81.95. Über
Canidia s. unten. — II, 2. — ») II, 3, 168 ff. — ") 1, 5, 9 ff, 71 ff. Strad. V, 233. —
">) I, 8. — 11, 9. - Sal. I, 5, 34 ff. — '») I, 9, 60 ff. — ") II, 8, bes. 54 ff. — I, 3,
133 ff. — II, 3, 229, vgl. 7, 15. 36. — ") I, 5, 50 ff. — -°) II, 8, 21 f., 33 f., 64 ff. —
">) I, 10, 14 f. — 2«) 5,4; 1, 29. - 1, 5, 21; 9, 11 f. — «) I, 5, 11 f. — «-) 1, 9, 74 ff.
— II, 6, 29 ff. — °°) I, 5, 7 sf. — '-«') II, 5, 39 ff., 93. — ") 1, 3, 44 ff. - °°) II, 3, 258 f.
— '-"') I, 6, 78 ff. — -'") I, 5, 21 f. — I, 6, 104 ff.; 9, 207, vgl. Insp. 1, 20, 15. —
«) Z. B. I, 2, 28 ff. — «1 I, 4, 28. — -") I, 3, 90 f. — »») II, 3, 20 ff. - "°) II, 7. 95. —
»') I, 3, 30 sf.. vgl. II, 3, 77. - II, 5, 38; 3, 228. Nx-n. I, 7, 49 ff. - I, 6, 15 sf. 27 ff.
— ">) I, 6, 46; II, 6, 38. 47 f. — ") I, 6, 1 ff.; vin'in. 1,1, 1; III, 29,1; I, 6, 5 ff. — «) I, 6,
5 ff.; II, 8, 22. — «») II, 7, 40. — ") II, 7, 58 ff. — II, 3, 265 ff. — -°) II, 6, 66 ff. -
") II, 7. - ») II, 3.
ßLWMTVjtwas geht vor, man weis, nur nicht recht was, dieses ge¬
flügelte Wort kennzeichnet heute die europäische Loge. Der
französische Minister des Auswärtigen, Delcasse, hat jüngst einen
Ausflug nach Se, Petersburg gemacht und dort, wie versichert
Iwird, eine vollkommne Übereinstimmung mit seinem russischen
Kollegen, dem Grafen Lambsdorff, erzielt, also Frankreich noch fester als
bisher an die Politik Rußlands gebunden, deren asiatisch-treulose Natur
immer deutlicher hervortritt. Kurz vorher hatte die französische Flotte mit
der italienischen unter dein Oberbefehl des Herzogs von Genua in Toulon
eine — ganz unpolitische — Begegnung, nachdem der italienische Minister¬
präsident Zanardelli unsern Reichskanzler Grafen Bülow in Verona begrüßt
hatte. Über die Vasallenschaft Frankreichs gegenüber Rußland wundert sich
längst niemand mehr, aber die Vorgänge in Toulon erfordern etwas mehr
Aufmerksamkeit, als die meisten Organe unsrer Tagespreise in ihrem blinden
Hasse gegen England oder in agrarischen Parteiinteresse ihnen zu widmen
geneigt sind.
Der Zutritt Italiens zu dem deutsch-österreichischen Bündnis von 1879
hat sich am 2. Januar 1883 keineswegs ganz freiwillig, sondern unter dem
harten Zwange der Not vollzogen. Denn unter dem radikalen Ministerium
Cairoli galt Italien der deutschen Diplomatie durchaus nicht als eine friedliche
konservative Macht. Die offne Begünstigung der Jrredenta erbitterte in Öster¬
reich tief und erregte bei Fürst Bismarck den Verdacht, Italien werde sich
der russischen Kriegspartei, die seit dem Berliner Kongreß von 1878 mit
der feindseligsten Gesinnung gegen Deutschland erfüllt war, zur Verfügung
stellen, wenn ihm Landgewinu an der Ostküste der Ndria versprochen werde
(Busch, Tagebuchblätter til, 354), Er hat deshalb bei den Wiener Verhand¬
lungen im September 1879 dein Grafen Andrassy auf die Frage, ob Deutsch¬
land, wenn Österreich zum Kriege mit Italien gezwungen würde und im Falle
des Sieges einige seiner alte» Provinzen zurücknehmen wolle, dagegen Wider¬
spruch erheben werde, nach kurzem Besinnen geantwortet: „Nein, Italien ge¬
hört nicht zu unsern Freunden," wie Marchese Raffciele Cappelli, der damals
bei der italienischen Botschaft unter Graf Robilcmt in Wien war, in der ^uovu.
^ntoloAm (vom 1. November 1897) erzählt, und er hat noch im Januar 1880
durch deu Botschafter Prinzen Neuß in Wien geraten, man möge von dort
aus durch eine gewisse Begünstigung reaktionärer Bestrebungen in Italien die
italienische Politik in eine Verteidiguugsstelluug drängen. Ja mau traut ihm
heute in Italien zu, er habe Frankreich zur Besetzung Tunesiens im Mai 1881
ermutigt, um Italien von Frankreich zu trennen.
Gewiß war das wirklich die Folge dieser Maßregel, die den Italienern
ein seit langer Zeit begehrtes, von ihnen wirtschaftlich größtenteils beherrschtes
Gebiet entzog und ans ihm sogar eine bedrohliche Stellung machte. Völlig
isoliert, mit Frankreich bitter verfeindet, mit Österreich gespannt, von Rußland
nicht unterstützt, suchte Italien nach dem Sturze Cairolis den Anschluß an
die mitteleuropäischen Mächte und trat am 2. Januar 1883 ihrem Bündnis
bei. Das sicherte es zwar gegen einen französischen Angriff, bedeutete aber
auch den Verzicht ans die populären Bestrebungen der Jrredenta, auf Welsch¬
tirol, Jstrien und Dalniatie». Es war doch schließlich mehr, sozusagen, eine
Verstandesehc, als ein Herzensbund, und Italien hat, so wenig wie die beiden
andern Mächte, das Bertragsverhältnis niemals in dem Sinne aufgefaßt, als
ob es neben seiner Verpflichtung, in gewissen Fällen zu Verleidigiiugszweckeu
mit den beiden Kaiserreichen zusauuueuzustehn, nicht seine eignen Interessen
selbständig verfolgen könne; es hat darum vor allem eugere Fühlung mit
England gesucht, das doch eben die Herrin des Mittelmeers ist.
Daß es jetzt wenigstens ein besseres Einvernehmen mit Frankreich erstrebt,
ist offenkundig. Die erste Etappe dazu war der Handelsvertrag von 1898,
die zweite die Pariser Weltausstellung von 1900, die Tausende von gebildeten
Italienern nach der Seine führte und alte Sympathien wieder erweckte, die dritte
die Flottenbegegttung in Toulon. Daß diese Annäherung den Empfindungen
der Italiener entspricht, ist gar leine Frage. Sie wissen recht wohl, daß sie
zwar nicht ihre Einheit — die haben sie selbst gemacht —, wohl aber deren
Voraussetzung, deu Sturz der österreichischen Herrschaft in der Lombardei, deu
Franzosen verdanke»; sie fühlen sich als deren „Schwesternation," sie sehen,
wie alle romanischen Völker, in Frankreich die stärkste „lateinische" Macht, in
Paris ihr größtes geistiges Zentrum, sie stehn in Empfindungsweise, in ihren
politischen Anschauungen, in Litteratur, Kunst und aller Kultur den Franzosen
unzweifelhaft am nächsten und kennen von allen freiudeu Sprache» am besten
die französische; sie senden alljährlich Tausende fleißiger Arbeiter »ach Süd-
frankreich hinüber, die die französische Industrie lind Landwirtschaft kaum ent¬
behren könnten, und sind mit ihrer Ausfuhr zu einem nicht geringe» Teile
ans Frankreich angewiesen. „Jeder Italiener muß sich darum, so sagt ein
Artikel in der Unavu. /Vnlalo^la vom 10, April d. I,, lebhaft über die glück-
lieben Veränderungen freuen, die sich seit wenig Jahren in den Beziehungen
zwischen Italien und Frankreich vollzogen haben. Ali Stelle eines gespannten
Verhältnisses, eines ungerechtfertigten Mißtrauens, einer Gereiztheit, die
vielleicht mehr oberflächlich als in der Tiefe liegt, sind Beziehungen guter
Nachbarschaft und gegenseitiger Freundschaft getreten, die, wenn sie geschickt
gepflegt werden, binnen kurzer Zeit der tiefen Sympathie, der wechselseitigen
Liebe weichen werden, die eines Tags die benachbarten Schwesternationen ver¬
binden werden und schon soviel Einfluß auf die Geschicke Italiens nud Europas
gehabt haben."
Gewiß, so versichert derselbe Politiker, ist der Dreibund bis zum Ablauf
des Vertrags 1903 für jeden Italiener unantastbar; ja es giebt „keinen italie¬
nischen Staatsmann, innerhalb oder außerhalb der Regierung, der nicht daran
denkt, daß der Dreibund erneuert werden müsse," aber, fügt er hinzu, „ganz
Italien sieht mit großer Besorgnis auf die Agitation der Agrarier in Deutsch¬
land und Österreich, und es unterliegt keinem Zweifel, daß nach der Auf¬
fassung der öffentlichen Meinung in Italien die Erneuerung des Dreibunds
mit dein Abschluß der neuen Handelsverträge unzertrennlich verbunden ist."
Aber mit der Erneuerung des Bündnisses steht ein engeres Einvernehmen
zwischen Italien und Frankreich keineswegs in Widerspruch, denn für die
Italiener giebt es keine elsaß-lothringische Frage, die sie zu einer Parteinahme
gegen Dentschland verpflichten konnte, und eine römische, die Frankreich zum
Eingreifen für das Papsttum veranlassen könnte, giebt es überhaupt nicht
mehr; „was auch die klerikale Presse darüber sagen mag, eine Wiederherstellung
der weltlichen Papstherrschaft ist heutzutage eine rechtliche, politische, wirt¬
schaftliche und moralische Unmöglichkeit," denn „je höher die moralische und
religiöse Macht des Papsttums steigt, vor allein durch die Arbeit Leos XIII.,
desto mehr ist seine weltliche Macht erloschen." Freilich wird ein rein parla¬
mentarisches Regiment in Italien die schwierige Lage nicht zu beherrschen ver¬
mögen. „Italien wird immer ein unglückliches Land sein, so lange nicht die
Männer, die sich unbestritten bewährt haben, dauernd in den hohen Staats-
ämtern bleiben, so lange jeder kleine parlamentarische Zwischenfall Menschen
»ud Dinge verändert."
Man sieht: in Italien fassen die Politiker die Lage sehr kaltblütig und
ohne alle Sentimentalität ins Auge. Der Dreibund soll erneuert werden, aber
nur, wenn seine Fortsetzung Italiens Interessen entspricht, mir in Verbindung
mit annehmbaren Handelsverträgen, sonst muß man sich anders kümmern. Es
wäre sehr verkehrt, wollte man in Dentschland diese Möglichkeit außer acht
lassen. Ein Abfall Italiens vom Dreibünde würde ganz sicher den Anschluß
des Landes an Frankreich und Rußland bedeute», um so mehr, als ein solcher
manche lockende Preise böte, manche tiefgewurzelten nationalen Hoffnungen er¬
füllen könnte, die Österreich und Dentschland niemals erfüllen können: die Aus¬
sicht auf Südtirol, auf Jstrien und Dalmatien, vielleicht auch auf Albanien, anf
das die Italiener längst ihr Augenmerk gerichtet haben; findet doch nächstens
ein albanesischer .Kongreß auf italienischem Boden statt, wo starke albanesische
Niederlassungen bestehn. Es würde für Italien alles keinesfalls an Wegen
fehlen, die nach Rußland führen, denn bekanntlich ist die Königin von Italien
eine Tochter des Fürsten von Montenegro, den Alexander 111. einmal den
einzigen Freund Rußlands genannt, und der, viel klüger als diese haltlosen
serbischen Obrenowitsch, nach sehr verschiednen Richtungen hin Familienver¬
bindungen mit mächtigen Herrscherhäusern angeknüpft hat. Fiir Osterreich und
Deutschland aber würde die Trennung Italiens vom Dreibunde eine be¬
ständige Bedrohung der österreichischen Südgrenze bedeuten, sie würde im Falle
des Kriegs eine ganze Armee dort fesseln, also für beide mitteleuropäischen
Mächte die militärische Lage sehr verschlechtern und dnrch solche Aussichten die
Möglichkeit eines russisch-französischen Angriffs näher rücken. Wirksam auf
Italien zu drücken, um es beim Dreibünde festzuhalten, vermöchte vor allem
England. Und angesichts solcher Möglichkeiten, die niemals zu Wirklichkeiten
werden zu lassen unser höchstes Interesse ist, gebärden sich unsre Agrarier, als
wenn die neuen Zolltarife vom Willen Deutschlands allein abhingen, ver¬
denken es unsre Zeitungs- nud Bierbankpolitiker der Rcichsregiernng, wenn
sie eine gewisse Rückendeckung an England sucht und, ganz nach Bismarck, zwei
Eisen im Feuer, zwei Sehne» ans dein Bogen hat! Ja, die große Politik
ist eben nicht „ungemein einfach," sondern eine höchst verwickelte Sache, eine
sehr, sehr schwierige Kunst, die nicht nach bloßen Stimmungen gemacht
eher die städtischen Genossenschaften nach Schutze-Delitzschischen
Grundsätzen ist schou so viel geschrieben worden, daß sie als
hinlänglich bekannt angesehen werden dürfen: weit weniger be¬
kannt sind dagegen die Entwicklung und die Bedeutung des
landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens. Zwar kann es nicht
so imponierende Zahlen für Umsatz und Kapital aufweise«, weil es andern
Verhältnissen angepaßt ist, aber darum wirkt es nicht minder segensreich.
Der deutsche Bauer wurde zu einem änßerst gefährlichen Zeitpunkt wirt¬
schaftlich für mündig erklärt. Die deutsche Landwirtschaft stand gerade im
Übergangsstadium von der Natural- zur Geldwirtschaft. Wirtschaftlich ein
Kind, sollte der Bauer seine Verpflichtungen dem Staate gegenüber und seine
Einkäufe mit Geld begleichen. Es ist natürlich, daß er infolgedessen die Kauf-
traft des Geldes überschätzte nud bei dem Verkauf seiner Erzeugnisse tüchtig
übers Ohr gehauen wurde. Hatte er Meliorationen seines Gutes vor, oder
waren Mißernten eingetreten, so mußte er Geld zu hohem Zinsfuß aufnehmen,
und da er uicht imstande war, einen Voranschlag zu machen, so war er auch
nicht in der Lage, die Zinsen zu bezahlen. Ans diese Weise fiel der freie
Bauernstand vielfach in die Hände der Wuchrer und war teilweise schlechter
daran als zur Zeit der Hörigkeit. Man hatte eine wirtschaftliche Freiheit
und Gleichheit für jeden herstellen wollen und sah nnn ein, daß es diese gar
nicht gab und in der Wirtschaftsgeschichte niemals gegeben hatte. Man hatte
die alte ständische und grnndherrliche Nerfassnng abgeschafft und keine neue
Ordnung an deren Stelle gesetzt. Da erinnerte man sich zur rechten Zeit an
die altgermanische, auf Gemeinwirtschaft beuchende Alimente und Flurgemein-
schaft. Es war eine Forderung der Not, daß auch jetzt wiederum der alte
Zusammenschluß hergestellt wurde. Und so entstand, fußend auf den Traditionen
der Vergangenheit, die alte Wirtschaftsgemeiude in moderner Form, Was
konnte auch für unsre deutsche Landwirtschaft besser sein als eine berufs¬
genossenschaftliche Wirtschaft, die dem einzelnen Individuum seine freie Be¬
thätigung läßt, aber zugleich als rationelles Bindeglied die privatwirtschaft¬
lichen Interessen mit denen der Gesamtheit vereinigt. Für keinen andern Beruf
eignet sich die Form der „Vergesellschaftung" in dein Maße, wie für die Land¬
wirtschaft, da sich viele ihrer Arbeite» mit Vorteil auf genossenschaftlichem
Wege ausführen lassen, und der Großbesitz mit dem Kleinbesitz hierbei vielfach
Hand in Hand gehn kann.
Die Bestrebungen, auf genossenschaftlichem Wege in den Landbau helfend
einzugreifen, sind schon alt und reichen in das achtzehnte Jahrhundert zurück.
Erwähnen wolle» wir hier die 1774 gegründete Gräflich Kastelsche Kreditkasse.
Doch alle diese früher» Genossenschaftskasscn haben das Eigentümliche, daß
sie fast ganz ans Wohlthätigkeit beruhten und sich ihre Geldvorschüsse nnr
mit einem Zinsfuß von 1 bis 3 Prozent verzinsen ließen. In Bayern und
in Württemberg wurden solche Kassen meist mit Unterstützung der Negierung
gegründet. Vor allem war es der von den jüdischen Händler» an den Bauern
verübte Viehwncher, der neuerdings zur Gründung vou Viehleihkasseu und
Darlehnskassen trieb. Und zwar gebührt das ^zweifelhafte Verdienst, die
Gründung dieser Kassen angeregt zu haben, Friedrich Wilhelm Rmffeiscn, der
den FlammerSfeldcr Hilfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte
gründete. Dieser Verein war, wie schon die Viehleihkasseu, dazu bestimmt,
Geld zum Vieheinkauf auszuleihen, das dann in Posten wieder zurückgezahlt
wurde. Dieser erste Raiffeisenvcrein wurde allerdings nach vier Jahren infolge
von Raisfeisens Versetzung »ach Neuwied wieder aufgelöst, aber er hatte
dennoch in dieser kurzen Spanne Zeit so bahnbrechend gewirkt, daß 1856 auf
Vernnlassnng des Ministeriums in Bayern an viele» Orten solche Anstalten
gegründet wurden. Der tiefeinschneidende Unterschied zwischen dem Schulischen
und dem Raiffeisenschen Verein ist der, das; der Schulzische ganz und gar
nach kaufmännischen Rücksichten verfährt und sich nnr wenig kehrt an das
sonstige Verhalten seiner Mitglieder, wenn sie nnr zahlungsfähig sind; während
der Nniffeisensche Verein ganz und gar die sittlichen Prinzipien zur Richtschnur
nimmt und niemals jemand zum Mitglied aufnimmt, den der Verein nicht
für ganz einwandfrei hält, mag er auch pekuniär noch so sicher gestellt sein.
Dieser Grundsatz, den Raisfeisen für seine Vereine als maßgebend aufstellt,
mag zumünden Kaufmann recht sonderbar vorkommen. Aber wir dürfen dabei
uicht vergessen, daß dieses moralische Prinzip, wenn es überhaupt durchgeführt
werde» soll, nur in diesen ländlichen Genossenschaften durchgeführt werden
kann. Diese winzigen .Kassenbetriebe in jedem Dorf, in jeder kleinen Land¬
stadt ermöglichen es dem Leiter und den Mitgliedern, sofort zu beurteilen, ob
sie diesen oder jenen von der Mitgliedschaft nnsschließen sollen oder nicht. Es
üben ans diese Weise die Darlehnsvereine eine Art Dorfjustiz, indem sie gewisse
Leute von der Mitgliedschaft und den wirtschaftlichen Wohlthaten des Vereins
ausschließen. Allerdings muß man zugeben, daß das Sittengericht der Raifs-
cisenkassen uicht für alle Teile Deutschlands gleichmäßig passen würde; ich er¬
innere nnr an Westfalen, das mit seinen zerstreuten Hosen äußerst ungeeignet
hierfür ist.
Die Organisation des Kredits ans genossenschaftlichent Wege ist bei weitem
leichter als die Organisation des Einkaufs und des Verkaufs oder gar der
Produktion. Deal während alle Bauern des Kredits in gleichem Maße be¬
dürfen, spielen bei den Bezugsgenossenschaftcn doch oft anch Sonderinteresscn
eine Rolle, und jeder Bauer möchte die Genossenschaft ans andre Weise ge¬
ordnet haben, sodaß oft durch diese Jnteressenkollision der geplante Verein
nicht zustande kommt. Der ungeheure Aufschwung des ländlichen Genossen-
schaftswesens erstreckt sich meist auf die Kreditgenossenschaften. Die Bildung von
Bezngsgenossenschaften ist weit langsamer fortgeschritten. Zum Teil ist der
Zweck der Konsumvereine sogar überflüssig geworden, und man hat deshalb
von Neugründungen Abstand genommen, so im Großherzogtnm Hessen, wo
die Konsumvereine einen solchen Druck auf die Händler übten, daß diese frei¬
willig bessere Bezugsbedingungen einräumten. Das Prodicktivgenosscnschafts-
wesen steckt noch ganz in den Anfangsstadien, wird aber unzweifelhaft im Laufe
des Jahrhunderts, gestützt auf eine erprobte Organisation, eine großartige Ent-
wicklung nehmen.
Den: Industriellen, dem Gewerbetreibenden steht der Kredit der Banken,
dem Großgrundbesitzer der Kredit der Landschaft zur Verfügung. Der Kleiu-
gruudbesitzer war bis vor nicht lauger Zeit von jedem Kredit eines soliden
Instituts ausgeschlossen, und er mußte bei Geldbedarf, wenn er nicht Kredit
bei reichen Bauern, anständigen städtischen Kapitalisten, bei Kirchen- und
Stiftungsverwaltungen fand, seine Zuflucht zu unsolider Spekulanten nehmen,
die seine Notlage auf das schamloseste ausbeuteten. Der kleine Ackerbauer
bekam keinen Kredit aus solider Hand, nicht weil er dessen nicht würdig ge-
Wesen wäre, sondern weil es den meisten Kapitalisten nicht lohnte, sich wegen
so kleiner Objekte zu rühren. In dieser unwürdigen Lage war unser deutscher
Bauernstand, der doch jederzeit die einzige zuverlässige Stütze der Staaten
gewesen war, und die deutschen Regierungen sahen diesem immer weiter um
sich greifenden Verfall ruhig zu und änderten nichts.
Damals war es zuerst F. W. Naiffeisen, der neue Bahnen einschlug und
deu Verfall zum Stillstand brachte. Naiffeisen ging von dem richtigen Ge¬
danken aus, daß deu Bauern nur geholfen werden könnte, wenn man : 1. die
Kreditbeschaffung möglichst einfach, frei von der umständlichen Geschäfts¬
maschinerie machte, 2. alle unnötigen Betriebskosten wegfallen ließe und dem¬
gemäß die Kasse ehrenamtlich verwaltete, und 3. streng sittliche Grundsätze
einführte als Basis für die Mitgliedschaft an der Vereinskasse.
So wenig diese Grundsätze Raiffeisens auch für andre Verhältnisse passen,
so entsprechen sie doch sehr den bäuerlichen Verhältnissen. Dadurch, daß Raiff-
eiscu die Sprengel nie zu groß werden läßt (durchschnittlich betragen sie tausend
bis zweitausend Seelen), wird für die Verwalter das Ehrenamt nicht zu drückend,
und indem zumeist der angesehenste und wohlhabendste Bauer der Gemeinde
die höchste Stelle im Verein einnimmt, gewinnt die Genossenschaft an Ansehe»
im Dorfe und lockt die noch zweifelnden und mißtrauischen Leute an sich. Die
Bedeutung dieser sittlichen Grundlage darf man nicht unterschätze», da sie die
durch die ehrenamtliche Selbstverwaltung drohende Gefahr einer eigennützigen
Geschäftsführung sehr abschwächt und die sofortige Ausschließung ungeeigneter
Personen aus dem Verein erleichtert. Kein Vereinsmitglied darf einer zweiten
Genossenschaft angehören. Jedes Mitglied der Genossenschaft muß einen Ge¬
schäftsanteil erwerben. So bestimmt es der H 7 des Genosseuschaftsgesetzes,
jedoch überläßt er deu einzelnen Vereinen, die Höhe des Anteils festzustellen.
Naiffeisen setzte nach Erlaß dieser Bestimmung deu Anteil auf zehn Mark fest
und bestimmte, daß in den Neuwieder Verband nur Vereine aufgenommen
werden dürften, deren Geschäftsanteile höchstens bis fünfzehn Mark betrügen.
Nur ein Zehntel des Betrags braucht beim Eintritt in den Verein gezahlt zu
werden, der Rest kann in Raten bezahlt werden, wobei die Bestimmung gilt,
daß die auf deu eingezahlten Anteil fallende Dividende solange nicht aus¬
bezahlt werdeu darf, bis der Anteil voll eingezahlt ist. I» den bayrischen
Vereinen beträgt der Anteil nnr fünf Mark. Bei den hessischen Genossen¬
schaften wurde der Pflichtanteil auf fünfzig Mark, der Marnualnuteil auf
stmfhnudert Mark festgesetzt, jedoch war eS erlaubt, monatliche Ratenzahlungen
vini zehn bis fünfzig Pfennigen zu leisten. Es sollte also auch den Ärmsten
ermöglicht werden, dnrch monatliche Zahlung von zehn Pfennigen der Wohl¬
thaten des Vereins teilhaftig zu werden. Wer diese zehn Pfennige nicht auf¬
bringen könne, sei wirtschaftlich nicht reif und verdiene uicht unterstützt zu
werden. Die Festsetzung einer Marimalsumme, über die hinaus der Anteil
nicht steige» darf, hat seinen Grund darin, daß die Bemittelter» ihren Gewinn
nicht ans den Darlehn der Unbemittelten ziehn sollen. Nur in einigen großen
Dörfern, wo außer Grundbesitzern auch Nichtgruudbesitzer an der Kasse be¬
teiligt sind, wird von diesen letzten aus Sicherheitsgründen eine höhere Ein¬
lage genommen. Das Prinzip der unbeschränkten Haftung ist bei den Naiff-
eiseuvereinen allgemein durchgeführt, und zwar aus dem sittlichen Grunde, daß
das Solidaritätsgefühl der Genossen gestärkt werde. Daß der Neuwieder Ver¬
band nicht, wie es der Offenbacher thut, ein Eintrittsgeld von den neuen Mit¬
gliedern erhebt, ist entschieden ein Mangel, weil die neuen auch den Mitgenuß
des von den ältern schon angesammelten Vereinsvermögens haben. Die An¬
sammlung eines möglichst großen Vereinsvermögens ist eine der wichtigsten
Aufgaben jeder Genossenschaft. Das erkannte Nnifseisen, und deshalb führte
er für viele Vereine durch, daß die Dividende ungeschmälert dem Reservefonds
zufließen solle. Eine Verteilung des Vereinsvermögens an Austretende ist
gesetzlich ausgeschlossen ^ 73, Absatz 2 des Genossenschaftsgesetzes). Bei der
Auflösung der Genossenschaft fällt das Vereinsvermögen an die Gemeinde, in
der die Genossenschuft ihren Sitz hatte, es sollen dann die Zinsen des Fonds
zu gemeinnützigen Zwecken verwandt werden (i> 92).
Es ist klar, daß ein einigermaßen ansehnliches Vereinsvermögen nur sehr
laugsam angesammelt werden, kann, da in sehr vielen Genossenschaften ein ver¬
hältnismäßig geringer Umsatz zustande kommt, und die Überschüsse fast aus¬
schließlich von den Zinsspannnngen zwischen Einlagen und Darlehn herrühren,
die zwischen ^ und 1 Prozent schwanken. Aus den Überschüssen sammeln
sich der Reservefonds und das Vereiusvermögen, die bei den Raiffeisenvereinen
eine Kasse bilden, mit der Bestimmung, daß die ersten 15000 Mark den
Reservefonds, weitere Ersparnisse das eigne Vermögen schaffen sollen. Gerade
die Ansammlung eines eignen Vermögens ist von dem größten Einfluß und
hebt das Solidaritätsgefühl der Genossen, weil jeder weiß, daß er nach
seinen Kräften ein Scherflein zur Ansammlung des gemeinsamen Fonds bei¬
getragen hat.
Beim Offenbacher Verband geht die Ansammlung des Vermögens etwas
schneller. Hier fließen die gezählten Eintrittsgelder sofort dem Reservefonds
zu. Beim Neuwieder Verband sollen bei der Auflösung der Genossenschaft der
Reservefonds und der Stiftungsfonds durch die Liquidatoren entweder der
Landwirtschaftlichen Zentraldarlehnskasse für Deutschland (Neuwied) oder einer
andern Anstalt, deren Schuldverschreibungen zur Anlegung von Mündelgeldern
geeignet sind, oder bei der solche selbst angelegt werden können, überwiesen
werden mit dein Zweck, die Zinsen alljährlich solange zum Kapital zu schlagen,
bis eine neue Genossenschaft mit ähnlichen Bestimmungen wie die alte in dem¬
selben Orte gegründet worden ist. Dieser neuen Genossenschaft muß alsdann
das angesammelte Vermögen überliefert, und falls sich mehrere Genossen¬
schaften zu derselben Zeit gegründet haben, nnter diese gleichmäßig verteilt
werden.
Die Organe der Genossenschaften haben in den einzelnen Bundesstaaten,
von deuen Sachsen besonders ausführliche Bestimmungen hat, verschiedne Be-
fugnifse. Die Aufnahme neuer Mitglieder geschieht meist durch den Vorstand,
der auch die Ausschließung alter Mitglieder zu bestimmen hat. Es herrscht
eine sehr straffe Disziplin, sodaß von den Vereinsmitgliedern eine ebenso un¬
bedingte Unterwerfung unter die Autorität der Vereinsleitnng wie von den
Vereinen unter die der Zentralorganisation gefordert wird. Nur auf diese
Weise kauu ein geordneter Verkehr der Vereine mit den Verbandskassen und
dieser mit der Zentrale gewährleistet werden. Die Organe der Genossenschaft
sind der Vorstand, der Aufsichtsrat, die Generalversanunluug und der Rechner
oder Rendant, der einzige bezahlte Beamte des Vereins, der meist zugleich der
Schullehrer des Dorfes ist. Die Osfenbacher Genossenschaften zahlen ihren
Beamten allerdings auch keine festen Gehalte, gewähren ihnen aber eine Ver¬
gütung in Form von Sitzungsgeldern, Die Vereiusnntglieder sind in den
Gegenden mit durchweg kleinbäuerlichen Grundbesitz (in dem Raiffeisenscheu
Wirkungsgebiete), wo alle Teilnehmer dasselbe Risiko haben, unbeschränkt
haftbar; in den östlichen Gebieten, wo der Großgrundbesitz mit Kleingrund¬
besitz gemischt vorkommt, sind sie beschränkt haftbar; hier und da giebt es auch
Genossenschaften mit unbeschränkter Nachschußpslicht. Wo die beschränkte Haft-
Pflicht vorkommt, werden die Haftsummen abgestuft, entweder nach der Ein¬
kommensteuer wie in Pommern oder nach der Ergünzungssteuer wie in der
Provinz Sachsen.
Bevor ein Darlehn gegeben wird, soll der Vorstand den Verwendungs¬
zweck prüfen. Die Kasse muß jederzeit soviel flüssige Mittel haben, daß sie
allen an sie herantretenden Forderungen vollauf genügen t'ann auch darf kein
Mitglied vor dem andern bei der Gewährung von Darlehen bevorzugt werden.
Es muß aus diesem Grunde auf jeder Generalversammlung die Höhe des
Aktiv- und Passivkredits festgesetzt werden. Betrüge beispielsweise die Zahl
der Vereiusnntglieder hundert, und setzt die Versammlung den Aktivkredit, das
ist der Kredit, deu jedes Mitglied höchstens zu beanspruchen hat, ans 2000 Mark
fest, so beträgt der Passivkredit des Vereins 200000 Mark. Die Dauer der
Darlehen ist oft recht lang; jedoch wird bei größern Summen von den meisten
Genossenschaften eine Bürgschaft verlangt. Die Darlehen werden von den
meisten Vereinen gegen Schuldschein gewährt. Wechsel sind erst bei den
wenigsten Genossenschaften üblich, weil sie der Landbevölkerung noch gar nicht
bekannt und von ihr wie etwas Unheimliches gemieden werden. Die Dar-
lehnssuminen dürfen in Ratenzahlungen beglichen werden. Über die Höhe der
Raten und die Frist für die Rückzahlung bestimmen die einzelnen Vereins-
statuten; in Sachsen darf die jährlich zurückzuzahlende Summe nicht unter
1V Prozent des Darlehnsbetrags sein.
Außer diesem ihrem Hauptgeschäftszweige pflegen die landwirtschaftlichen
Genossenschaften mich eine Reihe von Nebenzweigen des bankmäßigen Betriebs
und wirken ans diesen Gebieten sehr segensreich. Dadurch, daß diese Vereine
den Sparkassenverkehr einrichteten, förderten sie nicht nur das wirtschaftliche
Wohl der kleinen Sparer, sondern erschlossen auch dem Geldmarkt Millionen
von Mark, die bis dahin brach lagen oder unwirtschaftlich vergeudet wurden.
Die Sparkasse gewährt für Einlagen 3 Prozent und giebt außerdem Karten
aus, die mit Marken von 10 bis 50 Pfennigen beliebt werden können. Wer
eine volle Karte bei der Kasse einliefert, erhält den Betrag, ans den sie lautet,
gutgeschrieben. Selbstverständlich kann sich an der Sparkasse jeder, auch wenn
er kein Mitglied des Vereins ist, beteiligen. Die Darlehnskassenvereine haben
sich bemüht, die Mündclsicherheit zu erlangen. Es ist ihnen die? aber bis
jetzt in keinem deutschen Bundesstaate gelungen, außer in Hessen, wo genossen¬
schaftliche Spar- und Darlehnskassenvereine unter gewissen Voraussetzungen
als mündelsicher angesehen werden können. Dieses weitgehende Zugeständnis
der hessischen Regierung erklärt sich aus dem Unistande, daß Hessen der deutsche
Bundesstaat ist, der die kräftigste genossenschaftliche Entwicklung hat. Die
Mündelsicherheitserklärnng ist dort gefahrlos, weil meist die ganze Gemeinde
dem Vereine angehört und also auch die ganze Gemeinde für die Mündelgelder
Bürgschaft leistet.
Neben dem Sparkassenverkehr wird ein umfangreicher Kontokorrentverkehr
betrieben. Auf diese Weise wird den Bauern ermöglicht, jeden plötzlichen
Geldzufluß, wie ihn der Verkauf der Ernte im Herbst oder der Mastschweine
im Winter mit sich bringt, sofort gewinnbringend anzulegen. Für Konto¬
korrentguthaben gewährt die Kasse bei täglicher Kündigung 2'/z Prozent. Eine
äußerst segensreiche Bethätigung entwickeln die Darlehnskassen ferner bei
Zwangsverkäufen von Grundstücken. Hier verhindern sie oft eine Verschleude¬
rung des Gutes und legen den zumeist jüdischen Händlern das Handwerk,
indem sie bei der Versteigerung mitbietend den Preis in die Höhe treiben oder
als Meistbieter das Gut erstehn. Durch rationelle Parzellierung oder Verkauf
des Ganzen unter der Hand erzielen sie alsdann einen höhern Preis, als sie
selber bezahlt haben. Der Verein aber steckt den gemachten Gewinn nicht in
seine Tasche, sondern giebt ihn nach Abzug einer kleinen Provision für Un¬
kosten dem Bauern, falls dieser durch widrige Verhältnisse zur Zwangsver¬
steigerung getrieben wordeu war, und oft verdankt ein übcrschnldeter Bauer
das Fortbestehn seiner wirtschaftlichen Existenz lediglich der Spar- und Dar-
lehnskasse, die seine verworrenen Vermögensverhältnisse in die Hand nahm
und ihm immerhin noch ein kleines schuldenfreies Stück Land ans der Masse
rettete.
Nur wenig Darlehnskassen gewähren Hypothekarkredit, da es den meisten
statutenmüßig verboten ist, und dieses Verbot scheint uicht unzweckmäßig. Die
ländlichen Genossenschaften haben andre soziale Aufgaben zu erfüllen, und ihre
Betriebsmittel sind noch lange nicht so groß, daß sie zur nutzbringenden Ver¬
wertung ans andre als die ihnen zugewiesenen Gebiete überspringen müßten.
Übrigens besteht, ganz dem Prinzip der Arbeitsteilung gemäß, in Deutschland
eine genügende Anzahl von Kreditinstituten und Banken lediglich zur Befriedi¬
gung des Hypothekarkredits, und es hieße diesen und den Kreissparkassen ins
Handwerk pfuschen, wenn ländliche Genossenschaften auch diesen Zweig des
Kredits ergreifen würden. Sehr vorteilhaft dagegen für die ländliche Bcvölke-
nmg und ganz den Zwecken der Vereine entsprechend ist die Einrichtung, daß
jetzt die meisten Darlehustasscn als Ageutnren bestimmter Hypothekenbanken
thätig sind; sie sparen dadurch dem Bauern unnötige Kosten und stehn ihm
mit Rat beim Aufnehmen einer Grundschuld bei. Der Bauer erhält direkt
durch die Ortskasse das Geld ausgezahlt, ebenso darf er die Zins- und Ab¬
schlagszahlungen an die Genossenschaft leisten und hat so den Vorteil, durch
wöchentliche Einzahlungen und Sparkarten seine Schulden tilgen zu können.
Die Genossenschaft sammelt die von dem Bauern geleisteten Zahlungen und
führt vierteljährlich die Zinsen und die Abschlagsquote an die Hypothekenbank
ab. Die Darlehuskasse arbeitet also hier als Agenturgeschäft der Bank und
erhebt von beiden Seiten eine kleine Provision. Als solches vertreibt sie auch
Anteilscheine und Pfandbriefe der Bank, wenn sich Käufer dafür finden.
Der Geschäftsgewinn, den die Spar- und Darlehnskasse macht, entsteht:
1. ans der Zinsspanuung zwischen Darlehen lind Einlagen, die zwischen ^
und 1 Prozent schwankt, und 2. aus den Provisionen, die der Verein für
seine Thätigkeit nimmt. Sonstige Quellen des Gewinns giebt es nicht, da
sich die Vereine an Spekulationen niemals beteiligen. Die Verwendung des
Gewinns geschieht zum größten Teil zu Gunsten des Reservefonds. Ist durch
günstige Geschäftsergebnisse ein besonders hoher Gewinn erzielt worden, so
kommt es nnter Umständen vor, daß ein Teil zu solchen gemeinnützigen
Zwecken, wozu die Gemeinde selber kein Geld besitzt, verwandt wird. So gab
1895 die Spar- und Darlehnskasse Dorn-Dörkheim 10000 Mark zur Ver¬
besserung ihrer Volksschuleinrichtnngen. Was die Höhe der auf den Geschäfts¬
anteil entfallenden Dividende betrifft, so ist sie sowohl von dem Neuwieder
wie von dem Offenbacher Verbände auf einen Maximnlsatz beschränkt worden.
Raiffeisen war grundsätzlich ein Gegner der Dividendenverteilnng und führte
sein Prinzip in vielen Vereinen durch. Den Höchstbetrag der Dividende in
den Vereinen seines Verbandes setzte er auf 0 Prozent fest. Das Genosseu-
schaftsgesetz machte dann eine Konzession im Sinne Raiffeisens in 8 20: „Durch
das Statut kann festgesetzt werden, daß der Gewinn nicht verteilt, sondern dem
Reservefonds zugeschrieben wird." H 114 aber machte die Konzession wieder
hinfällig, indem er in diesem Falle einen Vierteljahresabschluß vorschrieb.
Neuwied empfmid es deshalb als eine Wohlthat, als bei der Revision
des Gehet-.es im Jahre 1896 die lästige Bestimmung des H 114 wegfiel, und nahm
nun sofort in sein Musterstatut den Satz auf, daß der sich aus dem Geschäfts¬
betrieb ergebende Gewinn ungeschmälert dem Reservefonds zufließen solle. Offen¬
bach bestimmt, daß mindestens 10 Prozent des Neingewinns dein Reserve¬
fonds, ebensoviel dein außerordentlichen Reservefonds zufließen sollen. Die an
die Mitglieder zu verteilende Dividende ist ans höchstens 4 Prozent festgesetzt.
Die Superdividende darf den Darlehnszinsfuß nicht übersteigen. Jede Ge¬
nossenschaft unterliegt der Revisionspflicht, und zwar muß die Revision min-
bestens in jedem zweiten Jahre durch Beamte erfolgen, die von der Geuosseu-
schaftstasse abhängig sind. Die Gehalte der Revisoren bestreitet die General-
anwältschaftskasfe.
(Schluß fol.le)
er bewegliche, leicht empfängliche und doch sell'stbewußte Volks-
charakter verursacht zusammen mit dem milden Klima eine Lebeus-
fiihrnng, die voll der nordischen weit verschieden ist, zunächst
eine lveitgehende Öffentlichkeit des ganzen Daseins. Haus
und Straße stehn im Süden in der engsten Verbindung, ja sie
gehn geradezu ineinander über. Die Paläste — und der Begriff nirln?^o ist
dort weit ausgedehnter als der des Wortes Palast bei uns — offnen sich
in Säuleugalerien nach dem leicht von der Straße ans zugänglichen Hofe,
zuweilen auch nach dieser selbst, in manchen Städten, wie in Bologna und
Pndua, auch die Hänser überhaupt in Arkaden nach der Straße; im Süden,
in Neapel, Syrakus, Palermo hat jedes Fenster seinen Balkon, und die
Parterrewvhnlingen gewähren von der Straße aus oft sehr intime Einblicke
in Familieuszencn. Auch die Handwerker arbeiten halb oder ganz ans der
Straße, daneben waschen die Frauen und hängen dann die Wäsche zum Trocknen
kaltblütig an Leinen oder Drähten quer über die Gasse. Unendlich entwickelt
ist der Strnßenhaudel, der fliegende wie der stehende; an den Ecken sitzen
die Zeitungsverkäufer, die Geldwechsler, in Florenz in den Arkaden gegen¬
über den Uffizien auch die kleinen Buch- und Kunsthändler; in Florenz wird
anch die Freitngsbörse der Lmidlente ans der Piazza Signoria abgehalten, zu¬
weilen ein farbiges Bild, denn bei kaltem Wetter erscheinen die Bauern dazu
in roten Fuchspelzen, und die Pferde sind sorglich in dicke, dunkelrote Filz¬
decken gehüllt. Auch die Kaffeehäuser nehmen den vor ihnen liegenden Teil
der Straße für sich in Auspruch und besetzen das Trottoir mit Stuhlreihen
für ihre Gäste. Ja der Drang zu möglichst großer Öffentlichkeit hat zu einer
neuen architektonischen Kombination geführt, den verdeckten Glasgalerien, deren
älteste und großartigste die Galeria Vittorio Emmanuele in Mailand ist. Es
sind gewissermaßen überdachte Plätze, wie die antiken Basiliken, und wohl hat
es etwas Hinreißendes, Zauberhaftes, wenn am Abend die reiche Architektur
und alle die prachtvollen Auslagen der Laden im elektrischen Lichte strahlen
und dazwischen der laute Menschenstrom umhertreibt, schwatzend, lachend, ge¬
stikulierend, beobachtend, grüßend.
Treten uns nicht ganz ähnliche Bilder auch bei Horaz entgegen? In den
Säulenhallen des Forums, bei den Jani, den Durchgängen und den oomxit»,
den Straßenkreuzungen wickeln sich die Geschäfte ab/o)*) heim Marsyns werden
die Prozesse verhandelt,-'») wie später in den Basiliken, die ja auch nichts
andres als überdachte Fora sind, an den Pfeilern der Arkaden heften die Buch¬
händler das Verzeichnis der neuen Erscheinungen an, dort haben sie ihre Urs¬
agen, wie die Sosier, die Verleger des Horaz am J'auusbogen;^) ja Schrift¬
steller lesen ihre neuen Arbeiten wohl ans dem Forum vor,^) und da sich
alles in der Öffentlichkeit abspielt, so erregt jedes auffallendere Vorkommnis
sofort einen kleinen Auflauf: nnäi^us voneursus, ^ Die antiken Häuser freilich
schlösse» sich nach außen mehr ab als die heutigen, denn sie waren durchweg
Jnnenbauten; aber vor den Pnlazzi, den cloinus, zogen sich doch auch oft
Säulenhallen hin, und die zahllosen offnen Läden, wie n>ir sie in Pompeji
finden, werden nicht viel anders ausgesehen haben, als die heutigen kleinen
Geschäfte ähnlicher Art in Rom oder Neapel, die über die Thür in langen
Reihen die brannen, flaschenförmigen Schafkäse, Schinken und Würste aufhängen,
dazwischen Gemüse und Obst aller Art auslegen und im Frühling mit gelben
Mimosen verzieren.
Diese Öffentlichkeit des ganzen Lebens beruht vor allein auf dem tief
innerlichen Bedürfnis des regsten persönlichen Verkehrs. Der Italiener fühlt
sich eigentlich nnr in größerer Gesellschaft recht wohl; das deutsche Behage»
stiller zurückgezogner Häuslichkeit kennt er uicht, und wenn der Sonnen¬
schein draußen lockt, muß er ins Freie. Und so ist es immer gewesen. Am
rauschenden Brunnen schwatzen Frauen und Mädchen und hebe» dann die schön
geformten Kruge gefüllt ans den Kopf, gerade wie im Altertum.^) Ans
unsern deutschen Städten ist dieses Stück Poesie längst geschwunden, denn
wir haben die Wasserleitung in jeder Küche. Auch Horaz bringt den größten
Teil seiner Zeit im Freien zu, wenn er nicht Geschäfte hat, flanierend, be¬
obachtend, schwatzend oder auch mit — vermutlich maßvollen — Turn¬
übungen beschäftigt, in den Säulenhalle» des Forums, auf der Via sacra,
n»f dem Marsfelde.''") Überall trifft er Bekannte, und er selbst ist, wenigstens
seitdem er mit Mäcenas in Verbi»d»»g steht, eine stadtbekannte Persönlichkeit/'«)
Den» dieses „gewaltige Rom," dieses „kaiserliche Rom," die eng,M°in, die
l'sZm lioirin, ist damals eine merkwürdige Verbindung von Weltstadt und
Kleinstadt und ist es noch heute. Ans der Piazza Colonna, im Mittelpunkte
des modernen Roms, am Fuße der schönen Markussäule, sammeln sich an
jedem Abend Hunderte von Männern aller Stände, nnr um zu plaudern oder
auch ernste Gespräche zu führen, während die Musik spielt und die Wasser
rausche», genau so, wie auf der Piazza jeder Keinen Stadt namentlich am
Sonntag Nachmittag, und in den Großstädten wie Rom, Florenz, Neapel,
Palermo fährt oder geht bei schönen Nachmittagen gegen Abend alles Korso,
nicht etwa, um die Natur und die frische Luft zu genießen, souderu um zu
sehen und gesehen zu werden, vielleicht anch zu beneiden oder beneidet, zu
bewundern oder bewundert zu werden, denn alle Welt kennt einander.
Weil jeder jeden kennt, wenigstens innerhalb eines gewissen Kreises, so
hat jeder auch an den Angelegenheiten des andern ein gewisses Interesse.
So verächtlich man über berufsmäßige Ankläger denkt, ^) so sehr interessiert
sich doch jeder in diesem streitsüchtigen Bolle für Prozesse, und so sehr ist er
immer irgendwie um solchen beteiligt, als Partei, als Anwalt, als Bürge, als
Zeuge, denn dergleichen Dienste zu leisten ist Freundespflicht. Auch Horaz
wird fortwährend hineingezogen und kann sich dessen nicht erwehren.^) Und
wenn es im heutigen Italien nicht mehr ganz so ist, so ist doch die Neigung,
Prozesse anzufangen, namentlich im Süden, noch heute sehr groß — die Ge¬
richte in Neapel pflegen überlastet zu sein —>, und die Teilnahme des Publikums
an bedeutendem Verhandlungen ist so lebhaft, daß die Zeitungen über solche
von jeder Sitzung alltäglich spaltenlange, sehr ausführliche, oft ganz dramatisch
aufgeputzte Berichte bringe», womöglich mit den Porträts der wichtigern Per¬
sonen in Zinkdruck.
Dieses Leben bestimmt die ganze Tagesordnung des Horaz. Der Tag
gehört den Geschäften, vor allein der Vormittag. Dann geht es aufs Mars¬
feld, und wenn die Sonne heißer brennt, ins Bad. Nach einem bescheidnen
Frühstück giebt er sich der Muße hin, gegen Abend geht er wieder aus und
nach der ebenfalls bescheidnen Hauptmahlzeit zu Bett.^") Wer freilich im öffent¬
lichen Leben drin steht, der ist vom frühen Morgen bis nach Mittag in An¬
spruch genommen und findet erst gegen Abend Muße. „Beim ersten Hahnen¬
schrei" wird der Rechtskundige von den Ratsuchenden in Anspruch genommen/")
gleich nach dem Aufstehn empfängt der Patronus im Atrium seine Klienten;
dann geht es aufs Forum, und er »tag froh sein, wenn er in den ersten
Nnchmittagsstunden nach Hause kommt.") Ans jeden Fall gehört ihm aber auch
dann der Abend. Nicht viel anders ist es heute. Gegen Mittag wird nur
ein leichtes Frühstück (voll^loro) genommen, gegen Abend vor Sonnenuntergang
geht es zum .Korso, um sieben Uhr etwa nimmt man die Hauptmahlzeit ein,
die mit einer sonderbaren Bedentnngsverschiebung priMM, d. i. prÄuäiuin heißt.
Merkwürdig, und doch wieder ganz natürlich, da sich Klima und Boden
nicht geändert habe», in wie vielen Dingen die Speisekarte in den Tagen des
Horaz mit der heutigen übereinstimmt, selbstverständlich in der gewöhnlichen
Kost, nicht bei vornehmen, üppigen Diners.^) Voran stehn Gemüse, Eier,
Fische, Muscheln, namentlich Austern, Miesmuscheln und andre trutU al
von Fleisch kleine Vögel, namentlich Krammetsvögel (wräy, Hühner, Schinken,
und wenn es hoch hergeht, Wildschwein; dazu komme» Früchte, besonders
Äpfel, Weintrauben, Oliven und Feigen; dagegen fehlen natürlich Orangen,
da diese erst im Mittelalter nach Italien gelangt sind. Wen, der in Italien
gewesen ist, mutet das nicht heimisch an? Wer hätte nicht dort ratlos vor
einem vielversprechenden Berge risottn -ri su^o gesessen, die schmackhaft und
mannigfach bereitete» Fische bewundert, die kleinen Austern des Thrrheuischen
Meeres und die in Ol gebacknen krutti all irmrs mißtrauisch betrachtet, sich über
die NLLvlli auf der Speisekarte, die meist Lerchen sind, geärgert, sich das xollo
(Huhn) zum Überdruß gegessen und zuweilen seine Zustande schließlich zum treff¬
lichen rohen Schinken (pro8eintto) genommen, während er sich der alten Güte
des schönsten Obstes erfreuen konnte und den Arabern für die anmutige Zu¬
gabe der Orangen (-rrmrLm) dankbar war. Als vernünftiger Mann hat er sich
vor dem an Stelle der Butter heute wie damals oft verwandten Olivenöl nicht
gefürchtet, sich dagegen vor dem lederartigen Beefsteak ldisksoeg,) in acht genommen
und den Braten (mniäi) nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt, dagegen sich an
den trefflichen Landweiuen erlabt, die seit den Tagen des Horaz ganz gewiß
uicht schlechter geworden siud. Der genügsame Mensch, der damals der Italiener
war, ist er geblieben, nicht nur im Volke, das meist von Maccaroni, Polenta,
Früchten und bescheidnen Weingenuß lebt, sondern mich in den bemittelten
Ständen, obwohl diese eine gute Tafel recht wohl zu schätzen wissen.
Seit alten Zeiten ist der Italiener immer ein Stadtmensch gewesen, und
die äußerliche Scheidung zwischen Stadt und Land ist noch heute dort viel schärfer
als bei uns, denn mit der Stadtmauer hört in der Regel noch jetzt die Stadt
auf, und der verhaßte c1g.No vousumo, die Verzehrsteuer, umgiebt sie mit einem
eisernen Ringe, Dagegen ist der innere Zusammenhang zwischen Stadt
und Land viel enger als bei uns. Denn die Stadt ist für eine bald engere
bald weitere Umgebung nicht uur das wirtschaftliche, souderu auch das politische
und administrative Zentrum, da alle Gemeinden ringsum mit ihr zu einer Ein¬
heit, zum L0IAWNNS zusammengefaßt sind; selbständige Landgemeinden giebt es in
Italien so gut wie gar nicht. Dazu sind die kleinern Städte durchweg Ackerstüdte,
und ihre Bewohner haben oft stundenlange Wege zu machen, um zu ihren Feldern
zu gelangen. Noch enger wird der Zusammenhang dadurch, daß viele Städter
auch sonst einen kleinen Grundbesitz draußen auf dem Lande in der Form der
raeWmlrm, der Halbpacht, festhalten, also die Bewirtschaftung dem Pächter
überlassen, von ihm die Hälfte des Ertrags erhalten und wohl auch eine Zeit
lang mit ihm dort leben,"") Zudem ist der italienische Adel trotz seines un¬
geheuerm ländlichen Grundbesitzes durchweg städtisch, nicht ländlich-senden, und
die Mitglieder der vornehmsten Familien sind stolz darauf, städtische Unter zu
bekleiden: ein Fürst Colonna ist jetzt Sindaco (Oberbürgermeister) von Rom.
Das alles ist Zug um Zug antik, denn diese Zustände sind niemals erschüttert
worden, weil sie ans den ältesten Zeiten der Landesgeschichte stammelt, mit
der uralten städtischen Konzentration des ganzen Lebens zusammenhängen.
Auch bei Horaz treten die Hauptzüge deutlich hervor. Nicht uur eilt der
Bauer zur Gerichtsverhandlung in die Stadt,wie Horaz von seinem Sabinum
zu den Geschäften, sonder» der Reichtum wird wesentlich nach dem Landbesitz
bemessen/'"') wie ja bekanntlich dem Römer senawrischen Standes der Großhandel
verbotei: war. Natürlich hat auch jeder ansehnliche Mann, wie L> Marcius
Philippus/") Landgüter, und selbst kleine Leute wie Hornzens Vater verbinden
mit einem städtischen Amte einen kleinen ländlichen Grundbesitz, nicht zum
Bergnügen, sondern zum Leben.'^) Das eigne Sabinum des Horaz oben am
Theile der Digentia (Lieenza) ein paar Stunden aufwärts von Vieovaro (Varia)
am Anio,"^) ivo die Reste westlich vom Dorfe Licenza noch nachtveisbar sind,
war keineswegs eine moderne Villa zur Sommerfrische, sondern ein ansehnliches
Gut, zu dessen Bewirtschaftung acht Knechte unter einem Verwalter (viI1inen8)
nötig waren und fünf kleine Pächter gehörten. Jeder Leser kennt den Landbau
so, daß jede Anspielung darauf sofort verstanden wird/") sonst wären ja auch
Dichtungen wie Virgils Georgien gar nicht möglich gewesen. Und dieser Landbau
trägt im wesentlichen dieselben Züge wie heute. Das Hauptgetreide, das „Korn"
schlechtweg, ist der Weizen (ZrAno), der Wein wird an Ulmen emporgezogen,
Oliven, Feigen und andre Obstbäume werden eifrig gepflegt/") und dieselben
grvßhörnigen weißen oder silbergrauen Ochsen ziehn am Joche denselben räder¬
losen Pflug wie heute.
Wenn nun die Römer das Landleben liebten und verstanden, wenn sich
L. Mareius Philippus während des Latinerfestes nach seiner pill-r suduromm
im Sabinergcbirge zurückzieht/^) wenn sich Horaz schmerzlich nach seinem Land¬
gute hinaussehut/2) so werdeu sie dabei nicht ganz von derselben Natur-
empfindung geleitet wie wir. Horaz ist ein scharfer Beobachter der Natur so
gut wie Virgil; er weiß mit einem Zuge seinen Gegenstand zu charakterisieren:
den reißenden Aufidus, den Fluß seiner.Heimat, deu ausdörrenden Atabulns,
wie dort der Scirocco hieß, das dunkelwogende stürmische Meer, das auf weit¬
hin weißleuchtenden Felsen thronende Anxur.^) Aber als etwas Malerisches
interessiert ihn die Landschaft kaum; er giebt selbst im Iter Urunäiswum
eigentlich keine Landschnftsbilder, trotz des Reichtums der Gegenden, durch die
er kommt. Auch wenn er sein schönes Sabinum dann und wann schildert,
so hebt er mehr die Vorzüge für den dortigen Aufenthalt hervor, die starke,
ausdauernde Quelle, den schattigen Wald, den Obstgarten, die saftigen Wiesen,
die frische, gesunde Luft als die malerische Schönheit, ^) und was er dort sucht,
ist nicht gerade diese, sondern mehr die Ruhe und Stille, die freie Muße zu
litterarischer und wissenschaftlicher Beschäftigung, den ungezwungner Verkehr
mit Freunden und Nachbarn.^') Auch wenn er fich auf dem hohen Felsen von
Prüneste zur Sommerfrische aufhält, liest er Homer, und wenn sein Freund
Albins Tibullus durch die Wälder des nahen Pedum schlendert, dann thut
er es wohl nur, um ungestört seinen dichterischen Gedanken nachhängen zu
tonnen.^)
Nicht viel anders haben von jeher die modernen Italiener ihre Villeg-
giatnra aufgefaßt. Die Villen z. B. in Frascati, Albano, Tivoli, Anzio sind
keine Villen in unserm Sinne, sondern Gartenpaläste in prachtvollen, künstle¬
risch gestalteten und aufgeschmückten Parks, ausgestattet mit allem städtischen
Komfort und für ein Dasein bestimmt, das sich von dem städtischen nur durch
die Örtlichkeit und die größere Ungezwungenheit unterscheidet und unterschied.
Wenn trotz dieser städtischen Gewohnheiten der antike und der moderne
Italiener dein Landleben nicht so fern gerückt sind wie der moderne Gro߬
städter andrer Länder und also auch hierin der Natur näher stehn als dieser,
der oft kaum die Getreidearten und die Waldbäume unterscheiden kaun und
die Sonne niemals aufgehn sieht, so trägt dazu auch der weite See- und
Gebirgshorizont bei, denn es wird kaum eine italienische Stadt geben, die
nicht den einen oder den andern hätte, und es giebt viele, die beide habe».
Von Rom aus sieht man auf der eiuen Seite die langen Linien der Gebirge,
auf der rudern deu Spiegel des Meeres, von den Höhen der Abbrnzzen
reicht der Blick bis zur See, und Syrnkns sieht hier auf das blaue Griechen¬
meer hinaus, dort nach dem fernen Kegel des mächtigen Almas. Und wenn
das Meer immer wilde, unbezähmbare Natur bleibt, so gleicht das italienische
Gebirge, auch von den Alpen ganz abgesehen, in seinem Aufbau, seineu Um¬
risse» und seinem Klima viel mehr dem ebenfalls der menschlichen Kultur un¬
überwindlichen Hochgebirge als unserm deutschen Mittelgebirge; im Sabiner-
lande glaubt mau zuweilen in den .Kalkalpen zu sein. Ein-solches Volk ist
vor binnenländischer Verhvcknng gründlich geschützt; der weite Blick aus Laud
und See weitet auch deu geistigen Horizont. Horaz selbst, so sehr er sein
quellfrisches, waldschnttiges Gebirgsthal liebt, oder sich im wasserumrauschteu
Tibur aufhält, wo auch Müeeuas eine Villa hatte,") zieht doch auch gern,
namentlich im Winter und im beginnenden Frühjahr nach der Meeresküste
hinab, nach Salerno oder dem gesegneten Tarent, wo die Erde trieft von
Honig und Öl und Wein, der Frühling lang und lau der Winter ist, oder
mit der römischen Aristokratie nach dem sonnenbeglänzten Bajä am blauen
Golfe. ^) Und Großhandel ist mit Seehandel, weitere Reisen sind mit See¬
reisen ziemlich identisch: der Kaufmann führt immer zu Schiff. Das gilt un-
verändert auch bellte noch, wo die Italiener endlich wieder, in die Reihe der
selbständig seefnhreuden Rationell eingetreten sind und ihre großen Dampfer
bis Südamerika und Indien senden.
Diese ganze Kultur nimmt sich so einheitlich aus, wie auf den ersten Blick
die heutige italienische; aber das schließt starke landschaftliche und ört¬
liche Unterschiede so wenig aus wie ein lebhaftes Souderbewnßtseiu. Aller¬
dings ist Horaz zu sehr Großstädter und Römer, als daß er einem beschränktet,
Lokalpatriotismus huldigen sollte, und er weiß selbst einmal nicht recht, ob
er sich einen Lukauer oder Apulier nennen soll, denn seine Vaterstadt Venusia
lag auf der Grenzscheide beider Landschaften und war eine römische Zwing¬
burg gegen beide; aber ein andermal nennt er doch Apulien sein „Mutterland"
<Mrix);7») er hat ein gewisses Selbstgefühl als Veuusiner und ist stolz auf die
Gründung der römischen Kolonie, streitbar mit seinem Schreibgriffel wie jene
Kolonisten mit dem Schwerte; er schwärmt für das angrenzende Tarent, er rühmt
den Fleiß des apulischen Ackersmanus, er preist seine Landsleute Ofellus in
Veunsia und Servius Oppidius i» Cauusium^) als Muster des alten, einfachen,
anspruchslosen Lebens und spielt auch sonst gern auf npnlische Verhältnisse
nud Landschaften an:^) er zeigt uus den großen Grundherrn, der auf satn-
rejanischem Gaul seine weiten Muren umreitet, den rauschenden Buchen- und
Eichenwald des Gargauus, den reißenden Aufidus, der so oft die Fluren mit
verheerenden Überschwemmungen heinisucht, die dürre wasserlose Ebene um
Asculum und um das „zweisprachige" Cannsinm, „das dürstende Apulien, das
der Sonne Gluthauch versengt," und wieder den heimischen Nvltur, dessen ge¬
waltiger Vulkankegel diese Ebene und seine Vaterstadt weithin beherrscht; er
sieht auf der Reise nach Brnndisium, nicht ohne der Jugend zu gedenken, die
„wohlbekannten Berge" seiner Heimat aufsteigen, über die der austrocknende
Atnbulns dahiufegt. Nicht anders empfand Cicero für seine alte Volsker-
heimat Arpinum, die Stadt des C. Marius. In den breiten Volksschichten
wird natürlich ein handfesterer Partikularismus anch damals uoch fortgelebt
haben; denn es war seit dem letzten Verzweiflungskampfe der umbrisch-sabellische»
Stämme gegen Rom nur etwa ein halbes Jahrhundert vergangen. Daraus
entsprang auch die Neigung, den Nachbarn sreuudunchbarlich oder boshaft zu
verspotten. Die Oster, also die Sabeller, standen damals ungefähr in dem¬
selben Rufe wie in Griechenland die Boioter: von dem Possenreißer Messius
Cicirrus im samnitischen Caudüim rühmt Horaz spöttisch im getragnen Tone
des Epos, er stamme „von dem berühmten Bolle der Osler."^)
Dieser Lokalpatriotismns und diese gegenseitige Eifersüchtelei ist noch heute
ein Grundzug des italienischen Lebens. Mit stolzer Pietät pflegen die Städte
ihre historischen Erinnerungen in Denkmälern und Marmorinschriften und Be¬
nennungen öffentlicher Institute, mit Vorliebe auch die an antike Größen, und
ihre Bürger fühlen sich zeitlebens anch fern von der Heimat als ihre Ange¬
hörigen,^') Ein schlichter Barbier, der schon seit fünfundzwanzig Jahren in
Rom lebte, erzählte mir mit Selbstgefühl, er stamme aus Saluzzo, der Vater¬
stadt Silvio Pellieos. Aber auch die landschaftlichen Gegensätze werden stark
empfunden, mir daß der Gedanke, die Anhänglichkeit an die Heimat auch in
deren politischer Selbständigkeit zum Ausdruck zu bringen und die nationale
Einheit zu schädigen oder zu lockern, den Italienern ganz fern liegt. Die
Piemontesen, die sie begründet haben, sind in ihrer ernsten, straffen und zu¬
weilen schroffen Art in Mittel- und Süditalien keineswegs beliebt, und andrer¬
seits sieht die ganze Nordhälfte der Halbinsel mit einer gewissen Gering¬
schätzung auf die Neapolitaner herab. Ein junger Florentiner sagte, als ich
ihn: auf der Fahrt von Florenz nach Perugia erzählte, ich wolle bis Neapel:
„Dort sind Sie gar uicht mehr in Italien, das ist schon halb Afrika, das ist
eine ganz andre Rasse." Edmondo de Amieis wird auf dem „Galileo," der
1600 italienische Auswandrer von Genua uach Argentinien führt, von nichts so
sehr betroffen als von der Wahrnehmung, wie fremd und mißtrauisch die An¬
gehörigen der einzelnen Landschaften einander gegenüberstehn. Das ist auch
politisch wichtig: das in Italien so tiefgewurzelte, auch das Parlament be-
herrschende Cliquenwesen beruht zu einem guten Teile auf landsmannschaft-
lichen Beziehungen.^)
Diese ganze Lebellsführung mit ihrer Anhänglichkeit an die enge Heimat
und dein weiten geistigen Horizont, mit ihrer Vorliebe nud ihrem Verständnis
für das Landleben und ihren doch so ganz städtischem Gewohnheiten hat
nun ganz andre Ziele als früher, ein ganz andres Lebensideal als in der
alten Zeit. Der echte Römer von altem Schrot und Korn ging im Staate,
im öffentlichen Dienste und in Geschäften ans, denn er war zuweilen Be¬
amter und immer Bürger eines souveränen Volkes, das sich selbst regiertes)
der Zeitgenosse des Horaz war im Durchschnitt ein Privatmann, denn er
war thatsächlich Unterthan eines Monarchen, ein regierter Mensch, und er
fühlte sich derart als solchen, daß er es ganz in der Ordnung fand, wenn
er in der Regel von der großen Politik gerade so wenig wußte wie wir
Modernen, und um so begieriger auf jedes Gerücht lauschte, das von oben
kam oder zu kommen schien, gerade wie wir. Vermutlich hatte er auch die
Neigung, über alles, was ihm daran mißfiel oder »»verständlich war, zu
räsonnieren, gerade wie Nur. Horaz ist dafür typisch und nicht nnr deshalb,
weil er als Sohn eines Freigelassenen wenig Aussicht auf die Ämterlaufbahn
gehabt hätte. Nichts verurteilt er schärfer als die Ämterjagd um des bloßen
Ehrgeizes willen; nichts findet er lästiger als die Bürde des Amts, das den
Träger zu verderblichem Aufwande zwingt und ihm tausend Rücksichten auflegt.^)
Aber auch im Berufe Null er uicht aufgehn, und er tadelt das an andern.
Nichts ist ihm widerwärtiger als das Jagen nach Gewinn um des Gewinns
oder des äußern Scheins willen; nichts bekämpft er deshalb eifriger als die
AVMitia,, als das „Geldmacheu," das rhin tÄLer« — ich hätte bald gesagt das
more^ uiMnx — und den Satz: Was du hast, das giltst du.^) Ihm ist
der Besitz nur Mittel zum böcckv vivers, und das sieht er in einem sorgen¬
freien Dasein, das weder an Amtspflichten noch an öffentliche Geschäfte
gebunden ist, sondern freie Muße zur geistigen Vertiefung und Vervoll¬
kommnung, anregenden und zwanglosen Verkehr mit Freunden und Nach-
barn gewährt. ^) Es liegt ein Stück feiner Selbstsucht darin, und wenn alle
so dächten, könnte kein Staat bestehn; aber wer empfände nicht etwas wie
Neid oder Mitfreude, wenn Horaz glückselig jubelt über den Erwerb seines
schönen Sabinum, wo er sicher und abgeschlossen haust wie auf seiner „Burg"
^ bouss is in/ <zg,8et6 —, tagsüber studiert oder schreibt, bummelt oder
sich am Bache ins Gras legt und abends — nach Goethes Spruch: „Tages
Arbeit, abends Gäste" — gute Freunde zum einfncheu Mahle um sich ver¬
sammelt, wenn er nicht müde wird, die Reize seines Gutes zu schildern. Es
ist dasselbe Lebensideal, das schon M. Cicero wie andre vor ihm wenigstens
zeitweise hatten und verwirklichten, wenn er sich aus dem Getümmel der Ge¬
schäfte einmal nach seinem heimatlichen Arpinus im bergumrahmten Liristhale
oder nach dem weitumschauenden Tuskulum zurückzog; aber als dauerndes
Ideal hat es erst Horaz aufgestellt, und spezifisch römisch ist es nicht mehr,
sondern es ist sozusagen allgemein menschlich, ein Stück der antiken Humanität,
deren milder Schimmer das Ende des Altertums vergoldet. Es, beruht auf
dem Drange gerade des gebildeten Menschen, über die engen Schranken des
Berufs hinaus seine Persönlichkeit frei zu entfalte», noch etwas andres zu
sein, als jener ihm vorschreibt, etwas für sich, und wohl dein, der es wenigstens
im noch rüstigen Alter zu verwirklichen vermag!
Ich will nun uicht behaupte», das; dieses hvrnzische Lebensideal im
heutigen Italien mehr verwirklicht werde als anderwärts in Europa, aber
ganz sicher pflegt der Italiener in seinem Berufe weit weniger aufzugehn als
nur Nordländer. Philistertum und Fachsimpelei sind ihm unbekannte Begriffe,
er null vor allem el» Mensch sein, und womöglich ein schöner Mensch. Auch
der kleine Mann ist nicht Schuster oder Schneider, sondern er „macht," d. h.
er spielt ihn, it Lartors, der Beruf ist ihm mehr wie ein Gewand, das er
anzieht, er durchdringt sein Wesen uicht, und der gebildete Mann geht viel
weniger in ihm ans als bei uns. Daher kommt die starke Neigung zu den
Berufen, die eine freiere Entfaltung der Persönlichkeit gewahren, des Schrift¬
stellers, namentlich des Journalisten, des Advokaten, des Abgeordneten, und
der uicht seltne Wechsel des Berufs, zu dem die Abhängigkeit der höhern
Beamtenlaufbahn vom xotörs politioo, d. h. vom Parlamentarismus, ebenso
leicht führt, wie sie in ihm mit wurzelt. Guido Baecelli, der dreimal das
Unterrichtsministerium verwaltet hat, ist seinem Berufe nach Arzt und Pro¬
fessor der Medizin an der Universität Rom — denn das Monopol der Juristen
für die höchsten Staatsgüter besteht in Italien nicht — lind hat diesen Beruf
immer wieder aufgenommen, weil» er aus dem Ministerium schied; der gegen¬
wärtige Minister des Auswärtigen, Giulio Prinetti, ist Ingenieur, und Angelo
de Gubernatis, einer ihrer hervorragendsten Sanskritisten, war nacheinander
lind oft nebeneinander Gymnasiallehrer, Professor, Bnchdrnckereibcsitzer, Jour-
nalist und Dichter. Daß diese Neigung ihre starken Schatte» hat, ist selbst¬
verständlich, aber vor Verknöcherung bewahrt sie, und den Menschen als solchen,
die Individualität bringt sie mehr zur Entfaltung.
Damit hängt ein Zug zusammen, der uns mehr zur Innerlichkeit neigende
Nordländer oft befremdet, zuweilen geradezu abstößt, weil er uns als Eitelkeit
erscheint, der Drang, die eigue Persönlichkeit zur Geltung zu bringen. Auch
hier ist dieses alte Kulturvolk im Grunde natürlicher, naiver als wir. Wir
verdenken es dem Cieero, wenn er nicht müde wird, die Verdienste seines
Konsulats zu preisen, aber handelt denn Horaz anders? Wie nachdrücklich
hebt er als bewußter Vertreter der neuen Dichtung die Berechtigung seiner
Weise gegenüber der übertriebnen Schützling des Alten hervor,^") und welch
stolzes Selbstbewußtsein verrät doch das berühmte Lied:"")
Ewiger schuf ich als Erz, höher als Kömgsmacht
Pyramiden sich türmt, mir ein Gedttchtnismal,
Das kein stürzender Guß, keines Orkans Gewalt
Zu erschüttern vermag, noch der unendliche
Strom der Jahre zerstört oder der Zeiten Flucht.
Die modernen Italiener denken und handeln ganz ähnlich, und ihre
Sitte, auch ihrer Trauer um Verstorbne in ausführlichen Inschriften wie in
reichen plastischen Denkmälern Ausdruck zu geben, die den großen italienischen
Friedhöfen ihren eigentümlichen Charakter verleiht, wurzelt in demselben Be¬
dürfnis.
Das Lebensideal hängt immer von der religiös-sittlichen Weltan¬
schauung ab; wie steht es damit bei Horaz und seinen Zeitgenossen? Sicher ist
damals bei den gebildeten Römern der alte Glaube an die nationalen Götter
selbst in ihrer griechischen Aus- und Umgestaltung längst aufgelöst; sie siud dem
Dichter nur noch poetische Figuren oder allenfalls Personifikationen bestimmter
Begriffe; ein persönliches Verhältnis zu ihnen hat er nicht. Im Volke freilich
war die abergläubische Furcht vor den Göttern, der tiuror äsormri, so wenig
erstorben, daß Horaz sie von einem Stoiker als eine der vier größten Narr-
heiten des Menschen verspotten läßt,'") Dafür suchen manche seiner gebil¬
deten Zeitgenossen eine Art von Ersatz im Anschluß an das Judentum, das
ihnen als eine besonders merkwürdige und eigentümliche Form orientalischer
Kulte erschienen sein mag. Die Juden waren schon zu Cäsars Zeit in Rom
eine mächtige Genossenschaft, vor der man sich in acht nehmen mußte, und
die eifrig Propaganda trieb, sodaß Horaz im Scherz seinen Feinden zuruft,
sie sollten sich vor ihm und der ganzen Dichtcrzunft hüten, sonst würden
sie über sie kommen wie die Juden. sein Freund Austins Fuscus nimmt an
ihrer Sabbnthfeier teil, und er leugnet diese Schwäche nicht, als „einer von
vielen."^) Horaz selbst teilt allerdings diesen „Aberglauben" uicht und ver¬
spottet deshalb gelegentlich die Juden. Aber ob er andern ähnlichen Dingen
gegenüber so sicher war? Zwar die Prophezeiung einer alten Frau nus dem
Sabinerlande, dem gelobten Lande der Hexerei und Wahrsagern, er möge sich
vor den Schwätzern hüten, nimmt er, trotz des feierlichen Tones, den er an¬
schlägt, schwerlich Ernst;»-') aber sein Kampf gegen die böse Hexe Canidici, die
er bald mit grimmigem Hasse, bald mit beißendem Spotte verfolgt, verrät doch
wohl die geheime Furcht, sie könne einmal auch ihm schaden, und sicher war
der Glaube an die Kraft solcher unheimlicher Künste, namentlich des Liebcs-
zaubers, weit verbreitet. Ein Zeugnis dafür ist die Schilderung der Be¬
schwörung auf den Esquilien, wie Canidia und Sagana erst ein Lamm zerreißen,
dann eine Wachspuppe, das Sinnbild des zu bezaubernden Geliebten, ver¬
brennen, alles unter Anrufung der Hekate und Tisiphone bei Mondschein.^)
Wahrsager, Astrologen und andre Zeichendeuter trieben gegen Abend namentlich
am Zirkus ihr Wesen und fanden ein gläubiges Publikum."")
Bessern Ersatz für den Verlornen alten religiösen Glauben fanden die
Gebildeten in der Philosophie, die ja Cieero zumeist im weiten Umfange zu
Popularisieren versucht hatte. Im lebhaften Kampfe stauben sich dabei Stoiker
und Epikuräer gegenüber, und Figuren wie Crispinus nud Stertinius, der
den bankerotten Dmnasippus bekehrt, zeigen, wie rührig die Vertreter der Stoa
damals Gläubige warben."«) Für Horaz selbst war das Studium der Philo¬
sophie allmählich zur wichtigsten geistigen Beschäftigung geworden, die er um-
gern unterbrach; denn er sah in ihr das Mittel, die Leidenschaften zu be¬
schwichtigen lind zu der Gemütsruhe, dem Gleichmut der Seele zu gelangen,
die ihm allein das wahre Glück dauernd zu verbürgen schien.^) Er neigte
also zu den Epikuräer» und bekämpfte im ganzen die Stoiker oft mit beißendem
Spott, aber er verfahr dabei eklektisch.»") Daher stehn ihm und seinen Freunden
auch bei Tische ethisch philosophische Themen im Vordergrunde des Gesprächs.»»)
In dieser wesentlich epikuräische» Weltanschauung wurzelt sein Lebensideal
mindestens ebenso sehr wie in seiner persönlichen Neigung.
Ein ähnlicher Zwiespalt zwischen dem alten Volksglaube« und der Welt¬
anschauung der Gebildeten geht dnrch das moderne Italien. Das Volt hängt
eifrig an seiner Kirche, mit der es dnrch tausend Lebcnsgclvohnheiten verbunden
ist, aber heilt Glaube ist im Grunde »indes andres, als ein oberflächlich chri¬
stianisiertes Heidentum, und der Glaube an die Zauberkraft einzelner Menschen
hat sich durch alle die Jahrhunderte erhalten. Allgemein ist die Furcht vor
dem „bösen Blick," Hexen treiben ihr unheimliches Wesen wie zu Horazens
Zeit oder in den Jahrhunderten der Renaissance, wo Nursia (Norcia) in:
Snbinerlande, die Heimat des heiligen Benediktns, ein Hauptsitz der «lroZu«?
war, und der Liebeszauber der Canidia wird noch heute angewandt, nur daß
an die Stelle der Wachspuppe Kerzen und Fett getreten sind.'"") Die Ge¬
bildeten freilich halten zwar äußerlich an ihrer Kirche fest, geradeso wie zur
Zeit des Augustus alle die alten Kulte und Priestcrämter ruhig weiter gingell;
aber ein inneres Verhältnis zu ihr haben sie wohl meist nicht mehr, weil
ihnen die unbedingte Unterwerfung ihres Denkens unter die kirchliche Ent¬
scheidung widerstrebt, und die Hierarchie in grundsätzlicher Feindseligkeit zum
italienischen Nationalstaat steht. Sie suchen dann Ersatz bei der Philosophie
oder anch bei der weitverbreiteten Freimaurerei, die der tiefgewurzelten Neigung
der Italiener zur Gehcimbündelei entspricht und durch ihre phantastischen Formeu
ihre Einbildullgskraft befriedigt, den Klerikalen freilich als eine Gegenkirche
des Satans gilt und von ihren Blättern wütend bekämpft wird. Das ist seit
der Renaissance nicht viel anders geworden.
So steigt aus den Satiren des Hornz ein gutes Stück altrömischen Lebens
vor uns ans. Wir sehen diese Menschen leibhaftig vor uns, geistig überaus
beweglich, leicht erregbar, sinnlich, schönheitsfreudig, immer in der Öffentlichkeit,
immer in Gesellschaft, ahnenstolz und doch in ihren Gewohnheiten demokratisch,
ein Stadtvolk und doch mit dein Landleben in tausend Beziehungen, heimat-
liebend und doch von weitem Horizont, trotz seiner alten Kultur im Grunde
naiver und natürlicher als wir, aber freilich auch im Ringe» nach einem neuen,
dem altrömischen Wesen sich entwindenden, allgemein menschlichen Lebensideal
und in seiner Weltanschauung so wenig geschlossen und befriedigt wie unsre
eigne gärende Zeit. Diese Menschen ganz zu verstehn, ihnen ins Herz zu
sehen, das vermag vielleicht doch nur der, dem es vergönnt ist, unter ihren Nach¬
kommen zu wandeln, die heutigen Italiener auf demselben Boden zu beobachten
und diese von der unsern so sehr abweichende, darum uns bald unwiderstehlich
anziehende, bald abstoßende Volksart, die der antiken doch so nahe steht, kennen
zu lernen. Mir den wissenschaftlich gebildeten Deutschen liegt darin der be¬
sondre Reiz einer italienischen Reise.
le Ausdrücke der Kindersprache, apu und haha, bezeichnen, so
vielseitig sie sind, schon eine höhere Stufe der Vegrifsscntwickluug.
Sie sind schon Gattungsnamen. Die ersten Wörter des Kindes
haben aber eine andre Vcdentnng: sie sind Namen für Einzelnes,
Eigennamen. Tui nennt das Kind zunächst nnr einen, nämlich
seinen eignen Stuhl, und auch haha schlafen bedeutet wohl zunächst nur den
eignen Zustand. Aber sehr bald fallen ihm die übereinstimmenden Züge bei
Dingen und Vorgängen derselben Art auf, und nun dehnt es den Namen, der
nur einem Einzelnen znlnm, auf die ganze Gattung aus; nnn nennt es z. B.
auch andre Stühle Tut, braucht das Wort haha auch vom Schlafen andrer n.s.f.
Denselben Stufengang hat auch die Sprache der Menschheit durchmachen müssen.
Ja noch heute giebt es Sprachen, die die höchste Stufe nicht erklommen haben.
Gattungsnamen fehlen zwar auch ihnen nicht völlig, aber bis zur Bezeichnung
der höhern Gattungen sind sie nicht vorgedrungen. In der Sprache eines
solchen Naturvolks kann man zwar sagen „mein Kopf," aber nicht „der Kopf,"
andre Sprachen haben wohl besondre Wörter für das Fischen der verschiednen
Meertiere, aber keines für fischen. Die Fähigkeit zu abstrahieren ist eben nur
sehr mangelhaft entwickelt.
Und noch eine andre Bemerkung ist an jene Kinderwörter anzuknüpfen.
Sie sind zunächst Satzwörter, sie bezeichnen jedesmal einen ganzen Gedanken,
der sich auf die genannte Vorstellung bezieht, in der Regel ein Begehren,
später anch ein Urteil. So heißt apn z. B.: ich Null Kuchen haben, tut! ich
will auf den Stuhl gehoben werden, oder mein Stuhl soll an den Tisch, habn
ich möchte schlafen gehn, später kann dann haha anch bedeuten: er schläft, tut:
hier ist ein Stuhl. Die Bedeutung ergiebt sich aus dem Tone, wie die Wörter
gesprochen, und aus den Mienen, Blicken und Gebärden, von denen sie be¬
reitet werden. Damit sind diese Kinderwörter also den unvollkommnen Sätzen
an die Seite zu stellen, die wir selbst nicht selten bilden: zahlen! Hilfe! ein¬
steigen! Diebe! Auch hier fehlt das Zeichen für deu Wunsch, den Befehl, die
Aussage, wie wir es in unsrer Personalendnng haben. Ein Ausdrucksmittel,
durch das es möglich wird, die Worte als Zeichen für Vorstellungen, nicht
mehr als Zeichen für ganze Gedanken zu verwenden, gewinnt das Kind dann
an der Gebärde, Den Gedanken: Der Vater ist nicht da, bezeichnet es wohl,
indem es Papa sagt und dazu den Kopf schüttelt, Oder es benutzt eine hin¬
weisende Gebärde, mit der es das ausgesprochue Wort begleitet, zur Bezeich¬
nung der Anwesenheit, Und nicht lange, so treten an die Stelle der Gebärden
Wörter der Lantsprache: dann heißt es Papa nein oder Papa ata für der
Vater ist nicht da, Mama da für die Mutter ist da usw. Natürlich kommen
nur solche Sätze in Betracht, die das Kind selbst bildet, nicht nachgeplapperte.
Zugleich werden die Wörter in der mannigfaltigsten Weise zu Sätzen zusammen¬
gefügt. Diese Sätze sind freilich «och höchst unentwickelt, die Redeteile äußer¬
lich noch nicht geschieden, Formwörter, also Binde- und Verhältniswörter,
werden uoch gar nicht verwandt, auch eine Biegung fehlt noch, die Zeitwörter
erscheinen in der Nenn- oder in der Befehlsform: Apu haben — ich will
.Kuchen haben, Mama tom ----- die Mutter soll kommen. Oft fehlen auch noch
die Zeitwörter: bruma tuba ----- die Tante hat mir Küche» gegeben. Aber der
wesentlichste Fortschritt ist gemacht.
Entsprechend haben wir uns die Entwicklung der Sprache der Menschheit
zu denken, mir daß hier die Gebärden gewiß viel länger rede» den Worten
der Lautsprache bei der Satzbildung verwandt worden sind. Das Kind, das
an der Sprache seiner Umgebung unausgesetzt ein Vorbild findet, muß eben
schnellere Fortschritte machen. Mit der Zusammenfügung mehrerer Wörter zu
einem Satze, wie sie sämtliche Sprachen kennen, ist vielleicht der wichtigste
Schritt gethan worden. Nun waren die verschiedenartigsten Verbittdungen der
Worte möglich. Die Mitteilungen, die bisher an gegenwärtige Anschauungen
geknüpft gewesen waren, konnten sich von diesen frei machen: man konnte Ver¬
gangnes erzählen und auf Zukünftiges hindeuten. Nun war ferner die Bil¬
dung neuer Ausdrucksmittel nahe gelegt: man konnte die Satzteile durch
Stellung und Betonung unterscheiden. Es war endlich die Möglichkeit ge¬
geben, die Redeteile durchweg scharf vonemattder zu souderu, und die gesteigerte
Vollkommenheit der Ausdrucksmittel mußte höchst förderlich ans das Denken
zurückwirken, das sich nun freier entfalten konnte. Freilich ist das alles nnr
sehr allmählich vor sich gegangen. Die Worte, die aneinandergereiht wurden,
waren für lange Zeit nur Wurzeln, ohne jede Biegung, ganz entsprechend den
oben angeführten Kindersätzen. Manche heutigen Sprachen sind bekanntlich
auch ans dieser Stufe stehn geblieben, so das Chinesische, wo es zu einer Schei¬
dung der Redeteile im allgemeinen nicht gekommen ist, und z. B. ein und
dasselbe Wort Ruhe, ruhig, ruhig sein, beruhigen und beruhigt werden be¬
deuten kann.
In den kindlichen Satzwörtern wie tut sind vorwiegend Dingvorstellungen,
seltner Zustands- und Thätigkeitsvorstcllungen enthalten. Das Begehren
richtet sich eben meistens auf Gegenstände, zugleich ist die deutliche Bezeichnung
des Gegenstands zum Verständnis unerläßlich, während der Begriff der Thätig-
keit N'le gebe» u, dergl. viel eher nuausgedrückt bleibe» kann, N'atilrlich
herrschen denn auch während der ganzen Zeit der Sprachaneignung des Kindes
die Hauptwörter durchaus vor. Wir dürfen annehmen, daß auch in der Ur¬
zeit diese die zahlreichern gewesen sind. Zwar hat nus die Etymologie lehren
»vollen, daß es ursprünglich mir Fürwort- und Zeitwortwurzcln gegeben habe,
und daß ans den Zeitwörtern erst die Hanptwörter und auch die Eigenschafts¬
wörter entstanden seien. In der That führen unsre meisten Hauptwörter auf
Zeitwörter zurück. Die Sonne hat ihren Namen von, Leuchten, der Tag ver¬
mutlich von Brennen (Tag ist die Zeit des Sonnenbrandes), der Wolf vom
Rauben oder vom Zerreißen. Aber es ist gewiß irrig, alle Hauptwörter auf
diesem Wege herleiten zu wollen. Wenn neben dem gemeinindogermanischen
Worte mus Mans) eine gleichlautende Wurzel mit der Bedeutung stehle» be¬
stände!? hat, so ist es mindestens ebenso wahrscheinlich, daß diese Thätigkeit
ihren Namen von dem Tiere, wie umgekehrt das Tier den seinen von der
Thätigkeit erhalten hat, ganz ähnlich wie wir jetzt von Maus ein Zeitwort
mausen, von Affe ein nachäffen u. dergl. gebildet haben. Gewiß sind sehr
viele Thätigkeiten und Zustände erst nach Dingen benannt worden, Dingnamen
haben wahrscheinlich auch in der Urzeit zunächst überwogen.
Endlich sind noch ein paar Bemerkungen über die Lautgestalt der Wörter
myn, haha usw. nötig. Das Kind bringt in seinen „Lallmonolvgen," die es
im Gefühl des Behagens hält, eine ganze Reihe von Lunten und Lautvcr-
bindnngen hervor, Lunte zum Teil, die mau in dem Alphabete der Sprache
seiner Eltern vergeblich sucht und in denen völlig unverwandter Völker, etwa
der Hottentotten, wieder entdeckt. Aber diese Laute willkürlich hervorzubringen,
gelingt dem Kinde nur mit großer Mühe und erst allmählich. Manche Kon-
sonanten lernt es bekanntlich sehr spät spreche». Was ihn, zunächst auch gar
nicht gelingen will, das ist das Aussprechen von Kvnsonantcnverbindunge».
Daz» tritt sehr häufig Verdoppelung der einfachen, mir aus Kvusoucmt »ud
Vokal bestehenden Silben auf, wie sie die allbekannten Wörter der Kiuder-
und der Ammensprache zeigen. So wird ans Milch muni u. dergl. Ähnlich
>uuß es min auch in der Ursprache gewesen sei». Auch hier ist wohl zuerst
immer nur ein Konsonant mit einem Vokal verbunden worden; Dvppel-
kvusoncmz ist vermutlich viel später und zwar erst durch Ausstoßung eines
zwischen zwei Konsonanten stehende» Vokals entstände«. Auch hier ist jeden¬
falls die Silbenverdvppelnng eine häufige Erscheinung gewesen, die auf späterer
Sprachstufe in mannigfacher Weise der Grammatik dienstbar gemacht wurde;
svgcir die indogermanischen Sprachen zeige» bekanntlich in ihrer Reduplikation
noch Reste der einstigen Wortverdoppelnng. Endlich werde» die Konsonanten
auch ziemlich i» derselbe» Reihenfolge erworben worden sein, die wir beim
Kinde beobachten. Die Gaumen- und die Kehllaute n. a., die in den Lallmono¬
logen des Kindes erst später auftreten, und die es sich entsprechend erst zu
allerletzt aneignet, sind sicherlich jünger als die Lippen- und die Zahnlaute.
Sie fehlen auch in den Alphabete» mancher Völker.
Wir versuchen nun noch weiter rückwärts zu schreiten. Aber die Schritte
werden unsicherer. In das Dunkel der ältesten Zeit fällt ans der Kinderstube
nur spärliches Licht. Ein Unterschied zwischen dem Urmenschen und dem
sprechen lernenden Kinde besteht ohne Frage. Die Sprachwerkzeuge des
Kindes sind durch Vererbung geschickter, als die des Urmenschen gewesen sein
können. Andrerseits werden wir uns diesen geistig höher entwickelt denken
dürfen als das Kind während des ersten Lebensjahres. Und vor allem: dem
Kinde wird die Sprache überliefert, während der Urmensch sie ans sich selbst
schaffen mußte. Immerhin läßt die Analogie des sprechen lernenden Kindes
nicht völlig im Stich. An der Art, wie das Verständnis für die Sprache seiner
Umgebung beim Kinde erwacht, und wie dieses sich seine ersten Bezeichnungen
schasst, haben wir doch einen Fingerzeig für die Vorstellungen, die wir uns
von der Entstehung der menschlichen Sprache machen müssen. Das Sprach¬
verständnis des Kindes kann man allerdings auf verschiedne Art erwecken, aber
am leichtesten führt doch folgender Weg zum Ziele: Mail läßt das Kind irgend
ein Geräusch, das Ticken der Uhr, das Bellen des Hundes, hören und be¬
gleitet dies mit einem klangnachahmenden Lnutgebilde: Ticktack, Wauwau.
Durch das Band der Ähnlichkeit bildet sich am leichtesten die Assoziativ»
zwischen Lautzeichen und Bezeichneten. Auch nachher, wenn das Sprachver-
stündnis schon verhältnismäßig weit entwickelt ist, pflegen Angehörige und
Wärterinnen sich vorwiegend solcher nachahmenden Wörter zu bedienen, ja
man setzt später wohl diese mit den richtigen Namen zusammen und bildet
Wörter wie Muhkuh, Patschhand, Holtopferd. Das ebenso entstandne Piep¬
vogel ist sogar als Scherzwort in die Sprache der Erwachsenen übergegangen.
Und bei dem regen Nachahmungstrieb, der das Kind schon vom Ende des
ersten Lebensjahres um beherrscht, bildet es solche nachahmenden Wörter auch
von sich aus und verwendet sie gern.
Aus alledem läßt sich schließen, daß die menschliche Sprache in der Klang¬
nachahmung ihren Ursprung hat. Diese Ansicht, die onomatopoetische Theorie,
ist zwar als Bauwantheorie verspottet worden, wie sich auch die ander» Sprach-
ursprungstheorien Spottname» haben gefallen lassen müsse», aber sie ist jetzt
wohl kam» mehr bestritten. Darum herrscht aber doch noch keineswegs Einigkeit.
Wenn sich die Köpfe auch nicht mehr über die Streitfrage der griechischen
Forscher erhitzen, ob die Sprache von Rat»r oder d»res menschliche Satzung
und Übereinkunft geworden, noch über die des achtzehnten Jahrhunderts, ob
sie ein göttliches Geschenk oder eine menschliche Erwerbung sei, so ist doch der
Streit nicht zur Ruhe gekommen. Eine Reihe angesehener Forscher kann sich
nicht davon überzeuge», daß bei der Entstehung der menschliche» Sprache die
Absicht der Mitteilung im Spiele gewesen sei; sie glaube» ohne die A»setz«»g
von „Sprachreslexen," d. h. angebornen Lunten, die ungewollt in einer den
gehörten Lauten ähnlichen Gestalt hervorbrechen, nicht auskommen zu könne»,
von andern Versuchen, die Annahme einer Absicht beim Sprachurspruuge zu
vermeiden, ganz abgesehen. Es soll hier auf Gründe und Gegengründe nicht
eingegangen, sondern nur kurz angedeutet werden, wie man sich die Entstehung
der menschlichen Sprache much ohne Zuhilfenahme solcher angebornen Lunte
denke» kann.
Natürlich hat der Mensch, ehe er daS erworben hat, was wir menschliche
Sprache nennen, eine der Tiersprache ähnliche gehabt. Daß es eine Tier¬
sprache giebt, ist ja bekannt. Viele Tiere benutzen die Laute und Bewegungen,
die ihnen die Natur gegeben hat, »in ihr Begehren auszudrücken. So habe»
die Affe» eine Grimassen- und Gebärdensprache, viele Vögel eine Lautsprache.
Und mit den Warnrufeil, wie sie die Gemse» hören lassen, erheben sich die
Tiere schon über den Standpunkt der Mitteilung des eignen Seelenznstands
und nähern sich der eines äußern Vorgangs. Auf dieser Sose hat auch der
Mensch einst gestanden; er ist aber über sie hinausgeschritten, als er die Ent¬
deckung machte, daß sich durch Nachahmung, zuerst durch malende Gebärden,
da»» durch malende Laute, die Dinge der Außenwelt bezeichnen lassen. Die
Entdeckung mochte, nachdem vielleicht eine längere Zeit spielender Übung, eines
Nachahmers von Bewegungen und Lauten zur Ergötzung und Unterhnltnng,
wie wir solches auch bei unsern Kindern beobachte», vorhergegangen war,
eines Tags rein zufällig gemacht worden sein. Das Bedürfnis nach Mit-
teilung, su wohl geradezu die Not zwang aber bald, sie zu verwerten. So
traten diese Nachahmungen in den Dienst des geistigen Verkehrs. Mit der
ersten Gebärde aber, die einen gewünschten oder gefürchteten Gegenstand oder
vielmehr eine auf deu betreffenden Gegenstand gerichtete Begierde oder Furcht
— denn zunächst waren auch die neuen Ausdrücke Zeichen ganzer Gedanke»,
eines Wunsches, einer Bitte, einer Warnung; Namen für die Gegenstände,
Zeichen von Vorstellungen wurden sie erst später —, mit der ersten Gebärde,
die einen solchen Gedanke» durch Nachahmung, etwa einer Bewegung des
Gegenstands, bezeichnete, war ein Schritt gethan, den das Tier mit seiner
niedrigern Intelligenz nicht nachthun kann. Und mit dem ersten Schrei, der
zu demselben Zwecke einen Laut nachahmte, war die der Gebärdensprache noch
weit überlegne Lnntsprachc gegeben. Das aber, was dem Menschen diese
Schritte über die Äußerungen der Tiersprache hinaus ermöglichte, ist eine
Fähigkeit, die dem Tiere so gut wie ganz versagt ist, das Abstraktionsver¬
mögen; dieses setzt ihn in den Stand, von dem, was in einem Auschauungs-
komplexe, z. B. der Anschauung eines sich bewegenden oder schreienden Tieres,
gegeben ist, einen Teil (die Bewegung oder den Schrei) getrennt vorzustellen,
auch weil» dieser, wie die Bewegung, an und für sich mianschanlich ist.
Vielleicht können wir uns die Verwendung der Onomatvpöie auch noch
mannigfaltiger denken, als wir sie bei unsern Kleinen beobachten. Sie er¬
streckte sich' vermutlich nicht bloß ans Laute, also uicht nur auf Geräusche
(vergl. das nachahmende Kinderwort patsch für Hand), Verstimmen (vergl.
wauwau) und menschliche Interaktionen (vergl. sotto), sondern griff, symbolisch
andeutend, auch auf andre Wahrnehmungsgebietc über, suchte also auch Tast-
und Gesichtsvvrstellilngen, die Weichheit, die langsame Bewegung, die große
Gestalt u. dergl. durch Laute darznstelleii. Jedenfalls haben bellte die Laute
die Fähigkeit, solche Vorstellungen zu erwecken. Man denke etwa an Verse
wie die Schillerschen:
wo zunächst die weichen Laute b, w und ol, dann die scharfen Zischlaute und
zlllil Schluß anch das kurze a mit folgendem et in dieser Art malend wirken.
ES ist durchaus nicht unglaublich, daß diese Fähigkeit der Leute schon in der
Urzeit ausgenutzt worden ist. — Sprachgeschichtlich läßt sich das allerdings
so wenig wie die onomatopoetische Bildung der Urwurzeln überhaupt erweisen.
Aber die letzten Elemente der menschlichen Sprache aufzufinden, ist bei der
Veränderung, die sie im Laufe der Zeiten erfahren haben, für uns ein Ding
der Unmöglichkeit.
Die Erwerbung dieser nachahmenden Lautgebilde durch die Gesamtheit
konnte natürlich uur langsam vor sich gehn. Daß es aber den Menschen trotz
der llngenbtheit ihrer Sprachorgane gelang, ein solches Wort wieder hervor¬
zubringen, erklärt sich ans dem Bedürfnis nach besserer Verständigung. Der
Wert des neuen Ausorncksmittels zeigte sich so deutlich, daß man gewiß keine
Mühe scheute, es sich zu eigen zu machen.
Und fragen wir: Wie hat der Mensch über die onomatopoetischen Be¬
zeichnungen hinausgelangen können? so geben uns wieder die Kinder Ant¬
wort. El» englischer Knabe ahmte das Schnattern einer auf dem Teiche
schwimmenden Ente dnrch den Laut Knut »ach, bald nannte er aber anch alle
Vögel und Insekten Kucck und andrerseits alle Flüssigkeiten. Und als er auf
einem französischen So» einen Adler gesehen hatte, bezeichnete er auch sämt¬
liche Münzen mit Knak. Das Beispiel zeigt eins mit voller Deiltlichkeit: Wie
bei dem früher besprochnen Kinderworte apu wird der Name mit sonverüner
Freiheit ans die verschiedensten Dinge übertragen; lind die vuolnatvpoetische
Grundbedeutung vermag die anderweitige Verwendung nicht zu hindern, sie
kann verabschiedet werden, nachdem sie ihre Aufgabe, zwischen dem Wort und
seiner Bedeutung zu vermitteln, erfüllt hat. Knak wurde Name für die Ende,
ohne daß in jedem Falle der Anwendung an den Naturlaut gedacht wurde, was
ja zuweilen, weim sich das Tier ruhig verhielt, auch fern geung lag. Und da
die Vorstellung des Schreies nicht mehr den Vortritt beanspruchte, wurden die
mannigfachen Vernllgenreinerungen lind Metonymien möglich. Nicht anders
wird es beim Urmenschen gewesen sein. Auch hier wird sich die Erinnerung
an den Ursprung eines Wortes aus Lautuachahlnuug bald nicht mehr stark
genng erwiesen haben, die verschiedensten Übertraguugeu, die wir uus nicht
minder kühn zu denken haben wie jene kindliche», zu verhindern. Das Ver¬
gessen der Grundbedeutung, das auch heute noch der Weiterentwicklung der
Sprache im höchsten Grade förderlich ist, ist also scholl uns onomatopoetischer
Stufe möglich und nützlich gewesen.
Nntiirlich beobachten wir auch beim Kinde eine Vorstufe, auf der seine
Ausdrucksmittel denen der höhern Tiere entsprechen. Seine angebornen instink¬
tiven Äußerungen, besonders das Weinen und Schreien, treten bald in den
Dienst der Mitteilung: das Kind weint und schreit absichtlich, nachdem sich
die Vorstellung des Erfolges seiner zunächst uuU'illknrlicheu Äußerungen, also
des Stillens und Wartens, mit der Vorstellung dieser Lante verknüpft hat.
Nach einiger Zeit gesellen sich zu den rein voknlischen Schreien auch Silben, die
schon Konsonanten enthalten, und die zugleich eine bestimmte engere Bedeutung
als jene lediglich das Unlustgefühl ankündigenden Schreie aufweise». Nach
deu — freilich noch sehr zu vervollständigenden — Beobachtungen scheint die
Silbe mon durch eine Verbindung des Unlnstschreies mit der dem fangenden
Kinde eigentümlichen Mundstellung zu entsteh», lind entsprechend ist ihre Be¬
deutung nicht allgemein, nicht die der Unlust und des Verlangens überhaupt,
sondern sie hat die ganz besondre Bedeutung des Verlangens nach Nahrung.
Mön heißt also: mich hungert, und bisweilen hält sich diese Ursilbe in der
Sprache des Kindes noch lange in der Bedeutung Nahrung. So ist nun auch
die Entwicklung beim Urmenschen vor der Schöpfung der eigentlich mensch¬
lichen Sprache zu denken. Nur werden die Jnterjektionssprache und die laute
Muudgebärdeusprache bei ihm noch weiter ausgebildet gewesen sein. Insbesondre
mögen die auf die Nahrung bezüglichen Gebärden des Saugens, Lenkers,
Beißens, Kauens in Verbindung mit dem Begehrungsschrei schon eine ganze
Reihe von bedeutungsvollen Silben geschaffen haben. Bei allen Versuchen
jedoch, Wörter heutiger Sprachen ans solche vvrsprnchlichen Äußerungen zurück¬
zuführen, ist große Vorsicht geboten.
Auch für die Frage der Abhängigkeit des Denkens von der Sprache find
die Beobnchtnngcn, die wir an den Kleinen machen, von Wichtigkeit. Daß
erst die Sprache das Denken geschaffen habe, ist zwar von angesehener Seite
behauptet worden, es spricht aber doch alles dagegen. An unsern sprechen
lernenden Kindern sehen wir deutlich, wie das Denken der Sprache vorauseilt,
und dasselbe nehmen, wir für die Entwicklung der menschlichen Sprache an.
Wir erklären die Erwerbung der Sprache durch den Menschen dadurch, daß
er vor diesem Besitze schon in gewissen Grenzen begrifflich zu denken vermochte.
Diese Möglichkeit wird aber anch durch das Verhalten des noch sprachlosen
Kindes bewiesen. Preyer hat das durch einen Versuch gezeigt, den er mit
seinem Söhnchen angestellt hat. Das Kind wurde unruhig beim Anblick von
Flaschen, die mit weißer Flüssigkeit gefüllt waren, mochten die Flaschen der
Form nach noch so verschieden sein, während es sich leeren und mit Wasser
gefüllten Flaschen gegenüber ziemlich gleichgiltig verhielt. Es unterschied also
Nnsche und Inhalt und hatte die Begriffe Flasche und Nahrung gebildet, ehe
e's die Sprache verstand.
Also auch über die Zustände, wie wir sie in der Urzeit zu denken haben,
geben uns die Kleinen erwünschten Aufschluß. Und wir haben nicht erst nötig,
zwei Neugeborne in die Einsamkeit zu versetzen und, ohne daß die Laute mensch¬
licher Rede an ihr Ohr dringen, aufzuziehen, wie es einst der König Psalm-
madich gethan haben soll. Mail kann übrigens das Ergebnis eines so un¬
menschlichen Experiments mit einiger Wahrscheinlichkeit voraussagen. Die
Kinder wurden es im Laufe der Zeit dazu bringen, sich auf eine eigue Art
zu verständigen. Sie würden einen mäßigen Schatz von Gebärden und Lauten
erwerben; doch würden die erstern vorwiegen. Denn die Fähigkeit, Laute in
mannigfaltigen Verbindungen willkürlich hervorzubringen, läßt sich ohne Bor¬
bild nur äußerst langsam erlernen. Zuweilen schafft auch, wie es scheint, die
Ungunst der Verhältnisse eine Lage ganz ähnlich der, wie sie Psammetich ab¬
sichtlich herbeigeführt hat. Wenigstens wird von Dörfern der südafrikanischen
Wüste erzählt, daß sich dort die Kinder, die oft für lange Zeit von ihren
Eltern verlassen werden, selbst eine Sprache bilden. Genallere Beobachtungen
und Mitteilungen darüber wären sehr zu, wünschen.
So sind wir denn wieder bei dem Experiment des Königs Psammetich
angelangt lind könnten damit, wie wir mit ihm begonnen haben, auch schließen,
wenn es nicht ratsam schiene, die Entstehnngs- und Entwicklungsgeschichte der
Kindersprache und der Sprache der Menschheit, nachdem wir sie im Krebsgang
verfolgt haben, uns noch einmal von Anfang an in ihren Hanptstationen zu
vergegenwärtigen. Die frühsten Äußerungen des Kindes sind Schreien und
Weinen, später erscheinen Lachen und — im Zustand des Wohlgefühls —
Lallen. Die Schreie sind zuerst rein vokalisch, dann treten auch, wie es scheint,
infolge der Verbindung mit der Saugbewegnng, Konsonanten ans. Bald äußert
das Kind seine Gefühle absichtlich dnrch Laute und Gebärden. Willkürlich,
auf Vorsprechen hin, die Laute hervorzubringen, die es in seinen „Lallmono-
logen" geläufig ausspricht, gelingt ihm nur sehr langsam. Ein gewisses Maß
begrifflichen Denkens ist vor dem Besitze der Sprache da. — Das Verständnis
für diese erwacht in der Regel an nachahmenden Lautgebilden. Nunmehr bildet
das Kind, das sich schon vorher an der Nachahmung ergötzt hat, vielfach selbst
nachahmende Worte. Die Worte, die es gebraucht, sind zunächst Eigennamen,
werden aber bald zu Gattungsnamen. Dcizn sind die ersten Kinderwörter
nicht eigentlich Namen, Zeichen für Vorstellungen, sie sind vielmehr Zeichen
für ganze Gedanken, die sich ans die benannten Gegenstände beziehen, für
Wünsche, Bitten, Fragen, später erst für Aussagen. Aus diesen Satzwörtern
werden Namen dnrch Zuhilfenahme von Gebärden. Treten an deren Stelle
Lautzeichen, so ist einer der wichtigsten Schritte gethan: die Worte der Lant-
sprache werden zu Sätzen zusammengefügt. Zunächst fehlen aber noch Form¬
wörter und jegliche Wortbiegung. Mit dem geringen Vorrat von Bezeich¬
nungen, über die das Kind verfügt, schaltet es äußerst frei. Es übertrüge sie,
auch wenn sie lantnachahlnend sind, kühn ans ähnliches oder zusammen¬
hängendes, ja es hat auch für Gegensätze oft dieselbe Bezeichnung. Zunächst
fehlt natürlich in vielen Fällen das Bedürfnis genauer Unterscheidung, es
genügt ein allgemeiner Ausdruck. Nicht selten wird mich ein Wort der Er¬
wachsenen mißverstanden und ihm eine weitere Bedeutung untergelegt. Will
das Kind bestimmter bezeichnen, so greift es zur Zusammensetzung. Begriffs-
differeuzieruug im Anschluß an Lautwandel ist selten. Die Lautgestalt der
Wörter ist zunächst sehr einfach, Doppelkonsonanz fehlt anfangs ganz. Silben-
Verdoppelung ist häufig. Auch später erleiden die Worte im Munde des Kindes
noch viele Veränderungen dnrch Ausfall, Vertauschung, Angleichung n. a.
Beginnt das Kind sich der Wortlüegnng zu bedienen, so schafft es sich eigne
Formen nach naheliegenden Muster: seine Grammatik wird ganz von der
Analogie beherrscht. Auch beim Schaffen der Bezeichnungen verfährt es weiter
mit Freiheit: unter dein Einfluß der Assoziation des Ähnlicher, des Zusammen¬
hängenden und des Entgegengesetzten bildet es eigentümliche Ausdrücke.
Unterstützt von seiner lebhaften Phantasie schafft es wohl zuweilen hübsche
Metaphern.
Ganz entsprechend ist die Entwicklung ge>vesen, die die Sprache der Mensch¬
heit durchgemacht hat. Wir können das an der Geschichte der Kultursprachen
und ihrer Mundarten, sowie an dein Ban der Sprachen von Naturvölkern
nachweisen, und wo diese uns im Stich lassen, da dürfen wir es auf Grund
der Ähnlichkeit des Kinderverstandes mit dein des Urmenschen schließen. Nur
sind die Fortschritte an vielen Stellen langsamer gewesen, als sie es jetzt bei
den Kindern sind, die bei dem wichtigsten Schritte, dem zur Erwerbung der
menschlichen Lautsprache, geleitet, und denen auch sonst die Wege sehr geebnet
werden. Zum Beispiel hat die Gebärde jedenfalls viel längere Zeit mit aus-
helfen müssen, bis die höher entwickelte Lantsprnche ihrer Dienste entraten
konnte. Die Stufenfolge aber ist genau dieselbe: Vorstufe, der Tiersprache
ähnlich, bezeichnet durch Jnterjektionen und laute Muudgebärden, Entstehung
der Gebärden-, später der Lautsprache durch Nachahmung, Einfachheit der Laut¬
gestalt und Vorwiegen der Reduplikation, Bilden von Gattungsnamen aus
Eigennamen, Scheidung von Wünschen, Fragen, Aussagen einerseits und Namen
andrerseits, Neuschöpfung vou Bezeichnungen durch mannigfaltige Übertragung,
sodaß Vieldeutigkeit und sogar Gegensinn entsteht, daun Wortzusammensetzung
und Begriffsdifferenzicrung, endlich Schöpfung grammatischer Zeichen.
Von der Stufe der Satzbildung an scheiden sich allerdings die Sprachen.
Einige, wie das Chinesische, sind Wurzelsprachen geblieben, andre find zum
Agglntiuieren, dem Anheften der formalen Zeichen an die Stämme, noch andre,
die indogermanischen und semitischen, zum Flektieren, zu einem Verschmelzen von
Stamm- und Formsilben, vorgeschritten, wieder andre, die amerikanischen und
die baskische, haben die eigentümliche Methode des Eiuverleibens ausgebildet.
Die Grenzen zwischen diesen Sprachgruppen sind übrigens fließend. Doch
bei aller Verschiedeicheit in den Ausdrucksmiitelu zeigen die Veränderungen,
die die Sprache» erleiden, überall gewisse gemeinsame Züge. Nirgends fehlen,
um nur das wichtigste zu nennen, Lautwandel, Analogiebildung und Bedeu-
tuugswandel. Und bei diesen Veränderungen zeigt sich wiederum Überein¬
stimmung mit der Sprache der Kinder, nunmehr natürlich der weiterentwickelten,
etwa drei- bis sechsjährigen Kinder.
Also die Sprache der Kleinen, ja überhaupt ihre Äußerungen geistigen
Lebens, die die Eltern mit liebevollen Blicken und stetig wachsender Freude
verfolgen, bieten mich dein Forscher ein höchst ergiebiges Feld. Wir ver¬
danken ihnen die wertvollsten Aufschlüsse. Aber die Forschung ist noch lange
nicht abgeschlossen. An vielen Stellen zeigt unser Wissen noch Lücken, und
diese auszufüllen, dazu können manche Eltern mithelfen. Alle Mitteilungen
sind willkommen, falls sie nnr ans genauer Beobachtung beruhen. Diese ver¬
langt freilich eine gewisse Entsagung; die Eltern täuschen sich uur zu gern
über die geistigen Fortschritte, die ihre Lieblinge machen, suchen sie auch wohl
künstlich zu beschleunigen und vergessen zu leicht die Nachhilfe, die sie selbst
geleistet habe». Aber dafür muß doch die Freude an der Sicherheit der ge¬
wonnenen Ergebnisse reich entschädigen.
on dieser Stunde um verließ er die Burg nicht mehr, würde mich
niemand eingelassen haben, wenn, was freilich nicht geschah, irgend
ein Besucher vor der Pforte erschienen wäre. Er that das, was
die realistischen Blätter Frankreichs vor der Pariser Katastrophe
von den Ministern zu behaupten pflegten: er verdoppelte seine Wach¬
samkeit.
Für gewöhnlich hielt er sich in einem Eckzimmer des höchsten Stockwerks auf,
ans dessen Fenstern er das ganze Thal nach beiden Richtungen hin zu überschauen
vermochte. Dorthin hatte er einen ansehnlichen Stoß Bücher und einen Teil der
Lebensmittel gebracht. Mit leiblicher und geistiger Nahrung Wohl versehen fühlte
er sich auf seinem Luginsland ganz behaglich. Was an Schußwaffen in der Burg
vorhanden war, lag scharf geladen auf Stühlen neben den Fenstern. Von Zeit zu
Zeit erhob er sich, legte das Buch, worin er gerade las, beiseite und hielt fleißig
Ausschau nach dem Feinde. Drei- oder viermal stündlich richtete er ein kleines
NeiseperspeMv, das er im Gewehrschranke des gnädigen Herrn gefunden hatte, auf
die enge Thalschlucht im Osten, durch die die Gallier erscheinen mußten. Nachts
ging er nicht mehr zu Bett, sondern schlief völlig angekleidet in einem bequemen
Lehnstuhl. In diesen? hatte die alte Frau von Geyr, eine immer kränkliche Dame,
den größten Teil ihres Lebens verbracht. Er war weder neu noch edel in seinen
Formen, entsprach dafür aber allen Anforderungen, die man an einen Krankenstuhl
zu stellen berechtigt ist. Nur war er nicht mehr ganz fest ans den Beinen, und
als Pancratius, der sich im Traum in ein Handgemenge versetzt wähnte, der Er¬
regung seiner Seele durch Ächzen und konvulsivisches Hin- und Herwerfen seines
Körpers Ausdruck verlieh, begann much der Stuhl zu ächzen, neigte sich, da ihm in
besagtem Handgemenge ein Bein abhanden gekommen war, plötzlich hintenüber und
stürzte samt seiner Last mit furchtbarem Gepolter hin.
Die kurze Zeitspanne, in der dies geschah, genügte, dem Traume des geist¬
lichen Schläfers eine effektvolle, völlig unerwartete Wendung zu geben. Pancratius
sah sich von der Übermacht der Feinde bis an den jähen Abhang des tarpejischen
Felsens hinangedrängt, er wollte noch einmal zum Hiebe ausholen, da griff ihm ein
Gallier nach der Kehle, stemmte sich gegen ihn und stieß ihn rückwärts in die
grausige Tiefe. Da lag er um, völlig zerschmettert und seines frühen Todes
schmerzlich bewußt, bis ihm aus beträchtlicher Höhe ein Gegenstand ins Gesicht fiel,
worin der Tote einen stark ausgetretnen Pantoffel erkannte. Wutschnaubend sprang
er auf und — erwachte.
Innerlich ein wenig beschämt half er dem Sorgenstuhle wieder empor, ersetzte
das invalide Bein durch einen genau abgepaßten Stoß Bücher und begab sich aufs
neue zur Ruhe. Aber die seelische Erregung wirkte fort und hielt den Schlaf
lange Stunden von seinem Sitze fern. Mehr als einmal glaubte er drunten in
der Tiefe Stimmen und Waffcngeklirr zu vernehmen. Er löschte die Lampe, öffnete
ein Fenster und lauschte hinaus. Draußen war jedoch alles still. Nur die ein¬
gerostete Wetterfahne auf dem Giebel knarrte nud schrie im Winde der Herbstnncht,
und drüben im Brohlbache gurgelten und rauschten die angeschwvllnen Wasser, als
ob auch sie in wildem Kampfe begriffen wären.
So erging es ihm um jede Nacht. Sein sonst so tiefer und fester Schlaf
war so leise geworden, daß er beim geringsten Geräusch erwachte. Wenn sich der
Gefährte seiner Einsamkeit einmal ans seiner Lagerstatt unter der Treppe umwandte,
und das Stroh zu knistern begann, fuhr Pnueratius empor, griff nach einer Waffe
und lauschte, bis er sich über den Ursprung des Geräusches Gewißheit verschafft hatte.
Am vierten Tage seiner Kriegsbereitschaft bemerkte unser Freund auf dem Berg¬
rücken im Süden, dicht am Waldrande drei kleine Feuer, deren Rauch als langer
bläulicher Streif über den Boden hinzog. Daß er trotz eifriger Benutzung des
Perspektivs keinen Menschen in der Nähe der Feuer gewahrte, bestärkte ihn in der
Vermutung, es seien die Feuer eines verlnsseueu Biwaks, und er überhäufte sich selbst
mit Vorwürfen, daß er in der letzten Nacht nicht schärfer nach jener Richtung hin
ausgelugt habe. Mittags qualmten die drei Feuer plötzlich stärker, und als er nun
hinschaute, gewahrte er fünf Männer und zwei Frauen, die sich dort zu schaffen
machten, in der Asche wühlten und schließlich auf Gegenständen, die wie gefüllte
Säcke aussahen, Platz nahmen, wobei sie etwas zu verzehren schienen. Jetzt er¬
kannte er, was ihn so lange beunruhigt hatte, es waren Bauern bei der Kar¬
toffelernte!
Hoffnung läßt nicht zu Schanden werden. Die Wahrheit dieses Wortes sollte
sich auch dem streitbaren Bnrgkaplan, der seine „Gallier" mit jedem Tage heißer
herbeisehnte und vor Kampflust förmlich glühte, offenbaren. Denn die Franzosen
kamen wirklich, zwar nicht in den unabsehbaren Scharen, auf die Pancratius ge¬
rechnet hatte, aber doch in hübschen kleinen Trupps, die alles in allem freilich nicht
einmal aus halb so viel Soldaten bestanden, wie Pflastersteine ans dem Söller der
Schweppenbnrg zu ihrer Begrüßung in Bereitschaft lagen. Schlimm war nnr, daß
die ersten Abteilungen vorüberzogen, ohne die Burg auch »ur eines Blickes zu
würdigen. Der Kommandant, der das Perspektiv in der Linken, die Entenflinte in
der Rechten im Hinterhalt lag, sah es und traute seinen Augen kaum. War das
etwa Hohn? War die Schwevveuburg so klein, daß man sie übersehen konnte?
Auch ein zweiter Trupp zog vorüber, zwei Stunden nach dem ersten. Pancratius
überlegte, ob er einen Schuß abgeben und dadurch den Feind herbeilocke» sollte.
Dreimal legte er an, aber dreimal setzte er auch wieder ab. Es wäre Feigheit ge¬
wesen, so ans dein sichern Hinterhalt auf ahnungslos dahinziehende Menschen zu
schießen, auch wenn diese Gallier und Feinde waren. Und dann wollte er auch
das gute Recht auf seiner Seite haben. DaS geschah jedoch nur, wenn er der
Angegriffne, der Feind der Angreifer war.
Plötzlich begriff er, weshalb die Soldaten vorüberzogen. Sie wollten die
Burg umzingeln, sie in weitem Umkreise mit einem Belngeruugsgürtel umgebe».
Das mußte er zu verhindern suchen. Als sich wieder eine kleine Abteilung zeigte,
befestigte er in aller Eile ein Leinentuch an einer Stange, steckte letztere zum Fenster
hinaus und schwenkte die improvisierte Fahne so lange hin und her, bis man auf
der Landstraße darauf aufmerksam wurde und Halt machte. Ein Sergeant und
drei Mann kosten sich von der Kolonne ub und schritten, ohne irgend eine Deckung
zu benutze», geradeswegs auf das Burgpvrtal zu. Alles in allem vier Manu!
Und als wäre das Wagnis nicht schon tollkühn genug, sie hielten ihre Gewehre
nicht einmal schußbereit und rauchten aus ihren thönernen Stummelpfeifen, als ob
sie deu Tod verhöhnen wollten!
Pancratius, hinter einem halb angelehnte» Feiisterlade» Wohl gedeckt, »ahn
jede» el»zel»e» der Ankömmlinge aufs Korn, schwelgte in dem Gedanken, daß ein
Druck seines Zeigefingers genüge, den Barbaren der Länge nach in den Sand zu
strecken, und — setzte das Gewehr wieder ab. So gelangten die vier Krieger un¬
behelligt bis zur Thür, suchten, wie es schien, nach der Klingel und bedienten sich,
als sie eine solche nicht fanden, des Klopfers. Unser Freund lehnte die Flinte in
die Ecke und steckte, so behutsam er dies vermochte, den Kopf zum Fenster hinaus,
brachte ihn aber sofort wieder in Sicherheit. Trotz der Geschwindigkeit, mit der
er dieses Manöver ausgeführt hatte, schien man ihn unten bemerkt zu haben. Ans
der Tiefe drangen barbarische Laute zu ihm hinauf, aus denen er die Frage:
dju'est-vo pun vous äösirv!-, Monsieur? zu versteh» glaubte. Beim Herkules! Jetzt
merkte er, welche Thorheit er begnüge» hatte! Mau hielt das Weiße Leinentuch
offenbar für eine Parlamentärflagge! Man glaubte, er, Pancratius Sackmann ans
Dann, habe die Absicht, dem ersten besten Sansculotten, der sich in der Gegend
zeigte, die Burg auszuliefern!
Über diese Zumutung aufs höchste entrüstet, warf er das Fenster zu, daß die
Scheiben klirrten. Das weitere Pochen der Besucher, jn sogar die Kolbenstöße,
die sie aus Ärger darüber, daß mau sie genasfnhrt hatte, gegen die Thür richteten,
ließ Pancratius unbeachtet. Mochten sie klopfen und lärmen, soviel sie wollte,,! Es
wäre unter seiner Würde gewesen, mit einem so kleinen Häuflein Feinde den
Kampf aufzunehmen. Um ihnen aber zu zeigen, daß er gerüstet sei, trat er, als
das vierblättrige Kleeblatt jetzt schimpfend und fluchend wieder abzog, mit erhobner
Flinte an das Fenster und schaute ihnen nach. Einer der Franzosen wandte sich
um, blieb stehn und machte seine Kameraden auf die Erscheinung aufmerksam. Sei
es nur, daß sich die riesige Gestalt in der schmalen Fensteröffnung so absonderlich
nnsnähm, sei es, daß der Harnisch unsers Freundes ihre Heiterkeit erregte, kurzum
die vier Gallier brachen wie ans Verabredung in ein schallendes Gelächter aus.
Der Sergeant nahm einem seiner Leute das Gewehr aus der Hand, legte ans
Pancratius an und drückte, „och ehe dieser wußte, was unter vorging, ab. Ein
Pulverblitz, ein lauggezogner schwirrender oder singender Ton, ein Knall, der an
der Hauswart und den Berghängen auf beiden Seiten des Thales ein mehr<
stimmiges Echo weckte, und zugleich das Klirren einer zertrümmerten Glasscheibe —
das war es, was Pancratius zunächst wahrnahm. Als er sich dann von seiner
Überraschung erholt hatte und ziemlich ernüchtert ein paar Schritte zurücktrat, sah
er auf der Fensterbank einige Glnssplitter in der Form langer spitzer Dreiecke und
auf deu Dielen zu seinen Füßen ein flaches Bleistück liegen. Er hob es ans und
wog es nachdenklich in der Hand. Es war die feindliche Kugel, die, wie er fest
glaubte, ihm bestimmt gewesen war, die aber ein gütiges Geschick, vielleicht der Genius
des Ortes, über sein Haupt hinweg gegen die Zimmerdecke gelenkt hatte. Seltsam,
daß er gar nicht ans den Gedanken kam, den metallnen Gruß zu erwidern! Die
Kugel in der flachen Hand blieb er wie angewurzelt stehn, sah bald das kreisrunde,
von strahlenförmig verlaufenden Sprüngen umgebne Loch in der Fensterscheibe, bald
den Fleck an der Decke an, von der ein Stuckchen Kalk abgebröckelt war. Der
Feind hatte die Verwirrung des Gegners benutzt, sich unbemerkt zurückzuziehn und
sich wieder mit der Kolonne zu vereinigen, die laugsam gegen Burgbrohl vorrückte.
Vergebens erwartete Pnucratius den blühenden Ort in Flammen aufgehn zu scheu,
kein Rauch, kein Feuerschein wollte sich über dem Bergrücken zeigen. Auch die
nächste Nacht blieb alles still. Erst am andern Mittag erschien eine neue Ab¬
teilung Franzosen. Nach den Erfahrungen des letzten Tags war der kriegerische
Burgkaplnn in seinen Ansprüchen bedeutend bescheidner geworden. Ein gallisches
„Heer" von zweinndzwanzig Mann, wie es sich jetzt unter den Mauern der
Schwcppeuburg zeigte, würde ihn vor wenig Tagen noch völlig kalt gelassen haben.
Heute aber begrüßte er es mit wahrem Entzücken. Der Trupp schwenkte von der
Landstraße ab und marschierte in Reih und Glied oder, wie unser Freund mit
Befriedigung feststellte: in Schlachtordnung ans die Burg los. Wieder nahm
Pancratius jeden Einzelnen vor sein Perspektiv und — fast Ware er in ein lautes
Jubelgeschrei nusgcbrochen — erkannte, daß die Schar von einem höhern Offizier,
dafür hielt er nämlich den Leutnant, befehligt wurde. Also endlich ein würdiger
Gegner! Mnrcus Mcmlius hatte seinen Brennus gefunden!
Unter den Soldaten war ein Mann, der seines merkwürdigen Aussehens
Wege» dem Beobachter viel Kopfzerbrechen verursachte. Er war ein wenig kleiner
als die übrigen, ging etwas vornübergebeugt, trug langes, beinahe flachsblondes
Haar und eine Hornbrille mit großen runden Gläsern. Seine Beine waren mit
allerhand Lappen umwickelt und staken in Soldatenstiefeln, die ihm viel zu groß
zu sein schienen, und aus deren Schäften Strohhalme heraushingen. Was sonst
noch sterblich an ihm war, umhüllte ein tabakbrauner Leibrock von sehr friedfertigen
Schnitt, dessen Knöpfe den Weg aller Knöpfe gegangen waren, und der deshalb
nur durch den breiten Säbclgurt geschlossen wurde. Der schwere Säbel und zwei
Pistolen größten Kalibers, die im Gürtel staken, bemühten sich umsonst, der Gestalt
ihres Trägers etwas Kriegerisches zu geben. Friede, süßer Friede strahlte ans des
Männleins Augen und Mienen, lächelte aus den mit allerhand Papierbündcln voll¬
gepfropften Taschen und gaukelte sogar um die Dvunerrvhre, die sich in dieser
Gesellschaft auch gar nicht heimisch zu fühlen schienen, und von deuen immer eins
auf dem besten Wege war, aus dem viel zu weiten Gürtel seines Besitzers zu ent¬
schlüpfen. Sogar Pancratius, der doch in diesem Augenblick wichtigeres zu thun
und zu bedenken hatte, glaubte in dem flachslöpfigen Brillenträger einen Menschen
erkennen zu müssen, den die Not der Zeit zu einem Helden wider Willen und
bessere Überzeugung gestempelt hatte.
Besagter Friedensengel hielt sich beständig in der Nähe des Offiziers, riß,
sobald dieser ihm eine Weisung gab, mit äußerst serviler Gebärde die Jakobiner¬
mütze vom Kopfe, dienerte und scharwenzelte und nahm, sobald der Leutnant sich
abwandte, ans einer mächtigen Dose eine oder auch mehrere Prisen.
Die Flintenkugel vom Tage vorher hatte Pancratius zum vorsichtigsten aller
Kommandanten gemacht. Er kam deshalb ans seiner Deckung nicht hervor und
zeigte sich anch nicht, als der gallische Heerhaufen sehr energisch Einlaß zu heischen
begann und, als aus dem Innern des Hauses keine Autwort erfolgte, in unver¬
kennbar feindlicher Absicht die Thür mit den Gewehrkolben bearbeitete.
Obwohl unser Freund jetzt am liebsten zur Defensive übergegangen wäre,
glaubte er es dem Gegner schuldig zu sein, kein Mittel zu einer friedlichen Lösung
der Sachlage unversucht zu lassen. Auch die Römer hatte» bet der Ankunft der
Gallter nicht gleich zu deu Waffen gegriffen, sondern zuvor diplomatische Verhand¬
lungen mit den Barbaren anzuknüpfen versucht. Und was die Römer gethan hatten,
war für Pancratius maßgebend. Sich hierbei der französischen Sprache zu be¬
dienen, hielt er unter seiner Würde, und von der deutschen glaubte er annehmen
zu müssen, daß sie dem Feinde ebenso unbekannt sei wie die lateinische. Sollte
er aber nnn einmal unverstanden bleiben, so schien es ihm ehrenvoller, wenn er
als Römer unverstanden blieb. Er nahm also ein Blatt Papier und schrieb in
der Sprache Latinas die Frage darauf, die laut dem Berichte des Livius die
römischen Gesandten in Clusium den fremden Eindringlingen vorgelegt hatten:
„Gallier! Mit welchem Rechte begehrt ihr fremdes Eigentum, und was habt ihr
in diesem Lande, das doch nicht das eure ist, zu suchen?" Diesen Zettel, auf dein
für die Antwort genügend Platz gelassen war, befestigte er nebst einem Bleistift
nu eine Angelschnur und ließ beides in die Tiefe hinab.
Er merkte an der Bewegung der Leine, daß man das Papier loslöste. Ein
Soldat brachte es dem Leutnant, der auf der niedrigen Gartenmauer saß und den
Vorgang mit einiger Verwundrung beobachtet hatte. Er warf einen Blick auf das
Blatt, rtef deu Friedensengel herbei und schien ihn aufzufordern, die Schrift zu
entziffern.
Das war leichter gesagt als gethan. Das flachshnarige Männlein nahm die
Brille von der Nase, putzte die Glaser sehr umständlich an einem Zipfel seines
Rockes, setzte sie wieder auf und hielt das Papier, soweit es sein Arm erlaubte,
von sich ab. Plötzlich ließ es den Arm sinken und schaute mit offnem Munde bald
deu Offizier an, bald zu dein Fenster empor, aus dem die seltsame Botschaft herab-
gekommen war. Der Leutnant, durch dieses Benehmen neugierig gemacht, erhob
sich, nahm dem Flachskopf den Zettel wieder aus der Hand und starrte mit dem
Ausdrucke der größten Verständnislosigkeit auf die Zeilen. Nun entspann sich
zwischen beiden ein lebhaftes Zwiegespräch, das damit endete, daß der Bebrillte
einen Soldaten herbeiwinkte, ihn kehrt machen ließ und seinen breiten Rücken als
Schreibpult benutzte. Einen Augenblick später verschwand der Soldat mit dem
Zettel aus dem Gesichtskreise des Beobachters, die Leine bewegte sich wieder, und
bald stieg das Papier, von ungeduldigen Händen gehaspelt, zur Kommandantur der
Festung hinauf. Pancratius entfaltete es mit fieberhafter Hast und las — nicht
viel fehlte, so Ware er zu Boden gesunken — und las in klassischem Latein dieselbe
Antwort, die einst die Römer ans ihre Frage erhalten hatten: „Wir tragen das
Recht auf der Spitze des Schwertes, und tapfern Männern gehört alles!"
Nichts ist ans dieser Welt von Bestand. Aber für deu Weisen giebt es die
tröstliche Gewißheit, daß alles einst wiederkehrt. Der Thor sieht das letzte Veilchen
des Frühlings mit Wehmut welken, er sieht trauernd die letzte Garbe des Sommers
in die Scheuer wandern und das letzte Blatt im Herbste vom Baume fallen. Der
Philosoph bleibt bei all dem unbewegt. Er weiß, daß in wenig Monaten neue
Veilchen blühn, neue Ähren reifen, neue Blätter grünen werden. Er weiß auch,
daß der Komet, der, große Dinge verheißend, am nächtlichen Himmel steht, aber
mit jeder Nacht kleiner und bleicher erscheint, nach tausend und mehr Jahren
wiederkehren und neue Ereignisse verkünden wird. Neue Ereignisse? Nein, anch
diese wiederholen sich. Was der Komet verkündet, ist dasselbe, was er vor so und
so viel Jahren schou verkündet hat, und wie es damals eintraf, so muß es auch
jetzt wieder eintreffen. Wundersame Erscheinungen um Himmel hatten einst den
Römern die Invasion der Barbaren angezeigt; gleich einer feurigen Rute hatte der
Schweif eines Kometen über dem Kapital geleuchtet, um stand der Komet wieder
am Himmel, und wieder hatten gallische Horden die Grenzen ihres Landes über-
schritten, ulu sengend und plündernd die Well zu durchziehn. Und wie alles sich
wiederholt, so standen sie jetzt wiederum vor einem Kapitol. Wnr es verwunder¬
lich, daß sie auf die Frage, die damals an sie gestellt worden war, heute dieselbe
Antwort gaben?
Für unsern Freund war diese Thatsache kein Rätsel, sondern nur eine Be¬
stätigung seiner Vermutungen und Voraussetzungen — eine glänzendere allerdings,
als er sie je zu erhoffen gewagt hatte. Sie bedeutete für ihn gleichsam das
Certifikat des Schicksals, daß es ihn als Verteidiger des Vaterlands, als Beschirmer
der Gesittung und der Kultur gegen das Barbarentum anerkenne. Nun durste er
nicht mehr zögern, seine Aufgabe zu erfülle», nun hieß es kämpfen!
Der Feind ließ ihm zum langen Überlegen auch gar keine Zeit, sondern um¬
schwärmte die Burg, um eine schwache Stelle in der Befestigung zu erspähe».
Bier oder fünf Mann unterzogen den Stall, die Waschküche nud das Backhaus,
Gebäude, die den Hof nach der Bergseite hin abschlossen, einer genanen, aber sie
wenig befriedigenden Untersuchung. Panemtius hatte nämlich alle drei in der
richtigen Erkenntnis, dnß ihre Verteidigung zwecklos und kaum durchführbar sein
werde, ausgeräumt und den Angreifern preisgegeben. Die kleine Thür, die ans
dein Burghause in den Hof führte, war vermauert worden und nahm deshalb die
Sorge des Belagerten gleichfalls nicht mehr in Anspruch. Es galt also zunächst,
die verfügbaren Streitkräfte auf die wirksame Verteidigung des „Hnnptpvrtnls" zu
konzentrieren. Hier war auch schnelles Eingreifen nötig, denn die Gallier ver¬
suchten schon, das meißelförmig zngeschnittne Ende einer'langen Stange nnter die
Thür zu schieben, um diese uach gewissen Gesetzen der Mechanik aus den Angeln
zu heben. Pancratius, der an dem Vorgang ein mehr als rein theoretisches
Interesse nahm und sich über den Verlauf des Experiments Kenntnis verschaffen
wollte, beugte sich aus dem Fenster, hielt es aber für ratsam, so schnell wie möglich
wieder zu verschwinden, da er nicht weniger als sieben Gewehre auf sich gerichtet
sah. Mit zwei Sprüngen war er in dem Gemach, worin die Basaltmunition auf¬
geschichtet lag, öffnete das Fenster und warf den ersten Stein in die Tiefe. Statt
des Wehgeschreis, das er erwartet hatte, vernahm er mir ein paar kräftige Flüche.
Kein Zweifel: der erste Stein hatte seineu Gallier verfehlt! Die einzige Folge
des Wurfs war, daß mehrere der Soldaten weit von der Thür zurücktraten und
mit schußfertigem Gewehr das Fenster bewachten, aus dem ein so unerwünschter
Gruß herabgekommen war. Sich unter diesen Umstände» noch einmal dem Fenster
zu nähern, hieß so viel, als sich dem gewissen Tode aussetzen. Und dies war
Pancratii Absicht keineswegs. In solchen Augenblicken bewährt sich das Genie des
großen Feldherrn. Unser Freund eilte in die Bibliothek, riß ans einem Regal
ein Brett, kehrte mehr fliegend als laufend damit zurück, schob es, nachdem er auf
das vordere Ende etliche der größten Steine gelegt hatte, weit über die Fenster¬
brüstung hinaus und kippte es um. Diesesmal war die Wirkung schon besser. Trotz
des Mas g, vous! der Wache war einer der Soldaten nicht rechtzeitig geflüchtet
und infolgedessen ziemlich stark am Arme getroffen worden. Er stürzte hin, erhob
ein fürchterliches Geheul, das allmählich in einen Katalog sämtlicher in Frankreich
gebräuchlicher Flüche überging, raffte sich auf und taumelte, den verletzten Arm gegen
die Bauchhöhle pressend, zu seinen Kameraden. Diese verspürten kein Lust mehr,
sich dem Basalthagel noch einmal auszusetzen, sondern begaben sich lebhaft gestikulierend
zu ihrem Leutnant, der noch immer ans der Gartenmauer saß und mehr belustigt
als gereizt die Entwicklung der Dinge abzuwarten schien.
Pancratius konnte sich nicht versagen, ans die zum Kriegsrat versammelten
Gallier einen Schuß aus seiner Entenflinte abzugeben, der jedoch über ihre Köpfe
hinwegging, da der geistliche Schütze die alte Jägerregel „Bergunter — halt
drunter!" nicht kannte. Vielleicht hätte der Feind nach den am „Portal" gemachten
bösen Erfahrungen die Belagerung der Burg aufgegeben und sich in einem Dorfe
der Umgegend für die Verlorne Zeit und Mühe entschädigt. Jetzt aber, da ein
schuf; gefallen war, glaubten die Franzosen es ihrer Soldatenehre schuldig zu sein,
noch weiter auszuharren und, wenn möglich, die feindliche Festung dem Erdboden
gleich zu machen. Wahrscheinlich vermuteten sie auch, daß ein Haus, das mit
solcher Energie verteidigt würde, Kostbarkeiten von großem Wert enthalten müsse.
Sie marschierten deshalb in weitem Umkreise an die Burg herum und besetzten
die Hofgebäude. Im Backhnnse prasselte bald ein lustiges Feuer. Axthiebe, die
aus dem Garten schallten, verrieten, daß mau das Lattenwerk der Sommerlanbc
zu Brennholz zerkleinerte. Mehrere der Soldaten rückten zum Fouragieren aus
und kehrten nach Verlauf einiger Stunden mit wohlgefüllten Säcken, einem Ziegenbock,
etlichen Hühnern und einer ganzen Ladung Stroh zurück, ein Zeichen, daß man
sich dicht unter den Mnneru der Burg häuslich niederlassen und so bequem wie
möglich einrichten wollte.
Unser Freund beobachtete alle diese Vorgänge mit einer aus Behagen und
Besorgnis gemischten Stimmung. Er sagte sich selbst, daß für ihn jetzt alles darauf
ankomme, den Feind über die Stärke der Besatzung zu täuschen. Nur so konnte
er sich die notwendige Nachtruhe sichern und verhindern, daß man, während er
auf dieser Seite der Burg beschäftigt war, ans jener irgend etwas Unvorhergesehenes
ins Werk setzte. Als es zu dämmern begann, sorgte er zunächst für die Erleuchtung
beinahe sämtlicher Zimmer. Zum Glück besaß er in den Wachskerzen des Festsnal-
kronleuchters einen Vorrat von Lichtern, der bei weisem Verbrauch einige Wochen
reichen mußte. Sodann eilte er vou Gemach zu Gemach, hämmerte auf dem Vor-
saale, klirrte in der Küche mit Töpfe» und Bratpfannen, hustete in der Bibliothek,
klimperte im Damenzimmer auf dem Spinett, kratzte und bellte am „Portale" wie
ein Hund, pfiff in der Bodenkammer einen Marsch und führte auf der Treppe
ein Zwiegespräch mit verstellter Stimme auf, eine Leistung, deren sich ein Eckhof
nicht hätte zu schämen brauche».
Aber die ungewohnte Bewegu»g ermüdete ihn bald, und so schlief er denn,
obwohl er heroisch gegen den Schlniuiner ankämpfte, endlich auf seinem Svrgcu-
stuhl ein. Allerdings nur für kurze Augenblicke. Beim leisesten Geräusch fuhr
er empor und benutzte die Gelegenheit, einen Eimer die Treppe hinabrollen zu
lassen oder sonst ein Lebenszeichen von sich zu geben. Der Feind dachte jedoch um
keinen Angriff, sondern schlief, nachdem er zuvor in Backhaus und Waschküche ge¬
lärmt und gesungen hatte, auf seinem Strohlager den Schlaf des Gerechten.
Früher als die Belagerungsarmee war die Besatzung der Burg beim ersten Morgen¬
grauen munter. Pnucratius sah ein, daß er, wenn er die Täuschung des Feindes
mit Erfolg fortsetzen wolle, anch bei Tage für die größtmögliche Belebung seines
Kastells Sorge tragen und die Gallier uach Kräften in Spannung halten müsse.
Sein Geist, gewohnt aus den läutern Quellen des Altertums Lebensweisheit zu
schöpfe«, verwies ihn auf den listenreichen Odhsscus, der auch Verkleidungen nicht
verschmäht hatte, wenn es dem Feinde ein Schnippchen zu schlagen galt. Wie bei
allen Menschen, die in der Einsamkeit leben, hatte sich anch bei unserm Freunde
die Phantasie ans das herrlichste entwickelt. Es fiel ihm darum nicht schwer, eine
Reihe von Charakterfignren zu ersinnen, und was die Hauptsache war, auch so zu
verkörpern, daß seine Absicht vollkommen erreicht wurde. Die Kleiderschränke der
Gehrschcn Familie mußten ihren Inhalt, die Bodenkammern ihren Plunder her¬
geben, um dem einzigen Pancratius immer neue Gestatte» zu verleihen. Die Bibliothek,
sonst die Stätte ernster Studien, glich jetzt den, Garderoberaum einer wandernden
Komödiantentruppe. Sogar der antike Altar, bisher nie durch die Berührung
profa»er Dinge entweiht, sah jetzt mehr einem Toilettetisch als einem Heiligtum
ähnlich.
Wenn der Feind die ihm gebotne» mimischen Schaustellungen beachtete und nach
Gebühr zu würdigen verstand, so mußte er über zweierlei erstaunen. Erstlich, daß die
Burg ein ganzes Geschlecht von Riesen beherbergte, und zweitens, daß diese Riesen eine
besondre Vorliebe für die Kleidertracht längst vergangner Zeiten zu haben schienen. Zu¬
nächst zeigte sich Pancratius in seiner ureigner Gestalt und Hülle als Geistlicher. Er
erschien am Kvrridorfenstcr nach der Hofseite, lächelte der unter stehenden Wache mit un-
endlicher Milde zu, wandte sich dann um und trat mit erHolmen Armen zurück, gleiche
fern als ob er jemand beschwöre, nicht an das Fenster zu treten und sich um keinen
Preis der Gefahr auszusetzen, erschossen zu werden. Die Wache, dnrch das Lächeln
des Gottesmannes verwirrt, dachte gar nicht daran, das Gewehr zu erheben, sondern
starrte die Erscheinung am Fenster mit offnem Munde an. Ehe der Soldat wieder
zur Besinnung gekommen war, hatte der Kaplan die Soutane mit einem Staatsrock
aus veilchenblauen Sammet vertauscht und über sei» Haupt die Allongeperücke des
ersten derer von Geyr zu Schwcppeuburg gestülpt. Als er sich in diesem Aufzuge
zeigte und dabei bald durch eine Lorgnette in den Hof hinabschaute, bald mit
Würdevollen Gebärden nach dem Hintergründe zu sprach, verlor der Soldat seine
Fassung vollständig, stürzte in das Backhaus als das Hauptquartier der Belagcrmigs-
nrmee und kehrte in Gesellschaft des Leutnants und des Flachskopfs zurück. Die
drei kamen freilich zu spät, den Senior des Hanfes noch einmal zu sehe», dafür
gewahrten sie jedoch im Fenster einer Mansarde das rote rundliche Antlitz el»er
traiter Magd, der das bunte Kopftuch gar nicht übel stand, und deren nackte Arme
einem Fleischermeister alle Ehre gemacht haben würde». Die ländliche Schöne
lächelte den Leutnant begehrlich an, nickte ihm freundlich zu und fuhr dann plötzlich
erschrocken zurück, als sei sie bei ihrem Licbeswerbeu überrascht worden. Die Be¬
obachter vernahmen denn auch, wie eine männliche Stimme dem armen Kinde in
barschem Tone Vorwürfe machte, und wie dieses in Thränen ausbrach, worauf
ein Manu in Jägerwams und Pelzmütze das Fenster mit einer heftigen Be¬
wegung schloß.
Dieses Gaukelspiel setzte der geistliche Proteus den ganzen Tag über fort,
griff bald auf eine schon benutzte Maske zurück und tauchte bald in neuen, noch nie
gesehenen Gestalten uns. Es versteht sich von selbst, daß er Harnisch und Visier-
helin nicht verschmähte und sich sogar in eine turköluische Dragoueruuiform zwängte,
deren Rückeuuahte er aus begreifliche» Gründen vorher aufgetrennt hatte. Er wurde
mit der Zeit i» seinen Erfi»dungen immer kühner »ud in deren Ausführung immer
gewandter. Er lernte aus Fett und Mehl Schminke bereiten, aus Wachs künstliche
Nasen herstellen und ans der Roßhaarfüllnng der Polsterstühle Haartonren und
Bärte anfertigen, als ob er sein Leben lang nie etwas andres gethan hätte.
Bei alledem fand er jedoch noch Muße, ein wachsames Ange ans das am
meisten gefährdete „Portal" zu haben und gelegentlich einen Schuß abzugeben,
wenn einer der Gallier sich ihm gar zu leichtsinnig als Ziel darbot. Da er aber
niemals traf, die Franzosen auch keine Anstalten machte», die Festung zu stürmen,
sondern sich in ihrem Lager wie zu Hanse fühlten, so bildete sich zwischen den
feindliche» Parteien allmählich el» mväns vivvoäi heraus, der einer gewissen Herz¬
lichkeit nicht entbehrte. Pancratius kostete den süßen Kitzel der uiigewohnte» Auf-
regung mit dem Behagen eines Lebenskünstlers, freute sich seiner sinnreichen Ver¬
anstaltungen und sah in der Soldateska drunten im Hose mehr ein Parkett von
Zuschauern für seine theatralischen Leistungen als eine Horde von Barbaren, die
ihm nach dem Leben trachteten. Diese hingegen freuten sich des warmen Quartiers,
worin sie ungestört ein paar Rasttage verbringen konnten, und belustigten sich
höchlichst über die so seltsam kostümierte Nachbarschaft und über die Schüsse, die
von einem unsichtbaren Schlitzen immer aus einem andern Fenster, aber immer mit
demselben fragwürdigen Erfolg abgegeben wurden.
Sie hatten jedoch ihre ursprüngliche Absicht keineswegs aufgegeben. DaS
zeigte eine Wiederholung des Experiments mit dem Hebel, die sie in der nächsten
Nacht vornahmen. Das ängstliche Grunzen des Schweines, das sich in seiner Ruhe
gestört fühlte, machte uusern Freund auf die unheimliche Thätigkeit der Belagerer
aufmerksam. Er schlich sich ans Fenster, belud das Brett wieder mit einer ge¬
hörige» Last Steine und sandte auf die Köpfe der Angreifer einen so wuchtigen
Gruß hinab, daß sie sich schleunigst zurückzogen und von nun an die Thür ängstlich
mieden. Zu seinem Bedauern vermochte sich der Belagerte keine Gewißheit über die
thatsächliche Wirkung des Wurfes zu verschaffen; seiner Überzeugung nach mußten
jedoch zum mindesten drei der Angreifer erschlagen oder tödlich getroffen worden sein.
(Fortsetzung folgt)
Am Nachmittag des 23. Julis 1849 streckte die Besatzung von Rastatt nach
dreiwöchiger Belagerung durch die Preußen vor dem Niederbühler Thore die
Waffen. Der badische Aufstand war damit beendet, und das Los der meuterischen
Truppen, aufrührerischen Vvlkswehren und Freischärler besiegelt. Ans Gnade und
Ungnade hatten sie sich ergeben. Der Tod auf dem Sandhaufen und entehrende
Zuchthausstrafen warteten ihrer, als die Kriegsgerichte zur Aburteilung der
„Menschen," die der damalige Prinz von Preußen bei ihrem Auszüge aus der
Festung nicht hatte „sehen wollen," zusammentraten.
Von den leidensvollen Tagen, die den gefangnen Empörern beschieden waren,
giebt ein Schriftstück aus jener Zeit beredte Kunde, das mir im vergangnen Herbst
auf einem Ausflug in den Westerwald der Fabrikant Wilhelm Richter in Hachen-
burg und dankenswerter Freundlichkeit auf meine Bitte zur Veröffentlichung in den
Grenzboten aus seinem Besitz überlassen hat.
Der Inhalt der beiden vergilbten Bogen groben Handpapiers lautet wörtlich
wie folgt:
In Düsseldorf habe ich mich bei dem Aufstand von dem 9. auf den 10. Mny
betheiligt, wurde deshalb in der Cölner Zeitung unter dem 23. May steckbrieflich
verfolgt und bin, obschon die Dnmpfboote sehr streng controlirt wurden, als Kellner
verkleidet nach Mannheim gekommen. In der Rheinpfalz wurde ich Adjutant bei
Wtllich; meine Frau, als Amazone verkleidet, machte den Feldzug mit. In Eppingeu
auf der Retirade wurden wir abgeschnitten, entkamen aber glücklich über die Würten-
berger Grenze, wurden jedoch in Lauffen, als wir gerade im Begriff waren, nach
Stuttgart zu fahren, nrretirt mit noch einem Freischärler. Ich ging auf den Hof,
sprang über die Mauer und kam glücklich nach Stuttgart. Dort wandte ich mich
an den Regierungsrath Schober, und in zwei Tagen war meine Frau frei.
Auf der Retirade hatte ich sehr werthvolle Sachen versteckt: Zwei Büchsen,
die wir von Willich bekommen aus dem Herzogliche» Museum, mit Gold beschlagen,
dcunascirte Pistolen P.P.; kurz, trotz allem Abrntheu bestand ich drauf, die Sachen
zu holen. Meine Iran blieb in Stuttgart, und ich ging nach Eppingeu, um die
Sachen zu holen und dann nach der Schwettz zu reisen.
Jedoch die Vorsehung hatte es anders beschlossen: In Eppingen wurde ich
arretirt und mit vier Gensdarmen nach dein Hauptquartier der Preußen zu Carls-
ruhe eskortirt. Dort habe ich achtzehn qualvolle Tage zugebracht. Als ich vor
den Auditeur kam, hörte ich den Oberst von Frankenstein sagen: „Verwahren Sie
mir nur den Kinkel gut; die Kerls gehören in Ketten und Banden!"
Was wir im Gefängniß zu Carlsruhe gelitten, ist keine Feder im Stande zu
beschreiben. Die deutsche Sprache hat kein Wort dafür, diese infame Behandlung
zu bezeichnen, die uns zu Theil wurde. Das Essen bestand ans einem Pfund
schwarz Brod; Mittags dünne Hülsenfrüchte und Abends Wassersuppe. Ju einem
Zimmer von 7 Fuß Breite und 12 Fuß Länge saßen 5 bis 0, auch 7 Personen
nuf einem halbfaulem, vou Ungeziefer wimmelnden Strvhsnck; das Meublement be¬
stand aus 0 Schüsseln und 2 Löffeln und dem Nachtstuhl, der auch als Tisch
diente. Die Luft war verpestet, und nun die infame Behandlung! Kam so ein
preußischer Offizier, so hieß es: „Aufstehen! Ihr Hunde gehört in Eisen und
Ketten!" „Jetzt kannst Du studiren, Pfaff!" sagten sie zum Pfarrer Schlatter, welcher
Mitglied der constituirenden Versammlung gewesen. Kurz, alles wurde uns ver¬
sagt. Kein Handtuch, kein Waschwasser! Keine Wäsche konnten wir wechseln.
Hundertmal wünschten Nur uns den Tod!
Am 16. dös. Mes. wurde ich Morgens 9 Uhr mit einen, polnischen Offizier
von 2 Gensdarmen und 4 Soldaten nach dem Stnndehnus eskortirt. Hier
war das Untersnchuugsgericht. Man hatte nach Düsseldorf geschrieben. Von dort
War ich stark gravirt. Es hieß, ich sei Landwehrmann, Hanptbctheiligter beim
Aufstand gewesen, würde deshalb steckbrieflich verfolgt. Denn lag eine Quittung
vor, die man in meinem Portefeuille gefunden, über 70000 Zündhütchen, die ich
dem Bürgerdietator Gögg geschrieben und vergessen abzugeben, dann mein Abschied
von Schleswig-Holstein und mein Attest aus dem Central-März-Verein, wo ich
4 Monat als Gehülfe gearbeitet, von Raveaux, Simon und Schüler unterzeichnet,
dünn die Büchsen ans dem Museum, dann eine Zeitung, wo wir beschrieben, als
Willich, meine Fran und ich in Carlsruhe einrückten und von Brentano abgeholt
wurden. Kurz, am Schluß sagte der Auditeur: „Sie werden wahrscheinlich stand¬
rechtlich erschossen; diesen Nachmittag wird Ihnen das Urtheil publicirt." Ich er¬
widerte: „Ich werde als Manu zu sterben wissen und Sie, meine Herrn, werden
über kurz oder lang an Laterncnpfähle gehangen."
Um 3 Uhr Nachmittags wurde ich und drei Bndenser von einem Gensdarm
und vier Soldaten nach dem Ständehans gebracht, wo mir das Urtheil publicirt
werden sollte. Unter dem Ständehaus geht es links die Treppe hinauf; dort ist
gleich das Untersuchungszimmer für die Badenser. Der Gensdarm blieb mit den
drei Badeuseru dort und bedeutete mir, in den Gang zu gehen, wo ich MorgenL
gewesen. Der Gang stand voller Preußen. Der Gensdarm glaubte, ich könnte
aus dem Gange nicht fort, blieb also ruhig um Anfang des Ganges, ohne mich
den Preußen zu übergeben. Der Obrist von Frankenstein kam mir gleich nach; er
war Präses der Vernrtheilnngskommissiou. Als derselbe ins Zimmer trat, sah ich
drei Offiziere und deu Auditeur in Galauniform. Ich sagte zu einem Posten:
„Darf ich eintrete»? Ich bin Zeuge." Derselbe erwiderte: „Nein, gleich kommt
ein Preuße; der wird standrechtlich verurtheilt; deu sollen wir abholen." Da dachte
ich „entweder oder." Ich ging ruhig durch die Preußen bis an das Ende des
Ganges, schloß die Thür auf, hinter mir ab und ging über den Hof. Die Preuße»
lagen im Fenster, vermuthete» in mir, da der Gensdarm mich ihnen nicht über¬
geben und ich anständig gekleidet, keinen Arrestanten. Unter dein Thor begegnete
mir der Gensdarm, der mich Morgens transportirt. Der frug, wohin. Ich er¬
widerte: „El, wissen Sie denn noch nicht, daß ich frei bin?" Der Geusdarm gab
mir die Hand. Ich sagte: „Leben Sie recht wohl!", war aus dem Thor, durch
drei bis vier Straßen im Galopp, in die erste Droschke und in fünf Minuten vor
dem Thor im Thiergarten.
Im Thiergarten accordirte ich mit dem Kutscher. Derselbe brachte mich
glücklich durch Militair Nachts 1 Uhr auf die Würtenberger Grenze. Ju Pforz¬
heim wurden wir von den Preußen angerufen, es war Nachts 11 Uhr, mit „Halt,
wohin?" Der Kutscher sagte: „Nach Willbad ins Würteubergische einen Herrn
abholen." Ich lag unter dem Spritzeuleder, mit des Kutschers Mantel zugedeckt.
Um zwei Uhr saß ich im Omnibus und war um 6 Uhr bei meiner Frau und Freunden
zu Stuttgart, wo man mich rettungslos verloren gegeben. Edle Menschen hatten
meine Frau unterhalten, ihr mich, da sie bei ihrer Arretirung nichts als ein Reit-
kleid hatte, Kleider gegeben. Man gab uns gleich ein anständiges Reisegeld, eine
Empfehlung nach Lüttich, wo ich wahrscheinlich placirt werde. Ich „fand" einen
Paß. Wir sind nun über Heilbronn, Mergentheim, Würzburg, Harun, Butzbach,
Gießen, Wetzlar, Dillenburg und Hachenburg glücklich in Altenkirchcn angekommen
und beabsichtigen von dort über Bonn und Cöln nach Lüttich zu gehen. Alten¬
kirchen, den 28. July 1849. Julius Müller aus Düsseldorf.
Der geistvolle und
bissige französische Konsul Fauvel schrieb am 18. September 1822, wenig Jahre
nach dem Auffinden der Venus von Milo, ans Athen: Lonriuo estte «.ctiniiublo
Venus us tisnt xas sa. ovinus als-us su, wallt, e'ost sens «toute qu'vllo t'aum jetoo
Ä Lor tour ctems 1'a.rkne aieliLolvAi^ne pour ^ raniinor clisooräe. In der That
hat der Streit um die kunsthistorische Klassifizierung der Meuschen Göttin — an
ihrer Schönheit hat noch niemand gezweifelt — und um die Art ihrer Restau¬
rierung noch uicht geruht, und er ist jetzt lebhafter als je: die Franzosen (aber auch
zahlreiche deutsche Gelehrte) möchten in ihr ein Werk des Praxiteles oder seiner
Schule, die Vertreter der andern Ansicht, an deren Spitze der Münchner Archäo¬
log? Furtwängler steht, ein Werk der spnthellenistischeu Zeit, so um 100 v. Chr.
herum, sehen. Die dreihundert Jahre Differenz haben schon viel Papier und
Druckerschwärze erfordert. Mit der Venus vou Milo sind seiner Zeit zwei Hermen,
eine bärtige und eine jugendliche, und drei Inschriften gefunden und ius Louvre-
Museum gebracht worden. Die eine Inschrift trug den Namen des Künstlers,
Agesandros oder Alexandras ans Antivcheia am Maiandcr. Zeichnungen aus der
Zeit des Fundes geben die Sicherheit, daß die abgebrochne Juschriftplatte zu der
Plinthe der Venus paßte: die Juschriftplatte ist verloren. Eine zweite Inschrift
stand über der Nische (andre sagen, es sei ein Knlkofen gewesen), in der man die
Venus fand: es war eine Weihinschrift, womit ein gewisser Bakchivs, ein Unter-
gymnasiarch, dem Hermes und dem Herakles diese Exedra und noch etwas, vielleicht
gerade die Venus, stiftete: die Inschrift ist verloren. Endlich gab es noch eine
dritte Inschrift, wodurch Thcodoridas, der Sohn des Lnistrntos, dem Hermes etwas
weihte; da auch diese Inschrift verloren war, so muß mau es dem Pariser Archäo¬
logen Reinach gutschreiben, daß wir sie kennen gelernt haben. Die Inschrift war
zur Zeit des Fundes mit einer dazu gehörigen, der bärtigen Herme, gezeichnet
worden, und Reinach hat sie vor einigen Jahren enträtselt. Diese verloren ge-
gnngnen Inschriften haben Mißtrauen erregt, sodaß man sogar von absichtlicher
Entfernung sprach. Denn die Künstlerinschrift würde, da Antivcheia um Maiander
erst 250 gegründet worden ist, den Künstler — nudros weit ius hellenistische Zeit¬
alter verweisen, was den Franzosen, die auf Praxiteles schwören, gar nicht paßte.
Aber es scheint doch, daß die Inschriften in den Ateliers der Restaurateure des Louvre
verstellt oder umgearbeitet worden sind. Denn die erwähnte Theodoridas-Inschrift hat
sich vor kurzem wieder eingestellt, und die bärtige Herme paßt vorzüglich herein.
Inschrift und Herme sind nun sicher ans die Zeit zu deuten, aus der die Gelehrten
des Louvre ihre Perle gern her hätten: Ende des fünften, Anfang des vierten
Jahrhunderts. Dnzn hatte derselbe Thevdoridas schon einmal in Melos etwas ge¬
stiftet, und zwar einen Poseidon; nun hat man in Melos much einen Poseidon gefunden,
der in der Technik der Venus ganz gleichartig ist. Kein Zweifel mehr für die Fran¬
zosen: Venus und Poseidon gehören zusammen, Poseidon ist von Thcodoridas Anfang
des vierten Jahrhunderts gestiftet, folglich Ist auch die Venus aus dieser Zeit. Und
da Venus und Poseidon in keinem besonders intimen mythologischen Verkehr flehn,
so hat Reinach die geistvolle Hypothese aufgestellt, die Venus vou Milo sei eigent¬
lich eine Amphitrite, die Gattin des Poseidon. Jetzt kommen jedoch die deutschen
Aber: Thevdoridas hat gewiß einen Poseidon gestiftet; wer sagt aber, daß es gerade
der der Venus gleichaltrige ist? sie sind doch nicht zusammen, wenn auch nahe
bei einander gesunde» worden. Jedenfalls ist der Poseidon am Meere, die Venus
im Innern gefunden worden; sie sind wohl aus derselben Periode, aber nichts be¬
weist, daß sie zusammen aufgestellt wnreu. jNber diesen Fund am Meeresstrande
hat Conze in dem gerade erschienenen archäologischen Anzeiger Seite 18 und 19
die Vermutung ausgesprochen, diese Werke möchten gerade zum Zweck des Weiter¬
transports an das Ufer gebracht worden sein. Dann könne der Poseidon mit dem
jetzt bei dem Melos gegenüberliegenden Antikythera aus dem Meeresgrunde hervor¬
geholter hervorragenden Antiken (Bronzen) zu einem Transport gehört Habens Die
Widmnngsinschrift, wodurch irgend ein Poseidon durch Thevdoridas gestiftet wurde,
und der melische Poseidon sind durch zwei bis drei Jahrhunderte getrennt; die andre
mit der Venus gefundne Theodoridasinschrift geht diese nichts an. Vor allem aber
kaun doch nach der von einem gewissen Dehay gezeichneten Platte mit der Küustler-
inschrift, die mit der Bruchfläche genan der Bruchfläche der Vcnusplinthe angepaßt
werden kann, der Künstler sich nicht „aus Antivcheia," das im dritten Jahrhundert
erst gegründet ist, nennen, wenn er anfangs des vierten Jahrhunderts die Venus
geschaffen haben soll, was die Franzosen möchten. Löwy (Inschriften griechischer
Bildhauer, S. 210) setzt die Inschrift sogar erst in das Jahr 100 v. Chr. Und
ein gewichtiger Eideshelfer sür die Datierung der Inschrift auf etwa 100 v. Chr.
ist in diesen Tagen in unserm ausgezeichneten Juschriftenkeuner Hiller von Gaertringcn
erstanden., der im Hermes 1900, II denselben Alexandros — so heißt es jetzt
definitiv — aus Autiocheia am Mniander in musischen Siegesinschriften von Thespiai
zweimal für diese Zeit nachweist. Über diese Inschrift kommt man nicht weg (man
will sie auch so erklären, als ob zu der Zeit des Künstlers das Praxitelische Werk
restauriert worden wäre); aber die stilistischen Eigenschaften des herrlichen Werkes
sind auch uicht so ausgeprägt, daß man mit Bestimmtheit sagen könnte, die Venus
von Milo sei unbedingt nicht aus der Zeit des Praxiteles. So müssen sich die
Archäologen weiter streiten, doch die Welt darf sich an der meltschen Göttin, sei sie
Aphrodite oder Amphitrite, nur erfreuen, namentlich so lange man die Restau¬
rierungen nur auf dem Papier oder im Atelier versucht. —
„Es ist eine wahre Kalamität, daß unter den bekannten Nachbildungen des
Myronischen Diskobols eine von den besten und dazu die einzige, welche ihren ur¬
sprünglichen Kopf wohlerhalten anf den Schultern trägt, seit Jahrzehnten mitten
in Rom gleichsam wieder eingegraben ist. Nur ganz selten noch kommt sie ver¬
einzelten Fachgenossen auf flüchtige Momente zu Gesicht, eine Gunst, die auch mir
zu teil geworden ist." So schreibt der Leipziger Archäologe Franz Studniezka in
einem trefflichen Aufsatz „Zum myronischen Discobvl" in der Festschrift für Otto
Benndvrf Seite 163 (Wien, 1898). Er war infolge außerordentlicher Empfehlungen
^893 in der Lage, die Statue zu studieren und Messungen um ihr vorzunehmen;
auch konnte er den Kopf des Diskobols in großer photographischer Profilnusicht
veröffentlichen, die allerdings nicht nach der Originalplatte gemacht ist, von der es
überhaupt »ur zwei Abzüge giebt, sondern nach dem einen, ihm von Helbig über-
lassenen Abzug. Doch entspricht dieser Kopf durchaus nicht den heutigen Anforde-
rungen, u>le Photographien überhaupt ein kümmerliches Hilfsmittel sind. So Iväre
das herrlichste uns überkvmmne Bildtverk Myrvns der richtigen wissenschaftlichen
Untersuchung und künstlerischen Betrachtung durch die Engherzigkeit des jetzigen
Besitzers im Palaste Laneelotti in Rom, kophim. es aus dem ?aIc>W0 Nassimi irlls
Lolouno gekommen ist, gänzlich entzogen, wenn nicht ein günstiger Zufall die ganze
Statue im Gipsabguß wenigstens zugänglich machte. Die Archäologie kennt (siehe
Stndniezka bei Neundorf) fünf Exemplare des Kopfes des berühmten Diskvbvls.
Aber die Köpfe in Basel, der Sammlung Catajv, im Berliner Museum und im
vatikanischen Garten könne» den Vergleich mit dem Laneelvttischen Kopf, der der
beste und dazu einzige ist, der noch mit dem Rumpf bon altersher zusammenhängt,
nicht aufnehmen. Auch ein in Rom gefnndner Abguß einer modernen Kopie der
Statue hat nicht dick Wert.
Als nnn Furtwängler im vorigen Sommer mit dem französischen Archäologen
Snlomvn Reinach die neu installierte Abgußsammlnug im Louvre besuchte, zeigte
ihm dieser einen Kopf, der als ttzto av ?»n, Styl« Ah Z?oliollztv im Museum figurierte,
und fragte Furtwängler, ob er das unbekannte Original kenne. Sofort erklärte
der Münchner Gelehrte, der sich von der Photographie her erinnerte, es sei der
Kopf des Diskvbvl Laneelotti. In Paris hatte man die beiden auf dem Haare
über der Stiru liegenden Puntelli (Buckeln, Bossen, die der Künstler als Richt¬
punkte so lange als möglich stehn läßt) fälschlich für Hörnchen genommen und deshalb
an Pan gedacht. Da der Abguß im Louvre käuflich ist (die Formerei des Louvre fuhrt,
ihn Ur. 1402 als este Ah Norouro ans), so kann man jetzt den Kopf des Diskobol
Laneelotti auf die Vatikanische Diskobvlstatue setzen und sich so die wunderbare
Schöpfung Myrous auunhernd vergegenwärtigen. Denn wie Furtwängler in den
gerade jetzt erschienenen Sitzungsberichten der philosophisch-philologischen und der
historischen Klasse der bayrischen Akademie der Wissenschaften feststellt, ist kein
Zweifel, daß der Pan oder Mercure des Louvre in der That ein in frühern Jahren
gemachter Abguß des Laneelottikopfes ist: er zeigt am linken Branenrande eine
kleine und auf der rechten Oberkopfhälfte hinter dem Pnntello der rechten Kopf¬
seite eine größere Verletzung; eben diese Verletzungen kann mau an denselben
Stellen ans der Photographie der Laneelvttistatne erkennen, die jetzt also am Abguß
wenigstens, ans solche Weise im Gips zusammengesetzt, in ihrer Gesamtwirkung
studiert werden kann und auch schon mit Erfolg studiert wird.
Myrous Diskobol war bekanntlich ein Bronzewerk. In einem Aufsatz der
Revno cri'ebvolog'iguo November-Dezember 19(it) (^« type kömiuin as I^sippo) hat
Reinach eine interessante Hypothese über antike Kopien nach Bronzen, wie wir sie
beim Diskobol vor uns haben, und solche nach Marmorwerlen aufgestellt. Da man
schon in frühen Zeiten — seit dem vierten vorchristlichen Jahrhundert; Plinius
schreibt dem Lysistratos, dem Bruder Lysipps, die Erfindung zu — Gipsabgüsse
machen konnte, so sind Kopien nach Bronzen im Verhältnis zum Original einer¬
seits sicherer und genauer, andrerseits auch häufiger. Deal der übermalte Marmor
wurde z» Abgüssen nicht hergegeben, die ihm hätten schaden können, während
Bronzen ohne Nachteil dein Abgnßverfahren unterworfen werden können. Nach
Abgüssen konnte der Kopist gut und sicher arbeiten; und Reinach meint, daß man
ans der Häufigkeit erhaltner Kopien auf ein Brvuzeorigiual schließen könne. Übrigens
hat der Ruhm der Exklusivität, die für deu Diskvbvl Laneelotti behauptet wird,
den Besitzer des Kopfes der Sammlung Catajo angesteckt: die jetzt nach Wien ge-
kommne große Sammlung Catajv — 167 Nummern nach Dütschte, Antike Bild¬
werke —, die Eigentum des Erzherzogs Franz Ferdinand ist, ist in Wien gerade so
unzugänglich Wie der Diskubol in Rom, Das »odlosse oviixs scheint als Wnhlspruch
nur noch bei den Tiergartenmillivnären zu gelten. Die sollen jetzt ihre kostbaren
Sammlungen, wenigstens gegen Entree zu mildem Zwecke, dem Publikum geöffnet,
Wer hat sich wohl nicht
schon an dem lustigen Nnpelspiel in Shakespeares Sominernachtstrauiu ergötzt?
Und möglicherweise hat auch schon irgend eine historische deutsche Buhne oder ein
Verein die „L,hö,u-ela vomio» oder Herr Peter Sgnentz, Schimpfspiel von Andreas
Gryphius," aufführen lassen, worin Shakespeares derbe Haudwerkcrszeneu, die der
Professor Daniel Schwender zu Altdorf, der Mutterstadt der Erlanger Universität,
schou in, ersten Viertel des siebzehnte» Jahrhunderts aufgeführt hat, so trefflich
nachgefühlt sind. Die lustige Seite von dem traurigen Ende oder wie Shakespeare
sagt „die spaßhafte Tragödie" von Pyramus und Thisbe wird also bekannt genng
sein. Daß der mythologische Stoff auch zu Trauerspielen und ernsten Operntexten
benützt worden ist, ist selbstverständlich. Das siebzehnte Jahrhundert kennt drei
französische Tragödien von Theophile de Man, Jean Pujet de in Serre und Prndon,
die deu durch Ovids Metamorphosen zuerst gegebnen Stoff dramatisierten. Das
achtzehnte Jahrhundert war reich um musikalischen Stücken über Pyramus und Thisbe.
In München wurde 1769 eine italienische Oper ?ir-mio o lisbo mit Musik von
Benauzio Rauzziui aufgeführt, nud ebenso wurde ihr trauriges Schicksal für Ferrara,
Florenz, Venedig, Neapel, Spanien komponiert. Aber kein Land ist reicher an
Dramatisiernugen der Mythe, komischen und ernsten, musikalischen und pantomimischen,
als Deutschland, Wir finden im Lullotiu ein LLMoMIo et An, lZ1bIiotb<Zone!ro I,
1901 eine Aufstellung, in der allerdings Andreas Gryphius übergangen ist, und
gleich der älteste Bearbeiter Gabriel Rollenhageu, der Sohn des Dichters des
Froschmeuselers, in der biographischen Anmerkung mit seinem Vater Georg Rollen-
Hagen verwechselt wird. Das Spiel Gabriel Rolleichagens, das den Titel ^mantos
.'l»ordo8 führt, ist verknüpft „mit einer nusbnndigen schonen Tageweisz von Pyrmno
iind Thisbe aus dem Poeten Ovidio," Die vierte Auflage ist in Magdeburg 1611
gedruckt; Gabriel Nvllenhngen ist 1383 in Magdeburg geboren, und so ist das
Stück Anfang des siebzehnten Jahrhunderts entstanden und nicht schon im sechzehnten,
wie Mr. Emile Pieve im Lnllotiu ein LidlioMils annimmt, Daun ivird 1694 iii
Hamburg eine Oper, Text vom Ratsherrn Schröder, Musik von Kuffer aufgeführt;
wir finden 1780 ein Trauerspiel von Ludwig Zehnmark, ein anonymes Münchner
Melodram von 1785, ein dramatisches Sprichwort von Mauvillon gleichfalls 1785,
ein musikalisches Dnvdrama von Bertrand, Halle 1787, ein Singspiel von Beda
Mayr, Donauwörth 1787, und um auf die neuste Zeit überzuspringen — die Liste
ist gewiß nicht vollständig —, 1872 in Frankfurt a. M eine Oper von Ludwig
Gellert. Soviel von der komischen, tragischen und musikalischen Behandlung; um
zur moralischen.
Um 1484 war in französischer Sprache, 1509 erst in der ursprüngliche» latei¬
nischen Niederschrift — die lateinische seltne Ausgabe liegt mir Por — ein Buch
wi Druck erschienen, das schon vor fast zweihundert Jahren geschrieben war und
jetzt doch noch großen Eindruck machte: Act^morMosis Ovicii-eng, ramÄitsr a, nmFistro
'1'Kom^ ^Valle^s L.i>Flic>o als xrotossioiis xroäiea,t.orna suo SMetissima Virli's vornmioo
exMiiglg.. Thomas Wallet) ist identisch mit Thomas Jorz oder Joyee, auch Thomas
Anglicus geuaiint, Domiiiikaner und Kardinal, gestorben 1310. Dieser gelehrte
Engländer, der zahlreiche Schriften verfaßt hat, versuchte Ovids Metamorphose» in
moralischem und christlichem Sinn auszulegen. Und da heißt es toi. XXX von
Pyramus und Thisbe: „Diese Geschichte kann allegorisch ans die Passion und
Ueischwerduug Christi gedeutet werden, Pyramus ist der Sohn Gottes und Thisbe
die menschliche Seele, die sich beide von Anfang an gar wunderbar liebten und
sich aus Mitleid und Liebe zu vereinigen beschlossen. Aber so sehr sie benachbart
sind, d. h. von gleicher Natur, denn der Mensch ist im Ebenbilde Gottes gemacht,
so giebt es doch eine Wand, die sie trennt: das will sagen, das; Adams Sünde
sie an dem Zusammenkommen hindert. Nichtsdestoweniger kamen sie durch die
Propheten zum Verständnis miteinander lind versprachen sich, infolge der gebenedeiten
Fleischwerdung unter dem Baume, der dem Kreuz entspricht, bei der Quelle des
heiligen Sakraments der Taufe und der Gnade zusammenzutreffen. So ist denn
geschehen, daß die Jungfrau — will sagen die Seele — nicht zu der Quelle der
Gnade gelangen konnte, um des Löwen, d. h. des Teufels willen, wenn nicht zuerst
ihr Freund Pyramus — das ist Jesus Christ, der Sohn Gottes — heimlich dahin
gekommen wäre und sie erwartet hätte, wie Habakuk I, 2, 3 sagt: Si moram kvoorit
vxpöetÄ sum, «MA vLuions vorige ot, mein tÄrclMt. (Wenn es verzieht, so harre
seiner; denn es kommt gewiß und bleibt nicht aus.) Und nach der Verständigung
kam ja Jesus zu uns und endlich unter den Maulbeerbaum, d. h. das Kreuz; «ach
der Art Thisbens, d. h. der Seele, setzte er sich dem Tode ans, sodaß sich das
Kreuz mit ewigem Blute färbte und seine Farbe, die früher weiß war, verdunkelte.
Daraufhin muß sich Thisbe, d. h. die menschliche Seele, ans Mitleid mit der ge¬
benedeiten Passion mit dem Schwert durchbohren und geistig dieselbe Qunl er¬
dulden. Auch können wir in Thisben die glorreiche Jungfrau Maria sehen, die
infolge der Fleischwerdung Gottes Sohn gebar. Und dann hat sie sich ans Mit¬
leid selbst mit dem Schwert durchbohrt, wie Lukas sagt: l'u-um iMus animmu
portr-msivit, Zlxlckius (durch deine eigne Seele drang das Schwert).
Wir können auf die andern moralisch-christlichen Erklärungen der in Ovids
Metamorphosen besungnen Mhthen nicht eingehn, z. B. ist ein andermal Herkules
Jesus, der Sohn Gottes, und Cacus der Teufel. Fast wörtlich findet sich jedoch
diese christliche Deutung des Märchens von Phrmnus und Thisbe in der jetzt voll
Emile Pieve in dem genannten Zullotin ein LiblioMile veröffentlichten Uoralitü
vouvöllv i'0tu'vÄ.t>jtvö ot> praüt>g,dio anne.ro porsouuÄiAö o'sse 5l savoir: ?7i'g.nuk!,
'IKisbsa, I^o LsrAler, l^g. Ksrgisrs. Am Schluß dieser Moralität erklärt der Schäfer
mit denen des englischen Kardinals Walleys fast identischen Worten das Schicksal
der beiden Liebenden, was ihm das Lob der Schäferin einträgt: Vr^venant, vous
trof-bien sxxosö. Diese Noralito, die Pieve als höchst seltnen Druck in der
Dresdner Bibliothek entdeckt hat, stammt um 1535 aus einer Offizin von Angers;
sie hat aber erstaunliche Ähnlichkeiten rin einer um 1530 in Holland verfaßten
Moralität, in der Matthijs de Castelehu, Priester zu Pameele, gleichfalls Pyramus
und Thisbe auftreten läßt und im christlichen Sinn erklärt. Sicher ist nicht nach¬
zuweisen, ob beide dieselben Quellen benützt haben, oder ob der Holländer den
längere Zeit vor dein Druck niedergeschriebnen Franzosen benützt hat. Diese mora¬
lisch-christlichen Handlungen siud die ältesten bekannten Dramen von den unglück¬
lichen Liebenden Pyrnmus und Thisbe, die uns durch Shakespeare namentlich als
Den Bemerkungen über die Schrift Eugen Petersens, Vom alten
Rom, die wir in Nummer 18 der Grenzboten kurz angezeigt haben, hat die erste
Auflage vom Jahre 1898 zu Grunde gelegen. Sie war eigcntimilicherweise dem
Verfasser der Besprechung von seinem Buchhändler zu einer Zeit geliefert worden,
wo die zweite von 1900 schon längst erschienen war, und ebenso eigentiunlicher-
weise steht die neue Auflage uicht im Hinrichsschen Bücherkatalog. In dieser zweiten
sind uun die auffallenden stilistischen Mängel, die an der ersten Auflage gerügt
werdeu mußten, beseitigt worden, sodaß sich diese ungleich besser liest als die erste,
und dies konstatieren wir hier sehr gern. Sachlich ist natürlich im einzelnen manches
nachgetragen, anch der vorzügliche Bilderschmuck ist um einige Stücke vermehrt,
und die einzelne Abbildung ist überall an die Stelle gerückt worden, wohin sie
dem Texte nach gehört. Hoffentlich geben rasch aufeinander folgende Auflagen dem
verdienten Verfasser Gelegenheit, die sich immer mehr häufenden Entdeckungen auf
diesem unerschöpflichen Boden auch immer wieder möglichst schnell seinen Lesern
Der Name Heinrich Kaufringers, eines bayrischen Dichters aus der Wende des
vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts, wird wohl nur wenig Lesern der Grenzboten
bekannt seil?, denn erst der Verfasser der vorliegenden Studien hat ihn durch
die Herausgabe seiner Gedichte (1888) an das Tageslicht gebracht. Weder die
Litternturgeschichten Wackeruagels, Kobersteins oder Scherers, geschweige denn die
populären Werke Vilmars oder Königs geben über ihn Auskunft. Kanfriuger ist
ein Nachzügler der novellistischen Epik und der Didaktik des dreizehnten und des
Vierzehnten Jahrhunderts, der aber wegen seines ausgeprägt volkstümlichen Cha¬
rakters für die Geschichte des litterarischen Geschmacks sowie für unsre Kenntnis
der bäurischen Kultur und besonders der litterarischen Nahrung der untern Stände
in der Zeit des ausgehenden Mittelalters von Bedeutung ist. In seinen Gedichten
kommt der Haß gegen Pfaffen, Ritter und Herren, wie ihn der gedrückte kleine
Mann hegt, zum Ausdruck. Das Greuzlaud zwischen dem Südosten und dem Süd¬
westen Deutschlands, wo sich ein Jahrhundert später der verhaltne Unmut der
Bauer» in blutiger Empörung Luft machte, ist seine Heimat, und wie sich in seinen
Gedichten die Form Konrads von Würzburg und des Teichners vereinigt findet,
so vermittelt er andrerseits much zwischen der Dichtung und der Kultur dieser beiden
Gebiete. Sehr beachtenswert sind die Ausführungen, mit denen sich der Verfasser
gegen die einseitige Betrachtung wendet, die in dem geistige» Gehalte der Littc-
rnturerzeuguisse dieser Zeit „vorwiegend das Ergebnis eines Zersetzungsprozesses"
sieht und bei der Beurteilung „bewußt oder unbewußt deu Maßstab des dreizehnten
Jahrhunderts oder der Renaissance" anlegt. Vom Standpunkt der Gesamtentwicklnng,
wird mit Recht bemerkt, sei das einzelne Jahrhundert zu beurteile», u»d anstatt
des Abdorrens der ausgelebten alten Triebe müsse man die Keime neuen Lebens
verfolgen. So bezeichnet denn auch der derbe Naturalismus dieser nristvphauischeu
Jnhrhuuderte, in deren litterarischen Erzengnissen der Ursprünglichkeit und Frische
ein durchgängiger Mangel an erfolgreicher Gestaltung entspricht, einen Fortschritt
gegenüber dem Konventionalismus der höfisch-ritterlichen Staudeslitteratur. „Ein
neues Bilduugsidenl wird geahnt, in dem Volkstum und fremde Bildung in höherer
Weise miteinander verschmelzen sollten. Die mit der beginnenden Herausbildung
der Individualität verbundne Verinnerlichung des Beobachters schafft Typen und
Charakteren es sind die Anfänge der modernen deutsche» Kultur." Zur Erkenntnis
dieser Entwicklung 'vollen Euliugs Studie» auch beitrage» und i» die sonst wenig
hervortretende Litteratur des gewöhnlichen Volkes eine» Einblick gewähren. Sein
Hauptziel aber sieht der Verfasser in der Abschtttzuug von Kaufringcrs individuelle«
Leistungen, zu der er durch die Betrachtung der poetischen Technik und die Prüfung
der Quellen gelangt! das interessante Schlnßkapitel (S. 98—120) giebt eine
Charakteristik des Dichters, dessen Technik auch auf Haus Sachsens Kunst nicht
ohne Einfluß gewesen ist.
Das ist ein Mann, der sein Licht nicht unter den Scheffel stellt, dieser
NmIIwicion-Spender, fügte ich mir beim Lesen des beredten Titels. Mrtiwlion ist
an sich gut, aber vielleicht doch für diese Gelegenheit etwas zu gut. Und nach¬
denklich nennt er diese Betrachtungen wohl, weil er besonders hervorheben will,
das; er über sie nachgedacht hat. Thut man denn das nicht in der Regel bei Be¬
trachtungen, die man drucken läßt? Im übrigen alle Achtung vor der Stil¬
gewandtheit des Herausgebers des „Prometheus," der schmackhafte Bissen Wohl
zuzubereiten und in den Schmuckbüchschcn kleiner Aussähe auch angenehm darzu¬
bieten versteht. Viel „drin" ist aber bei genauerer Prüfung nicht. Gerade diese
Sammlung gewandt und mit einem Anschein der Geistreichigkeit geschriebner Auf¬
sähe zeigt, wie wenig tief die naturwissenschaftliche Aufklärung auch in einem tüch¬
tigen Organ, wie dem „Prometheus," geht. Die Bewundrung, wie herrlich weit wirs
gebracht haben, der verächtliche Blick ans die natnrwissenschaftarmen Jahrhunderte,
ein Absprechen über die ohnmächtige Philosophie, das sind die Grundtöne. Wir
begreifen, daß viele Leser damit zufrieden sind, wünschen aber um so dringender
der Philosophie ebenso gewandte Vertreter, die sich freilich die Sache nicht so leicht
machen dürften und konnten. Die Ausstattung ist im Vergleich zum Gebvtncn nar-
thekivnhnft pompös.
us II, 8, 18 f.. 257; K, 23. — I, K, 120. — 4, 71 ff., vgl. ISxp. I, 20, 1 f.; II, 3,
345. — «) I, 4, 74 f. — ""') I, 9, 77 ff. — I, 4, 37 ff. — 1, 4, 133 ff.; 6, 111 ff.; 9, 1 ff.
— «") II, 6, 30 f. 47 ff. — >") I, 4, «6 ff. — I, 1, 9 ff.; 9, 36 ff. 7S s.; II, 6, 23 f. -- -
»») I, 0, 111 f. — I, 1, 9 f. — «') II, 6, 23 f.. Hip. I, 7, 4» ff. — «-) I, 1, 74 f. I I, 2, 62;
4, 15; 6, 64. II, 2, 45; 4, 12. II, 2, 120; 3, 235; 4, 37. II, 2, 21. 74; 4, 28. 30. 58; 8, 27.
I, 5, 72. II, 2, 74; 5, 10. I I, 2, 24. 121; 4, 18, II, 2, 117; 4, 60. ! !, 2, 42. 89. II, 4, 70;
5, 12; 8, 31; 2, 46. 52. 111 f.; 4, 72. Die gewöhnliche AlltngSkost des Svrnz I, 1, 74 f. !I, 6,
64f., des Bauern Ofellus in Venusia II, 2, 112 ff. — "») Vgl. E. Gothein, Äulturcntmickluug
Süditaliens 252. — I, 1,11. — -) 1,1, 45 f.; 49 f. — "») Zi!,>x. I, 7, 76 f. — '") I, 6, 71. —
S. N. Fritsch, Das Horazische Landgut, seine Lage und Beschaffenheit in Fleckeisens Jahr¬
büchern für Philologie Bd. 151, S. 57 ff. 1895 undSellin, DaS sabinische Landgut des Horaz
lin Programm des Gymnasium Fridericianum in Schwerin, 1896. Vgl. Kat.. II, 6. 7, 118.
I^'p. I, 14. — I, 7, 29 ff. Itz.o. I, 16. — ,^>. 7, 75 ff. -2-, -z^ g ff ^
1, 1, 58. 78; II, 2, 16 f.; I, 5, 26. — ") ISpx. I, 14, 29; 16, 2 ff.; 18, 104. L-ü. II, 6, 1 ff.
van... I, 17. 20; 31,15. — II, 3, 11 f.; 6, 60f. - '«) üxp. I, 2, 1; 4, 2 f. - ") V,.,>. II,
7, 11. 45; 15, 1 f., vgl. Oar.n. II, 6, 5 ff. — l, 1, 4 ff. 38 f.; II, 3, 106 f.; I5xp. I, 1, 92 f.,
15, 1 ff. — ! I, 1, 34 ff.; vara. III, 4, 10; 16, 26. — «) 8at. l I, 2; 3, 168 ff. — «) Kot. I,
6,58; 1,58; 5, 77 ff.; 10,30. IZpx. II, 1, 202. og,n.i. III, 30, 11; 4, 9. IV, 14, 25 ff. I^xoä. 3,
15, vgl. Gothein, Kulturentwicklung Süditaliens 42. — «) 1, 5, 54. — >°>) Sehr schön darüber
Golhein n. ». O. 154 ff. Sulmona führt sogar die Anfangsbuchstaben des Ovidischen Verses
Lnlino n.ibi >>atria oft, S. N. I'. ü. i.n Wappen, wie Rom das K. I'. (j. >?,,, und das dortiqe
Gymnasium heisst Liceo Ovidw. S. 159 f. — ") S. Gothein, 277 ff. — ««) Lpx. II, 1, 103 ff.
— »") II, 3, 179 ff. !, 6, 23 ff. 93 ff., vgl. IUpp. I, 6, 49 ff. — I, 1, 23 ff.; II, 3, 82 ff.,
vgl. Npp. I, 1, 54 ff — I«x,>. l, 4, 5. ^- «») z. B. I, 4, 6 ff. 10; II, 1, 30 ff.; Ih>n. II, 1,
34 ff. — "°) (Al-in. 3, 30, vgl. ÜW. I, 2», 20 ff. — »') I, 3, 281 ff. — >, 5, 10»; 9, 69;
4, 143. - I, 9, 29 ff. — I, 8. llpocl. 3, 8; 5, 17. Lat. I, 8; II, 1, 48. Vgl. zu dein
Ganzen Jvo Bruns, Der Liebeszauber bei den Anqnstcischen Dichtern, im Februarheft der
Preußischen Jahrbücher 1901, namentlich S. 213 ff. —' »») I, 6, 114 s. — I, 1, 120; 3, 138 f.
II, 7, 45. I, 3, 33 ff. — 1,1, I ff. 10 ff. 20 ff.; 6, 1 ff. — »«) I, 3, 100 ff.; 3, 96 ff.
119 ff. 11,3, 31 ff. — II, 6, 70ff. — >"") Vgl. A. Zacher, Römische AugenblickSlulder.
Oldenburg und Leipzig, 1901, S. 252. Das Auch ist ein buntes Sammelsurium von Feuilletons
der Frankfurter Zeitung in zweifelhaftem Deutsch, bietet aber manches Interessante.
enden die großem deutschen Staaten, die überhaupt Eisenbahnen
besitzen, zum Stantseisenbahnsystem übergegangen sind, hat sich
das wirre Durcheinander privater und staatlicher Verwaltungen,
das früher der getreue Ausdruck unsrer politischen Zerfahrenheit
war, wesentlich abgeklärt, sodaß heute uur uoch acht größere
oder kleinere selbständige staatliche Verwaltungen, freilich sehr ungleichen Um¬
fangs, nebeneinanderstehn (Preußen, Sachsen, Bayern, Württemberg, Baden,
Elsaß-Lothringen, Oldenburg, Mecklenburg). Um so größer ist freilich auch
der Wert dieses Besitzes für die Staaten geworden, aber um so stärker macht
sich auch das ungeheure Übergewicht der preußischen Staatsbahnen, die ja
auch die angrenzenden oder von preußischem Gebiet umschlossenen Klein¬
staaten beherrschen, mit ihrem Netz von mehr als 31000 Kilometern Länge
fühlbar, wie es Fürst Bismarck 1876 vorausgesagt hat. Denn dn natürlich
jeder Staat in dem selbstverständlichen Staatsegoismus seine Eisenbahn¬
interessen voranstellt, so drückt der stärkste, also Preußen, mit schwerer
Wucht auf seine Nachbarn, und auf keinen mehr als auf Sachsen, das
ans zwei Seiten, im Norden und Westen, von preußischen Linien um¬
klammert wird. Mau klagt deshalb dort oft, daß Preußen den Verkehr auf
seinen eignen Linien, auch wenn diese länger sind, an Sachsen vorüberleite
und so namentlich Leipzig, die größte Handelsstadt Mitteldeutschlands, benach¬
teilige. Aber solche Klagen sind nicht ganz gerecht, und man sollte hier nicht
von „unlnuterm Wettbewerb" oder mangelnder „Bundesfreundlichkeit" reden.
Denn „bundesfrenudlich" war es doch Wohl auch nicht, wenn die Mittel-
stnaten 1875 die von Preußen vorgeschlagne mächtige Reichszentralstelle für
olle deutschen Bahnen und dann 1876 das Reichseisenbahnprojekt doch nicht
um des Reichs willen, sondern im Interesse ihrer Souveränität verwarfen.
Jetzt treten die Folgen eines durch das machtlose Neichseisenbaynamt kaum
gemilderten Nebeneinander^ souveräner, mir das einzelstaatliche Interesse ver-
folgender Staatseisenbahttverlvnltungen handgreiflich und oft sehr empfindlich
hervor. Freilich wäre es sehr ungerecht, dafür nur eben diese Konkurrenz
verantwortlich zu machen. In Sachsen z. B., das freilich in der ungünstigsten
Lage ist, trägt eingestandnermaßen der massenhafte Bau unrentabler und dabei
sehr kostspieliger Gebirgsbahnen, die ja kaum ein Thal des keineswegs reichen
Erzgebirgs noch unberührt lassen und lediglich lokalen Wünschen ihren Ur¬
sprung verdanken, sowie der luxuriöse Umbau der Dresdner Bahnhofsanlagen
unzweifelhaft einen großen Teil der Schuld darau, und hemmend wirken mich
manche Mißgriffe, wie z, B. der eigentlich unglaubliche Mangel an billigen
Saisonfahrkarten nach dem Erzgebirge, der Sächsischen Schweiz und der Ober-
lnusitz; durch ihn wird der sehr beträchtliche Sominerfrischlerverkehr da, wo preu¬
ßische Bahnen, die den Reisenden um ein geringes Geld nach der Seeküste,
nach Thüringen und dein Harze führen, leicht erreichbar sind, geradezu künst¬
lich von den sächsischen Bahnen, ans die preußischen abgelenkt. Durch die zahl¬
reichen kleinen nur den Touristen dienenden Nundreisekarten wird er keineswegs
ausgeglichen. Bei den? Zusammenwirken so verschiedner Umstände ist es dann
freilich kein Wunder, wenn die Überschüsse aus den sächsischen Stnatseisenbahnen
von 189« auf 1899 vou rund 39 Millionen Mark anf rund 32 Millionen,
also um mehr als 17 Prozent gesunken sind, und wenn sich Leipzig uoch immer
mit wahrhaft kläglichen Bahnhöfen behelfen muß, die in keiner deutschen
Stadt von annähernd ähnlicher Bedeutung ihresgleichen finden und wohl erst
in einer Reihe von Jahren, nachdem die schwierigen Verhandlungen zwischen
Sachsen und Preußen über die Errichtung eines Zentralbahnhofs zum guten
Ende gediehen sein werden, bessern und würdigern weichen werden. Noch
schlimmer sind die Aussichten für die Zukunft; der sächsische Landtagsabgeordnete
Goulard in Leipzig hat am 19. Mai in der Generalversammlung des national-
liberalen Landesvereins rundweg erklärt, wenn nicht irgendwelche Mittel ge¬
funden würden, durch zwischenstaatliche Vereinbarungen oder anf reichsgesetz¬
lichem Wege solchen Verlegenheiten abzuhelfen, „so wird über kurz oder lang
das Schicksal der sächsischen Bahnen besiegelt sein. Sie werden sich Preußen
auf Gnade und Ungnade ergeben müssen." Das ist das Ergebnis der mittel¬
staatlichen Eisenbahnpolitik im letzten Vierteljahrhundert speziell für Sachsen.
Indem die Mittelstnaten damals eine reichsmäßige Regulierung des deutscheu
Eisenbahnwirrwars zu Falle brachten, haben sie zwar die Selbständigkeit ihrer
Verwaltungen gerettet, aber damit auch jeden Einfluß auf die preußische Eisen¬
bahnpolitik preisgegeben. Freilich konnte damals, als es sich um Reichseisen¬
bahngesetz und Neichseisenbahnprojekt handelte, schwerlich jemand die gewaltige
Entwicklung des preußischen Staatseisenbahnwesens, die erst 1879 mit dem
Eintritt des Ministers Maybach einsetzte, voraussehen, aber das Ergebnis ist
eben doch da, und Klagen darüber helfen so wenig, wie wenn sich etwa ein
kleiner Kapitalist darüber beschwert fühlen wollte, daß ein Großkapitalist mehr
vermöge als er.
Doch die deutschen Bundesstaaten sind keine Kapitalistengesellschnften und
keine untereinander fremden Staaten, sondern Glieder des Reichs, und es wäre
eine schwere Schädigung des Reichs, ja wie die Deutschen nun einmal sind,
anch des Reichsgedankens, wenn der mehr oder weniger versteckte Kampf
zwischen deu eiilzelstaatlicheii Eiseubahuverwaltililgen einfach als Machtfrage
behandelt, also unes de»i Rechte des Stärkern entschieden würde. Ist es
möglich gewesen, die politischen Ansprüche des Ganzen und der Einzelstaaten
in der Reichsverfassung auszugleichen, so wird sich eine solche Vereinbarung
auf einem Einzelgebiete wie das der Eisenbahnen doch viel leichter finden
lassen. Aber mit entrüsteten oder sentimentalen Klagen wird gewiß auch hierin
nichts erreicht werde», und das ist ganz sicher: der bisherige Zustand ist auf
die Dauer gerade so unhaltbar, wie 1866 der alte Deutsche Bund, Er muß
irgendwelcher engern Gemeinschaft Platz machen; nicht das Ob, sondern nur
noch das Wie und das Wann steht in Frage,
An das Bismcirckische Reichseisenbahnprojekt von 1876 kann dabei freilich
schlechterdings nicht mehr gedacht werden. Nicht die Mittelstaaten wären jetzt seine
schärfsten Gegner, sondern Preußen. Das erklärt ein augeiischeiulich inspirierter
Artikel der Berliner Politischen Nachrichten mit aller Offenheit und Bestimmtheit.
Der Übergang der preußischen Bahnen auf das Reich würde heute, wo sie dem
Staate 186 Millionen Mark Überschüsse zur Bestreitung des allgemeinen Staats¬
aufwands liefern, Preußen ein ungeheures finanzielles Opfer zumuten, oder
dein Reiche eine kolossale Vermehrung seiner Schuldenlast bringen, außerdem
aber von der Krone Preußen, die jetzt ausschließlich das Recht hat, die Tarife
festzustellen, nichts Geringeres verlangen, als den Verzicht auf dieses wuchtige
Recht zu Gunsten des Bundesrath, wo der König von Preußen unmittelbar
nur siebzehn Stimmen voll achtundfunfzig führt. Davon kann offenbar gar
keine Rede sein.
Diese Lage erinnert lebhaft an die, die der Stiftung des deutschen Zoll¬
vereins dnrch Preußen voranging. Da der Deutsche Bund ein deutsches Zoll¬
wesen nicht zu schaffen vermochte, Preußen aber die dringend nötige Regelung
seiner F-mauzen auf Grund des Grenzzollsystems nicht auf deu unabsehbar
fernen Zeitpunkt verschieben konnte, bis die neununddreißig „souveränen"
deutschen Regierungen, Österreich inbegriffen, zur einstimmigen Annahme eines
deutscheu Zollgesetzes gelangen würden, so begann es die in sein Gebiet ein¬
geschlossenen Kleinstaaten, die es bei den zerrissenen Linien der preußischen
Grenzen nicht draußen lasse» konnte, durch langwierige, geduldige Verhand¬
lungen an sein Zollgebiet anzuschließen und gewann 1828 den ersten deutschen
Mittelstaat, das Großherzogtum Hessen. Es gewahrte dabei die Bewachung
der gemeinsamen Grenze durch Laudesbeamte, die gegenseitige Kontrolle der
gemeinsamen Zollverwaltung und die Verteilung der gemeinsamen Einnahmen
nach bestimmten vereinbarten Grundsätzen. Genau denselben Weg hat Preußen
jetzt wieder — und zwar mit vollem Bewußtsein über das letzte Ziel — ein¬
geschlagen, als es am 23. Juni 1896 mit demselben Hessen den unkündbaren
Vertrag über die preußisch-hessische Eisenbahngemeinschaft abschloß. Die Eisen-
bahnen beider Staaten bilden danach eine Betriebsgemeinschaft, alle Ausgaben
und Einnahmen sind gemeinsam, die Überschüsse werden nach einem bestimmten
Verhältnis verteilt, die hessischen Bahnen stehn teils unter der preußischen
Eisenbahndirektion Frankfurt, teils unter der gemeinsamen Direktion Mainz,
die beide wieder unter einen gemeinsamen Bezirkseisenbahnrat gestellt sind, und
Hessen ist sowohl im preußischen Ministerium für öffentliche Arbeiten wie im
preußischen Eisenbahnrat vertreten. Wie der preußisch-hessische Zollvertrag
vom 14. Februar 1828 den Grundstein für den deutschen Zollverein ge¬
bildet hat, so dürfte dieser Eisenbahnvertrag die Grundlage für die deutsche
Eisenbahngemeinschaft werden. Vorläufig freilich scheinen die Aussichten dafür
noch herzlich gering zu sein, gerade wie beim Zollverein. Denn Preußen
hat nicht den geringsten Grund, die Sache in seinem Interesse zu beschleu¬
nigen, und in den Mittelstaaten verhält sich vorläufig die Stimmung ebenso
ablehnend, wie früher die Landtage gegen den Zollverein, denn der deutsche
Partikularismus sitzt viel weniger in den Fürsten, die das große Ganze
zu übersehen vermögen, als im Volke, in den Liberalen wie in den Konserva¬
tiven, das wie immer von Stimmungen und Gewohnheiten weit mehr abhängt
als von ruhigen, sachlichen Erwägungen. So hat der württembergische Landtag
soeben den Antrag der deutschen Partei ans Eintritt in die preußisch-hessische
Eisenbahugememschaft abgelehnt, und in Baden ist die Stimmung offenbar
nicht anders. Aber die Verhältnisse werden bald stärker sein als Vorurteile
lind Abneigungen. Schon hat derselbe württembergische Landtag eine Reso¬
lution für eine eingreifende reichsgesetzliche Regelung des Eisenbahnwesens an¬
genommen, die 1875 am Widersprüche der Mittelstaaten scheiterte, und in
Bayern beginnt man sich zu fragen, ob die pfälzischen Bahnen, eingeklemmt
zwischen den preußisch-hessischen Eisenbahnverein und die elsässisch-lothringischen
Eisenbahnen unter der Reichsverwaltung, die doch schließlich von Preußen be¬
herrscht wird, ihre Selbständigkeit werden behaupten können. Von der besonders
ungünstigen Lage Sachsens ist schon die Rede gewesen. Über kurz oder lang
werden also die Mittelstaatcn, wahrscheinlich einer nach dem andern wie bei
den Zollvereinsverhandlnngen, mit Preußen anknüpfen müssen, und es ist nnr
zu wünschen, daß sich der Anschluß nicht zu spät und in möglichst schonenden
Formen, mit Währung der einzelstaatlichen Eisenbahnhoheit, vollzieht. Das
wird aber nur dann der Fall sein, wenn die Mittelstaaten, Regierungen wie
Landtage, sich klar machen, daß wohl die Staatseisenbahnen Preußens stark
genng sind, auf die Dauer ein selbständiges Ganze zu bilden, nicht aber
die der Mittelstaaten, daß Preußen für Deutschland thatsächlich viel mehr be¬
deutet, als seine siebzehn Stimmen im Bnndesrate, und daß es für die Mittel¬
ständen nur ein Mittel giebt, sein natürliches Übergewicht zu mildern, nämlich
das, Vertrags- oder verfassnngsmüßig Einfluß auf seine Politik zu gewinnen,
und wenn Preußen auch hier die Verbindung von Stärke, geduldiger Klugheit
und Hochherzigkeit entfaltet, die den Zollverein und die deutsche Reichsver-
fassung begründet haben, also des alten Satzes eingedenk ist: in n0<z<Z88ti.ruf
nmlÄS, in clnbiis 1ibört^8, in various Viirit!l8. Es liegt null einmal im
Charakter und in der darin wurzelnden geringen politischen Begabung unsers
Volks, daß jeder große natioimle Fortschritt nur unter schweren Kämpfen und
uuter lauten Weherufeu errungen wird, weil der Deutsche an den Teil immer
eher denkt als an das Ganze — Beispiel die im Grunde lächerliche „Frage"
gemeindeutscher Postwertzeichen - ^, deshalb fortwährend die ängstlichste Schonung
seiner „partikularistischen Empfindlichkeiten" verlangt und jede Stärkung des
Ganzen als ein „Opfer" ansieht, das die Teile bringen müssen, die doch ohne
!M 19. und 21, Heft des Jahrgangs 1895 der Grenzboten habe
ich die Lehren Lifts und Careys kurz dargestellt und miteinander
vergliche». Damals kannte ich von List nur das „Nationale
System." Von der Verlagsbuchhandlung ErnstHofmaun n. Comp.
'in Berlin aufgefordert, für ihre Sammlung „Geisteshelden" den
List zu bearbeiten (er ist soeben als 41. Band der Sammlung erschienen), habe
ich mich auch mit seinen zerstreuten kleinern Schriften (die der zweite Band
des Werkes von Hauffer bei weitem nicht vollständig enthält) und mit seinem
Leben bekannt gemacht und daraus ersehen, daß mau ihn aus dem „System"
allein weder vollständig verstehn noch würdigen kann. Deshalb glaube ich
den Lesern eine Ergänzung des ältern Aufsatzes schuldig zu sein, und es drängt
mich um so mehr dazu, als das Bändchen der Hofmannschen Sammlung für
kritische Erörterungen des darin mitgeteilten Thatsächlichen keinen Raum
übrig ließ.
Aus der Thätigkeit Lifts für den Bau von Eisenbahnen und aus seinen
Eisenbahnschriften wird ein Widerspruch erklärlich, den ihm die ersten Kritiker
seines Systems vorgeworfen haben. Die beiden Grundgedanken, von denen
nus List zur Forderung und Verteidigung der Schutzzölle gelangte, waren,
daß Produktionskräfte mehr wert seien als Waren und Geld, lind daß der
Nahverkehr wichtiger sei als der Fernverkehr. Seien nur die Produktions-
kräfte vorhanden und durch nichts an ihrer Entfaltung und Anwendung ge¬
hindert, so könne man jederzeit so viel Waren und Geld haben, als man wolle
und brauche. Beziehe man dagegen, um billige Waren zu haben und Geld
zu sparen, die Gewerbeerzeugnisse aus der Ferne und lasse dadurch die
heimischen Produktionskräfte verkümmern, so müsse das Land verarmen, lind
es sei ein Zustand anzustreben, wo Landwirtschaft und Gewerbe ihre Erzeug¬
nisse unmittelbar austauschten, der Schmied neben dem Bauern wohne, dem er
die Pflüge aufertige, und von dem er das Brotkorn beziehe, weil sich bei weiter
Entfernung zwischen Produzenten und Konsumenten, oder vielmehr zwischen
den auf Austausch ihrer Produkte angewiesenen Produzenten der verschiednen
Güterarten, eine Menge schmarotzende Zwischenglieder einschoben, die den Pro¬
duzenten einen Teil ihres Arbeitlohns raubten, der ihnen bei unmittelbaren
Austausch voll verbleibe. Den zweiten Gedanken hat Careh zu einem voll¬
ständigen System ausgesponnen, wobei er zu einem bedingungslosen Verdam-
mungsurteil über allen Fernhandel gelangt und besonders über dessen Haupt¬
vertreter, die Engländer, die er als eine die ganze Welt verwüstende und die
ganze Menschheit ausplündernde Räuberbande schildert. Nebenbei bemerkt,
stecken in dem zweiten Gedanken auch der Proudhouismns, die moderne
Konsumvereinsbewegung und die Börsenfeindschaft. Nun finden sich aber in
Lifts System Äußerungen, die auf eine ganz entgegengesetzte Anschauung hin¬
deuten. List bekennt im System, und anderwärts noch lebhafter, daß er ein
feuriger Freund und Bewundrer Englands sei, und daß er die Entwicklung
Englands für gesund, ja für ideal halte. Er arbeitet unablässig daran, Deutsch-
land in dieselbe Entwicklung hineinzudrängen, und bekämpft die Engländer nur
darum, weil sie den Welthandel und die Industrie monopolisieren und den
Deutschen nichts davon übrig lassen wollten. Er sieht in den Kvrnzöllen die
Wirkung einer höchst verderblichen Verblendung, die, zum Glück für die andern
Staaten, England an der Erreichung seines Zieles, vorksbop ok tuo vorlel
zu werden, hindre, und billigt also dieses Ziel, wofern sich nur die Engländer
herbeiließen, das Glück seiner Erreichung mit den andern Nationen, zunächst
mit der deutscheu, zu teilen.
Der Widerspruch ist ohne Zweifel daraus entsprungen, daß List erst,
nachdem er diese Grundgedanken schon niedergeschrieben hatte, beim Ban seiner
amerikanischen Bahn die Bedeutung des Transportwesens für die Volkswirt¬
schaft würdigen lernte. Durch die Verbilliguug des Transports werden die
Nachteile des Fernverkehrs in dem Grade vermindert, daß die Vorteile dieses
Verkehrs: Austausch der Erzeugnisse verschiedner Zonen, Bodenarten und
Terrainformen, Aufrüttelung der bei der Beschränkung auf Nahverkehr in
trägen Schlendrian versinkendem Geister, aus beidem hervorgehende Vermehrung
des Reichtums und Steigerung der Kraft — bei weitem überwiegen. Man
begreift nun auch, daß er, der enthusiastische Schutzzöllner, die Agrarzölle so
unbedingt verwirft. Die Gründe, die er gegen diese anführt, überzeugen nicht
völlig. Der durchschlagende Grund, der, ihm selbst uicht klar bewußt, im
Hintergrunde wirkte, war der, daß man in einem Lande mit überwiegender
Industrie den Getreidebau auf die Dauer nicht halten kann. Die dichtgedrängte
städtische und industrielle Bevölkerung erhöht den Bodenpreis in dem Grade,
daß der Landwirt, um die Zinsen seines Anlagekapitals und darüber hinaus
noch eine Rente zu erzielen, für sein Brotkorn Preise erhalten müßte, die die
Industriearbeiter zum Hungertode verurteilen würden. Jeder Versuch, solche
Preise durch Schutzzölle zu erzwingen, muß natürlich scheitern, und es erscheint
deshalb nicht klug von der Negierung eines Industriestaats, wenn sie sich auf
solche Versuche einläßt.
Übrigens ist aber List seinem ursprünglichen Grundgedanken niemals ganz
untreu geworden, sondern er hat ihn nnr modifiziert. An die Stelle des un¬
mittelbare!? lokalen Nahverkehrs, den der alles umwälzenden Dampfkraft gegen¬
über aufrecht zu erhalten unmöglich schien, ist ihm der Inlandverkehr getreten:
der Ausgleich der Ungleichheiten und der Umtausch der Erzeugnisse der Pro¬
vinzen sowie der Industrie und der Landwirtschaft desselben Landes. Diesen
Inlandverkehr hat er, wie schon Adam Smith, bis zuletzt für weit fruchtreicher
erklärt als den Auslandhandel, und als Ideal stellt er nicht den reinen In-
dustriestaat oder Jndlistriehandelsstaat anf, sondern, bei seiner Terminologie zu
bleiben, den Agrikultur-Mannfaktnrhandelsstaat. Daß er England für einen
solchen ansieht, nud wie er sich die von ihm oft gepriesene Harmonie zwischen
Landwirtschaft und Gewerbe denkt, davon später. Aus seinem Verhältnis zu
England, das er als Ideal liebte nud als übermächtigen Konkurrenten Deutsch¬
lands haßte, erklären sich auch seine ungerechten und zum Teil irrtümlichen
Urteile über Adam Smith, Er bildete sich ein, der grundehrliche Smith habe
seine Freihandelstheorie nnr zu dem Zweck erfunden, zu dem sie allerdings
später von seinen Landsleuten gemißbraucht worden ist, nämlich die Festland¬
staaten von der Nachahmung der Schutzzollpolitik, womit England seinen
Handel übermächtig gemacht hat, abzuhalten; und da sich die Deutsche» that¬
sächlich durch die heuchlerische Freiheitspredigt der Engländer zu einer falsche«
Handelspolitik verführen ließen, so hielt sich List für verpflichtet, das Ansehen
des vermeintlichen Urhebers alles Unheils zu untergraben, und las und inter¬
pretierte ihn, das Gute und mit Lifts eignen Ansichten Übereinstimmende
übersehend, gerade so einseitig und vorurteilsvoll, wie die Smithianer zu thun
Pflegten,
Eugen Dühring rühmt sich, in den sechziger Jahren das Andenken des
schon ganz vergessenen Lifts wieder erweckt zu haben. Dieses Verdienst soll
ihm nicht bestritten werden; aber er hat es beinahe zu nichte gemacht durch
die Maßlosigkeit, mit der er List als den größten, ja als den einzigen deutschen
Nationalökonomien feiert (er läßt ttberhanpt in der ganzen Welt, außer sich
selbst, nur drei gelten: Adam Smith, List und Cnrey), alle andern deutschen
Nationnlökonomen aber, namentlich Röscher, als anmaßende Charlatane, hohl-
töpfige Zunftperücken lind wichtig thuende Notizenkrämer lächerlich macht.
Damit konnte er gegen List nur ungünstige Vorurteile erwecken und seine
Würdigung hindern oder wenigstens verzögern. Es ist wahr, List hat wich¬
tige uationalökononnsche Wahrheiten aufgedeckt und klar gemacht. Besonders
zwei. Einmal das Wesen und die Entstehungsweise des Kapitals; freilich
leider nur nebenbei in hente ganz unbekannten und beinahe unzugänglichen
Schriften, sodaß diese seiue Leistung theoretisch gar nicht gewirkt hat, wenn
sich auch die fragliche Wahrheit, durch Lifts Verdienst, praktisch fühlbar genug
machte. Er kommt einigemal darauf zu sprechen, daß man sich vor Eisenbahn¬
bauten schon ans dem Grunde fürchtete, weil man nicht wußte, woher man
die großen Geldsummen nehmen solle, die der Bau kosten würde, und erwidert
den Ängstlicher, er habe noch niemals an einer Eisenbahn Gold oder Silber
gesehen, sondern immer nur Holz und Eisen. Wo man Holz, Eisen, Arbeiter
und Lebensmittel für diese Arbeiter habe — und das alles sei in Deutschland
reichlich vorhanden —, dn könne man auch Eisenbahnen bauen. Das Geld
werde nur dazu gebraucht, Holz, Eisen, Arbeiter und Lebensmittel für den
Bau zusammenzubringen. Es brauche auch gar nicht i» der Form von ge¬
prägten Metallstückeu vorhanden zu sein, Papier genüge. Und es handle sich
nicht um übergroße Summen; denn nur zum Anfang werde einiges Geld er¬
fordert, zum Bau der ersten Strecke; sei diese fertig, so liefere sie Geld für
die nächste Strecke und so fort. Wolle mau aber gleich ins Große gehn, so
dürfe man unbedenklich Darlehen aufnehmen — in Form eines Aktienkapitals,
zu dem Bauern und Arbeiter, das ganze Volk, beisteuern könnten —, denn
es sei nicht mehr als billig, daß die zukünftigen Geschlechter, die den Haupt-
Vorteil des Unternehmens genössen, mich einen Teil der Kosten trügen. Er
macht bei dieser Gelegenheit den Unterschied zwischen Kriegsschulden und pro¬
duktiven Schulden klar, von dem die damaligen Staatsmänner noch keinen
Begriff hatten, weil es großartige öffentliche Unternehmungen, die nur mit
Hilfe des Kredits hätten durchgeführt werdeu können, damals noch nicht gab,
und sagt voraus, daß die Überziehung Deutschlands mit einem Eisenbahnnetz
zur Gründung einer Reichsbank führen werde, die als das Herz des Güter¬
umlaufs sowohl Regelmäßigkeit als Schwung hineinbringen werde. Er be¬
zeichnet die Jahrcsernten als das Gut, womit der Bahubau bezahlt werde,
indem alljährlich ein Teil der geernteten Früchte in menschliche und tierische
Arbeitskraft, diese aber in die große, Güter herbeischaffende und verbilligende
Transportmaschine verwandelt werde. Bekanntlich ist es Rodbertus gewesen,
der diesen Gedankenkreis vollständig ausgebaut hat. Daß Rodbertus aus List
geschöpft habe, davon findet sich in jenes Schriften keine Spur. Jedenfalls
aber ist List der erste gewesen, der diesen Grundbegriff der Volkswirtschaft klar
gemacht hat, und wenn diese seine Lehre unbeachtet geblieben ist, so beweist
das, wie langsam sich selbst in unsrer rasch lebenden Zeit wichtige Wahrheiten
Bahn brechen.
Weit ausführlicher und öfter, an vielen Stellen seiner kleinern Schriften,
namentlich in denen über Eisenbahnen, hat List die Wirkungen der Transport¬
mittel erklärt. Was das heißt, einen Ort, eine Gegend, ein Land durch den
Ban voir Bahnen oder Kanälen erschließen, weiß heute jedermann. Damals
wußte es niemand. In einer Zeit, wo sich die Leute noch fürchteten, einen
Eisenbahnwagen zu besteigen, weil die schnelle Bewegung einen tödlichen
Schwindel erzeugen müsse, und wo die gewiegtesten Geschäftsleute das ganze
Eisenbahnwesen für einen gefährlichen und verderblichen Humbug erklärten,
damals hat List die ganze Entwicklung der Volkswirtschaft und des Verkehrs,
wie sie durch die Eisenbahn gestaltet worden ist, und wie sie heilte jedes Kind
kennt, auf das genauste vorausgesagt: daß Gebirge und Flachland ihre Er¬
zeugnisse austauschen, daß jetzt erst Landwirtschaft, Garten- und Weinbau
rentabel werden würden durch die Möglichkeit der Verwertung ihrer Erzeug¬
nisse; daß ein rationeller Betrieb der Landwirtschaft allgemein werden werde
durch den Bezug mineralischer Dnngmittel ans der Ferne, daß es keine Hungers¬
nöte mehr geben werde, daß das erleichterte Reisen ans dem Arbeitsmarkt
Angebot und Nachfrage ausgleichen werde und arme Landbevölkerungen den
Winter nicht mehr müßig durchzuhungern brnnchen würden, weil ihnen die
Industrie Beschäftigung darbieten werde; daß der Reiseverkehr unendlich steigen,
die Städte vergrößern und bereichern, die städtische Grundrente erhöhen werde,
und daß alle diese Vorteile keinem Lande in größerm Maße zu gute kommen
würden als Deutschland, einmal weil es ärmer an Wasserverbindungen sei als
seine westlichem nördlichen und südlichen Nachbarn, dann wegen seiner zentralen
Lage, die seinen Bädern, Residenzen, Kunststätten, Lehranstalten einen ge¬
waltigen Fremdenverkehr zuführen werde. Eben diese zentrale Lage werde in
Verbindung mit der hohen Bildung, geistigen Regsamkeit und Tüchtigkeit seines
Volks Deutschland zum Zentrum des geistigen Lebens von Europa machen,
und das werde sich unter anderm bei dem Besuche der Industrie- und Kunst-
auSstelluugeu, der Gelehrten- und Fachkongresse zeigen, die ohne Zweifel ver¬
anstaltet werden würden, (Als das List schrieb — er nennt alle die Jahres¬
versammlungen, die wir jetzt wirtlich haben —, gab es in Deutschland erst
einen Fachkongreß, den der Land- und Forstwirte, und noch gar leine Aus¬
stellungen,) lind er entwickelt die Bedeutung der Eisenbahnen für die
Landesverteidigung, für den Krieg, genan so, wie wir sie 1866 und 1870 sich
haben entfalten sehen. Auch in dieser Beziehung fand er nur bei wenigen
hohen Militärs in Berlin einiges Verständnis.
Also List hat in der That nicht bloß durch seiue Schlltzzolltheorie die
Nationalökonomik bereichert und vertieft; trotzdem thut man ihm geradezu un-
recht, wenn man ihn unter die gelehrten Nationalökonomen einreiht und seine
Größe und Bedeutung an denen mißt. Er war ein durchaus praktischer Mann,
ist niemals Theoretiker gewesen, hat es niemals sein wollen, und hat die
Theorie nnr gepflegt, so weit es seine praktischen Bestrebungen forderten.
Sogar sein „Nationales Shstem" ist im Grnnde genommen »ur eine Agitations¬
schrift zu dem Zwecke, den Zollverein zu Zollerhöhuugeu zu treiben. Er hatte
den unfehlbaren Blick des genialen Praktikers für das im Augenblick not¬
wendige und den ungestümen, »»bändigen Willen, das als notwendig erkannte
durchzusetzen. Dadurch ist er der volkswirtschaftliche Bismarck Deutschlands
geworden, ohne den der politische Bismarck kaum möglich gewesen wäre. Hätte
er nicht dnrch eine Agitation, die den Regierungen ein Greuel war und den
Besonnenen alles Maß zu übersteigen schien, die Deutschen aufgerüttelt, ihre
Blicke von der Litteratur, Philosophie und Religion ans das wirtschaftliche
Gebiet gelenkt und zur Stiftung des Zollvereins getrieben, so hätte England
noch ein paar Jahrzehnte hindurch den Deutschen ihr Garn gesponnen, ihre
Hemden- und Kleiderstoffe gewebt und ihre Maschinen — so weit sie solche
gebraucht hätten — gebant, und Deutschland wäre in Arumt verkümmert.
Und hätte er nicht zum Bahnbau getrieben, so hätte das hauptsächlichste Werk¬
zeug zur Schaffung der deutschen Einheit gefehlt. Diese ist nicht etwa eine
zufällige Nebenwirkung seiner Bestrebungen: mit klarem Bewußtsein hat er sie
sich zum Ziele gesetzt. Vom ersten Augenblick seiner öffentlichen Thätigkeit
an hat er in vertrauten Mitteilungen geäußert, daß er Deutschland durch seiue
wirtschaftlichen Reformen politisch einigen wolle, und zwar mit Berlin als
Reichshanptstndt. Die Eisenbahnen sollten alle Teile Deutschlands mitein¬
ander in innige und bestündige Berührung bringen und die Kleinstaaterei über¬
winden, indem sie den Kleinstaat- und Kleinstädtersinu zur Großstaatgesinnung
erweiterten und die .Kleinstaatgrenzen zu einem lächerlichen Anachronismus
machten, und die wirtschaftliche Einigung im Zollverein sollte zusammen mit
den Reichseisenbahnen Münz-, Maß- und Gewichtseinheit und gemeinsame
Institutionen wie ein Neichshandelsamt, ein Neichspatentamt, ein Neichseisen-
bahnamt, ein Neichsmarineamt erzwingen, aus denen sich dann die politische
Einigung ganz von selbst ergeben würde. Über das zollpolitische Ideal werden
die Theoretiker wahrscheinlich streiten, so lange es Staaten geben wird, daß
aber in der Zeit von 1819 bis 1846 Deutschland Schutzzölle brauchte, und
zwar gerade die, die List forderte, das dürfte heute von keinem Sachkenner
mehr bestritten werden.
List war also mehr Politiker als Nationalökonom, dieses nur so weit,
als der Umstand, daß der Staat ebeu auf dem Wirtschaftsleben beruht, dazu
zwingt. Und er war nicht ein Politiker gewöhnlichen Schlags, sondern ein
staatsmännisches Genie, das das Ganze der Weltverhältnisse übersah und
durchschaute. Zum. Beweise dafür will ich aus einer seiner letzten Schriften:
„Die politisch-ökonomische Nationaleinheit der Deutschen," eine längere Stelle
abschreiben, vou der in der Monographie nur ein paar Sätze Platz hatten.
Während andre große Völker den Wert der Nationaleinheit nach den Reichtümern ab¬
schätzen können, die sie ihnen gebracht, müssen mir Deutschen ihn nach den Verlusten bemessen,
die uns durch die Nntionalzersplitterung verursacht morden sind. Welches andre europäische
Reich dürfte sich in der ersten Hülste unsers Jahrtausends mit Deutschland an Macht und
Reichtum vergleichen? Was war England, was war Frankreich damals Deutschland gegenüber?
Was aber haben die aus sich gemacht, und was ist aus uns geworden? Von Geschlecht zu
Geschlecht, von Jahrhundert zu Jahrhundert haben sie nach dein Einen gestrebt, was einer
großen Nation vor allen? not thut, nach Einheit. Ihr vordanken sie die Arrondierung ihrer
großen Nationnlgebiete, die reichen Kolonien, die sie in allen Weltgegenden erworben, ihre
Macht zur See, ihre reichen Gewerbe und ihren großen Handel. Wir dagegen sind von Jahr -
hundert zu Jahrhundert in immer größere Zersplitterung verfallen; unsre Städte kannten jahr¬
hundertelang kein höheres Interesse als die Behauptung ihrer Privilegien, unsre Länder keine
höhere Politik als Befreiung von der kaiserlichen Gewalt, der Vertreterin der deutschen Natio¬
nalität. Und als die einzelnen Provinzen so selbständig geworden waren, daß das Deutsche
Reich nur noch dem Namen nach bestand, trennte sich auch das Seegebiet vom Binnenlande.
Eine deutsche Seeprovinz stiftete ein unabhängiges Handelsreich mit eigner Seemacht, monopo-
lisierte den größten Teil unsers nnswkrtigen Handels, gründete für sich allein reiche überseeische
Kolonien und gebot fast nach Willkür über unsern besten deutschen Strom, Wahrend so um
unserm westlichen Seegeviet ein eignes Handelsreich erstand, das die größere Hälfte des deutschen
Nntionalkörpers seinen besondern Interessen dienstbar machte, blieben unsre östlichen Seestädte
jahrhundertelang ihrem Schicksal überlassen und sogar den nordafrikanischen Seeräubern preis¬
gegeben; und als ob daS nicht zugereicht hätte, Handel und Gewerbe Deutschlands zu Grunde
zu richten und alles Nationalgefühl zu töten, errichtete auch noch jeder deutsche Binnenstnat
Zvlllinien gegen seine Bruderstaaten, Mit einem Wort, Deutschland arbeitete von Geschlecht zu
Geschlecht so eifrig und unablässig an seinem Untergang, wie die andern Reiche um ihrer Größe,
bis es endlich sein Ziel erreichte: die Auflösung seines Nationalkörpers, Die Zeit dieser Auf¬
lösung, da deutsche Festungskommandantcn den herannahenden Generalen der großen Nation
die Schlüssel ihrer festen Plätze meilenweit entgegentrugen, da die Fürsten Deutschlands bei
dem mächtigen Imperator antichambrierten, diese traurige Zeit hat man nachher die Zeit der
Schmach und der tiefsten Erniedrigung Deutschlands genannt, Hütte man damals, als den
Hansestädten die Ehre zu teil ward, in französische Präfektensitze verwandelt zu werden, den
Weisheiten von Hamburg und Bremen, von Hannover und Mecklenburg das Wiederersteht! der
deutschen Nationalität und die Gründung eines deutschen Zoll- und Handelsvcreins geweissagt,
und ihnen ihre Befreiung verheißen unter der Bedingung, daß sie sich den Forderungen einer
nationalen Handelspolitik zu unterwerfen hätten, würden sie wohl diese Forderung natürlich,
billig und zweckmäßig gefunden, würden sie das Dargebotne dankbar und freudig angenommen
haben?
Dank Rostopschin und den: kalten Winter von 181Z kam diesmal die deutsche Nationalität
mit der Todesfurcht davon. Aber hat sie sich die Todesgefahr auch zur Warnung dienen lassen?
Sind auf dem Wiener Kongreß die Ursachen jener Nationalschmäche entfernt worden, durch die
Deutschland kurz vorher an den Rand des Verderbens gebracht worden war? Hat man dort
berücksichtigt, daß Mächte, die damals unsre Alliierten waren, im Laufe der Zeit unsre bittersten
Feinde werden, und daß die Gedemütigtcn und Geschwächten dermaleinst wieder zu Kräften
kommen und übermütig werden können ? Ohne die ganze Bundesakte einer Kritik zu unterziehn,
müssen wir uns doch die Bemerkung erlauben, daß bei dieser Wiedergeburt Deutschlands für
die materiellen Interessen nicht die nötige Vorsorge getroffen worden ist. Wie verschieden man
über die Organisation des Bundes denken mag, darin werden alle denkenden Männer aller
Parteien und Stellungen übereinstimmen, daß die künftige Sicherheit und Macht Deutschlands
hauptsächlich auf den materiellen Kräften und der Stärke des Nationalgefühls seiner Völker
beruhen, und daß beide großenteils abhängig seien von der nationalen Handelseinheit und einer
kräftigen nationalen Handelspolitik; denn es ist eitel Thorheit, von einem Volk, das nicht einmal
der materiellen Wohlthaten einer großen Nationalität teilhaftig ist, Aufopferung und Begeisterung
für die Verteidigung seiner Nationalität zu erwarten. Auch war es hauptsächlich daS instinkt¬
artige Gefühl, daß einer Nation eine gemeinsame Handelspolitik so notwendig sei wie das liebe
Brot, was der Idee des Zollvereins so begeisterte Ausnahme bei dein großen deutschen Publikum
verschaffte. Der Zollverein soll die Deutschen ökonomisch und materiell zu einer Nation ver¬
binden; er soll in dieser Beziehung nach außen die Nation als ein Ganzes kräftig vertreten
und durch die Wahrung seiner auswärtigen Gesamtinteressen wie durch Bcschlltzung seiner innern
Gesamtproduktionskräfte die materielle Kraft der Ration stärken; er soll durch Verschmelzung
der Provinzialinteressen zu einem Nationalinteresse daS Nationnlgeftthl wecken und heben; er
soll nicht bloß die Gegenwart, sondern auch die Zukunft der Nation in: Auge haben; die
einzelnen deutschen Provinzen sollen stets des Spruchs eingedenk sein: Was hülfe es dir, fo du
die ganze Welt gewönnest und nahmest Schaden an deiner Nationalität,
Wie thöricht alle Einwendungen sind, die man gegen diese Ansichten aus den deutschen
Agrikulturintcressen schöpft fdie ostelbischen Landwirte waren bekanntlich wegen der Getreide¬
ausfuhr nach England von 1815 bis in die Mitte der siebziger Jahre enragierte Freihändlers
erhellt aus dem Bestreben der Engländer, ihren Getreidebedarf vor der Hand aus Nordamerika
zu ziehn, und späterhin ihre Kolonien zu ihren Kornkammern zu machen. Wir haben schon
früher auf diesen Umstand hingewiesen, pommersche Blätter haben aber behauptet, eS sei dies
nichts als eins unsrer Manöver zu Gunsten der deutschen Fabrikanten, Man lese nur die
Vino« vom 13. November se84SZ, und man wird sich überzeugen, wie gegründet unsre da¬
malige Ansicht war, Nicht nur stellt sie dort die Einfuhr von Millionen Qunrtcr Mais aus
Nordamerika in Aussicht, sie weist auch in einem drei Spalten langen Artikel auf Neuseeland
und Neuholland hin, als auf Kolonien, die natürliche Hilfsquellen genug besäßen, um England
mit jeder Quantität Getreide, Hans, Flachs, Ölkörner usw. zu versehen, die es bedürfe, und
damit alle Zufuhr ans den baltischen Häfen überflüssig zu machen, wofern nur diese Kolonien
in Ansehung des GctreideeinfuhrzollS mit Kanada auf gleichen Fuß gestellt würden, was doch
ganz dem von Sir Robert Peel ausgesprochnen Grundsatz gemäß seu man müsse die Kolonien
zu englischen Grafschaften machen. Daß dieses bei Gelegenheit der Reform der englischen
.Kornbill oder vielleicht noch früher geschehn wird, ist keinem Zweifel unterworfen. sDaS hat
sich List freilich zu leicht vorgestellt; bekanntlich sind die Engländer damit heute noch nicht zu¬
stande gekommen.s Und wenn es auch noch eine Reihe von Jahren anstehn dürfte, bis diese
Kolonien große Quantitäten von Produkten werden nach England schicken können, so ist doch
zu erwarten, daß diese Hoffnungen früher oder später in Erfüllung gehn. Man sieht also,
welche Zukunft der Absatz des deutschen Getreides nach England hat.
Es charakterisiert den großen Staatsmann, daß er gleich richtig und
scharf das Bedürfnis des Augenblicks erkennt und die Zukunft von»ssiel>t.
List hatte den prophetischen Blick in beispiellos hohem Grade, und er hat sich
zwar im einzelnen vielfach geirrt, was selbstverständlich ist, aber die Tendenzen,
die den Gang der Dinge in den nächsten hundert Jahren bestimmen würden,
mit bewnndrnngswiirdiger Genauigkeit erkannt. VorzmM'else sind es die
geographischen Artikel des Staatslexikons (er ist der Gründer des Werks, das
von Rotteck und Welcker den Namen trägt), seine Denkschriften über die wirt¬
schaftliche Entwicklung Ungarns und seine an die englische und die preußische
Regierung gerichtete Denkschrift über den Wert und die Bedingungen eines
Bündnisses zwischen Dentschland und England, worin er seine Voraussagungen
niedergelegt hat. Ant Gelingen des Strebens Englands nach der Weltherr¬
schaft sei nicht zu zweifeln, euer» ihm auch in den Vereinigten Staaten Nord¬
amerikas ein gefährlicher Konkurrent, zunächst in Industrie nud Handel, er¬
wachsen werde. Deren Freundschaft müsse Frankreich suchen, das nach dein
Naturell seiner Bevölkerung zur Seeherrschaft nicht geschaffen, sich den Luxus
einer großen Kriegsflotte ersparen könne, wenn es die Vereinigten Staaten zu
Bundesgenossen habe, die ohne Zweifel eilte Seemacht werden würden. In
Westafrika Kolonisierens z» spielen, könnten die Engländer ohne Gefahr für
ihr eignes Kolonialreich den Franzosen erlauben, weil dabei nichts heraus-
komme als Befriedigung der Eitelkeit und eine für die Nachbarn unschädliche
Entladung der Unruhe des gallischen Temperaments. Gefährlicher sei das
Verlangen der Franzosen nicht allein nach der Rheingrenze, sondern nach dein
ganzen nordwestlichen Deutschland. Dieses Verlangen entspringe einem ganz
richtigen Instinkt. Was die Franzosen an wirtschaftlichen und überhaupt
positiv schaffenden Kräften hätten, das verdankten sie dem germanischen Element.
(Man sieht, List ist, ohne jemals Ethnologie zu seinein besondern Studium
gemacht zu haben, der Vorgänger Gobineans und überhaupt der modernen
Nassentheoretiker.) Dieses Element sei aber immer schwächer geworden und
jetzt ans einige kleine Provinzen des Nordostens beschränkt, sie brauchten des¬
halb, um zu der ihrer Ruhmsucht entsprechenden nationalen Größe zu gelangen,
eine starke Zufuhr von Gerinanenblnt und Germanenkrnft. Diesem Gelüst
nuisse selbstverständlich jede Möglichkeit der Befriedigung abgeschnitten werden
dnrch die Einigung und Kräftigung Dentschlands, das an England einen nütz¬
lichen Bundesgenossen finden werde, wenn sich die Politik beider Staaten einer
vernünftigen Leitung erfreue. Ein Bundesgenosse, der wenigstens zur See
Hilfe leiste (obwohl Deutschland auch seine eigne Kriegsflotte, wie auch zunächst
seine eigne Flagge, haben müsse), werde um so willkommner sein, als Frank¬
reich an Rußland seinen natürlichen Bundesgenossen habe. Denn einmal fühle
sich Rußland durch deu gemeinsamen Antagonismus gegen England zu Frank¬
reich hingezogen, dann branche es gleich diesem deutsches Gebiet um der dieses
Gebiet bewohnenden Menschen willen, weil ihm die geistigen Kräfte fehlen,
die nötig sein würden, wenn ans diesem ungeheuern Materialienhauseu eine
Wohl organisierte Knltnrnation werden sollte. Vorläufig sei Rußland nichts
als eine stets hungrige wilde Bestie, die sich getrieben fühle, jedes Nachbar¬
gebiet zu verschlingen, das sich überwältigen lasse, und es sei um so gefähr¬
licher, als es im Jahre 1900 hundert Millionen Einwohner habe» werde.
Hoffentlich werde sich Rußland darein fügen, daß der Widerstand, den es im
Westen finden müsse, seine Eroberungssucht nach Osten ablenke. Hier könne
es Großartiges für die Zivilisation wirken und sich zugleich unerschöpfliche
Quellen der Bereicherung erschließen. Es sei seine providentielle Aufgabe, die
Staaten Ost- und Mittelasiens der Barbarei und der Abschließung zu entreißen
und dort einen Handelsverkehr in Bewegung zu setzen, der ihm mehr bringen
werde, als die Einmischung in die europäische Politik, und der sür alle euro¬
päischen Staaten eine Wohlthat sein werde. (Man vergleiche damit die An¬
sichten über das Verhältnis Rußlands zu Dentschland und zu Asien, die
Anfang April dieses Jahres „ein hervorragender deutscher Staatsmann" den,
Berliner Berichterstatter der viril/ Um! ausgesprochen haben soll.) Bei der
schon, unbehilflichen Große des russischen Reichs würde die Regierung des
Zaren gut thun, auf unmittelbare Gelnetserwerbnngen z» verzichten und sich
mit der Einrichtung von Vasallenstaaten zu begnügen. Wolle es aber durchaus
erobern, so stehe ihm das unkriegerische und darum wehrlose China offen, in
dessen allmählicher Verspeisung es vou keiner europäischen Macht gestört werden
werde; denn eben die gewaltige Größe des Bissens, mit dessen Verdauung es
lange zu thun haben werde, sichere die Engländer vor einem russischen Angriff
ans Indien. In China finde Rußland unerschöpfliche Naturschätze und ein
ebenso unerschöpfliches Material zu geduldiger Arbeit abgerichteter Menschen,
die ihm Bergwerke lind Fabriken betreiben würde». Truppen an die chinesische
Grenze zu schaffen, werde für Rußland nicht schwer sein, da es Holz, Eisen
und Meuschen genug habe zum Bau von sibirischen Bahnen an den Stillen
Ozean. Um so große Dinge vollbringen zu können, müsse Nußland freilich
Vorher selbst ein zivilisierter Staat, und zwar ein Nerfassungsstnat werden.
Das könne es aber nur werden durch deutsche Intelligenz und deutsche Arbeit,
die es sich nicht dnrch Eroberung deutschen Gebiets, sondern dnrch deutsche
Einwnndrung in sein altes Gebiet zu verschaffen habe.
Daß Nußland in Vorderasien Eroberungen mache, dürfe England nicht
zugeben, weil das seine Verbindung mit Indien bedrohen würde. England
müsse das Streben Mehmet Alis begünstigen, seine Herrschaft über Syrien
und Kleinasien auszudehnen, und sich in dem Herrscher des neuägyptischeu
Reichs einen Vasallen erziehen, der ihm die Straße nach Indien sichere (das ist
geschehn, wenn auch ohne die Gründung eines großägyptischen Reichs). Zu¬
gleich müsse es Deutschland zum Verbündeten gegen Frankreich und Rußland
haben, denn es könne nicht seine großartige Industrie im Gange erhalten und
gleichzeitig ein seiner ganzen Küste Wache stehn. Natürlich könne ihm ein
schwaches Deutschland nichts nützen, weshalb es sehr thöricht Handel» würde,
wenn es fortfahren wollte, durch seine Handelspolitik die Deutschen wirtschaft¬
lich zu schädigen und ihre Einigungsbestrebungen zu hindern. Die Balkan¬
länder gehörten den Deutschen. Um sich den Zugang dahin zu erschließen,
müßten die Deutschen Ungarn zivilisieren, das ebenso wie Rußland nur durch
deutsche Intelligenz, deutsches Kapital und deutsche Arbeiter ein Kulturstaat
werden könne. Und zwar sei bei der wirtschaftlichen Reform Ungarns die
größte Eile nötig; denn die Magyaren seien an politischem Verständnis der
rückständigen österreichischen Bureaukratie und dein ebenso rückständige!? öster-
reichen Hochadel ein Jahrhundert voraus und weit überlegen, dabei von natio¬
nalem Fanatismus erfüllt (der freilich, so lange man ihm die Gewalt läßt,
die Anwendung des von List vorgeschlagnen Heilmittels, die Germanisierung,
unmöglich macht), und würden sie nicht bald von Ästerreich mit der Wohlthat
einer großen wirtschaftlichen und finanziellen Reform beglückt, so würden sie
der dortigen Regierung die größten Schwierigkeiten bereiten und — es ist das
drei Jahre vor 1848 geschrieben — den Russen Gelegenheit zur Einmischung
geben. Ist Österreich gelähmt, läßt List einen fingierten russischen Politiker
sprechen, „so ist es ganz Deutschland. Auch finden sich hier glücklicherweise
zwei treffliche Elemente vor, die zu diesem Behuf zu benutzen sind — der
Ultraslawismns und der Ultramagyarismus. Ans beide muß mit aller Kraft,
obwohl mit der größtmöglichen Behutsamkeit gewirkt werden. Die Wunde der
ungarischen Wirren ist zunächst die ergiebigste Quelle von Schwäche für Oster¬
reich, während eine Verständigung und Versöhnung zwischen Regierung und
Volk auf dem Grunde einer aufrichtigen politischen und nationalökonomischen
Reform den nahen und fernen Hoffnungen Rußlands für immer ein Ende zu
machen droht." Von der Erschließung Afrikas versprach sich List Bedeutendes;
dieser Erdteil sei reich an Naturschätzen, die Europa mit Jndustriewaren bezahlen
könne. Werde die Sklaverei aufgehoben, Hütten also Menschen keinen Tausch¬
wert mehr, so würden die Neger arbeiten lernen, um Tauschwerte zum Kauf
europäischer Waren zu schaffen.
Man wird schon ans diesen kleinen Proben erkennen, daß die Erinnemng
an List gerade im gegenwärtigen Augenblick höchst zeitgemäß ist. Nicht allein
sind wir den großen Entscheidungen über die Teilung der Erde, die List in
weiter Ferne auftauche» sah, bedeutend näher gerückt, sondern gerade jetzt,
während des wirtschaftlichen Aufschwungs der letzten fünf Jahre, ist auch das
Ideal in Deutschland verwirklicht, das List für sein Vaterland so heiß erstrebte:
der Agrar-Mauufakturhaitdelsstaat, und es ist an der Zeit, zu fragen, ob die
Wirklichkeit in jeder Beziehung der Vorstellung, die List davon hatte, entspricht,
und, da doch die Welt nicht still steht, wie sich wohl die Dinge weiter ent¬
wickeln könnten und sollten. Aber ehe wir uns auf diese Frage einlassen,
wollen wir vorher sehen, wie die Theorie des großen Praktikers Lehren be¬
urteilen darf und wirklich beurteilt hat.
le große Bedeutung, die das landwirtschaftliche Genossenschafts¬
wesen in Deutschland gewonnen hat, liegt in der straffen Organi¬
sation der Vereine und in dem Gefühl der Zusammengehörigkeit
und des Zusammenarbeitens an einer gemeinsamen Sache. Dieses
Einigkeitsgefühl unter all den verschiednen Genossenschaften auch
äußerlich auszudrücken war von jeher das Bestreben Raiffeisens gewesen. Schon
1864 hatte Schulze-Delitzsch den Allgemeinen Verband deutscher Erwerbs- und
Wirtschaftsgenossenschaften ius Leben gerufen; unter diesem Verbände standen
Provinzial- und Landverbände und unter diesen wiederum die einzelnen Ge¬
nossenschaften. Dem Schulzischcu Vorbilde nacheifernd, wollte Raiffeisen 1868
einen ähnlichen Aufbau seiner Vereine gründe», der mit einer Zentralbank zum
.Zwecke gemeinsamer Beratung, Kontrolle und GeldauSgleichnug verbunden sein
sollte. Aber sein erster Versuch schlug fehl.
Da jedoch das Bedürfnis nach einer Zeutralansgleichsstelle dringend vor
Handen war, so wurden 1872 in den einzelnen Landschaften selbständige Banken
gegründet, eine westfälische landwirtschaftliche Bank, eine rheinische landwirt¬
schaftliche Genossenschaftsbank und eine landwirtschaftliche Zentralkasse für
Hesse». Diese drei Banken schlösse!, sich am 25. Juni 1874 zu der Landwirt¬
schaftliche» Gencmlbank zusammen. Soweit war eine Einigung hergestellt. Da
machte Raiffeiseu den großen Fehler, daß er die Svlidarhaft der Genossen für
die Einzelgenvsscnschaft ans die Vereine und die Generalbank übertrug. Diese
Forderung der Svlidarhaft aller Vereine gegenüber der Generalkasse war in¬
sofern unmöglich, als die Einzelgenossenschaftcn ganz verschiednen Gebieten mit
verschiednen Volksrcichtnin, Volkscharakter und verschiednen wirtschaftlichen Ge¬
bräuchen angehörten. Nach Mißerfolgen spaltete sich die Bank 1876 wieder
in die drei Bestandteile, ans denen sie zusammengesetzt worden war. Eine
wirkliche dauernde Einigung erzielte Raiffeisen erst, als er für die Zentralkasse
die Form der Genossenschaft, die immer mit Geldmangel zu kämpfen hatte,
anfand und am 30, September 1876 die rheinische landwirtschaftliche Bank
in die Landwirtschaftliche Zentraldarlehnskasse, Aktiengesellschaft zu Neuwied,
umwandelte.
Im Jahre 1877 gründete er als Schwesterinstitnt zu der Zentralkasse den
GeneralaiNvaltschaftsverband ländlicher Genossenschaften für Deutschland, dem
folgende drei Aufgaben zuerteilt sind: 1. Vertretung der Interessen der an¬
geschlossenen Vereine, 2. Vornahme der gesetzlich vorgeschriebnen Revision,
3. Organisation des gemeinschaftlichen Ein- und Verkaufs landwirtschaftlicher
Produkte. Obwohl die Neuwieder Zentralkasse eine Aktiengesellschaft ist, ist
ihre Verwaltung ganz den Raiffeisenschen Prinzipien gemäß Ehrensache. Das
Aktienkapital beträgt fünf Millionen, soll jedoch uns fünfzehn erhöht werden.
Die Aktien sind im Besitz der der Kasse angeschlossenen Vereine. Der Kasse
untergeordnet sind die Filialen, von denen 1895 zuerst zehn gegründet wurden,
die Geschäftsstellen und Agenturen. Kaiser Wilhelm I. zeigte für sie ein leb¬
haftes Interesse und stiftete bei ihrer Gründung ein Kapital von 30000 Mark
für den Reservefonds. Das preußische Ministerium für Landwirtschaft giebt
einen jährlichen Zuschuß von 3000 Mark. Die Kasse nimmt den angeschlossenen
Vereinen gegenüber eine übergeordnete Stellung ein und verlangt, daß sie über
den Stand der Vereine jederzeit auf dem Laufenden gehalten wird. So müssen
ihr unverzüglich jeder Wechsel im Vorstand mitgeteilt, die Bilanz und die
Mitgliederliste jährlich zugesandt werden. Der Geschäftsgewinn ergiebt sich
aus der Spannung zwischen dem Zinsfuß der Einlagen und der Darlehen,
die etwa Prozent betragen soll, und aus der Provision von 1 Prozent,
die jährlich von der größern Seite des Saldos erhoben wird. Die Aktien¬
dividende wird zu Gunsten des Reservefonds stark beschnitten und beträgt
durchschnittlich 3 Prozent. Die Einnahmen betrugen 1898 46220 000 Mark,
die Ausgaben 46045000 Mark, der Gesamtnmsatz 268915000 Mark gegen
135 Millionen im Jahre 1896. Der Reservefonds betrug 1898 215000 Mark.
Der Neuwieder Verband umfaßte 3276 Darlehnsvereine.
Die Gründung des Offenbacher Verbands ging ans dein Bedürfnis hervor,
auch den Genossenschaften, die sich nicht bindenden Bestimmungen unterwerfe»
wollten, einen ^Zusammenschluß zu gewahren. So wurde 1883 ans Betreiben
Schutze-Delitzschens und vieler andrer Autoritäten auf den, Gebiete des Ge¬
nossenschaftswesens, z. B. Mendels und Langsdorff, der Offenbacher Verband
gegründet mit dem Namen „Allgemeiner Verband der landwirtschaftlichen Ge¬
nossenschaften." Zum Unterschied von dem Neuwieder umfaßt der Offenbacher
Verband neben Darlehnsvereinen auch sämtliche Arten der Vetriebsgenossen-
schaften.
Seine Organe sind der Vereinstag, der Verwaltungsansschuß, der Anwalt
und die Zeitschrift „Landwirtschaftliche Genvsseiischaftsprcsse." Zwischen dem
Anwalt und den: Vorsitzenden des Verwnltungsausschusses besteht eine Per¬
sonalunion. Der Verband und seine 6001 Vereine (1898) beschäftige:, ein
Heer von mehr als 12000 Beamten, die durch Peusivnsversichcrung versorgt
siud. Der Verband strebte die Gründung von Zentralknssen mit beschränkter
Haftung an, die durch das Genossenschaftsgesetz von 1889 begünstigt wurde»
und nach Eröffnung der Preußischen Zentralgenossenschaftskasse 1895 in großer
Zahl erstanden. Diese Zentralkasseu sind entweder Geldkassen oder Bnchkassen
mit Anlehnung an irgend ein Bankinstitut. Die Vuchtassen sind in jüngster
Zeit mehr angewandt worden, weil sie sichrer sind, und nie bei ihnen ein
Überfluß an Barmitteln eintrete» kann, der so leicht zur Spekulation verführt.
Um Mitglieder einer Zcntralkasse zu werden, müssen die Einzelgenossenschaften
ein Eintrittsgeld zahlen, Anteilscheine erwerben und im Falle des Austritts
eine Einlage in die Kasse machen. Auf je einen Anteilschein werden 10000 Mark
Kredit gewährt bis zu 60000 Mark, bei höhern Beträge» muß die Genehmigung
des Aufsichtsrats eingeholt werden. Bei Lombardgcschäftcn wird bis zu des
Kurswertes beliehen.
Außer diese» beiden wichtigste» Verbänden haben wir in Deutschland noch
eine ganze Reihe isolierter Verbände, die mehr oder weniger von Staats¬
geschenke» ihr Dasein fristen; so den bayrischen Landesverband, dem 1600
Vereine angehören. Der jährliche Barznschnß des Staates beträgt 25500 Mark.
Außerdem giebt die Regierung ein Darlehn von 2 Millionen Mark, wovon
100000 Mark unverzinslich, 1900000 zu 3 Prozent verzinslich sind. Trotz
dieser recht beträchtlichen Zuschüsse arbeitete die Kasse manches Jahr mit Verlust.
Das liegt wohl zum Teil an der geringe» Zinsspammng, die anfänglich nur
'/-, Prozent betrug und später auf V2 Prozent erhöht wurde. Mit bessern Er¬
folgen arbeitete der württembergische Verband, der 800 Vereine umfaßt. Der
Staatszuschttß beträgt jährlich 10500 Mark, außerdem gewährt der Staat im
Bedarfsfalle Kredit zu 3 Prozent. Der Umsatz betrug 17,7 Millionen, die
Zinsspannuug 1 bis 1^ Prozent. Der westfälische Verband ist nach streng
Rniffeisenschen Prinzipien organisiert und »mfaßtc im Jahre 1898 352 Vereine,
der Zuschuß beträgt 8700 Mark, die Zinsspannung »/is Prozent. Die länd¬
liche Zcntralknsse ist an die Preußische Zentralgenossenschaftskasse angeschlossen.
Dieser Verband gewahrte 1898 seineu 48905 Mitgliedern 12 Millionen Mark
Kredit, während seine Außenstände um Jahresschluß 44 Millionen betrugen
(also 32/2 mal so viel als der gewährte Kredit). Außer diesen bestehn an iso¬
lierten Verbänden noch der rheinische Nevisionsverband in Kempen, der rhei¬
nische Bauern kreditverein, der Verband der schlesische» ländlichen Genossen-
schaftskassen in Neisse und die Genossenschaftszentralkasse des Bundes der
Landwirte, die zum Teil mit der Preußischen Zentralgeuossenschaftskasse in
Verbindung stehn, mit der wir uus im folgenden näher beschäftigen wollen.
Das Fehlen der Verbindung mit einem großen Geldinstitut war schon
lange von den Genossenschaftsverbänden als ein schwerer Mangel empfunden
worden. Der Neuwieder Verband hatte eine Zentralkasse, die seinen geringer,?
Ansprüchen genügte. Aber der wirtschaftlich stärkere Allgemeine Verband
empfand diesen Mangel um so schwerer. Man hatte einen Geldausgleich
zwischen den verschiednen Zentralkasscn durch regelmäßige Mitteilungen des
Geldstandes bei den Kassen einzuführen gesucht, aber eine einheitliche Regelung
der Verhältnisse war nicht möglich gewesen, und so kam es oft vor, daß eine
Kasse 100000 bis 200000 Mark kaum zu 2 Prozent unterbrachte, während
eine andre denselben Betrag mit 5 bis 0 Prozent aufnehmen mußte. Die lei¬
tenden Männer der Bewegung hatten versucht, mit der Neichslmnk Fühlung
zu bekommen; aber alle diese Versuche scheiterte» daran, daß der Darlehus-
zinsfuß der Reichsbank zu hoch und sprunghaft war, und die Frist nur drei
Monate dauerte. Auch war der Ncichsbankpmsident Dr. Koch persönlich nicht
gerade entgegenkommend, und das mit vollem Recht. Er hatte die Interessen
seiner Bank zu vertreten, und diese deckten sich ganz und gar nicht mit denen
der agrarischen Genossenschaften. Etwas mehr entgegenkommend war die See¬
handlung und die Ritterschaftliche Darlehnstasse für Brandenburg, aber der
Verkehr mit diesen beiden Banken war umständlich. Die Regierung wollte
das Genossenschaftswesen lurterstützen, und da sich die Reichsbank den Genossen¬
schaftskredit nicht aufbürden ließ, so mußte die Negierung selber die Gründung
einer Zentralkasse in die Wege leiten. Die Freikonservativen betrieben die
Gründung mit allein Eifer, und der Finanzminister von Miquel sprach sich
ebenfalls für das Projekt aus. Hier seine Worte: „Wir müssen dahin kommen,
daß wir im großen und ganzen eine Genossenschaft in jeder Gemeinde der
ganzen Monarchie haben,"
Am 1. Oktober 1895 konnte die neue Kasse, die den Namen Preußische
Zentralgenossenschaftskasse erhielt, ins Leben treten. Sie wurde zuerst mit
einem Kapital von 5 Millionen Mark ausgestattet, das bald auf 20 und
schließlich auf 50 Millionen erhöht wurde. Das Kapital, mit dem sie arbeitet,
ist ausschließlich vom Staate zur Verfügung gestellt worden, von einer Kapital¬
beteiligung der Genossenschaften wurde sonderbarerweise abgesehen. Rechtlich
nimmt die Kasse durch das Gesetz vom 31. Juli 1895 und 8. Juli 1896 eine
Sonderstellung ein, steht aber dennoch unter dem Handelsrecht. Ein großer
Teil ihres Kapitals ist nicht flüssig, besteht ans Konsols und dient gleichsam
als Reservefonds. Dies hat seinen Grund darin, daß die Kasse ihre Gelder
weit fester legt, als andre Banken zu thun pflegen. Deshalb kann sie plötzlich
an sie herantretenden Geldansprüchen nur dadurch gerecht werdeu, daß sie
teilweise ihr Grundkapital liquidiert. Die Genossenschaftsverbandskassen, die
mit der Zentralkasse in Geschäftsverkehr stehn, haben an ihrer Geschäftsführung
nur Anteil als Beirat, im übrigen steht ihnen die Zentraltasse mehr als vor¬
gesetzte Behörde gegenüber.
Die Kasse ist eine staatliche Anstalt mit staatlichen Beamten und steht
unter dem preußischen Finanzminister als ihrer Aufsichtsbehörde, Im allge¬
meinen verkehrt die Kasse nur mit Verbandskassen, weil sie sich nicht mit der
Prüfung der Verhältnisse der Einzelgenossenschaften abgeben kann; ausnahms¬
weise gewährt sie größern Einzelgenossenschaftcn, die sie genau kennt, direkt
Kredit. Sie spornt deshalb zur vermehrten Gründung von Verbandskassen
um, und diese bedürfe« wiederum zu ihrem Bestehn der Einzelgenvssenschaften.
Es erfolgte also gleich nach Eröffnung der Zentralkasse eine sich ins ungeheure
steigernde Gründung voll Genossenschaften und Verbänden, die alle ans den
billigen Kredit von 3 Prozent spekulierten. Damals soll Herr von Miquel
das berühmte Wort von den „Pumpgenossenschaften" gesprochen haben. Aber
diese „Pumpgenossenschaften" verschwanden ebenso schnell, wie sie aufgetaucht
waren, und ließen nur die wirtschaftlich existenzberechtigten zurück. Der Ge¬
schäftsbetrieb ist derselbe wie bei jeder Kundenbcmk. Geschäfte werden auch
mit Privatleuten abgeschlossen: Lvmbarddepositen, Checkverkehr, Diskontieren
fremder Wechsel, Aceeptieren eigner Wechsel. Die auf die Kasse ausgestellten
Checks genießen den Vorzug, bei der Reichsbank und allen ihren Filialen,
sowie zur Bezahlung von Zöllen und indirekten Steuern genommen zu werden.
Die Zentralkasse verkehrt mit Vereinigungen, Verbandskassen, Ritterschaftlichen
Darlehnskassen, mit den von Provinzen und Kommunalverbänden errichteten
Instituten, öffentlichen Spar- und Kommunalkassen, einzelnen Personen, Firmen
und einzelnen Genossenschaften. Bei diesen besteht jedoch die Bestimmung, daß
nur ein rein bankmäßiger Verkehr mit ihnen erfolgen solle, und sie von der
Gewährung von Darlehn ausgeschlossen sein sollen. Diese Einschränkung ist
aber rein formell und kann leicht umgangen werden, da der Zinsfuß für Ent¬
nahmen im Kontokorrentverkehr 3 bis 3^ Prozent betrügt, also nicht höher
als der Darlehnszinsfnß ist.
Die Zentrale'uffe gewährt ihren Kunden einen höhern Kredit als die
Neichsbcmk. Als Unterlage für die Kreditgewährung gilt bei den Verbands¬
kassen nicht nur das eigne Vermögen, sondern auch die vertretbaren Haft¬
summen der Untergenossenschaften. Da man es bald mit Aktiengesellschaften,
bald mit Genossenschaften mit beschränkter Haftpflicht, in einem Falle mit Ge¬
nossenschaften mit unbeschränkter Haftpflicht zu thun hat, fo sind zur Bestim¬
mung der Höhe der Kreditgewährung von der Zentralkafse bestimmte Normen
aufgestellt worden. Die Kreditgewährung hört aus, und die alten Darlehen
werden gekündigt, wenn ein Verein nur Darlehen empfangen hat, ohne Ein¬
lagen gemacht zu haben. Ferner soll darauf gesehen werden, daß die Vereine
die erhaltnen Darlehen zu reellen Zwecken und nicht zu Spekulationen ver¬
wenden.
Wechsel diskontiert die Kasse meist zu Reichsbankdiskont, ausnahmsweise
zu Privatdiskont. Jedoch rühmt sie sich, nie über 6 Prozent zu gehn, wenn
auch der Reichsbankdiskont 7 Prozent, wie 1899 einmal, betrage. Lombard
beträgt bei Staatsanleihen und landwirtschaftlichen Pfandbriefen bis zu 90 Prozent
des Kurswertes, Außerdem gewahrt die Kasse eine» Warenlombard. Bei Zucker,
Spiritus usw. beträgt der Kredit bis 6V Prozent des Wertes nach der Magde¬
burger Börse.
Während alle andern Banken im Kontotorreutverkehr Provision erheben,
hat die Zeutralkasse davon Abstand genommen, um die Genossenschaften auch
zu kleinen kurzfristige» Einlagen anzuspornen. Der Zinsfuß für Einlagen
beträgt 2^/z Prozent, für Darlehen betrug er die ersten Jahre 3 Prozent,
wurde dann auf 4 Prozent erhöht und beträgt jetzt Prozent.
Die Rniffeiseusche Zentralkasse in Neuwied nimmt den übrigen Kassen
gegenüber eine bevorzugte Sonderstellung ein. Ihr wurde von der Preußischen
Zentralgenossenschaftskasse sofort bei deren Gründung ein laufender Kredit ohne
besondre Sicherleistnng von 1,5 Million eingeräumt, die dann im Laufe der
Zeit auf 2,4 Millionen, 4 Millionen, 6 Millionen erhöht wurden. Was die Ver¬
teilung des Geschäftsgewinns anbelangt, so ist die dem Staate zukommende
.Kapitaldividende recht kürglich beimessen. Nach den Statuten müssen vom Rein¬
gewinn znnüchst 50 Prozent in deu Reservefonds gethan werden, der Rest soll
zur Verzinsung der Einlagen verwandt werden; ein etwa noch bleibender Über¬
schuß soll ebenfalls dem Reservefonds zufließen, d. h. mit andern Worten:
der Reingewinn muß wenigstens 6 Prozent betragen, damit der Staat eine
Verzinsung zu 3 Prozent erhält. Sobald der Reservefonds ein Viertel der
Einlagen betrügt (also 12^ Millionen), soll eine Verzinsung der Einlagen bis
zu 4 Prozent gewährt werden, der Rest fließt dem Reservefonds zu. Durch
das Gesetz vom 8. Juni 1896 wurden diese Bestimmungen dahin abgeändert,
daß ein Fünftel des Gewinns dem Reservefonds, vier Fünftel der Staatskasse
zufließen sollen. Die Entwicklung des Geschäftsverkehrs der Kasse ist sehr stark
gewesen. Folgende Tabelle zeigt die Entwicklung des Umsatzes, wovon jedoch
nur ein geringer Bruchteil auf deu Verkehr mit deu Verbaudskasseu fällt.
Der niedrige Gewinn in den letzten beiden Jahren rührt daher, daß
von Reingewinn zunächst über 1000000 Mark für Kursverlust abgeschrieben
werden mußte.
Die Gründung der Preußischen Zentralgenossenschaftskafse hat nicht nur
die Vereine in den alten Genosseuschaftsgebieten ungemein gefördert, sondern hat
auch dem ländlichen Genossenschaftswesen die ostelbischen Provinzen erschlossen.
Das Genossenschaftswesen ist gerade für diese Provinzen Preußens so gewinn-
bringend, weil es dort für die Bauern die ausschließliche Form des Geld¬
verkehrs zu werden verspricht und die Gutsherren mit ihnen genossenschaftlich
verknüpft.
Die landwirtschaftliche Kreditorganisation ans genossenschaftlichem Wege
hat einem dringenden Bedürfnis abgeholfen, indem sie auch der Landwirtschaft
eine ihr bis dahin fehlende Geldansgleichstelle geschaffen hat. Neben dieser
ihrer Hanptverrichtung hat sie noch eine wichtige Nebenarbeit erfüllt: sie dient
dem Bauern als wirtschaftliche Erziehungsanstalt und hat als solche in den
fünfzig Jahren ihres Wirkens den Bauernstand wirtschaftlich weiter gebracht.
Wenn die deutschen Staatsregierungen den Bauern am Anfang des vorigen
Jahrhunderts auch für frei erklärte«, so war er es doch nur rechtlich; wirt¬
schaftlich war er ein unmündiges Kind und sank in die Unfreiheit zurück;
mündig, wirtschaftlich frei machte ihn erst das Genossenschaftswesen. Und darum
haben wir auch in den Teilen, wo das Genossenschaftswesen am ältesten und
in seiner Entwicklung schon abgeschlossen ist, in Hessen, Rheinland, Westfalen,
in der Pfalz und in Waldeck die größte Intelligenz und den größten Wohlstand
unter der Bauernbevölkerung kleinern und mittlern Grundbesitzes. Die prin¬
zipiellen Gegensätze, die zwischen den beiden Hauptverbänden bisher bestanden,
verlieren allmählich an Schärfe, da der Neuwieder mehr und mehr von der
strengen Zentralisation abgesehen hat, der Offenbacher aber nach und nach die
sittlichen Grundsätze Naiffeisens als berechtigt anerkannt hat und sich teilweise
ihrer bedient. In Preußen überbrückt außerdem die Preußische Zentralgcnossen-
schaftstasse, die mit beiden Verbänden verkehrt, die Kluft, die zwischen ihnen
noch besteht.
Die Genossenschaft entstand durch eiuen Akt der Selbsthilfe; erst als diese
sich zu schwach zeigte, griff der Staat helfend ein, und mit Recht, denn die
Pflicht jedes Staates ist es, sich einen wirtschaftlich kräftigen Bauernstand zu
erhalte». Da die Kreditbedürfnisse der Landwirtschaft anders sind als die des
gesamten übrigen Verkehrslebens, so blieben der Landwirtschaft die großen
Geldinstitute verschlossen. Aus diesem Grunde entstand lediglich für Agrar-
tredit die vom Staat mit fünfzig Millionen dotierte Preußische Zentralgenossen-
schaftskassc. Dadurch, daß der Staat auf eine höhere Verzinsung seines Kapitals
wie 3 Prozent verzichtet hat, macht er jährlich ein Geschenk von 1 Prozent,
das sind 500000 Mark, da er selber für eine neue Anleihe 4 Prozent zahlen
müßte. Nun ist es zwar gerechtfertigt, daß der Staat ans dem Säckel der
Steuerzahler zeitweilig für eine Berufsklasse größere Aufwendungen macht,
wenn diese ihrer bedarf; aber diese Aufwendungen dürfen nicht dauernd werden.
Darum müßte: 1. die staatliche Unterstützung zeitlich beschränkt werden, und
zwar nach Jahren und nicht in der Art wie jetzt, wo es heißt, daß bei der
Zentralkassc die ans die Anleihe entfallende Dividende erst dann 4 Prozent
betragen solle, wenn der Reservefonds ans ein Viertel des Grundkapitals an¬
gewachsen ist Da würde der Staat nie mehr als 1 bis 3 Prozent beziehn,
weil jedesmal, wenn der Reservefonds im Begriff ist, die vorgeschriebne Höhe
zu erreichen, die Agrarier die Erhöhung des Grundkapitals durchsetzen würden.
Ein laufender Beitrag darf uur zur Bestreitung der gesetzlich auferlegten Re¬
visionslasten gewährt werden. 2. Die Darlehnskassen vernachlässigen ihre
soziale Aufgabe nicht, wenn sie die geschäftliche mehr ausüben. Es ist nicht
angängig, den Dnrlehnszinsfuß so niedrig zu bemessen, daß die Kassen bis¬
weilen aufzunehmendes Geld teurer bezahlen müssen, als sie für Darlehen
erhaltet!. 3. Es muß deshalb das Augenmerk der Vereine darauf gerichtet
sein, während der staatlichen Uuterstützungszeit ihren Reservefonds möglichst
zu erhöhn, damit er ihnen später als Rückhalt diene. (Augenblicklich beträgt
das eigne Vermögen der dem Neuwieder Verbände angeschlossenen Vereine
vier Millionen, der dem Offenbacher Verbände angeschlossenen Vereine zwölf
Millionen.)
Erst wenn die Gcnossenschaftspraxis in der Landwirtschaft die Regeln
kaufmännischen Verkehrs angenommen hat und sich von jedem Spekulations¬
geschäft fern hält, wird sie selbständig und frei von jeder staatlichen Hilfe
werden und die in der Wirtschaftsgeschichte errungne Stellung behaupten
können.
leit dem Erscheinen von Bismarcks Gedanken und Erinnerungen
hat die sonst vorzugsweise in Frankreich und England gepflegte
Memmrenlitteratur auch bei uns eine erhöhte Bedeutung ge¬
wonnen.^) Deshalb dürfte es auch für weitere Kreise nicht
!ohne Interesse sein, einmal von dem Manne zu vernehmen, der
diese litterarische Gattung zuerst eingeführt hat, ich meine den Jonier Ion
von Chios, der, ein Zeitgenosse der drei großen griechischen Tragiker, selbst
ein bedeutender tragischer Dichter war. Der Dichter gehörte also dem grie¬
chischen Stamme an, dem vor den übrigen eine reiche Fülle glänzender Gaben
zu teil geworden war. „Nie wieder hat es ein Menschengeschlecht gegeben,
das so scharf beobachtet Hütte, das mit so unbändigem Drang daran gegangen
wäre, die weite schöne Welt, die vor ihm lag, sehend und schauend sich zu
eigen zu machen."^) Und gerade die Chier, die übrigens durch Handel, Schiff¬
fahrt und Weinbau auch zu hoher materieller Blüte gelangt waren, hatten
das ionische Naturell mit am treusten bewahrt. In der griechischen Litteratur
spielt denn auch die Insel eine gewisse Rolle, sie war ja auch die Heimat der
Homeriden und in späterer Zeit die des Geschichtschreibers Theopomp und des
Philosophen Ariston,
Das Leben Ions fällt in die Zeit des Freiheitskampfs der Griechen gegen
die Perser und in die darauf folgende Periode, also in eine Zeit, in der die
Politische und die künstlerische Entwicklung Griechenlands, insbesondre Athens,
ihre höchste Stufe erreichten. Sein Geburtsjahr läßt sich freilich uur an¬
nähernd bestimmen, es muß zwischen 495 und 490 fallen; denn 476 finden
wir J»n als einen kaum dem Knabenalter entwachsenen Jüngling in Athen,
wo er im Hanse des Kimon freundschaftlich verkehrte. Dieser Führer der
athenischen Aristokratie, der damals nach Bezwingung des verräterischen Spar¬
tanerkönigs Pausanias und »ach der Eroberung von Byzanz und Schlof (470)
an der Spitze des athenischen Staats stand, nahm sich des jungen reichbegabten
Joniers, der selbst ans einer angesehenen Familie stammte, freundlich an,
wofür ihm der Dichter den Dank nicht schuldig blieb; denu er gedenkt seiner
den „Epidemien" wiederholt mit offenbarer Zuneigung. Durch den be¬
freundeten Feldherrn wird Ion wahrscheinlich auch mit Themistokles, Aristides,
sowie mit den litterarischen Großen Athens bekannt geworden sein. Bezeugt
ist freilich aus dieser Zeit nur die Bekanntschaft mit Äschylos, und zwar durch
Jon selbst in einer von Plutarch erhaltnen Anekdote aus den Epidemien. Bei
den isthmischen Spielen, so lautet diese, sahen einst beide Dichter den Faust¬
kämpfern zu, und als nun einer von diesen schwer getroffen wurde, schrie das
versammelte Volk laut auf. Da stieß Äschhlos den Ion an und sagte zu ihm:
„Da siehst du nun, ums Übung vermag; der Geschlagne schweigt, die Zuschauer
aber schreien." Vielleicht wurde Ion durch die Verehrung für Äschylos, den
Altmeister der tragischen Kunst, veranlaßt, zu dessen Lebzeiten (er starb 456)
uoch nicht mit eignen tragischen Schöpfungen aufzutreten. Dem Perikles ist
Ion weder während seines ersten Aufenthalts in Athen noch später näher ge¬
treten; die etwas förmliche und zurückhaltende Art des großen Staatsmanns,
die von dem umgänglichen und liebenswürdigen Wesen des Kimon sehr abstach,
und dabei die demokratische Richtung seiner Politik werden einer Annäherung
eben nicht förderlich gewesen sein.
Wie lange der erste Aufenthalt Ions in Athen dauerte, ist nicht über¬
liefert worden, doch wird er sich gewiß auf mehrere Jahre erstreckt haben.
Die Annahme freilich, die von einigen Forschern vertreten wird,") daß der
Dichter in Athen seinen bleibenden Wohnsitz aufgeschlagen habe, kann nicht
bewiesen werden. Vielmehr ist es an sich wahrscheinlich, und auch der Titel
„Wanderungen" für seine Erinnerungen weist darauf hin, daß Ion später
seinen stündigen Wohnsitz auf Chios hatte, daß er aber von hier aus wieder¬
holt und zwar jedesmal auf längere Zeit Athen, den Mittelpunkt grie¬
chischer Kunst und Bildung, besuchte. Verbürgt ist sein Aufenthalt in Athen
für em Jahr der zweiundachtzigsten Olympiade (452 bis 449) und für
das Jahr 428, aber schon der Umstand, daß er sicher mehr als zweimal
Tragödien auf die ätherische Bühne brachte und nach antiker Sitte persönlich
die Aufführung vorbereiten und leiten mußte, spricht dafür, daß er auch in
andern Jahren längere Zeit in Athen verweilte. Von hier ans unternahm
der Dichter dann auch Reisen nach andern Städten Griechenlands. Sicher ist,
daß er wenigstens einmal Sparta besucht hat, wo er Gast und Tischgenosse
des einen Königs, wahrscheinlich des Archidamos (469 bis 427) war. Denn
zu Ehren des Königs dichtete er in Sparta in Form einer Elegie ein Trink¬
lied, von dein uns der spätgriechische Schriftsteller Athenäus die folgenden fünf
Distichen bewahrt hat:
Heil dir, König von Sparta, du Schirmer und Vnder des Volkes,
Uns aber möge den Trank reichen des Mundschenks Hand,
Lauter gemischt in silbernen Krüger, doch nimmer vergesset,
Das; uns der goldne Pokal netze den Boden des Saals.
Wenn wir gespendet in Ehrfurcht Herakles und der Alkmene,
Prokles, dem Ahn des Geschlechts, Perseus Söhnen und Zeus
— Diesem zuerst —, dann beginne das Trinken, das Scherzen und Singen
Durch die ambrosische Nacht; nicht auch fehle der Tanz.
Heiter ergeht euch der Freude; doch wem eine liebliche Gattin
Züchtig waltet in: Haus, trinke noch tapferer mir!
Etwa zweiundzwanzig Jahre nach seinem ersten Auftreten als tragischer
Dichter, im Jahre 428, rang Ion mit Euripides, der damals den Hippvlytus
ans die Bühne brachte, und mit Jophon um den tragischen Preis. Der
Preis fiel dem Euripides zu, während Ion als dritter aus dem Wettkampfe
hervorging. Ein andres mal war dein Ion das Glück günstiger; er trug zu¬
gleich mit einem Dithyrambus und einer Tragödie den ersten Preis davon.
Ob freilich dieser Sieg vor oder hinter die eben erwähnte Niederlage fällt, ist
ungewiß, ebenso fehlt eine nähere Angabe über den Titel des Dramas oder
die Namen der Mitbewerber. Wir verdanken überhaupt die Nachricht nur
einer Anekdote, die sich an den Sieg geknüpft hat. Ion soll aus Dank
für die Gunst des Volks jedem Athener ein Keramion Chierwein gespendet
haben. Diese Geschichte klingt nun allerdings in der überlieferten Form nicht
glaublich, wenn mau bedenkt, daß ein Keramion etwa vierzig Liter faßte, lind
daß die Gesamtzahl der athenischen Bürger vor dem peloponnesischen Kriege
nicht weniger als 60000 betrug; jedenfalls aber lehrt sie, daß dem Dichter
die Freude eines Siegs nur sehr selten, wohl überhaupt nur ein einziges mal
zu teil wurde. Über das Todesjahr des Dichters sind wir gemalter unter¬
richtet als über die Zeit seiner Geburt. Den» in dein von Aristophanes ver¬
faßten „Frieden," der zuerst an dem Feste der großen Dionysien des Jahres
421 aufgeführt wurde, wird seiner als eines jüngst Verstorbnen gedacht. Er
werde, so berichtet der aus dem Himmel zurückgekehrte Trygäus, in der andern
Welt der Morgenstern genannt, weil er diesen einst in einer Ode besungen
habe. Er wird also etwa in den letzten Monaten des Jahres 422 und zwar
wahrscheinlich in Athen gestorben sein.
Was den Charakter Ions anlangt, so war er, wie ans seinem Umgänge
mit den edelsten Geistern Athens und aus seinen Fragmenten zu schließen ist,
ein Mann von edler und vornehmer Denkungsart, frei von Mißgunst gegen
seine größern Kunstgenossen, zugleich aber ein Freund des heitern Lebens¬
genusses: Wein und Liebe wurden in seinen Werken, wie aus den Fragmenten
hervorgeht, nach Gebühr gepriesen. Die litterarische Thätigkeit Ions zeugt
von einer zumal für die damalige Zeit bewundernswerter Vielseitigkeit und
Fruchtbarkeit, Er versuchte sich in jeder Dichtungsgattung mit Ausnahme des
Epos und der Komödie und war daneben einer der ersten, die in ionischer Prosa
schrieben. Der Dichterruhm Ions gründet sich hauptsächlich auf seine Tragödien,
die zum Teil noch in den ersten Jahrhunderten unsrer Zeitrechnung gelesen
wurden. Wir haben noch Bruchstücke von elf Dramen, von denen nicht
weniger als fünf der Ilias und der Odyssee entlehnt sind, woraus hervor¬
geht, daß Ion mit Vorliebe für seine Stosse den homerischen Sagenkreis zu
benutzen Pflegte. Über den Charakter und Kunstwerk der Tragödien Ions
können Nur ans den abgerissenen und verhältnismäßig doch nur spärliche»
Fragmenten kein sicheres Urteil gewinnen. Sehr wichtig ist deshalb eine Be¬
merkung in der Schrift über die Erhabenheit, die etwa um die Mitte des ersten
Jahrhunderts n. Chr. geschrieben worden ist. Der uns unbekannte Verfasser
dieser Schrift stellt nämlich Kapitel 35, 5 Ion zu Sophokles in dasselbe Ver¬
hältnis wie Bakchhlides zu Pindar. Jon und BakchhlideS hätten sich vor
allem durch einen fehlerfreien, ebenmäßigen Stil ausgezeichnet, Pindar da¬
gegen und Sophokles durch den feurigen Strom ihrer Rede, der aber mit¬
unter plötzlich zu versiegen scheine. Beim Bakchhlides sind wir ja jetzt in der
glücklichen Lage, dieses Urteil nachprüfen und bestätige» zu können. Glätte
»ut Eleganz sind in der That das charakteristische Merkmal dieses Dichters,
während ihm die Gedankentiefe und der erhabne Schwung des Pindar fehlt.
Danach dürfen nur wohl annehmen, daß der feinsinnige Kritiker auch die tragischen
Schöpfungen Ions im wesentlichen richtig beurteilt haben wird. Ans die gleich¬
mäßige Eleganz und Korrektheit der Form wird Ion viel Fleiß und Mühe
verwandt haben, aber die tiefe Begeisterung des Äschhlos, die kunstvolle
Motivierung und der abwechslungsreiche Stil des Sophokles oder die Rede¬
gewalt und das Pathos des Euripides standen ihm nicht zu Gebote. Immer¬
hin ist es schon etwas großes, mit Sophokles verglichen zu werden, und von
den jünger» Tragikern scheint keiner dem Ion an Kunst und Ansehe» gleich¬
gekommen zu sei». Eine gewisse Neigung zum Sonderbaren, die auch wohl
den Tragödien nicht ganz fremd war, scheint besonders die Dithyramben deS
Dichters beeinflußt zu haben, von denen freilich nur wenig Bruchstücke die
Zeiten überdauert haben. Dagegen atmen die beiden Elegien auf Bakchos*)
und auf den König Archldmnos, von denen die erstere bis auf die Anfangs¬
worte vollständig erhalten ist, den Geist heiterer Behaglichkeit, der überhaupt
der Grundcharakter der griechischen Elegie ist.
Derselbe Reichtum des Geistes, der in den Dichtungen Ions hervortritt,
offenbart sich auch in seinen prosaischen Werken, von denen außer den Epi¬
demien noch ein historisches, die Gründung von Chios, und die Triagmen,
eine uus dunkle philosophische Schrift wahrscheinlich auf pythagoreischer Grund¬
lage, erwähnt werden. Uns sollen an dieser Stelle mir die Epidemien, dieses
noch im spätern Altertum viel gelesene und benutzte Werk, beschäftigen. Das
Wort bedeutet bei deu attischen Schriftstellern den Aufenthalt an
einem Orte, sei es zu Hause oder in der Fremde; da nun die voll Athenäus
so bezeichneten Epidemien ohne Zweifel identisch sind mit dein von einem
alten Erklärer des Aristophanes Erinnerungen ^/ro^Z/to-r«) genannten Buche
Ions, so folgt zunächst daraus, daß in dein Werke Erinnerungen mitgeteilt
wurden, die sich an bestimmte Örtlichkeiten anschlössen. Die frühere Auffassung
der Gelehrten ging nun dahin, daß an den Aufenthalt andrer Persönlichkeiten
auf der Insel Chios zu denken sei, jetzt dagegen wird ziemlich allgemein an¬
genommen, daß Ion seine eignen Reiseerlebnisse erzählt hatte. Von den
beiden Ansichten verdient die zweite entschieden den Vorzug, weil sich die meisten
Erinnerungen auf Athen beziehn, zugleich aber dem Titel nach doch anch
Erlebnisse auf der heiimMchen Insel mit inbegriffen sein tonnen. Freilich
scheint die Möglichkeit nicht ganz ausgeschlossen, daß der Dichter den Titel im
weitern Sinne verstanden wissen wollte, daß er zwar in erster Linie von solchen
Erinnerungen handelte, die sich ans seine eignen Reisen bezogen, daneben
aber auch von solchen, die sich an die Reisen andrer bedeutender Männer nach
seiner Heimatsinsel knüpften. Glücklicherweise hat uns Athenäus ein längeres
Fragment der „Erinnerungen" aufbewahrt; aus diesem und aus den Zitaten
bei Plutarch können wir mit hinreichender Sicherheit erkennen, daß Ion nicht
etwa nach der Weise der spätern Reiseschriststeller, wie des Pausanias, die
Sehenswürdigkeiten der von ihm besuchten Städte beschrieb, sondern daß er in
lebendiger, abwechslungsvoller Sprache dem Leser die hervorragenden Persön¬
lichkeiten vor Augen führte, deren Bekanntschaft er in der Heimat und in der
Fremde gemacht hatte. Auf seinen Reisen hatte der Dichter weitaus am
längsten in Athen geweilt, und hier lebte zu seiner Zeit eine solche Anzahl be¬
rühmter Münuer wie sonst nicht in ganz Griechenland; was Wunder also, daß
die Erinnerungen vor allem die großen Athener des fünften Jahrhunderts
zum Gegenstande hatten? Die Eigenschaften und Thaten dieser Männer
wurden durch ernste und heitere Ereignisse ihres Lebens, bei denen Ion selbst
zugegen gewesen war, auch wohl durch kernige Aussprüche oder durch Zitate
aus ihren Reden anschaulich gemacht und beleuchtet, ja bei einigen, die dem
Dichter besonders ans Herz gewachsen waren, wie z. V. bei Kimon, wurde
auch das Äußere nicht unerwähnt gelassen.
Das soeben erwähnte Bruchstück bei Athenäus handelt von einer Be-
gegnung des Dichters mit Sophokles, der im Jahre 441 während des snmischen
Kriegs als Stratege mit einigen Schiffen noch der Insel Lesbos gesandt wurde
und auf dieser Fahrt auch Chios berührte. Weil das Fragment uns ein an¬
mutiges Erlebnis des großen Dichters vor die Augen führt und zugleich von dem
Charakter des ganzen Werks ein getreues Bild giebt, lasse ich hier die Übersetzung
folgen: „Mit dem Dichter Sophokles, einem beim Wein zum Scherz bereiten und
klugen Manne, traf ich auf Chios zusammen, als er als Stratege nach Lesbos
fuhr. Hermesilevs aber, der sein Gastfreund und zugleich der Konsul der
Athener war, bewirtete ihn, und als nun der den Wein einschenkende Knabe
durch das Feuer, bei dem er stand, von einem rosigen Schein Übergossen wurde,
freute sich der Dichter über ihn und sagte: Willst du, daß ich mit Vergnügen
trinke? und als jener ja sagte, fuhr er fort: Dann beeile dich nicht zu sehr,
wenn du den Becher bringst und ihn wieder fortnimmst. Da errötete der
Knabe noch viel mehr, der Dichter aber sagte zu seinem Nachbar: Wie schön
ist doch das Wort des Phrhnichos: Auf Purpurwcmgcn strahlt der Liebe
Glanz, Darauf erwiderte der Schulmeister aus Eretria, der auch zugegen
war: Dn verstehst dich zwar gut auf die Dichtkunst, o Sophokles, jedoch hat
Phrhnichos meiner Meinung nach nicht Recht, wenn er die Wangen des schönen
Knaben purpurfarben nennt. Denn wenn ein Maler die Wangen dieses
Knaben hier mit Purpurfarbe bestreichen würde, dann würde er wohl nicht
mehr schön erscheinen. Man darf doch das Schöne nicht durch etwas Un¬
schönes anschaulich machen wollen. Sophokles lachte über den Eretrier und
sagte: Dann hat gewiß auch das Wort des Simonides nicht deinen Beifall,
o Freund, das doch nach der Meinung der Hellenen ganz vortrefflich ist: Von
Purpurlippen tönt der Jungfrau Rede. Und auch der Dichter, fuhr er fort,
der den Apollo goldgelockt nennt, wird dir mißfallen; denn wenn ein Künstler
die Haare des Gottes golden und nicht schwarz malen würde, dann wäre das
Bild doch von geringerm Werte. Ebenso wenig wirst du dem Homer zu¬
stimmen, wenn er von der Rosenfingrigen spricht; denn wenn jemand die
Finger in Rosenfarbe tauchen wollte, dann würde er die Hände eines Purpur¬
färbers, nicht aber die eines schönen Weibes zeigen.
Die Gäste lachten lant ans, und während der Eretrier, über die Ab¬
fertigung beschämt, schwieg, richtete jener wiederum das Wort an den Knaben.
Als dieser nämlich gerade mit dem kleinen Finger ein Hälmchen ans dem
Becher entfernen wollte, fragte er ihn, ob er das Hälmchen sähe. Auf die
bejahende Antwort des Knaben fuhr er fort: Nun dann blase es fort, damit
dein Finger nicht naß wird. Während nun jener das Antlitz dem Becher
zuneigte, führte Sophokles den Becher näher an den Mund, damit sein Haupt
dem des Knaben näher käme. Sowie der Knabe ihm ganz nahe war, um¬
schlang er sein Haupt und küßte ihn. Als um alle mit lautem Lachen ihm
Beifall zujubelten, weil er den Knaben so schön angeführt habe, sagte er:
Ich übe mich, Freunde, in der Feldherrnkunst, denn Perikles hat mir gesagt,
ich verstehe mich zwar darauf zu dichten, aber nicht könne ich ein Heer führen'
Ist nur meine Kriegslist um nicht nach Wunsch gelungen? So zeigte er in
Worten und Handlungen viel Humor, wenn er trank oder scherzte. In der
Politik aber war er weder sehr klug «och thatkräftig, sondern nur so, wie anch
wohl ein andrer ehrbarer Athener,"
Alis die kunstvolle Ausmalung der kleinen Szene einzugehn ist hier nicht
am Platze; wen es interessiert, der möge die feine Analyse, die I, Bruns in
seinem Buche „Das litterarische Porträt der Griechen" Seite 51 ff, gegeben
hat, nachlesen. Nur soviel sei noch bemerkt, daß dieser Bericht eines Augen¬
zeugen für nus ein nnschützbarer Beitrag zur Charakteristik des Sophokles ist,
des Dichters, den Ion an einer andern Stelle seines Werks den einzigen
Schüler Homers nannte. Auch des Dichters Äschhlos wurde in den Epidemien
an einer Reihe von Stellen gedacht. Bei irgend einer Gelegenheit berichtete
Ion — gewiß auf Grund einer eignen Erzählung von Äschhlos — über dessen
Teilnahme all der Schlacht vou Salamis, und dem dürftigen Zitat dieser
Stelle verdauten wir die Gewißheit, daß der große Tragiker zu den Salamis-
kümpfern gehörte. Auch die oben erzählte Anekdote von dem Verkehr der
beiden Dichter bei den isthmischen Spielen ist ohne Zweifel den Epidemien
entnommen. Noch manche Angabe späterer Schriftsteller über die beiden ältern
Tragiker wird auf Ions Memoiren zurückgehn, so z. B. der bekannte Aus¬
spruch des Äschhlos, seine Dichtungen seien mir Brocken von der reichen Tafel
des Homer, vielleicht anch die Bemerkung des Aristoteles in der Poetik
(Kapitel 25), Sophokles habe gesagt, er stelle die Menschen dar, wie sie sein
müßten, Euripides aber, wie sie wirklich seien. Daß Ions Werk anch über
den dritten großen Tragiker, Euripides, Mitteilungen brachte, ist wahrscheinlich,
läßt sich jedoch nicht durch sichere Zeugnisse belegen.
Über die Feldherren und Staatsmänner der Blütezeit Athens haben Nur
keine unmittelbaren Fragmente aus den Epidemien, jedoch zeigen die Zitate
in Plutarchs Lebensbeschreibungen, daß auch sie in dem Werke keineswegs zu
kurz kamen. Mit besondrer Vorliebe verweilte Ion bei seinem Freunde und
Gesinnungsgenossen Kimon. Das nennte Kapitel von Plutarchs Kimon ist
dein Inhalte nach ganz Ions Eigentum, wenn es freilich auch die ursprüng¬
liche Frische durch die Umwandlung des Stils eingebüßt hat. Das hier von
Plutarch wiedergegebne Bild versetzt uns in ein heiteres Gelage im Hanse des
Laomedon. Kimon, der Mittelpunkt des fröhlichen Kreises, erfreut alle durch
seine geselligen Talente; er singt Lieder und erzählt, als die Rede auf seine
Thaten kommt, mit behaglicher Breite eine List, durch die er nach der Er¬
oberung von Byzanz und Schlof die Klugheit der Bundesgenossen übertrumpft
hat: bei freier Wahl hätten diese die Kostbarkeiten der Gefangnen an sich ge¬
nommen, die Athener aber hätten später für die ihnen überlassenen nackten
Personen ein Lösegeld erhalten, das den Wert jener andern Beute bei weitem
überstiegen Hütte. In andern: Zusammenhange stand wohl die kurze Charak¬
teristik, die Ion bei Plutarch Kimon 5 von dein Äußern des Feldherrn giebt:
„Es war aber auch seine äußere Erscheinung ohne Tadel, er war groß ge-
wachsen und trug dichtes, lockiges Haupthaar." Wahrend Ion, so oft sich nur
Gelegenheit bot, die liebenswürdigen Formen Kimons lobend hervorhob, tadelte
er an Perikles ein allzu hohes Selbstbewußtsein und eine gewisse Arroganz
in dein Verkehr mit audern. Nach Beendigung des samischen Krieges, so er¬
zählte er unter unteren (Perikles 28), habe sich Perikles damit gebrüstet, daß
er in neun Monaten das mächtigste Volk der Jonier bezwungen habe, währeud
Agnmemnon zehn Jahre zur Eroberung einer Barbnreustadt gebraucht habe.
Auch ein Ausspruch des Themistokles, des Siegers von Salamis, ist uns durch
Ions Memoiren überliefert worden: Gesang und Harfenspiel habe er zwar nicht
gelernt, wohl aber verstehe er eine Stadt groß und reich zu machen. Dieser
Ausspruch wurde bei dein Gastmahl des Laomedon nacherzählt, bei dem auch
Ion und Kimon zugegen waren,
An den bisher genannten Stellen wird Ion vou Plutarch ausdrücklich
als Gewährsmann zitiert; daß aber seine Memoiren außerdem uoch eiuer Reihe
vou andern Zügen und Szenen in den Lebensbeschreibungen des Kimon und
Perikles, vielleicht auch des Themistokles und Aristides zu Grunde liegen,
daß auch manche Stellen der sogenannten moralischen Schriften Plutarchs auf
sie zurückgehn, läßt sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nachweisen. Doch ist
hier nicht der Ort, näher darauf einzugehn, und deshalb möge das über den
Inhalt des Werkes Gesagte genügen. Obwohl es nnr dürftige Bruchstücke
siud, die sich mit größerer oder geringerer Sicherheit feststellen, lassen, ist doch
so viel klar, daß das Buch aus einer Reihe von Bildern und Szenen bestand,
deren Mittelpunkt jedesmal irgend eine bedeutende Persönlichkeit Athens oder
des übrigen Griechenlands war, während die Örtlichkeit der betreffenden Szene
oder die Gelegenheit, bei der sie sich ereignete, der leitende Faden der Dar¬
stellung war. „Indem Ion die Ensembles, sagt Bruns a. a. O. Seite 240,
die er einst selbst erlebt hatte, Wiederaufleben ließ, gewann er eine Grundlage,
von der aus er erklärend, nachtragend, zeitlich vorwärts und rückwärts greifend,
weiteres biographisches Detail verteilen konnte." Und auch das läßt sich be¬
sonders aus der Sophoklesszene und dem Gastmahl im Hause des Laomedon
ersehen, daß er die einzelnen Bilder mit reizvoller Armut, lebendiger Frische
und dichterischer Phantasie zeichnete, und daß er auch die Charaktere, besonders
der Personen, für die er ein lebhaftes Interesse hegte, mit seinem Psycho¬
logischen Verständnis darzustellen wußte. Wäre uns das Werk Ions erhalten
gebliebe», so würde in Hinsicht auf die Objektivität und die unbefangne Natür¬
lichkeit der Darstellung eil, Vergleich mit Goethes Reiseerinnerungen wahr¬
scheinlich nicht fern liegen, während es mit romanhaft gehaltnen, nach Effekt
haschenden Reisebildern in der Manier Heines wenigstens keine innere Ähnlich¬
keit hätte.
In den letzte» Jahren ist bekanntlich in Ägypten auf den: Gebiete der
Altertumswissenschaft eine Reihe von wichtigen Entdeckungen gemacht worden -
die Schrift des Aristoteles vom Staate der Athener, die Dichtungen des
Herondas und des Batchylides sind aus dem Schutt der Jahrhunderte wieder-
erstanden. Wir dürfen deshalb die leise Hoffnung hegen, daß auch über Ions
Epidemien, die noch in den ersten Jahrhunderten unsrer Zeitrechnung vielfach
zitiert wurden, ein ähnliches günstiges Geschick waltet, und daß über kurz oder
laug durch einen glücklichen Fund unsre Kenntnis des ältesten Memoirenwerks
noch wesentlich wird bereichert werden.
eit Walthers Wiedererweckung durch den geistesverwandten schwä¬
bischen Sänger hat die Forschung nicht geruht, über den trotz
Hugos von Trimberg rührender Mahnung jahrhundertelang fast
vergessenen Dichter immer helleres Licht zu verbreiten. Auf
Uhlands liebenswürdige Schilderung (1822), die ihren Wert be¬
haupten wird, folgte (1827) Landmanns wissenschaftliche Ausgabe der Gedichte,
die noch heute als Grundlage für jede ernste Beschäftigung mit dem Dichter
gelten muß. Den Spuren dieser Bahnbrecher folgten dann (1833) Karl Simrock
und Wilhelm Wackernagel, beides Dichter und Gelehrte, in treuem Vereine,
und ebneten durch eine Übersetzung mit Kommentar, ein Menschenalter später
Franz Pfeiffer (1864) und W. Wilmanns (1869) durch erläuternde Ausgaben
einem eindringenden Studium die Wege. Nachdem es im Jahre 1880 eine
besondre Schrift unternommen hatte, für die Fachgelehrten die umfangreiche
Litteratur über Walther aufzuzeichnen, faßte Wilmanns in einem gelehrten
und gediegnen Buche (Leben und Dichten Walthers von der Vogelweide, 1882)
die Ergebnisse der bisherigen Forschung zusammen, während A. E. Schönbach
mit seiner lebensvollern Darstellung (Walther von der Vogelweide. Ein Dichter¬
leben. 1890; 2. Aufl. 1895) zugleich der wachsenden Teilnahme des gebildeten
Publikums entgegenkam. Ein ganz hervorragendes Verdienst um die Erkenntnis
von Walthers dichterischer Entwicklung hat sich Konrad Burdach mit einem
Werk erworben, dessen erster Teil seit vorigem Jahre vorliegt: Walther von
der Vogelweide. Philologische und historische Forschungen. (Leipzig, Duncker
und Humblot, 1900.)
Dem schon 1896 in der Allgemeinen deutschen Biographie veröffentlichten
Lebensbilde, das nun in diesen Forschungen (S. 1 bis 118) allen Freunden
des Dichters zugänglich gemacht ist, hat Burdach eine Reihe glänzender Unter¬
suchungen (S. 125 bis 273) hinzugefügt, deren Mittel- und Schwerpunkt der
„wuchtige Appell an das politische Gewissen der Nation" ist: der berühmte,
schon vielbchandelte und an wissenschaftlichen Einzelproblemen reiche Spruch
loir tjürto <zin va-ner 6loi?«zii. Durch die ebenso grindlich-unffichtige und scharf¬
sinnige wie geiht- und geschmackvolle Erörterung erweist sich Burdach als einen
der berufensten Interpreten der politischen Dichtung Walthers, über dessen
Stellung in der Geschichte des altdeutschen Minnegesangs er schon vor zwanzig
Jahren in einem viel verheißenden Erstlingswerk über Walther und Reinmar
ergebnisreiche und uach verschiednen Richtungen hin anregende Studien ver¬
öffentlicht hat.
In dein Lebensbilde hat Burdach die von Lachmann begonnenen Be¬
mühungen fortgesetzt, Walthers Sprüche durch die naiven Stimmen seiner latei¬
nisch schreibenden Zeitgenossen zu erklären. Mit Recht betont er den hohe» Wert
einer unmittelbaren Kenntnis der ursprünglichen geschichtlichen Überlieferungen,
die er, mit entschiedner Ablehnung der auch auf litterarisch-östhetischein Gebiete
sich stark breitmachenden „Statistik," neben Kritik und Exegese, für die sein
Buch als Vorbild gelten darf, als die Grundlage einer „universellern Auf¬
fassung von dem Ziel und der Methode mittelalterlicher Philologie," ins¬
besondre der Waltherforschung, anerkannt wissen will. Dcirnm aber ist er bei
allem Selbstgefühl, mit dem er gelegentlich Gewinn und Gewicht seiner Studien¬
ergebnisse hervorhebt, weit entfernt zu glauben, daß er mit dieser Methode
nun wie mit einem Zauberstabe die dunkeln Gründe, in die Walthers äußeres
Leben zum Teil ja auf immer für uns versunken scheint, erschlossen und mit
einemmal in das Wirrsal der gelehrten Meinungen Licht und volle Ordnung
gebracht oder jede schwebende Frage mit überzeugender Gewißheit beantwortet
habe. Wohl aber darf er die Anerkennung beanspruchen, daß er in vielen
und wichtigen Punkten unser Wissen ganz bedeutend gefördert und seine Leser
befähigt hat, das verborgnere Weben des Zeitgeistes und das stillere Atmen
der Dichterseele zu belauschen, sodaß uns ans seiner Darstellung die Gestalt
des Dichters uach ihrer menschlichen lind ihrer künstlerischen Seite in volleren
Glänze entgegenstrahlt.
Nein subjektive Vermutungen und bloße Wahrscheinlichkeiten, deren manche
wie beglaubigte Thatsachen in populären Büchern ihr Wesen treiben, hat er gegen¬
über den sichern Ergebnissen klar und unzweideutig als auch solche hingestellt.
Wie wenig ist doch, von den bestimmten Angaben in Walthers eigner Dichtung
abgesehen, was wir als sicheres, das heißt urkundlich beglaubigtes Wissen von
seinem äußern Leben ausgeben dürfen, da ein so überraschender Fund, wie der
Zingerles im Jahre 1877, der uns die Reiserechuuugen des Bischofs Wolfger
von Ellenbrechtskirchen mit der wertvollen Notiz über Walther (der Bischof
verehrte ihm: ^llllero v-iiitori as VaZslvvöiäs, bei Zeiselmauer an der Donau
wohl zum Martinsfeste im Jahre 1203 einen Pelzroch in den Schoß warf —
dn dieser kostbare Fund leider der einzige seiner Art geblieben ist. So ist
hier natürlich auch Burdach, wie seine Vorgänger, was Walthers Geburth- und
Todesjahr betrifft (mit den allgemeinen Angaben 1160 bis 1168 und 1228 oder
wenig später müssen wir uns begnügen) und seine Heimat (Österreich?), ferner
Herkunft und Stand, über unbestimmte und schwankende Aussagen nicht hinaus¬
gekommen. Es hat ja sogar die Frage zur Diskussion gestellt werden können,
ob wir in dem Namen überhaupt einen Familiennamen und nicht vielmehr einen
fingierten, sei es von ihm selbst gewählten oder von Kunstgenüssen ihm bei¬
gelegten Dichternamen sehen müssen, was bei Fahrenden wie Spervogel,
Rumcslant (d. i, Räume das Land), Regenbogen (d, y. Rege den Bogen)
und andern unzweifelhaft anzunehmen ist. Wo die Grundlagen der Forschung
so schwankend find, da wird Wohl trotz alles von Burdach aufgewandten Scharf¬
sinns mancher Mitforscher dieser und jener seiner Lösungen schwierigerer Pro¬
bleme skeptisch gegenüberstelln, so bei der Frage nach dem Grunde seines
Abschieds aus Wien, seiner Trennung von Philipp sowie später von Otto, oder
nach der Art und dein Umfang seiner gelehrten Bildung n. a. Aus der innern
Chronologie der Gedichte kann mau wohl vieles, doch leider nicht alles, was
wir wissen mochten, erschließen, auch wenn sich, wie bei Vurdach, einem scharfen
kritischen Vermögen die Gabe feinsinniger Ausdeutung und kühner Kombination
(vgl. S, 76 über den Spruch von Tegersee) beigesellt.
So muß denn jede, auch diese trotz dem engen Nahmen so erschöpfende
Darstellung eben wegen des Mangels an authentischen Geschichtsquellen ein
Versuch bleiben. Um so mehr aber müssen wir Vurdach für so manche neue
Vermutung und eigentümliche Auffassung danken, die über unsre bisherige
Erkenntnis von Walthers Beteiligung am großen politischen Leben und über
das Verständnis seiner Dichtung hinausführt. Auch wo kein zwingender Beweis
für die Nichtigkeit dieser oder jener Behauptung hat erbracht werden können,
wird es schwer halten, seine meist einleuchtenden Ansichten durch begründetere
zu ersetzen. Denn mit dem „vollen Zusammenwirken aller einzelnen Disziplinen
der geschichtlichen Erforschung des mittelalterlichen Geisteslebens," wovon
Burdach allein die Erreichung seines Ideals einer mittelalterlichen Philologie
erwartet, hat er selbst Ernst gemacht; und dank dieser emsigen Durchforschung
und Zusnmmeufassuug der ursprünglichen geschichtlichen Urkunden, anstatt ans
modernen historischen Darstellungen, und wären es die der größten Meister,
zu fußen, hat er manche noch dunkle oder mehrdeutige Anspielung in den
Gedichten und Anspielungen auf diese Gedichte, z. B. bei Wolfram vou Eschen-
bach, aufgehellt, deren Nebel der matte Schein erzwungner Beleuchtungsversuche
bisher vergeblich zu durchdrungen suchte. Gegen Burdachs Gesamtanffnsfung
des Dichters, gegen die mit so viel Wärme vorgetragne Würdigung der sitt¬
lichen Lebensanschnuuug Walthers und seiner dichterischen Kunst wird auch
der nüchternste Forscher nichts einwenden können, der so phautasievolleu
Schilderungen, wie dem lebenswarmen Bilde von Walthers Bestich in Lübeck,
in einer streng wissenschaftlichen Untersuchung das Recht bestreiten möchte. Des
Sängers Eintritt in den Kreis König Philipps, seine Teilnahme an den bewegten
politischen und kirchlichen Kämpfen wird zum Teil geradezu mit dramatischer
Lebendigkeit geschildert und der Kern von Walthers politischer Dichtung im Vor¬
worte (S. XIII) treffend folgendermaßen bezeichnet: „Die politischen nud reli¬
giösen Gewalten, welche aus dem Zentrum Rom und aus ganz Italien im
endenden zwölften und beginnenden dreizehnten Jahrhundert gegen das deutsche
Kaisertum »ud das Deutsche Reich losstürmte» und dann doch immer wieder
Kaisertum und Reich für sich zu benutzen strebten, hat Walther empfunden und
ihnen gegenüber tapfer den deutsch-kaiserlichen Standpunkt verfochten." Und
weiterhin heißt es es.XVII): „Walthers politische Spruchdichtung ist die gro߬
artigste poetische Gestaltung des gigantischen Kampfes zwischen dem ghibellinischen
Imperialismus auf deutscher und dem päpstlichen Imperialismus auf italie¬
nischer Grundlage. Der Tod Heinrichs VI., des wahren Weltkaisers, des im¬
posantesten aller deutschen Herrscher, und das vierte Lateranische Konzil, der
Triumph der päpstlichen Universalherrschaft, der Sieg des mächtigsten aller
Päpste ^ das sind die sichtbaren weltgeschichtliche» Marksteine, innerhalb
deren Walthers Leben und Dichten seine Blüte und Reife erlangt. Wer außer
ihm hätte den Pulsschlag dieser weltbewegenden Gegensätze, dieser weltformenden
Kämpfe aufgefangen? Wie treten gegen die Geschlossenheit und Wucht,
gegen die Plastik und dramatische Bewegung seiner Sprüche selbst die genialen
Poetischen Pamphlete der Vaganten zurück! Er allein hat den größten welt¬
geschichtlichen Stoff ganz mit künstlerischer Freiheit, ganz aus dem lebendigen
Augenblick, ganz aus seiner Persönlichkeit und ganz ans seinem nationalen
Gefühl zur stärksten Wirkung auf Tausende gestaltet, die auch der italienische
Geguer fThvmasin von Zirktäre, der Verfasser des Welschen Gases j anerkennen
mußte. Welchem andern politischen Dichter der Welt ließe sich Gleiches nach¬
rühmen?" Wer so, wie Vurdach, „Walthers Poesie ans der Zeit, in der sie
entstand, lind ans die sie wirkte, aus ihrem Publikum und aus der Indivi¬
dualität des Dichters zu begreifen, den lebendigen Menschen in seiner Ganzheit,
in seinem Verhältnis zur Bildung der Nation und ihrer Führer zu schauen"
bemüht ist, das heißt, wer sich immer die volle Wirklichkeit gewärtig hält,
dem reden auch die naiven Stimmen der Zeit eine verständlichere Sprache, dem
gelten auch sie als gewichtige Zeugnisse der schriftlichen Überlieferung; sie be¬
fragen, führt oft weiter, als uus die vom zünftigen Historiker geschätzten
Quellen zu bringen vermögen. Burdach darf es als Hauptverdienst seines Buchs
in Anspruch nehmen, Walthers unmittelbare Beziehung zu den Gedanken, die
die Leiter der staufischen Reichskanzlei, der Hofkanzler Konrad von Querfurt,
Bischof von Hildesheim und Würzburg, und namentlich der Reichsministerial
Konrad von Scharfenberg mit seinen gleichgesinnten Standesgenossen vertraten,
und seine enge, dauernde Verbindung mit dein bewährtesten und überzeugtester
Führer der ghibellinischen Reichspolitik, Wvlfger von Ellenbrechtskirchen, er¬
wiesen oder doch sehr wahrscheinlich gemacht zu haben.
Was der Lektüre, die nicht sowohl die in einem wertvollen Anhange eut^
häkelten Nachträge und Berichtigungen, als der den Knäuel der verschiednen
Meinungen entwirrende Gang der Erörterung mitunter mühsam macht, einen so
fesselnden Reiz giebt, ist vor allem die an Lessings Art erinnernde Kunst der
Darstellung, die den Leser nicht selten in die Täuschung einspinnt, als nehme er
teil an der Untersuchung, als helfe er dem Forscher seine Resultate gewinnen.
Dem Verfasser wird es warm ums Herz, wenn er die bittere Not des heimatlose»
Säugers oder das leidenschaftliche Sehne» des in heißem Streite der politischen
Meinungen ringe»den Kämpfers schildert, in desse» Polnischer Dichtung wir den
idealsten, edelsten und ergreifendsten Ausdruck der deutsch-nationalen Form des
Imperialismus" sehen müssen. Das wahre Leben eines Dichters sind nach
Lessings bekanntem Ausspruche seine Gedichte; nur was von diesen zu sagen ist,
das allein kann noch jetzt einen wahren Nutzen haben. Daß Walthers Zeit, daß
die Kämpfe, die er in diesen Liedern mit der ganzen edeln Glut seines treuen
deutschen Herzens ausgefochten hat, für uns uoch nicht vergangen sind, daß sie
vielmehr ein Teil unsrer Gegenwart sind und darum Anspruch darauf haben,
von allen Gebildeten unsers Volks gekannt zu werden, das ist der tieferuste Ein¬
druck, den Vnrdachs Buch im Leser hinterlassen muß. Da erscheint es einem
wie eine trübe Färbung durch ein fremdartiges Element, wenn der so geschichts-
kuudige Betrachter die Gefahr der damals wie heute noch unsrer deutscheu
Bildung und nationalen Selbständigkeit feindseligen römischen Weltanschauung
unterschützt und Walthers Angriffe gegen Rom aus der Reizbarkeit des Dichters
oder aus nationalem Übereifer abzuleiten geneigt ist, statt darin die Stimme
des unbestechlichen Wahrheitspredigers mit dem hellen Seherblick des Dichters
zu erkennen, wenn er von Walthers vernichtender Sprache und den wuchtigen
Sprüchen gegen das schamlose Treiben der Kurie nud der verrömerten Geist¬
lichkeit als einer Übertreibung und Maßlosigkeit redet. Dieser modischen Kon-
nivenz so mancher heutigen Gelehrten, die sich wohl gar als unparteiische
Geschichtsbetrachtung ausgiebt, in Wahrheit aber uur ein Kennzeichen kirchlich-
religiöser Gleichgiltigkeit ist, scheint doch die kurz darauf folgende Ausführung
Burdachs zu widerspreche,?, wo er vou deu die schwersten Gebrechen der Kirche
geißelnden Sprüchen mit echtem Pathos rühmt, daß man in ihnen die dröh¬
nenden, zermalmenden Schwertschläge Luthers zu vernehmen wähne, und zu¬
gesteht, man werde uoch heute „von der Macht und Ehrlichkeit dieser innerste»
Entrüstung tief ergriffen; , , , die Liebe zur Wahrheit, welche den Streitschriften
des Wittenberger Mönchs wie denen Lessings die wuchtigen Accente, die hin¬
reißende Überzeugungskraft gab, sie steht auch hinter diesen Sprüchen Walthers
mit flammendem Schwerte. Er mochte im einzelnen Unrecht haben mit seiner
Verdächtigung und Verurteilung bestimmter Maßnahmen des Papstes: im
ganzen, in der allgemeinen Auflehnung gegen die im Innersten frevelhafte
Politik der Kurie hatte er unbedingt Recht, sprach er im Namen des heiligen
Geistes der Menschheit."
Möge das bedeutende Buch, das in einem noch weiter» Sinne, als Burdach
es meint, „die Schranken der Zunft überschreitet," einen recht großen Kreis
von Lesern auch unter deu ungelehrten Freunden des Dichters gewinnen und
dieselbe Glut uneigennütziger Vaterlandsliebe entzünden, die einst die begeisternden
Lieder des Sängers in den Gemütern von Tausenden für die Ehre und Größe
des Vaterlands, für Kaiser und Reich entfacht haben.
ancratius hatte die Beobachtung gemacht, daß auf allen vier Seite»
der Burg, allerdings in ziemlich großer Entfernung von dieser, all¬
nächtlich je ein Wachtposten stand, dessen Aufgabe es war, jeden ver¬
dächtigen Vorgang im Innern des Gebäudes dem Offizier zu melden.
Trat Regen ein, was in den letzten Tagen und Nächten häufig der
Fall gewesen war. so stellten sich die Wachen an Orte, die ihnen gegen
die kalte Feuchtigkeit der Herbstnacht Schutz gewahrten. Diese Orte waren räumlich
ziemlich beschränkt, sodnß die Soldaten immer dieselbe Stellung einnehmen mußten,
wenn sie sich gegen den Regen sichern und dabei die ihnen zugekehrte Seite des
Burghnuses im Auge behalten wollten. Hierauf baute der listenreiche Geistliche
einen neuen Plan. Er befestigte vor Eintritt der Dämmerung an einem Fenster
jeder Seite ein geladnes Pistol, an dessen Zündpfmmc er ein Stück Lunte ange¬
bracht hatte. Da die Lunten bei allen Vieren nahezu gleiche Länge hatten, oder,
genauer gesagt, sich in einer bestimmten Reihenfolge abstuften, so mußten, wenn
diese Reihenfolge beim Anzünden der Lunten innegehalten wurde, alle vier Schüsse
zu gleicher Zeit losgehn. Panerntins richtete die Pistolen sorgfältig ans die vier
Stellungen der Wachtposten und sicherte ihre Lage noch besonders dnrch unterge¬
schobne Stuhllehnen. Von dieser Vorrichtung versprach er sich die beste Wirkung,
weniger freilich in mörderischer als in schreckenerregender Hinsicht, dn er den Pistolen
allein kaum zutrauen mochte, was ihm selber nicht gelang, nämlich einen Feind zur
Strecke zu bringen. Er konnte kann, die Nacht erwarten. Endlich glaubte er den
günstigen Augenblick gekommen, eilte von Pistol zu Pistol und zündete die Lunten
um. Bei der letzte» blieb er stehn, beobachtete mit der Uhr in der Hand, wieviel
Zeit die Hälfte der Zündschnur zum Verglimmen brauchte, eilte auf den Korridor,
wartete den Augenblick ab, der dem Fenerfangen des Pulvers vorausging, blies
auf einem Jagdhorne das Signal zum Angriff und rief mit donnernder Stimme:
„Gebt Feuer!"
Alles blieb still. Der Kommandant wiederholte den Befehl. Umsonst! Tiefes
Schweigen im ganzen Hanse. Nur das Schwein unter der Treppe stöhnte im
Schlafe, wie von bangen Träumen geängstigt. Empört über die Insubordination
seiner Truppen rannte Panerntins zu den Pistolen. Die Lunten waren bis zur
Pfanne verkohlt und längst erloschen, aber die Zündung hatte überall versagt. Als
er der Ursache dieses Mißerfolgs auf den Grund ging, erkannte er, daß es ihm
wie schon so manchem großen Feldherrn vor und nach ihm ergangen war: der
Sprühregen oder vielleicht auch mir die feuchte Luft hatte das Pulver auf den
Pfannen in einen feinen Brei verwandelt! Er nahm sich vor, den Versuch ein
andermal unter günstigern Witterungsverhältnissen zu wiederholen.
Da die. Gallier auch am nächsten Tage nichts ernstliches gegen die Burg unter¬
nahmen, schöpfte Panerntins Verdacht, der Feind möchte gesonnen fein, ihn aus¬
zuhungern. War dies wirklich der Fall, so hatte unser Freund sich auf eine Wochen-,
vielleicht sogar monatelange Belagerung gefaßt zu machen. Mit einer solchen Ent-
wicklung der Dinge war ihm freilich nicht gedient. Ihm war es um mannhaften
Kampf, nicht um geduldiges Leiden zu thun. Er überlegte, ob er wohl einen Ausfall
wagen dürfe, sagte sich aber schließlich selbst, daß er bei einem solchen Wagnis nicht
nur das eigne Leben, sondern auch das Besitztum seines Herrn zwecklos auf das
Spiel setzen würde.
An Vorräten zum Teil sehr appetitlicher Natur fehlte es Pancratius, wie wir
wissen, nicht. Es galt uun, hiervon auch die Belagerer zu überzeugen. Er durfte
seine Würste und Schinken, sein Sauerkraut und seine Stockfische nicht unter den
Scheffel stellen. Ani dem Feinde einen Begriff von seinen kulinarischen Schätzen
zu geben, beschloß er eine große Ausstellung der schönsten Piecen der Vorratskammer
zu veranstalten. Zu diesem Zwecke zog er von einem Mansardenfenster zum andern
einen starken Strick, spannte ihn so straff wie möglich und behängte ihn mit den
auserlesensten Stücken. In lieblicher Abwechslung prangten, durch Fleischhaken um
Stricke befestigt, Speckseiten, Würste und Schinken ans der dunkeln Hnuswand, ver¬
goldet vom Scheine der Abendsonne, die, gleichsam als wollte auch sie sich an diesen
Meisterwerken der schöpferischen Nntnr erfreuen, kurz vor ihrem Untergange aus
den Wolken brach.
Kurz vor ihrem Untergange! Während wir diese vier Worte niederschreiben,
überfällt uus eine bange Ahnung. Hat die Muse, deren Inspiration wir unsre
Feder leihn, mich wirklich mir den Untergang der Sonne gemeint? Onon non
ireeixiinus!
Die Nacht verfloß still und ereignislos. Pnneratius blieb ans seinem Posten
und schlief erst gegen Morgen ein. Da! Was war das? Aus dem Hofe schallten
plötzlich Gewehrsälven. Gingen die Belagerer zum Sturm über? War ihnen eine
Entsatzarmee in den Rücken gefallen? Unser Freund griff zur Entenflinte und
stürzte halb schlaftrunken ans Fenster. Er sah wohl zehn Gewehrmündungcn nach
oben gerichtet. Griffen die Götter selbst in den Kampf ein? Waren Retter in
einer Montgölfiere erschienen? Glaubten die Gallier, durch irgend eine Sinnes-
täuschung verwirrt, auf dem Dache der Burg Verteidiger zu sehen? Ju diesem
Augenblick krachte eine neue Salve, und vom Triumphgeschrei der Barbaren be¬
grüßt prasselte ein ganzer Regen von Schinken, Würsten und Speckseiten in den Hof
hinab. Jetzt wurde dem Belagerten verständlich, welchem Ziele die Salven ge¬
golten hatten. Die tückische« Gegner hatten den Strick durchschossen, der Pancratius
köstlichsten Besitz getragen hatte! Nun mußte er zusehen, wie beutegierige Vandalen
sich um all die schönen Dinge balgten, mit denen er sein Dasein noch wvchen-
uud monatelang zu fristen gehofft hatte. Was sind Vorsätze, was sind Entwürfe!
Ohne an seine eigne Sicherheit zu denken, die in dieser Minute freilich auch
weniger gefährdet war als je, blieb unser Freund am Fenster stehn und schaute
auf das Gewirr raffender Hände hinab. In diesem Gewirr waren zwei zu kurz
gekommen, und diese zwei gehörten dem Friedensengel. Eine Leberwurst, die er
nach heißem Ringen glücklich erhascht hatte, wurde ihm mit brutaler Gewalt buch¬
stäblich vor dem Munde weggerissen. Ohne Püffe ging es ohnehin nicht ab, und
so stand der arme Flachskopf, seines Raubes beraubt, mitten im Hofe und schaute
wehmütig zu der Höhe empor, aus der ein so reicher Segen auf Gerechte und Un¬
gerechte herabgekommen war. Pancratius, in dessen Riesenkörper das Gemüt eines
Kindes wohnte, und der sein gutes Herz auch in dieser kriegerischen Zeit nicht ver¬
leugnete, empfand mit der Jammergestalt dort unten aufrichtiges Mitleid. Dieser
Man, den das Schicksal ausersehen hatte, auf jene historische Frage in der Sprache
Latinas die historische Antwort zu geben, er sollte darben, während das genieine
Kriegsvolk im Überflusse schwelgte! Das durfte uicht geschehn. Gab es im Himmel
keine Gerechtigkeit mehr, er, Pancratius Sackmann aus Denn wußte, was er zu
thun hatte! Er eilte in die Vorratskammer, wählte ans dem, was ihm geblieben
war, den größten Schwartemcigen aus, kehrte zum Fenster zurück und warf ihn
dem freudig Erschrocknen vor die Füße. Dieser raffte ihn auf, suchte und fand den
Spender der edel>c Gabe und dankte, indem er unter zahlreichen Verbeugungen die
Jakobinermütze vom Kopfe riß. Dann holte er ein Messer hervor, schnitt sich ein
tüchtiges Stück des Schwnrtemagens ab und verspeiste es stehenden Fußes, wohl
vou dem Gedanken geleitet, daß ihm das, was er seinem eignen Magen einverleibt
habe, weder Feind noch Freund rauben könne.
Und wie jede That, sei sie nun gut oder böse, unvorhergesehene Folgen
zeitigt, so geschah es auch hier. Es war, als habe Paucrntins dem armen Männlein
statt des Schwartcmagens sein eignes Herz zugeworfen. Jedenfalls war etwas
Wunderbares geschehn, denn von diesem Augenblick an besaß Rom mitten im
Lager der Gallier einen geheimen aber desto treuem Bundesgenossen. O Schicksal,
wie klein sind die Mittel, deren du dich zu deinen größten Werken bedienst!
Der Kommandant der Schweppenbnrg glaubte die Schlappe, die ihm der Feind
durch Wegnahme seiner schweinernen Guirlande beigebracht hatte, auf irgend eine
Weise wieder gutmachen zu müssen. Die Belagerer sollten merken, daß im Kastell noch
immer Überfluß herrsche. Aber wie konnte Pnneratius ihnen dies beibringen, ohne
den Rest seiner Vorräte zu gefährden? Auch hier wußte Odysseus in der Soutane
Rat. Der traute Genosse seiner Einsamkeit, das wohlgenährte Sorgenkind der
guten Slina mußte einspringen. Nicht sein Leben, nur seine Ruhe sollte es dem
Wohle des Vaterlands opfern. Und dieses Opfer war für ein Tier von so phleg¬
matischem Temperament wahrlich groß genug. Wie alle Schweine so hatte auch
das der Schweppenbnrg seine Eigenheiten. Es war sogar ein charaktervolles
Schwein, kein Herdentier wie so viele seinesgleichen, sondern eine Schweincindivi-
dualitöt. Es gab sich keinen tiefsinnigen Betrachtungen hiu, die nnr störend auf
die Verdauung wirken, es beschäftigte sich anch nicht damit, den Zweck seines Daseins
zu ergründen, es kannte nur die eine Aufgabe- sich auszuleben. Unter diesem
Sichausleben verstand es zwei Beschäftigungen! schlafen und fressen. Es hatte von
dem goldnen Worte mens sann, in oorxorv s-no wahrscheinlich noch nie etwas ge¬
hört, aber es beherzigte dieses Wort instinktiv, im Gegensatze zu vielen Menschen,
die es im Munde führen und dennoch uns ihre Gesundheit loswüten. Und weil
seine Seele gesund war. so durfte es sich auch rühmen, frei von Leidenschaften zu
sein. Der Zorn, der so manchen Edeln schon zu Falle gebracht hat, war ihm
fremd. Es wollte mit sich und der Welt in Frieden leben. Und das war ihm
bis zu dieser Stunde geglückt. Nun aber kam ein Mensch, deu es nie beleidigt
hatte, knüpfte ihm einen Strick an den linken Hinterfuß und riß es mit übermensch¬
licher Kraft von seiner weichen Lagerstatt empor. Im süßesten Verdannngsschlnmmer
gestört taumelte es rückwärts; Schreck und Schmerz malten sich in seinen Zügen.
Und es that, was jeder andre in seiner Lage auch gethan haben würde: es stieß
einen lauggezognen Schrei ans, keinen Schrei des Zornes, sondern einen Schrei
des Schmerzes und des getäuschten Vertrauens, einen Schrei, der vom Herzen kam
und zum Herzen ging. Aber Menschenherzen sind erbarmungslos, und so riß der
Mann denn fort und fort, ob sich das Tier auch dagegen anstemmen mochte, so
sehr es konnte. Was blieb ihm da übrig als weiter zu schreien? Und so schrie
es wohl zehn Minuten laug zum Wohle des Vaterlands. Deal unten im Back¬
hanse saß der Feind und lauschte auf die Jammertöne und ließ alle Hoffnung fahren,
eine Burg auszuhungern, deren Besatzung seiner Überzeugung nach soeben noch ein
Schwein geschlachtet hatte.
Wäre der Krieg nichts weiter als ein Kampf der Leiber gegen Leiber, der
rohen Gewalt gegen rohe Gewalt, so wäre er das verächtlichste aller Dinge. Aber
in unsern Zeiten ist er zugleich ein Wettstreit der Geister, ein Kampf des Scharf¬
sinns gegen Scharfsinn, der List gegen List. Und das ist es, was den Krieg adelt.
Wir müssen bei aller Teilnahme, die wir Pancratius Sackmaun zollen, gerecht
sein und zugestehn, daß auch die Franzosen die Waffe des Scharfsinns zu führen
vermochten. In der nächsten Nacht — es war die nebligste des ganzen Herbstes —
vernahm unser Freund am „Portale" wieder das wohlbekannte unheimliche Geräusch,
Kein Zweifel: der Hebel war wieder in voller Thätigkeit! Als er die erste Basalt¬
ladung hinabgesandt hatte, horte das Knarren und Ächzen des Hebels ans. Statt
dessen dröhnte ein Stoß gegen die Thür, daß die Burg in ihren Grundfesten er¬
bebte. Der Feind schien eingesehen zu haben, daß er mit dem Hebel nicht zum
Ziele komme, und um auf das einfachere Mittel des Zcrtrümmerns der Thür durch
Kolbenstöße oder Axthicbe zurückzugreifen. Desto besser für Pancratius! Je mehr
sich die Gallier dem „Portale" näherten, desto mehr setzten sie sich dem Stein¬
hagel aus, den er unermüdlich auf sie herabsandte, Und wie er aus dem furcht¬
baren Jammergeschrei, das jedem Wurfe folgte, merken konnte, mit höchst erfreu¬
lichem Resultate! Die Mehrzahl der Feinde mußte schon tot oder kampfunfähig
sein, aber dennoch gaben die übrigen die Ausführung ihrer Absicht uicht auf. Im
Gegenteil: Wut und Rachedurst schien sie zu immer größern Anstrengungen anzu-
spornen! Stoß auf Stoß krachte gegen die Thür, Steinladung ans Steinladuug
sauste hinab, Wehegeschrei ans Wehegeschrei schallte zu den Ohren des fieberhaft
thätigen Verteidigers empcir. Er fühlte nichts von der Last der Steine, es war,
als ob Herkules Saxanus seinen Arm stärke. Die Munition schmolz von Minute
zu Minute zusammen. Er achtete dessen nicht. Der letzte Stein mußte ja auch
den letzten Gallier treffen. Hinunter damit!
Der Stein fiel, aber die Stöße gegen die Thür, obgleich erheblich schwächer
als zu Anfang, hörten nicht auf. Also mußten noch einige der Barbaren am Leben
sein. Pancratius fühlte, daß die Stunde der Entscheidung nahe. Er sah sich nach
neuen Wurfgeschossen um. Was im Bereiche seiner Hände war, sauste in die Tiefe.
Tische und Stühle, Kannen und Krüge, Lampen und Leuchter, sogar die Stutzuhr
und eine eiserne Kasette nahmen denselben Weg. Wie ein Ertrinkender nach
schwimmenden Planken, so sah sich unser Freund nach Werfbarem um. Aus nlleu
Zimmern schleppte er seine Geschosse herbei. Die Küche bot uoch die reichste Aus¬
beute. Töpfe und Tiegel, Kasserolen und Bratpfannen schmetterte er hinab. Teller
flogen gleich dutzendweise. Und alles, alles schien zu treffen, kein Wurf seineu
Mann zu verfehlen. Wäre Pancratius bei kühler Besinnung gewesen, er hätte
sicherlich gemerkt, daß zum mindesten zwanzigmal mehr Feinde erschlagen sein
mußten, als überhaupt vorhanden gewesen waren. Aber er war leider nicht mehr
bei kühler Besinnung. Zum dritten und vierten, male raunte er von Zimmer zu
Zimmer. Da stieß er auf den Svrgenstnhl, den er in der Aufregung bis jetzt
übersehen hatte. Er faßte ihn mit nervigen Armen und trug ihn zum Fenster.
Aber — o Schreck! — für die schmale Öffnung war das Möbel viel zu groß!
Dies raubte dem Verzweifelnden den letzten Nest der Fassung. Und als in diesem
Augenblick ein neuer furchtbarer Stoß gegen die Thür dröhnte, verlor er so voll¬
ständig den Kopf, daß er in seiue Schlafkammer eilte und mit Federbetten und
Kissen schwer bepackt zurückkehrte. Kaum hatte er diese hinausgeschleudert, so kam
ihm auch schon das Zwecklose, ja Lächerliche seines Thuns zum Bewußtsein. Doch
was war das? Auch jetzt gellte wieder ein Schmerzensschrei aus der Tiefe empor.
Sollten wirklich Federbetten eine so tödliche Wirkung ausüben?
Er konnte sich nicht enthalten, sich aus dem Fenster zu beugen und, so weit
es der herandämmernde Morgen erlaubte, hinabzuschaun. Was er zunächst sah,
war ein Chaos von Pflastersteinen und mehr oder minder nützlichen Gegenständen,
in weitem Umkreise um das „Portal" verstreut und stellenweise zu förmlichen Hügeln
aufgeschichtet. Was er sodann bemerkte, war ein Gerüst aus zwei Paar kreuzweise
verbundnen Stangen, die einen Querbalken trugen. An diesem Querbalken hing,
von starken Stricken gehalten, ein langer Baumstamm, von dessen hinterm Ende eine
Anzahl Seile ausgingen und sich in dem Nebel verloren. Aber weit und breit
kein starrer Leichnam, kein wimmernder Verwundeter!-
Jetzt setzte sich der Baumstamm, von unsichtbaren Händen gezogen, in Be
weguug, wich langsam zurück und prallte, plötzlich losgelassen, wuchtig gegen die
Thür. Pancratius traute seinen Angen nicht. Das war eine antike Belngeruugs-
maschine, der echte »lies der Cäsarianischen Legionen!
Und der antiquarische Anteil, den unser Freund an der Vorrichtung nahm,
gab ihm seine Fassung zurück. Er erkannte, daß er besiegt worden sei, nicht dnrch
die brutale Gewalt barbarischer Horden, sondern dnrch die überlegne Kriegskunst
rönnscher Feldherren. Und er verstand plötzlich das große Wort, Rom könne nur
durch Rom zu Falle gebracht werden.
Was blieb ihm jetzt noch übrig, als mit antiker Gelassenheit dein unabwend¬
baren Schicksal entgegen zu sehen? Er wollte wenigstens mit Würde sterben.
Während die Thür unter den Stößen der Belagernngsmaschine zersplitterte, und
durch die Bresche das Triumphgeschrei der Barbaren ins Hans scholl, trug
Pancratius seineu Sorgenstuhl in die Bibliothek, stellte ihn an die Seite des Altars,
^setzte das fehlende Bein dnrch zehn Bünde des Livius und ließ sich ans dem
Sitze nieder. Unbeweglich, wie ein Bild ans Marmor, saß der besiegte Held da,
keine Wimper zuckte, keine Miene regte sich. So hatte» einst die römischen Sena¬
toren ans ihren kurulischen Stühlen die Ankunft der Gallier erwartet. Das Auge
mit verklärtem Glänze auf deu Altar des Mars Militaris, des Herkules Snxnnus
und des Genius des Ortes gerichtet, lauschte der große Mann auf deu Lärm, der
immer naher kam. Er vernahm, wie die Eindringlinge plündernd von Zimmer zu
Zimmer polterten, wie sie Truhen erbrachen mit Schränke umstürzten. Die Minuten
schienen dem Harrenden zu Stunden zu werden. Endlich, endlich wurde die Thür
aufgerissen; unser Freund holte noch einmal tief Atem, schloß die Augen und er¬
wartete deu Todesstreich.P
Menschen, die dnrch irgend einen unglücklichen Zufall bis hart vor die Thore
des Schattenreichs befördert, dann aber den Armen des Todes glücklich entrissen
worden sind, erzählen, daß, kurz bevor sie das Bewußtsein verloren, ihr ganzes
Leben blitzschnell an ihrem Geiste vorübergezogen sei. Ähnlich erging es auch unserm
Freunde, der ans seine», kurulischen Stuhle sitzend bei vortrefflicher Gesundheit und
ganz leidlichem Allgemeinbefinden von der kalten Hand des Todes berührt zu
werden erwartete. Er sah sich wieder in der heimatlichen Dorfschule, einen jungen
Riesen unter Pygmäen, die seine Gutmütigkeit benutzten, ihn von früh bis spät zu
necken, bis es ihm einmal plötzlich zu toll wurde, und er den ärgsten seiner Peiniger,
ein winziges flachsblondes Büblein. am Krage» faßte und aus dem Fenster des
alten Renthauses, in dem die Schule untergebracht war, mit steifem Arme hinnus-
hielt. Und er sah, wie das Büblein über dem Abgrunde baumelnd die Augen
schloß, und wie ein Zittern den dürftige» Körper durchlief, und wie er selbst dann,
von Mitleid mit dem armen Sünder übermannt, den Ohnmächtigen ins Zimmer
zurückzog und ihm, nachdem er ihn durch Schütteln und Reiben wieder zum Dasei»
erweckt hatte, als E»tschädig»»g für die ausgestandne Angst die schöusten Birne»
ans dem Pastoratsgnrten zu stehlen versprach.
Von diesem Augenblick an waren der Riese und der Zwerg unzertrennliche
Gefährte», bis das Leben sie auseinanderriß. Ob der Kleine wohl »och lebte?
Diese Frage erschien unsern. Freunde jetzt, wo er sich selbst zum Sterben bereitete,
mit einemmal außerordentlich wichtig. Jahrzehntelang hatte er des Spielgefährten
nicht gedacht, und in diesen, Augenblick mußte sich das gebrechliche Männlein zwischen
ihn und den Tod drängen!
So aufgeregt war die Phantasie des geistlichen Herrn noch nie gewesen! Er
glaubte sogar die Stimme des Schulkameraden zu vernehmen. Nein — das war
mehr als das Truggebilde eines überreizten Hirns, das war höllischer Sy»t-
Paneratius schlug die Augen auf und sah das flachsblonde Männlein in leibhaftiger
Gestalt vor sich stehn.
Und dus Männlein schob die Brille auf die Stirn, breitete beide Arme aus
und eilte unbekümmert um die Donnerrohre, die ihm bei dieser gewaltsamen Be¬
wegung ans dem Gürtel glitten und auf die Dielen polterten, mit dem Rufe:
Pnncrntius — du bist es wirklich! O, meine Ahnung! auf den Todeskandidaten
zu, legte ihm die Hände auf die Schultern und schaute dem Sprachlosen lange mit
weit aufgerissenen Augen ins Gesicht.
Der große Maun im Sorgenstuhle erwiderte den prüfenden Blick und bemerkte,
bei dieser Gelegenheit, daß in dem flachsblonden Haar des Zwergs schon mancher
Silberfaden schimmerte, und daß sich die Falten und Fältchen des von jeher welken
Antlitzes um manche tiefe Furche vermehrt hatten. Es war der Gefährte seiner
Jugend und wars doch wieder nicht. Das beruhigte ihn. Denn, so sagte er sich,
hätte der Teufel ihn in dieser Gestalt berücken wollen, so würde er die Maske des
Knaben gewählt haben, die ihm, Pamratius, wohlbekannt war, nicht aber das halb-
verblichue .Konterfei des Freundes, das jetzt vor ihm stand, und worin er den längst
Vergessenen wohl schwerlich wiedererkannt hätte, wenn dieser nicht zufällig gerade
vorher vor seiner Erinnerung aufgetaucht wäre.
Du bist es, Mnrtincheu Mertens? Und noch dazu im Lager der Gallier?
Der königsmvrderischen Barbaren? fragte er mit einem Tone, worin zugleich zärt¬
liche Rührung und maßlose Verachtung lag.
Martinchcn schien nur das letzte herauszuhören.
Ich schwöre dir, Pnncrntius, ich bin am Tode des Bürgers Capet unschuldig.
Ich lechze nicht nach Blut. Ich trage diese Waffen da — er stieß mit der Spitze
seines Stiefels geringschätzig gegen die Pistolen — nicht einmal freiwillig. Man
hat mich gezwungen, anzugehn, weil man sich meiner Kenntnisse bedienen wollte.
Es hätte dieser Versicherungen nicht bedurft. Martinchen sah wirklich nicht
ans, als ob er das Bedürfnis habe, in Fürstenblut zu baden.
Weil man sich deiner Kenntnisse bedienen wollte? Der Niese sprach diese
Worte mit einem ungläubigen Lächeln. Bist du denn nicht Bauer geworden, wie
dein Vater?
Der Zwerg sah an seiner Gestalt hinunter und streifte die Ärmel des braunen
Rockes empor, daß die dürren Arme sichtbar wurden.
Hätte ich mit diesen Armen den Pflug führen können? Nein, Pancratius, das
glaubst du selbst nicht. Ich sollte Schneider werden, aber dagegen sträubte sich
mein Gefühl. Dazu war mir auch mein Kopf zu gut. Du mußt nämlich wissen,
Pancratius: der Kopf ist dus beste an mir. Mit einem solchen Kopf kann mau
ein großer Mann werden. Wir Dauner haben der Welt ein Geschlecht von Feld¬
herren gegeben. Gut. Das ist etwas für Kriegszeiten. Ich sagte mir: Sollen die
Dauner in Friedenszeiten müßig sein? Haben wir nicht vor allen andern die Ver¬
pflichtung, um Werke friedlicher Kultur mitzuarbeiten? Und weil ich wußte, daß
gerade ich hierzu berufen war, wurde ich Gelehrter.
Du — Gelehrter?
Schulmeister in Neumngeu an der Mosel. Aber kein gewöhnlicher Batel-
schwinger, sondern einer, der seinen Livina >->.eine> liest und der Präzeptvr bei den
Söhnen des Grafen von der Lehen geworden sein würde, wenn die Franzosen
nicht ins Land gekommen wären. Meine Kenntnisse haben mich ius Unglück ge¬
bracht. Ich ließ mich verleiten, den General Lefebvre bei seinem Einzuge in Neu¬
magen mit einer Ode in snpphischen Strophen zu begrüßen. Er ließ mich am
andern Tage in sein Quartier rufen und erklärte mir, eil, Manu wie ich sei ver¬
pflichtet, der gerechten Sache zu dienen. Ja, siehst du, PnncratiuS, das thue ich
nur, aber, unter uns gesagt, ein Vergnügen ist dus gerade nicht.
Und wie dienst du dem, wils ihr gerechte Snche nennt?
Als Dolmetsch. Sieh mich nicht so zweifelnd um, Pnneratins! Ich diene wirklich
der gerechten Snche, freilich in unteren Sinne, mis Lefebvre es meint. Ich suche
zwischen Frankreich und Deutschland zu verniitteln. Und ich darf wohl behaupten,
daß ich manches Mißverständnis aufgeklärt und manches Schlimme verhindert habe.
Es würde mehr Blut zum Himmel schreien, wenn ich mit meinen Kenntnissen nicht
jederzeit für die Gerechtigkeit eingetreten wäre. Lefebvre, in dem ich einen Gönner,
ja ich darf wohl sagen: einen Freund verehre, ist übrigens kein Unmensch. Er
haßt alles nutzlose Blutvergießen und schätzt die Segnungen der Kultur. Er hat
mir sogar versprochen, meine Ode zu lesen, sobald wir erst wieder Frieden haben
werden.
Pancratius folgte den Worten seines Jugendfreundes nur mit halbem Ohr.
So sehr ihn das Wiedersehen freute, so sehr ernüchterte ihn der Gedanke, daß die
historische Antwort ans die historische Frage nnn eine so einfache und höchst pro¬
saische Erklärung gefunden hatte. Er begnuu ernstlich an seiner großen Mission
zu zweifeln. Ihm war, als habe ihn das Schicksal gründlich zum Narren gehabt.
Der Flachskopf zog sein Messer hervor und trennte die Schnur ub, mit der
das Polster des Sorgenstuhls eingefaßt war.
Und nun, lieber Pancratius, sagte er mit großer Gemütsruhe, hast du wohl
die Freundlichkeit, dich fesseln zu lassen. Dn bist mein Gefangner. Sei vernünftig
und leiste keinen Widerstand. Sieh, Leutnant Saline-Lcunbert hat geschworen, dich
füsilieren zu lassen, falls du dich auch nur im geringsten widersetzen solltest. Und
damit kann dir doch nicht gedient sein. Nehme ich dich gefangen, so kann ich meinen
Einfluß bei Lefebvre zu deinen Gunsten geltend machen. Und dann, Pancratius,
wäre die Sache auch für mich von großem Nutzen. Eine solche That würde Auf¬
sehen erregen. Man würde mich zum Hauptquartier versetzen. Und dann, das
kannst du mir glauben, würde der Krieg bald beendet sei». Ich würde eine friedliche
Auseinandersetzung zwischen Frankreich und den Verbündeten anbahnen.
Und während er das alles sagte, sah das arme Männchen den Niesen so
bittend an, daß dieser ihm ruhig seiue Hände zur Fesselung darbot. Es war ein
Anblick für Götter, als der gewaltige Mann, von einem Zwerge an einer Polster-
schnnr geführt, die Treppe hinabstieg. Drunten auf dem Vorsaale stieß das selt¬
same Paar auf den Leutnant. Dieser prallte zurück, als Pancratius in seiner ganzen
Größe vor ihm stand. Für so groß hätte er den Gegner nie gehalten. Der
Vorsicht halber rief er zwei der stärksten Soldaten herbei und hieß sie den Ge¬
fesselten ins Backhaus führen. Aber Martinchen protestierte hiergegen ans das ent¬
schiedenste.
Dieser Mann ist mein Gefangner, Bürger Saint-Lambert, sagte er, ich habe
mich seiner bemächtigt, ich werde ihn auch zu bewachen wissen.
Und während Pancratius dem Backhanse zuschritt, wandte sich der Kleine
hinter dem Rücken des Gefangnen um und machte dein Offizier bedeutsame Zeichen,
unter deuen ein mehrmaliges Betupfen der Stirn das verständlichste war. Saint-
Lambert nickte und gab den Soldaten den Befehl, sich von außen vor die Thür
des Bankhauses zu stellen und den Verrückte» scharf zu bewachen. Zugleich sandte
er einen Boten nach Andernach, um sich von seinem Vorgesetzten Instruktion zu
erbitten, wie in diesem speziellen Falle mit dem Gefangnen zu Verfahren sei.
(Schlich folgt)
Nach mehr als vier Wochen, erst in
der Nummer vom 28. Mai, haben die Hamburger Nachrichten eine Erwiderung
auf unsern Artikel über die englische Politik des Fürsten Bismarck wen 25. April
gebracht. Wohl mit Recht folgert daraus die Vossische Zeitung, daß diese Äuße¬
rung aus Friedrichsruh, vom Fürsten Herbert Bismarck stamme, und die ganz be¬
sondre Scharfe, mit der sich der Verfasser gegen einige Nachrichten der Tagebuch¬
blätter von Moritz Busch über die Londoner Sendung Graf Herberts 1885 wendet,
von der sonst niemand etwas näheres wissen kann, bestätigen diese naheliegende
Vermutung. Wir konstatieren mit um so größeren Vergnügen, daß der Artikel
außer dieser „Berichtigung" gegen den unsrigen sachlich nichts, anch gar nichts
vorzubringen weiß, daß er vielmehr seine Ausführungen über die fortdauernden
Bemühungen des großen Kanzlers, mit England in gutem Einvernehmen zu bleiben,
lediglich bestätigt, ganz natürlich, denn unsre Quelle« waren die Äußerungen Bis-
marcks selbst. Entschiedne Verwahrung aber müssen wir dagegen jetzt wie früher
einlegen, daß die Grenzboten, wie die Hamburger Nachrichten mehrmals andeuten,
„offiziös" seien und also „in blindem Eifer" vorgingen und „grobe Geschichts-
fälschnngen" wagten. Inwieweit diese beiden Eigentümlichkeiten mit dem Offiziosentum
verbunden siud, wissen die Hamburger Nachrichten jedenfalls am besten. Und wie
sonderbar nimmt sich der Vorwurf im Munde der modernsten geschwornen An¬
hänger Bismnrcks aus, der doch wahrhaftig die offiziöse Presse zu handhaben
wußte wie kein zweiter! Nun, die Grenzboten sind weder offiziös, noch halten
sie jeden Ofsizivsus von vornherein für einen Schwachkopf, Geschichtsfälscher, blinden
Eiferer u. tgi. mehr; sie sind vielmehr der Ansicht, daß die Regierung das Recht
und die Pflicht, ihren Standpunkt in der Presse zu vertreten, mindestens ebenso
gut habe, wie Parteihäuptlinge oder Staatsmänner a. D., und sie rechnen es sich
zur Ehre an, die Regierung gegen deren Angriffe zu unterstützen und zu ver¬
treten, wo sie es nach ihrer Kenntnis der Dinge für notwendig und gerechtfertigt
halten, freiwillig, unabhängig, freimütig. Ihr selbständiges Urteil lassen sie sich
durch niemand beschränken, und sie meinen, daß Fürst Herbert Bismarck zwar über
die Vergangenheit mannigfach besser unterrichtet sein mag als andre, weil er der
Gehilfe seines großen Vaters war, daß er aber über die gegenwärtige Politik
nicht wesentlich mehr weiß als jeder andre, dem die Akten verschlossen sind. Auch
glauben sie nicht, daß ihre Mitarbeiter unter die „ahnungslosen Schreiber" zählen,
„die nicht das erste Wort von der Schwierigkeit einer guten auswärtigen Politik
verstehn," unter „die Leutchen, die so thun, als handle es sich bei den kompliziertesten
Sachlagen immer nur um zwei Möglichkeiten, »hie englisch, hie russisch,« während
die Kunst, die Fürst Bismarck so erfolgreich während achtundzwanzig Jahren und
durch drei schwere Kriege geübt hat, darin bestand, sich bei Festhnltung mehrerer
Trümpfe nicht in die Karten sehen zu lassen." Gerade die Grenzboten haben sich
immer bestrebt, gegenüber dem oft so urteilslvsen Gerede der Tagesblätter die
Schwierigkeiten unsrer Lage und also unsrer auswärtigen Politik zu verstehn und
andern begreiflich zu machen; sie haben immer vor leichtfertigen Aburteilen gewarnt,
von welcher Seite es auch tum, und sie haben niemals das aut-a-ut Englisch oder
Russisch anerkannt, sondern immer betont, daß die deutsche Politik weder englisch
noch russisch sein dürfe, noch irgend etwas andres als deutsch, und sie finden, daß sie
das gegenwärtig gerade so gut ist wie früher; sie wissen darum anch nicht, womit
die Hamburger Nachrichten ihren Schlußsatz rechtfertigen wollen, daß unsre aus¬
wärtige Politik jetzt nicht mehr das Vertrauen aller großen Kabinette wie früher
genieße. Übrigens hat sich die deutsche Politik auch früher bald hier bald dort
des allergrößten Mißtrauens erfreut, und es wäre kein Wunder und auch kein
Vorwurf für sie, wenn das jetzt wieder hier und da der Fall sein sollte, nämlich dort,
wo man uns die energische Wahrnehmung unsrer neuen Interessen verdenke und uus
uicht verzeihen kann, daß wir uns die Freiheit nehmen, als Großmacht und als
Weltmacht zu existieren. Daran wird auch der genialste Staatsmann nichts ändern.
So fällt der ganze Artikel, soweit er auf die Grenzboten gemünzt ist, haltlos
in sich zusammen. Nicht stichhält iger ist das, was er über den Charakter der Tage-
buchblätter „des unzuverlässigen Parasiten Busch" zu bringen für gut hält. Es
ist mehr als naiv zu sagen: „Wir haben schon im Jahre 1898 in Gemeinschaft
mit andern großen Zeitungen auf die vielen Irrtümer und Fälschungen in Buschs
sogenanntem Tagebuche und dessen Wertlosigkeit als Geschichtsquelle hingewiesen."
Erstens ist dieser Beweis niemals geführt worden, auch nicht tu dem ebenso an¬
spruchsvollen wie oberflächlichen Artikel der Leipziger Neuesten Nachrichten vom
13, Oktober 1898, und zweitens kam und kommt es gar nicht darauf an, was
„ahnungslose Schreiber" der Tagespreise, die „nicht das erste Wort" von histo¬
rischer Kritik verstehn, darüber denken, sondern was die ernsthafte Geschichtsforschung
darüber urteilt, sie mag vom Charakter des Verfassers halten, was sie will, und
davon scheint der Urheber des Artikels nicht das mindeste zu wissen. Ja er hat
so wenig eine Ahnung von der schon aufgewandten großen kritischen Arbeit, daß
er die Ermahnung für nötig halt: „Ernsthafte Historiker sollten Buschs Behaup¬
tungen nnr dann für richtig hinnehmen, wenn sie sich dnrch nuderweite Publika¬
tionen bestätigt finden." Um diesem Mangel an Kenntnis abzuhelfen weisen wir
ihn auf die Anmerkungen der deutschen Ausgabe hin und führen die Urteile zweier
Historiker an, deren Autorität in diesen Fragen auch er nicht bezweifeln wird.
Felix Meinecke faßt im neusten Heft der Historischen Zeitschrift das Ergebnis der
bisherigen wissenschaftlichen Kritik des vielgeschmähten Buchs in die Worte zu¬
sammen: „Es trägt, darin sind sie (die Kritiker) einig, die echten Züge Bismnrckischen
Wesens." Erich Marcks aber sagt (Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen,
1899) von Busch Seite 10: „ein Beobachter von unzweifelhafter Schärfe und
Treue des Blickes und des Gedächtnisses, von erstaunlicher Arbeitskraft in der
raschen schriftlichen Festhaltung seiner Eindrücke und von ganz erheblicher Fähigkeit
in ihrer Wiedergabe"; Seite 14: „Im ganzen erweisen sich dn, wo wir das meiste
Kontrollmatertnl besitzen, die Erzählungen Buschs als geradezu auffallend zuver¬
lässig"; Seite 17: „Ich kann die Auszeichungen Buschs uur als kostbare Zeug-
nisse" bezeichnen, die — unsre Anschauung durch eine Fülle frappanter Augenblicks¬
bilder bereichern und beleben. — Unter den Bismarckquellen, die wir bis jetzt be¬
sitzen, ist, wenigstens für die siebziger und achtziger Jahre, keine, die so viel
Persönliches Leben ausströmte, wie diese,"
Wir haben zahlreiche Berichte andrer über Äußerungen Bismarcks; warum
ist es denn einer gewissen Presse niemals beigekommen, an diese den strengsten
Maßstab der Zuverlässigkeit zu legen, die doch bei vielen ohne Zweifel viel geringer
ist? Warum ist sie nur über Busch so unbarmherzig hergefallen und hat sozusagen an
ihm kein gutes Haar gelassen? Der Ursprung davon liegt gar nicht wesentlich in:
Charakter des Autors, der ja manchen unsympathischen Zug haben mag, sondern
vielmehr einerseits in dem Befremden ehrlicher Bewundrer des großen Staats¬
manns, die von manchem, was Busch vou ihm in seiner ungeschminkten Weise be¬
richtet, peinlich berührt wurden, andrerseits in dem Ärger einiger hochstehender
Persönlichkeiten, die bei Busch „schlecht wegkommen." Sie empfanden deshalb und
empfinden, wie es scheint, noch immer beide das Bedürfnis, die Glaubwürdigkeit
der Tagebuchblätter im allgemeinen herabzusetzen. Beide vergessen dabei, daß der
Kern des Buchs unter Fürst Bismarcks thätiger Beihilfe, die bis zum Lese» der
Korrekturbogen ging, entstanden ist, und daß, wenn man Busch für einen Lumpen
und „Parasiten" hält, man damit auch den Fürsten für einen sehr schlechten
Menschenkenner oder für etwas Schlimmeres erklärt. Beide Quellen der Kritik
oder vielmehr der Verurteilung der Tagebuchblätter sind vom historischen Stand¬
punkt aus, der in der Beurteilung Bismarcks natürlich mehr und mehr zur Gel¬
tung kommt, gleich unberechtigt, „Wer nicht mit männlicher Gelassenheit, sagt Erich
Marcks Seite 17, init offnem Blick für alles Menschliche die Wirklichkeit dieses Wesens
anzuschauen vermag, wer sich ihren Härten nur schwächlich zu entziehn oder sie (nur)
feindselig auszubeuten weiß, der kommt für ehrliche historische Betrachtung überhaupt
nicht in Betracht, mag er nun Bismarcks Gegner sein oder sich für seinen Freund
und Bewundrer halten." Gewiß, jede echte Größe wächst mit ihrer Kenntnis.
Mit den Hamburger Nachrichten wären wir also wieder einmal fertig. Wir sind
besonders deshalb auf den um sich unbedeutenden Artikel näher eingegangen, weil er
ein «euer, allerdings schwächlicher Versuch ist, den großen Toten gegen die Lebenden
auszuspielen, an die jetzige Reichspolitik den Maßstab der Vergangenheit zu legen.
Am nächsten Sonntag, am 16. Juni, soll das Nativnaldenkmal des Fürsten Bis-
marck in Berlin im Beisein des Kaisers enthüllt werden. Es ist der dreißigste
Jahrestag des unvergeßlichen Trinmpheinzngs unsers siegreich heimkehrenden Heeres
in der Netchshauvtstadt, des 16. Juni 1871, und mit'Bedacht ist offenbar dieser
Erinnerungstag gewählt worden. Wer hätte damals, als Fürst Bismarck zwischen
Moltke und Roon hinter dem glorreichen Kaiser einherritt, umbraust vom Jubel
der Tausende, daran denken können und wollen, daß sein hoher Name, statt eines
Symbols der Einheit, zum Schlachtruf der Zwietracht gerade unter deutschen Pa¬
trioten werden würde, weil ein kleiner Kreis das ausschließliche Recht des Ver¬
ständnisses und der Bewundrung für sich monopolisierte, und weil weitere Kreise
ihn mißbrauchten und mißbrauchen, um gegen die Politik des Enkels und Erben Mi߬
trauen zu säen, des einzigen, der die Erbschaft Kaiser Wilhelms I. und Bismarcks
übernehmen konnte und durfte, und der sie gerade deshalb im rechten Sinne ver¬
waltet, weil er die Nation über ihre Grenzen hinausführt. Wenn die Reden und die
Zeitungsartikel, die diesem Tage gelten werden, nicht dazu beitrage», diese Erkenntnis
zu erwecken und zu stärken, wenn nicht der Geist der großen Zeit, der Geist der
Eintracht und der freudigen Hingebung an das große Ganze und sein berufnes
Oberhaupt wieder lebendig wird an diesem großen Tage und an allen folgenden,
Die kürzlich veröffentlichte
Statistik der Zwangsversteigerungen kund- und forstwirtschaftlicher Grundstücke in
Preußen 1899 ergänzt in erfreulicher Weise das günstige Bild, das die jedenfalls
zu den bedeutsamsten und zuverlässigsten Symptome» gehörenden Subhastattonen
bisher vom Verlauf der Agrartrisis gegeben haben. Abgesehen von den Fällen der
Auseinandersetzung und Erbteilung, denen eine symptomatische Bedeutung in diesem
Sinne kaum beizumessen ist, stellten sich seit 1886, wo sie zum erstenmal erhoben
wurden, die Zwangsversteigerungen der von Landwirten im Hauptberuf bewirtschaf¬
teten Besitzungen in Preußen nach Zahl und Fläche, wie folgt:
Nachdem von 1886 bis 1891 ein ziemlich allgemeiner Rückgang der Zahl
wie der Fläche erfolgt war, trat 1892 eine starke Zunahme ein, ohne daß jedoch
der Stand von 1886 wieder erreicht wurde. Von 1893 beginnt eine neue Periode
der Abnahme, die in den beiden letzten Berichtsjahren 1898 und 1899 weit uuter
den günstigsten Stand vor 1892 hinunter gegangen ist. Wenn die versteigerte
Fläche im Jahre 1899 gegen das Vorjahr zugenommen hat, so hat das in der
mehr oder weniger zufällig in dieses Jahr fallende» Versteigerung einiger großen
Güter seinen Grund und kann, so bedauerlich es an sich ist, den sehr günstigen Eindruck
des Gesamtbilds nicht stören. Jedenfalls mahnen die Zahlen in der Beurteilung
der Folgen der sogenannten Caprivischen Handelsverträge für die Landwirte zur
äußersten Vorsicht. Hätten sie wirklich in dem Maße, wie das von agrarischer
Seite behauptet wird, die Existenzbedingungen unsrer Landwirtschaft ruiniert, so
könnten sich, daran ist nicht mehr zu zweifeln, die Zahlen der Subhastattonsstatistik
nicht so, wie es geschehn ist, bewegt haben, sie müßten ungünstiger statt günstiger ge¬
worden sein, Konnte bei Beginn der neuen Rückwärtsbewegung vielleicht noch auf
die Möglichkeit hingewiesen werden, daß die Zwangsversteigerungen deshalb ab¬
nähmen,' weil die Gläubiger dabei ihr Geld zu verlieren fürchten müßten, daß also
die Abnahme nicht als ein Zeichen zunehmender Gesundung, sondern zunehmenden
Notstands aufzufassen sei, so hat eine solche Behauptung angesichts der fort¬
dauernde» Besserung des statistischen Bildes denn doch absolut keinen Sinn mehr.
Der unbefangne und ehrlich urteilende Beobachter muß nach der Subhastations-
statistik seit 1892 die Behauptung von der durch die laufenden Handelsverträge
heraufbeschwornen Gefahr eines mehr oder weniger allgemeinen Bankrotts der preu¬
ßischen Landwirte als agrarisches Märchen anerkennen, dessen Tendenz ans der Hand
liegt und Leuten und Parteien, die sich konservativ nennen, am allerwenigsten ansteht.
Von der versteigerten Fläche kamen ans die Betricbsgrößenklasseiu
Während es in den Jahren 1896 bis 1898 den Anschein hatte, als ob der
Anteil der kleinen und der mittlern Betriebe an der versteigerten Fläche zunähme,
während der der Großbetriebe zurückginge, weist das Jahr 1899 wieder in allen
Größenklassen unter 200 Hektaren eine Abnahme und nnr bei den Großbetrieben mit
200 und mehr Hektaren eine Zunahme auf. Wollte man aus den Zahlen von 1896
bis 1898 schon auf einen rapiden Verfall der „bäuerlichen" Wirtschaft schließen,
so wird man jetzt gut thun, auch in dieser Beziehung etwas vorsichtiger zu sein.
Es ist ja eine überaus zugkräftige Devise, wenn die Agrardemagogie „Alles für
die Bauern!" anf ihre Fahnen schreibt, Sie hat den Agrariern die parlamentarische
Mehrheit verschafft, die sie jetzt so rücksichtslos, sogar gegen die Krone, zu ge¬
brauchen wissen. Aber die Behauptung vom Bankrott der Bauern durch die
Handelsverträge ist eher noch verlogner als die vom Bankrott der Großbetriebe,
und soweit wir die Bauernschaft in Alipreußen kennen, bekommt sie es allgemach
herzlich satt, sich bankrott zu stellen. Die Herren Agrarier sollten sich hüten, in
dieser Beziehung den Bogen zu überspanne»! unsre Bauern werden nicht mehr
lauge mitmachen. Wenn die Herren Landräte und Regierungspräsidenten schon
früher offen gegen agrarische Anmaßungen und Übertreibungen Front gemacht hätten,
dann könnte sich die Krone schon hente wieder aus die preußischen Bauern verlassen.
Eine Übersicht über die Lage in den östlichen Provinzen einerseits und den west¬
lichen andrerseits geben folgende Zahlen. Es kamen in ihnen zur Zwangsversteigerung^
Danach steht der Westen immer noch sehr viel günstiger da als der Osten,
was man anch von agrarischer Seite seit Jahren zu bestreiten oder doch zu ver¬
tuschen sich bemüht, um nur ja die Solidarität der ganzen Landwirtschaft mit
den Interessen des ostelbischen Großbetriebs aufrecht zu erhalten. Jedenfalls ist
es sehr erfreulich, daß auch im Osten die Zahl der Versteigerungen eine so starke
Abnahme und nur in einer Provinz eine Zunahme um zwei Fälle erfahren hat.
Im Weste» weist mir Sachsen, das doch halb und halb noch zum Osten gehört,
eine Zunahme, und zwar nur um einen Fall auf.
So wenig die Herabsetzung der Getreidezölle durch die Caprivischen Handels¬
verträge den Bankrott der Landwirte beschleunigt hat, so wenig würde ihn, wem,
er drohte, eine Erhöhung dieser Zölle in dem Maße, wie sie überhaupt denkbar
ist, ohne das Gesmntwvhl unerträglich im Sonderinteresse der Landwirtschaft zu
beeinträchtigen, jetzt abwenden können. Es ist reine Illusion, den Zöllen diese
Wirksamkeit zuzuschreiben, zumal in Bezug auf die Masse der Bauernbetriebe. Wohl
aber wird immer ein rapider Preisfall Einfluß auf die Subhaflationszahl haben
können, wie dies vielleicht auch 1892 der Fall gewesen ist, wo der Zoll für die
Tonne um 15 Mark herabgesetzt wurde, der Preis aber um 90 Mark (Weizen
wie Roggen) abfiel. Sehr stark, ja vielfach ausschlaggebend hat damals übrigens
die Futteruot mitgewirkt, die in weiten Teilen Deutschlands gerade die Bauern¬
wirtschaften außerordentlich schwer traf.
Leider wird das Jahr 1901 ein neues, noch ärgeres Notjahr werden infolge
der Vernichtung namentlich des Winterweizens und des Winterroggeus im größten
Teil des Reichs dnrch Frost. Hier stehn wir vor einem Notstand schlimmster Art,
dessen ruinösen Wirkungen vorzubeugen eine dringende Aufgabe der Regierungen ist.
In ganz Deutschland haben nach den kürzlich vom Kaiserlichen Statistischen Amt aus¬
gegebnen Nachrichten über den Saatenstand um die Mitte des Monats Mai 190l
38,1 Prozent der mit Winterweizen und 9,0 Prozent der rin Winterroggen bebauten
Fläche umgepflügt werden müssen. Um eine Vorstellung des Schadens zu geben, sei
daran erinnert, daß 1900 an Winterweizen 3153566 Tonnen und an Wiuterroggen
8745051 Tonnen geerntet wurden. Der Winterspelz kommt nur in Süddeutsch-
land in Betracht. Von ihm wurden 1900 im ganzen 476095 Tonnen geerntet,
wovon auf Hohenzollern 17666, auf Bayern 125498, auf Württemberg 210572,
auf Baden 102336 und auf Hessen 6329 Tonnen kamen. Davon sind 1901
überhaupt nnr 0,9 Prozent ausgewintert, und zwar in Bayern 0,4, in Württem¬
berg 1,1, in Baden 1,0 und in Hessen 1,7. Beim Spelz ist also von einem Not¬
jahr nicht zu reden. Erwähnt sei hier anch gleich, daß vom Klee im Reich 10,8
und von der Luzerne 9,4 Prozent haben umgepflügt werdeu müssen, Prozentsätze,
die z. B. im Regierungsbezirk Marienwerder mit 52,5 und 42,6, in Bromberg
mit 45,1 und 34,0 und noch in zahlreichen andern Gebietsteilen arge Fntternot
bedeuten. Im ganzen sind 726400 Hektar Winterweizen, 5244000 Winterroggen,
196100 Klee, 21500 Luzerne und 2800 Winterspelz umgepflügt worden. Was
vom Wintergetreide stehn geblieben ist, ist meist dürftig und verspricht gerade in
den am meisten von der Auswinterung betroffnen Bezirken eine schlechte Ernte.
Das Sommergetreide vermag für die umgepflügte Winterung nur in sehr bescheidnen
Maße Ersatz zu leisten. Es kommt in Deutschland überhaupt uur wenig in Betracht,
zumal was das Brotkorn betrifft. Im Jahre 1900 wurden im Reich im ganzen nur
236480 Tonnen an Sommerweizen und 147403 an Sommerroggen geerntet.
In Preußen stellt sich die umgepflügte Fläche beim Winterweizen auf 46,9
und beim Winterroggen ans 11,3 Prozent. Dagegen hat man — bei verhältnis¬
mäßig kleinem Schaden am Winterroggen — vom Winterweizen unter anderen in
Mecklenburg-Schwerin 94,6 (Roggen 4.5); in Oldenburg 90,4 (1,1); in Mecklen-
burg-Strelitz 90.0; in Anhalt 82,8 (1,0); in, Königreich Sachsen 78,5 (1,3); in
Brannjchweig 68,4 (1,9) Prozent umpflügen müssen. Im Reichsland andrerseits
nur 0,3 (Roggen 0,5); in Baden 2,8 (0,2); in Bayern 8,0 (0,6); in Württem¬
berg 8,0 (0,5), Das Grvßherzogtum Hessen freilich kommt auf 45,1 Prozent beim
Weizen, neben nur 1,7 Prozent beim Roggen, Man sieht, daß namentlich im
nichtpreußischcn Deutschland immerhin weite Gebiete nicht allzuschwer betroffen sein
werden, wenigstens soweit es sich um Brodgetreide handelt. Dagegen muß in den
meisten preußischen Provinzen ein um so schwererer Notstand erwartet werden, und
zwar namentlich in den Ostproviuzcn, die ohnedies am lautesten über den chro¬
nischen Notstand klagen. Am übelsten daran ist der Regierungsbezirk Marien-
werder, wo 88,5 Prozent des Winterwcizcns, 60,7 Prozent des Winterroggens und
außerdem 52,5 Prozent Vom Klee und 42,6 von der Luzerne umgepflügt find. Im
Jahre 1900 erntete der Bezirk 104614 Tonnen Weizen und 359111 Tonnen
Roggen. Man kann sich danach ein annäherndes Bild von dem zu erwartenden
Ernte- und Eiunahmcausfall machen. Im Bezirk Danzig sind 1901 umgepflügt
74.0 Prozent Weizen und 11,6 Prozent Roggen (Ernte 1900- 56855 und
117250 Tonnen). Sehr Viel besser dagegen ist das benachbarte Ostpreußen weg¬
gekommen. Im Bezirk Königsberg, wo 1900 rund 96700 Tonnen Weizen und
400000 Roggen geerntet wurden, siud 1901 vom Weizen 6,3 Prozent und von:
Roggen 12,9 Prozent ausgewintert; im Bezirk Gumbinnen (Ernte1900: 55000 und
262700 Tonnen) gar nur vom Weizen wie vom Roggen 0,1 Prozent. Über die Lage
in den übrigen Ostproviuzeu einschließlich Sachsen giebt folgende Übersicht Auskunft.
Von deu hnnnoverscheu Bezirken ist Aurich mit 75,9 Prozent nusgepflügtem
Weizen und 3,9 Prozent Roggen am übelsten dran, um besten Osnabrück mit 6,3
und 0,8 Prozent. Stade weist 64,2 und 3,2 auf; Lüneburg 57,2 und 3,8;
Hannover 48,4 und 1,9; Hildesheim 45,0 und 1,0. Hessen-Nassau hat im Bezirk
Kassel 25,9 und 1,3 Prozent; im Bezirk Wiesbaden 25.2 und 1,0 Prozent um¬
gepflügt. Im Jahre 1900 erntete Kassel 95900 und 143572 Tonnen; Wiesbaden
32500 und 71433 Tonnen. Auch in Hannover, mit Ausnahme von Hildesheim, über¬
wiegt der Rvggenbau bei weitem: Hannover 40700 Tonnen Weizen, 147 700 Roggen;
Hildesheim 108500 und 78600; Lüneburg 15600 und 193300; Stade 24 700
und 93800; Osnabrück 7900 und 188700; Aurich l1000 und 39300.
In Rheinland und Westfalen liegt die Sache wie folgt:
Bemerkt sei dazu, daß im Rheinland verhältnismäßig viel Sommerweizen, der
nicht umgepflügt ist, gebaut wird (Ernte 1900: 31400 Tonnen), was übrigens
in Preußen auch noch für die Provinzen Sachsen (37000 Tonnen) und Schlesien
(31000 Tonnen) zutrifft.
Der Notstand trifft also besonders schwer den Osten. Es sind das die
Provinzen, in denen die Rittergüter und die Großbauern bei weitem über die
Hälfte der landwirtschaftlich benutzten Fläche inne haben. Die Inhaber dieser
Betriebe werden sonach wohl die Hanptnotleidenden sein, was dein Notstand und
der Notstandshilfe einen besondern Charakter verleiht. Geholfen muß werden,
schnell, mit großen Credner und zu den liberalsten Bedingungen. Mag immerhin
der landwirtschaftliche Unternehmer jetzt wie früher mit solchen, durch »»vorher-
gesehene Naturereignisse herbeigeführten Mißjahren zu rechnen verpflichtet sein, hier
liegt ein wirklicher Notstand vor, der durch den privatwirtschaftlichen Ruin zahl¬
reicher, politisch wie sozial sehr wertvoller Elemente das Gesamtwohl ernstlich bedroht,
und seine gemeinschädlichem Folgen müssen abgewandt werden, und können nnr vom
Staat durch Geldopfer abgewandt werden. Wir »vollen hier auf die Formen, in
denen die Hilfe gewahrt werden muß, und auf die Kautelen gegen Ungerechtigkeiten
dabei, die nie ganz vermieden werden können, nicht näher eingehn. Nur auf eine
Gefahr, die dabei besonders wird bekämpft werden müssen, müssen wir noch hin¬
weisen. Nach allem, was wir, wieder namentlich in Preußen, in den letzten Jahren
erlebt haben, wird die parteiagrarische Agitation natürlich die so überaus günstige
Gelegenheit nicht unbenutzt lassen, die Not und die Sorge, die die Landwirte als
Folge des bösen Nachwinters danieder drückt, nach Möglichkeit in Verbitterung und
Haß gegen die Berufssläudc umzubilden, die nicht in ähnlicher Notlage sind, und
die Unzufriedenheit mit der bisherigen Wirtschaftspolitik und ihren verantwortlichen
Vertretern, so beispiellos weit sie auch deu agrarischen Ansprüchen seit Jahren ent¬
gegengekommen sind, noch mehr, als das leider schon geschehn ist, zu steigern.
Schon wird der Versuch gemacht, den Landwirten den drohenden Notstand als
durch die angeblich unzureichende Höhe der Agrarzölle erhöht und verschärft dar¬
zustellen. Dadurch, so sagt man, würden niedrige Getreidepreise mit der Mißernte
zusammentreffen, wahrend der Staat durch hohe Zölle dafür sorgen müßte, daß bei
Mißernten wie in alter Zeit auch entsprechend hohe Preise einträten. Bei der
Korruption der nationalökonomischen, sozialen und moralischen Anschauungen, die im
politischen Leben eingerissen ist, werde» die Agrardemagogeu auch mit diesem Unsinn
nicht nur bei deu notleidende» Landwirte», sondern wahrscheinlich sogar in Kreisen
Eindruck mache», die berufen sind, das Wohl aller Bevölkerungsteile gleichmäßig
zu wahre». Wir können es erleben, daß die Mißernte von 1901 mit der dndnrch
verursachten starken Mehreinfuhr ausländische» Brvtkor»s als wirksamer Trumpf
für die Erhöhung der Getreidezölle ausgespielt wird, obwohl jeder logisch und
billig deiikende Politiker gerade angesichts solcher Mißernten die heutige Jnternativ-
nalitcit der Brvtversvrgung als einen Segen anerkennen muß gegenüber dem Elend,
das früher solche Notjahre über die Nationen brachten. Sollte, was die Agrarier
verlangen, die Mißernte, die bevorsteht, die in der „guten alte» Zeit" übliche»
Notstandspreise zur Folge haben, so wird die nichtlandwirtschaftliche Bevölkerung
um so mehr dem dn»u wirklich vorliege»de» Brvtwncher ein Ende zu machen be¬
rechtigt und imstande sei», als sie offenbar einem Rückgang ihres eignen Erwerbs
gegenübersteht. Kommen jetzt Notstandspreise, die dem Auswinteru des Brot¬
getreides entsprechen, dann mögen die Herren Agrarier für immer die Hoffnung
ans höhere Zölle fahren lassen, dann wird ihre bis zur Karikatur gesteigerte Selbst¬
gefälligkeit, Herrschsucht und Begehrlichkeit noch vor dem Ablauf der Caprivischen
as allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht ist eine der wenigen
Staatseinrichtungen, über die Fürst Bismarck im Laufe der Zeit
zu einer grundsätzlich andern Auffassung gelangt ist, als er früher
hatte. Als er am 21, April 1849 in der Zweiten Kammer die
Frankfurter Reichsverfassung kritisierte, erklärte er „die direkten
Wahlen mit allgemeinem Stimmrecht" für eins der drei Grundübel, woran sie
leide; die beiden andern waren, nebenbei erwähnt, das Prinzip der Volks-
sonvcränitkt und die jährliche Bewilligung des Budgets. In seinen Gedanken
und Erinnerungen dagegen heißt es Band II, Seite 58: „Außerdem halte ich
noch heute das allgemeine Wahlrecht nicht bloß theoretisch, sondern auch prak¬
tisch für ein berechtigtes Prinzip, sobald mir die Heimlichkeit beseitigt wird. .. ."
Der Zusammenhang ergiebt, daß nicht etwa ein allgemeines Wahlrecht mit
ungleichem Anrecht und mit der Zwischenstufe von Wahlmänuern gemeint ist;
Fürst Bismarck hatte das „bestehende," das Reichstagswahlrccht im Auge.
Wann sich diese innere Wandlung vollzogen hat, wird wohl schwer zu
bestimmen sein. Keinesfalls war sie schon 1863 eingetreten, als Fürst Bismarck
zum erstenmal, gegen den Frankfurter Fürstentag, das allgemeine Wahlrecht
ausspielte, und ebensowenig 1866, als er unmittelbar vor der Sprengung des
Bundestags in seiner Zirkulardepesche vom 10. Juni „die damals stärkste der
freiheitlichen Künste in die Pfanne warf." Ju beiden Fällen diente die demo¬
kratische Programmnnmmer den Zwecken der auswärtigen Politik, als Kampf¬
mittel, im zweiten insbesondre, „um das monarchische Ausland abzuschrecken
von Versuchen, die Finger in unsre nationale omsIöUs zustecken." Da konnte
von Bedenken keine Rede sein „im Hinblick auf die Notwendigkeit, im Kampfe
gegen eine Übermacht des Auslandes im äußersten Notfall auch zu revolutio¬
nären Mitteln greifen zu können." Und auch 1867, als das soeben als Re-
vvlutionsmittel benutzte Wahlrecht der Demokratie in den Entwurf zur Ver¬
fassung des Norddeutschen Bundes aufgenommen wurde, hatte Fürst Bismarck
sicher noch prinzipielle Bedenken, sie mußten jedoch abermals zurücktreten.
Denn wiederum war die Freiheit der Wahl und des Entschlusses beschränkt.
Der Krieg hatte ja den großen Erfolg gebracht, daß die lmndesmäßige Einigung
Norddeutschlands eine Frage der innern Politik geworden war, aber sie drängte;
die weitere, theoretisch unlösbare nach dem besten Wahlrecht dürfte nicht damit
vermischt werden. „Wir haben einfach genommen, was vorlag, und wovon
wir glaubten, daß es am leichtesten annehmbar sein würde. ..." „Das all-
gemeine Wahlrecht ist uns gewissermaßen als ein Erbteil der Entwicklung der
deutschen Einheitsbestrebungen überkommen. ..." „Was wollen denn die
Herren . . . und zwar mit der Beschleunigung, deren wir bedürfen, an dessen
Stelle setzen?" „. . . im ganzen giebt jedes Wahlgesetz unter denselben äußern
Umständen und Einflüssen ziemlich gleiche Resultate." „. - - und ich kann
nur sagen: ich keime wenigstens kein besseres Wahlrecht." So drückte Fürst
Vismarck die treibenden Erwägungen aus. Sie waren rein praktischer Natur,
wogen aber so schwer, daß er die geheime Abstimmung, die erst durch den
Friesschen Antrag in die Verfassung kam, mit in den Kauf nahm und sich sogar
dazu verstand, daß dem vorgelegten Entwurf zuwider die Beamten wählbar
sein sollten. Erst bei der Diütenfrage fand die Nachgiebigkeit eine Grenze, in
dieser blieb er fest, und diese Beschränkung des passiven Wahlrechts wurde das
„Korrektiv" des schrankenlosen aktiven Verfassungssatzes. Als solchem und als
untrennbaren Bestandteil des ganzen Kompromisses hat es Fürst Bismarck bis
zuletzt angesehen, daß die Reichstagsabgeordneten keine Tagegelder oder sonstigen
Entschädigungen für ihre Auslagen beziehn dürften.
Mau kann Wege» der Diäten und in der ganzen Wahlfrage andrer
Meinung sein als Fürst Bismarck, was die Vergangenheit anbelangt sowohl
als auch für das eigne zukünftige Verhalten, und wer es ist, darf sicherlich
auch hierin eine Änderung der Reichsverfassung so gut wie auf jedem andern
Gebiet erstreben. Aber er muß sich, falls er darauf Wert legt, für einen
Anhänger der Bismarckischeu Tradition im ganzen zu gelten, klar macheu,
daß er dann die Wege des Meisters in einer Kardinalfrage verläßt. Und wer
die Bismarckische Autorität gar nicht gelten läßt, wird doch zugeben müssen,
daß der betreffende Bestand der Reichsverfassung ein zusammenhängendes Ganze
ist und ans einem Kompromiß beruht. Wer die Schranke der Diätenlosigkeit
anficht, macht auch denen das Feld frei, die die Schrankenlosigkeit des aktiven
Wahlrechts bisher mir darum ertragen haben, weil sie sich an den Kompromiß
hielten und sozusagen eins ius andre rechneten. Und den Gegnern des all-
gemeinen Wahlrechts lösen auch die die Hände, die, wie jetzt mannigfaltig ge
schickst, aus seiner reichsverfassuugsmäßigeu Anerkennung einen Grund ableiten,
es ans die Einzelstaaten auszudehnen. Sie schmuggeln dergestalt aus der
kvmpromißmäßigen Anerkennung ein Vorbild heraus und reizen die Anders¬
denkenden dazu, diese Basis als Stein deS Anstoßes ganz zu beseitigen.
Die Sache ist in der That in Fluß geraten, und wie man es gern ans '
drückt, die Frage ist aufgerollt, der Tagesstreit ist entbrannt. Am rührigsten
ist der ans den Ultramonwneu, den roten Liberalen und den Sozialdemokratin
zusammengesetzte Bund, der die lokale Ausdehnung des Reichstagswählrechts
erstrebt, zum Teil auch die Altersgrenze für das Wahlrecht heruntergesetzt
sehen möchte und ganz einig in der Fordrung von Diäten ist. Die National¬
liberalen wissen wie gewöhnlich nicht, was sie wollen, scheinen sich aber wieder
einmal dem durch Wahlrücksichten verstärkten demokratischen Herzeuszugc zu¬
zuneigen. Und die Konservativen begnügen sich im ganzen damit, abzuwehren
und auf das verrückte, nivellierende Wahlrecht zu schimpfen, mit gelegentlichen
Seitenhieben ans den ungetreuen Parteigenossen, der den Anstoß in die Reichs-
verfassung gebracht und dadurch das ganze Unglück angerichtet habe. Kein
Teil, auch die Regierung nicht, arbeitet mit der starken Wnsfe, die sich aus
der Kvmpromißnatnr und ihren Konsequenzen ergiebt, und ebensowenig fragt
man sich: Wie würde, wie jetzt die Dinge liegen, Fürst Bismarck handeln?
Hat er keinen Hinweis auf Mittel hinterlassen, die die Gegner ins Unrecht
setzen, den Kampfmut auf unsrer Seite befeuern und, deu veränderten Ver¬
hältnissen angepaßt, auf erprobten Wegen begrenzte, aber feste Ziele erreichbar
machen würden?
Eine Waffe aus dem geistigen Nachlaß Fürst Bismarcks ist schon erwähnt.
Es ist die Bedingung, worunter er das allgemeine Wahlrecht für ein berech¬
tigtes Prinzip erklärt: die offne — gewöhnlich sagt man: die öffentliche —
Abgabe der Wahlstimme statt der jetzt geheimen, d. h. der Übergabe eines zn-
sammengefaltueu Wnhlzettels, der ungiltig ist, wenn er die Unterschrift des
Wählers enthält, wenn dieser mit seinem Namen für deu Gewählten eintritt.
Von dieser Heimlichkeit sagt Fürst Bismarck: „Die Einflüsse und Ab¬
hängigkeiten, die das praktische Leben der Menschen mit sich bringt, sind gott-
gegebuc Realitäten, die man nicht ignorieren kann und soll. Wenn man es
ablehnt, sie auf das politische Leben zu übertragen, und im letztern den Glauben
an die geheime Einsicht aller zum Grunde legt, so gerät man in eiuen Wider¬
spruch des Stantsrechts mit den Realitäten des menschlichen Lebens, der prak¬
tisch zu stehenden Friktioueu und schließlich zu Explosionen führt und theoretisch
nur auf dem Wege sozialdemokratischer Verrücktheiten lösbar ist, deren Anklang
auf der Thatsache beruht, daß die Einsicht großer Massen hinreichend stumpf
und unentwickelt ist, um sich von der Rhetorik geschickter und ehrgeiziger Führer
nnter Beihilfe eigner Begehrlichkeit stets einfangen zu lassen." Außer dem
Gewinn reichster Lebenserfahrung enthalten diese Worte tiefe Gedanken und
fruchtbare Anregungen für den Intellekt, aber ihre volle Wahrheit erschließt
sich nur einer höhern Seelenkraft, die den Willen des Sprechers zeitlebens
befruchtete und mehr noch als Lebenserfahrung und Geistesstärke die Gewalt
seiner Persönlichkeit ausmachte. Nur für den religiösen Glauben giebt es gott¬
gegebene Realitäten. Wer deu Glanben nicht oder nnr in seinen unechten
Gestalten kennt, ihn gar abweist, für den ist dieser Teil der Bismarckischen
Ausführungen ein leerer Klang. Der wird verständnislos von unzulässigen
Wahleinflüssen, von Fälschung des Wahlergebnisses, von Unfreiheit usw. reden
und die Ausübung des grundlegenden Staatsbürgerrechts aus dem Dunkel
heraus auch fernerhin für ein sittliches und politisches Palladium halte». Mit
dem ist auf dem Boden dieses Arguments keine Erörterung möglich. Aber
noch ist in Deutschland die Stimme der Wahrheit keine klingende Schelle.
Den wenigen oder vielen, die auf sie horchen, ist der Sinn ohne Kommentar
klar, weil der echte Glaube eine jedem Gläubigen verständliche Sprache redet.
Und aus dem Glauben sprießt die ernste, nnerschrockuc und uneigennützige That.
Von der Heimlichkeit sagt Fürst Bismarck ferner, sie habe einen „Charakter,
der mit deu besten Eigenschaften des germanischen Blutes in Widerspruch steht."
Diese Eigenschaften sind: Aufrichtigkeit, Treue und Mannhaftigkeit. Wird die
Aufrichtigkeit uicht herabgezogen und untergraben, wenn dem Staatsbürger
nicht bloß erlaubt wird, zu verschweigen, wer der Mann seines Vertrauens
ist, wenn dies für ihn fogar ein Gebot ist, dessen Übertretung Strafe nach
sich zieht? Und als Strafe die Nichtigkeit der Stimmabgabe, also gerade
dessen, wozu sich lant zu bekennen jeden schon das geringste Maß von
Treue auffordert? Welche Schule vou Mannhaftigkeit auch liegt in diesen:
vom Staate vorgeschriebnen Verhalten! Eine absonderliche Volkspädagogik,
um zu Aufrichtigkeit, Treue und Mannhaftigkeit zu erziehn, wird ihre Übung
unter Strafe gestellt; um die Wurzeln, aus denen allein nach unsrer Volksart
der Baum des Gemeinsinns hervorwachsen kann, zu stärken, wird ihr nächster
und natürlichster Schößling ausgerottet. Wenn nicht ohne Grund das all¬
gemeine Wahlrecht deshalb gepriesen wird, weil das wichtigste Staatsbürger-
recht möglichst verallgemeinert werdeu müsse, weil der Zusammenhang mit der
Volksvertretung ein Beruf aller Volksschichten sei, so entsprechen doch diesem
Rechte, wie jedem andern, Pflichte». Als Korrelate, d. h. als notwendige,
untrennbare Wechselbeziehungen. Außer der Pflicht, überhaupt zu wählen, ist
selbverständliches Korrelat die Pflicht, für seine Stimme als lebendiges Wesen,
als Person einzutreten. Denn kein Handeln ist unser eignes, das nicht der
Mann deckt. Gegen diese Pflicht erläßt der Staat dadurch, daß er geheime
Abstimmung vorschreibt und „mit deu nötigen Kautelen umgiebt," eine Ver¬
rufserklärung, er stempelt die Pflicht zum Vergeh». Und im Namen der
Freiheit. Ein Freiheitsrecht, das nur knechtisch geübt werden kann!
Bon diesen Sätzen trägt jeder den Beweis in sich selbst, sie brauchen nur
ausgesprochen zu werden, so leuchten fie als Wahrheiten, politische Wahrheits¬
gebote ein. Wenn trotzdem Fürst Bismarck die vom konstituierenden Reichs¬
tage zugesetzte Heimlichkeit aeeeptiert hat, so geschah es tsrnporum se loovrunr
rilltoiuz llabitÄ. Freude hat er nicht daran gehabt, und er hat dies in seinem
letzten Vermächtnis an uns klar ausgesprochen. Seine Worte sind eine Mah¬
nung, die dadurch, daß er selbst alle Heimlichkeit und Geheimthuerei haßte,
noch verstärkt wird. Wenn es wahr ist, daß gerade unsrer Volksanlage Wahr¬
haftigkeit, Treue und Mannhaftigkeit in besonderm Maße aufgedrückt sind, so
hat der konstituierende Reichstag mit seinem Zusatz keine deutsche That gethan.
Indem wir den Kompromißbruch dazu benutzen, den Zusatz zu beseitigen,
werden wir nicht nur der politischen Begehrlichkeit und Krakeelsucht eine heil-
ferne Lehre erteilen, sondern auch eine Schuld gegen die deutsche Geistcsart
sühnen und in uns den Boden für jene Eigenschaften wieder empfänglicher
machen. Oder ist es blos; Schwarzseherei, wenn behauptet wird, die Wirk¬
lichkeit bestätige nicht, daß sie in Deutschland häufiger und besser wüchsen als
in andern Ländern?
Freilich wird, wie setzt die Dinge liegen, die Einführung der offnen Ab¬
stimmung als ein „Attentat" auf Freiheit und Volksrechte ausgeschrieen werden
und bei sehr vielen Leuten, in ganzen Volksschichten sogar und über den Be¬
reich der Sozialdemokratie hinaus in dieser verzerrten Gestalt Glauben finden.
Denn jeder Teil des geltenden Wahlrechts zum Reichstage ist der Masse des
Volks derer, und mag man dies auch als Vorurteil bezeichnen, was ja für
die Heimlichkeit zutrifft, so sind doch Vorurteile mächtig, wenn sie so tiefe
Wurzel geschlagen haben. Und es wird ja mit der Heimlichkeit nicht das
allgemeine Wahlrecht selbst, sondern nur ein Auswuchs beschnitte«, aber in
den untern Schichten wird es heißen: „Uns nehmt ihr es ganz, denn wir
sind abhängige Leute. Wenigstens dieses Stück unsrer Rechte konnten wir
noch ohne Furcht für das tägliche Brot ausüben, und auch das soll uns ge¬
nommen werden. Immer wieder sind wir es, die bei dem, was ihr Reformen
nennt, die Kosten bezahlen müssen. Reformiert doch einmal um euch!" Be¬
rechtigt oder nicht verdient dieser Borwurf, weil er weite Verbreitung finden
wird, politische Berücksichtigung. Nicht so, daß die Maßregel unterlassen oder
vertagt werden dürfte, aber als Aufforderung, auch da zu reformieren, wo sich
die ins Auge springenden Folgen gerade den günstiger gestellten Bevölkerungs¬
schichten fühlbar macheu werden. Wenn es ein Korrelat des Wahlrechts ist,
daß die Stimme offen abgegeben wird, so ist die Gegenverpflichtnng, überhaupt
zu wählen, logisch und ethisch uicht weniger zwingend, eine Strafe für die
Nichterfüllung ebenso gerechtfertigt, und sie wird, da die kleinen Leute fleißige
Wähler sind, nicht als gegen sie gerichtet, sondern eher im Lichte eines Aus¬
gleichs erscheinen. Eine Bestimmung, wonach wer sein Wahlrecht nicht ausübt,
für die nächste Wahl, und schon für die etwaige Stichwahl, von der Wähler¬
liste auszuschließen ist, wäre ein Stück populärer Gerechtigkeit, eine Anwendung
der im Volke lebendigen Talionsanschauuug. Und diese populäre Wirkung
wird nicht verloren gehn, wenn die Bestimmung, wie zu hoffen und zu er¬
warten ist, auf die Dauer in unsern Kreisen größern Wnhleifer erweckt, denn
pessimistische Spekulationen sind ein Vorrecht „höherer Bildung," raffinierte
Stimmungen, die dem kleinen Main: fern liegen. Freilich wird auch da wieder
bei denen, die es trifft, von einem Attentat auf die Freiheit gesprochen werden,
aber darauf ist Lachen die beste Antwort, der erste Lacher wird Chorus macheu.
Technisch ist die Durchführung so einfach wie möglich, und es wird zwar ein
Ncstitntionsverfahren zugelassen werden müssen, aber so, daß nur nachgewiesene
Krankheit zu dem Antrage ans Wiederaufnahme in die Wahlliste berechtigt.
Für sonstige Entschuldigungsgründe gilt analog das, was Fürst Bismarck 1868
dem Reichstage für die Behandlung von Urlaubsgesuchen als Norm empfahl,
daß kein Wähler dringendere Geschäfte haben dürfe, als am Wahltage an
seinem Wahnarte anwesend zu sein und sein Wahlrecht auszuüben.
Nach dieser Norm hat Fürst Bismarck auch gehandelt. So hat er z. B.
noch kurz vor seiner Entlassung am 20. Februar und 1. März 1890 bei der
ersten und bei der Stichwahl sein Wahlrecht ausgeübt, obgleich er sonst wohl
genug zu thun und wichtigeres im Kopfe hatte, und obgleich in seinem Wahl¬
kreis gar keine Aussicht war, den Kandidaten der Sozialdemokratie zu schlagen.
Es war eben seine Pflicht, und dn fehlte er nicht. Wieviele von denen, die
nicht milde werden, auf das allgemeine Wahlrecht zu schimpfen, können sich
des gleichen rühmen? Es ist doch nichts zu machen, so heißt es immer, also
auch nichts zu wollen, so wird das Gewissen beschwichtigt, falls es sich über¬
haupt regt. Aber natürlich, es wird fortgeschimpft. Das ist das Grundrecht
aller Grundrechte. Welche Auffassung von Pflicht und von Freiheit! Wenn
alle, die seit Bismarcks Minister- und Lebzeiten bis jetzt nicht müde werden,
ihm das staatsmünnische Konzept zu korrigieren, zur Strafe für ihre Wahl-
enthaltnngen schweigen müßten, welche Stille würde da in unsern Bierpalästen
herrschen! In Zeiten, in denen „freiheitsfeindliche Maßnahmen die Volksseele
durchzittern," würde als guter Erfolg statt sofortiger „prinzipieller Stellung¬
nahme," die dann „unentwegt" festgehalten werden muß, vielleicht ruhige Über¬
legung in den Gemütern aufkommen, mit dem Ergebnis, daß man der Autorität,
die man in jeder großen und jeder kleinen Not anruft, auch etwas gewähren
müsse, womit sie ihres Amtes walten könne, lind statt der Vorwürfe, die in
unsern Kreisen das einst vergötterte allgemeine Wahlrecht erführe, würde sich
vielleicht seine richtige Einschätzung anbahnen. Es ist die Bismarckische als
eines praktisch und theoretisch berechtigten Prinzips, das jedoch von den Ge¬
bildeten ein hohes Maß von politischer Arbeit verlangt; es ist weder eine
Panacee, bei der man die Hände in den Schoß legen kann, noch el» Popanz,
vor dein echtes Freiheitsgefühl erschrecken dürfte.
Für das öffentliche Leben giebt es nur wenige allgemeine Erfahrungs¬
sätze, die im Wechsel der Zeiten und Örtlichkeiten immer und überall als
richtig erprobt werden. Einer davon ist, daß die Menschen geführt sein wollen,
und daß die Führer arbeiten müssen, um die Führung zu behalten. Am ge¬
bieterischsten spricht diese Fordrung in Staaten mit freier Verfassung, denn sie
kennzeichnen sich dadurch, daß sie nicht versuchen, die Führerrollen gesetzlich
festzulegen, von einer etwaigen monarchischen Spitze abgesehen. Das gilt im
großen und im kleinen, für bedeutende und für Nebenaufgaben, für dauernde
und für vorübergehende, für räumlich umfassende und für lokale: das Führungs¬
bedürfnis bleibt, was wechselt, ist die Führung, wenn sie sich nicht durch Arbeit
behauptet. Dem Führungsbedürfnis hat einmal Cnrlyle einen ergreifenden
Ausdruck gegeben: „Das ist kein rechter Staatsmann, der aus dem Getümmel
und Geschrei eines Vvlkshaufens jemals etwas andres heraushört als den
sehnsüchtigen Ruf: Ist denn niemand da, der uns führen und regieren will?"
Für die in stetem Fluß begriffne Wechselbeziehung von Führung und Arbeit
weiß ich keine Autorität, die ein gleich unmittelbares und prägnantes Zeugnis
gewährte. Doch scheint Fürst Bismcirck die Wahrheit des Satzes vorauszusetzen,
wenn er in dein schon nngezognen Abschnitt der Gedanken und Erinnerungen
bemerkt: „, . - die Einsicht großer Massen — ist — hinreichend stumpf und
unentwickelt, um sich von der Rhetorik geschickter und ehrgeiziger Führer unter
Beihilfe eigner Begehrlichkeit stets einfangen zu lasse». Das Gegengewicht
dagegen liegt in dem Einflüsse der Gebildeten ..." Übrigens leuchtet der
Satz durch sich selbst ein, und daß Wahlen keine Ausnahme machen, ergiebt
sich schon aus ihrer Wandelbarkeit. Bei ihnen darf mau den Satz so formu¬
lieren: die Führer wirken, auch bei direkten Wahlen, als Wahlmünner, Wahl-
mann der Menge ist nur, wer ihr bekannt und wert ist, und um ihr bekannt
und viere zu sein, ist Arbeit nötig.
Ein wenig beachteter Schriftsteller hat den dieser Fassung zu Grunde
liegenden Gedankengang näher entwickelt; wir entnehmen ihm folgende Stellen:
„. . . in geringerm Grade haben sich die sogenannten Freisinnigen, in höherm
das Zentrum und die Sozialdemokratie so organisiert, daß sie die Wahlen
lange vorher vorbereiten. Nicht erst, wenn der Wahltag naht, sondern während
der ganzen Wahlperiode ist der katholische Geistliche am Werk, lind ebenso
werben für die Sozialdemokratie deren überzeugte Anhänger: in der Presse,
in Vereinen und Versammlungen, noch mehr im täglichen Leben, bei der Arbeit,
in den Erholungszeiten, im Familien- und Einzelverkehr. So kommt es,
daß . . , ihm — dem entscheidenden Augenblick — das Zentrum und die
Sozialdemokratin mit einem wohlgeschnlten und festgeleiteten Heer entgegen¬
sehen. Das Heer selbst ruht nicht in den Zwischenzeiten; bei jeder Gelegen-
heit wird es beschaut und eingeübt. . . . Wie stechen davon, um nur ein Bei¬
spiel zu nehmen, unsre Wahlenthaltnngen ab! Wir leisten nicht mehr, als
wenn Nur im Schlaraffenlande lebten, und wollen doch die Frucht der poli¬
tischen Freiheit pflücken: wenn die Stunde der Wahl schlägt, rufen wir nach
der Begeisterung und schelten, daß sie ausbleibt, ohne zu bedenken, daß die
Begeisterung »keine Heringsware« ist, die nur ans Jahre »einpökeln! kann.
Die llnmittelbarkeit des Neichstagswahlrechts stellt uoch mehr politische Auf¬
gaben und verlangt noch mehr Arbeit als seine allgemeine Gleichheit, denn . . .
der llmstand, daß am entscheidenden Wahlakt jedesmal eine so große Zahl von
Menschen persönlich teilnehmen muß, schließt auch jedesmal wechselnde Gefahren
in sich: das Interesse ist erschlafft, oder das Wahllokal ist für viele unbequem
gelegen, der Kandidat ist nicht allgemein bekannt, oder sein Auftreten macht
ans die Masse keinen Eindruck, und was sonst noch, vielleicht schlimmerer Art,
den Sinn der großen Menge lenkt oder vom Wählen abhält. Die Bekämpfung
dieser Einflüsse legt große und dauernde Anstrengungen ans. Wenn wir,
anstatt sie zu leisten, nach Einschränkung des ReichstagsN'ahlrechts rufen, so
spiele» dabei ilnthätigkeit und Verlegenheit mehr mit' als das Bedürfnis nach
einer Wahlreform. Dergleichen als Armutszeugnisse zu bezeichnen und abzu¬
weisen sind die Gegenparteien durchaus im Recht. Das Zentrum und die
Sozialdemokratin können sogar darauf hinweisen, daß man gar kein Gesetz
nötig hat, um den Vorteil von Wahlmännern zu haben, denn ihre werbenden
Anhänger erfüllen deren Aufgabe» schon jetzt, und es sind noch dazu Wahl¬
männer, die während der ganzen Wahlperiode wirken, am meisten natürlich
auch am Wahltage selbst, ohne daß gegen das Wahlergebnis der Borwurf er¬
hoben werden/könnte, es beruhe auf einer fälschenden Zahlcntombination."
Die Ausführlichkeit des Zitats ist dadurch gerechtfertigt, daß die Dinge
jetzt noch gerade so liegen wie 1897, wo die Worte geschrieben sind, und daß
anschaulich geschildert ist, was die Gebildeten, deren Einfluß Fürst Bismarck
gehoben sehen möchte, versäumen, und wie sehr sie den in der Erteilung des
allgemeinen Wahlrechts liegenden Sporn zu politischer That unbeachtet gelassen
und ihre Pflicht verkannt haben, sich ihres natürlichen Berufs als Führer der
wählenden Menge würdig zu erzeigen. Insofern kann vielleicht behauptet
werden, daß sich das allgemeine Wahlrecht praktisch nicht bewährt habe, aber
doch mir durch einen nicht in ihm liegenden Mangel und durch eine Schuld,
die sich in der Zukunft durch thätige Reue sühnen läßt. Weit eher als die
Unbrauchbarkeit des Wahlrechts ließe sich ans dem Versäumter der Schluß
herleiten, daß wir für politische Freiheit keinen Sinn haben. Doch es handelt
sich nur um eine Nbergangskrankhcit, um ein besonders beklagenswertes
Symptom davon. Der Wert des allgemeinen Wahlrechts wird dadurch gar
nicht berührt.
Natürlich ist dieser Wert nur relativer Art, wie alle politischen Formen
nur relativen, historischen, vergänglichen Wert haben, in dem Sinne wie Goethe
sagt: Denn alles, was besteht, ist wert, daß es zu Grunde geht — wenn es
seine Bestimmung erfüllt hat, wie ergänzt werden darf, und mich dem Fürsten
Bismarck deutlich gewesen ist, der ja das Reichstagswahlrecht nicht für das
richtige Prinzip, sondern nur für ein richtiges Prinzip erklärt. Und noch ist
diese Bestimmung nicht erfüllt, noch ist es ein wirksames Stück seines Ver¬
mächtnisses. Wir haben uns zu bemühen, den Sinn, den er mit den kurzen
Worten verband, zu erfassen.
„Die Einseitigkeit des Reichstagswahlrechts, die darin besteht, daß die
Stimmen mir gezählt werden, nicht nach dem geistigen, wirtschaftlichen und
sozialen Wert ihrer Träger abgestuft sind, wird für das Reich als Ganzes
bis zu einem gewissen Grade durch seine räumliche Ausdehnung ausgeglichen.
Die Zufälle und Überraschungen nämlich, denen dieses Wahlrecht noch mehr
als andre ausgesetzt ist, können sich nicht ans vereinzelte Wahlkreise beschränken,
sondern wiederholen sich in mehreren, aber natürlich mit abweichenden Erfolge,
sodaß, was in dem einen Kreise verloren wird, in einem andern gewonnen,
und das Gesamtergebnis nicht leicht getrübt wird. Einer Trübung widersetzt
sich die Größe des Reichsgebiets auch dann, wenn eine noch so mächtige
Geistesströmung auf einen Teil der Bevölkerung beschränkt bleibt, denn bei
den andern Volksschichten wird sich dann in der Regel starker Widerstand
zeigen, und zwar so, daß sie sich gemeinschaftlich gegen die das bisherige
Gleichgewicht bedrohende Strömung kehren, die Unterschiede, die sie sonst
trennen, zurückstellen und vereinigt doch mächtiger bleiben." Diese Sätze ans
der schon vorhin angeführten Schrift geben, dünkt uns, einen Teil der Gründe
richtig wieder, die dem Fürsten Vismcirck vorgeschwebt haben mögen. Hinzu¬
zusetzen ist jedenfalls, daß jede Wahl ein Stiiumungsmesser ist, und daß
Wahlen, an deuen alle beteiligt sind, mit gleichem Rechte und unmittelbar,
keinesfalls entgegengehalten werden kaun, sie seien bloß partielle und gemachte
Stimmnngsmesser. Sie mögen ja sehr schlecht ausfallen, denn Stimmungen
irren leicht und sind etwas ganz andres als ein wohlnbgewognes Urteil, aber
als Stinunuugsmaßstab ist das Neichstagswahlrccht unanfechtbar. Dieser Wert
läßt sich ihm uicht absprechen, und kein Staatsmann wird dieses Gewicht von
der Wage, worauf er seine Entschlüsse prüft, weglassen, wenn auch nnter Um¬
ständen andre, entgegengesetzte Gründe auf die Wage uoch stärker drücke»
werden und müssen.
Mit seinen Vorzügen und seinen Mängeln ist das allgemeine, gleiche und
direkte Wahlrecht eine Institution, die im Volke kräftige und tiefe Wurzeln
gefaßt hat. Die Zahl der Deutschen, die sich — mit Recht oder Unrecht —
als Enterbte fühlen, ist sehr groß und wächst fortwährend, auch außerhalb der
mehr oder weniger „bewußten" sozialdeniokratischen Genossenschaft. Für sie ist
das Wahlrecht die einzige Ausnahme, das einzige Gut, und sie hängen daran
mit leidenschaftlicher Liebe. Sie würden seine Aufhebung als einen Angriff
ans ihr Heiligstes ansehen, als ein Attentat ans ihr Teuerstes. Diese Aus¬
drücke sind nicht zu kraß, denn wir sind sehr diesseitig geworden, und das
Gefühl, das jene Volksschichten gegen die Aufhebung haben, ist nicht weniger
stark als das unsrige gegen Aufruhr oder Umstoßung der jetzigen Gesellschafts¬
ordnung. Uns ist dieses revolutionär, ihnen jenes. Diese Gefühle anders
als im Fall äußerster Notwendigkeit zu verletze« sollten wir uns darum
hüten. In seinem jetzigen Umfange ist das Reichstagswahlrecht zu achten. Die
Provokationen berechtigen und verpflichten uns, die Heimlichkeit zu beseitigen,
aber wir sind nicht befugt und würden sowohl unklug als gewissenlos handeln,
mit einer Provokation zur Revolution zu antworten. Und wenn manche Leute
so gern von Verwirken sprechen, so ist dies erstens ein strafrechtlicher, kein
politischer Begriff, zweitens setzt seine Anwendung voraus, daß die Strafe
nicht größer sei als das Vergeh», und drittens würde» eher wir um unsrer
Schwächlichkeit Wille» die Abwehr verwirkt haben als jene Wege» ihrer Heraus-
is es im vorigen Jahre unter dem Druck der Kohlennot den
amerikanischen Kohlenhändlern zum erstenmal gelang, in Europa
festen Fuß zu fassen, wurde sofort im Zusammenhang damit die
Frage aufgeworfen, inwieweit auch nnter normalen Verhältnissen
ein Wettbewerb Nordamerikas auf dem europäischen, insbesondre
auf dem deutschen Kohlenmartt möglich sei. Allerdings hatten die Amerikaner
gleich im ersten Anlauf bedeutende Erfolge erzielt, vor allem in den Mittel-
meerhäfen, wo sie die Cardifflohle, deren Preis besonders während des Tciff-
välestreiks zu unerhörter Höhe gestiegen war, zeitweilig vollständig verdrängt
hatten; und da die dort Vertriebne englische Kohle natürlich starker nuf den
deutschen Markt drücken mußte, so erschien eine Rückwirkung auf die deutscheu
Verhältnisse unzweifelhaft. Andrerseits blieben freilich die Versuche, die gemacht
wurden, der amerikanischen Kohle direkten Eingang nach Deutschland zu ver¬
schaffen, ohne jeden Erfolg. Die Hamburger Kohlenfirma Blumeufeld, die mit
dem Import der Kohle von drüben begonnen hatte, sah sich infolge der hohen
Seefracht bald genötigt, von diesem Vorhaben abzustehn, und nicht besser ging
es einer amerikanischen Firma, die etwa 2000 Tonnen Kohlen nach Antwerpen
gesandt hatte, um sie in deu Ruhrhäfen zu verkaufen: die Ware mußte schlie߬
lich uuter dein Preise losgeschlagen werden. Der Schluß lag nahe: Gelang
es der amerikanischen Kohle uuter den damaligen, durch die Kohleunvt ge¬
schaffnen günstigen Umständen nicht, sich auf dem deutschen Markt zu halten,
so konnte unter normalen Verhältnissen um so weniger davon die Rede sein,
und so schienen die Thatsachen die Ansicht des deutschen Generalkonsulats in
Newhork zu bestätigen, das von vornherein die Möglichkeit eines amerikanischen
Wettbewerbs auf den: europäischen Kohlenmarkt in Abrede gestellt hatte.
Aber so leichten Kaufs werden sich die Jankees schwerlich zufrieden
geben. Schon im Anfang März des vorigen Jahres forderte die Bundes¬
regierung in Washington ihre sämtlichen europäischen Konsuln auf, sich über
die Möglichkeit der amerikanische,, Kohleueinfuhr nach Europa zu äußern.
Ihre Berichte, die nunmehr vollständig vorliegen, geben ein sehr interessantes
Material, durch das die Frage ein wesentlich andres Aussehen gewinnt.
Charakteristisch ist, daß alle, an der Spitze der Berliner Generalkonsul Frank
H. Mason, die Sache für keineswegs aussichtslos halten, wenn nur einige
Fehler vermieden werden, die die amerikanischen Exporteure bei ihren Prvbe-
sendungen gemacht haben. Zunächst wird gegen die Beschaffenheit der ameri¬
kanischen Kohle eingewandt, daß sie zu viel Grus enthalte. Es ist das eine
Folge der Verladungsweise, wobei ganze Wagenladungen in den Schiffsraum
gestürzt werden, was die etwas brüchige amerikanische Kohle nicht vertragen
kaun. In der That ist mir dies persönlich von Importeuren in unsern Hafen¬
städten als ein Hauptgrund ihres Mißtrauens gegen die Ware von drüben be¬
zeichnet worden, der nun uoch durch die amerikanische Gewohnheit verstärkt wird,
sofort Zahlung zu verlangen, sobald das Schiff mit der Ware in den Be-
stimmuugshafeu eingelaufen ist. Dadurch ist eine Prüfung der .Kohle, die
natürlich oben ein durchaus stückiges Ansehen hat, unmöglich, und Aus-
stellungen nach der Zahlung haben erfahrungsgemäß geringen Erfolg.
Alle diese Übelstände könnten leicht vermieden werden, wenn die Ameri¬
kaner eine andre Verladnngsweise anwendeten und zugleich die Gewähr für
einen bestimmten Prozentsatz von Stücken, beispielsweise 70 bis 80 vom Hundert
übernahmen, wozu dann uoch die Bewilligung einer dreimonatigen Zahlungs-
frist kommen müßte. Ferner empfehlen die Konsuln, bei Anerbietungen und
Aufträge» die Preise nicht etwa „ub Grube" oder „frei an Bord im ameri¬
kanischen Hafen" zu stellen, da der Empfänger selten in der Lage sei, die Kosten
der Überfahrt zu berechnen; sie empfehlen vielmehr, in den Preis sofort Fracht
und Seeversicherung einzuschließen und somit die Kohle zu dem gestellten Preise
frei air Bord im europäischen Hafen zu liefern. Noch besser freilich wäre es,
um den europäischen Plätzen Lagerstätten und Agenturen für den Verkauf
amerikanischer .Kohle einzurichten. Aber dies sind alles mehr Kleinigkeiten im
Vergleich mit der Frachtfrage. Da die amerikanische Ausfuhr nach Europa
größtenteils aus Massengütern besteht, während sich die Einfuhr von hier nach
drüben wesentlich ans fertigen Fabrikaten zusammensetzt, die einen viel geringern
Raum eiuuehiueu, so ist es immer schwer für die von Amerika kommenden
Schiffe genügend Rückfracht zu finden, und die Ozeanfrachten sind infolgedessen
ziemlich hoch.
Nun kostet die amerikanische Kohle am Orte der Gewinnung durchschnitt¬
lich 4,62 Mark die Tonne, in Peunsvlvmnen und Virginien sogar noch weniger;
mit Einschluß des Transports an die Küste kommt sie in den atlantischen Höfen
wie Baltimore und Newport News anf 7 bis 8 Mark zu stehn. Rechnet man
nun die Ozeanfracht mit 15 bis 16 Mark für die Tonne, wofür augenblicklich
sicher kein Schiffsraum für Kohle zu haben ist, so würde sich der Preis der
amerikanischen Kohle anf 22 bis 24 Mark in Hamburg stellen. Dafür aber
ist sie natürlich unverkäuflich, denn da Kohlen augenblicklich in Newcastle zu
12 bis 13 Mark verknnft werden, und die Fracht mich Hamburg etwa 4 Mark,
uach den Ostseehüfcu etwa 3 Mark 60 Pfennige beträgt, so können englische
Kohlen nach Deutschland jederzeit für 16 Mark bis 16 Mark 50 Pfennige
herübergeschafft werden. Anders liegt die Sache im Mittelmeer, wo die beste
Cardiffkohle, die am Orte jetzt etwa 18 Mark kostet, mit Anrechnung der
Fracht auf 25 bis 26 Mark zu stehn kommt, und hierher ist denn mich der
größte Teil der amerikanischen Kohlenansfuhr im Januar dieses Jahres ge¬
gangen, die sich ans 23859 Tonnen gegen 14976 Tonnen in demselben Monat
des Vorjahrs belaufen hat.
Daraus ergiebt sich, daß es hauptsächlich ans die Hernbsetzling der Ozean-
fruchten ankommt, wenn die amerikanische.Kohle nicht bloß uuter außergewöhn¬
lichen Verhältnissen, wie im Vorjahre, sondern dauernd bei uns konkurrenz¬
fähig bleiben soll. Zu diesem Behufe wird nun den amerikanischen Kohlen¬
grubenbesitzern empfohlen, sich eigue Kohientransportschiffe anzuschaffen, wodurch
zunächst der Needereiverdienst ausgeschaltet wird. Die Schiffe solle« möglichst
groß und mit den besten Ladevorrichtnngen versehen sein; dagegen könnten, da es
ans Geschwindigkeit nicht ankommt, ziemlich kleine Maschinen verwandt werden,
wodurch zugleich weniger Raum weggenommen und der eigue Kohlenverbrauch
vermindert würde; endlich könnte die Zahl der Besatzung ans das allernvt-
wendigste beschränkt werden. Auf diese Weise hofft man die Transportkosten
auf 2 Dollars (8 Mark 40 Pfennige) für die Tonne herunterzubringen, und
daß dies gelingt, ist keineswegs unbedingt ausgeschlossen. Alsdann würde sich
die amerikanische Kohle frei an Bord im europäischen Hafen auf 15 Mark
50 Pfennige bis 16 Mark 50 Pfennige stellen, womit schon die Möglichkeit
eines Wettbewerbs ans den meisten europäischen Märkten gegeben wäre. Natürlich
hat der englische Kohlennusfnhrzoll die Aussichten für den Import amerika¬
nischer Kohle noch bedeutend verbessert.
Es dürfen aber noch zwei andre Dinge nicht außer acht gelassen werden,
die eine weitere Preisermäßigung ermöglichen würden. Zunächst könnte die
Bahnfracht von den Kohlengebieten bis an die See sicherlich weiter herab¬
gesetzt werden, und daß dies geschieht, ist um so ninhrscheinlicher, als mehrere
der zur See führenden Bahnen zugleich die größten Kohlengrubenbesitzer sind
und die Preise also so billig stellen könnten wie nur möglich. Alsdann aber
— und das ist ein Punkt, der noch nicht genügend beachtet ist — sind die
Unterstützungen in Anschlag zu bringen, die der amerikanischen Kohlenausfnhr
aus einem Schiffssubsidieugesetz zufließe» würden, wie es von dem republika¬
nischen Senator Mark Hanna geplant worden ist und trotz des Fiaskos, das
er in der letzten Kongreßsitznng damit gemacht hat, doch wohl schließlich durch¬
geführt werden wird. DaS Gesetz, das zur Hebung der amerikanischen Handels¬
flotte nud Schiffbauiudnstrie bestimmt ist, setzt für die im auswärtigen Handel
thätigen Schiffe eine Reihe von Prämien fest, die zwischen 1 und 3,8 Cents
l4,2 und 16 Pfennige) für je hundert Seemeilen anf die Bruttotonne betragen.
Nimmt man nun auch den geringsten Satz an, so würde sich, da die Ent
fernung von Baltimore nach Hamburg 3500 Seemeilen beträgt, die Prämie
mindestens auf 1 Mark 40 Pfennige für die Brnttoregistertonne belaufen; es
wäre demnach keineswegs ausgeschlossen, daß sich die gesamte Bahn- und See¬
fracht noch wesentlich billiger stellen würde. Daß aber ein Schiffssubsidien-
gesetz in irgend welcher Form angenommen wird, sollte nicht bezweifelt werden,
denn der Widerstand richtet sich ja nicht gegen die Sache selbst, sondern gegen
die Bemessung der einzelnen Prämiensätze, weil durch diese die Gesellschaften
und besonders die schnellen Passagierdmnpfer übermäßig bevorzugt werden.
Danach liegt also ein amerikanischer Wettbewerb auf dem deutschen Kohlen¬
markt keineswegs außer dem Bereich der Möglichkeit, und vom Standpunkt
des Verbrauchers ist er jedenfalls freudig zu begrüßen, zumal da der Preis,
für den die amerikanische Kohle herübergebracht werden kann, immer so bleiben
wird, daß auch unsre einheimische Kohlenindnstrie dabei ganz wohl bestehn
kann. Solche Raubzüge allerdings wie im Borjahr würden dann ausge¬
schlossen sein.
Sehr viel schlimmer dagegen steht es mit der amerikanischen Konkurrenz
ans dem Eisenmarkt, die angenblicklich nur durch ganz vorübergehende Ver¬
hältnisse gehindert wird, sich in ihrer ganzen Gefährlichkeit zu offenbaren.
Auch in der Eisenindustrie sind die Amerikaner dnrch die Billigkeit der Roh¬
materialien in wesentlich günstigerer Lage als Enropa. Die Haupterzlager-
stätte» der Vereinigten Staaten, die über zwei Drittel der gesamte» Eisenerz¬
erzeugung liefern, liegen in einer Hügelkette, die sich vom Ostende des Obern
Sees in Minnesota nach Westen zu erstreckt und ihre Ausläufer noch in die
Staaten Wisconsin und Michigan hineinsendet. Man unterscheidet mehrere
Gebiete, nnter denen der Mesabidistrikt der bedeutendste ist. Die hier ge¬
wonnenen Erze werden nach den Häfen des Obern Sees, Duluth, Superior,
Marquette, Two Harbors, Esccmaba und Ahstand verladen, von mo sie auf
großen Dampfern von durchschnittlich 6000 Tonnen Gehalt nach den drei
Empfangshäfen am Eriesee Cleveland, Ashtabula und Connenut Harbor be¬
fördert werden. Ein geringerer Teil der Ausbeute, besonders des am Michigan
liegenden Menomineedistrikts, wird direkt nach Chicago gebracht und geht
dort in die Eisenindustrie vou Illinois ein. Die Hauptmasse dagegen gelaugt
aus den Eriehäfen mit der Bahn nach Pittsburg, dem Mittelpunkt der pe»n-
sylvcmischen Eisenindustrie, und kommt hier ans etwa 9 Mark für die Tonne
zu steh». Diese Summe setzt sich folgendermaßen zusammen: Preis des
Erzes an Ort und Stelle etwa 85 Pfennige für die Tonne, Fracht bis zum
Berladnngshafen durchschnittlich 5'. Mark 40 Pfennige, Schiffsfracht bis zu
den Empfangöhäfen 2 Mark 55 Pfennige, endlich Bahnfracht bis zum Pitts-
burger Jndustriebezirk 2 Mark 12 Pfennige. Selbstverständlich liegen den
hier genannten Zahlen normalere Verhältnisse als die heutigen zu Grunde,
denn im letzten Jahre betrug die Seefracht allem etwas über 5 Mark; andrer-
seits können Leute wie Carnegie, die über eigne Dampfer und Bahnlinien
verfügen, noch bedeutend billiger ihr Material bekommen. Rechnet man nun
den Kokspreis hinzu, der sich im Jahre 1897 uns 8 Mark 40 Pfennige, 1898
ans 8 Mark 90 Pfennige stellte, so ist es kein Wunder, wen» trotz der hohen
amerikanischen Löhne um 1. Januar 1899, also kurz vor dem Eintritt der
Hochkonjunktur, die Tonne Roheisen (1000 Kilogramm) in Pittsburg zu
32 Mark 55 Pfennigen erblasen werden konnte, in Alabama, wo Eisenerz
und Kohle noch dichter bei einander liegen, sogar noch etwa 5 Mark 30 Pfennige
billiger.
Dagegen waren in demselben Zeitpunkt die Gestehungskosten für eine
Tonne Roheisen in Europa bedeutend höher: im Middlesborough beliefen sie
sich auf 52 Mark 37 Pfennige, in Oberschlesien nach den Berechnungen des
Assessors Jüngst für 1898 auf 54 Mark 31 Pfennige, in Böhmen nach der
Aufstellung des Direktors Kestrnnek für 1899 auf 56 Mark 10 Pfennige, für
Rußland haben sie zuletzt sogar 73 Mark 30 Pfennige betragen. Wie günstig
die Dinge für den amerikanischen Wettbewerb liegen, ist. also ohne weiteres
klar. Zieht man in Betracht, daß die Durchfracht von Pittsburg nach Liver¬
pool etwa 13 Mark 50 Pfennige beträgt, so konnte also damals amerikanisches
Roheisen zum Selbstkostenpreis von 40 Mark nach Liverpool hinübergeschafft
werden und somit das einheimische um etwa 6 Mark unterbieten. Daß das
wirklich in großem Umfang geschehn ist, lehrt die englische Einfuhrstatistik,
nach der die Einfuhr amerikanischen Roheisens von 77 578 Tonnen im Jahre
1898 ans 95791 im vergangnen Jahr, der Import amerikanische» Rohstahls
in derselben Zeit sogar von 29844 auf 160150 Tonnen angewachsen ist.
Auch im laufenden Jahre ist noch keine Abnahme zu spüren, in den ersten
beiden Monaten sind 21959 Tonnen Roheisen und 33581 Tonnen Rvhstahl
aus den Vereinigten Staaten nach England eingeführt worden. Nimmt man
hinzu, daß selbst die Kolouialregicrnngen häufig amerikanischen Angeboten den
Vorzug geben, da sie sich durch größere Billigkeit und schnellere Lieferung
vor den englischen auszeichnen, so kann man ermessen, wie schwer die ameri¬
kanische Konkurrenz schon jetzt auf dem englischen Eisengewerbe lastet. Das aber
ist klar: der Druck, den die Vereinigten Staaten auf England ausüben, muß
sich natürlich auf die übrigen europäischen Mächte fortpflanzen: man wußte
sich ja in Oberschlesien im Anfang dieses Jahres vor den billigen Angeboten
englischen Roheisens gar nicht zu bergen. Nun ist richtig, daß die englische
Eisenindustrie in den letzten Jahren mit besonders ungünstigen Verhältnissen
kämpfen mußte; der hohe Preis der importierten spanischen Erze, die teuern
Kohlen und die hohen Löhne haben die Gestehungskosten im Cleveland-
bezirk ans 56 Mark und darüber gebracht, während sie sich in normalen Zeiten
in fünfjährigem Durchschnitt auf etwa 41 Mark stellen. Aber auch dann,
wenn solche Zeiten wiederkehren, bleibt Amerika konkurrenzfähig; es bedarf
nur einer Herabsetzung der Frachten, und schon denkt man drüben daran, von
den Eriehäfen durch den Wcllandkcmal direkt nach Liverpool zu exportieren,
wodurch die Bahnfracht, die jetzt von Pittsburg nach Baltimore für Roheisen
7 Mark 90 Pfennige beträgt, auf ein geringes Maß herabgedrückt wird.
Die dringendste Gefahr für den europäischen Markt liegt übrigens augen¬
blicklich gar nicht einmal in den Vereinigten Staaten, sondern in Kanada.
Dort hat die vomiiricm 8t«z<zi -in<I Iran vomvau^ im vergangnen Jahr auf
Kap Breton (Neuschottland) riesige Werke anlegen lassen, die auf eine Jahres¬
erzeugung von 254000 Tonnen Stahl und 152400 Tonnen Roheisen zum
Verkauf eingerichtet sind. Die Bedingungen liegen so günstig, daß sich der
Durchschnittspreis des Erzes auf 4 Mark 55 Pfennige, der der Kohle auf
5 Mark 17 Pfennige für die Tonne am Ofen stellen soll, wonach die Her
stellnngskosten für die Tonne Roheisen nicht über 22 Mark 75 Pfennige, für
vorgeblockten Stahl nicht über 46 Mark 50 Pfennige hinausgehn würden,
Dazu liegt Kap Breton ungemein günstig für die Ausfuhr nach Europa, da
die Entfernung nach Liverpool nnr etwa 2250, nach Hamburg 2800, nach
Antwerpen 2500 Seemeilen betragt, und endlich zahlt die kanadische Regierung
bis zum 1. Juli 1907 der Gesellschaft ganz beträchtliche Prämien, die sich von
13 Mark 70 Pfennigen für die Tonne ans einheimischein Erz erblascnen Roh¬
eisens im Anfang allmählich bis auf 2 Mark 75 Pfennige ermäßigen. Es ist
klar, daß mit solchen Preisen die Dominion Ltssl unä Iron Qompg.0^ nicht nnr
in Europa, souderu beinah in den Vereinigten Staaten trotz des Zolles konkur¬
rierend auftreten kann.
Liegt nnn schon in den amerikanischen Verhältnissen eine immerwährende
Gefahr für den europäischen Eisenmarkt, die nur durch die andauernd sehr
starke Nachfrage des Inlands gehindert wird, sich zu entwickeln, so wird sie
neuerdings noch durch den Abschluß des großen Stnhltrnsts, der Ilintsä Les-to«
Ltsol OorporMon, gesteigert, die mit annähernd 4600 Millionen Mark von
sieben der lcistnngsfähigsten Stahlgesellschaften nnter Führung John Pierpont
Morgans begründet wurde, um die immer unbequemer werdende Konkurrenz
Andren» Carnegies auszulaufen. Die vereinigten Gesellschaften — es sind die
I'sclsrg.l Ztö<it, die Uatwnick Ltsol, die ^insriomr Lksol g.na ^Viro, die ^.ins-
rio-in Lllölzt Ltsöl, die ^rum'iogn Leset emä IIoop, die ^.msrws.n lirrMte
und die Rational IXibo LoinpM^, zu denen sich nun als achte die Oarimg'w
Ltsvl ^ompirny gesellt beherrschen zwei Drittel der Gesamtstahlproduktivn,
einzelne Zweige wie die Schienenfabrikation nahezu vollständig; ferner gebieten
sie nach der nunmehr vvllzognen Vereinigung mit dem Rockefellerschen Unter¬
nehmen über 125 Schiffe für den Erztranspvrt ans den großen Seen, sonne
über eine Reihe von Erzgruben am Obern See, deren Jahreserzcugnng sich ans
zwölf Millionen Tonnen Eisenerz beläuft. Es ist selbstverständlich, daß ein solches
Riesenunternehmen die Eisenbahngesellschaften noch zu ganz andern Fracht¬
nachlässen als bisher zwingen und dadurch eine weitere Verringerung der Ge-
stehungs- und Versandkosten herbeiführen turn. Darüber sucht man sich nnn
mit folgenden zwei Erwägungen zu trösten. Zunächst umfaßt der Trust noch
nicht sämtliche Eisen- und Stahlwerke der Union: besonders die Werke des
Südens, wo die Produktion noch billiger ist, die ^sun^to-alli, lion ana Lkoei,
die Oon8o1iäalsä Loul tua Iron Oompimy von Alabama, die ZZrnxirg Iron incl
Ktssl, die Kloss Zbölllolä Ktsol -ma Iron, die VirUnm trou Lo»1 anni (nous
und die Mpublwim Iron ana Ltsol vowpiin^, die znsanunen annähernd drei
Millionen Tonnen Roheisen jährlich produzieren, sowie manche kleinere Gesell¬
schaften haben sich nicht angeschlossen, und es heißt nenerdings, daß sich einige
von ihnen zu einem Gegcntrust zusammenthun wollen, der aber schwerlich gegen
den Gegner aufkommen wird.
Zweitens sucht man sich damit zu beruhigen, daß der große Stahltrnst
infolge der starken Verwässeruug seines Kapitals, das annähernd 1300 Mil¬
lionen Mark höher ist, als das der in ihm aufgegaugueu Gesellschaften, ge¬
zwungen sein wird, die Preise hochzuhalten, um eine anständige Berzinsnng
herauszuwirtschaftcn. Allein das kaun natürlich mir so lange dauern, wie die
riesige Jnlanduachfrage vorhält, die gegenwärtig die Preise in Amerika in die
Höhe treibt; sobald sie nachläßt, hat der Trust die Wahl, entweder seine Pro¬
duktion einzuschränken oder deu Überschuß über den Jnlaudbedarf zu Schleuder-
preisen ins Anstand abzustoßen. Wer die Gewohnheiten der amerikanischen
Trusts kennt, kaun nicht darüber im Zweifel s^,, was uns dann bevorsteht,
zumal da die hohen Jnlandpreisc den Amerikanern dnrch den Dingleh-Tarif
gesichert sind. Die Gefahr bleibt also drohend; ein Umschwung in der Kon¬
junktur in den Vereinigten Staaten wird sich sofort ans dem europäischen Markt
fühlbar machen, der dann als <Iunrpiu^ grouiui für die amerikanischen Er¬
zeugnisse herhalten muß. Das einzige Gegenmittel wird alsdann das sein
müssen, daß die europäischen Industrien gleichfalls ihre Produktionskosten
Herabdrücken, und das wird besonders da schwer halten, wo den Unternehmern
mächtige Arbeiterverbändc gegenüberstehn, oder wo hntiptsächlich mit teuern
importierten Erzen gearbeitet wird, wie in England, Rheinland-Westfalen lind
Oberschlesien, Um so dankenswerter ist es, daß die Regierung schon jetzt Vor¬
kehrungen trifft, dnrch Eisenbahnfrachtherabsetzniig dem westfälischen Industrie¬
bezirk den Bezug der billigen lothringischen Eisenerze statt der teuern schwe¬
dischen und spanischen zu ermöglichen. Vor allem aber werden auch Kohlen-
grubeubesitzer und Koksbreuuer alsdann das ihrige zur Herabsetzung der
Gestehungskosten beitragen müssen: die Art und Weise, wie sie augenblicklich
vorgehn, um die Preise ihrer Erzeugnisse auf Kosten der notleidenden Eisen¬
industrie hochzuhalten, könnte dann geradezu verhängnisvoll wirken.
Immerhin ist eins klar: daß vieles von dem Bestehn der gegenwärtigen
Zollgesetzgebung in den Vereinigten Staaten abhängt. In dem Augenblick,
wo die Zollschranken fallen, und der künstliche Unterschied zwischen Inland- und
Auslandpreis nicht mehr aufrecht erhalten werden kann, sind die Amerikaner
genötigt, auch im Ausland Preise zu verlangen, die ihnen eiuen anständigen
Verdienst übrig lassen. Auch dann werden sie fortfahren, auf fremden Absatz¬
gebieten wie Ostasien und Südamerika den europäischen Industrien Konkurrenz
zu macheu, aber den einheimischen Markt müßten diese alsdann gegen Amerika
behaupten können, ohne daß die verschiednen Regierungen zu Eisenzöllen zu
greifen brauchten, Ju der That aber scheint eS, als ob Amerika vor eiuer
bedeutsamen Schwenkung seiner Handelspolitik stünde, Daß Staatssekretär
Gage keineswegs ein blinder Anhänger der Schutzzollpolitik ist, steht fest, und
auch Mac Kinleh, einst der Rufer im Streit für deu Protektionismus, scheint
nicht zu denen zu gehören, die nichts gelernt und nichts vergessen haben: seine
Antwort, die Mr, Carson dem Home Market Club übermitteln mußte, und
mehr noch seiue letzte Jnanguratiousrede mit ihrem Preise der hnudelSvertrags-
mäßigen Regelung der Weltwirtschaft geben jedenfalls zu denken. Die Hoch-
sind der schutzzölluerischeu Bestrebungen ist vorüber: mit dem Anwachsen der
Trusts, die sie emporgehoben hat, treten auch deren Schattenseiten immer
stärker hervor, und das amerikanische Volk wird es allmählich müde, den Trusts
hohe Jnlnndpreise zu bezahlen, damit sie auf dem Weltmarkt das Ausland
unterbieten können. Wenn auch der Antrag Babeock vom 11, Februar d. I.
auf Abschaffung der Eisenzölle diesesmal noch sang- und klanglos begraben
wurde, so ist er doch vielleicht der Vorbote des kommenden Sturms gegen die
bestehende Zollgesetzgebung. Durch ihren Fall würde allerdings die Gefahr,
die dein europäischen Eisengewerbe von drüben droht, ganz bedeutend verringert
or dem Eingehn auf die zum guten Teil berechtigte, zum Teil
auch sehr übertriebne und einseitige Kritik, die die modernen
Sozialreformer der großstädtischen Wvhnungs- und Bodenpolitik
des neunzehnten Jahrhunderts angedeihen lassen, und der kurzen
Würdigung der gleichfalls teils berechtigten, teils über das Ziel
hinausschießenden neuern Ncformvorschlüge ist zunächst noch einiges über die
ganz besonders wichtigen aber noch immer arg unterschätzten Maßregeln zu
sagen, die der „Wasserkopfbildung" vorbeugen sollen, und ohne die jede Reform
des städtischen Wohnungswesens geradezu verhängnisvoll werden kann: die
Eindämmung der Landflucht in den Wegzugsgebieteu selbst.
Wie überhaupt, so kann freilich auch in dieser Beziehung hier an eine
auch nur annähernd erschöpfende Behandlung der Fragen nicht gedacht werden,
da das unsern Nahmen weit überschreiten würde. Es kann mir hier nur
darauf ankommen, den größer,: gebildeten Leserkreis für einige allgemeine
Dinge zu interessieren, die bei der augenscheinlich jetzt kräftiger in Fluß
kommenden großen wohnungs- und bodeupolitischen Neformfrage mir besonders
beachtenswert erscheinen, während auf die zahlreichen, gleichfalls sehr wichtigen
wirtschaftlichen, technischen und juristischen Einzelheiten einzugehn sich wohl in
den nächsten Jahren auch für die Grenzboten noch oft genug Gelegenheit
bieten wird.
Im Jahre 1892 schloß der ans dem Gebiet der Sozialrcform und Sozial-
statistik rühmlichst bekannte Berliner Statistiker Dr. G. Berthold einen Aufsah
im Allgemeinen Statistischen Archiv (G. v. Mähr) über „Die Wohnungsverhält-
nisse der ärmern Klassen in Berlin" mit folgender beherzigenswerten Bemerkung:
„Je besser und billiger die kleinen Wohnungen in Berlin werden, desto mehr
steigt die Gefahr eines stärkern ländlichen Zuzugs. Um diesem Vorzubeugen,
ist vor alln» dafür zu sorgen, daß sich die Landarbeiter in ihrer Stellung
wohl und zufrieden fühlen; es muß ihnen die Möglichkeit geboten werden,
auf dein Lande das zu erlangen, was sie bisher in der Stadt suchten, zunächst
also die Möglichkeit, sich wirtschaftlich selbständig zu machen, sich ein festes
Heim zu gründen. Es ist dies um so wichtiger, da die Klagen über mangelnde
Arbeitskräfte auf dem Lande im Wachsen begriffen sind, wahrend in Städten,
namentlich in Berlin, vielfach Überfluß an solchen herrscht." Es herrscht in
den Großstädten jetzt wieder ein recht bedenklicher Überfluß an Arbeitskräften
und auf dem Lande entsprechender Mangel daran. Die Regierung hat des¬
halb auch Veranlassung genommen, sich etwas mehr als bisher um den Arbeits¬
nachweis zu kümmern, wobei es hauptsächlich auf die Überweisung der in der
Stadt und in der Industrie überschüssig werdenden Arbeiter auf das Land und
in die Landwirtschaft abgesehen zu sein scheint. Wenn man sich aber in Alt¬
preußen nicht entschließt, sehr bald und ganz energisch die ans dem Lande und
in der Landwirtschaft liegenden Gründe zu beseitigen, die den Landarbeitern
die Heimat verleiden und sie in die Städte und in die Industrie treibe», so
wird diese neue Arbeitsnachlveisaktiv» der Regierung für ihren Zweck wohl
ein wertloses opus 0v6ra,drin bleiben, wie wir schon so manches erlebt haben.
Man wird dann weder die Arbeitskräfte, die die Landwirte brauchen können,
und die überhaupt fürs Land taugen, aus der Stadt dorthin bringen, uoch
vollends die tüchtigen Landarbeiter auf dem Lande festhalten. Wie in der
zweiten Hälfte der siebziger Jahre, als die Städte und die Industrie eine
Menge geringer Arbeitskräfte abstießen, wird das Land wahrscheinlich auch
jetzt wieder in der Hauptsache eine» sehr unerwünschten Zuzug unzuverlässigen
und unbrauchbaren Gesindels aus den Städten erhalten, Stammgäste für die
Verpflegungsstationen und Arbeiterkolonien, die man ans den Dörfern so bald
als möglich wieder verjagen sollte, statt sie dort etwa „seßhaft" zu macheu.
Die Regierung muß endlich einsehen, daß mit dem Kampf gegen die Land¬
flucht bittrer Ernst gemacht werden muß, und daß sie diesen Kampf durch¬
führen muß zu allererst gegen einen großen Teil der landwirtschaftlichen Unter¬
nehmer. Wenn die preußischen Staatsmänner die Durchführung dieser Sozial¬
reform auf dem Lande nicht als eine der ersten und wichtigsten Aufgaben des
zwanzigsten Jahrhunderts anerkennen und die Opposition der agrarischen Unter¬
nehmerschaft zu brechen wagen, so sind sie den großen Aufgaben der nächsten
Zukunft überhaupt nicht gewachsen. In scharfem Kampfe gegen die industrielle»
Unternehmer hat der Staat in den letzte» Zeiten des neunzehnten Jahrhunderts
die städtische Sozialrefvrm außerordentlich gefördert, für die ländliche ist da¬
gegen so gut wie nichts geschehn. Wie soll da die Landflucht ein Ende nehmen?
Es müßte wahrhaftig als die verkehrte Welt erscheinen, wenn die Regierung
und die Berliner Sozialreformer den Städten und der Industrie immer neue,
immer gewaltigere, zum Teil geradezu grenzenlose Aufgaben in sozialer Be¬
ziehung stelle» wollte», oh»e zugleich die vernachlässigten, unerträglich und
unhaltbar gewordnen soziale» Z»sea»de a»f den, Lande mit allen zu Gebote
stehenden Mitteln in demselben „sozialen" Sinne, den man in der Stadt be¬
thätigt, zu reformieren.
Es ist schon kurz darauf hingewiesen worden, daß der linke Flügel der
kathedersozialistischen Nationalökonomen, namentlich auch Rauchberg in seinem
Buch über die deutsche Berufs- und Gewerbezählung von 1895, die Landflucht
viel zu leicht zu nehmen scheint. Rauchberg sagt dort unter anderm, die
Stadtbevölkerung habe von 1882 bis 1895 zwar um 6893 788 Personen oder
36,47 Prozent zugenommen, die Bevölkerung des flachen Landes dagegen um
345617 Personen oder 1,31 Prozent abgenommen. Diese Abnahme sei aber
nur scheinbar und dadurch hervorgerufen, daß die Wohnplätze, die die kritische
Einwohnerzahl von 2000 überschritten, hätten, aus der Kategorie der Landorte
ausschieden und fortab von der Statistik zu den städtischen Wohnplützen ge¬
rechnet würden. Das gleiche gelte auch von den weitern Verschiebungen nach
oben hin. Von einer allgemeinen Landflucht oder drohenden Entvölkerung
des Platten Landes durch den Zug nach der Stadt könne demnach absolut
nicht die Rede sein. Das gehe auch Scherr daraus hervor, daß von den gering¬
fügigen Ausnahmen in den Regierungsbezirken Kostin, Sigmaringen und Jagst-
kreis abgesehen, 1882 bis 1895 nirgends (!) im Deutschen Reich eine Abnahme
der Bevölkerung stattgefunden habe. Die „Landflucht" sei ein agrarisches
Märchen. Das ist eine sehr unvorsichtige Behauptung, wie man sie wohl
einem so phantasiereichen Nationalökonomen wie Brentano zutrauen könnte,
aber niemals einem Statistiker von Fach wie Rauchberg verzeihen kann.
Die Landflucht ist in den preußischen Ostprovinzen keine neue Erscheinung.
Schon in den sechziger und siebziger Jahren wurde darüber von sachkundigen
Landwirten, Beamten und Gelehrten viel gesprochen und geschrieben. Freilich
zogen die Landflüchtigen damals zu einem weit größer» Teile ins Ausland als
heute, und die starke Abwandrung, die erst begann, verursachte natürlich damals
zunächst keinen so fühlbaren Arbeitermnngel in der Landwirtschaft und so sicht¬
bare Lücken in der Landbevölkerung wie jetzt, nachdem sie ein Menschenalter
angedauert hat. Ganz zeitgemäß hat nenerdings der Abgeordnete Gothein in
einem sonst gerade nicht durch wissenschaftliche Selbständigkeit lind Zuverlässig¬
keit hervorragenden Buche über deu deutschen Außenhandels nu diese Landflucht
vor dreißig Jahren erinnert, indem er einige Zahlen über den Rückgang der
Bevölkerung in den preußischen Landgemeinden der Ostprovinzen von 1867
bis 1875 aus der amtlichen Statistik reproduzierte. Allein in Schlesien wiesen
damals dreißig Kreise eine zum Teil starke Entvölkerung der Landgemeinden
auf, in Brandenburg dreizehn Kreise, in Pommern zwanzig usw. Seit 1880 ist
dann die Abwandrung vom Lande aufs neue stark in Fluß gekommen. Wie
der jüngst veröffentlichte amtliche Bericht über die vorläufigen Ergebnisse der
Volkszählung vom 1. Dezember 1900 im Königreich Preußen mitteilt, war in
den einzelnen Provinzen die Zahl der Kreise, die in dem vorhergehenden
Jahrfünft eine Abnahme der Bevölkerung — nicht nur der ländlichen — er¬
fahren hatte, folgende:
Bis 1885 fällt die überseeische Auswandrung noch sehr ins Gewicht,
während sie in den nächsten Jahrfünften stark zurückgeht und im letzten nur
noch verschwindend in Betracht kommt. Der Anteil der Ostprovinzen an der
Gesamtzahl der entvölkerten Kreise stieg zunächst vou 53,7 auf 63,6 Prozent,
siel dann auf 55,8 und stieg im letzten Jahrfünft ans 74,6. Unzulässig ist es,
die Landflucht nach den Gesamtzahlen der Regierungsbezirke einschließlich der
Städte bemessen zu wolle», wie Rauchberg das thut. Wenn man so urteilte,
wäre 1895 bis 1900 mir in den beiden Bezirken Königsberg und Gumbinnen
— deren Gesamtbevölkerung auch nur um —0,13 und —1,33 Prozent zuriick-
gegangen ist — von Landflucht überhaupt zu reden, in den drei vorhergehenden
Jahrfünften sogar nur in Sigmaringen. Der amtliche Bericht über die Volks¬
zählung von 1900 hat aber durchaus Recht, wenn er sagt: „Wie in Europa
die Quellen des Auswaudrungsstroms zu suchen sind, der sich in alle andern
Erdteile ergießt, so bilden die östlichen Provinzen vorwiegend die Auswaudruugs-
gebiete für die übrigen Landesteile der preußischen Monarchie. Während aber
die internationalen Wandrungen im allgemeinen einem natürlichen Ausgleich
zwischen dicht und dünn besiedelten Ländern dienen, verschärfen die Biunen-
wandrnngeu im preußischen Staate zur Zeit den Gegensatz von Entvölkerung des
Ostens und Übervölkerung des Westens in ungesunder Weise." Noch weit mehr
verschärfen diese Wandrnugen aber deu ungesunden Gegensatz zwischen der
Übervölkerung der größern Städte und sonstigen Industriezentren und der Ent¬
völkerung des platten Landes einschließlich eines großen Teils der alten kleinen
Landstädte, und zwar auch innerhalb der Ostprovinzen selbst. Allein im letzten
Jahrfünft hat im Regierungsbezirk Königsberg in 17 von im ganzen 20 Kreisen
die Bevölkerung der ländlichen Orte, in 9 Kreisen auch die der Städte ab¬
genommen. Von 48 Städten sind 24 zurückgegangen. Von den 17 Kreisen
des Bezirks Gumbinnen haben in 15 die ländlichen Orte und von 19 Städten
8 an Einwohnern verloren. Im Bezirk Danzig ist dagegen in keinem Kreise
die ländliche Bevölkerung zurückgegangen, wohl aber haben von 12 Städten
4 Verluste erlitten. Im Bezirk Marienwerder haben mich nur 4 von 17 Kreisen
eine Einbuße an Landbewohnern auszuweisen, dagegen sind 13 von 41 Städten
zurückgegangen. Im Bezirk Potsdam verloren die Landorte in 6 von 20 Kreisen
an Einwohnern, und von 58 Städten gingen 25 zurück. In Frankfurt a. O.
verlöre» die Landgemeinden in 12 von 22 Kreisen, und von 61 Städten ver¬
loren 41. Der Regierungsbezirk Breslau zeigte in 17 von 25 Kreisen einen
Rückgang der Landbevölkerung, in 4 Kreisen und in 21 Städten auch einen
Rückgang der Stadtbevölkerung. Im Regierungsbezirk Liegnitz ging von
21 Kreisen in 10 die Landbevölkerung, in 1 Kreis und 15 Städten auch die
der Stadtbevölkerung zurück. Im Bezirk Oppeln nahm in den 8 landwirt¬
schaftlich blühendsten, vorwiegend deutschen von 24 Kreisen die Landbewohner-
schnft ab, in 2 Kreisen und 17 Städten auch die städtische Bevölkerung. Von
der Mitteilung weiterer Zahlen kann hier Abstand genommen werden. Sie
würde, wenn sie halbwegs erschöpfend sein sollte, viel zu weit führen. Auch
ist die Materie von der amtlichen Statistik noch nicht genügend berücksichtigt,
viel weniger als es möglich und nötig wäre. Es fehlt leider in Preußen
überhaupt sehr a» der gebvtnen Pflege der Loknlstntistik und Ortskunde, wie es
ja auch gar nicht anders sein kann, da das eine „Königliche Statistische Bnreciu"
in Berlin natürlich den modernen Aufgaben in keiner Weise gerecht zu werden
vermag, zu deren Lösung zum wenigsten in jeder Provinz ein etwa so wie die
Berliner Zentralstelle ausgestattetes Amt geschaffen werden müßte. Solche
Ämter wären wahrhaftig noch nötiger als die Provinzialnrchivc, von denen
niemand was weiß. Preußen steht in dieser Beziehung weit hinter den kleinern
Bundesstnaten zurück. Die mitgeteilten Zahlen werden aber genügen, dem
Leser ein Bild von der großen Verbreitung und Wichtigkeit der Landflucht
zu geben, die im Osten durchaus nicht mehr in der gesunden und natürlichen
Abgabe des Bevölkerungsüberschusses vom Lande an die Stadt besteht, sondern
in einer seit Jahrzehnten in immer weiteren Umfange und Höheren Maße auf¬
tretende», wenn mich zeitweise Schwankungen und Unterbrechungen aus¬
gesetzte» absoluten Abnahme der Landbevölkerung, die mit der Zeit zur wirk¬
lichen Entvölkerung führen muß und vielfach schon geführt hat.
Ein ,,agrarisches Märchen" ist also die Landflucht gewiß nicht, sonder»
ein wirklicher, sehr ernster agrarischer und zugleich sozialer und nationaler
Notstand. Und nach den Erfahrungen der letzten dreißig Jahre ist für mich
— das muß ich nochmals betonen — jeder Zweifel daran ausgeschlossen, daß
die jetzt angebahnte schnelle und große Verbillignng und Verbesserung der
Arbeiterlvohnverhältnisse in den größern Städten und andern stark anwachsenden
Industrieorten ans Kosten der Gemeinden oder gemeinnütziger Fonds, zumal
bei wieder eintretendem geschäftlichem Aufschwung, zu einer im höchsten Grade
verhängnisvollen Steigerung der Landflucht führen muß, wenn nicht zugleich
uoch weit energischer und vielseitiger die im Vergleich mit den städtischen
Arbeitern sehr viel schlechtere soziale Lage der Landarbeiter in unsern Ost-
Provinzen gehoben wird.
Es ist bedauerlich, daß man sogar an maßgebenden Stellen durch die bekannte
langjährige Erfahrung, daß nach beendeter Militärzeit fast kein Landarbeiter
mehr in die ländliche Heimat oder ivenigstens in das landwirtschaftliche Arbeits¬
und Dienstverhältnis zurückkehrt, immer nur veranlaßt wird, das wie ein mora¬
lisches oder intellektuelles Mißverhalten der jungen Leute zu tadeln und auf
ihre Vergnügungssucht und ihren Leichtsinn zu schelten, wohl gar polizeiliche
„Repressionen" und andre Kunststückchen dagegen zu empfehlen, statt daraus
endlich einmal den Schluß zu ziehn, daß die heimatlichen und landwirtschaft¬
lichen Verhältnisse im Vergleich mit städtischen und industriellen doch wohl
wirklich die schlechtem sein müssen, und die Leute Recht haben, das Bessere zu
wählen. Es ist erstaunlich, wie wenig man namentlich in den ostelbischen
Besitzerkreisen selbst, Rittergutsbesitzern wie Bcinern, bisher dieser zweiten Er¬
wägung auch nur den geringsten Raum zu geben geneigt ist. Man hat doch
hier seit einem Menschenalter den fast vollständigen Mangel auch der primi¬
tivsten Heimatliebe bei der grundbesitzlosen, unselbständigen Landarbciterschaft
vor Augen, einen Mangel, von dessen Grade man sich im Süden und Westen,
auch in Mitteldeutschland lind von Ostfricslnnd bis nach Pommern hinein
keine Vorstellung machen kann. Ich habe mich in meinen jungen Jahren
darüber als über eine tadelnswerte Gefühllosigkeit und Herzensroheit der
Knechte und Hofarbeiter oft genug entrüstet, aber ich Hütte blind sein müssen,
wenn ich nicht mit der Zeit eingesehen hätte, daß die bis heute von der großen
Mehrzahl der besitzenden Klasse aufrecht erhaltne, ja seit vierzig Jahren eigent¬
lich erst recht konseanent ausgebildete und praktisch bethätigte Nichtachtung aller
idealem und sozialen Bedürfnisse und Empfindungen des Landproletariats,
kurz daß die Behandlung der Lcindnrbeiter durch die Arbeitgeber gerade in
den gesundem, noch uicht ganz verkommnen Elementen der deutschen Land¬
arbeiterschaft im Osten das bischen Heimatgefühl, das fie vielleicht aus der
Dorfschule mitbringen, auch wohl in der Kirche ub und z» noch empfinden
können, gründlich vernichten mußte. Ich habe oft sehen können, wie bei diesen
heimatlos aufgewachsenen Gesellen aus den Gutsbezirken und Dorfgemeinden
meiner Heimat erst in der Großstadt ein ganz neues, durchaus echtes, naives,
ehrliches und hochzuachtendes Heimatgefühl erwuchs, bei Männern wie bei
Frauen, und daß der Anblick der glänzenden Schaufenster großstädtischer Waren¬
häuser sie eher mit einem gewissen lokalpatriotischen Stolz erfüllte — sie können
dort für billiges Geld ihre Sachen kaufen ebensogut, wie der Herr Graf und der
Herr Kommerzienrat — statt mit Erbitterung, wie Adolf Wagner neuerdings
wieder einmal, man sollte fast meinen, z» Gunsten der ländlichen Sozialmisere
predigt. Dagegen mußte ihnen in der Heimat jeder Prellstein und Grabenrand
als Sondereigentum der „gnädigen" Herrschaft oder der Bauern gelten, ja über¬
haupt unsers Herrgotts Erde, ivv sie darauf traten, standen und lagen, sie
als fremdes Gut anmuten, auf dem sie — zu stehlen geht sie nicht, sonst
stählen sie sie — bei Tag wie bei Nacht rechtmäßig nur soviel zu suchen
hatten, als der Herr ihnen erlaubte oder befahl. Wie das Herrschaftsrecht,
der Herrschaftslurus und der Herrschaftshochmut heutzutage auf dem Lande
das Prvletaricit zu erbittern vermag, das sollte Adolf Wagner recht genau
studieren, ehe er die sozialen Splitter in Stadt und Industrie mehr agitatorisch
als wissenschaftlich hervorhebt und die Balken im ländlichen Arbeitsverhältnis
totschweigt. Wenn die Herren Kathedersvzialisten agrarischer Färbung auch
nur deu hundertsten Teil der nrbeiterfreundlichen Gründlichkeit auf die Er¬
forschung und Darstellung der ländlichen Zustände verwenden wollten, wie auf
die städtischen, so würde wohl much in dieser Beziehung die Regierung ihr
>-überall ör eher aufgeben. Nicht Leichtsinn und Vergnügungssucht verleitet
die jungen Leute, nach der Militürzeit in der Stadt zu bleibe». Erst bei der
Fahne haben sie meist etwas auf sich halten und den Wert einer bei aller
Strenge gesicherten persönlichen Nechtssphüre schätzen lernen. Erst hier haben
sie staunend erlebt, daß Herren von Rang und Namen, fast noch hoher als
der Herr „Leutnant" ans dem Gut oder der gnädige Herr und der Herr In¬
spektor oder gar der Bauer zu Hause wirklich sogar Ehrgefühl bei ihnen
voraussetzten, ganz ernstlich daran glaubten und es geschont wissen wollten.
Das sind für diese Leute ganz außerordentliche Erfahrungen und Eindrücke,
deren Wert dnrch alle die bekannten Sammlungen wahrer und unwahrer
Soldateninißhandlnngsgeschichten auch nicht im geringsten getrübt wird. Wahr¬
haftig, die Leute, die des .Königs Rock mit Borten und mit Ehren zwei Jahre
getragen haben, müssen nur zu oft die Rückkehr in die Stellung des Bauern-
und Hofknechts, wie die Sachen liegen, als uuter ihrer Würde betrachten.
Solchen Thatsachen gegenüber, wie sie die Geschichte der zunehmenden Land¬
flucht in den letzten Jahrzehnten uns vor Augen führt, ist weiteres Vertuschen
dieses Zustands die größte Dummheit. Die Leute laufen fort, weil sich zu
Hanse nicht mehr aushalten. Das ist im großen und ganzen die Wahrheit,
die zur Anerkennung gebracht werden muß.
Auf das allerschärfste muß dann zweitens die Irrlehre zurückgewiesen
werdeu, als ob sich für deutsche Landarbeiter und kleine Landstellenbesitzer
in unsern Ostprovinzeu »ach einem wirtschaftlichen „Naturgesetz" überhaupt nicht
mehr solche Lebensbedingungen schaffen ließen, daß sie trotz berechtigter höherer
sozialer Ansprüche in der alten Heimat und im alten Beruf nushaltcu könnten.
Die Beschwerde!,, die ihnen die Heimat verleiden, die ihnen schon seit lange
das Heimatgefühl geraubt haben, und die sie seit drei Jahrzehnten in zu¬
nehmendem Maße in die Stadt und in die Industrie treiben, sind keine un¬
überwindlichen Naturgewalten, sondern historisch gewordne Mißstände, aller¬
dings sehr komplizierter Art, die man leider, wie das oft in der Geschichte
geschehn ist, hat einreißen lassen, bis die Not ans die Nägel brennt. Sie
können aber beseitigt werden und müssen und werden auch beseitigt werden,
wenn kein Ausweg, keine Hinterthür mehr offen steht, durch die nun sich der
schwierigen Aufgabe länger entziehn kann. Leider schielt man noch immer
nach solchen ganz unbrauchbaren Hinterthüren.
Eine Illusion, wie sie die Agitation und der Parteikampf brauchen, ist es
natürlich, wem, mau sich einredet, das bischen Zollerhöhuug, das überhaupt
möglich ist, werde den Herren im Osten zu so hohen Mehreinnahmen ver-
helfen, daß sie durch höhern Lohn und sonstigen Geldaufwand die Arbeiter
ohne weiteres wieder „an die Scholle fesseln" könnten. Der Zoll thuts über¬
haupt nicht, und auch der Lohn thuts nur zum kleinsten Teil. Man denke
daran, daß die Arbeiter lieber die hohen Mieter in der Großstadt zahlen, als
aufs Land, auch wo sie umsonst wohnen könnten, zurückzukehren. Und etwas
wahres liegt auch darin, wenn Gothein den Getreidezollschwärmern vorhält,
daß die Landflucht schon bei sehr hohe» Preisen da war, wie sie in abseh¬
barer Zeit kein Zoll wiederbringen wird. Es wäre ein wahres Unglück,
wenn die Agrarzollerhöhung, die ja kommen wird, sofern nur die Inlands¬
preise in den nächsten zwei Jahren nicht gar zu arg, natürlich vorübergehend,
in die Höhe schnellen, die für die Zukunft des Landes verantwortlichen Staats¬
männer verleiteten, nun wieder beide Augen vor der Verkommenheit der
östlichen Landarbeiterzustände zu verschließen und alles der sogenannten
Selbstverwaltung und Interessenvertretung, die man ganz zum Monopol der
landwirtschaftlichen Unternehmer gemacht hat, zu überlassen.
Nichts als frommer Selbstbetrug, oft noch schlimmeres, ist es ferner, wen»
mau sich und andern einreden möchte, daß die landwirtschaftliche Arbeit, und
zwar auch die des Ochsenknechts und der Kuhstallmagd in den Großbetrieben
des Ostens — ganz abgesehen vom körperliche» Behagen und Gedeihen — an
Herz und Geist veredelnden und erhebenden Einfluß, schou durch die ab¬
wechslungsreichen, wahrhaft interessanten Dienste und Handgriffe im ständigen,
unmittelbaren Verkehr mit der Mutter Natur, so himmelweit der städtischen
und industriellen Arbeit überlegen sei. Die landwirtschaftliche Arbeit kann
das sein, ja sie ist es auch vielfach, zumal in eignen oder elterlichen Klein¬
betrieben mit nicht zu „intensiver" Wirtschaft. Sie soll es vor allen Dingen
immer mehr werden, denn sie verdients wahrhaftig, das bessere zu sein im
Vergleich mit der Jndustricnrbeit. Aber auf keinen Fall ist sie das heut
aus den Rittergütern und Großbauernhöfen, sagen nur einmal: an der obern
und mittlern Oder usw. Seit fünfundvierzig Jahren habe ich dort nur das
Gegenteil gehört und gesehen; niemals etwas von erhebenden und veredelnden
Einflüssen. Hunderte von klassischen Zeugen, junge und alte Besitzer, In¬
spektoren, Vögte, sind nur in der Erinnerung für die allgemeine Gleichgiltigkeit,
Stumpfheit, die geistige Verschlissenheit dieser Arbeiter von verhältnismäßig
jungen Jahren an bis in ein nicht selten hohes Alter. Keinen Zeugen kenne
ich dawider. Mit Prügeln jetzt etwa die Knechte und Mügde zum Einsehen
zu bringen, welch herrliches Vergnügen ihre Arbeit sei, sodaß sie neben ihr
ni nichts denken und hängen sollten, ist doch nicht mehr ganz zeitgemäß. Die
Romantik der Düngergrube auch als Bethütignngsfeld des ewig Weiblichen
spukt ja gelegentlich in manchen Köpfen, aber in Wirklichkeit ist die im Osten
noch beliebte Form der Verwendung der Mädchen und Frauen in der Land¬
wirtschaft, anch außerhalb der Düngergrube, einfach eine Schande für die
deutsche Kultur an der polnischen Grenze. Die Herren dort werden so bald
als möglich entweder die Arbeitsweise höhern, idealem Ansprüchen der Arbeiter
anpassen und namentlich auf eine gründliche Einschränkung und Reform der
Frauenarbeit Bedacht nehmen müssen, oder sie werden überhaupt keine deutschen
Leute mehr behalten.
Wenn in einigen übervölkerten Landwirtschaftsbezirken des Westens und des
Südens Schollenkleberei, allgemeine Zwergwirtschaft mit einer bis zum hand¬
greiflichen Unsinn fortgesetzten Naturalteilung im Erbfnll dahin geführt haben,
daß auf einer Ackerfläche, die vor fünfzig Jahren kaum eine Familie satt machen
konnte, jetzt drei Familien nenzeitgemäßen Unterhalt finden wollen, so kann
man dort freilich von einem natürlichen Gesetz sprechen, das die Leute schlie߬
lich vertreiben wird. Aber auch dort ist es doch vor allein unnatürlich, von dem
Acker unsinniges zu verlangen. Hier muß eine systematische Förderung der
Landflucht von Staats wegen inszeniert, für gehörige Zusammenlegung der
Zwerwirtschaften, wenn nötig zwangsweise, und natürlich auch dafür gesorgt
werden, daß nach geschaffter Ordnung die Leutchen nicht schleunigst wieder in
die bisherige verrückte Wirtschaft zurückverfalleu. Das verlangt eine vernünf¬
tige Wohn- und Bodenpolitik. Wenn in einzelnen Bezirken Württembergs die
Geburtenzahl neuerdings in erschreckender Weise zurückgegangen ist, so ist es
Sache des Staats, zu handeln. Es wird doch zu Notstandsgesetzen und be¬
sondern Zwnngsmnßregcln kommen müssen, wie es früher in ähnlichen Füllen
dazu gekommen ist. Auch im Westen Preußens haben nur Gegenden, wo
schleunigst Luft und Licht für die zur Zwergwirtschaft herabsinkenden, viel zu
dicht sitzenden Gebirgsbewohner geschaffen werden sollte, wenn nicht für indu¬
striellen Nebenerwerb — es wird sich oft um Haupterwerb handeln — sicher
und bald gesorgt werden kann. Will man sich hier vielleicht auch die pflicht¬
mäßige Wohn- und Bodenpolitik durch ein bischen Zollerhöhung ersparen?
Bequemer für den Augenblick wäre es ja, aber vollends unverantwortlich wäre
es angesichts der gewaltigen bodenrefvrmerischcn Pläne in den Städten. In
diesen übervölkerten Landwirtschaftsbezirken fällt für absehbare Zeit die Sorge
für das Gedeihen der Masse eines ans Lohnarbeit bei größern Unternehmern
angewiesenen landwirtschaftlichen Arbeiterstands weg, während das gerade im
Osten die wichtigste und schwierigste Aufgabe ist; allerdings neben der eigent¬
lichen Besiedlung mit neuen Wirten, der sogenannten innern Kolonisation im
engern Sinne, ohne die die ländliche Sozialreform im Osten gar nicht denkbar
ist. Hier muß die altpreußische Wohnnngs- und Bodenpolitik des achtzehnten
Jahrhunderts wieder einsetzen mit der Neuzeit entsprechenden großen Mitteln.
Dorfpolitik im großen Stil muß in Ostelbien getrieben werden, ohne daß man
deshalb die großen Güter, die einen gebildeten Mann, eine Familie der so¬
genannten „bessern Stände" tragen können, allzusehr zu dezimieren braucht.
Was bisher in dieser Beziehung geschehn ist, kann nur als ein schwacher
Anfang betrachtet werden. Preußen kann dafür Kredit gewähren ebensogut
und so hoch, wie für die Kanalbauteu, die ich sehr wünsche. Es handelt sich
um dringende Landesknltnrinteressen von höchster Bedeutung. Die liberalsten
Bedingungen wird man den Ansiedlern stellen müssen. Hier heißt es büreau-
kratische und fiskalische Kleinlichkeit gründlich ablegen. Auch das Chikaniereu
solider Privatunternehmungen soll mau bleiben lassen, wenn auch wucherischer
Güterschlüchteru, mögen sie heißen, wie sie wollen, das Handwerk rücksichtslos
gelegt werden muß. Ob mau mit der einseitigen Vorliebe für Fideikonunisse
und die möglichst vollständige Einführung des Anerbenrechts nicht auf den
Holzweg gerate» wird, wollen wir abwarten. Im Osten fehlt es thatsächlich,
trotz der rechtlichen Zulässigkeit an der nötigen Beweglichkeit und Teilbarkeit
des Bodens, im genauen Gegensatz zu den übervölkerten Westbezirken. Eine
lange Reihe fetter Jahre hat unsre Landwirte viel zu lauge in der Sitte er¬
halten, nichts zu verkaufen und nicht zu teilen. Daher rührt zum guten Teil
die üble Lage der Arbeiter, die selbständig werden wollen, daher ihr Mangel
an Heimatsinn, ihre Landflucht. Es ist die verkehrte Welt, im Osten, wo wir
Hunderttausende vou neuen Kleinbauern, Stellenbesitzern und Eigenhäuslern
schaffen müssen, den Anfang damit zu macheu, daß wir die ohnedies zu un¬
beweglichen Grundstücke noch unbeweglicher machen. Es scheint sehr viel Dok¬
trinarismus und Prinzipienreiterei dabei in Spiele zu sei«, und der große Irrtum,
daß die westfälische und hannöversche Schablone ohne weiteres für die Neu-
besiedluug des Ostens passe. Im Osten ist es jetzt am wenigsten an der Zeit,
das Land zu aristokratisieren und aristokratisch festzulegen, hier heißt es jetzt
systematisch demokratisieren. Wer aus politischer Parteieingenommenheit das
Gegenteil betreibt, der kennt entweder Land und Leute nicht, oder er ver¬
sündigt sich schwer an beiden.
Ganz besonders ist bei der hoffentlich bald in Gang kommenden systema¬
tischen innern Kolonisation auch Bedacht zu nehmen auf die Menge von kleinen
Landstädten, die jetzt, auch wenn sie, wie viele dcwou, durch altes Vermögen
recht leistungsfähige Gemeinwesen sind, in den Ostprvvinzen dahinsiechen. Von
einem mehrfachen Gürtel großer Güter umschlossen, die früher die Kleinstadt
zum Verkehrszentrum hatten, jetzt uach der Verbesserung der Verkehrswege
direkt mit der größern Stadt verkehren, können sie nicht leben und nicht sterben.
Statt der zwanzig Rittergüter zehn solche und zehn Bauerngemeinden in der
Nähe, und die Stadt bekommt wieder Blut und Leben. Die Landstadt, „ihre"
Stadt war für den Kleinbauern und Landarbeiter ein wichtiger Bestandteil der
Heimat. Stadt und Land beleben sich gegenseitig, schützen sich vor der Ver¬
ödung und dem trostlosen Einerlei, das ein rechtes Heimatgefühl in deu wenig
oder nichts als ihre Arbeit besitzenden Dorfarbeitern jetzt nicht mehr aufkommen
läßt, je „intensiver" gewirtschaftet wird, um so weniger.
Mit der innern Kolonisation und der ganzen großen Sozialreform ans
dem Lande muß eine ganz neue Ära bewußter, systematischer Heimatspflege,
ein energischer, Verständnis- und liebevoller Heimatsschntz Hand in Hand gehn.
Die letzten anderthalb Menschenalter haben in dieser Beziehung in den technisch
gut bewirtschafteten Ebenen des Ostens, besonders auch in deu altprotestan¬
tischen Bezirken geradezu verwüstend gewirkt. Jede Pietät, jedes Interesse für
die freilich meist äußerlich sehr bescheidnen örtlichen Denkstütten alter Zeit ist
verschwunden. Der Pflug bricht alles um. Was in der Erinnerung des
Volkes bis vor Vierundsechzig zurückreichte, hat man verwischt, und die neuen
Kriegerdenkmäler für die im Ausland erfochtueu Siege tragen zur Stärkung
des Heimatsinns wenig bei. Die Freiheitskriege feiert man nicht mehr. Alte
Volksfeste — die katholischen Kirchenfeste ausgenommen, die als Erziehungs¬
mittel in unserm Sinne nicht immer allen Wünschen entsprechen — zu
pflegen und zu feiern, füllt niemand ein. Das alte Repertoire echter Volks¬
vergnügungen, wobei jeder sein Recht fand, ist in nichts zusanmiengeschrnmpft,
und die Kriegervereine, die an sich nicht getadelt werden sollen, haben es ab¬
solut nicht verstanden, der Landarbciterschaft Ersatz dafür zu bieten. Man
sagt, die Tingeltangel und die Konzertgürten verlockten die Landleute zur
Landflucht. Soviel ist daran wahr, daß die Regierung und die vielgerühmte
Selbstverwaltung mit allen den Grundherren und Pfarrherren im ostelbischen
Flachland, die dabei mitreden, eine ungeheure Dummheit gemacht haben, daß
sie über fünfzig Jnhre lang das Bedürfnis des Ochseuknechts und der Kuh¬
magd nach „frohen Festen," nach Zerstreuung, nach Mummenschanz und Aus¬
gelassenheit so ganz und gar durch die interessante, vielseitige, erhebende Arbeit
im Herrendienst für vollkommen befriedigt gehalten haben. Es mag ja entsetzlich
klingen, aber wahr ist es und auch anerkannt wird es noch einmal werden:
man muß für das Vergnügen der Landarbeiter im Osten sehr viel mehr Sorge
tragen, und wenn in jedem Kirchdorf ein Konzertgarten wäre, würf am besten.
Wo altadliche Familien seit lange ans großen Erbgütern fitzen, ist vielfach
uoch ein erfreulicher Nest von Anhänglichkeit an die Heimat, ja Stolz auf
ihre Herrlichkeiten zu finden. Aber was wollen diese wenigen Oasen sagen
gegenüber der Masse der Güter, die seit den fünfziger Jahren drei, vier, fünf
und mehr mal den Herrn gewechselt haben. Es ging wie im Taubenschlage.
Bürgerliche und Adliche, Bauernsöhne und Kaufinannssöhne, Christen und
Juden kauften und verkauften die Rittergüter, zum großen Teil „Ausländer":
Sachsen, Hannoveraner, Westfalen und Berliner. Mit denen „im Reich" ver¬
glichen, erschienen die Gutsbesitzer an der Oder in den letzten dreißig bis
fünfzig Jahren selbst heimatlos und wurzellos wie die Arbeiter. Zum großen
Teil waren es tüchtige Landwirte und Geldmacher, die zumeist Vermögen er¬
warben, teils durch gesteigerte Ertrüge, teils und noch mehr durch Konjunktur¬
gewinn beim rechtzeitigen Gutsvertnuf. Es ist unausgesetzt mit dem Boden
spekuliert worden, und die letzten haben leider vielfach die Hunde gebissen.
Der ganze Verlauf war natürlich am wenigsten förderlich für die Erziehung
der Landarbeiter zur Heimatliebe und Seßhaftigkeit. Und jetzt sind die, die
der Schuh am meisten drückt, natürlich auch am schwersten für soziale Reformen
zu haben. Sie lassen die Karre vollends in den Sumpf hinein fahren und
scheren sich schließlich den Teufel darum, ob das Land von deutschen Arbeitern
bestellt wird oder von Slawen oder Kukis. Wenn sie nur auf die eigne Rech¬
nung kommen, was auf alle Fülle schwer genug ist.
Über den Stand der Tugend- und Lasterhaftigkeit in der ostelbischcn
Landarbeiterschaft ist in den letzten dreißig bis vierzig Jahren gerade auch
nicht viel erfreuliches zu sagen gewesen. Es scheint da entschieden bergab ge¬
gangen zu sein, während man vom Durchschnitt der städtischen Arbeiterschaft
das Gegenteil sagen muß. Von der geschlechtlichen Sittlichkeit ganz zu ge¬
schweige»; was man von der Roheit und Gewaltthätigkeit gegen Mensch und
Tier, von der Trunksucht, von dem Hof-, Feld-, Wald- und jedem andern
Diebstahl auf den Rittergütern im Osten zu hören bekommt, beweist ganz
gewiß keine Hebung, sondern fortschreitenden Verfall der guten Sitte. Wenn
wir das an der landwirtschaftlichen Bevölkerung erleben, so ist das ganz be¬
sonders traurig, und ein ganz besonders schwerer Vorwurf für die Landherren,
für die Lnndgeistlichkeit und für die Negierungsleute. So läßt man deu
„Jungbrunnen" der Nation versumpfen und verfallen, von dem man sonst
nicht Rühmens genng machen kann, wenn den Grundbesitzern dadurch Vorteile
erstritten werden sollen. Wahrhaftig, so viel mal größer der ländliche Boden
in Preußen ist als der städtische, so viel wichtiger und dringender ist heute,
die Sozialreform auf dem Lande als in der Stadt. Nicht am Können liegts,
sondern am Wollen, Wenns länger so fortgeht. Schlendrian und Trägheit
verbinden sich mit mißverstandnem Klasseninteresse und leider vor allem mit
dem alten ostelbisch-baltischen Hochmut, der viel länger als irgendwo im Reich
neun Zehntel des Volks als Parias geistig und sittlich niederhalten zu dürfen
glaubt, damit das eine Zehntel, das Gott zum Herrschen bestimmt habe, der
Knechte Kraft ungestört genieße. Das gilt vielen heute noch für echt aristo¬
kratisch, wohl sogar für echt christlich.
Man wird vielleicht tadeln, daß in dein, was hier gesagt ist, die subjek¬
tiven Anschauungen eine zu große Rolle spielten. Aber das macht erstens
das Gesagte noch lange nicht falsch, und zweitens: wo ist die Quelle, aus der
man objektive Wissenschaft schöpfen kann? Was darüber geschrieben worden ist
seit dreißig Jahren, habe ich gelesen. Wie sehr spielt dabei nicht auch die sub¬
jektive Anschauung die Hauptrolle, wie oft nicht gar Partei und noch un¬
rühmlicheres Interesse. Und wie scharf stehn sich die Meinungen der Schrift¬
gelehrten gegenüber. Dn bleibt einem nichts andres übrig als: „Buch zu, und
sag, was und wie dus weißt, nach allein, was du gehört und gesehen und
auch gelesen hast!" Will die Regierung über deu Stand der Sache eine Enquete
machen mit sehr viel Statistik, nun nur so besser. Nur gründlich, zuverlässig
und ehrlich muß sie gemacht werden. Aber eine solche wirklich gründliche, zu¬
verlässige und ehrliche Enquete und Statistik über diese Dinge, die allein Zweck
und Sinn Hütte, ist hente in Ostelbien noch Utopie. Da muß erst die Not zum
äußersten gekommen sein. (Schluß folgt)
cis die Theorie auch heute gegen List zu sagen hätte und durch
den Mund von Noscher, Rau, Hildebrand, Knies wirklich aus¬
gesprochen hat, das finden nur ziemlich vollständig beisammen
bei einem, dessen Ruine schwerlich in einem staatswissenschaftlicher
IKolleg genannt wird; und wenn ich den Lesern einige Proben
seiner Kritik vorlege, werden sie vielleicht finden, daß anch dieser Kleine, dieser
bis auf den Namen Vergessene als Theoretiker dem großen List überlegen ist.
Karl Heinrich Brüggemann hat wenig Monate nach dem Erscheinen von Lifts
Buche ein 320 Seiten starkes Buch gegen ihn herausgegeben unter dem Titel:
„Lifts nationales System der politischen Ökonomie, kritisch beleuchtet und mit
aler Begründung des gegenwärtigen Standes dieser Wissenschaft begleitet."
Das Buch ist von Anfang bis zu Ende !lo irato geschrieben in Form eines
offnen Briefes: List wird auf jeder Seite angeredet. Der Zorn darüber, daß
Lift die meisten deutschen Nationalökonomen unter der Bezeichnung „die Schule"
als dem Lebe» und der Wirklichkeit fern stehende und deshalb gefährlichen
Irrtümern verfallne Pedanten abgethan hatte, drückte ihm die Feder in die
Hand. Sein Zorn und feine Kritik beruhen eben ans der irrigen Auffassung,
daß List ein Theoretiker sei wie die Professoren und deren Lehren durch seine
ersetzen wolle; eine Auffassung, die freilich List, in einer Selbsttäuschung be¬
fangen, schon durch den Titel seines Buches veranlaßt hatte, denn dieses ist
in Wirklichkeit kein System der Volkswirtschaft, sondern nur eine mit histo¬
rischen Betrachtungen begründete Anweisung für den Staatsmann, in welche
Bahnen er bei der damaligen Lage die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands
leiten müsse.
Brüggemnnn wendet sich znucichst gegen die verächtliche Behandlung der
deutschen „Stubengelehrten." List sei ja nicht der einzige, der auf sie Schelte.
Wohlan, redet er diese Praktiker an, „sagt uns doch, ihr Baumwollen- und
Rübenzuckerfabrikanten, gefällt euch die englische Land- und Kirchcnaristvkratie
vielleicht besser als unser deutscher Beamtenstand? Oder steht euch der Sinn
»ach eiuer französischen Verwaltung, in der die Verwalter nur Bediente sind,
und zwar jetzt vor allem Bediente der Bourgeoisie? Euch gelüstet, so scheint
es, nach einer Herrschaft des Geldreichtums und eines absoluten Jndustrialismus.
Aber bedenkt die Zeichen der Zeit! Bedenkt Chartismus und Kommunismus!
Diese sind die Früchte eurer merkantilistischen Träume. Wahrlich, ich höre
schon den Todesschrei jener Bourgeoisie, deren schamlos egoistische Herrschaft
heute uoch jedes politisch-keusche Auge verletzt, unter den rächenden und zer¬
malmenden Fußtritten des kommunistischen Würgengels! Könnte ich euch mit
meinen Augen sehen lassen, wie würdet ihr festhalten an deu rettenden köst¬
lichen Gütern unsers deutschen Wesens, in denen unser Schirm und unsrer
Nachbarn durch uns zu vollbringende Erlösung liegt! Darum eröffne ich auch
im patriotischen Sinne wider Sie, zur Rächnug der deutschen Schule, diese
Fehde, um gerade jetzt, wo wir in der zu isolierten und unlebendigen Stellung
unsers deutschen Gelehrtenstandes allerdings einen wesentlichen Mangel unsers
öffentlichen Lebeus zu entfernen haben, um gerade jetzt und deshalb das Gute,
das wir nach dieser Seite vor andern Nationen besitzen, nur um so mehr eifer¬
süchtig zu verteidigen."
Auf die einzelnen Abschnitte des Buches dann eingehend, beweist Brügge-
mann, daß List zwar gegen Smith Recht habe, aber weniger als ein andrer
berechtigt sei, die bekannten Vorwürfe gegen Smith zu erheben, weil er selbst
in dessen Irrtümern befangen und viel smithischer sei als die von ihm so
heftig angegriffne „Schule." Um das Wesen der Irrtümer Smiths zu er¬
fassen, fehle ihm die philosophische Anlage, und auch sein Lebensgang sei nicht
geeignet gewesen, ihm das tiefere Verständnis zu erschließen. Lifts Ansichten
seien den Wahrnehmungen entsprungen, die er in Amerika gemacht habe. Nun
sei aber dieses ein junges, dünn bevölkertes Land, die Probleme der euro¬
päischen Nationalökonomie dort noch gar nicht vorhanden (sie haben sich seitdem
eingefunden; in Beziehung auf die Politik hatte Hegel dasselbe gesagt, was
Brüggemann von der Wirtschaft des Landes sagt); seine Theorie müsse deshalb
hinter der europäischen Gegenwart zurück sein. Hierzu wäre zu bemerke», daß
doch auch die Kenntnis der Vergangenheit zum Verständnis der Gegenwart
beitrüge, und daß es von Wert für Lifts theoretische Bildung war, daß er
die Entwicklung der Vergangenheit in einem durch die Verkehrsmittel und
technischen Hilfsmittel der Neuzeit ungemein verkürzten Zeitverlauf beobachten
und z. B. sehen konnte, wie Grundrente entsteht, wie die Begründung von
Gewerben auf die Landwirtschaft und die Anlage von Verkehrsanstalten auf
beide wirkt. Endlich habe List bei seinem unruhigen Umherwandern niemals
zur stillen Sammlung kommen können, und diese sei unerläßlich, wenn man
in der Wissenschaft etwas Gediegnes leisten wolle. Gewiß könne eine gesunde
Wissenschaft vom Staate nicht gedeihen, wenn sich die Gelehrten ganz in die
Studierstube einschlossen und bloß aus Büchern lernten. Aber andrerseits
fordre die Wissenschaft doch auch ein stilles Bücher- und Stubenleben, eine ge¬
schlossene Werkfortsetzung (die Wichtigkeit der Werkfortsetzung für die National¬
ökonomie war einer von Lifts Hauptgedanken) und vor allem Neigung und
Muße zum stillen Denken. Zudem fordre sie eine reine, rücksichtslose, nicht
durch praktische Nebenzwecke verwirrte und abgelenkte Richtung auf die Wahrheit.
Diesen Forderungen entspreche Sinn und Lage des deutschen Gelehrtenstandes,
deshalb komme ihm kein andres Volk an Gedankentiefe und Umfang der Ge¬
lehrsamkeit gleich.
Und eben diese deutsche Wissenschaft erhebe gegen Adam Smith ganz
dieselben Vorwürfe, die List in seinem Buche ausgesprochen habe, aber in
einem ganz andern Sinne, den der unphilosophische Schutzzollprediger gar
nicht verstehe. Als Hauptrcprüsentcmten der deutschen Staatswissenschaft führt
er Adam Müller an, von dessen Lehren die Polemik Lifts gegen Smith nur
eine schlechte Kopie sei. Beide werfen Smith seinen Kosmopolitismus, seinen
Materialismus und seinen desorganisiereudeu Individualismus vor. Aber
Lifts Nationalitätsbegriff sei von dem des audi-endümonistischen Müller grund¬
verschieden, und List sei nicht weniger Individualist als Smith. Gleich diesem
gelte ihm die körperliche und die geistige Wohlfahrt der Individuen als höchster
Zweck der Volkswirtschaft und des Staates; Staat, Gesellschaft, National¬
ökonomie seien ihm nur Mittel für die Individuen. In diesem Sinne wisse
auch Smith den Staat gar wohl zu schützen, und er stelle ausdrücklich das,
was List die Gesamtheit der produktiven Kräfte nenne, die Macht des Staates
über den Reichtum, über die Gesamtheit der Tauschwerte der Individuen. Der
ganze Unterschied zwischen List und Smith beschränke sich darauf, daß jeuer
die Schutzzölle für ein Mittel zur Machterhöhung ansehe, dieser nicht. Müller
dagegen stelle die Vereinigung, die Gesamtheit als den Zweck hin, dem die
Einzelnen dienen müßten, diese seien - nach Kant-Fichtischen Grundsätzen —
nur insoweit als Selbstzweck zu behandeln, als sie sittlich frei oder wenigstens
nach sittlicher Freiheit z» streben fähig seien. Müller sage vollkommen richtig:
„Alle gemeinen Seckel, reden in unsern Tagen von einem gewissen Glück und
Wohlsein der Menschheit, das der Zweck aller Stnatsoperntionen sein müsse.
Aber in dem Worte Menschheit liegt ein schlimmer Doppelsinn: die Menschheit
kaun etwas Erhabnes, aber auch ein höchst Nichtswürdiges sein. Die Menschheit,
sofern sie bloß die Summe der gerade jetzt sich herumtreibenden Individuen
ist, ihren Plänen und Wünschen gemäß glücklich zu machen, ist ein elender
Zweck. Der große Hause unsrer Stantshandbncher hat gar nichts Höheres
im Auge, als ein unaufhörliches Beispriugen in der Not und für die Wünsche
des Einzelnen. Mer urteilt doch auch Brüggemanns höchste und verehrteste
Autorität recht abfällig über die deutsche Staatswissenschaft seiner Zeit.j Zum
Glück hat sich gerade in unsern Tagen suum gar erst in unsern!j die Not in
so viele einander widersprechende Formen ausgeprägt, und haben die Wünsche
der Individuen eine so gänzlich einander aufhebende und zerstörende Richtung
bekommen, daß dieses gemeine Bestreben des Staatshandwerkers von selbst
auf die Seite geschafft wird." Daß aber der Staatshandwerker selbst auf die
Seite geschafft wird, wenn er gar zu viel Wünsche unbefriedigt läßt, wie
Müller doch von 1789 her wußte, daran scheint er, als er das schrieb, nicht
gedacht zu haben.
Wie wenig List verstehe, was Nationalität sei, gehe schon daraus hervor,
daß er keinen andern Unterschied zwischen den Völkern kenne, als den der ver-
schiednen Stufen ihrer wirtschaftlichen Entwicklung, Er meine, alle Nationen
müßten diese Stufen sämtlich, und zwar in derselben Reihenfolge durchlause»
und zuletzt beim Agrikultur-Manufakturhandelsstaate anlangen. Das heißt,
nur alle Staaten der gemäßigten Zone, denn einen Unterschied lasse er aller¬
dings außer dem der ökonomischen Stufen noch gelten, indem er die Bewohner
der heißen Zone für unfähig erkläre, Industrie zu betreiben, was übrigens
falsch sei. Zunächst nnn sei die Stufentheorie anfechtbar, und dann gebe es
außer dem Stnfenunterschiede viele andre weit wichtigere Unterschiede zwischen
den Nationen. Diese beiden Einwendungen gegen Lifts Ansicht sind von
andern gründlicher ausgeführt worden, als es Vrttggemann thut, und gerade
heute verdiente diese Seite der Sache einmal recht gründlich beleuchtet zu
werden. Zwar der eine Punkt hat nur ein wissenschaftliches Interesse. Die
Reihenfolge der Kulturstufen, die List aufstellt: Jäger- und Fischerleben, Hirten¬
leben, Ackerbau, Ackerbau mit Gewerbe, Ackerbau mit Gewerbe und Handel ist
allgemein aufgegeben. Jäger- und Fischervölker werden nicht Hirten und Acker¬
bauer, die alten Kulturvölker der Enphrntebne und des Nilthals siud wahr¬
scheinlich niemals Nomaden gewesen, und der Handel ist vielfach den Gewerben
vorangegangen. Aber der andre Punkt ist von großem aktuellen Interesse.
Bisher hat die scharf ausgeprägte Individualität der Nationen auch ihr Wirt¬
schaftsleben beherrscht und bestimmt. Wir verstehn, wie England ein Fabrik¬
land und die Warenfabrik der Welt werden konnte. Denn hier ist Thomas
Gradgriud zu Hause, der in der Schule die kleine Sissy tadelt, weil sie es
schön finden würde, wenn sie in ihrer Stube einen Teppich mit Blumen Hütte,
denn sie würde sich einbilde« — „Aber du darfst dir nichts einbilden! Das
ists eben, du sollst dir nie etwas einbilden! Thatsachen! Thatsachen! Ihr
müßt euch in allen Dingen uach Thatsachen und nach der Wirklichkeit richten.
Binnen kurzem hoffen wir eine Thatsachenkommission zu haben, die das Volk
zwingt, ein Volk der Thatsachen und nnr der Thatsachen zu werden. In
keiner Sache, die zum Gebrauch oder zur Verzierung dient, darf etwas vor¬
kommen, was der Wirklichkeit widerspricht. Ihr geht in der Wirklichkeit nicht
auf Blumen spazieren, es darf euch also auch nicht erlaubt werden, auf
Teppichen mit Blumen umherzngehn; ihr seht nie, daß sich ausländische Vögel
und Schmetterlinge aus eure Tassen lind Krüge setzen, ihr dürft deshalb auch
keine darauf malen. Ihr seht niemals Pferde die Wände hinauflaufen, darum
dürfen auch keine um die Wand gemalt werden." Wir verstehn vollkommen,
daß die Italiener, die sich sehr viel einbilden, lieber Mosaiken und Gipsfiguren
anfertigen als Kattun weben. Wir verstehn, daß die Pariser geschickter sind
in der Erfindung von Dmueuhüten als im Bierbrauen. Wir verstehn, daß
die Landsleute Don Quixotes einen Torero oder einen Maler von Heiligen¬
bildern mit Marter- und Kasteiungsszeuen höher schätzen als einen erfolgreichen
Fabrikanten, und wir finden diese Mannigfaltigkeit der Nativnalcharciktere
natürlich und schön. Die Sozialdemokratie aber hält, ganz so wie List, alle
Länder, die nicht dasselbe Bild darbieten wie England, für rückständig und
glaubt, daß das, was sie Kapitalismus nennt, und wovon die vorherrschende
Maschiueuindustrie nur eine Seite ist, die ganze Welt erobern, alle» Ländern
und Völkern denselben Stempel aufdrücken und zuguderletzt der sozialistischen
Gesellschaftsordnung Platz machen müsse, der sie den Boden zu bereiten habe.
Und in den Reihen der Gegner der Sozialdemokratie scheinen die begeisterten
Freunde des industriellen Fortschritts derselben Ansicht zu huldigen, nnr daß
sie natürlich den Schlußakt der Weltgeschichte ablehnen, den die Marxisten in
Aussicht stellen, ES fragt sich also, ob nicht doch am Ende List gegen Brügge¬
mann Recht hat, und ob die Vorstellung von nationalen Unterschieden, denen
sich die Wirtschaftsform jedes Volkes anzupassen habe, nur eine romantische
Schrulle war, eine der Einbildungen, die Herr Gradgrind so verwerflich findet.
Woraus sich dünn weiter für den nichtenglischcn Staatsmann die Frage ergiebt,
ob er die Alleinherrschaft des Jndustrialismus in allen Ländern der gemäßigten
Zone als unvermeidlich ansehen, oder die Anlegung von Hemmschuhen an die
Fabrikindustrie, die Pflege und den Schutz andrer Gewerbezweige für erlaubt,
vielleicht sogar für Pflicht halten soll,
List hatte die Schutzzölle und überhaupt die nationale Handelspolitik nnr
für das gegenwärtige Stadium der ökonomischen Entwicklung gefordert, wo das
Ziel, die kosmopolitische Verfassung der Menschheit, noch nicht erreicht sei,
dieses Ziel aber in Aussicht gestellt und als höchst erstrebenswert empfohlen,
in andern Schriften, die Brüggemann nicht gelesen zu haben scheint, noch kräf¬
tiger als im Shstcm, Er ist überzeugt, daß der Herkules Dampfkraft als
Motor der Schiffe und Eiseubahnwngeu die Völker erlösen werde von den
Plagen nicht allein der Teuerung und Hungersnot, sondern much des National-
hasses und des Kriegs, Durch die neuen Transportmittel werde der Mensch
ein unendlich glücklicheres, reicheres, vvllkommneres Wesen. Wie müsse die
Kultur gewinne», wenn die Völker ihre Gedanken austauschen, wen» dadurch
Nationalvorurteile, Nationalhaß, Nationalselbstsucht überwunden werden! Wie
werde es möglich sein, daß kultivierte Nationen einander mit Krieg überziehn,
wenn ihre Gebildeten persönlich miteinander befreundet sind. Die Eisenbahnen
würden die Kriegsmaschinerie aufs höchste vervollkommnen und dann beseitigen;
die stehenden Heere würden sich zu ihren Vorgängern, den gepanzerten Rittern,
ins Grab legen und ihrer Erbin, der Bürgermiliz, uur ihre wissenschaftlich ge¬
bildeten Offiziere hinterlassen; „den Seidenwürmern, den Spinn- und Web¬
maschinen sollen ihre Kasernen als Legate anheimfallen." An einer andern
Stelle sagt er voraus, daß die Maschine die Arbeitszeit ungemein verkürzen,
die nnnngenehmen Arbeiten dem Mensche» abnehmen und einen Zustand her¬
stellen werde, wo alle Menschen nnr soviel arbeiten würden, als ihre Gesund¬
heit erfordert, und das Leben aller in einem angenehmen Wechsel von Arbeit
und Genuß verfließen werde. Mai: sieht auch hier wiederum, wie die Sozialdemo-
kratie nur die Gedanken allsgestaltet hat, die ihr der Jndustrialismus und Libera¬
lismus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinterlassen hatten.
Der liberalen Utopie stellt Brüggemann die Ansicht Müllers entgegen, daß'
Nation und Menschheit keineswegs aufeinander folgende Entwicklungsstufen seien,
sondern gleichzeitig beständen und nur mit und durch einander verwirklicht werdet!
könnten. Und wie der Unterschied der Nationen, so solle ihr Streit und der
Streit der Stände fortdauern. Nur im Streit der Stände entwickle sich das
Recht, und nur im Streit mit andern Nationen werde sich jede ihrer Eigen¬
tümlichkeit bewußt. Der ewige Friede sei eine Chimäre, und der blutige Krieg gar
kein so großes Übel. Allgemeiner Friede würde das Ende der Kulturentwicklung
bedeuten und das größte Unglück sein. Gerade der Krieg sei das kräftigste
Mittel zur Erhaltung der Staatseinheit. Gemeinsame Nöte banden die Bürger
weit fester und inniger aneinander als das sogenannte Glück, und nur im
Kriege entstehe ein lebendiges Nationalgefühl. Solches sei auch aus der
blutigen Saat der Befreiungskriege hervorgesprossen, wirkliche Einheit und
Kraft seien an die Stelle der seelenlosen Scheineinheit des erstorbnen alten
Reichs getreten, und auch Lifts geliebter Zollverein sei eine Frucht dieses
Kriegs. Der wahre ewige Friede, den das Christentum gebracht habe, sei
schon verwirklicht und bestehe mitten im Kriege fort, wodurch sich dieser von
den Kriegen des vorchristlichen Altertums unterscheide. Wenn man von den
nationalen Unterschieden absehe, so würden dadurch die Begriffe Freiheit und
Menschheit zu hohlen und kraftlosen Abstraktionen. Nur in deu Unterschieden
der Nationen und in ihrem Streit verwirkliche sich die Freiheit und bekomme
sie einen Inhalt. Wenn Müller das Römerreich, das den Völkern ihre Ab¬
gestorbenheit sichtbar gemacht habe, eine Barbarei nenne, so habe das seineu
guten Sinn, nicht aber, wenn List dasselbe schreibe. „Sie, der Sie doch alle»
Nationen der gemäßigten Zone dieselbe Aufgabe stellen, Sie, der Sie Eng¬
land und seinen Industrialismus allen Nationen als Muster vorhalten, wes¬
halb Sie das Römerreich, das doch Gallien und Spanien und so manches Land,
zwar nicht durch Telegraphen und Eisenbahnen, aber doch durch Straßen und
Posten enger vereinigt und herrlich zivilisiert hat, barbarisch nennen mögen, das
versteht kein Mensch." Habe doch Hegewisch die römische Kaiserzeit (jedenfalls nach
Gibbon) als die für die Menschheit glücklichste Periode der Geschichte gepriesen.
List hatte dein Adam Smith Materialismus vorgeworfen, weil er den
Reichtum nur in den Tauschwerten, nicht in den lebendigen Kräften finde, die
Ferkelaufzucht zu den produktiven, die Kindererziehung zu den unproduktiven
Beschäftigungen rechne. Gerade umgekehrt, meint Brüggemcm, mache sich List
des Materialismus schuldig, indem er die idealen Kräfte unter die wirtschaft¬
lichen Güter rechne. Selbstverständlich übten sie auf deren Erzeugung den
stärksten Einfluß, aber jedes feinere Gefühl empfinde es als unwürdig, als
eine Befleckung dieser Guter durch die Frechheit Simons des Zauberers, wenn
man die sittlichen Mächte, die Einrichtungen des Staates und der Kirche, die
Leistungen der Wissenschaft und Kunst daran messen wollte, wieviel sie zur
Produktion von Tauschwerten beitragen. Allerdings habe sich auch Smith des
Materialismus schuldig gemacht, aber nicht durch die Ausschließung der geistigen
und sittlichen Gitter vom Gebiet der Tauschwerte, sondern durch die Einschließung
einiger von ihnen; er habe die Dummheit begangen, die Amtsverrichtungen der
Staats- und Kirchendiener als Tauschwerte zu behandeln, deren Bezahlung
von der Konkurrenz geregelt werden solle, und die sich deshalb mich nach dem
Geschmack der Kunden zu richten hätten.
Der Hauptfehler Lifts sei seine einseitige Parteinahme für die Manufaktur
und seine Befangenheit in der Denkweise des Jndustrialismus, Wenn er in
der nationnlökonomischen Litteratur bewandert wäre, dann würde er bemerkt
haben, wie das Mißtrauen gegen den Geist des Jndustrialismus immer mehr
um sich greife. „Die einen verlangen an seiner Stelle eine christliche Ordnung,
andre möchten zurück zu den »organischem« Zuständen des Mittelalters, noch
andre ergehn sich in sozialistischen und kommunistischen Träumen von einer
ganz neuen Freiheit und Glückseligkeit, Darin aber stimmen alle überein, daß
der Geist des Jndustrialismus desorganisiere, daß Glück und Freiheit auf die
Dauer nicht mit ihm bestehn könne. Eine tiefere, obwohl in ihrem ersten Auf¬
treten einseitige, trunkne und unklare Reaktion gegen die industrialistische Denk¬
weise ging, gerade in der Zeit Ihrer Jngend, von der deutschen Romantik aus,
und sie lebt in freierer und klarerer Gestalt unter uns fort," List hat diese
Reaktion wohl bemerkt; er war betrübt darüber und haßte die Romantik als
eine Feindin des wirtschaftlichen Fortschritts. Brüggemann findet die Charak¬
teristik verfehlt, die List von den Berufsständen entwirft, und in der er die
Fabrikanten auf Kosten der Landwirte und der Kaufleute herausstreicht, und
bemerkt u. a., gerade den Stand, dessen Berufsthätigkeit die Verwirklichung
der wahren Freiheit bedeute, den Stand der Staats- und Kirchendiener, der
Künstler und der Gelehrten erwähne er gar nicht; er rechne ihn wohl auf gut
amerikanisch zu den Auswüchsen der Gesellschaft und glaube, er sei dazu ver¬
urteilt, der Freiheit des vollendeten Selfgovernments zu weichen? Auch in
dieser Beziehung würde er richtiger sehen gelernt haben, wenn er seine prak¬
tischen Studien, statt in Amerika, in England gemacht hätte, wo er neben den
beiden ihn allein interessierenden Ständen der „Agrikulturisten" und „Mcmu-
fcckturisten" einen zahlreichen Arbeiterstand gefunden haben würde, dessen Lage
und Haltung den Staatsmann lind den Nationalökonomen zwinge, sich mit
ihm zu beschäftigen. Das Ergebnis der Erwägungen, die er veranlasse, sei,
daß man dem Individualismus den Sozialismus entgegenstelle, „eine Gemein¬
samkeit der Menschen, eine Gebundenheit und Wichtigkeit des Eigentums,
eine freie Feudalität. Wie trüb und widersprechend sonst auch die Systeme
des Sozialismus sein mögen, das eben Ausgesprochne ist ihr gemeinsamer Kern.
Darum ist der Kampf, den die Gegenwart auszufechten hat, nicht einer zwischen
Landwirten und Fabrikanten, sondern ein Kampf zwischen den Privatpersonen
und dem Allgemeinen. Landwirtschaft und Industrie verfechten in den Personen
der glücklich Besitzenden das Privatinteresse. Die Proletarier beider Stände
aber rufen in verworrener Leidenschaft nach Organisation, also, obwohl ohne
klares Bewußtsein davon, nach dem Allgemeinen, auf daß dieses den Greuel
der Desorganisation und den ungleichen Konkurrenzkampf bändigen möge. Und
hier nun tritt das entschiedne Bedürfnis eines vierten, vermittelnden Standes,
des gelehrten Standes ein," der das Allgemeine im Auge behält.
List hat bei jeder Gelegenheit den Luxus als Stachel zur Produktion
empfohlen. Auch darin ist Brüggemann andrer Ansicht. Daß rohe Natur-
kinder in harte Zucht genommen werden müssen, damit sie arbeiten lernen,
darin stimmt er mit List überein, aber das Ziel ist ihm ein andres: geistig
erfüllte Muße, woran übrigens, wie schon angeführt worden ist, auch List ge¬
dacht hat, nur daß sie sich List ans der Grundlage einer Fülle moderner Be¬
quemlichkeiten, Brüggemann mehr nach antiker Art dachte, „Was glauben
Sie, wenn es künftig Nationen gäbe, die einfach nach Bedürfnis des Klimas,
mit billiger Bequemlichkeit und mit reinem Geschmack wohnten, speiseten, sich
kleideten, und die, was sie so an Arbeit für diese Dinge sparten, zu freieren
Genuß der sittlichen Güter in Familie, Staat, Geselligkeit verwendeten; bei
denen es Sitte Ware, auch die Kinder des Arbeiterstandes in Schulen und
auf Turnplätzen erst vollkommen heranwachsen zu lassen, statt sie »ach heutiger
Sitte unreif in Fabriken zu verkrüppeln; bei denen die Frauen auch der
Ärmsten im Volke der Pflege ihrer Kinder und den häuslichen Arbeiten nach
Gottes natürlicher Ordnung erhalten blieben, sodaß allen Stauden ein rein¬
liches und sittliches Familienleben gesichert wäre, statt daß jetzt noch häufig
Fabrik und Branntweinstube Vater und Mutter zu gleicher Arbeit und zu
gemütlosem Mahle vereinen, indes die Kinder im glücklichsten Falle den Schutz
und die kühle Liebe von Kleiukiuderbewähraustalten genießen: was meinen
Sie wohl, würden Sie darin einen Rückschritt sehen? Würden diese Nationen
dann weniger glücklich und weniger mächtig sein, als wenn sie ihre als Muße
verbrauchte Arbeitskraft dazu verwendet hätten, mehr Kleider, mehr Handschuhe,
Manschetten, Hüte, Spiegel, Nippes, Thee, Kaffee und Cigarren sich zu ver¬
schaffen? In welchem Falle sie ja freilich vielleicht doppelt so viel Mcmnfaktnr-
waren exportiert, Rohstoffe importiert und Kolonialwaren konsumiert haben
würden?" Das hatte nämlich List nach dem Vorgange englischer Staats¬
männer als den ökonomischen Jdealznstnnd bezeichnet. Brüggemann ergeht
sich dann in langen geschichtsphilosophischen Betrachtungen und stellt den
ökonomischen Entwicklungsstufen die stufenmäßige Entfaltung der Religion und
Humanität gegeuüber, die vorläufig in Luthers freiem Christenmenschen und
in der sittlichen Freiheit Kants gipfeln.
Wir sehen, es standen einander damals, vor ueunnndfünzig Jahren, die¬
selben Lebensauffassungen gegenüber wie heute, uur daß heute die „rückständige"
Auffassung mehr von Philosophen, Geistlichen und Dichtern, aber kaum noch
von Nationalökonomen vertreten wird. Auch die Sozialdemokratin! stehn keines¬
wegs aus der Seite der „Romantiker," sondern betrachte» die kapitalistische
Gesellschaftsordnung, wie sie das »euren, was bei Brüggemann Industrialismus
und Merkantilismus heißt, als die nicht zu umgehende Vorstufe der sozialistischen
Ordnung, und je mehr Länder und Berufsstände in das kapitalistische Getriebe
hineingezogen und dadurch „revolutioniert" werde», desto lieber ist es ihnen.
Der politische Humor von der Sache ist, daß die Bureaukratie die beiden
damals einander gegenüberstehenden Vertreter der beiden Anschauungen mit be-
wundrungswürdiger Unparteilichkeit gleich hartnäckig verfolgt hat: die würkten-
bergische den Schwärme für Jndustrialismus, der Deutschland durch Industrie
»ut Eisenbahnen reich, mächtig und vor allein unter Preußens Führung einig
machen wollte, die preußische den christlichen Idealisten, der den Kant-Fichtischen
Vernunftstaat verwirklichen wollte und die Bureaukratie ebenso aufrichtig ver¬
ehrte wie List sie haßte. Diese Bureaukratie hielt den heute ganz vergessene»
Brüggemann für ein höchst gefährliches Individuum. Er hatte am Hambcicher
Fest teilgenommen, wurde zum Tode durch das Rad verurteilt, zu lebens¬
länglicher Festungshaft begnadigt, dann aber in die Amnestie von 1840 ein¬
geschlossen. Die Erlaubnis, an der Universität Berlin staatswissenschaftliche
Vorlesungen zu halten, wurde ihm versagt. Er übernahm die Leitung der
Kölnischen Zeitung, aber der Oberpräsident der Rheinprovinz, von Kleist-Netzow,
erklärte 1855 im Auftrage des Ministeriums Manteuffel, wenn Brüggcmauus
Name nicht von dem Blatte verschwände, würde es unterdrückt. So sah er
sich zur Rolle des hinter den Kulissen thätigen Spiritus rvotor gezwungen.
Ob er als solcher gestorben ist, weiß ich nicht; denn als der alte Meyer, dem
ich die Auskunft über Brüggemann verdanke, herauskam, lebte er noch; der
neuste Brockhnns keimt ihn nicht, ebensowenig Pierer, das Handwörterbuch
der Staatswissenschaften und das Wörterbuch der Volkswirtschaft.
Als Theoretiker also war der kleine Vrüggemnnn dem großen List über¬
legen; der philosophisch durchgebildete Theoretiker brauchte nicht die Erfahrung
abzuwarten, wenn er wissen wollte, daß Lifts Ideal einer allgemeinen Mensch-
heitsbegluckuug durch die „Manufakturkraft" eine Utopie sei. Nur hätte Brügge-
mann seiner antiendämonistischen Überzeugung gemäß ausdrücklich sage» sollen,
daß auch sei» Gesellschaftsideal, mie er es i» der zuletzt angeführte» Stelle
beschreibt, zur Utopie werde» würde, wenn man glauben wollte, es könne ganz
allgemein, für immer und ohne Schattenseiten verwirklicht werden. Er verrät
sogar, daß er selbst irrt, indem er fragt: würden diese Nationen weniger
mächtig sein? Allerdings würden sie das; denu genügsame Nationen bleiben
arm an Tauschwerten, Reichtum an solchen aber ist heute ein wesentlicher Be¬
standteil der Macht; und da die »nichtigen Nationen über die weniger mächtigen
herzufallen pflege», so schweben solche genügsame Nationen immer in der Gefahr,
daß es ihnen ergehe, wie es soeben den Buren ergangen ist. Und dann, wie
gesagt, durfte List eben überhaupt nicht als Theoretiker behandelt werden.
Die Maschinentechnik und die von ihr eingeleitete industrielle E>?twicklung war
einmal da, die Machtstellung Deutschlands hing davon ab, daß es sich der
neuen Produktions- und Verkehrsmittel rechtzeitig in einem bedeutenden Um¬
fange bediente. Dazu hat List das bedächtig zögernde Volk und die hemmende»
Regierungen gestoße» und getrieben. Damit hat er seinen weltgeschichtlichen
Beruf erfüllt; was dann weiter aus seine» Werke» hervorgegangen ist u»d
in Zukunft hervorgehn wird, dafür ist er nicht verantwortlich.
Auf das Behagen der Einzelnen nimmt der Gang der Weltgeschichte keine
Rücksicht, und darüber werden sich gerade Männer von Brüggemanns Gesinnung
am wenigsten beklagen. Aber bei allem Unbehagen, das uns die industrielle
E»twicklu»g verursacht, sehen wir doch, daß sie mwermeidlich war, wenn das
Menschengeschlecht nicht verkümmern sollte. Die philosophische Glücksfrnge
werfen wir nicht auf; mir so viel können wir, in wie dichtes Dunkel auch die
Absichten und Ziele der Vorsehung gehüllt sein mögen, deutlich sehen, daß
sich das Menschengeschlecht nach dem Worte der Bibel vermehren, die Erde
erfüllen und sich Unterthan machen und alle Kräfte des Geistes entfalten soll.
Und wir sehen, wie diesen Zwecken der Vorsehung die neue Technik dient.
Sie ermöglicht und erleichtert die Besiedlung der unwirtlichsten, der entlegensten
und unzugänglichsten Länder. Sie macht es möglich, daß sich Millionen Menschen
in einer Stadt zusammendrängen, ohne daß die Gefahr einer Hungersnot entsteht.
Sie sorgt durch vortreffliche Wohnungs-, Heiz- und Beleuchtungseinrichtungen
dafür, daß Gelehrte in den kältesten Ländern und in der dunkelsten Jahreszeit
anhaltend geistigen Arbeiten obliegen können, ohne im mindesten durch leib¬
liche Beschwerden oder physische Hindernisse gestört zu werden. Zudem ver¬
sieht sie die Wissenschaft mit einer unermeßlichen Fülle der vortrefflichsten
Hilfsmittel und ermöglicht ihren über die Erde zerstreut wohnenden Vertretern
durch die Aufhebung der Entfernungen, einander in die Hände zu arbeiten.
Und sie sorgt endlich dafür, daß es dem modernen Menschen niemals an Auf¬
gaben und an Stoff zur Thätigkeit fehle. Das war es ganz besonders, was
List zum leidenschaftlichen Liebhaber der Technik und der Industrie machte.
Selbst ein Mann voll Leben, Kraft und unwiderstehlichem Thatendrang, immer
unruhig umhergetrieben und keinem andern Ruhe gönnend, haßte und ver¬
achtete er nichts so sehr wie Faulheit, bequemen Schlendrian und Stagnation.
Er wird nicht müde, die Industrie zu preisen wegen der Regsamkeit, geistigen
Beweglichkeit und Kraftentfaltung, die sie überall wecke, wohin sie dringe.
Wäre er gezwungen worden, sich das englische Arbeiterelend in seiner ganzen
Größe vorzustellen und einzugestehn, so würde er gesagt haben, daß, wenn er
die Wahl habe zwischen solchem Elend, das nur eine Begleiterscheinung gro߬
artiger Kraftentfaltung sei, und dem Elend des russischen Bauern, er jenes
unbedingt vorziehe. (Schluß folgt)
nzwischcn belustigten sich die siegreichen Feinde in der eroberten Burg,
so gut sie vermochten. In der Bibliothek richteten sie eine Unordnung
ein, die dem Chaos vergangner Tage wenig nachgab. Am ärgsten
wüteten sie jedoch im Weinkeller. Was sie nicht trinken konnten,
ließen sie aus den Fässern laufen. Aber dieser Wahnwitz bestrafte
sich selbst^ zwei Mann, die sich berauscht hinter einem Stückfasse
zum Schlafe niedergelassen hatten, erlagen dem tödlich wirkenden Weinbrühe. Es
war ein Bild von grausigen Humor, als aus dem Kellerloche die mit den in der
Bibliothek gefundnen phantastischen Garderobeflücken und Perücken behängten Ge¬
stalten der urplötzlich nüchtern gewordnen Soldaten auftauchten und die beiden
Leichen hinter sich her schleppten, aus deren blauroten Gesichter» die weit aufge¬
rissenen Angen mit glasigem Schimmer ins Leere starrten.
Man grub im Garten ein Grab, legte die toten Kameraden hinein, gab über
dem Hügel eine Gewehrsalve ab und schmückte die Stätte mit dem römischen Altar,
auf dessen glatte Rückseite ein des Schreibens kundiger Lothringer mit roter Farbe
die Namen Pierre Degras und Jean Jacques Etoupille malte.
Während alles dies geschah, saßen der Niese und der Zwerg, der Mann des
Kampfes und der Friedensengel, einträchtig nebeneinander auf der umgedrehten
Backmulde und erzählten sich ihre beiderseitigen Lebensschicksale, denen eine gewisse
Ähnlichkeit nicht abzusprechen war. Der Große wie der Kleine hatten sich an dem¬
selben Vorbilde zu denkwürdigen Thaten begeistert, aber aus diesen Thaten war
nie etwas Rechtes geworden, nicht weil den beiden Männern die Fähigkeit und die
Ausdauer gefehlt hätten, sondern weil ihnen ein tückisches Schicksal immer im ent¬
scheidenden Augenblick einen Strich durch die Rechnung zu machen pflegte. Sie
waren beide große Springer, aber beiden fehlte das Rhodus, ans dem sie sich mit
ihren Fertigkeiten hätten produzieren können. Was nützen alle Talente und Vor¬
sätze, so lange das Glück nicht die Gleichheit aller Menschen respektiert! So lange
es dem korrupten Grundsätze huldigt, seinen Günstlingen alles zu geben und den
andern uicht einmal die Gelegenheit läßt, auch nnr die allerkleinste Großthat zu
vollbringen! Wie viele Bonapartes mögen wohl unter uns wandeln, denen zu einer
glänzenden Laufbahn nur die Brücke von Arcole fehlt, die sie ohne Frage genau so
wie jener bekannte Bonaparte ans Ajnceio als Sprungbrett zum Sprunge in die
Unsterblichkeit benutzen würden.
Wodurch sich Pancratius vou Martinchen unterschied, das war der leise Zweifel,
den er, allerdings erst seit wenig Stunden, an seiner eignen Heidenmission hegte.
Die bittre Erkenntnis, daß er möglicherweise doch nicht der sei, den sich das Schicksal
als Werkzeug zur Vertilgung der Gallier ausersehen habe, hatte ihn in der kurzen
Zeitspanne um Jahrzehnte gereist. So konnte er mit wehmütigen, mitleidvollem
Lächeln den Friedensprojekten des kleinen Freundes lauschen, der noch so hoffnungs¬
froh, so unbefangen zuversichtlich, so voller schöner großer Illusionen war. Und so
kam es, daß die beiden Freunde, die Hand in Hand auf ihrem Backtroge saßen,
sich gegenseitig mit der nachsichtigen Milde und der fingierten Teilnahme behandelten,
die man gewöhnlich nur Menschen zuwendet, deren geistige Verfassung solche zarten
Rücksichten fordert. Und da sie sich nun gegenseitig in ihren Vorsätzen bestärkten,
und jeder von ihnen auf die vermeintliche Wahnidee des andern einging, so wurden
sie an einander völlig irre und betrachteten sich gegenseitig mit stillem Argwohn.
Dies verhinderte jedoch nicht, daß jeder von ihnen in seinem Innern dem Himmel
für die ihm verliehene Gabe höherer Einsicht dankte, und daß sogar Pancratius
langsam wieder zu der Überzeugung gelangte, das Schicksal habe ihm dennoch große
Aufgaben vorbehalten, und seine jetzige Lage — er betrachtete hierbei die Fessel,
die er mit einem einzigen Ruck hätte sprengen können — sei nur eine läuternde
Vorbereitung für das Kommende.
Das Zwiegespräch der beiden Freunde wurde durch die Rückkehr des Boten
unterbrochen. Dieser überbrachte dem Leutnant den Besehl, den Gefangnen zur
Aburteilung nach Burgbrohl zu schaffen, wo sich gerade der mit der Bestrafung
widersetzlicher Zivilpersonen betraute Offizier aufhielt. Wir dürfen uns nicht ver¬
hehlen, daß der Ausdruck „Zivilpersonen" unseru Delinquenten ein wenig ernüchterte.
Daß er zu dieser Kategorie von Menschen gehörte, kam ihm erst jetzt zum Be¬
wußtsein. Allerdings: ein Geistlicher ist kein Berufssoldat, aber konnte er nicht auch
ohne Uniform ein Held sein? Lehrte nicht die Weltgeschichte eindringlich genug,
daß im entscheidenden Augenblick Helden erstanden waren, wo man sie am wenigsten
gesucht hatte? Wie viele streitbare Geistliche hatten allein die Rheingegenden
hervorgebracht! Zu Dutzenden wallte Pancratius sie aufzählen, die Kurfürsten,
Bischöfe und Äbte, die in Zeiten politischer Erregung zu Harnisch und Schwert
gegriffen oder den eisernen Krummstab als Streitkolben gebraucht hatten. Und was
jene gethan hatten, sollte ihm, den schon die Natur zum Krieger gestempelt hatte,
verwehrt sein?
Man lies; ihm nicht allzu viel Zeit, über seine Lage nachzudenken. Ein Wagen,
von den Franzosen in der Mühle reqniriert, hielt schon am Gartenpförtchen.
Pancratius wurde genötigt, ihn zu besteige» und auf dem Strohbunde Platz zu
nehmen. Aber er blieb nicht allein. Während er noch überlegte, weshalb sich der
Wagen nicht in Bewegung setze, erhob sich im Hause das wohlbekannte Jammer¬
geschrei des Schweines. Von rohen Söldnern mehr getragen als geschoben erschien
es in der Thür, machte aber schleunigst wieder kehrt und brachte bei dieser un¬
vorhergesehenen Bewegung nicht weniger als drei seiner Peiniger zu Fall. Aber
die Flucht nützte dem armen Tiere nichts, es wurde endlich doch überwältigt und
von zwölf gallischen Arme» neben Pancratius ans den Wagen geworfen, wo es sich
alsbald, mit seinem Schicksal ausgesöhnt, behaglich niederließ und seinen Rüssel
tief in das Stroh versenkte. Der Leutnant nahm neben dem Fuhrmann Platz, und
Martinchcn trat an die Seite, um neben dem Wagen herwandernd dem Niesen
Mut zuzusprechen. Dann setzte sich das Fahrzeug, von der ganzen feindlichen Streit¬
macht eskortiert, in Bewegung.
Das sonst so friedliche Dorf Burgbrohl hatte ein völlig verändertes Aussehen
erhalten. Das schöne Burghans des Herrn von Bvnrscheidt, von seinen rechtmäßigen
Besitzern verlassen und von den Franzosen besetzt, glich mehr einer Kaserne als
einem Herrschaftssitze. Vom Dache wehte die Trikolore, und in dem geräumigen
Hofe standen neben Proviant- und Munitionswagen ganze Koppeln Pferde und
Herden von Schlachtvieh, die man den Bauern ans den Ställen geholt und hier
zusammengetrieben hatte. Mit Verhaltnein Ingrimm schauten die Beraubten dem
Treiben des Kriegsvvlks zu, das, größtenteils betrunken, mit Frauen und Mädchen
rohen Schabernack trieb.
Der Wagen hielt ans dem Marktplatz. Auch hier bot sich nnserm Gefangnen
ein ungewohnter Anblick: ein schlanker Baum, dessen welkes Laub seltsam mit den
an die Zweige geknüpften bunten Bändern und der riesenhaften Jakobinermütze,
die sich über dem Wipfel erhob, kontrastierte, war mitten auf dem Platz in das
Pflaster gepflanzt worden — ein trauriges Shmbol dessen, was mau in Paris deu
Frühling einer neuen Zeit nannte.
Ein paar Sansculotten lungerten, das Gewehr im Arm und die Stummel¬
pfeife im Munde, vor dem Gasthause umher, wo die Offiziere ihr Quartier auf¬
geschlagen hatten. Leutnant Saint-Lambert sprang vom Bock und befahl Pcmcrcitius,
Martinchen und einigen seiner Soldaten ihm ins Haus zu folge«. Sie mußten
lange auf dem Vorsaale warten, ehe sich Kapitän Bechamel — so hieß der Rhada-
manthys in Uniform — dazu bequemte, sie zu empfangen. Nachdem er die Meldung
des Leutnants entgegengenommen und den Delinquenten mit prüfendem Auge be¬
trachtet hatte, befahl er den Gefangnen in die Gaststube zu führen, wo er sogleich
den Fall untersuchen und das Urteil sprechen werde. Jetzt trat Martinchen unter
zahllosen Verbeugungen an den Kapitän heran und flüsterte ihm etwas zu, was
diesen veranlaßte, sich den Verbrecher noch einmal genau zu betrachten. Dann begab
auch er sich in die Gaststube.
Man kann nicht behaupten, daß die nnn folgende Verhandlung besonders
feierlich gewesen wäre, oder daß mau durch unnötige Schreibereien und Fvrmali-
täten ein Verfahren in die Länge gezogen hätte, über dessen Ausgang nur der
Hauptbeteiligte im unklaren sein konnte.
War General Lefebvre, wie Martinchen dem Freunde so eifrig versichert hatte,
kein Unmensch, so war es Kapitän Bechamel noch weniger. Er nannte das fröhliche
Land der Gascogne seine Heimat und war wie alle seine Landsleute, wenn man
seinen Reden hätte trauen dürfen, ein gewaltiger Held, in Wirklichkeit aber ein
großes Kind, das sich am Erzählen denkwürdiger Thaten mehr ergötzte als am
Vollbringen. In dein streitbaren Phantasten, der jetzt unter der Anklage, Soldaten
der Republik thätlich angegriffen zu haben, vor ihm stand, mochte er wohl einen
Geistesverwandten von sich selbst erkennen, wie ihm denn auch Paneratinssens mit
großer Würde und wahrhaft antiker Ruhe gesprochne Rechtfertigung: Non otüeikr!
lin von eomilumäaut ävtsucl sg, tortsrosM! thatsächlich imponierte.
Den Bericht über die Belagerung und die Eroberung der Schweppenburg,
den Saint-Lambert in ganz geschäftsmäßigen Ton erstattete, vernahm Bechamel
mit sichtlichem Behagen, und die Einzelheiten der Verteidigungsgeschichte erfüllte»
ihn mit solchem Entzücke», daß er sie sich, angeblich um Klarheit in den Fall zu
bringen, von jedem einzelnen der Soldaten wiederholen ließ, wodurch das Protokoll
freilich weniger an Klarheit als an Buntheit gewann. Daß die Belagerer das
Komödieuspicl unsers Freundes verhältnismäßig bald durchschaut und in den mannig¬
fachen Gestalten, die sich ihnen gezeigt, immer wieder deu einzigen Pancratius er¬
kannt hatten, setzte diesen in nicht geringes Erstaunen. Noch merkwürdiger aber
erschien ihm, was seine Feinde alles in diesen Gestalten gesehen haben wollten.
Der eine behauptete, er habe ganz deutlich gesehen, wie sich der Delinquent plötzlich
in den leibhaftigen Teufel verwandelt habe, einem andern sollte er als Steuer-
Pächter Le Notre aus Versailles erschienen sein, ein dritter wollte die heilige
Jungfrau vou Reims gesehen haben.
Der Gascogner, durch diese Verquickung von Helden- und Komödiantentum
"uf das angenehmste berührt, wurde mit jeder Minute milder gestimmt, sodaß
Martinchen, der als Dolmetscher fungierte, oder richtiger, nicht fungierte, da Pan¬
cratius selbst ganz leidlich französisch sprach, nicht einmal nötig hatte, ein Wort der
Verteidigung einfließen zu lassen.
Nachdem das Verhör abgeschlossen, und der Thatbestand, von dem der An¬
geklagte übrigens kein Jota leugnete, festgestellt worden war, setzte Kapitän Mchamel
sein strengstes Gesicht auf und erklärte nach längerm Schweigen, daß er den
Delinquenten zwar des ihm zur Last gelegten Verbrechens schuldig befunden habe,
daß er jedoch in Anbetracht der von ihm an den Tag gelegten Entschlossenheit
und eines besondern, nicht näher zu erörternden Umstands — bei diesem Worte
fuhr er sich mit dem Daumen leicht über die Stirn — davon absehen wolle, ihn
an Leib und Leben zu bestrafen, sondern ihn nur dazu verurteile, in Gegenwart
des anwesende» französischen Militärs und der Einwohnerschaft von Burgbrohl
unter den Klänge» der Marseillaise etlichemal um den Freiheitsbaum zu tanzen.
Pancratius hörte das Urteil mit der Gelassenheit, die wir schon so oft an
ihm bewundert haben, an. Daß er, der sich vor den Galliern freiwillig als
Schauspieler produziert hatte, min unfreiwillig als Tänzer auftreten sollte, schien
ihm wirklich nicht allzuhart. Der Kapitän ließ Alarm blasen, und so füllte sich
der kleine Marktplatz, ehe fünf Minuten vergingen, mit einem um Zahl ganz an¬
sehnlichen Publikum. Die Soldaten, alles in allem etwa hundertundfunfzig Man»,
stellte» sich in einem Kreise auf, dessen Mittelpunkt der Freiheitsbaum war. Hinter
diesen, Korton drängte sich die Ortseinwohnerschaft in der Erwartung eines nnßer-
ordentlichen Schauspiels zusammen. Nur ein Bäcker, der vor seiner Hausthür
Holzscheite zerkleinerte, ließ sich durch den Auflauf nicht in seiner Arbeit stören,
sondern wandte dem versammelten Kriegsvolke mit offenkundiger Geringschätzung
seinen breiten Rücken zu.
Pancratius wurde von seiner Fessel befreit und durch eine schmale Gasse nach
der eigentümlichen Richtstätte geführt. Bei seinein Erscheinen stimmten zwei Trommler
und zwei Pfeifer das Lied der Freiheit an.
Nicht ohne Würde trat unser Freund in die Arena, nicht ohne Würde hob
er die gewaltigen Füße zum Tanze. Aus einiger Entfernung beobachtet mußte
die Szene lebhaft an die Schaustellung eines riesenhaften Tanzbären erinnern, und
in der That machte sie auf die Zuschauer auch einen ganz ähnlichen Eindruck.
Die geheime Furcht, der unheimliche Tänzer könne plötzlich seine natürliche Wildheit
wiedererlangen und sich unter das Publikum stürzen, läßt bei solchen Gelegenheiten
die Freude an der grotesken Komik nie ganz aufkommen.
Philosophen Pflegen zu behaupten, der schwerste Kampf sei der, den der
Mensch gegen seine Leidenschaften führe. Sie haben Unrecht. Der Kampf gegen
die Lächerlichkeit ist tausendmal schwerer. Pancratius bestand ihn glänzend. In
diesem Augenblicke war er wirklich groß, ein Held vom Scheitel bis zur Sohle.
Keiner der Zuschauer wagte zu lachen. Ein Bauernbursche, der den Mund zu
einem blöden Grinsen verzog, erhielt von seinem Nebenmann einen Stoß, daß ihm
Hören und Sehen verging.
Zweimal schon hatte der Riese den Freiheitsbaum ernsten Antlitzes umkreist.
Da lies; er den Blick über die Versammlung schweifen und sah nun, wie dicht
beim Marktbrunnen ein trunkner Franzose eine gebrechliche alte Frau, die ihm
nicht schnell genug Platz gemacht hatte, mit der Faust ins Gesicht schlug. Jetzt
war es mit Pancratiussens Selbstbeherrschung vorbei. Den Niesen, der die eigne
Schmach mit übermenschlicher Geduld ertragen hatte, ergriff beim Anblick fremden
Elends der taror de-utovious. Er blieb stehn und schaute mit einem Gesichtsausdruck
über die Köpfe der vor ihm aufgestellten Soldaten hinweg, daß diese unwillkürlich
einen Schritt zurücktraten. Dann wandte er sich um, packte mit beiden Händen
den schlanken Stamm des Freiheitsbaums, schüttelte ih», daß die Jakobinermütze
in weitem Bogen zur Erde flog, riß ihn aus dem Pflaster und stürzte, den Baum
wie eine Keule schwingend mitten durch die schleunigst zurückweichende Menge auf
den Missethäter los. Ein furchtbarer Hieb sauste auf den Schädel des Franzosen
nieder, der ohne einen Laut von sich zu geben zusammenbrach und blutüberströmt
liegen blieb. Ein paar Sekunden lang blieb alles wie angewurzelt stehn. Dann
vernahm man Kapitän Bechamels Stimme, der nach seineu Pistolen rief und mit
drei Sprüngen in das Gasthaus eilte, wo er offenbar dringliches zu thun vorfand,
da er nicht wieder zurückkam. Aber der Ruf uach den Waffen hatte den Bann
gebrochen. Vier oder fünf Franzosen rannten mit gefälltem Bajonett auf den
Rasenden los, vermochten aber nicht nahe genug an ihn hinanzukommen, da er
den Baum wie einen Besen benutzte und jeden, der sich in seinen Bereich wagte,
zur Seite fegte. Ein Schuß, den ein Soldat auf Pancratius abfeuerte, erhöhte
nur dessen Wild und bewirkte, daß er sich gegen den unglücklichen Schützen wandte
und ihn durch eiuen furchtbaren Stoß gegen die Brust kampfunfähig machte.
Als die Burgbrohler sahen, mit welchem Erfolge der geistliche Herr unter
ihren Peinigern aufräumte, spürten auch sie den Mannesmut in ihren Herzen er¬
wachen. Der Bäcker war der erste, der sich an der Schlacht beteiligte. Seine Axt
wirkte Wunder. Drei der Gegner lagen schou am Boden, als er einen Bajonett¬
stich durch den rechten Oberarm erhielt. Aber er achtete seiner Wunde nicht, faßte
die Waffe mit der Linken und hieb nur um so erbitterter drein. Inzwischen hatten
sich die übrigen der Holzscheite bemächtigt, die gerade handgerecht und von guter
Schwere waren. Mit diesen draschen sie wacker auf die Franzosen los, die sich
noch eine kurze Zeit lang verzweifelt wehrten, dann aber der Übermacht wichen
und in den Hof des Burghauses zu flüchten versuchten. Ehe sie jedoch das Hofthor
zu schließen vermochten, drangen eines die Verfolger ein, vertauschten die Holzprügel
mit Spaten, Mistgabeln und Pflugscharen und richteten unter allen, die sich nicht
eines Pferdes zu bemächtigen und durch eine Seitenthür der Scheune ins Freie zu
gelangen vermochten, ein furchtbares Blutbad an. Etwa vierzig, unter diesen Leutnant
Saint-Lambert und zwei andre Offiziere, entkamen, erreichten unangefochten die
Landstraße und sprengten in gestrecktem Galopp nach Brohl hinunter, wo sie sich
mit andern Abteilungen der Rhein- und Moselarmee vereinigten.
Als Martinchen, der sich seiner friedliebenden Gesinnung gemäß des Kampfes
enthalten hatte, die Wendung der Dinge bemerkte, schleuderte er Pistolen und Säbel
von sich, warf die Jakobinermütze zur Erde und trampelte darauf herum, als ob
er mit dieser unschuldigen Kopfbedeckung zugleich die ganze Revolution vertilgen
könne. Die Bauern zeigten für diese Symbolik wenig Verständnis, sie hatten am
Blutvergießen Geschmack gefunden und waren in der Wahl ihrer Opfer durchaus
nicht heilet. Schon wollten sie dem armen Flachskopf, diesem kümmerlichen Reste
der Fremdherrschaft, zu Leibe gehn, als zu seinem Heile Pancratius auf der Bild-
flttche erschien, den Zwerg beim Gürtel ergriff und ohne weiteres auf seine breite
Schulter setzte. Es war ein unvergleichlich schönes und erhebendes Bild: der sieg¬
reiche Held, an dessen breite Wange sich die Taube des Friedens schmiegte. Wo
unser großer Freund sich sehen ließ, scholl ihm der Jubel der Menge entgegen.
In dieser Stunde empfand er, was es heißt, der Retter des Vaterlands, der Lieb ¬
ling seines Volks zu sein. Seine Hoffnung war in Erfüllung gegangen, der
Name Pancratius Sackmann glänzte nun mit unauslöschlichen Lettern in den Büchern
der Geschichte.
Wir lesen in den Überlieferungen römischer Historiker, daß bei den feierlichen
Triumphzügen der siegreichen Feldherren auf dem Prunkwagen des Triumvhcitors
ein Mann zu stehn Pflegte, dessen Aufgabe es war, dem Gefeierten allerlei Daten
aus der vbroniqno semulillouss seines Lebens zuzuraunen und die Pausen im Jubel¬
geschrei der begeisterten Menge mit sinnigen Andeutungen über menschliche Schwächen
im allgemeinen und im besondern auszufüllen. Man sah wohl nicht mit Unrecht
in dieser merkwürdigen Einrichtung ein Präservativmittel gegen den Größenwahn,
der keineswegs nur eine Berufskrankheit der Subalternbeamten, Bureauvorsteher
und ähnlicher Leute ist, sondern auch die Männer des Schwertes und der Feder
nicht verschont.
Auch dem triumphierenden Pancratius hatte das vorsorgliche Schicksal einen
solchen Zurauner beigegeben. Sehen konnte man ihn freilich nicht. Es war nur
die Stimme in seinem Innern, die ihm ohne Unterbrechung die Worte zuflüsterte:
Du hast nach ihrer Pfeife getanzt!
Und dieser Stimme gelang es, dem Sieger den Triumph gründlich zu ver¬
gällen. Aus deu Jubelrufen der Menge, aus dem Klang der Kirchenglocke, die
jetzt zur Siegesfeier geläutet wurde, sogar aus dem Gebrüll der Kühe und dem
Blöken der Schafe glaubte er immer nur das eine zu vernehmen: Du hast nach
ihrer Pfeife getanzt!
Martinchen, der längst wieder auf eignen Füßen stand und als Paneratiussens
Schützling jetzt allgemein respektiert wurde, versuchte den Freund aufzuheitern.
Umsonst! Er hörte kaum zu, fragte jedoch, was er, der Flachskopf, jetzt zu thun
gedenke, und bestärkte ihn in seinem Vorsatz, über Wassenach und Mayen nach der
Mosel zu wandern, wo er sein Leben ruhig zu beschließen und seine Kräfte ganz
den Wissenschaften widmen zu dürfen hoffte. Das war dem Riesen lieb. Er hatte
im geheimen gefürchtet, der Kleine hege die Absicht, die Gastfreundschaft der
Schweppenburg in Anspruch zu nehmen und ihm so als ein lebendes Andenken an
die Tage des Ruhms und der Schmach auf unabsehbare Zeit vor Augen zu bleibe».
Der Abschied der Jugendfreunde fiel infolgedessen unerwartet kurz und kühl
aus. Pancratius versah sich sodann mit einem Gewehrriemen, begab sich in den
Gutshof, suchte unter den ihrer rechtmäßigen Besitzer harrenden Schweine das seine
aus, knüpfte ihm den Riemen an das linke Hinterbein und wanderte mit seinem
grunzenden Begleiter unbekümmert um die Burgbrvhler Bauern und den vor
Rührung beinahe erstickenden Flachskvpf seinem Kastell zu.
Das erste, was ihm dort in die Augen fiel, war der römische Altar, der jetzt
mitten im Garten stand, und wie die Aufschrift auf der Rückseite sagte, zwei neuen
Gottheiten, den an« »muibuL des Pierre Degrns und des Jean Jacques Etoupille,
geweiht war. Unserm Freunde, der von dem Tod und demi Begräbnis der beiden
Helden nichts wußte, sagte die Aufschrift nichts weiter, als daß hier ruchlose Hände
ein Heiligtum geschändet hätten, das er so viele Jahre pietätvoll gehütet hatte.
Der Gute! Er ahnte nicht, daß sich die vermeintlichen Herostraten nicht an Mars
und an Herkules, wohl aber am Genius des Ortes und vor allem an Bacchus
versündigt hatten und nun als Opfer der beleidigten Gottheiten nnter dem Altar¬
steine ruhten.
Das zweite, was er bemerkte, war das Chaos in der Bibliothek. Er war
mit großen Sprüngen die Treppen hinnufgeeilt und hatte klopfenden Herzens die
Thür des geheiligten Raums geöffnet. Dem Himmel sei Dank! Die Bücher waren
noch da! Was that es, daß sie in wirrem Durcheinander am Boden lagen!
Hatte es den Franzosen Vergnügen gemacht, die langen Reihen der Leder- und
Pergamentbande von den Brettern der Regale hernnterzufegen, gut, so war das
ehe« ein der Barbaren würdiges Vergnügen! Welche Wonne» dem Bücherfreunde
das Ordnen seiner Schätze bereitet, das konnten die Vandalen freilich nicht ahnen.
Und Pancratius, der eine neue Lebensaufgabe vor sich sah, schwelgte schon in den
Genüssen, die hier seiner harrten.
Nachdem er sich wieder notdürftig in der Burg eingerichtet hatte, ging er an
seine Arbeit. Und wieder stand er mit Staubtuch und Federwcdel unter den
Bücherhaufen, und wieder las er Band für Band zu Ende, ehe er ihm seinen
Platz anwies.
Am dritten Tage wurde er durch starkes Klopfe» an der Hausthür gestört.
Als er ans Fettster trat, sah er u»ten den Burgbrvhler Bäcker und drei seiner
Kampfgenossen stehn, die einen gefesselten französischen Offizier zwischen sich hatten.
Es war Kapitän Bechamel, der wackre Gascogner. Man hatte ihn an demselben
Morgen auf dem Boden des Gasthauses, wo er sich seit dem Gemetzel verborgen
gehalten hatte, unter alten Betten und Kleidern entdeckt und ans Licht gezogen.
Was lag näher, als ihn dem Bnrgkaplan, über den er zu Gericht gesessen hatte,
zu überantworten?
Pancratius ging hinunter, schüttelte den Burgbrohleru schweigend die Rechte
und führte sie samt ihrem Gefangnen vor den römischen Altar, wo er sie bat,
einen Augenblick zu warten. Dann ging er mit wunderbarer Ruhe und Würde
ins Haus, kehrte mit einem Eimer Wasser, einem Napf Seife, einer Mulde Scheuer¬
sand und einer Bürste zurück, gab diese dem Franzosen in die Hand und deutete
ihm pantomimisch an, was er mit diesem Instrument machen solle. Bächamel
schien diese stumme Ausfordrung nicht zu verstehn oder verstehn zu wollen, worauf
unser Freund noch einmal mit großer Ruhe verschwand und mit einer Hundepeitsche
zurückkam, deren Anblick dem armen Kapitän Plötzlich zu einem merkwürdig feinen
Verständnis für Paneratiussens Wünsche verhalf. Er ergriff die Bürste, tauchte sie
nacheinander in Wasser, Seife und Sand und bearbeitete die Rückseite des Altars,
bis die letzte Spur der roten Farbe verschwunden war.
So, gute Leute, sagte jetzt Pancratius zu den Burgbrohleru, um laßt ihn
laufen. Er mag sehen, wie er zu den Seinen kommt.
Er wird nicht zu weit kommen, wandte der Bäcker ein; wenn er lebend den
Rhein erreicht, so kann er von Glück sagen.
Und wer weiß, ob er dort so bald auf Kameraden stößt, bemerkte unser Freund
nachdenklich. Der Weg bis Koblenz ist weit, und in Uniform, wie er da steht,
werden sie ihn nicht durchlnssen.
Er gab dem Offizier einen Wink, ihm ins Haus zu folgen. In einem Winkel
des Vorsnals lag, was die Franzosen an Garderobestückeu übrig gelassen hatten.
Es war uicht gerade das Kostbarste, aber eben deshalb für den Zweck, den Pan-
cratius im Auge hatte, das Brauchbarste. Bechamel begriff, was der Hinweis auf
den Kleiderhaufen bedeuten sollte. Er suchte sich einen alten Jagdanzug heraus,
zog über die Jacke noch eine» blauen Bauerukittel und stülpte sich eine Pelzmütze
über deu Kopf, die so groß war, daß sie nicht nur Stirn und Augenbrauen, sondern
auch noch einen Teil der scharf geschulteren Nase verbarg. Seine eigne Uniform
steckte er in einen Sack, warf diesen über die Schulter und zog von beirren, nicht
ohne dem großmütiger Feinde mit Emphase gedankt und seine Hände mit Küssen
bedeckt zu haben.
Von diesem Tage an ließ sich Pancratius so gut wie nie mehr sehen. Mit
den „Unterthanen" verkehrte er nur noch schriftlich, und den Mühlknappen, der ihm
an jedem dritten Tage die notwendigsten Lebensmittel brachte, hatte er angewiesen,
die Pakete und Düten in einen Korb zu legen, den er von einem Fenster der
Bibliothek an einem Stricke hinabließ und gefüllt wieder emporhaspelte.
Weshalb mochte sich der sonderbare Mann zu diesem Einsiedlerleben ver¬
dammen? Litt sein Kindergemüt unter dem Bewußtsein, das Blutbad in Burg-
brohl angerichtet zu haben? Drückte ihn noch immer der Gedanke um die erlittne
Schmach? Nein! Weder das eine noch das andre war der Grund zu dem großen
Entschlüsse, fortan ein Lebendigbegrabner zu sein. Es war ein Opfer, das er
seinem Ruhm brachte.
Die Heroen des Altertunis hatte, sobald das große Werk, zu dem das Schicksal
sie bestimmt hatte, verrichtet war, eine gütige Gottheit aus dem Kreise der Lebenden
entrückt. So lebten sie zwiefach weiter, in den Gefilden der Seligen und im Ge¬
dächtnis der Menschen, vor deren Angen das Bild des Helden auf der Höhe seines
Ruhms stand — ungetrübt durch menschliche Schwächen, unberührt von der ver¬
wischenden Hand des Alters.
Hätte man Pancratius gesagt, er sei noch zu andern, größern Thaten aus¬
ersehen, seine Heldenlanfbahn sei noch nicht abgeschlossen, er würde überlegen ge¬
lächelt haben. Das wußte er den» doch besser! Das Schicksal selbst hatte ihm ein
Zeichen gegeben. Der römische Altar, dessen Auftauchen aus dem Erdenschöße ihm
einst seine große Mission angedeutet hatte, sank langsam aber stetig wieder in die
Tiefe hinab. Er ahnte die wahre Ursache dieser seltsamen Erscheinung nicht, würde
einer Erklärung anch keinen Glauben geschenkt haben, dn er sich wie die meisten
Menschen lieber an das Übernatürliche als an das Natürliche hielt.
Jahrelang konnte man von der Landstraße aus an warmen Sommerabenden
im Garten der Schweppeuburg einen riesenhaften aber schon merklich gebeugten
Greis auf und nieder wandeln und sinnend vor dem antiken Steine stehn sehen, von
dem nur noch der obere Teil aus Gras und Nesseln hervorlugte. Gegen das Ende
der zwanziger Jahre soll der alte Einsiedler gestorben sein.
Als man um die Mitte des Jahrhunderts deu römischen Grabstein wieder
ausgrub und in dem damals wesentlich verschönerten Burggarten aufstellte, wo ihn
der Besucher des Brohlthales heute noch sehen kann, erwachte merkwürdigerweise
auch wieder die Erinnerung an Pancratius. Er soll zur Nachtzeit in den Ge¬
mächer» der einsamen Burg umgeh». Ja, der derzeitige Pächter der Mühle, von
dem ich manchen Zug aus dem Leben des streitbaren geistlichen Herrn erfahren
habe, läßt sich nicht ausreden, er habe vor etlichen Jahren in einer mondhellen
Oktobcrnacht deutlich wahrgenommen, wie eine riesenhafte Gestalt in blankem Harnisch
plötzlich ein Fenster des dritten Stockwerks aufgerissen und mit einer Entenflintc
auf ihn gezielt habe. Als der überraschte Wandrer dreimal das Zeichen des Kreuzes
gemacht habe, sei die Erscheinung unter höhnischem Gelächter entwichen.
Armer Pancratius, so bist du also ein ganz gewöhnliches Burggespenst ge¬
worden! Äo transit xloris, annal!
Zur Malthusfrage. Franz Oppenheimer hat die hundert Jahre oder
vielleicht auch ein paar tausend Jahre alte Frage — denn Malthus ist nicht der
erste, der sie aufgeworfen hat — in seiner Schrift: Das Bevölkerungsgesetz
des T. R. Malthus und der neuern Nationalökonomie (Dr. John Edel-
heini, Berlin-Bern, 1901) wenigstens in einem Punkte ins reine gebracht. Er
schält den echten Malthusianismus aus dem heraus, was sich heute so nennt, und
zeigt, daß sich die heutigen Malthusianer (nämlich die wissenschaftlichen; die prak¬
tischen Nenmalthusianer zieht er nicht in den Bereich seiner Untersuchungen) fälschlich
so nennen. Sie sprechen alle nur von der Tendenz zu einer Volksvermehrung, die
das richtige Verhältnis zur Nahrungsmittelvermehrnng überschreitet. Malthus habe
zwar auch das Wort Tendenz gebraucht, aber bei ihm habe dieses Wort einen
andern Sinn als bei den neuern. Diese denken dabei an ein Streben, das sich
nicht durchzusetzen braucht, Malthus lehrt, daß sich die Tendenz immer und überall
durchsetze, daß sich also thatsächlich die Bevölkerung, wenn nicht künstliche Mittel
dagegen angewandt werden, immer und notwendigerweise stärker vermehre als die
Unterhaltsmittel, sodaß also der Überschuß durch Hunger umkommen müsse; es soll dies
nur ein besondrer Fall des Gesetzes sein, das alle Organismen beherrsche. Dieser
echte Malthusianismus, darin hat Oppenheimer Recht, widerlegt sich selbst, denn
wenn das von Malthus aufgestellte Gesetz in der Natur waltete, hätten sich die
Organismen überhaupt nicht vermehren können, und es wäre bestenfalls bei der
Fortpflanzung der Gattungen in je zwei Exemplaren geblieben. Mit diesem Unsinn
hat also die moderne Nationalökonomie nichts zu schaffen. Diese lehrt nur, daß
bei starker Volksvermehrung Schwierigkeiten und Übel entstehn, deren Ursprung
weniger in der Natur als in den gesellschaftlichen Einrichtungen und in der Gemüts¬
beschaffenheit der Menschen liegen, und daß wegen der Kleinheit der Oberfläche
unsers Planeten nach einigen hundert oder tausend Jahren allerdings Wohl anch
die Natur einer weitern Vermehrung der Menschen Halt gebieten könnte. Oppen¬
heimer nennt das prophetischen Malthusianismus und teilt dessen Anhänger in zwei
Klassen, je nachdem sie mehr auf die in nächster Zukunft von den gesellschaftlichen
Einrichtungen oder auf die im dritten Jahrtausend von der Kleinheit der Erdober¬
fläche drohenden Übel hinweisen, und er sucht beider Befürchtungen zu widerlegen.
Auf das, was er über die zweite Spielart sagt, gehn wir nicht ein. Den Kopf
der Menschen des dritten Jahrtausends brauchen wir uns nicht zu zerbrechen.
Oppcnheimers Nachweis, daß die Erde bequem zweihundert Milliarden Menschen
zu ernähren vermöchte, ist ebenso wertlos, wie der Nachweis seiner Gegner, daß
es höchstens für neun Milliarden langt. Nur zweierlei wollen wir dazu bemerken:
daß wir keiner von den zweihundert Milliarden sein möchten, denn Menschen
wollen gleich allen andern Genuszmitteln mit Maß genossen werden, wenn man sie
nicht überdrüssig bekommen soll; auch mochten wir nicht ganz ohne die Natur leben,
die neben den Glasdächern der Treibhäuser und Frühbeeten, in denen die zwei¬
hundert Milliarden ihre Lebensmittel ziehn würden, nicht mehr Platz hätte. Und
dann: daß Oppeuheimer in seiner Polemik gegen die Uuheilpropheten dem Malthu¬
sianismus ein unbewußtes Zugeständnis macht. Er wendet nämlich gegen ihre
Berechnungen unter andern: ein, was auch die Sozialdemokraten hervorzuheben
Pflegen, daß die Volksvermehrung nicht mehr lange im gegenwärtigen Tempo fort¬
schreiten, sondern durch die zunehmende Bildung und den wachsenden Reichtum
verlangsamt werden werde. Woher kommt es denn, daß die Reichen und Ge¬
bildeten meist weniger Kinder bekommen als die Proletarier, die eben vom Kinder¬
reichtum ihren Namen haben? Nicht von den Schmalznudeln, wie Bebel sagt,
wo er davon redet, daß in Bayern — auch anderwärts! — die Bauern weniger
Kinder haben als die Arbeiter, sondern davon, daß die Wohlhabenden ihren Besitz
nicht gern in gar zu viel Teile teilen, daß sich die Gebildeten wegen der Ver¬
sorgung der Kinder Gewissensbedenken machen, und daß dadurch beide — leicht
praktische Malthusianer werden.
Was dann die andre Klasse der Propheten anlangt, so leugnet Oppenheimer
nicht, daß bei starker Volksvermehrung oft Übelstände eintreten, aber er stellt sich
deren Beseitigung durch zweckmäßigere Einrichtungen oder durch Abschaffung der
bestehenden unzweckmäßigen viel zu leicht vor, weil er, wie wir im 45. Heft des
Jahrgangs 1898 der Grenzboten unter der Überschrift „Verbesserter Smithianismus"
gezeigt haben, die Gesellschaft als reine Tauschgesellschaft auffaßt, was sie nicht ist,
den Staat als yuantito nöFlixssdlö behandelt und nicht den wirklichen Menschen
mit seinen Gemütsbedürfnisseu, Neigungen, Leidenschaften und Vorurteilen vor
Augen hat, sondern einen nicht existierenden abstrakten Menschen, der nichts will,
als gegen seine Waren und Leistungen andrer Leute Waren und Leistungen ein¬
tauschen. Wir können das an andern Orten gesagte hier nicht noch einmal wieder¬
holen und erwähnen nur eine interessante Anwendung, die er in der vorliegenden
Schrift von seinem Lehrsatz macht, daß die Menschen immer und überall gleich
Wassertropfen nach dem Orte des geringsten Drucks abfließen. Er sucht zu be¬
weisen, daß es gar kein Unglück für England sein würde, wenn ihm durch einen
Krieg die Lebensmittelzufuhr und die Absatzmärkte abgeschnitten würden. Zunächst
produzierten die Vereinigten Königreiche an Lebensmitteln auch heute so viel, daß
bei gleichmäßiger Verteilung ans jeden Einwohner sogar noch etwas mehr komme,
als der Italiener durchschnittlich zu verzehren hat, nur werde jetzt ein bedeutender
Teil der mehlhaltigen Früchte in Bier und Branntwein umgewandelt. Dann aber,
meint er, würde natürlich sofort das Brotkorn enorm im Preise steigen, der lockende
Gewinn würde zusammen mit dem stockenden Absatz viele Industriellen bestimmen,
ihr Kapital in der Landwirtschaft anzulegen, die immer wohlhabender werdende
landwirtschaftliche Bevölkerung würde in steigendem Maße Jndustrieerzeugnisse
kaufen, und so würde das Gleichgewicht rasch wiederhergestellt werden. Wir wollen
nicht untersuchen, ob die Statistik der Nahrungsmittelproduktion, die er giebt,
richtig ist, und den Nachweis, den er bei dieser Gelegenheit führt, daß demi Jn-
landsmarkte gegenüber der Exportmarkt selbst für das heutige England nicht gar
viel zu bedeuten hat, erklären wir sogar für verdienstlich. Das Phantastische liegt
in der Ansicht, daß ein solcher Umbilduugsprozeß, wie er ihn beschreibt, leicht und
rasch von statten gehn könne. Ein paar hunderttausend Menschen verhungern im
günstigsten Falle, und im ungünstiger», der der wahrscheinlichere ist, mißlingt der
Versuch der Umbildung. England hat es ja erlebt, daß seine hohen Kornpreise
das Kapital in die Landwirtschaft lockten, in der ersten Hälfte des vorigen Jahr¬
hunderts, aber der Prozeß verlief nicht nach Oppenheimers Schema, sondern der
hohe Kornpreis erzeugte Volkselend, dieses erzwang die Aufhebung der Kornzölle,
und der Preissturz, den diese zur Folge hatte, führte zur Verminderung des
Körnerbons.
Die Bevölkerungsfrage ist heute leine Nahruugsmittelfrage mehr, darüber sind
wir im klaren. Auch darin stimmt alle Welt mit Oppenheimer und List überein,
daß rein agrarische und verkehrlose Bevölkerungen abwechselnd Überfluß und Maugel
an Nahrungsmitteln haben und an Kulturgütcru beständig Mangel leiden, während
dichte Bevölkerung die Erzeugung von Kulturgüter», zu denen die Verkehrsmittel
gehören, ermöglicht und dadurch unter andern: auch die gleichmäßige Verteilung
der Nahrungsmittel durch Raum und Zeit bewirkt. Aber wenn die Zahl derer,
die ihre Lebeusiuittel nicht der eignen Scholle abgewinnen, einen gewissen Prozentsatz
der Bevölkerung ausmacht, wird es schwierig für sie, in den Besitz ihres Anteils
an der reichlich vorhandnen Gesamtmenge zu gelangen, und es entbrennt, mit
Sombnrt zu reden, der Kampf ums Futter, während zugleich die Staaten, in dene«
dieser Kampf entbrannt ist, zum Kampf um die Futterplätze schreiten. Daß der
Kampf ums Futter und um alles, was zum Futter gehört! angemessener Wohn-
raum und standesgemäße Ausstattung und Lebenshaltung, etwas besonders Schönes
sei, hat noch niemand gesunden, und die Notwendigkeit, ihn mit Gesetzen gegen
den unlauter» Wettbewerb und ähnlichen Maßregeln innerhalb gewisser Grenzen
zu halten, findet auch niemand schön. Die aber dem Kampf nicht gewachsen sind,
bilden den Bodensatz, die neue Schicht der Nichtseinsollenden, ans die Nietzsches
Bezeichnung „die viel zu vielen" wirklich paßt. Bei gebildeten Bauernvölkern,
wie in den Schweizer Urkantonen, bei den Buren, den siebenbürgischen Sachsen
und in Nordamerika bis um das Jahr 1850, hat es eine solche Schicht niemals
gegeben.
Wen», wie Oppenheimer am Schluß sagt, für Malthus politische Verfassung,
Grundbesitzverteiluug und Eingriffe des Staats in das Wirtschaftsleben Dinge von
ganz untergeordneter Bedeutung gewesen sind, so ist das allerdings ein Beweis
dafür, in welchem Grade er doktrinär war und des Verständnisses für die Wirk¬
lichkeit entbehrte. Aber wir haben nicht nötig gehabt, ans Oppenheimers Wider¬
legung des Malthusianismus zu warten, um die Nichtigkeit der von Malthus ver¬
kündigten Elendsauclle und die Wichtigkeit der von ihm übersehenen oder gering
geachteten Ursachen zu erkennen. Darum ist nicht erst jetzt wieder „von neuem
zu untersuchen, ob uicht doch die menschliche Macht an die Wurzel des Übels
reichen kann, ob eine Organisation der Gesellschaft technisch und psychologisch un¬
denkbar ist, in der Not, Elend und Laster als Massenerscheimmgen verschwunden
sein werden." Das haben gleich vielen andern auch wir, ohne von Malthus ge¬
hindert zu werden, viele Jahre lang gethan. Nur haben wir dabei nicht von
dem Abstraktuni Gesellschaft, sondern von wirklichen Völkern gesprochen und ge¬
sunde», daß es zu allen Zeiten Völker gegeben hat und hente noch giebt, bei
denen Elend und Laster als Massenerscheinungen nicht vorkommen, und daß das
ausnahmelos Völker siud, die sich einer guten Grundbesitzverteilnng und eines
hohen Prozentsatzes landwirtschaftlicher Grundbesitzer erfreuen. Wir schließen daraus,
daß gute Gruttdbesitzvertciluug und das richtige Verhältnis zwischen der Zahl der
Landwirte zur Zahl der Angehörigen andrer Bernfstünde die wesentlichen Be¬
dingungen der Volkswohlfahrt siud. Hauptaufgabe der Politiker ist es also, zu
erkennen, welches Verhältnis dem jeweiligen Staude der wirtschaftliche» Technik
angemessen ist, und die Erhaltung oder Wiederherstellung des richtigen Verhältnisses
zu erstreben. Können nicht so viel Landwirte besteh», wie das Gleichgewicht er¬
fordert, so ist das Land relativ übervölkert.
aß Hypothekenbanken die für sie gegebne Vorschrift, nur bis zu
drei Fünfteln des Werth zu beleihen, dadurch umgingen, daß sie
sich zu hohe Taxen anfertigen ließen, ist schon in einem frühern
Aufsatz erörtert worden. Diese Gesetzumgebung ist ziemlich all¬
gemein. Heute sollen hier andre Umgehungen dargestellt werden,
deren sich eine Klasse von Banken, die sogenannten Spielhagenbanken, an erster
Stelle oder allein schuldig gemacht haben. Die Preußische Hypothekenaktien¬
bank zu Berlin fühlte sich namlich durch die preußische» Nvrmntivbestimmuugen,
die inzwischen dnrch das deutsche Neichshypothekenbankgesetz ersetzt worden sind,
i» ihrem geschäftlichen Wirkungskreis sehr beengt. Um auch Geschäfte frei
von diesen Beschränkungen machen zu können, gründete sie besondre Tochter¬
gesellschaften, die man unter dem Namen Spielhagenbanken zusammenfaßt, und
die jetzt mit der Preußischen Hypothekcnaktienbank zugleich in Not geraten sind.
Diese Tochtergesellschaften sind folgende Banken: I.Deutsche Grundschuldbank,
2. Aktiengesellschaft für Grundbesitz und Hypothetenverkchr, 3. Neue Berliner
Bangesellschnft, 4. Märkischer Jmmobilieuverein, 5. Kreditverein für Industrie
und Grundbesitz. Die Deutsche Grundschuldbank wurde kaum ein Jahr vor
dem Krach unter das Neichshypothekenbankgesetz gestellt und erhielt damit die
Befugnis zur Ausgabe von Jnhaberpapiereu (Pfandbriefen), sie wird deshalb
seitdem eine Schwestergesellschaft der Preußischen Hypothekcnaktienbank genannt.
Doch erscheint der Name, ob Schwester- oder Tochtergesellschaft, ziemlich gleich-
giltig.
Wenn sich nun die Preußische Hypothekenaktienbank darauf beschränkt
hätte, eine Anregung und Unterstützung zur Gründung einer Bank zu geben,
die gewisse ihr selbst fremde Geschäftszweige bearbeiten und sie dadurch zweck¬
entsprechend ergänzen sollte, so würde man dagegen nicht viel sagen können.
Aber eine solche Bank würde bald selbständig dagestanden haben und ihren
eignen Weg gegangen sein. Dies wollte die Preußische Hypothekennktienbank
vermeiden, sie beschränkte sich deshalb nicht bloß ans eine vorübergehende Mit¬
wirkung bei der Gründung, sondern suchte ihre mütterliche, nicht immer gerade
schützende Hand über ihre Tochtergesellschaft zu halten und sie dauernd am
Gängelbande zu sichren, d. h, sie blieb in Wirklichkeit mehr oder weniger die
Leiterin, zum Teil sogar auch die Eigentümerin jener Bärlein Dies erreichte
sie auf folgende Weise. Sie behielt nicht bloß wenn auch nicht gerade alle
Aktien, so doch einen größern oder geringer», Teil der Aktien in ihrem Besitz,
sondern sie sicherte sich auch dadurch, daß sie ihre Aufsichtsratsmitglieder wieder
in den Aufsichtsrnt der neuen Tochtergesellschaft wühlen ließ und zum Teil
ihre Vorstandsmitglieder oder deren Verwandte zum Vorstand der neuen Gesell¬
schaft machte, dauernd einen noch bessern Einfluß. Natürlich geschah dies mit
gewissen Abwechslungen. I» Wirklichkeit aller blieb der Einfluß der Preußische»
Hypothetenaktienbank allein maßgebend.
Es würde hier zu weit führen, die einzelnen Abweichungen von jener
Regel darzuthun. Für den Verkehr und für die praktischen Verhältnisse stellte
sich die Sachlage so dar, als wenn die Preußische Hypvthekenaktienbank die
Alleiueigentümerin der Tochtergesellschaft wäre, ihr Vorstand zugleich deren
Vorstand und ihr Aufsichtsrat zugleich deren Aufsichtsrat. Würde dies ganz
rein ohne Ausnahme durchgeführt worden sein, so würde natürlich ein Unter¬
schied zwischen beiden Gesellschaften — abgesehen von ihren verschiednen Statuten
und Geschäftskreisen — für die Außenwelt wenig hervorgetreten fein, ja »lau
würde sogar auch juristisch wohl eine Identität beider Banken oder beider
juristischen Personen haben darthun können, d. h. man würde die beiden
— angeblich verschiednen — juristischen Personen für eine einzige haben
erachten können. Dies suchte man zu vermeiden, um den Schein zu wahren,
und so wurde» auch die Aktien der Tochtergesellschaft zum größern oder ge¬
ringern Teil veräußert — sofern dies einträglich oder notwendig war —, und
es wurden auch unschädliche Strohmänner in den Vorstand und den Aufsichts¬
rat hineingebracht; manchmal wurden die Vorstandsmitglieder der einen Gesell¬
schaft zu Aufsichtsratsmitglicdern der andern gemacht. Wichtige Stellen ließ
man jedoch gern in derselben Hand, so war z. B. der Vorsitzende des Anf-
sichtsrats bei der Preußischen Hypothekenaktienbank, der Deutsche» Grund-
schuldbcmk und der Aktiengesellschaft für Grundbesitz und Hypothekenverkehr
immer derselbe. Doch war er es nicht gerade bei allen sechs Gesellschaften.
So verquickt wie die Leiter dieser Gesellschaften miteinander waren,
waren auch deren Geschäfte. Zum Nachweis seien nur folgende Thatsachen aus
dem Berichte der Budgetkommissiou hier migefnhrt. So ist beispielsweise die
Preußische Hypothekenaktienbank Gläubigerin der Aktiengesellschaft für Grund¬
besitz und Hypothekenverkehr in Höhe von etwa 10 Millionen Mark, diese
wiederum Gläubigerin der Kreditgesellschaft für Industrie und Grundbesitz,
mit 26 Millionen Mark und zugleich Gläubigern, der Neuen Berliner Bau¬
gesellschaft mit mehr als ?> Millionen Mark, während zugleich die jeder dieser
Gesellschaften gehörigen Grundstücke beinahe regelmäßig von der Preußischen
Hypothekenaktienbank zur ersten und von der Deutschen Grundschuldbauk zur
zweiten oder zu einer nachfolgenden Stelle beliehen worden sind. Dieser durch
die allzu zahlreichen gegenseitigen Beziehungen entstandne Wirrwarr erweist sich
jetzt als kaum lösbar.
Als man jedoch die Regierung auf diesen Mißbrauch der Gründung von
Tochtergesellschaften in den Kommissionsberntuugen über das Ausführungs¬
gesetz zum Bürgerliche» Gesetzbuch aufmerksam machte, ließ diese erklären, daß
hierüber — auf Anzeigen hin — schon seit 1896 Ermittlungen angestellt
worden seien, daß diese jedoch nichts Belastendes ergeben hatten, und die
Regierung deshalb zum Einschreiten keinen Anlaß habe. Aber es erscheint
muh eine andre Auffassung zulässig, nämlich die, daß hierin, wenn mich nicht
gerade Gesetzesverletzuugeu, so doch Gesetzesumgehungen gefunden werden
können, oder mit andern Worten, daß diese Gründung von Tochtergesellschaften
und deren weitere Leitung durch die Preußische Hypothekcnaktienbank und ihre
Verbindung mit dieser in trg.na«zin Isgis ausgeführt erscheinen. Dies soll hier
näher dargethan werden.
Durch 8 226 des Handelsgesetzbuchs ist es einer Aktiengesellschaft ver¬
boten, eigne Aktien zu erwerben. Dieses Verbot ist deshalb gegeben, weil
der Vorstand einer Aktiengesellschaft von deren Aufsichtsräten, die die Aktionäre
vertreten, angestellt und beaufsichtigt wird. Würde eine Aktiengesellschaft ihre
eignen Aktien erwerben, so wären dann keine Aktionäre da, die den Aufsichtsrat
wählen und so den Vorstand anstellen und beaufsichtigen lassen könnten. Dieses
Verbot ergiebt sich mit Naturnotwendigkeit überhaupt ans dem Rechtsbegriff
einer Aktiengesellschaft. Die Preußische Hypothekeuaktienbank hat nun aller¬
dings eigne Aktien nicht unmittelbar erworben, sie hat aber andre Aktien¬
gesellschaften (Tochtergesellschaften) gegründet und deren Aktien behalten; auf
diese Weise konnte sie sowohl den Vorstand wie den Aufsichtsrat der neuen
Tochtergesellschaft leiten und mit Anweisungen Versehen. Sie wählte that¬
sächlich sowohl die Aufsichtsratsmitglieder wie die Vorstandsmitglieder, wenn
sie auch dem Scheine nach (in trauclöm le^is) die Vorstandsmitglieder durch
die von ihr mit Anweisung versehenen Anfsichtsratsmitgliedcr wählen ließ, die
zum größern Teil sogar ihre eignen Aufsichtsratsmitglieder waren. Auf diese Weise
hatte sie eine Aktiengesellschaft erzeugt, deren Vorstand und Aufsichtsrnt von
einer andern Aktiengesellschaft abhängig, wenn nicht sogar mit dieser identisch
waren. Das letzte würde eher zutreffen, wenn die Muttergesellschaft alle Aktien
der Tochtergesellschaft behalten hätte, was natürlich niemals ganz der Fall
gewesen ist, da ja schon die Mehrheit der Aktien völlig ausreichte, den beab¬
sichtigten Einfluß auf die Tochtergesellschaft ausübe» zu können.
Derartige Aktiengesellschaften, bei denen Aufsichtsrat und Vorstand von
einer andern Aktiengesellschaft abhängig sind, die also gar nicht eine eigne
Selbständigkeit hat noch haben kann, widerspricht dem Geiste des Aktiengesetzes;
wenn es nicht geradezu eine Verletzung von § 226 des Handelsgesetzbuchs dar¬
stellt, so ist es doch eine Umgehung dieses Paragraphen. Indes die Preußische
Hypothckeuaktieubauk begütigte sich nicht damit, daß sie Aktien ihrer Tochter¬
gesellschaften behielt, z, B. von der Deutschen Grundschnldbank nahezu die Hälfte,
sondern sie veranlaßte anch die Tochtergesellschaften, daß diese Aktien der
Preußischen Hypothekenaktiengesellschaft erwarben; so besaß z. B. die Deutsche
Grundschnldbank 1900 über sechs Millionen Aktien der Muttergesellschaft. Nimmt
man eine Einheit beider Gesellschaften an, so besaß in Wirklichkeit die Preußische
Hypothekenaktiengesellschaft ihre eignen Aktien in der Höhe von mehr als sechs
Millionen Mark. Daß dies eine Umgehung des Gesetzes ist, dürfte auch jedem
Uneingeweihten klar sein.
Nach den Normativbestimmungen, sowie auch nach dem Reichshypvtheken-
bankgesctz (K 5 letzter Absatz) ist es den Hypothekenbanken ferner im allgemeinen
verboten, eigne Grundstücke zu erwerben, d. h. man wollte ihnen die Grund¬
stücks- und Terrainspekulationen nicht erlauben; nur in zwei Ausnahmefällen,
nämlich um den Verlust einer Hypothek in der Subhastation zu vermeiden
und zur Beschaffung von eignen Geschäftsräumen, ist den Hypothekenbanken
die Erwerbung von Grundbesitz gewährt. Diese Ausnahmen genügten jedoch
der Preußischen Hypothekenaktienbank nicht. Sie gründete deshalb eine Tochter¬
gesellschaft, später auch mehrere, mit der Aufgabe, Grundbesitz zu erwerben,
diesen zu erschließen, und wie die schon klingenden Ausdrücke alle lauten. Diese
Tochtergesellschaft erwarb also die Grundstücke, die die Preußische Hypotheken¬
aktienbank nicht erwerben durfte, vielleicht auch nicht wollte. Denn es erschien
für den Kredit der Hypothekenbank und damit für den Kurs von deren Pfand¬
briefen nicht vorteilhaft, wenn die Hypothekenbank allzuviel Grundstücke in der
Sulchastation erstand und dies in ihrem Geschäftsbericht mitteilen mußte. Auch
hätte die Aufsichtsbehörde es vielleicht mißbilligen können, wenn die Hypotheken¬
bank ganze Straßenzüge von Häusern besaß. Deshalb erwarb diese die Tochter¬
gesellschaft. Aber diese erwarb nicht bloß die Hünser wegen notleidender
Hypotheken, sondern auch Spekulationsterrains zu deren Erschließung. Nun
konnte die Hypothekenbank die Terrains mit Pfandbriefhypvtheken beleihen,
d. h. sie gab das Geld zum Erwerb der Grundstücke und erhielt dafür Hypo¬
theken eingetragen, für die sie wieder ihrerseits Pfandbriefe ausgab. Die
Hypothekenbank gab aber auch, sobald die Grundstücke soweit aufgeschlossen
waren, daß sie bebaut werden konnten, den Unternehmern, die die Häuser
bauten, die Bangelder, wofür sie auf das fertige Haus die erste Hypothek zur
Ausgabe vou Pfandbriefen erhielt. Die Unternehmer, die diese Hänser bauten,
waren zum Teil waghalsig oder überhaupt ohne Kapitalbesitz, die Hänser, die
straßenweise auf einmal emporschössen, fanden keine Mieter, sie kamen zur
Subhastation, und die Tochtergesellschaft erstand sie alle und war bald in dem
Besitz der Häuser fast einer ganzen Straße oder eines Stadtteils oder richtiger
des früher erworbnen, nunmehr aufgeschlossenen Terrains.
Die Tochtergesellschaft, die nun die Terrains und die mieterleeren Häuser
besaß, war rechtlich verpflichtet, die Zinsen für die Pfandbriefhypotheken an
die Hypothekenbank (die Muttergesellschaft) zu zahlen. Terrains (Bauplätze)
bringen jedoch keine Ertrüge, und auch leerstehende Häuser nicht. Die Tochter¬
gesellschaft lieh sich deshalb Geld von der Muttergesellschaft, der Preußischen
Hypvthekenaktienbank, um an diese die Zinsen zu zahlen. Natürlich brauchte
man nicht deshalb das Geld als Darlehn hinzutragen und als Zinsen wieder
abzuholen, sondern man nahm einfach die nötigen Buchungen vor, und damit
waren die Zinsen berichtigt. So zahlte die Preußische Hypothckenaktienbank
in Wirklichkeit die Zinsen an sich selbst, oder noch zutreffender, die Hypotheken¬
bank besaß in Wirklichkeit die Terrains selbst und mußte, da diese keine Er¬
träge abwarfen, die Zinsen für die Pfandbriefe in irgend einer andern Weise
decken. Dies konnte eben nur so lange gehn, wie die Mittel der Hypotheken¬
bank ausreichten; aber diese reichten nicht mehr im Herbst des vorigen Jahres,
als der Reichsbankdistont ein Jahr lang 5 Prozent betragen hatte, das Geld
infolge der auswärtigen Kriegsunruhen lange Zeit knapp geworden, und der
Geschäftsmarkt durch Aufsätze in der Frankfurter Zeitung auf diese Schiebungen
aufmerksam gemacht worden war. Sie waren übrigens in Börsenpreisen von
jeher bekannt.
Jetzt fand man, daß die Hypothekenbank durch die Gründung der Tochter¬
gesellschaften eigentlich die Zinsen der Hypotheken an sich selbst gezahlt hatte.
Man hätte aber mich einen Schritt weiter gehn und finden können, daß die
Hypothekenaktienbank eigentlich die Besitzerin auch der Grundstücke war, da ja
die Tochtergesellschaft mit ihr ziemlich identisch war. Dies alles war nur da¬
durch möglich, daß die Hypothekenbank gegen den Geist des Handelsgesetzbuchs
die Aktien der Tochtergesellschaft behielt, und die Tochtergesellschaft sogar Aktien
der Muttergesellschaft erwarb, und daß die Hypothekenbank gegen die Absicht
der Normativbestimmnngen und des Neichshypvthekenbankgesetzes Grundstücke
zwar durch die Tochtergesellschaft erwerben ließ, soweit sie jedoch mit dieser
identisch war, eigentlich sie in tranäsni leZis selbst erwarb. Sollte es nicht
möglich gewesen sein, dies dnrch Staatsaufsicht zu verbieten? An sich würde
die Machtbefugnis dazu zweifellos vorhanden gewesen sein. Aber von Anfang
an erscheinen derartige verschleierte Gesetzesumgehungen vielleicht sogar nicht
einmal dem geschäftsgeübten Auge so klar, als sie sich nachher entpuppen. Um
wieviel weniger ist eine Behörde imstande, derartiges im voraus mit Sicherheit
zu vermuten, der womöglich noch unwahre oder doch den wahren Sachverhalt
verschleiernde Auskünfte und Berichte gegeben werden! Man wird deshalb
unter Berücksichtigung der von vornherein nicht so klar liegenden Verhältnisse
auf die preußische Regierung als die Aufsichtsbehörde kaum einen Stein
werfen können. Jede Aufsicht und jede Revision ist eben ein unvollkommner
Rechtsbehelf, sie vermögen in der Regel erst dann einzugreifen, wenn es meist
zu spät ist, wenn nämlich die Schäden schon entstanden sind. Voraussehen
lassen sich diese selten mit Sicherheit.
Man wird nun fragen, wie derartiges für die Zukunft vermieden werden
könne. Reicht die Staatsaufsicht nicht aus, so bleibt mir übrig, die GeseKe
dementsprechend abzufassen. In der That würde, wenn durch Gesetz einer
Hypothekenbank verboten wäre, sich ein der Gründung andrer Aktiengesellschaften
zu beteiligen oder noch besser überhaupt fremde Aktien zu erwerben, dieser
Mißbrauch der Tochtergesellschaften nicht möglich gewesen sein. Denn wenn
eine Hypothekenbank nicht die Aktien der Tochtergesellschaft besitzen darf, so
kann sie uns die Dauer diese auch nicht am Gängelbande führen. Aber alle
Gesetzesverbote sind an sich unvollkommen; läßt sich das Gesetz nicht umgehn,
so wird es einfach gebrochen, d. h. nicht befolgt. Wenn die Schuldigen auch
bestraft werden, so macht die Bestrafung die Gesetzesübertretung doch nicht un-
geschehn. Es ist deshalb besser und empfehlenswerter, wenn man derartige
Verbotsvorschriften vermeiden kann. Sie lassen sich aber dann vermeiden,
wenn man die Hypothekenbanken anders organisiert und ihnen einfach ver¬
bietet, andre Geschäfte als Pfandbriefgeschäfte zu machen, d. h. die Bepfand-
briefung oder Beleihung von Grundstücken zu bewirken. Das Reichshypotheken¬
bankgesetz 5, Ur. 4 bis 6) erlaubt ihnen leider daneben noch folgende Ge¬
schäfte: kommissionsweise den Ankauf und Verkauf vou Wertpapieren, die
Annahme von Geld oder andern Sachen zum Zwecke der Hinterlegung, die
Besorgung der Einziehung von Wechseln, Anweisungen und ähnlichen Papieren.
Hierin liegt der Verderb und die Verführung für die Hypothekeubcmken. Es
wäre besser, sie überließen diese Geschäfte andern Banken und beschränkten sich
auf ihre eigentliche Aufgabe. In der That sind die Hypothekenbanken, die
sich mit andern Geschäften wenig oder gar nicht befassen, die angesehensten
und am besten fundierten, und ihre Thätigkeit ist über allen Zweifel er¬
haben. Warum sollte sich der Gesetzgeber dieses Beispiel der bessern Hypo¬
thekenbanken nicht zu nütze machen?
Das Hypothekenbankwesen, so wie es sich bei uns entwickelt hat, ist un¬
gesund und krankhaft, jedenfalls gesetzlich falsch organisiert. Beschränkt man
die Hypothekenbanken nur auf das Beleihen von Grundstücken, so werden sie
sich mehr den vollkommensten und gelungensten Einrichtungen auf diesem Ge¬
biete nähern, nämlich den Pfandbriefverbänden, d. h. den preußischen Land¬
schaften, die die idealste Kreditgenossenschaft für den Realkredit sind. Bessere
und vollkommnere Einrichtungen oder Kreditverbände können für den Grund¬
besitz nicht ersonnen werden. Warum also, da man derartige gesunde Ge¬
bilde kennt, solche krankhafte Einrichtungen und Gestaltungen wie die Hypo¬
thekenbanken, die, auch wenn sie gesetzmäßig und vorsichtig geleitet werden,
doch für den städtischen Grundbesitz eine Quelle der Beunruhigung und der
Gefahren sind und mehr oder weniger den Städten nud deren Grundbesitz zum
Fluche gereichen! Doch davon ein andermal. Hier sollte nur dargethan
werden, daß man die Gesetzesumgehungen der Spiclhagenbanken weniger durch
die Staatsaufsicht als vielmehr durch Gesetzesvorschriften vermeiden kann, noch
besser und nachhaltiger jedoch durch eine andre Organisation der Hypotheken¬
banken. Denn mit Recht ist gerade durch die Regierungsvertreter hervor¬
gehoben worden, daß gegen Gesetzesverlctzungen, also gegen Verbrechen die
Staatsaufsicht ziemlich machtlos sei. Daß Bücher gefälscht, unrichtige Bilanzen
aufgestellt werden, das vermag weder die Staatsaufsicht noch ein Gesetz zu
verhindern, auch wenn der Strafrichter dagegen einschreitet. Derartige Ver¬
gehungen sind auch bei den Spielhagenbankeu vorgekommen. Es sind deshalb
die Leiter in Haft genommen. Diese Gesetzesverletzungen oder Vergehen sollten
hier nicht weiter erörtert werden, sondern nur die Gesetzesumgehungen, d. h. die
Maßnahmen, die man zwar mit dem Buchstaben des Gesetzes noch vereinbaren
kann, die aber seinein Geiste schnurstracks entgegenlaufen.
Die verhafteten Leiter der Spielhagenbankeu mögen sich zunächst mit den
Gesetzesumgehungen begnügt haben, d. h. damit, dem Gesetze ein Schnippchen
zu schlagen, sie sind jedoch dabei nicht stehn geblieben, sondern aus der ab¬
schüssigen Bahn weiter hinabgeglitten n»d haben sich schließlich durch die Macht
der Verhältnisse fortreißen lassen, Verbrecher zu werden, falsche Buchungen
vorzunehmen, unrichtige Bilanzen aufzustellen und Gewinne herauszurechnen,
wo Verluste waren. Ein Keil treibt eben deu andern. Wer von dem rechten
Wege abweicht, wird beim ersten Schritte nicht stehn bleiben, oft auch nicht
stehn bleiben können. Derartigem Versuchungen werden die Hypothekenbanken
immer ausgesetzt sein, die sich nicht mit dem soliden oder wohlfundierten
Hypothekenbank- oder Pfandbriefgeschäft allein begnügen, sondern auch Bau¬
stellen beleihen, Baugelder hergeben und Gewinn noch auf andre Weise an
der Börse suchen. Man beseitige diese Versuchungen, erlaube diese Geschäfte
nicht mehr den Hypothekenbanken, und sie werden gesünder werden.
eher Stadt und Land im neunzehnten Jahrhundert sagt Schmolk er
in seinem im vorigen Jahr erschienenen Grundriß der allge¬
meinen Volkswirtschaftslehre, die neuere Zeit habe, wie für die
städtische Entwicklung, so für das ganze Siedlungswesen andre
Bedingungen geschaffen. Zunächst Hütten sich die Verkehrsmittel
ausgebildet wie niemals früher: die Post im sechzehnten und siebzehnten Jahr¬
hundert, die Kanäle im achtzehnten, die Chausseen und Vizinalwege in der
ersten .Hälfte, die Eisenbahnen und Telegraphen in der zweiten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts; dazu sei die Entwicklung der modernen Technik
gekommen, die zunächst gewisse gewerbtreibende Städte außerordentlich rasch
gehoben habe. Ebenso einflußreich seien die allenthalben erfolgende Aufrich¬
tung festerer staatlicher Gewalten auf viel größern Gebieten, einer geordneten
Polizei, eines freien Verkehrs innerhalb der Staaten gewesen. Im neunzehnten
Jahrhundert wäre mit der Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit meist der ganze
seit Jahrhunderten bestehende Vorzug der Städte für Gewerbe und Handel
gefallen. Stadt und Land seien sich überall rechtlich gleich gestellt wurden;
die städtischen Mauern seien, mit Ausnahme einzelner Festungen, überall ge-
fallen, in Preußen schon uuter Friedrich Wilhelm I. Noch weniger hätte»
die Dörfer weiter solchen Schutzes bedurft: „immer reiner und unbedingter
konnten die natürlichen und die volkswirtschaftlichen Ursachen die ganze Be¬
völkerungsverteilung im Raum beherrschen, zumal wo eine ante moderne Ge-
mcindegesetzgebung und eine gute Bau- und Gesundheits- und Niederlassungs¬
polizei jeder gesunden lokalen WirtschaftseutUncklung gleichmäßig Licht lind Luft
zum Gedeihen sicherte, während im achtzehnten Jahrhundert zwar die von
fürstlicher Politik besonders begünstigten Residenzen, Handels- und Manufaktur-
städte sich vergrößert hatten, aber in allen andern Städten und auf dem platte»
Lande das starre Herkommen kaum eine Änderung gestattet hatte."
Freilich ohne Bedenken und Schattenseiten sei die Wandrung auch heute
uicht. Bücher sagte mit Recht, der Zug nach der Stadt versetze zahlreiche
Menschen fast plötzlich ans einer natural- in eine geld- und kreditwirtschaft¬
liche Lebenssphüre, und die sozialen Gewohnheiten seien dadurch in einer Weise
bedroht, die den Menschenfreund mit schweren Sorgen erfülle. Aber er fügte
hinzu, man überschätze oft die Mobilisierung der Gesellschaft sehr. Der heutige
Arbeiter „wandre" weniger als früher der Geselle — was doch aber nur
in recht beschränktem Sinne richtig ist —, und die Mehrzahl der Wcm-
druugen suche ihr Ziel in der Nähe, oft nnr im nächsten Dorf — was für
das ostdeutsche Landfluchtgebiet sicher nicht mehr richtig ist. Und im ganzen
entspreche die Wandrung eben der durch den neuen Verkehr nötig gewordnen
Verlegung aller Standorte der Industrie und der Landwirtschaft, der Um¬
bildung aus den Zuständen der Stadt- und Territorial- in die der Natioual-
und Weltwirtschaft.
Die Sorgen, die sich Bücher wegen der veränderten Lebensweise der in
die Großstadt gewanderter Landleute macht, sind nur zu sehr gerechtfertigt,
wie ich schon bei der Besprechung der Nanchbergschen Akklimatisatioustheorie
anerkannt habe, und woran ja auch niemand zweifelt. Auch was Schmoller
sonst über die physisch und die sittlich nachteiligen Einflüsse des Stadtlebens
im Vergleich mit dem Landleben sagt, ist sehr gut und hundertmal maßvoller
als die Behauptungen mancher seiner Schüler, nach denen in den Großstädten
bei der jetzigen Bauart der Wohnhäuser überhaupt nur noch ein geistig und
körperlich ganz verkommnes Gesindel heranwachsen könnte. Es ist hier nicht
Raum, ans diese teils agitatorischen, teils ultradoktrinären Übertreibungen der
Erdgeruchfanatiker näher einzugehn. Aus Erfahrung weiß ich, wie ideal die
„kleinen Leute" in den Dörfern an der Oder und anch in Teilen der Eifel
und des Hunsrücks leben, wo die Kohlnahrung eigentlich erst durch die
Kartoffeltost ersetzt ist, Brot und Mehl aber weniger mitspricht als an der
Unterelbe Fleisch. Ich weiß auch, wie der Kartofselschuaps heute wie vor
dreißig Jahren namentlich in den rekrutenreichen polnischen Lmidwirtschafts-
bezirken meiner Heimat bei Vater und Mutter tagtäglich seine auch äußerlich
erkennbare Wirkung übt und dnrch die Muttermilch dem Säugling beigebracht
als das probateste Schlafmittel beliebt ist. Wie das alles eine besonders
kriegstüchtige Nachkommenschaft zustande bringt, weiß ich freilich nicht. Wohl
aber weiß ich ans der andern Seite »nieder, daß die Berliner und die Kölner
Jungen 1866 und 1870/71 an wirklicher Kriegstüchtigkeit den Bauernjungen
von der ober» und mittlern Oder nicht nnr gleich, sondern in sehr vielen Be¬
ziehungen, auch ni Ausdauer in körperlichen Strapazen, überlegen waren. Die
Rekrutenzüchtungsprobleme unsrer Sozial- und Bodenreformer lassen mich des¬
halb vorläufig noch ziemlich kalt. Auch Herr I)r. Bonne hätte die von ihm
kürzlich so gründlich und unwiderleglich nachgewiesene „Notwendigkeit der
Reinhaltung der deutschen Gewässer"*) durch einen doktrinären Exkurs in
dieses Gebiet zu unterstützen gar nicht nötig gehabt. Die schlesischen Leine¬
weber, deren Wohnverhnltmsse dem sozialreformerischeil Ideal recht nahe kamen,
waren und sind ein noch viel jämmerlicherer Schlag, als die Hamburger
Schauerleute waren, die noch in den alten Twieten und Wohnhöfen hausten.
Noch einmal: die Notwendigkeit durchgreifender Maßregeln mit großen
Mitteln gegen die Nberfülluug der Großstädte mit ihren Vororten und gegen
die sich daraus ergebenden schlechten Wohnverhältnisse namentlich der Arbeiter¬
klasse steht mir außer allem Zweifel. Ebenso aber auch, daß die von der
Regierung wohl ernstlich geplante große Hilfsaktion zum Schiffbruch führe»
muß, wenn ihr Kurs sich nicht mehr, als das vorläufig den Anschein hat, von
der doktrinären sozialistischen und bodenreformsnchtigen Zeitströmung unab¬
hängig zu halten weiß.
Daß nach 1800 die Großstädte in Preußen gar so sehr ins Kraut ge¬
schossen sind, ist in gewissem Sinne auffallend. Der Merkantilismus hatte
den „Flor der Städte" und Handel und Manufaktur in ihnen gerade in
Preußen und besonders in Berlin mit bewundernswcrtem konsequenten und
intelligentem Hochdruck fast anderthalb Jahrhunderte lang zu poussieren gewußt,
auf des Königs Kosten viel Tausende tüchtiger Gewerbsleute aus dem Ju-
und dem Ausland immer »en herbeizuholen verstanden, sie mit Wohnung und
Grundbesitz beschenkt, durch reichliche Gelder lind Aufträge geschäftlich unter¬
stützt und gegen jede Konkurrenz des platten Landes »nie des Allslands nach¬
drücklichst geschützt. Berlins Bevölkerung war denn mich von 1700 bis 1800
von 28500 ans 172000, also um 143500 Köpfe oder 500 Prozent gestiegen.
Die Stein-Hardenbergischen Reformen brachen mit dieser künstlichen Grvßstadt-
züchtung grundsätzlich. Die gewaltige Vervollkommnung der Verkehrsmittel,
die später folgte, begünstigte an sich die Dezentralisation der gewerblichen
Produktion ebenso sehr wie die Konzentration, und der Sieg der Maschinen¬
arbeit im großstädtischen Gewerbe mußte, sollte man meinen, die Wasserkopf-
bildung eher verlangsamen als beschleunigen. Trotzdem hat sich Berlin — ohne
die Vororte — von 1800 bis 1900 von 172000 auf 1888000 Einwohner,
also um 1716000 oder 1000 Prozent vergrößert. Und während sich vom Ende
des siebenjährigen Kriegs bis 1800 die Einwohnerzahl um etwa 50 Prozent
vermehrte, stieg sie von 1867 bis 1900 um ganze 1186000 Köpfe oder um
169 Prozent. Schütze an Roh- und Hilfsstofsen sind dabei am Ort bekanntlich
nicht gehoben worden. Ist dieser Vorgang wirklich so ganz rein und unbedingt
von den natürlichen und volkswirtschaftlichen Ursachen beherrscht worden? Oder
hat nicht auch die „liberale" Großstadtpolitik des achtzehnten Jahrhunderts
in den natürlichen Gang der Dinge, die Wasserkopfbildung begünstigend, ein¬
gegriffen? Vielleicht unbewußt, und weil sie ganz wie unsre modernen Katheder-
svzialisteu an eine höhere Gewalt, die das nnn einmal doch zu Wege bringe,
glaubte; weil sie geschoben zu werden meinte, auch wo sie selber schob. Schmoller
hat Recht, wenn er daran erinnert, daß auch die großen Gesetzgeber, die die
Volkswirtschaft im Sinne der freien Erwerbsordnung gestaltet hatten, wie
Napoleon I., Hardenberg usw. niemals aus die allgemeine Leitung der Volks¬
wirtschaft durch Handels- und Verkehrspolitik und auch niemals aus tief in
die persönliche und wirtschaftliche Freiheit der Einzelnen eingreifende staatliche
Maßnahmen und Anordnungen verzichtet hätten, wo das Gesamtgedeihen es
zu erfordern schien. Welchen ungeheuern Einfluß auf die Bevölkcrnngsverteiluug
im Raum und namentlich auf die örtliche Verteilung der industriellen Erwerbs¬
gelegenheit haben nicht die deutschen Staaten — um nur eins zu nennen —
durch die Aufsicht über deu Eisenbahnbau und dann Preußen vollends durch
die Verstaatlichung der Eisenbahnen gewonnen und ausgeübt! Es ist jeden-
falls aller Grund vorhanden, anzunehmen, daß schon dadurch die Konzentration
der Industrie und ihrer Arbeiter in den Großstädten, und gerade auch in
solchen, die nicht durch Roh- und Hilfsstofflager oder anderweit natürlich zu
Industriezentren prädestiniert sind, bis heute viel mehr, als wirklich natürlich
und nötig war, gefördert worden ist. Den verkehrspolitischen schlössen sich
eine Reihe andrer Maßnahmen um, staatliche und kommunale, die dahin führten,
daß schließlich jede Großstadt auch zum Industriezentrum gemacht worden ist,
als wenn sie sonst nicht gedeihen und glücklich sein könnte. Man war und
ist noch ganz allgemein geneigt, den industriellen Rückgang in einer Großstadt
als Beweis für ihren wirtschaftliche» Verfall überhaupt anzusehen und dagegen
eifrig anzukämpfen. Das ist ein verhängnisvolles Vorurteil, dessen Beseitigung
eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Abstellung der großstädtischen
Wohnungsnot ist.
Schmoller hat die Wirklichkeit wohl nicht ganz richtig gezeichnet, wenn
er sagt, die einzelnen Groß- und Mittelstädte paßten sich immer mehr ver¬
schiedenartigen Spezialzwecten an: als Handels-, Industrie-, See-, Binnen-,
Universitäts-, Residenz-, Festungs-, Garnison-, Badestädte usw. Freilich kon¬
zentrieren sich noch immer die großen Industrien des Maschinenbaus, der
Spinnerei, der Weberei, der Gerberei, der Eisenverhüttung, der Zuckerindustrie,
die er nennt, vielfach aus natürlichen Gründen der Lage dauernd oder auch,
weil von alters her eine darauf eingerichtete Unternehmer- und Arbeiterschaft
nun einmal da ist, für längere Zeit ganz besonders an gewissen Orten. Aber
eine charakteristische Erscheinung der Neuzeit ist es doch wohl eher, daß Resi¬
denzen, Universitäts-, Handels- und andre Großstädte, die es in dem Maße
absolut nicht nötig haben, auch Industriezentren geworden sind und sich eine
große, nen zu akklimatisierende Jndustriearbciterschaft zugezogen haben, die die
Last der sozialen Fürsorge — ganz abgesehen von ihrer erfreulichen Ver¬
besserung und dadurch sehr viel größer gewordnen Kostspieligkeit in sich —
schon jetzt ungeheuer steigert. Die Statistik kann uns keinen recht genauen
Aufschluß darüber geben, wie sich die deutscheu Großstädte verindustrialisiert
haben, schon der leidigen Vororte wegen, die bei vielen, in neuerer Zeit einen
sehr großen Teil des industriellen Arbciterzuzugs aufgenommen haben. Immer¬
hin hat ein Vergleich der in der Industrie beschäftigten Arbeiter mit denen in
Handel und Verkehr hier Interesse.
—- im Unterschied von den selbständigen und
den Angestellten — mit ihren Angehörigen ohne Hauptberuf in der Industrie
einerseits und in Handel und Verkehr andrerseits in den 28 deutschen Gro߬
städten, die damals 100000 und mehr Einwohner hatten, wurde bei der Be-
rufszählung vou 1895 wie folgt ermittelt. Im Handel sind zu den Arbeitern
auch die Handlungsgehilfen und Kommis in Ladengeschäften, Verkäufer und
dergleichen gerechnet.
Je mehr der Maschinenbetrieb und die Massenproduktion für den öffent¬
lichen Markt zugenommen hat, um so weniger brauchten natürlich die Gro߬
städte für ihren eignen Bedarf eine große industrielle Arbeiterbevölkerung. Die
Zahlen, die außerdem, schon der Vororte wegen, wahrscheinlich für die Jndustric-
arbeiterschaft verhältnismäßig zu klein find, lassen eine ungesunde industrielle
Hypertrophie bei einer großen Zahl der aufgeführten Orte annehmen und
deuten bei sust allen aus die unnatürliche Neigung, auch Industriezentren zu
werde», »lehr oder weniger deutlich hin. Der Leser möge sie sich daraufhin
einmal einzeln betrachten. Die Arbeiterschaft in Handel und Verkehr hat sich
wohl zu einem großen Teil infolge des industrielle!! Arbeiterzuzugs gleichfalls
stark vermehrt. Es handelt sich dabei namentlich um das Personal der Dctail-
geschäfte, die immer mehr Wohnräume, Wohnhäuser und Wohustraßeu okkupieren
und trotz der allgemeine» Tendenz zum Großbetrieb, die man als Zeichen der
Zeit verehrt oder verwünscht, eine Überfüllung im Kleinhandel der Großstädte
erzeugt haben, wie sie kaum jemals dagewesen ist. Dieses Handelsprvletariat
kommt und geht mit der industrielle!! Masse, gehört dazu und braucht uns
kaum besondre Schmerzen zu machen. Der eigentliche Großhandel, der ganz
besonders in der Großstadt seinen Platz findet, und der für ihren Bedarf
nötige, immerhin besonders vielseitige und glänzende Detailhandel brauchte uns
überhaupt keine zu macheu, wenn der unnötige industrielle Ballast weg wäre.
Daß die Verkehrsarbeiterschaft in den großen Seestädten eine rss sui xsnsri«
ist, liegt uns der Hand. Aber Hamburg hätte erst recht den Eifer, seine Groß-
indnstrie am Ort selbst i»s riesige zu zündte», deshalb etwas dämpfe» solle».
Wenn ma» sich das überlegt, so sollte man doch wirklich alle Hebel in
Bewegung setzen, die sogenannte Dezentralisation der Industrie oder vielmehr
die möglichste Evaknation der Industrie aus den Großstädten, die nicht von
Natur durchaus zu Industriezentren gestempelt sind — das sind aber ver-
schwindend wenig in unsrer Liste —, von der schon lange viel gesprochen wird
aber wenig zu scheu ist, endlich i» Szene zu setze». Gewiß wäre es leichter
gewesen, eine allen Teilen günstige Entlastung der Großstädte von der Massen-
indnstrie und ihren Arbeiterheeren durchzuführe», wenn man dreißig Jahre
früher damit angefangen oder wenigstens diese »»glückselige Wnsserkopfbildiing
seit dreißig Jahre» nicht mehr gefördert hätte. Aber daß es jetzt damit zu
spät wäre, davon kann keine Rede sein. Die Hauptsache ist auch hier das
Wollen; das Können wird sich finden.
Schmoller hat Recht, wenn er sagt, immer werde es sich heute haupt¬
sächlich um eine indirekte Beeinflussung aller Siedlnngsverhältnisse handeln.
Staat und Gemeinden hätten eine solche in der Hand durch die ganze hierauf
bezügliche Agrar- und Bangesetzgebnng, wie durch den Wege- und Straßenbau
und durch die Kontrolle und die Durchführung der Verkehrsmittel »ut Ver-
kehrsanstalten. Ebenso sei der Bau von Schule», Kirchen, Märkten, die Kvu-
zessionierung von Dampfkesseln der Fabrikanlage», der Schenken ein indirektes
Mittel der Einwirkung. Ma» werde behaupte» können, daß je dichter die
Menschen wohnten, desto unentbehrlicher die Herrschaft allgemeiner, vom Ge¬
samtinteresse aus wirkender Ordnungen über deu Siedlnngsprozeß sei. Aber
vor allem kommt es doch darauf an, nicht immer riesigere zusammenhängende
Flächen als Großstädte zu besiedeln, auch nicht mit Einfamilienhäusern. Es
handelt sich um Dezentralisation der Industrie, d. h. der Arbeiterwohnungen
zugleich mit der Arbeitsstätte, nicht der Arbeiterlvohnnngen allein. Karl Wnlcker
hat das Ziel schärfer, wenn auch in andrer Weise nicht ganz richtig gezeichnet
in seiner Broschüre über die großstädtische Wohnungsnot,") ihre Ursachen
und Heilmittel, Das einzige wirksame, gründliche Heilmittel gegen die gro߬
städtische Wohnungsnot, sagt er, bestehe „in massenhaften Verlegungen gro߬
städtischer Gelverbs- und Handelsgeschäfte nach unbevölkerten Kleinstädter und
Ackerbangegenden," Die Handelsgeschäfte könnte er wohl ganz in Ruhe lassen,
und daß gerade reine Ackerbangegenden mit der aus den Großstädten zu ver¬
legenden Industrie beglückt werden sollen, hat anch seine Wenn und Aber, Die
Hauptsache ist aber richtig: eine vernünftige Dezentralisation der Industrie
muß die industriellen Anlagen zugleich mit den Arbeiterwohnungen räumlich
ganz außer Berührung mit den Großstädten bringen. Wenn z. B. Berliner
Großbetriebe ans der Stadt nach einem nahen Vorort übersiedeln, vielleicht
nach Charlvtteulmrg, Rixdorf oder anch Tegel, so machen sie wahrscheinlich
ein recht gutes Termingeschäft und können auch ihre Arbeitsstätten technisch
und hygienisch besser einrichten. Aber eine Dezentralisation der Industrie,
wie sie Berlin braucht, wird dadurch nicht erreicht, während dies z. B, bei
der Verlegung des großen Spindlerscheu Etablissements (Färberei und chemische
Wäscherei) nach Spindlersfeld bei Köpenick der Fall war,
Auch darin hat Walcker Recht , daß er als ein wesentliches Mittel zum
Zweck der Dezentralisation nicht nur den Eisenbahnbau, sondern auch die
Eisenbahntarifpvlitik besonders betont. In dieser Beziehung kann Preußen
ungeheuer viel thun. Eine Förderung der Dezentralisation der Industrie er¬
wartet man namentlich auch von den großen Wasserstraßenprojekten, die in
Preußen der Erledigung harren. Aus den oft gehörten verkehrstechnischen
Gründen wohl mit Recht. Aber man würde sich doch einer Täuschung hin¬
geben, wenn man diesen Erfolg dnrch den Kanalbau ohne weiteres für die
unter der übermäßigen Vermehrung der Industrie besonders leidenden Gro߬
städte, namentlich Berlin, erreichen zu können hoffte. In Berlin wird schon
mit dem Gegenteil gerechnet, ein neuer Impuls für die Vergrößerung und
Vermehrung der großindustriellen Anlagen in der Stadt »ud in den Vororten
und leider auch für die Bauplatzspekulatiou wird erwartet. Auch bei Hannover,
dessen industrielle Nicsenblüte mir ebensowenig erwünscht und „naturnotwendig"
erscheint wie die Berlins, soll das der Fall sein. Man spricht sogar von
einem mächtigen Aufschwung der Berliner Exportindustrie, trotz des keltern
Pflasters der Reichshauptstadt.
Diesem Unsinn, wie man nur sagen kann, muß bei Zeiten vorgebeugt
werden, soweit es irgend geht. Einmal durch positive Maßregeln zur Schaffung
neuer Jndustriestaudvrte draußen in der Provinz zugleich mit dem Kaucckbau,
und wenn große Summen aus Staatsmitteln dazu nötig wären. Dann aber
zweitens und hauptsächlich durch rechtzeitige, kräftige RePressionen gegen die
nidustrielle Hypertrophie in den daran leidenden Großstädten selbst. Hier
werden — abgesehen von durchgreifenden Verschärfungen der allgemeinen
wohuuugspolizeilicheu Einrichtungen — verschärfte bau-, gesnudheits-, Ver¬
kehrs- und sicherheitspolizeiliche Vorschriften für die Anlage von Fabriken aller
Art durchgeführt und namentlich die grvßiudustrielleu Unternehmer ganz anders
als bisher zu den Kosten der kommunalen Aufwendungen, die ihre Etablisse¬
ments und ihre Arbeiter den Gemeinden verursachen, im voraus herangezogen
werden müssen. Es liegt uns der Hand, das; gerade in Rücksicht hierauf die
Errichtung von großen neuen Quartieren mit so billigen und verbesserten
Arbeiterwohnungen, wie die Wohnungsreformer verlangen, zu Lasten der Ge¬
meinden oder auch gemeinnütziger und Arbeiterversichernngsfonds, in der Gro߬
stadt selbst oder so nah in ihrer Umgebung, daß die Großindustrie bleibe»
kann, wo sie ist, das Pferd beim Schwänze aufzäumen hieße.
Es ist doch wirklich widersinnig — soweit es sich nicht um Örtlichkeiten
handelt, die von der Natur nun einmal zu Industriezentren abgestempelt sind,
also eigentlich fast nur um die Montanbezirke —, die großstädtische Wohnnngs-
und Bodenpolitik ausschließlich oder auch nur hauptsächlich von der billigsten
und besten Unterbringung der industriellen Arbeitermassen bestimmt wissen zu
wollen. Wenn wir Berlin durch die Anlegung von Arbeiterkvlonien mit Ein-
und Zweifamilienhäusern, meinetwegen auch vermischt mit billigen „Villen"
n. dergl., veranlassen, sich in gewaltiger Progression horizontal auszudehnen,
so werden damit wahrhaftig keine idealen Zustände geschaffen werden, weder
für die übrigen Einwohner, noch für die übrigen großen, öffentlichen Zwecke der
Stadt. Daß solche vom ostelbischen Zuzüge bevölkerten Viertel gerade die Reize
von Gottes freier Natur haben und den Berlinern unmittelbar nahe bringen
werden, glaube ich nach allem, was ich in Arbeiterkolvnien wo auch immer
gesehen habe, bezweifeln zu müssen. Und wenn man von ihnen gar eine
„beinahe ideale Verbindung von gewerblicher und landwirtschaftlicher Thätig¬
keit teilweise unter billiger Selbstversorgung der kleinen Wirtschaften mit
Nahrungsmitteln," deren Vorteile „kaum zu ermesse»" seien, erwartet,*) so
sind das Vorstellungen, die doch sehr der Einschränkung und Berichtigung
bedürfen. Die Vernachlässigung des „eignen Heims" ist bei dem ostelbischen
Landproletariat im allgemeinen sehr arg, und sie wird natürlich auf die
großstädtischen Einfamilienhäuser übertragen werden. Ich plädiere wahr¬
haftig nicht für überfüllte Mietkasernen, aber das weiß ich, weil ichs selbst
sehe, daß für die aus dem Osten neu zuziehenden einzelnen Arbeiter und
Arbeiterfamilien das Wohnen im großen Miethause doch fast in der Regel
eine erfreulich wirksame Schulung zu besserer Pflege der Wohnung, größerer
Rücksicht auf die so nähe sitzende» Nachbarn usw. bedeutet. Ich habe dabei
die Dnrchschnittsmiethäuser in den seit zehn bis zwanzig Jahre» gebauten „un-
vornehmen" Vierteln und Vororten vor Auge». Auch an die antisozialdemo-
kratische Wunderkraft des Cottagesystems, wie man es um Berlin herum ins
Lebe» rufen will, ist mir ohne weiteres zu glauben nicht möglich. Die Sozial¬
demokratie würde in der Fabrik und Werkstatt und in der Kneipe ungeschwächt
weiter wirken. Die polizeiliche Überwachung — sie soll hier gar nicht unmittelbar
auf die Sozialdemokratie bezogen werden — ist beim Cottageshstem nicht leichter
als bei der geschlossenen städtischen Bauart; in wirklich gefährlichen unruhigen
Zeiten eher schwerer. Dasselbe gilt in militärischer Rücksicht, z. B. bei Auf¬
ständen.
Vor allein ist doch aber dabei auch im Interesse der großstädtischen Ge-
samteinwohnerschaft und Gesamtzwecke ans die Verteilung der Kosten für die
verlangte neue Wohnungs- und Bodenpolitik Rücksicht zu nehmen. Die grund¬
sätzlich geforderte Bebauung mit getrennt stehenden kleinen Häusern mit Gurten
ist nun einmal in der Umgebung der Großstädte, namentlich der ältern, all¬
gemeinen Zwecken dienenden ganz besonders kostspielig. Die Wohnungen sollen
zu „Miudestp reisen" an die Arbeiter abgegeben werden, d. h. noch unter deu
bisherigen Durchschnittspreisen für Wohnungen in Stadthäusern alter Bauart.
Wer soll die Kosten tragen? Die Gemeinden, die doch weder das Maß des
Zuzugs in der Hand, noch davon eine Steigerung ihrer finanziellen Leistungs¬
fähigkeit zu erwarten haben, vielmehr das Gegenteil? Nicht einmal das
generelle Verlangen, daß sie ihren eignen Grundbesitz, für den sie freilich
keinen Ankaufspreis flüssig zu machen hätten, einfach dem Arbeiterwohn¬
bedürfnis der Industrie zum Opfer bringe», entspricht der Gerechtigkeit gegen
die Interessen der kommunalen Gesamtheit in Gegenwart und Zukunft. Sie
sollen diese Sparbüchse, deren Betrüge sie vielleicht über kurz oder laug sehr
nötig brauchen werden für andre dringende öffentliche Zwecke, zu diesem einen
Zweck ausschütten, der ihnen eine noch größere soziale Fürsorgelast durch das
Hereinströmen neuer Arbeitermassen aufbürdet. Oder sollen sie die Terrains,
die sie nicht besitzen, aus Anleihemitteln kaufen und dann für den reinen
Ackerwerk als Bauland den Arbeiterkolonien überlassen? Jemand muß doch
die ungeheuern Kosten tragen, Menschen müssen dafür Opfer bringen, Schaden
erleiden, Bürger, deren Leistungsfähigkeit nicht feststeht, und bei denen von
einer Verteilung der Last nach Leistung und Gegenleistung gar nicht die Rede
sein kaum Auch wenn man die Kosten zum Teil auf gemeinnützige Fonds,
ans die Arbeiterversicherungsanstalteu und dergl. abwälzen zu können meint,
immer wirft man Mittel, die anderweitig vielleicht dringend nötig gebraucht
werden können, einfach zum Fenster hinaus, wenn man die idealen Arbeiter-
Wohnungen für deu „Mindestpreis" in den Großstädten selbst und ihrer un
mittelbaren Nachbarschaft in Masse anlegt, statt draußen in der Provinz, wo
diese Mehrkosten wegfallen. Natürlich geht alles, wenn man das Land, das
man braucht, einfach konfisziert vielleicht gegen Erstattung eines minimalen
Acker- und Heidewerts, wie er in der Kaschubei ganz berechtigt wäre. Die
alte Formel: Eigentum ist Diebstahl, braucht man dazu freilich nicht, es genügt
zu sagen: großstädtisches Grundeigentum ist Diebstahl. Aber auch nicht alles,
sondern nur was noch unbebaut ist und man gerade braucht, um die Marotte
durchzuführen, durchaus in der Großstadt, an der ungeeignetsten, teuersten
Stelle im ganzen Land, die neuen Besiedlungen zu schaffen. Das Neben- und
Durcheinander von Privatwirtschaft und Gemeinwirtschaft, von kommunistischer
Beseitigung und individualistischer Erhaltung des Privateigentums am gro߬
städtischen Grund und Boden, wie es in den jetzt nustauchenden Projekten,
z. B. dem des Regierungsrath Bingner, aus dem Ärmel geschüttelt wird, kann
niemals zu einer dauernden, befriedigenden Ordnung führen, souderu immer
nur das ehrliche, klare, radikale Verlangen nach Abschaffung des großstädtischen
Grundeigentums und nach einer strikt durchzuführenden sozialistischen Reform
des großstädtischen Wohnwesens überhaupt ins Recht setzen, wie es Adolf
Wagner versieht, gegen das man aber doch mit Fug und Recht die allerent-
schiedenste Verwahrung einlegen muß.
Auch daran ist hier zu erinnern, daß nach Lage der heutigen Gemeinde¬
steuergesetzgebung in Preußen die von den Bvdenreformern den Großstadt¬
gemeinden zugemutete neue Wohnungs- und Bodenpolitik wahrscheinlich zu deu
ärgsten Ungerechtigkeiten gegen die gegenwärtigen Miethnusbesitzer führen würde,
die man freilich allgemein als grundschlechte Kerle und als vogelfrei behandeln
muß, wenn einem um der »MA poxnIariZ etwas liegt. Weil sie von den
Leistungen der Gemeinde einen besondern Vorteil in der Ertragslvcrtsteigerung
ihrer Häuser haben, hat man sie mit Recht auch ganz besonders zu den Ge¬
meindesteuern herangezogen. Mau wird sie ohne Schaden mit der Zeit noch
kräftiger heranziehn können und ihnen außerdem durch eine schärfere Bau- und
Wohnungspolizei die Erträge der Häuser noch weiter beschneiden müssen. Aber
sie für kommunale Aufwendungen, die unmittelbar und ausgesprochen den Zweck
haben, ihre Häuser zu entwerten, was die verlangte neue Wohnungs- und
Bodenpolitik will, mit Hähern Abgaben zu belasten, wäre doch auch solchen
Sündern gegenüber ein etwas starkes Stück. Es scheint mir überhaupt viel
zu wenig untersucht zu werden, ob und inwieweit denn überhaupt nach den
heute geltenden Rechtsgrundsätzen diese ganze neue Aufgabe den Gemeinden
aufgebürdet werden darf. Es scheint so, als ob man annähme, daß sich das
doch ganz von selbst verstehe. Schon in den im allgemeinen heute noch oder
vielmehr heute gerade sehr lesenswerten, maßvollen und durch Eingehn ans
die praktischen Schwierigkeiten der Frage sich vor den allerneusten Projekten-
machereien auszeichnenden Gutachten und Berichten, die in der zweiten Hälfte
der achtziger Jahre der Verein für Sozialpolitik über die Wohnungsnot der
örmern Klassen in deutschen Großstädten herausgegeben hat, ist diese Frage
mehrfach nicht richtig behandelt worden.
So begründet z. B. der Bürgermeister Lange in seinem Gutachten über
die Wohnungsverhältnisse in Bochum die Verpflichtung der Stadtgemeinden
zur Verhütung und Beseitigung der Wohnungsnot und im besondern auch zur
Erbauung von Arbeiterwohnungen durch den H 1 des Ausführungsgesetzes über
den Unterstützungswohnsitz von, 8. Mürz 187.1, in dem es heißt: „Jedem hilfs¬
bedürftigen Deutschen ist in dem zu seiner Unterstützung verpflichteten Armen-
verbände Obdach, der unentbehrliche Lebensunterhalt, die erforderliche Pflege
in Krankheitsfällen und im Fall seines Ablebens ein angemessenes Begräbnis
zu gewähren." Er verwies dabei auf das Preußische Landrecht, das sage:
„Dein Staate kommt es zu, für die Ernährung und Verpflegung derjenigen
Bürger zu sorgen, die sich ihren Unterhalt nicht selbst verschaffen und denselben
mich von Privatpersonen, die nach besondern Gesetzen dazu verpflichtet sind,
nicht erhalten können." Da aber die Anforderungen an den Staat nach allen
Richtungen hin so gesteigert waren, daß entweder neue Steneranellen gefunden
werden mußten, oder die bisherige Besteuerung der Staatsbürger sehr zu steigern
wäre, so werde man gut thun, die Gemeinde» in Anspruch zu nehmen. Dieser
mich heute wieder und zwar viel allgemeiner vorkommenden Unklarheit und
Begriffsverwirrung gegenüber muß auf das allerbestimmteste ausgesprochen
werden, daß weder das Lambrecht noch das UnterstütznngsNwhnsitz- und Aus¬
führungsgesetz drzu die Großstadtgemeinden zum Bau vou Arbeiterhäusern
verpflichtet, höchstens zur Erhaltung ordentlicher Armenhäuser und Asyle für
Obdachlose, ja daß die Großstadtgemeiudeu auf Grund der bestehenden Gesetz
gebnng eine ihnen so ganz allgemein zugemutete Verpflichtung zur Begründung
großstädtischer Arbeiterkolonien mit Einfamilienhäusern zu einem „Mindest¬
mietpreise" usw. ans Kosten der Gemeinden sogar entschieden zurückweisen
müßten. Eine reinliche Scheidung zwischen Armenpflege und Wvhnnngs-
Politik thut dringend not, die Verquickung beider führt zu geradezu unabseh¬
barem Unsinn. Leider beherrscht sie aber, wie es scheint, bis obenhin die
Situation.
Schmoller schreibt: ,,Der Weg einer Verstaatlichung oder Kvmmuualisieruug
des Grund- und Hausbesitzes einzelner Städte gegen Entschädigung des Eigen¬
tums würde aber sicher uicht zum Ziele führen; er würde gar zu leicht das
Beamteutum und die Kommnnalverwaltung korrumpieren." Das läßt sich ja
hören, obwohl dein Wesen der Sache und dem aus ihr entspringenden Haupt¬
bedenken damit in keiner Weise zuleide gegangen wird. Aber der unklaren
Projektenmacherei leistet Schmoller denn doch in unverantwortlicher Weise
Vorschub, wenn er fortfährt: Eher ließe sich denken, daß da, wo die Mißstände
zu grell würden, mit Hilfe eines Spezialgesetzes der Grund- und Hausbesitz
einer Stadt oder wenigstens dieser oder jener Vorstadt einer selbständigen,
halb öffentlichen, halb erwerbsthätigcn Korporation übergeben winde, deren
Aktionäre aus den bisherigen Grund- und Hausbesitzer», deren Gläubiger aus
deu bisherigen privaten Hhpothekcnbesitzern bestünden. Die Korporation er¬
hielte eine gemischte Leitung, in der Staat, Kommune, Aktionäre, Gläu¬
biger und Mieter vertreten sein würden; ebenso müßte der Gewinn zwischen
diesen Elementen geteilt werden. „Leicht herstellbar wäre freilich auch ein
solcher Apparat nicht, aber er erlaubte, die schlimmsten der heutigen Wohnungs¬
mißstände zu beseitigen, ohne Staat und Gemeinde mit all zu schwierigen Ans
gaben und mit zu viel Versuchung zu Nepotismus und Bevorzugung zu be¬
laste». Solange derartiges möglich erscheint, ist es Aufgabe der Genossenschaften,
gemeinnützigen Gesellschaften, Stiftirngen, human und billig geleiteten Aktien¬
gesellschaften, nach und nach möglichst viel Haus- und Grundbesitz an sich zu
zieh», das private Haus- und Grundeigentum, soweit es zu schlechter Ver-
waltung, korrupten Mietsverträgen, Bauschwindel und ähnlichem führt, in ein
gut verwaltetes Eigentum von solch hoher stehenden Gesellschaftsorgancn über¬
zuführen." Und schließlich: „In kleinen Städten und auf dem Lande liegt
zu all dem kein Bedürfnis vor." Das heißt doch wahrlich mit den aller,
ernstesten praktischen Fragen sx eMiscli-Ä spielen. Wir wollen abwarten, bis
die in den preußischen Ministerinlerlassen vom 19. März in Aussicht gestellten
Gesetzentwürfe vorliegen. Vielleicht werden sie versuchen, einen „solchen
Apparat," obgleich er nicht „leicht herstellbar" ist, doch zu konstruieren. Viel¬
leicht ist der vom Königlich preußischen Regierungsrat Bingner erfnndne nur
ein Modell für unsre sozialen Gesetzentwurffabrikeir in Staat und Reich. Ans
den: Papier ist anch das unmögliche möglich. Vorläufig giebt es dieser Reform-
sucht gegenüber nur eine Parole: Hinaus aus der Großstadt mit der Massen-
iudustrie und den Arbeitermassen; dorthin mit ihnen, wo sür die ganze neue
sozialistische Wohuuugs- und Bodenpolitik nach Schmoller kein Bedürfnis vor¬
liegt. Dann wird in den Großstädten die Bahn frei werden für eine scharfe
Wohnungspolizei mit wirksamer, unabhängiger Wohnungsinspektion und für
den erfolgsichern Kampf gegen den Bauplatz- und Wohnungswucher durch
Wohnungsbau für die eignen Beamten und Arbeiter zunächst von selten des
Staats und der Gemeinden, aber dann anch — wenn nicht willig, gezwungen —
von seiten der großen Erwerbsunternchmungen, die an den Ort gebunden sind.
Dann wird die Bahn frei werden auch für genossenschaftliche Wohnungsbeschaffung
ohne Almosenznschüsse, wie sie in England und Amerika seit langer Zeit in
Blüte steht, natürlich nur da, wo sie am Platze ist. Freilich wird diesen Ma߬
nahmen der Glorienschein fehlen, den die modernen Projektenmacher für ihre von
„sozialem Öl" triefende Stirn erstreben, aber die sozialen Reformen werden auf
sicherm, festem, erprobtein Grunde erstehn, allen zur Freude und niemand zu
Leide. Die ungeheuern Gewinne, die die Berliner Bodenspekulation in den letzten
fünfzehn Jahren dank des beispiellosen Zuströmens der Industriearbeiter, aber
auch dank einer beispiellos starken, anhaltenden, aber in der Hauptsache nnr
erfreulichen Zunahme des Reichtums der Bevölkerung eingeheimst hat, so
widerlich dieser Tanz um das goldne Kalb auch jeden anständigen, gebildeten
Mann anmute» mußte, darf nus nicht verleiten, die zu lösende Frage g,l> iraw
zu behandeln. Die agitatorische Verwertung dieser Widerlichkeiten spricht am
wenigsten für die Güte der Sache, die die sozialistischen Nesormsüchtler ver¬
treten. Aber darauf näher einzugehn wollen wir nus vorläufig versage». Es
eit Jahren ist sowohl in der Presse wie in den Parlamenten die
Thatsache vielfach erörtert worden, das; die Vergütungen für die
Dienstreisen der Beamten zu reichlich bemessen sind, und daß
einzelne Benmtenklasseu ans diesen Vergütungen auffällig hohe
Einnahmen im Vergleich zu ihrem Gehalt beziehn. In der Haupt¬
sache sind dies die höchsten und die höhern Beamten bis zur fünften Rang-
klasse; die niedern Beamten bleiben fast ganz außer Betracht, da sie, wenn man
vereinzelte Ausnahmen abrechnet, gewöhnlich nur bei ihrer Versetzung eine
Dienstreise ausführen müssen. Es war deshalb erklärlich, daß der im Jahre
1891 von dem Abgeordneten Richter gestellte und von dein Reichstag am
16, März angenommne Antrag, die gesetzlichen Bestimmungen über die Reise¬
kosten zeitgemäß zu reformieren, bei den Regierungen kein Entgegenkommen
fand. Erst die bei der Beratung der Borlagen über die Aufbesserung der
Beamtengehalte in den Budgetkommissionen des Reichstags und des Landtags
nachdrücklich abgegebnen Erklärungen, daß ohne die Neuregelung der Neisekosten-
vergütungeu die Gehalte nicht erhöht werden würden, veranlaßten die preußische
Regierung, dem Abgeordnetenhaus am 19. März 1897 einen Entwurf zu einem
neuen Gesetz über die Reisekosten und Tagegelder der Staatsbeamten zu über¬
reichen.
In der dem Entwurf beigegebnen Begründung wird ausgeführt, daß sich
die Erhöhung der Tagegelder als notwendig erweise, weil das Leben in den
Hotels bedeutend teurer geworden sei, und weil künftig an den Reisekosten keine
Ersparnisse mehr gemacht werden könnten. Es wird dann weiter gesagt: Es
erscheine bedenklich, die gewohnten Einnahmen der Beamten auch nur in diesem
Punkt zu schmälern, während anerkannt werden müsse, daß ihre Gehalte im
allgemeinen nnznlünglich seien. Wo es jetzt die Finanzverhältnisse im Reiche
und in Preußen ermöglichten, die höhern und die mittlern Beamten besser zu
besolden, erscheine es, falls man sich über die beantragten Erhöhungen einige,
angemessen und auch geboten, die nicht mehr zutreffenden Bestimmungen über
die Vergütungeu bei Eisenbahnreisen zu ändern.
Bei der ersten Beratung dieses Gesetzentwurfs im Abgeordnetenhaus«, am
24. März, erklärte der Finanzminister von Miquel, daß das Gesetz keine finan¬
zielle Bedeutung habe, da sich die Ersparnisse um Reisekosten und die Erhöhung
der Diäten ausglichen; die Vorlage übe eine ausgleichende Gerechtigkeit. Die
übrigen Redner erkannten übereinstimmend die Notwendigkeit der Neuregelung
und die Richtigkeit des Grundsatzes an, daß die Tagegelder erhöht, die Kilo¬
metergelder dagegen ermäßigt werden müßten, weil gerade ans diesen bedeutende
Überschüsse erzielt werden könnten. Es sei vorgekommen, daß sogar hohe Beamte
Dienstreisen unternommen hätten, um dabei etwas für sich herauszuschlagen;
deshalb habe man auch in den Kreisen der Beamten aus Rücksicht auf die
Standeswürdc wiederholt auf die Notwendigkeit einer Neuregelung hingewiesen.
Das Abgeordnetenhaus verwies die Borlage an die verstärkte Bndgetkommission
zur Vorberatung.
Bevor wir in der Schilderung des weitern Verlaufs der Verhandlungen
fortfahren, wollen wir zur Erleichterung des Verständnisses dnrch die nach¬
stehende Übersicht veranschaulichen, wie sich die Höhe der frühern Vergütnngen
nach dem Gesetz vom 24. März 1873 zu den neuen Vergütnngen der Regierungs¬
vorlage verhielt, und wie diese durch die Kommission umgestaltet worden ist.
Die Sätze der Negiernngsvorlage sind sowohl von der Kommission als
mich von dem Abgeordnetenhause unverändert angenommen worden, sind also
die Grundlage des neuen Gesetzes vom 21. Juni 1897.
Die Sätze unter <z sind in das neue Gesetz übernommen worden.
Diese Sätze sind ans dein Gesetz vom 24. März 1873 unverändert in die
Regierungsvorlage übernommen worden und demnächst, da sie vom Abge¬
ordnetenhause nicht beanstandet wurden, mich für das neue Gesetz maßgebend
geblieben.
Die Bndgetkommission billigte in der Sitzung vom 26. März die von der
Regierung vorgeschlagne Erhöhung der Tagegelder und nahm auch die Ver-
gütungssätze für den Kilometer bei Reisen auf Eisenbahnen und Dampfschiffen
für die Tarifklassen I bis IV und VI und VIII unverändert an, dagegen er¬
mäßigte sie die Sätze der Vorlage für die Tarifklasse V von 10 ans 8 und
für die Tarifklasse VII von 8 anf «i Pfennige. Der Beschluß der Kommission
muß in hohem Grade befremden. Er verursacht zunächst eine ganz ungerecht¬
fertigte Schädigung der Tnrifklasse V, die in den Vergütnngssätzen bei Reisen
auf Eisenbahnen seit jeher mit den Klassen I bis IV zu einer Gemeinschaft
gehört hatte. Diese Gemeinschaft war auch in der Regiernngsvvrlage fest¬
gehalten worden, die die Kilometergelder zwar für sämtliche Beamtenklassen
etwas ermäßigt hatte, dabei aber nach einem gerechten Grundsatz Verfahren
war, indem die Ermäßigung für die höhern Beamten 3 Pfennige, für die
mittlern 2 Pfennige und für die Unterbeamten nnr 1 Pfennig betragen sollte.
Die Kommission dagegen griff, um doch etwas zu ändern, zwei ganz beliebige
Bcamtengrnppen aus der bisherigen Abstufung heraus und ermäßigte die für
sie vorgeschlagnen Vergütnngssätze noch um je weitere 2 Pfennige. Betroffen
werden von dieser Maßregel vornehmlich die Kataster- und Obersteuerkoutrolleurc,
die einen großen Teil ihrer Dienstgeschäfte außerhalb ihres Wohnorts erledigen
müssen, sowie die Regierungs-, Kreis- undObcrlnndesgerichtssekretärc. DieGründe,
die die Kommission veranlaßt haben, die Kilometergelder gerade für die Klaffen
'V und VII so stark herabzusetzen, sind nicht in die Öffentlichkeit gedrungen.
Um so mehr wird die Ungerechtigkeit empfunden, die der Beschluß nach sich
zieht. Daß die Kommission die Ansätze der Vorlage herabsetzte, war ja ganz
in der Ordnung, nnr hätte sie dabei gerecht verfahren und dieselbe Ermäßigung
auch für die Tnrifklafsen I bis IV, die die hohen und die höchsten Beamten
einschließen, durchführen müssen. Ein derartiger Beschluß Hütte alle Beamten
gleichmäßig getroffen und überhaupt den Anfordrnngen entsprochen, die die
Volksvertretungen bei der Abändrung des bisherigen Gesetzes verlangt hatten,
nämlich eine Verringerung der zu hohen Vergiltungen bis zur Höhe der wirk¬
lichen Auslagen.
In der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 3. April war zunächst der
Entwurf einer Laudgemeindeordnung für die Provinz Hessen-Nassau beraten
worden. Als dann zu dem folgenden Gegenstand der Tagesordnung, der
zweiten Beratung des Gesetzentwurfs über die Reisekosten und Tagegelder der
Staatsbeamten, übergegangen werden sollte, erschollen die Rufe: Vertagen!
Doch der Präsident beruhigte die Abgeordneten mit den Worten: „Meine
Herren, das Gesetz können wir noch sehr gut fertig machen" (Heiterkeit).
Hierzu kam es nun allerdings nicht, vielmehr wurde der Gesetzentwurf, dn
man sich uicht einigen konnte, ans den Antrag des Abgeordneten Dr. Sattler
nochmals an die Budgetkommission zurückverwiesen. Diese ermäßigte in der
Sitzung vom 6. Mai die Vergütnngssätze für den Kilometer bei Reisen auf
Eisenbahnen noch um je einen Pfennig für jede Tarifklasse. In dieser Fassung
wurde die Vorlage schließlich in der Sitzung vom 22. Mui angenommen, nach¬
dem sich der Abgeordnete Mich noch vergeblich bemüht hatte, die Herabsetzung
des Satzes von 9 auf 7 Pfennige für die Tnrifklassc V rückgängig zu machen.
Die Bestimmungen der Vorlage sind demnächst vom 1. Oktober 1897 ab in
Kraft getreten.
Wir wollen nun zunächst untersuchen, ob der Zweck, den man bei der
Neuregelung der Reisekostenvergütung im Auge gehabt hatte, auch wirklich
erreicht worden ist. Leider ist dies nicht geschehn; es ist so ziemlich beim
alten geblieben, stellenweise ist sogar, wie schon der Abgeordnete Dasbach in
der Sitzung vom 3. April an einer Reihe von Beispielen nachgewiesen hatte,
anstatt der beabsichtigten Ermäßigung eine Erhöhung der Gebühren eingetreten.
Was zunächst die Tagegelder anlangt, so wird der Beweis dafür schwerlich
erbracht werden können, daß die frühern Sätze von 30 Mark für die Minister
(Klasse I des Tarifs), von 24 Mark für die Beamten der ersten (II) und
18 Mark für die Beamten der zweiten und dritten Rangklasse (III) nicht aus¬
reichten, um die Ausgaben für standesgemäßen Lebensunterhalt in einem
Gasthause entsprechenden Ranges für einen Tag zu bestreiten; man hat es
bei den Beratungen nicht einmal versucht. Dagegen kann man die Erhöhung
des den Beamten der vierten und fünften Rangklasse (IV) früher gewährten
Satzes von 12 Mark, der nicht in allen Fällen ausreicht, auf 15 Mark recht¬
fertigen, da diese Beamten in ihrem Auftreten und namentlich in der Wahl des
Gasthauses doch dieselben Standesrücksichten zu beobachten gezwungen sind,
wie z. B. die Beamten der dritten Rangklasse. Der Erhöhung der Tagegeld¬
sätze für die nicht zu den erwähnten fünf Rangklassen gehörenden Beamten
(V, VI und VII), sowie für die Unterbeamten (VIII) muß man bedingungslos
zustimmen, da die frühern Sätze von 9, 6 und 3 Mark schon für die Ver¬
gangenheit zu niedrig bemessen waren.
Eine neue, in dem alten Gesetz nicht enthaltne Bestimmung trifft das
gegenwärtig giltige Gesetz in dem Punkte, daß bei Dienstreisen, die an ein und
demselben Tage angetreten und beendet werden, die Tagegelder bei der Klasse I
um 8, bei II um 7, bei III um 5, bei IV und V um 3, bei VI um 2, bei
VII um 1 Mark 50 Pfennige und bei VIII um 1 Mark herabgesetzt werden.
Die schwache Seite dieser sonst durchaus glücklichem Neuerung liegt darin, daß
die Sätze, die für das wegfallende Nachtquartier außerhalb des Stationsortes
abgezogen werden, im Verhältnis zu der thatsächlich erforderlichen Aufwendung
— wenigstens für die Beamten der Tarifklassen I bis V — viel zu niedrig
bemessen sind, und daß infolgedessen der den Beamten zur Bestreitung der
Tagesausgaben bleibende Betrag wiederum zu hoch ist, wenn man erwägt,
daß die Abwesenheit keinen vollen Tag dauert und während des Tages höchstens
eine Hauptmahlzeit und vielleicht nicht einmal diese eingenommen wird. Eine
große Anzahl regelmüßig wiederkehrender Dienstreisen wird erst am Nachmittag
angetreten und schon zur Zeit des Abendessens beendet, sodaß das Tagegeld
den Beamten als reiner Überschuß verbleibt. Für Reisen, die nicht einen
vollen Tag dauern, müßte durchweg nur die Hälfte der Tagegelder zahlbar sein.
Auch die neue Bestimmung, daß bei Dienstreisen, die sich zwar auf zwei
Tage erstrecken, aber innerhalb vierundzwnnzig Stunden beendet werden, nur
das eiunndeinhalbfache der Sätze berechnet werden darf, geht nicht weit genug.
Die Ermäßigung um die Hälfte müßte ganz allgemein für jeden Tag eintreten,
an dem der Beamte nicht außerhalb des Stationsortes übernachtet, also auch
bei Dienstreisen von länger als ein- und zweitägiger Dauer, wenn der Beamte
schon am Abend des letzten Tages zurückkehrt. Jetzt wird nicht nur dieser
Tag voll bezahlt, sondern auch das volle Tagegeld für einen neuen Tag an¬
gesetzt, wenn der Beamte mit einem nur wenig Minuten unes Mitternacht ein-
treffenden Zuge zurückgekehrt ist, der neue Tag also eben erst angefangen hat.
Es wird so der volle Tagesgeldsatz für zwei Tage gewährt, obwohl der
Beamte nicht außerhalb übernachtet hat.
Soviel über die Tagegelder, gegen deren Höhe sich der allgemeine Ent-
rüstungsstnrm übrigens weniger richtet, als gegen die sogenannten Kilometer¬
gelder, weil die Eisenbahn im Schnellzuge nur 9 Pfennige für die erste,
6^ Pfennige für die zweite und 4^ Pfennige für die dritte Wagcnklcisse
berechnet, während die Beamten der Tarifklassen I bis V früher allgemein
13 Pfennige anrechnen durften. Jetzt gilt dieser Satz, worauf wir später
zurückkommen werden, nur noch für die Reichsbenmten, während die preußischen
Beamten nur noch 9 oder 7 Pfennige beziehn. Bei diesen Sätzen sollten in
Zukunft — so heißt es wenigstens in der dem Entwurf beigegebnen Begrün¬
dung — keine Ersparnisse mehr an den Reisekosten gemacht werden können.
Die Unrichtigkeit dieser Behauptung dürfte am klarsten aus folgendem Beispiel
hervorgehn. Die Entfernung von Berlin nach Memel beträgt 827, also hin
und zurück 1654 Kilometer. Es sind also nach dein Satze von 13 Pfennigen
(Reichsbeamte) 215 Mark 2 Pfennige und nach dem Satze von 9 Pfennigen
148 Mark 86 Pfennige zu vergüten. Eine Fahrkarte zweiter Klasse kostet
nach den gewöhnlichen Sätzen 108 Mark 80 Pfennige hin und zurück, eine
Nundreisekarte 78 Mark 20 Pfennige, eine Rückfahrkarte 74 Mark 70 Pfennige.
Der Reingewinn beträgt also für einen Reichsbeamten, je nach der Wahl der
Fahrkarte, 10« Mark 22 Pfennige oder 136 Mark 82 Pfennige oder 140 Mark
32 Pfennige; dagegen für einen preußischen Beamten nur 40 Mark 6 Pfennige
oder 70 Mark 66 Pfennige oder 74 Mark 16 Pfennige. Hieraus ergiebt sich,
daß bei einer Reise, deren Gesnmtentfernung der von Berlin nach Memel und
zurück gleichkommt, immer noch ein sehr bedeutender Überschuß mühelos, das
heißt durch Absitzen der Kiloineterzahl im Eisenbahnwagen — für gewöhnlich
drückt man sich drastischer aus — in die Tasche der Beamten füllt. Sogar
bei dem Satze vou 7 Pfennigen für die Tarifklasse V werden 115 Mark
78 Pfennige vergütet, sodaß man mit einer Rundreise- oder Rückfahrkarte noch
immer einen Reingewinn hat. Die Beamten dieser Tarifklasse kommen aber,
abgesehen von Versetzungen, gar nicht in die Lage, Dienstreisen auf so weite
Entfernungen zu machen, die Vorteile fallen also mir den hohen und höhern
Beamten zu.
Noch deutlicher geht dies aus folgendem Beispiel hervor. Für eine zehn
Tage umfassende Dienstreise, bei der wir eine Entfernung von 300, also hin
und zurück 600 Kilometern, zu Grunde legen, beziehn die Staatsminister (I)
jetzt (600 x 9 54 Mark ->- 350 Mark Tagegelder) 404 Mark, während sie
früher nur (000 x 13 78 Mark -I- 300 Mark Tagegelder) 378 Mark be¬
zogen. Für die Tarifklassen II und 111 betragt die Erhöhung 16 Mark, bei
IV 6 und bei VI 2 Mark. Dagegen haben die Tarifklassen V eine Minder¬
einnahme von 6, VII von 15 und VIII von 2 Mark. Doch genug der Bei¬
spiele. Wir sehen schon jetzt zur Genüge, daß die Absicht des Gesetzes, den
Gewinn zu vermindern, den die Beamten bisher aus den Reisekosten hatten,
nur für einzelne .Klassen der niedern Beamten erreicht worden ist, und daß
durch dieses Gesetz der Etat für Reisekosten und Tagegelder großer geworden
ist, trotz der Millionen, die für Gehaltserhöhungen aufgewandt worden sind.
Diesen Erfolg hätte man an maßgebender Stelle durch die Aufstellung einiger
Rechnnngsbeispiele voraussehen können. Der Verdacht ist also wohl nicht
unbegründet, daß man gar nicht ernstlich beabsichtigt habe, dem Krebsschaden
der Kilometergeometrie, die sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, ein
Eude zu machen, weil man es nicht wagte, die Nebeneinnahmen der hohen
und der höchsten Beamten zu kürzen. Im Reichstag wäre dieses Gesetz, das
sich als der reine Hohn ans die früher geäußerten Wünsche der Volksvertretung
herausstellt, schwerlich angenommen worden.
Die Vergütungen, die die Beamten bei Dienstreisen erhalten, die nicht
auf Eisenbahnen, Kleinbahnen oder Dampfschiffen zurückgelegt werden können,
sind unverändert geblieben. Gegen die Hohe dieser Vergütungen könnte man
auch kaum Einwendungen machen. Handelt es sich um kleinere Entfernungen,
so wird der Beamte, wenn er den Weg nicht zu Fuß zurücklegen will und
Post oder Omnibus uicht zur Verfügung stehn, für einen Wagen meist ans
eigner Tasche zulegen müssen, bei Reisen aus größere Entfernungen dagegen
wird hier und da ein Gewinn bleiben, namentlich wenn derselbe Wagen hin
und zurück beuutzt werden kauu. Dagegen müßte die Vergütung in den
Fällen, wo derselbe Wagen? von mehreren Beamten gemeinsam benutzt wird,
nur zur Hälfte gewährt werden. Es ist doch geradezu ein Skandal, wenn
die Staatskasse für die Benutzung eines Wagens, der beispielsweise für
20 Kilometer hin und zurück 15 Mark kostet, mit zwei, drei oder gar vier mal
24 Mark belastet wird.
Wir gehn nun zu den Reichsbeamten über. Nach § 18 des Gesetzes
über die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten von, 31. März 1873 wird die
Höhe der ihnen bei dienstlicher Beschäftigung außerhalb des Wohnorts zu-
stehende» Tagegelder und Fuhrkosten durch eine Verordnung des Kaisers im
Einvernehmen mit den? Bundesrat geregelt. Die erste Verordnung vom
21. Juni 1875 schließt sich genau an die Bestimmungen des damals für die
Preußischen Beamten geltenden Gesetzes vom 24. März 1873 an. Änderungen,
die dieses Gesetz erfuhr, sind in der Regel kurze Zeit später auch für die
Neichsbeamten in Kraft getreten. Um so mehr muß es befremden, daß die
kaiserliche Verordnung, die die Tagegelder und die Fuhrkosten der Reichs¬
beamten in ähnlicher Weise neu regelt, wie dies für Preußen durch das Gesetz
vom 21. Juni 1897 geschehn ist, noch immer aussteht, obwohl inzwischen fast
vier Jahre verflossen sind. Welche Einflüsse das Erscheinen dieser Ordre ver¬
hindert haben, kaun man mit Sicherheit nicht erkennen. Jedenfalls ist es
dringend nötig, daß endlich für beide Beamtenklnssen wieder einheitliche Vcr-
gütuugssätze, wie sie seither bestanden haben, festgesetzt werden. Zu diesem
Zweck muß das Gesetz vom 21. Juni 1897 revidiert und zunächst der Beschluß
der Kommission des Abgeordnetenhauses vom 26. März, durch deu die Be¬
amten der Tarifklasse V so sehr geschädigt worden sind, wieder rückgängig ge¬
macht werden. Zu dieser Tarifklasse gehören allein bei der Post, die aller¬
dings das Hauptkontingent zu den Neichsbeamte» stellt, 6640 Beamte; es sind
dies die Bureau- und Rechnungsbeamten erster Klasse bei den Oberpostdirektionen,
die Kassierer und Buchhalter der Oberpostkasscn, die Kassierer bei den Orts-
Postanstalten, die Obersekretäre, Postmeister und Sekretäre. Ferner setze man
die, wie wir nachgewiesen haben, zu hohen Vergütungssätze so weit herab,
daß namhafte Ersparnisse aus den Reisekosten nicht mehr gemacht werden
können; mau ermäßige also die Tagegeldsätze für die Tarifklassen I bis III
und billige bei Reisen auf Eisenbahnen den Beamten durchweg nur 7 Pfennige,
den Unterbeamten 5 Pfennige für den Kilometer zu. Diese Sätze sind, zumal
da die Vorteile der Rückfahrkarten und der Ruudreisehefte besteh» bleiben,
immer noch so ausreichend beimessen, daß aus ihnen der etwaige Mehraufwand
an Kleidung und Wäsche bestrickten werden kann. Den Beamten aber, denen
ein bestimmter Aufsichtsbezirk zugeteilt ist, oder die zu bestimmtet, Zeiten
immer wiederkehrende Aufsichtsreisen unternehmen müssen, gewähre man Frei¬
fahrkarten. Das erforderliche Übereinkommen mit der Eiseubahuvcrwaltuug
kann nicht die mindeste» Schwierigkeiten haben, da man die Bauschvergütung
dick leichter feststelle» kann, als die Höhe einer von der Eisenbahn oder vo»
einer ander» Behörde an die Post zu zahlende» Portobanschsumme.
Erst von dem Augenblick ub, wo die Vergütungen für Dienstreiscu derart
bemessen sein werden, daß aus ihnen keine Ersparnisse gemacht werden können,
wird man die Neigung, jede geringfügige Veranlassung zu einer Dienstreise
zu benutzen, eindämmen. Natürlich muß die Reform von oben beginnen. So
lange hohe Staatsbeamte in den Orten oder in der Nähe von solche»
Orten, wo sie zur Jagd oder zum Diner eingeladen sind, nebenbei Dienst-
geschüfte verrichten, wird man es auch den andern Beamten nicht verwehren
können, bei der Aufteilung der Neisekostenfouds uach Kräften zuzugreifen.
Die Zahl der Dienstreisen ist ins ungeheure gewachsen. Den schlagendsten
Beweis für diese Behauptung bietet die NeichSpostvcrwaltnng. Es dürfte
auch für weitere Kreise interessant sein, zu erfahren, eine wie hohe Stufe die
Kunst, Dienstreisen zu machen und anzuordnen, nnter Stephan erreicht hat.
Er reiste in jüngern Jahren selbst viel und gern, und zwar meist mit größeren
Gefolge von Geheimen Räten und Oberpostdirektoren, die ihrerseits wieder
Postinspektoren zur Begleitung hatten. Welchen dienstlichen Zweck die An¬
wesenheit so vieler Personen an einem Ort verfolgte, war nicht immer klar.
In spätern Jahren liebte es Stephan, das Vergnügen der Jagd mit den
Dienstreisen zu verknüpfen. Die Berliner Zeitungen, die die Abreise und die
Rückkunft der Minister und Staatssekretäre sonst mit großer Regelmäßigkeit
zu melden pflegten, wurden, wie es scheint, über die Reisen des Gencralpost-
meisters niemals unterrichtet. Erst durch Meldungen der Provinzinlblätter
erfuhr man, daß Se. Exzellenz in Oberschlesien einen feisten Bock oder in
Brücken«» einen Auerhahn erlegt und auch einige PostHäuser besichtigt habe.
Und als einmal im Sommer 1896 durch Berliner Blätter folgende Notiz
ging: „Der Staatssekretär des Reichspostamts hat eine Inspektionsreise nach
den schleslvig-holsteinischen und hanseatischen Oberpostdirektionsbezirken ange¬
treten," erschien schon wenig Tage später eine Berichtigung: „Wir werden
darauf aufmerksam gemacht, daß dies nicht zutreffen kann, da sich der Herr
Staatssekretär seit dem 15. dieses Monats in der Shlter Badezeitung als
Badegast Nummer 1660 verzeichnet findet und thatsächlich täglich in Wester-
land mit einem frei umherlaufenden Jagdhund gesehen wird." Allerdings
hat die Mehrzahl der Postbeamten ihren höchsten Chef nur im Jagdkostüm
kennen gelernt. Die fortwährende Verguickung vou Jagd- und Dienstreisen
hat nicht dazu beigetragen, das in den letzten Jahren ohnehin gesunkne An¬
sehen Stephans bei seinen Beamten wieder zu erhöhen. Unter diesen Um¬
ständen durfte es nicht auffallen, daß man auch die Räte des Reichspostamts
recht häufig auf Reisen sehen konnte. Wie hoch die Summe ist, die von den
Spitzen der Postverwaltung alljährlich verreist wird, ist aus dem Etat nicht
erkennbar, da der bei Titel 10 ausgeworfne Betrag von 245000 Mark auf¬
fallenderweise nicht nnr zur Bestreitung der Tagegelder und Fuhrkosten,
sondern auch zur Anschaffung von Ausstattungsgegeustäitden usw. dient.
Jedenfalls wird auch noch heute recht munter gereist; denn wir entnehmen der
Deutschen Verkehrszeitung, daß zur Einweihung der PostHäuser in Straßburg
(Elsaß) und in Potsdam außer dein Staatssekretär noch je vier und ans
gleicher Veranlassung nach Karlsruhe (Baden) noch drei Herren aus dem
Neichspostamt gereist siud. Eine Reise nach Straßburg wirft allein aus den
Kilometergeldern für jeden der Teilnehmer einen Reingewinn von 112 oder
von 137 Mark ab, je nachdem eine Rückfahrkarte erster oder zweiter Klasse
benutzt wird; eine Reise nach Karlsruhe 92 oder 114 Mark. Sollte bei
solchen Gelegenheiten nicht schon die Anwesenheit von zwei Herren aus Berlin
dem dienstlichen Bedürfnis Genüge leisten?
Die Oberpostdirektoren (41) dürfen ihre Bezirke ziemlich unbeschränkt be¬
reisen, haben also aus den Ersparnissen, die man bei den Reisekosten erzielen
kann, eine bedeutende Nebeneinnahme. Daneben reisen die Poftinspektorcn
(187) fast unablässig; einzelne sind bisweilen einen ganzen Monat unterwegs
und sehe» deshalb ihre Familien oft wochenlang nicht, wenn der Bezirkschef,
wie es vorgekommen ist, es ihnen nicht einmal erlaubt, Sonntags auf eigue
Kosten den Statiousort aufzusuchen. Ein großer Teil dieser Reisen wäre ent¬
behrlich, wenn die Inspektoren nicht so häufig mit der Erledigung ganz un¬
wesentlicher Dinge, die sich schriftlich ganz gut abmachen lassen, betraut
würden, und wenn man den Amtsvorstehern eine etwas größere Selbständig¬
keit einräumte. Leider müssen wir es uns versagen, auf die bestehenden Mi߬
stände an dieser Stelle näher einzugehn. Aber außer vou den Oberpostdirek¬
toren und den Postinspettoren werden die Bezirke auch noch von den Post¬
räten bereist, seit Stephan es in den siebziger Jahren erlaubte, daß auch die
Posträte bis zu zwanzig Tagen jährlich auf Dienstreisen gehn dürften. Da¬
mals gab es 85 Posträte, heute beträgt ihre Zahl 176, die allein an Tage¬
geldern 42240 Mark beziehn. Dazu kommen, wenn man für jeden Reisetag
nur eine Entfernung von 50 Kilometern ans der Eisenbahn und drei Zu- und
Abgänge anrechnet, weitere 54560 Mark; die kostspieligen Reisen auf Land¬
wegen sind hierbei noch gar nicht in Betracht gezogen.
Die Reisen der Posträte müssen überwiegend als überflüssig bezeichnet
werden. Schließlich reisen anch noch die Postbauräte und Postbauinspektoren,
um Bauten zu beaufsichtigen und Anträge der Postanstalten zu begutachten.
Gerade auf diesen Gebieten geben vielfach die kleinlichsten Anlässe, z. B. ein
rauchender Ofen, die jeder Ortshandwcrker sachgemäß beseitigen kann, den
Vaubeamten Gelegenheit zu einträglichen Dienstreisen. Namentlich gegen den
Jahresschluß hin, wenn die verfügbaren Mittel noch nicht verbraucht sind,
sind für die Vorsteher der Postanstalten die zahlreichen, mitunter kurz aufein¬
ander folgenden Besuche der Vorgesetzten keine besondre Annehmlichkeit. Ist
der dienstliche Teil erledigt, dann muß der Vorsteher den Fremdenführer
machen, die Sehenswürdigkeiten des Orts und der Umgebung vorführen und
schließlich im Hotel Gesellschaft leisten. Die eigne Arbeit muß zurückgestellt
werden. Fragt man sich am Ende eines solches Besuchs, was hat der Mann
hier eigentlich thun wollen oder sollen — man findet hierauf nicht immer eine
zufriedenstellende Autwort. Viel empfindlicher ist aber die Thatsache, daß die
häufige Anwesenheit von Vorgesetzten das Ansehen der Ortsbeamten beim
Publikum schädigt. Der erst heimlich auftauchende, dann offen ausgesprvchne
Verdacht, daß auf dem Postamt nicht alles in Ordnung sei, ist schwer zu ent¬
kräften, weil es niemand begreifen kann, weshalb gerade bei der Post so viel
öfter als bei andern Behörden revidiert wird.
Neben diesen regelmäßig wiederkehrenden Reisen muß man noch die so¬
genannten Kunstreisen zur Besichtigung von PostHäusern u. a. in. in entfernten
Bezirken erwähnen, womit Stephan nicht nur Banbcamte, sondern auch höhere
Postbeamte beauftragte, die sein besondres Wohlwollen hatten. Hierher ge¬
hören mich die Vertretungen, mit denen bevorzugte Oberpoftdircktoren in andern
Bezirken, deren Chefs erkrankt oder beurlaubt waren, betraut wurden. Die
Vertreter beziehn in solchen Fällen wochenlang hohe Tagegelder und können
zugleich alle sehenswerten Orte, an denen die ausgewählten Bezirke gewöhn¬
lich keinen Mangel haben, auf Dienstreisen besuchen, während den Posträten, für
die die Entsendung eines solchen Stellvertreters gerade kein Vertrauensvotum
der vorgesetzten Behörde bedeutet, der Löwenanteil der Arbeit zufällt. In
der letzten Zeit hat die Deutsche Verkehrszcitung keine Mitteilungen über der¬
artige Vertretungen gebracht.
Zum Schluß müssen wir noch einer Gattung von Reisen gedenken, die
es vielleicht noch deutlicher veranschaulicht, wie der Neisekostenfonds zum Wohle
einiger Beamten dienen muß. Unter den 648 Zivilpostämtern erster Klasse
sind 32 sogenannte Bahnpvstümter, deren Vorstehern die Regelung und Über¬
wachung des Dienstbetriebes auf den zur Befördrung von Postsendungen be¬
nutzten Eisenbahnlinien obliegt. Jedem Bahnpostamt sind bestimmte Linien
zugewiesen, die der Vorsteher zur Beaufsichtigung des Postdienstes in den
einzelnen Bahnpostwagen in der Regel einmal im Monat bereisen darf. So
steht zum Beispiel der Postdienst ans den Eisenlmhnlinien von Berlin nach
Hamburg, nach Stvlp, nach Saßnitz und nach Stralsund über Neubranden¬
burg uuter dem Bahnpostamt Ur. 3 in Berlin. Die Gesamtlänge dieser
Strecken beträgt 1174 Kilometer, für deren Zurücklegung der Vorsteher nach
dem Satze von 13 Pfennigen für den .Kilometer hin und zurück 305 Mark
24 Pfennige berechnen darf, während die Rückfahrkarten zweiter Klasse nach
dem Satze von 9 Pfennigen insgesamt nur 105 Mark 66 Pfennige kosten.
Der Reingewinn betrügt also für jede Reise 199 Mark 58 Pfennige. Wir
greifen wohl nicht fehl, wenn wir den Betrag, den die 32 Vorsteher von
Bahnpostämtern alljährlich verreisen, ans rund 100000 Mark rechnen; wenig¬
stens die Hälfte dnvou ist Reingewinn der Beamten. Die Frage, ob zur
Ordnung des Dienstbetriebes wirklich so viel gereist werden muß, werden auch
wohl die Vorsteher dieser natürlich sehr gesuchten und nur durch besondre Für¬
sprache erreichbaren Ämter verneinen müssen. Jedenfalls würde die Zahl dieser
Dienstreisen sofort auf einen verschwindend kleinen Bruchteil herabsinken, also
ans die wirklich notwendigen Fälle beschränkt werden, wenn um Stelle der
Kilometervergütnngen Freifnhrkarten gewährt werden würden. So lange aber
alljährlich eine bestimmte Summe für Dienstreisen ausgesetzt wird, darf mau
es dem Einzelnen wirklich nicht verdenken, wenn er von der Erlaubnis auch
entsprechenden Gebrauch macht. Außer von den Vorstehern der Bahnpost-
ämter werden die Postronten noch von den Postinspektoren, Pvsträten und
Oberpostdirektvren bereist.
Der Reichstag hat keinen Einfluß auf die Festsetzung der Höhe der Tage¬
gelder und Fuhrkosten für die Reichsbeamten. Dagegen könnte er indirekt sehr
segensreich wirken, wenn er von der im Etat unter Titel 54 ausgeworfnen
Summe von 2350000 Mark namhafte Abstriche bis zur Höhe einer halben
Million machen würde. Es würde deshalb kein Brief später bestellt, die
Sicherheit des Postbetriebs nicht im mindeste» gefährdet werden. Allerdings
dient die genannte Summe nußer zu Tagegeldern und Fuhrkosten noch zu
Vergütungen auf Umzugskosten und zu Micteutschädiguugen bei Versetzungen
der Beamten. Aber auch die Zahl der Versetzungen könnte bedeutend beschränkt
werden. Bei Beförderungen wird man ja nicht immer vermeiden können, daß
ein Beamter ans einer Ecke des Reichs in die andre versetzt wird, aber nicht
nur zwecklos, sondern geradezu nachteilig sind die zahllosen Versetzungen der
jüngern Beamten*) aus einem Bezirk in einen möglichst weit entfernten andern.
Diese Versetzungen nützen den Beamten nichts, belasten die Staatskasse und
schädige» das Publikum in hohem Grade, weil der Betrieb unter dein fort¬
währenden Wechsel der Beamten sehr leidet. Je vertrauter das Personal mit
den Ortsverhältnissen ist, desto besser wird das Publikum bedient.
Die Ersparnisse, die durch die Verringerung der Zahl der Versetzungen
und namentlich der Dieustreiseu erzielt werden, können zweckmäßig für die Ver¬
besserung der Lage der Beamtenklnssen verwandt werden, die bei der Gehalts¬
aufbesserung stiefmütterlich behandelt worden sind. Jetzt kommen die Vorteile
nur einigen wenige» Bevorzugten zu gute. Vielleicht tragen diese Zeilen dazu
bei, eine Neuregelung der Vergütungen für die Dienstreisen anzuregen. Das
gegenwärtige Verfahren ist, wie wir nachgewiesen zu haben glaube», ungerecht,
»»würdig und schädlich.
>cum künftig einmal unser heutiges Unterrichtswesen seinen Ge¬
schichtschreiber findet, so wird dieser die Strömungen, Kräfte
und Persönlichkeiten, die ans dessen Gestaltung eingewirkt haben,
zwar nicht so deutlich wie wir erkennen und unterscheiden, aber
Isein ans größerer Entfernung und von einer höhern Perspektive
fallender Blick wird eins klarer und schärfer sehen, was sich in der Nähe und
im Drang der Ereignisse zu verbergen Pflegt: daß der Streit um die Gestal¬
tung unsers höhern Unterrichts keineswegs bloß die Schule angeht, sondern
weit darüber hinaus um eine der Grundlagen unsrer nationalen und politischen
Entwicklung geführt wird. Daß von diesem Standpunkt aus der Akt der
preußischen Schulreform, an dessen Schluß wir heute stehn, als ein Vorgang
von außergewöhnlicher und, wie wir gleich hinzufügen wollen, von segen-
bringendcr Wirkung erscheinen wird, läßt sich schon jetzt erkennen, wo der
Vorhang eben erst niedergegangen ist. Die verdrossene, aus Verzagen nud
Mißtrauen gemischte Stimmung, die seit einer Reihe von Jahren, mitunter
durch unbestimmte und unkontrollierbare Gerüchte gesteigert, in den Reihen der
Gymnasiallehrer umging, hat angefangen einer hoffnungsfreudigen Zuversicht
zu weichen, ein Erfolg, dessen Bedeutung und Größe nur der verkennen könnte,
der nicht wüßte, wie sehr die beste Wirkung des Unterrichts, seine ethische
Kraft, von der Stimmung des Lehrenden, sogar gegen dessen Wissen und
Wollen, beeinflußt wird. Was hier die Krisis, die Wendung zum Guten, ein¬
geleitet hat, wird deu Lesern der Grenzboten aus Otto Kaemmcls Aufsatz
über deu kaiserlichen Schnlerlaß in Erinnerung sein; das ist, um es noch einmal
zu sagen, das Verdienst der Unterrichtskonfcrenz, die in der vorjährigen Pfingst-
woche in Berlin getagt hat, und deren Beratungen vor einiger Zeit, in einem
ansehnlichen Bande vereinigt, erschienen sind. Diese Veröffentlichung war nicht
allein wegen der angedeuteten schulgeschichtlichen Stellung der Konferenz zu
begrüßen, sondern auch deshalb, weil in ihren Verhandlungen ein reicher Nieder¬
schlag pädagogischer Weisheit und Erfahrung liegt, eine Fundstätte anregender
und fruchtbarer Gedanken.
Im März 1900 hatte das preußische Unterrichtsministerium hervorragenden
Gelehrten, Schulmännern und andern „für das Schulwesen interessierte« Per¬
sönlichkeiten" zu schriftlicher Beantwortung eine Anzahl von Fragen vorgelegt,
die deu Entschluß einer durchgreifenden Ergänzung oder Revision der vor neun
Jahren erfolgten Reform erkennen ließen. Die wichtigsten dieser Fragen
standen auch auf der Tcigesordnuug der am ki. Juni eröffneten Konferenz.
Scheiden wir davon die aus, die ganz oder überwiegend didaktischer Natur
waren, weil sie sich mit dem Unterrichtsbetrieb der einzelnen Fächer beschäf¬
tigten, so bleiben besonders drei Probleme zurück, die auf deu Gesamtorganismus
der höhern Schulen gingen und gewissermaßen als die Signalstangen der wenn
nicht geplanten so doch in Erwägung gezognen Reform betrachtet werde» dürfen:
wie das Berechtigungswesen zu gestalten sei, ob sich für alle höhern Lehr¬
anstalten ein gemeinsamer lateinloser Unterbau empfehle, und ob es ratsam
scheine, den Anfang des griechischen Unterrichts von der Untertertia auf eine
höhere Klasse zu verschieben oder an Stelle des Griechischen ein wahlfreies
Englisch zu erlauben.
In der ersten dieser Fragen lag der Angelpunkt der ganzen Reform.
Seit Jahren hatten einsichtige Männer prophezeit, daß das Gymnasium an
seinen Berechtigungsprivilegicn zu Grunde gehn werde, nicht so sehr wegen
der großen Zahl der Gegner und Neider, die ihm daraus erwachse, als infolge
der unaufhörlichen Verschlechterung seines Lehrplans, gegen die es machtlos
sei, solange das Monopol seiner Berechtigungen bestehn bleibe. An diesem
Punkte war jetzt wirklich Gefahr im Verzug, nur eine rasche und gründliche
Operation bot die Möglichkeit einer Rettung und Gesundung, Der Bericht,
den Geheimrat Matthias, seit Jahren ein entschiedner Vorkämpfer der Gleich¬
berechtigung, der Konferenz vorlegte, schloß mit einer ernsten Mahnung: Wenn
man bedenke, daß am Gymnasium zweiunddreißig, am Realgymnasium achtund¬
zwanzig und an der Oberrealschule neunzehn Berechtigungen hingen, die nicht
nach einem einheitlichen Gedanken oder einem wohldurchdachten Plane auf¬
gestellt wären, sondern gelegentlich und stückweise je nach den nugeublicklicheu
oder dauernden Bedürfnisse» der Zivil- und Militärverwaltung, so müsse mau
zugestehn, daß nicht mehr der Unterrichtsminister allein den Begriff und deu
Weg der Jugendbildung bestimme und überwache, sondern mit ihm einige
Dutzend Gewalten, deren Fordruugen mit dein eigentlichen Zweck einer höher»
Schule nichts zu thun Hütten, Für die höhere Schule müsse vor allein der
Grundsatz maßgebend sein, daß nicht diese oder jene Fachbildung ihr Zweck
sei, sondern die allgemeine Bildung, und daß nicht der Stoff, an dem sich die
Bildung des Geistes vollziehe, sondern das Maß geistiger Energie, geistiger
Empfänglichkeit und Reife, das sich an den verschiednen Stoffen entwickeln und
erweisen könne, für die Reise oder Unreife eines Schülers entscheide. „Stellen
^ so schloß das Gutachten — die verschiednen Schulen gymnasialer und realer
Art die gleichen Aufordrungen in Bezug auf dieses Maß geistiger Energie und
Kraftentwicklung, und erfüllen sie diese Anforderungen in gleichem Maße, dann
sollte man ihre Wertschätzung und Berechtigungen möglichst ausgleichen und
es den maßgebenden Behörden und Vertretern der einzelnen Ressorts, Studien¬
zweige und Berufsarten überlassen, sich in ihren Prüfungen selbst zu helfen;
die ruhige und ungestörte Entwicklung unsrer deutschen Schule und unsrer
Bildung könnte dabei nur gewinnen."
Für den Gang der Beratungen sowie für die Absichten der Instanz, bei
der am letzten Ende die Entscheidung lag, war es ein günstiges Zeichen, daß
die Berechtigungsfrage, die anfangs den achten Punkt der Tagesordnung
bildete, um die Spitze gestellt wurde. Das Kultusministerium beantragte durch
seinen Berichterstatter, die Realgymnasien und die Oberrealschule» den Gym¬
nasien insofern völlig gleichzustellen, als es sich um ein Studium handle, das
nur die allgemel'ne wissenschaftliche Vorbildung, keine darüber hinausgehenden
Spezialtenntuisse in einzelnen Fächern voraussetze; der Nachweis der etwa er-
forderlichen Spezinlkeuntnisse sei, wenn sie nicht schon auf der Schule erworben
wären, in der Regel dnrch eine Bescheinigung über den erfolgreichen Besuch
von Vorkursen auf der in Betracht kommenden Universität oder Hochschule zu
führen. Die Mehrzahl der Redner, nicht uur Vertreter der realen Bildung
und der technischen Hochschulen, sondern auch Anhänger der gymnasialen Bil-
dllng, namentlich der Kirchenhistoriker Harnack und der Philologe von Wila-
mowitz-Möllendorfs, stellten sich mit rückhaltloser Zustimmung auf die Seite
des Antrags. Nur wenige machten Bedenken geltend, vor allen Theodor
Mommsen, der den Abiturienten des Realgymnasiums die Pforten des juristischen
Studiums nicht öffnen wollte. Einer Befürchtung Kropatschccks, daß die Ein-
richtuug der Vorkurse den Universitäten große Schwierigkeiten verursachen werde,
begegnete Wilamowitz mit der Erklärung, die Universitäten wurden in der
Überzeugung, daß mich sie Erziehungsanstalten seien, das Mehr an Arbeit,
das ihnen ans der ungleichen Vorbildung der studierenden Jugend entstehe,
bereitwillig tragen. Großen Eindruck machte die Mitteilung Oskar Jägers,
daß die Versammlung des Gymnasialvereins, die am Tage vorher in Braun-
schweig getagt hatte, und zu der sich ans allen Teilen Deutschlands etwa
zweihundert Gymnasiallehrer eingefunden hatte», ihre Stellung zu der Be¬
rechtigungsfrage in folgender Resolution zum Ausdruck gebracht habe: „Das
Gymnasium hat nicht das Recht, sondern die Pflicht, für akademische Studie»
die allgemeine Vorbildung zu geben, und ist mit Rücksicht auf diesen Zielpunkt
organisiert; sollte der Oberrealschule und dem Realgymnasium diese Aufgabe
bei ihrer jetzige»? Orgauisntiou gleichfalls übertragen werden, so ist vom Stand¬
punkte des Gymnasialvereins gegen die Einräumung der entsprechenden Rechte
kein Einspruch zu erhebe»?." Als man zur Abstimmung schritt, wurde mit
allen Stimmen gegen drei ein von Harnack gestellter Antrag angenommen, der
sich in den Hauptpunkten mit dem Antrag des Kultusministeriums deckte.
Durch diesen Beschluß hatte man der Bejahung der zweiten Hauptfrage,
ob sich für alle höhern Lehranstalten ein gemeinsamer lateinloser Unterban
empfehle, den Grund entzogen, den die Anhänger des sogenannten Reform-
gymnasinms mit besondern? Nachdruck cmzuführe» pflegten, nämlich die Er¬
wägung, daß die vielfach schwer empfnndne Kollision zwischen den Bildungs¬
bedürfnissen des praktischen Lebens und den? Lateinzwang des Gymuasial-
monopols durch einen lateinlosen Unterbau erträglicher gemacht und zum Teil
beseitigt werde. Gymnasialdirektor Reinhardt, der Leiter des Frankfurter
Goethegymnasiums, gab »numwunde» zu, daß diese schulpolitische Seite der
Frage durch die von der Konferenz befürwortete Umgestaltung des Berechti¬
gungswesens ii? ein andres Licht gerückt sei und aus der Begründung aus¬
scheide; nach wie vor aber spräche?? die pädagogischen Vorzüge des latcinlosen
Unterbaues für die Fortführung des in Frankfurt gemachte?? Versuchs; der
Gedanke einer Verallgemeinerung liege auch dessen Freunden gänzlich fern,
aber um der Freiheit willen, die man dei? verschiednen Schularten bewilligt
habe, solle man eine Anstalt, deren Lehrerkollegium sich in voller Überzeugung
dem Versuch unterziehe, nicht in der Arbeit störe??. Obwohl den? gegenüber
von andrer Seite die Bedenken und Schwächen des Neformplans hervor¬
gehoben wurden, nahm? man doch zuletzt einen Antrag an, der einerseits zwar
die allgemeine Einrichtung eines gemeinsamen Unterbaues als „zur Zeit uicht
ratsam" ablehnte, andrerseits aber sich dahin aussprnch, daß um? einer zweck¬
entsprechenden Weiterführung des in Frankfurt und um andern Orten gemachte»
Versuchs »icht entgegentrete??, sondern dessen allmähliche Erweiterung fördern
solle. Es verdient erwähnt zu werden, daß der letzte, den Reformplan billigende
Zusatz von den? Generalinspektor des MiMirerziehungs- und Bildungswesens
beantragt worden war, und daß ferner der Vertreter des Fiuanzmiuisteriums
zu der Erklärung beauftragt war, die Förderung des in Frankfurt gemachte,?
Versuchs liege nach der Überzeugung des Finnuzmiuisters im dringendsten
Interesse der Bewohner der kleinen Städte und des platten Landes.
Das dritte der oben genannten Hauptprobleme berührte die Stellung
des Griechischen im Lehrplan des Gymnasiums. Diese „griechische Frage" angeregt
und in Fluß gebracht zu haben, war das Werk des Professors von Wilamowitz-
Möllendorff. Die Grundzüge seines aufsehenerregenden geistvollen Neformvor-
schlags sind früher in diesen Heften dargelegt worden. Er kommt bekanntlich
zu dem Schluß, daß der griechische Unterricht bei Anwendung eines andern
Verfahrens, das den Betrieb der Grammatik wesentlich vereinfache und eine
bessere Auswahl der Lektüre treffe, in den vier Klassen vou Untersekunda auf¬
wärts mehr leisten werde als gegenwärtig, wo ihm sechs Jahre zur Verfügung
stünden. Bei dem überragenden Ansehen, das der Urheber dieses Gedankens
in der philologischen Welt genießt, konnte die Vermutung aufkommen, daß die
Unterrichtsverwaltung nicht abgeneigt sein werde, eiuer Hinaufschiebung des
Griechischen ans die Untersekunda beizustimmen; die oben erwähnte Braun¬
schweiger Versammlung stand jedenfalls noch am Vorabend der Berliner Konferenz
unter dem Druck der Sorge, daß das Griechische ernstlich bedroht sei. Aber
diese Befürchtung erwies sich als hinfällig, als bei der entscheidenden Frage,
ob der Anfangsunterricht anf eine höhere .Klasse verlegt werden solle, Wilamowitz
erklärte, er unterwerfe sich dein übereinstimmenden Urteile der preußischen Prv-
vinzialschnlkollegien und des Gymnasialvereins, die sich für die Beibehaltung
der bisherigen Einrichtung, also für den Anfang des griechischen Unterrichts in
Untertertia ausgesprochen hätten. Das große Verdienst, das er dadurch der
Sache der humanistischen Bildung erwies, krönte er durch eine begeisternde
Darlegung, wie der griechische Unterricht zu beleben sei, wenn er in uusern
Schulen seine durch nichts ersetzbare ewig junge Kraft bewähren solle. Un¬
verkennbar nnter dem Eindruck seiner Worte beschloß die Konferenz einstimmig,
die Hinanfschiebung des Griechischen auf eine höhere Klasse nicht gut zu heißen;
auch erklärte sie mit allen Stimmen gegen eine ein wahlfreies Englisch anstatt
des Griechischen für unzulässig, weil dadurch das Gymnasium zerstört würde.
Mit diesen Beschlüssen, die um so wirksamer waren, weil sie alle mit einer
an Einstimmigkeit grenzenden Mehrheit zustande kamen, hatte die Konferenz
ihre Hauptarbeit gethan, die Richtlinien der Reform waren abgesteckt. Ihre
weitern Verhandlungen richteten sich zum Teil auf die Frage, was in den ver-
schiednen Fächern abgesehen von der Stundenzahl zur Hebung des Unterrichts
geschehe» könne. Darauf einzugehn entspräche nicht dem Charakter dieser
Blätter; statt dessen seien noch einige andre Punkte von allgemeiner Bedeutung
erwähnt. Die Abschlußprüfung, das Schmerzenskind der Reform von 1892,
wurde, wie vorauszusehen war, einstimmig zum Tode verurteilt. Daß die Aus¬
führung dieses Beschlusses eine Revision der sonstigen Prüfungsordnungen er¬
wünscht machen werde, erkannte mau an, ohne jedoch auf diese Seite der Frage
näher einzugehn. Welche Wege aber die angedeutete Revision voraussichtlich
einschlagen wird, läßt sich wohl aus einem Gutachten des Geheimrath Matthias
erkennen, worin an der gegenwärtig bestehenden Prüfnngsordnung besonders
getadelt wird, daß sie in den Befreiungen vom mündlichen Examen zu weit
gegangen sei. Beispielshalber sollte man in solchen Fächern, in denen nur
mündlich geprüft werde, Befreiungen nur dann eintrete«? lassen, wenn im Vor¬
zeugnis das Prädikat „gut" stehe; auf solche Weise werde man auch am
ehesten dem Übelstand steuern können, daß das Wissen in einzelnen Fächern,
zumal in der Geschichte, so sehr zurückgegangen sei.
Bei der Debatte über den letzten Punkt der Tagesordnung — welche
Maßregeln sonst im Interesse des Hähern Schulwesens erforderlich seien —
richtete der Abgeordnete Kropatscheck an den Vertreter des Finanzministeriums
einen warmen Appell, die Mittel zu gewähren, daß im Interesse des höhern
Lehrerstandes die alten, noch nicht befriedigten Wünsche der Schulkonferenz
von 1890 erfüllt werden könnten. Der Geheime Oberregierungsrat Hinzpeter,
der schon damals für die Gleichstellung der akademisch gebildeten Lehrer mit
den Richtern eingetreten war, erklärte, heute wurde er seine Worte nicht mehr
so wählen wie vor zehn Jahren, sondern wahrscheinlich etwas energischer;
denn damals sei die Frage der Gleichberechtigung noch nicht ganz reif gewesen,
jetzt sei sie fast überreif. Einstimmig genehmigte schließlich die Konferenz den
von .Kropatscheck eingebrachten Antrag: Es sei darauf Bedacht zu nehmen,
daß der höhere Lehrerstand den Richtern erster Instanz in seinen Besoldnngs-
verhältnissen, auch wenn eine mechanische Gleichstellung in dieser Beziehung
uicht erforderlich erscheine, doch möglichst angenähert werde, da durchgreifende
Gründe für eine wesentliche Ungleichheit in der Bemessung der beiderseitige»
Gehälter nicht mehr bestünden.
Zu diesem letzten Punkte schließlich noch ein Wort. Die Durchführung
der um ihrem Abschluß stehenden Reform rechnet selbstverständlich mit einer
gesteigerten Thätigkeit der Lehrer, mit ihrer willigen und vollen Hingebung.
Aus diesem Grunde wäre gewiß zu wünschen, daß es der Unterrichtsverwal¬
tung, deren guter Wille bekannt ist, bald gelänge, durch Erfüllung alter zum
Teil von ihr selbst genährter Hoffnungen innerhalb des Lehrerstandes das
Maß von Kraft und Schafsensfreude, das bisher leider oft im Dienst einer
auf äußerliche Dinge gerichteten Agitation gebunden schien, für die Lösung
höherer und würdigerer Aufgaben frei zu machen. In dieser Überzeugung
wird anch die nicht kleine Zahl der Lehrer, denen das Ziel dieser Agitation
eine ouiA poswrior ist, der vorjährigen Unterrichtskonferenz dafür Dank wissen,
daß sie den Antrag Kropatschecks unter die Forderungen aufgenommen hat,
deren Verwirklichung sie im Interesse des Schulwesens für nötig erachtete.
Daß freilich ihr Votum diesesmal ebensowenig wie im Jahre 1890 die Finanz-
Verwaltung überzeugt hat, ist bekannt. Um so erfreulicher ist die Wahrnehmung,
wie seit Jahr und Tag die eigentliche, innere Reform ans der von der Kon¬
ferenz gezeigten und geebneten Bahn fortgeschritten ist. Wenn nicht alle
Zeichen trügen, wird es mit den jetzt gewählten Mitteln gelingen, den arg
verfahrnen Wage» unsers höhern Schulwesens wieder ans den rechten Weg
zu bringen. Dann wird an Stelle des unseligen häuslichen Haders, der mit-
unter dein Feinde aller wahren und gründlichen Bildung, dem Dilettantismus,
das Heft der Entscheidung in die Hand zu spielen drohte, ein neidloser Wett¬
bewerb der verschiednen Schulen treten können, ein ehrlicher ersprießlicher Lauf,
zwar auf verschiednen Wegen, aber nach gleichen oder doch gleichwertigen Zielen.
Geschieht das, so gehn bis zur nächsten Schulreform hoffentlich nicht zehn,
sondern mindestens zwanzig Jahre ins Land! Denn auch das Unterrichts-
wesen als Ganzes bedarf dessen, was heute mehr als je aller Jugenderziehung
und Jugendbildung not thut: Ruhe zur Reife. Im Gegensatz zu den Reformern,
die die Lchrplane unsrer Schulen nach dem Grundsatze zurecht stutzen möchten,
daß die Jugend das Erlernte so schnell wie möglich praktisch verwenden könne,
und daß alles andre eigentlich ein altfränkischer Ballast sei, spiegelt sich uns
die Aufgabe und die Wirkung einer gesunden Erziehung in dem Bilde der
Thalsperre, in der sich die jungen Wasser sammeln und klären, sodnß sie das
ganze Jahr, anch in den Monaten der Dürre, vorhalten und nicht gleich im
Frühling verrinnen.
cum ich mich nun zur Beantwortung der am Schluß des ersten
Artikels aufgeworfnen Frage wende, ob unser gegenwärtiger Zu¬
stand dem Ideale Lifts entspricht, und was weiter werden soll,
so verpflichte ich mich eigentlich, Gegenwart und Zukunft unsrer
Volkswirtschaft darzustellen. Da das ans zehn Seiten nicht
möglich ist, so muß ich mich darauf beschränken, die Themata
aufzuzählen, die ausgeführt werden müßten. Ausgeführt sind sie ja übrigens
schon tausendfach, und werden uoch täglich ausgeführt, wobei freilich noch
zweifelhaft bleibt, ob durch all die Rederei und Schreiberei die Sache den
Maßgebenden klarer oder dunkler wird.
Zunächst: reicher sind wir durch die Industrie geworden, daran ist kein
Zweifel. Die moderne Technik erzeugt automatisch Reichtum, denn sie macht
die Arbeit von Tag zu Tag produktiver, und die wachsende Produktenfülle
bedeutet eben wachsenden Reichtum. Es fragt sich uur, ob die Verteilung des
Reichtums und die von der Verteilung abhängige Produktion gesund genannt
werden kann, ob nicht die allzu ungleiche Verteilung bewirkt, daß von den
überflüssigen Gütern zu viel, von den notwendigen zu wenig produziert wird,
und daß die von oben her verbreiteten Luxusmodeu unverständige Formen des
Konsums erzeugen, die auf die Produktion zurückwirkend diese'noch unzweck¬
mäßiger machen, als sie so schon sein würde. Das fuhrt in drei heute wohl
angebaute Gedankenkreise, die List fremd waren: den der Sozialisten und des
Nodbertus, den der Moralisten, die gegen Luxus und naturwidrige Lebens--
gewohuheiten predigen (List war ein warmer Lobredner des Luxus), und den
der Ästhetiker vom Schlage Nustins, die finde», daß der Industrialismus das
Leben täglich häßlicher mache.
Vollkommen recht hatte List mit der Ansicht, daß die Entwicklung der
Industrie niemand mehr zu gute kommen werde als den Lcmdwirteu, und voll¬
kommen richtig beschreibt er die Harmonie zwischen Industrie und Landwirt¬
schaft. Im reinen Agrarstaat giebt es keine Grundrente, und die Bauern
bleiben arm. Jede Mißernte macht sie geradezu elend. Das sehen nur ja
im großen nu Nußland — das italienische Banerneleud entspringt andern Ur¬
sachen —, obwohl da natürlich noch so manches, wie geographische Verhältnisse,
Volkscharakter, Religion, Staatsverfassung, mit einwirkt. Der Bauer des
Agrarstaats bezieht bloß Arbeitslohn, und zwar in in dem Brot, das
er ißt, und in den Schaffellen oder der Schafwolle, in die er sich kleidet.
Natürlich erzeugt er nicht mehr, als er für sich und seine Familie braucht.
Hat dagegen der Bauer Gewerbtreibende in der Nähe, mit denen er in Talisch¬
verkehr treten kaun, so erzeugt er mehr und wird reicher. Der Reichtum
besteht eben in den Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten, die ihm das Ge¬
werbe liefert. Anfänglich verursacht ihm die Mehrproduktion mehr Arbeit,
was ein Glück für ihn ist, da sie ihn der Faulheit und dem Stumpfsinn ent¬
reißt, später aber vermehrt sie sogar seine Muße, da er Geld hat, Arbeiter
zu bezahle», und da sein rationeller Betrieb mit derselben Menge Arbeit eine
größere Produkteumenge erzielt; erhöhte Bildung aber befähigt ihn, seine Muße
nützlich anzuwenden. Verkauft er dann sein Gut, so erhält er für dessen ur¬
sprünglich wertlosen Boden einen Preis, der ihm erlaubt, als Rentner zu leben.
List hat es also mit Recht als ein Glück gepriesen, wenn sich in einem Agrar¬
staat 200000 von einer Million Bauern in Handwerker und Industriearbeiter
verwandeln. Und die Reute, die das Gewerbe den Landwirte» zahlt, ist
keineswegs el» ihm auferlegter Tribut. Der Gewerbtreibeude lebt im Anfange
des Prozesses weit behaglicher, als er als verkümmerter Bauer leben würde.
Die steigende Reute bedeutet steigendes Nationaleinkommen, de»» sie wird
erzeugt dnrch eine immer größere Menge immer besserer und feinerer land¬
wirtschaftlicher Produkte. Aber — das ist der Umstand, an den List nicht
gedacht hat und nicht zu denken brauchte — auch der Neutenbcmm wächst nicht
in den Himmel. Zunächst: es tritt ein Zeitpunkt ein, von wo ab das Wachs¬
tum der Rente keinen Zuwachs an Volkseinkommen »lehr bedeutet.
Als die Steigerung der Grundrente in Deutschland in den dreißiger
Jahren begann, konnte man sie noch ausschließlich den Fortschritten der Land¬
wirtschaft und dem Wachstum der industriellen Bevölkerung verdanken, aber
die lebhafte Abwärtsbewegung in den vierziger und fünfziger Jahren wurde
nicht durch die Zunahme der Produktenmenge bewirkt, sondern im Gege»teil
durch das Steige» der Getreidepreise infolge mehrerer schlechter Ernte» bei be¬
ständiger Vermehrung der industriellen Bevölkerung. Die steigende Grundrente
bereicherte also den einen Teil, während der andre Not litt. Die Not wuchs
anfangs in mehreren Gegende» Deutschlands zur wirkliche» Hungersnot, bis
der Fortschritt der Industrie die Arbeitereinkomme» soweit erhöhte, daß sie die
Lebensmittelpreise erschwingen konnten. Und rede» der landwirtschaftlichen
Grundrente entsteht durch das Wachstum der Industrie die städtische. Diese
bedeutet aber niemals und in keinem Sinne eine Vermehrung des Volksein¬
kommens, sondern im Gegenteil eine Vermindrung. Wahrscheinlich zählen die
Statistiker deu städtischen Bvdenwert zu den Bestandteilen des nationaler-
mögeus. Das ist geradeso, wie wenn die vier Milliarden Mark, die der
Bnrenkrieg England vorläufig kostet, als eine Vermehrung des englischen
Nationalvermögens aufgefaßt würden in dem Falle, daß es ausschließlich eng¬
lische Kapitalisten sind, die die neuen Anleihescheine kaufen. Die großstädtische
Bodenrenke bedeutet weiter nichts, als daß es dein großen, Teil der Ein¬
wohnerschaft an Luft, Licht und Ellbvgenrnnm fehlt, und daß er seine Kultur-,
Ncchruugs- und sonstigen Bedürfnisse aufs äußerste einschränken muß, wenn er
sich den kleinen, oft dunkeln und ungesunden Raum sichern will, wo ihm die
Befriedigung seiner Bedürfnisse erlaubt ist. Das übrige mögen die Bodcn-
besitzrcformer und die Wohnungspolitiker sage,,.")
Das Steige» der ländlichen Grundrente hat nnn aber, soweit es ans dem
Steigen der Nahrungsmittelpreise entspringt, noch andre Folgen. Da die
ärmere Bevölkerung nicht Lust hat, zu verhungern, so wandert ein Teil aus
und erschließt überseeische Gebiete der Kultur. Diese liefern den alten Ländern
Getreide und stürzen deren Getreidepreis und Grundrente. Die Agrarfrage
entsteht. Daß Deutschland ein Getreide einführendes Land werden würde, hat
List vorausgesehen, aber als einen Fortschritt gewünscht. Er hat gemeint, die
Landwirte werden sich mehr und mehr auf die Versorgung der unter ihnen
wohnenden zahlreichen städtische» und Jndustriebevölkerung Mit feinern und
teurem Produkten: Fleisch. Milch, Butter, Geflügel, Eiern,'Gemüse, Obst usw.
verlegen, wobei ja, wie auch Rodbertus sagt, die Landwirtschaft blüht, und
werden die Versorgung der Masse mit Brotkvrn und Kartoffeln den neuen
Ländern überlassen; wirft doch ein Morgen Gemüse-, Obst- und Binnenland
in der Nähe der Großstadt so viel Reinertrag ab wie hundert Morgen Kar¬
toffelacker in Hinterpommern. Ganz schön! Leider aber läßt sich der hinter-
pommersche Kartoffelacker nicht im Handnmdrehn und ohne Geldkosten in
Spargelbeete verwandeln, und geschähe es, so würden die städtischen Verzehrer
fehleii. Die Industrialisierung Dentschlands — ans das wir uns beschränken
wollen ist eben nicht so vor sich gegangen, wie sich List anfänglich dachte
und wie sie Carey fordert, daß sich in oder neben jedes Dorf Gewerbtreibende
setzen, die ihm seine Nahrungsmittel ohne Vermittlung von Hüudleru abnehmen
und dafür Gewcrbeerzeugnisse, namentlich Werkzeuge, »»verteuert durch Trans-
Portkosteu liefern; sondern die Industrie hat sich in einzelnen, von der Natur
und durch die geschichtliche Entwicklung begünstigten Gegenden und Städten
konzentriert und dem nordöstlichen Flügel des heutige,: Reichs bis auf einige
Oase» das bischen Gewerbe, das er früher gehabt hat, vollends entzogen, ja
sie droht ihm seine Bevölkerung zu entziehn. Die Lnudflucht soll hier nicht
»och einmal breit getreten, es soll nur daran erinnert werde», daß Großstadt und
Industriebezirk, wenn sie einmal da sind, eine verhängnisvolle Anziehungskraft
ans die ländliche Bevölkerung ausüben. Ohne Zweifel giebt es entgegenwirkende
Kräfte, aber die sind teils gar nicht, teils zu spät in Bewegung gesetzt worden.
Zu dein mancherlei, was ich bei andern Gelegenheiten darüber gesagt habe,
füge ich »och eine Reminiscenz. Auf einem Rittergute in Niederschlesien — das
ist etwa vierzig Jahre her — wurden gerade die Jagdhunde gefüttert, als
einer meiner Bekannten über den Hof ging; er blieb ein Weilchen stehn, da
sagte ihm ein Knecht: wenn unsereins wenigstens den Hundefraß kriegte, da
wäre man schon glücklich. Auf demselben Gute — ich wohnte eine Stunde
davon — hatte der Pfarrer eine Schwerkranke Magd zu versehen; er fand sie
im Stalle zwischen zwei Kühen liegend; die andern Mägde hatten sie dahin
gebracht, weil es im Gesindehanse kein für einen Kranken geeignetes warmes
Plätzchen gab. Natürlich ist es nicht überall so zugegangen, aber diese Be¬
handlung kaun auch nicht seltne Ausnahme gewesen sein, sonst Hütte ein Mann
wie Herr K. in F. überhaupt keine Arbeiter bekommen. Um auf solche Leute
zu wirken, brauchte der industrielle Tagelohn noch gar nicht die Höhe von
drei Mark zu erreichen. Ist nun aber eine solche Volksbewegung einmal im
Gang, so ergreift sie auch solche, die gar keinen vernünftigen Grund haben,
ihr zu folgen; es wird eine Epidemie und eine Mode daraus, die weiter herrscht,
wenn sich auch die Arbeitsbedingungen auf dem Lande noch so sehr gebessert
haben. lind die Mode verdirbt den natürlichen gesunden Geschmack, oder be¬
wirkt wenigstens, daß mau sich seiner schämt, wenn man ihn noch hat. Die
Uniform des Straßenbahnschaffners sieht feiner ans als die Jacke des Acker¬
knechts. Darum verzichtet dieser darauf, mit zwei schmucken Braunen kräftig
duftende Schollen aufzuwerfen und schöne gerade Furchen zu ziehn, dann
heimzureiten und behaglich seinen Feierabend und seinen Sonntag zu genießen,
was alles für einen gesunden Kerl Hochgenuß ist, und stellt sich lieber Tag
für Tag zwölf bis sechzehn Stunden auf deu elektrischen Straßenbahnwagen,
was ein Hundevergnügen sein muß. So machen es sogar die Söhne wohl¬
habender Bauern. „Unsre Kinder könnten es besser haben, nun sie haben es
nicht anders gewollt," sagte vor einiger Zeit eine Bäuerin, von der zwei
Söhne in einer Residenz zur Elektrischen gegangen waren. Und ein andrer
Esel läuft von der grünen Wiese in die Glashütte, wo er sich bei lebendigem
Leibe braten, oder in der Schleiferei durch Staub und Luftmangel bei schmaler
Kost binnen zehn Jahren zum ausgemergelten Schwinosnchtkandidaten machen
läßt. Was läßt sich gegen diese Narrheit thun? Schule und Kirche scheinen
machtlos zu sein. Ich wünsche Sohnrehs Bestrebungen den besten Erfolg;
aber wenn sich einmal der Sinn für die gesunden Verrichtungen des Land¬
manns in der freien Natur verloren hat, wenn der Mann es nicht mehr em¬
pfindet, daß das Glück, täglich auf grüner Flur reine Luft atmen und sich mit
erfreulichen und schönen Gegenständen beschäftigen zu dürfen, alle Tingeltangel
der Großstadt und alle Kinkerlitzchen der großstädtischen Arbeiterwohnung und
Kleidung an Wert weit überwiegt — wenn ihm diese Empfindung einmal ab¬
handen gekommen ist, dann wird sie sich schwerlich neu erzeugen lassen.
Darin liegt nun zweifellos eine Gefahr für die Volksgesundheit, die ja
unzähligemal ausgemalt worden ist. Ich will nur an dreierlei erinnern. Die
Landleute sind sicherlich keine Engel und vor allem keine unsinnlichen Wesen-
Aber die ländlichen Verhältnisse bringen es mit sich, daß sich die Ausschreitungen
innerhalb gewisser Grenzen halten und weder das Familienleben noch die Volks¬
vermehrung gefährden. Dagegen müßte es wunderbar zugehn, wenn bei der gro߬
städtischen 'Schlafstellen- und Spelunkenwirtschaft und der Zusammendrnngung
von leidlich anständigen Leuten mit kriminellen Geschöpfen auf einen engen
Raum die Jugend der ärmern Klassen nicht Futter für Sternberge würde.
Dann erwäge man folgendes. Eine Umfrage in den Berliner Schulen hat
ergeben, daß von den befragten über sechs Jahre alten Kindern 70 Prozent
keine» Sonnencinf- oder Untergang, 75 keinen lebenden Hasen, 64 kein Eich¬
hörnchen, 53 keine Schnecke, 59 kein Ährenfeld gesehen, 82 noch nie eine
Lerche gehört hatten. Sind das noch Menschen? Mehr als ein Seelen¬
krüppel kann ja der ärmere Mensch in der Großstadt bei seiner Gebundenheit
und Umschränttheit, bei der Unmöglichkeit, auch nur das kleinste Stückchen
Natur beobachten und beherrschen zu können, überhaupt nicht sein. Und von
der Großstadt wende man den Blick auf die Buren. Den Burenkrieg scheint
die Vorsehung gerade zur rechten Zeit zur Belehrung der Völker arrangiert zu
haben. Daß ein Bur drei Engländer nufwiege, davon hat sich die Welt
gleich in den ersten Wochen des Kriegs überzeugt. Aber wie viel Familien
— wenn diese Bezeichnung für die Kinderseelen Ostlondons erlaubt ist —
des Lumpenproletariats müßte man auf die eine Wagschale legen, wenn auf
der ändern eine Burenfamilic lüge? Hier hört die Berechtigung der quanti¬
tativen Messung auf; es handelt sich um qualitativ verschiedne Dinge; jede
Großstadt beherbergt tausende von menschenähnlichen Wesen, die von Rechts
wegen eigentlich gar nicht vorhanden sein sollten. Aber sehen wir auch von
diesem Bestandteile der großstädtischen Bevölkerung ab, und nehmen wir die
Großstadt als ein Ganzes: giebt es eine Stadt von 400600 Einwohnern in
Europa, die eine solche Zahl von Vollmenschen aufzuweisen hätte, wie das
noch uicht 400000 Köpfe zählende Burenvolk? Höchstes Gut sei die Persön¬
lichkeit, wird heute mehr als sonst gepredigt, nun wohl, dort in Afrika haben
wir ein Volk von lauter Persönlichkeiten: jeder rund für sich, ein kleiner
König. Darf sich unser gewöhnlicher Großstadtbürger als gleichwertig neben
einen solchen stellen? Im Gewimmel der Großstadt sinken alle, denen
nicht höhere Stellung, höhere Bildung oder Reichtum die Mittel gewähren,
ihre Persönlichkeit zu behaupten, zu Herdentieren und Nummern herab, und
noch eine Stufe tiefer wimmelt das Menschenungeziefer. Nicht daß man den
Buren in allem Recht geben müßte; sie haben so manches auf dem Kerbholze,
und wenn, wie Eduard Bernstein in den sozialistischen Monatsheften (Ur. 2
dieses Jahrgangs) sagt, der Bur es nicht leiden mag, daß man von seinem
Hause aus den Schornstein eines andern Hauses rauchen sehen könne, so kaun
sich das, darin gebe ich dem Kritiker des Marxismus Recht, die Welt nicht
gefallen lassen: die Menschheit wird zahlreicher, die Erde kleiner, und andre
Leute wollen auch wohnen.
Überhaupt ist das Bureuleben kein Ideal. Darin wird List für immer
recht behalten, daß sich nur im Agrikultur-Manufaktur-Haudelsstaat volles und
höchstes Menschenleben entfaltet, weil nur er den Wurzelbodeu schafft für alle
Zweige der höhern geistigen Kultur. Aber von diesen Zweigen gedeihen doch
zwei: Religion und Volkssittlichkeit auch bei einem Bauernvolk, während
die andern'beiden, Kunst und Wissenschaft, allerdings städtisches Leben zur
Voraussetzung haben, bei hoher Blüte aber uicht selten die andern beiden zer¬
stören und damit das Dasein des Volks gefährden. Wie Übcrfcinerung auf
die Sitte» zersetzend einwirkt, ist allgemein bekannt. Was die Religion an¬
betrifft, so ist es uicht allein die von der Wissenschaft erzeugte Gewohnheit,
zu zergliedern, zu kritisieren, zu zweifeln, was fie untergräbt, sondern auch
die Loslösung des Städters von der Natur. Der Anblick des Sternenhimmels
hat die Menschen von jeher mit religiösen Ahnungen und Schauern erfüllt.
Der Städter sieht ihn nicht. Hat er auch vielleicht in einer breiten Straße
oder ans einem breiten Platze ein Stück Himmel über sich — betrachtend stehn
bleiben darf er nicht, wenn er nicht nmgerannt oder verhaftet werden will.
Und der Landwirt ist mit dein Erfolg seiner Arbeit unmittelbar von der Natur
abhängig, in der er Gott walten sieht, er bleibt gläubig und fromm, weil er
Gott um seinen Segen bitten muß, ähnlich wie der Bergmann, der täglich
Gottes Schutz vor bösen Wettern und vor Einstürzen braucht. Im städtischen
Erwerbsleben und in der Politik (die jetzt freilich auch schon den alten Bauern¬
sinn und Glauben verdorben hat) spürt nur der mit feinen Seelcnsinnen Be¬
gabte Gottes Walten; der Gröbere vermag überall uur menschliche Willkür
und menschliche Einrichtungen zu sehen; er wird deshalb, mag er die Sozial¬
demokratie auch noch so sehr hassen, seinem religiösen Empfinden und Denken
nach Sozialist, indem er nichts mehr von Gott, alles von Menschenkraft und
Menschenklugheit erwartet.
Mit der Erwähnung der Buren sind wir in die Politik geraten. Nicht
das interessiert uns hier an dem südafrikanischen Kriege, welche der beiden
Parteien Recht hat, und was der Ausgang für Verschiebungen der politischen
Machtverhältnisse zur Folge haben wird, sondern die militärischen Leistungen
der Vureu, die auch nach Abrechnung dessen, was auf die Terrainvorteile
kommt, noch wunderbar bleiben, sind das wichtige, und ihre ganze Haltung:
daß sie lieber alle mit Weib und Kind zu Grnnde gehn, als ihre Freiheit,
ihre Unabhängigkeit, die unumschränkte Verfügung über ihren eignen Boden
aufgeben wollen. Wäre so etwas bei einen? Industrie- und Handelsvolke
denkbar? Zwar das zweite ist schon vorgekommen, in dem letzten Verzweif-
lungskampfe der Karthager gegen die Römer, unter dessen Voraussetzungen
allerdings die fanatische Anlage der Semiten nicht vergessen werden darf, aber
für das erste, für militärische Tüchtigkeit eines Industrie- und Handelsvolks,
wüßte ich kein Beispiel. Die Engländer sind jn auch heute noch tapfer, wenn
sie in die Schlacht müssen, aber diesem Muß entziehn sie sich nach Kräften,
der militärische Sinn ist ihnen abhanden gekommen. Jn: Mittelalter, als sie
noch Bauern waren, waren sie die besten Soldaten Europas. Vorläufig wird
mau also deu historischen Erfahrungssatz, daß das Bauernleben die für den
Soldatenstand geeignetsten physischen lind iiwralischen Eigenschaften erzeugt,
nicht unbeachtet lassen dürfen, wenn auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen
ist, daß er später einmal durch andre Erfahrungen berichtigt wird.
Wenn die Industriearbeiter allesamt Bauarbeiter, Eisenarbeiter, Stein-
uud Erdarbeiter und Seeleute wären, so würde ihre Abzweigung von der
Landwirtschaft die Militärtüchtigkeit des Volks nicht wesentlich beeinträchtigen.
Das ist aber doch nicht der Fall; es giebt eine Menge gesuudheitsschädlicher
Industrien, und was schlimmer ist, ein bedeutender Prozentsatz der nicht¬
bäuerlichen Bevölkerung verrichtet überhaupt keine nützliche Arbeit, was doch
noch ans andern als militärischen Rücksichten bedauert werden muß. Gegen
die Behauptung, daß es nicht genug Arbeit für alle arbeitsfähigen Menschen
im deutschen Vaterlnnde gebe, wird ja von den maßgebendsten Seiten uns das
entschiedenste protestiert, und statistische Beweise zu liefern bin ich nicht in
der Lage, aber wenn ich an die Reklame- und Plakatindustrie deute und an
all die neuen höchst überflüssigen Nahr- und Kräftiguugsmittel auf it und in,
die uns die Plakate anpreisen, an die Versicherungsagenten und Handels¬
reisender, die einander die Thürklinke reichen, an die neuen Zeitungen und
Zeitschriften, die illustrierten Preislisten und die Lvttcrieanzeigen, die meinen
Pnpicrkorb füllen, an die Briefträger, die bloß der Ansichtskarten, an die
Bahnbeamten, die bloß der sonntäglichen Bierreisen wegen nötig sind, so sehe
ich darin die Bestätigung meiner g. priori gefaßten Überzeugung, daß es beim
hohen Staude unsrer immer noch fortschreitenden Technik unmöglich ist, alle
nicht der Urproduktion dienenden Personen nützlich zu beschäftigen, wenn ihre
Zahl größer wird, als die der Land? und Forstwirte, Bergleute und Fischer
zusammengenommen. Statistischen Gegenbeweisen gegenüber mag unter anderm
auch daran erinnert werden, daß die Schädlinge, deren im vorhergehenden
noch gar nicht gedacht worden ist, unter falschen Bezeichnungen in die Volks-
zühlungslisten kommen, die Einbrecher als Schlosser oder Arbeiter, die Dirnen
als Nähterinnen, die Spekulanten als Kaufleute usw. Wenn die überflüssigen
und die schädlichen Erwerbsarten plötzlich aufhörten, so würden die Scharen
der Arbeitlosen, die dann auftauchen müßten, die Behörden in keine kleine
Verlegenheit versetzen.
Um uns über diese Verschiebung des wirtschaftlichen Gleichgewichts zu
beruhigen und die Regierung den begehrlichen Agrariern gegenüber fest zu
machen, rechnet man uns vor, wie sehr die Industrie der Landwirtschaft über¬
legen sei in der Schaffung von Werten nud in der Steuerkraft. So z. B. be¬
rechnete die Frankfurter Zeitung kürzlich nach der deutschen Produktiousstatistik
für 1897 den Verkaufswert der Erzeugnisse der hauptsächlichsten Industrien
auf 91/4, den der Getreide- und Kartoffelernte auf Milliarden Mark. Nun
pfeife ich zwar auf alle Statistik, wenn ich weder den Statistiker als einen
zuverlässigen Mann kenne noch in der Lage bin, die Urzahlen und ihre Ent¬
stehung zu prüfen, was einer, der nicht an der Quelle sitzt, fast niemals kann,
aber ich finde die angegebnen Zahlen, auch wenn ich sie ungeprüft als richtig
annehme, gar nicht überzeugend. Zunächst fehlen bei den landwirtschaftlichen
Erzeugnissen Vieh und Viehprodukte, und deren Verkaufswert ist, wie dem
Statistiker seine Frau aus ihrem Haushaltnngsbnche nachweisen kann, bedeutend
größer, als die vou Brotkorn und Kartoffeln; abgesehen von ganz proletarischen
Familien machen diese zwei Posten überall den kleinern Teil, in wohlhabenden
Familien nur einen sehr kleinen Teil des Nahrungsmittelbudgets aus. Und
die Pferde, die nicht in die Wurst kommen, haben doch wohl auch einigen
Wert.*) Dann sind Gemüse, Obst und Blumen zu rechnen, dann Tabak,
Flachs, Hanf und die übrigen Handelsgewüchse, dann das Holz und die übrigen
Forstprodukte. Damit dürfte man wohl uns weit über zehn Milliarden kommen.
Dann hat der Statistiker der Frankfurter Zeitung die Montanindustrie, die
doch zur Urproduktion gehört, mit auf die Seite der Industrie gestellt. Dann
ist für die Beurteilung der Nützlichkeit eines Gewerbes der Tauschwert seiner
Produkte uicht das allen, entscheidende. Die land- und forstwirtschaftlichen
Erzeugnisse haben alle ohne Ausnahme einen hohen Gebrauchswert, den ihnen
kein Wandel des Wirtschaftslebens, der sozialen Verhältnisse und der Mode
raubt, und gerade die wohlfeilsten sind sogar unentbehrlich; nnter den Jndustrie-
erzeugniffen dagegen giebt es unzählige, denen, wie Damenhüten und Schmuck-
sachen, Gewehren und Maschinen, ein Wandel der Mode, ein Fortschritt der
Technik den halben oder den ganzen Tauschwert raubt. Ferner bedeuten eine
Ernte und eine neue Generation von Nutz- und Zugvieh einen Bestandteil
des Volkseinkommens, bei dem nichts oder°nnr wenig (bei Getreide die Aus¬
saat, d. h. heutzutage ein Zehntel bis höchstens ein'Sechstel der Ernte) ab-
zuziehn ist; bei den gewerblichen Erzeugnissen muß man den Rohstoff abziehn,
wenn man ermitteln will, was davon reines Volkseinkommen ist, und der mag
bei den gröbern Waren vielfach die Hälfte des Werth ausmachen; besonders
füllt das ins Gewicht, wenn der Rohstoff vom Auslande bezogen wird.
Endlich handelt es sich gar nicht allein um Tauschwerte, ja nicht einmal
allein um Gebrauchswerte, sondern um die Verhältnisse, uuter denen die Pro¬
duzenten leben und schaffen. Möchte — das ist ja sogar ein Listischer Ge¬
danke — der reine Industriestaat hundertmal soviel an Tauschwerten schaffen
als der Agrikultur-Manufakturstaat, wenn die Menschen in ihm verkümmern,
so ist der Reichtum, den er erzeugt, ein Unglück. Die Eisenarbeiter gehören
zu den Klassen von Industriearbeitern, die sich der besten Arbeitsbedingungen
erfreuen; trotzdem glaube ich uicht, daß das Leben eines Mannes in der gro߬
städtischen Maschinenbananstalt so günstig für die körperliche und geistige Ge¬
sundheit wie das eines Bauern in guter Gegend ist. Wenn deshalb in der
Landwirtschaft die Verwendung von Maschinen in dem Grade überHand nehmen
sollte, daß viel Arbeiter überflüssig würden und ein Teil von diesen nur uoch
mittelbar, in der Maschinenbananstalt, für die Landwirtschaft thätig wäre, so
würde ich das für keinen volkswirtschaftlichen Vorteil ansehen. Der Gedanke
freilich, die Technik zurückschrauben und die Maschinen beseitigen zu wollen,
wäre so absurd, daß ihn kein Vernünftiger fassen könnte; im großen und
ganzen genommen ist der technische Fortschritt nicht bloß unvermeidlich, sondern
ein Glück für die Menschheit. Aber ob es weise ist, in jedem einzelnen Falle
den technischen Fortschritt bis zur äußersten Möglichkeit auszunutzen, ob man
uicht der Volksgesundheit wegen hier und da bei altmodischen Verfahrungs-
weisen stehn bleiben darf, das ist eine andre Frage. Nehmen wir den Fall
der Proletarierfran, der heute wieder sehr lebhaft erörtert wird. Vom tech¬
nischen Standpunkt aus ist es ganz unvernünftig, daß von hundert armen
Frauen jede ihre Stube, Kaminer und Küche reinigt, ihre fünf oder sechs
Kinder pflegt, die Wäsche der ganzen Familie wäscht, rollt und plattet, in
einem elenden Ofen, der mehr Rauch als Wärme giebt, täglich ein Pfund oder
ein halbes Pfund Fleisch kocht, das oft nur aus Sehnen und Häuten besteht, und
daneben vielleicht noch bei andern Leuten um Lohn arbeitet. Wenn irgendwo,
so ist hier die Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung angebracht, und das
Phalanstere erscheint als das einzig vernünftige: ein großes Gebäude mit
Schlafzimmern für die einzelnen Erwachsenen, großen Kindersälen, in denen
je eine Frau, durch keine Nebenbeschäftigung abgehalten, die Spiele und Be¬
schäftigungen von zwanzig bis dreißig Kindern überwacht, Zentralheizung und
elektrischer Beleuchtung, einer Küche, in der fünf Frauen, von einer Anzahl
Mädchen unterstützt, das schöne hundertpfündige Lendenstück und Gemüse zu¬
bereiten, einem gemeinsamen Speisesaal, in dem eine Anzahl Knaben abwechselnd
den Auftragdienst versehen, einer Waschküche, in der jeden Tag zehn Frauen
und Mädchen beschäftigt sind usw. Bei denselben Kosten und weniger und
angenehmerer Arbeit werden alle besser wohnen und speisen und weit mehr
Behaglichkeit genießen. Aber! — Nun, die Aber brauche ich nicht anzuzahlen.
Endlich entsteht die viel erörterte Frage: wohin mit den Jndnstrieerzeug¬
nissen, wenn alle Staaten Industriestaaten sind? Bleiben wir bei Lifts ur¬
sprünglichem Ideal, dem Agrikultur-Manufakturhandelsstaat, so entsteht diese
Schwierigkeit nicht: die ländliche Bevölkerung nimmt alle Jndustrieerzengnisse
auf, soweit sie nicht von der industriellen Bevölkerung selbst verbraucht werden.
Die Staaten treiben zwar Handel miteinander, aber nicht in der Weise, daß
Rohstoffe mit Jndnstrieerzeugnissen gekauft würden, sondern daß sie ihre Spezia¬
litäten, sowohl an Naturprodukten wie an Kunsterzeugnissen austauschen: Wein
und Braugerste, feine Modeartikel und grobe Gewebe. Der Austausch von
Jndnstrieerzeugnissen gegen Naturprodukte beschränkt sich dann auf den Ver¬
kehr zwischen den Kttltnrstaaten lind den tropischen Kolonien. Der Grundsatz
dagegen, den List später nach englischem Master aufgestellt hat: möglichst viel
Rohstoffe einführen, Jndnstricerzeugnisse ausführen, Kolonialwaren konsumieren,
setzt ein andres Ideal voraus, den reinen Industriestaat, der es nicht bei der
Rohstosfeiufuhr bewenden läßt, sondern auch seine Lebensmittel einführt.
Grundsätzlich schlug England den Weg zu diesem Ideal durch Aufhebung der
Kornzölle erst wenig Monate vor Lifts Tode ein, und List spendete ihm be¬
geisterten Beifall. Seitdem hat England das Ideal erreicht; aber es gefüllt
ihm selbst nicht so recht; die Gefährlichkeit seines Zustands wird im Lande seit
Jahren sehr ernstlich erwogen, und in den letzten Wochen ist das Wort Korn¬
zoll wieder oft gefallen. Es wäre überflüssig, die Gefahren eines solchen reinen
Industriestaats, vollends in unsrer Zeit der internationalen Konkurrenz, hier
noch einmal aufzuzählen, jeder kann die Litanei auswendig. Und sie wird
demnächst, wenn sich die Wirkungen der Depression, die den Aufschwung der
letzten fünf Jahre abzulösen anfängt, im vollen Umfange fühlbar machen, von
einem bedeutend verstärktem Chor angestimmt werden. Die industriefreund¬
lichsten Blätter verzeichnen sehr bedenkliche Symptome, und die Neue Freie
Presse meinte neulich, ohne den Flottenbau würde es jetzt schon schlimm stehn
im Deutschen Reiche. Flvttenvermehrnngen siud doch aber keine ewig und
gleichmäßig fortdauernde Gelegenheit für deu Konsum vou Eisen und Arbeits¬
kraft, auf die man die Zukunft der Volkswirtschaft bauen könnte. Freund ^
wird mich zu den Graningraumalern rechnen, aber so viel ich sehen kann, male
ich gar nicht, sondern mustere bloß die Thatsache», die List seinem Feldzngs-
plane zu Grunde legen müßte, wenn er heute lebte.
Geleugnet werden diese Thatsachen wohl nirgends, mir daß sie selten als
Symptome eines einzigen großen Prozesses aufgefaßt werden, und Theoretiker
wie Praktiker sich an eine einzelne Erscheinung oder an eine kleine Gruppe
von Erscheinungen halten. Am meisten wird die Disharmonie zwischen dein
Osten und dem Westen beachtet, und an guten Ratschlügen und Heilversucheu
fehlt es da nicht. Wir haben die Bodenbesitzreformer, die Siedlungsgenossen¬
schaften Franz Oppenhcimers (leider erst ans dem Papiere), die Bemühungen
der Regierung um innere Kolonisation und um Verpflanzung von Industriell
in die Agrnrprovinzen. Auch die vortrefflichen Gedanken über Landflucht und
Polenfrage im 11. und 12. Heft der Grenzboten können dazu beitragen, die
Entwicklung in die richtigen Bahnen zu leiten. Endlich haben wir deu Versuch
einer Rettung der Landwirtschaft durch Agrcirzölle, der um so bedenklicher er¬
scheint, je ausschließlicher er seit Jahren die innere Politik beherrscht. Als
reiner Theoretiker, und mich streng innerhalb der Grenzen meiner Befähigung
und Zuständigkeit haltend, kann ich wohl allgemeine Lehr- und Grundsütze
aufstellen und etwas dazu beitragen, die Leser über Sinn und Bedeutung dessen,
was vorgeht, zu orientieren, aber in die Diskussion der Sachverständigen über
die im Augenblick zu entscheidenden Fragen kann ich nicht hineinreden. Ich
kann also wohl sagen, daß ich mit unserm Mitarbeiter übereinstimme, wenn
er ausführt, daß zwar unstreitig viele ländliche Grundbesitzer in übler Lage
sind, daß aber die Not der Landwirtschaft übertrieben wird; daß die künstliche
Erhöhung der Getreidepreise zwar den gegenwärtigen Besitzern nützt, der nächsten
Generation aber eine neue, weit schlimmere Krisis bereitet, und daß die Negie¬
rung die Zukunft der Gegenwart nicht opfern darf; daß jedoch nichts dagegen
eingewandt werden kann, wenn sie den gegenwärtigen Besitzern einen mäßigen
Zollschutz gewährt, der sie in der Zeit, die sie brauchen, sich durch Betriebs-
ündernngen und Verbesserungen auf niedrige Getreidepreise einzurichten, vor
einer Katastrophe bewahrt. Das also kann ich, aber ich kann nicht ermitteln,
wie Viel Landwirte in Gefahr schweben, und kann nicht beurteilen, welche Zoll¬
höhe notwendig ist, die Bedrohten vor dem Untergänge zu schützen, um wie
viel dieser Zoll das Brot verteuern wird, welchen Brotpreis der Arbeiter er¬
schwingen und welchen die Industrie ertragen kann.
Dagegen halte ich mich wieder für berechtigt, den zwanzigjährigen er¬
bitterten Kampf um die Kornzölle aus dem Grunde zu beklagen, weil er die
Aufmerksamkeit der Denker nud die Arbeitskraft der Staatsmänner von der
Hauptsache ablenkt; denn dadurch, daß mau eine Anzahl Gutsbesitzer vorm
Bankrott bewahrt, wird weder das Großstadtelend beseitigt noch das Gewerbe
im Osten begründet, noch der Entvölkerung dieser Provinzen und ihrer Über¬
flutung mit Wanderarbeitern Einhalt gethan. Das Wanderarbeiterwesen hat
übrigens List vorausgesagt und als einen Fortschritt begrüßt. Er preist, wie
ich schon erwähnt habe, die Eisenbahn uuter andern? deswegen, weil sie den
raschen Ausgleich von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ermög¬
lichen werde; der Arbeiter werde nun nicht mehr an die Scholle gebunden
sein, Gewohnheiten wie das Hollandgehn in Westfalen, das Erntelaufen der
Weingärtner in Schwaben würden allgemein werden. Daß diese Beweglichkeit
nicht einen wohlthätigen Ausgleich, sondern eine dauernde ungesunde Ver¬
schiebung zur Folge haben, daß die einen die Landesteile entvölkern, die andern
überVölkern werde, daran hat er nicht gedacht, obwohl es ihn England hätte
lehren müssen. An die gründliche Heilung dieses Übels also wird man kaum
ernsthaft gehn können, solange die ganze innere Politik ausschließlich von dem
Streit um die Zölle beherrscht wird, der ja, wie mau aus der bisherigen
Geschichte der Zollverträge vermuten kann, auch nach der bevorstehenden Er¬
neuerung dieser Verträge noch nicht ruhn wird.
Sollte man in absehbarer Zeit endlich einmal zu dem Versuch einer innern
Kolonisation im großen Stile gelangen — im kleinen ist ja seit zehn Jahren
viel erfreuliches geleistet worden —, so wünsche ich zwar natürlich von Herzen
den besten Erfolg, bleibe aber vorläufig bei meiner früher ausgesprochnen Be¬
fürchtung, daß sie an dem hohen Bodenpreise und der Kostspieligkeit der Ein¬
richtungen, die in unserm Staate bei der Neunulegung von Dörfern gefordert
werden, unübersteigliche Hindernisse finden werde. Wiederholt habe ich die
Ansicht ausgesprochen, daß diese Hindernisse Hütten überwunden werden können,
wenn es gelungen wäre, die Reichsgrenze nach Osten und Südosten vor¬
zuschieben und auf diese Weise wohlfeilen Boden für Ansiedler zu schaffen,
was auch einen Sturz des Bodenpreises in der Heimat zur Folge gehabt
haben würde; nicht die stete Erhöhung von Kornpreis, Grundrente und Boden¬
wert, die Herr Rusland, die wissenschaftliche Autorität des Bundes der Land¬
wirte, empfiehlt, sondern das Gegenteil ist die Grundbedingung einer gesunden
Volksverteilung und des Gelingens der innern Kolonisation. Wohlfeiler,
reichlich vorhandner Boden war die Quelle des Glücks der Vereinigten Staaten,
an dem sich List berauschte, und das er ihrer vortrefflichen Staatsverfassung,
ihrer Freiheit und der Regsamkeit ihrer Bürger zuschrieb, und die ungehinderte
Freizügigkeit nach dem offnen wohlfeilen Slawenboden hin war es, was den
Wohlstand begründete, mit dem die Bevölkerung Deutschlands trotz höchst
mangelhafter Technik in das vierzehnte Jahrhundert eintrat. Demnach wäre
die Wiederherstellung des damaligen Zustands anzustreben. Nun sagt ja alle
Welt, das sei unmöglich. Mit diesem Zustande sei es ein für allemal vorbei;
die deutsche Ostgrenze sei für ewige Zeiten festgelegt und unüberschreitbar.
Und würde sie noch einmal geöffnet, füge ich hinzu, wer weiß, ob es nicht
zu spät wäre, ob unsre Landleute nicht schon zu sehr verstädtert sind, den
Geschmack an der Landwirtschaft zu sehr verloren haben, vom Westen und von
den Städten zu kräftig angezogen werden. Vor fünfzig, vor vierzig, noch vor
dreißig Jahren herrschte der Zug nach Osten vor. Damals hatten die Leute
noch Freude an der Landwirtschaft, zogen aus Mitteldeutschland nach Schlesien,
aus Schlesien nach Posen, Russisch-Polen, Galizien, um dort deutsche Muster¬
wirtschaften zu begründen. Damals hätte die Politik die wirtschaftliche Ent¬
wicklung in die oben angedeutete Bahn lenken können. Sie hatte zunächst
andre Aufgaben zu lösen, und jetzt mag es zu spät sein. Was nun werden
soll, das ist schwer zu sagen. Hoffen wir, daß uns die Vorsehung einen zweiten
ökonomischen Bismarck schicke, einen zweiten List, einen großen Praktikus, der
mit genialen Scharfblick erkennt, was not thut, und unser Volk in die richtige
Bahn hineinstößt. Über das Ziel besteht ja wohl kein Zweifel: ein Zustand,
der die Anwendung der vollkommensten Technik und die Entfaltung der höchsten
Kultur ermöglicht, ohne den Wurzelboden der Volkskraft und Volksgesundheit,
das Bauernleben, zu zerstören. Denn um dieses handelt es sich, nicht um
die Landwirtschaft. Möchten der Plnntagenbau mit Wanderarbeitern auf Lati¬
fundien und der von verstädterten Gärtnern betriebne Gemüsebau uoch so
glänzend rentieren, in sozialer und politischer Beziehung würde das für den
! cum man verliebt ist. — Hans Stieper war es und war als Schneider-
! gesell kaum vier Wochen bei Meister Eggert in Arbeit, und acht
Tage schon war er verlobt.
Sie war des Kätners Harder Rickers Tochter und hieß Katrien
oder Tine und wohnte gleich an Meister Eggerts Garten unter einem
! niedrigen Dach, die Thür hinter stark verholzten Johaimisbeerbüschen.
Als dreizehnjähriger Junge hatte er sie gesehen (sie war damals ein sehr kleines
und sehr lustiges Mädchen gewesen), als eben freigesprochner junger Geselle hatte
er sie wiedergetroffen und die Bekanntschaft erneuert. Frau Meister hatte einen
Topf mit Honig zu Harders hiuüberschicken Wollen, und er hatte den Topf hinüber¬
getragen. Den Topf und sein Herz hatte er in der Rauchkate zurückgelassen, aber
Times Liebe hatte er mitgenommen. Vor dem nltsachsischeu Schwibbogenherd und
vor der dampfenden Waschbütte (Tiue war gerade beim Telleraufwaschen gewesen)
war es zur Aussprache nud dem, was dann zu folgen pflegt, gekommen, und Harder
hatte gern eingewilligt. Als Verlobter Bräutigam war er an ihrer Seite durch
die Johannisbeerbüsche nach seines Meisters Hause zurückgekehrt, seine Braut vor¬
zustellen.
Heft ver Moru ok all en Brüdigmn sehn? hatte er seine» Mitgesellen gefragt.
Er hatte auf ein verwundertes Gesicht und auf ein rundes Nein gehofft,
und dann hatte er sich aufrichten und auf die lachende Tine zeigen und sagen
wollen:
Denn sügst um een, un een hübsche Brut dorto!
Aber da hatte er nicht mit der mürrischen Schweigsamkeit seines Schneider¬
und Stubenkollegen gerechnet. Dieser — Ernst war jn wohl sein Name —
gehörte zu den Unglücklichen, die ohne Humor in der Welt „hcrnmgnncksen."
Er war geboren worden zu einer Stunde, wo die gute Frnn Göttin, die sonst
alle — alle, ohne Unterschied —, wen sie nur gewahr wird, in ihren Losbeutel
greifen läßt, aus dem der eine mehr, der andre weniger, aber alle etwas er¬
halten — wo also die den Humor im Sack habende Fee gerade schlief: — Ernst
war ganz leer ausgegangen. Er hatte, als Hans mit Katrien Nickers ankam
(beide strahlend wie der junge Tag), als Hans so wunderlich fragte, gar nichts
gemerkt, es ist nicht einmal sicher, ob er Katrien überhaupt gesehen hat. Er hatte
auch keine Zeit, Rätsel zu lösen. Er kramte just in seiner Lade und blieb dabei
und knurrte: Hev keen Brüdigam sehn, un is mi ok all ganz een bohrt. — Hans
Stieper lachte, und Katrien lachte mit. Sie ließen den Misanthropen weiter kramen,
Hans Stieper war glücklich. Was Schierke ihn die Welt?
Jn Hohenfelde war man wohl gewohnt, daß „Bräntigamme" sozusagen eine
Oktave höher sprechen und singen als vor ihrer Verlobung. Aber daß jemand
nur, weil ein Mädchen mit gelben Haaren, blauem Drillichspenzer und weißer Latz¬
schürze zugesagt hatte, seine Frau zu werden, plötzlich ein ganz andrer wurde, das
kannte man in Hohenfelde nicht.
Aber es war wirklich so. Bis dahin ein schüchterner stiller Hans mit dunkelm
Kraushaar und braunen, fragenden Angen, der gar keine Idee davon hatte, was
alles die gute Frau, von der ich sprach, ihm beschert hatte, war er endlich Herr
seiner selbst geworden, ein reicher und beredter Pharao, der sieben und abermals
sieben Jahre lang alles, was an ihm vorübergezogen war, in die Vorratskammern
seines Gedächtnisses eingeschenert hatte, nun aber nicht wußte, wo er mit all seinem
Reichtum bleiben sollte, und darum allen den Sack füllte, die dnrch die Wüste des
Lebens zu ihm kamen.
Jawohl, Hans Stieper war glücklich.
Alles, Was ihn umgab, gewann Leben. Die stille Schneiderstnbe war ihm
der Vorhof zur Seligkeit. Jn den scharfen Mundwinkeln seines alternden Meisters
sah er für und für das Lächeln eines gütigen Gönners. Die spitzen, eckigen Ellen¬
bogen des hoffnungslos schweigsamen Gesellen waren ohnmächtige Neider seines
Glücks. Die tapfere Schneiderschere, die den dicksten Stoff mit ihrer Stahlschwere
spielend überwand, bedeutete die über den Frieden seiner Liebe wachende Bull¬
dogge. Wenn er den glühenden Bolzen ins Bügeleisen that und die glatte Stahl¬
fläche auf der Thürschwelle abstrich, dann hörte ers deutlich heraus: Dir flammt
ein Herz im Brustkorb. Aber auch ich habe ein rotes, ein heißes Herz.
Alles deutete sich ihm als Bestätigung oder auch als Spottvogel seiner Liebe.
Wieviel mehr geschah das bei den Dingen, die zu der blonden Kätnerstuchter Tine
Rickers in Beziehung standen!
Auf dem Apfelgarten nach Harder Nickers hin, namentlich aber auf der großen
Johannisbeerhecke, lag je und je ein merkwürdiger Glanz. Dem Schneider ging
es mit diesen Dingen, wie den Hohenfeldern mit Hans Stieper. Bisher hatte er
sie für gewöhnliche Büsche gehalten, nun aber sah er, daß es ganz außergewöhn¬
liche waren. Stand nun gar der Vollmond am Himmel, und saß Hans Stieper
dann, tabakrauchend (der Tabakverbrauch steigert sich bekanntlich mit der Liebe),
saß er dann auf der Gartenbank an des Meisters Hauswart, dann war er ein
Märchenprinz und hielt Wechselreden mit dem Mond, mit dem schwarzen Stroh¬
dach von Harder, mit dein Luftzug, der ganz sachte von Nachbar Thon her über
die Planke kam, dann sprach er auch mit der Johannisbeerhecke, die sein Liebstes
und das Thor, das zu seinem Schatz führte, bewachte.
Heute abend zumal war alles ganz närrisch vor Liebe und Glück. Der Mond
kam schräg über Harder Rickers Katenfirst. Hans sah wohl das Storchnest, worin
die Storchenmutter so süß schlief, aber er bekümmerte sich nicht darum. Er be¬
kümmerte sich auch nicht um den Storchenvnter, der nicht im Nest war, sondern
in Gedanken verloren daneben stand. Der Storch war nämlich ein Philosoph und
nebenbei etwas mondsüchtig.
Der Mond sah auf die Johannisbeeren nieder, ließ sie aber im Schatten und
beleuchtete nur ihre Spitzen. Er sagte vor der Hand wenig, aber die alten Büsche
waren ganz redselig. Von ihrem Unwert als Gartenbüsche überzeugt und doch
stolz wie Lakaien. Als die Augen des glücklichen Schneiders über sie hingingen,
fingen sie um:
Wir sind zwar ganz gewöhnliche Sträucher, sagten sie, und trage» thun wir
auch nicht mehr, und wenn der Wind vom Nachbar kommt, macheu wir . . .
Surr! — Surr! . . ., aber was uns zu idealen Büschen macht, das ist. . . Nun,
Hans. . du weißt es, dich gehts an! . . . Sie wiegten vielsagend ihre Köpfe.
So eine Ruhmrederei konnte denn die alte Kate nicht vertragen. Sie war
bejahrt, aber erfahren, und ihr Dachstuhl war leer, der Widerklang darum hohl
und dumpf und ihr Baß tief, als sie einfiel:
Reden die da wie Feenwächter und stehn bloß vor der Thür. Aber ich . . .
ich hab sie selbst. . . sie, die dein Herz erfüllt. Ich hege und habe sie in meinem
Schoß, in weichen, wurmen Kissen. Der schöne Kopf mit dem gelben Haar ruht
in der runden Armbeugnug ihrer Rechten. Und die Linke . . . nun, die ruht auch
irgendwo, wo es warm und weich ist. . . .
Hans klopfte seine Pfeife aus und lachte und seufzte. Er seufzte vor Sehn¬
sucht und lachte wieder. Worüber lachte er denn?
Es kam ihm so komisch vor, was die da sich zurecht redeten. Nicht daß sie
redeten und was sie redeten — es war ja alles lautere Wahrheit. . . . Nein,
darüber mußte er lachen, daß er so ein Märchenprinz war. Ein Einsamer war
er gewesen, den niemand verstand, ein Wunderlicher, den keiner für voll nehmen
wollte, ein Ritter von der Nadel, ein Verspotteter und Verachteter, der bei sich selbst
in zweifelhaftem Ansehen stand. Und nun diese Wandlung! Da hinter den Büschen,
uuter dein schwarzen Dach schlief ein Dirnchen im Bett, und das — es war zu komisch,
es war wirklich zum Lachen — wollte ihm angehören, ihm für immer augehören.
Wie sie wohl darauf gekommen war? Das war das Unerklärliche.
Es fiel ihm ein: danach hatte er noch niemals gefragt. Wie lustig müßte
es sein, es aus ihrem Munde zu hören! Wenn er gleich hinginge. Es war aller¬
dings etwas spät in der Nacht, sie würde böse sein, daß er sie weckte, aber er
wollte es doch thun. Sie schlief in der Kammer hinter der Schwibbogenwand
über dem Keller, weit weg von ihrem Alten. Der schnarchte ja immer, daß man
es durch zwei Wände hörte, und das konnte sie nicht vertragen.
Das Glück ist unschuldig und dumm und dreist. Und Hans war ja ein
Glücklicher. Er ging, und der brave Mond leuchtete ihm. Er ging an den selbst-
zufriedneu Johannisbeeren vorüber, bei Harder Rickers an der Hauswart längs
und bog zweimal um die Hausecke. Vor der Giebelseite an der Wand hingen
hübsch geordnet unter dem Dach Reusen und Netze (Harder war ein großer Sonn¬
tagsfischer vor dem Herrn), der Mond zeigte ihm alles. Was ists doch für ein
fleißiger, ordentlicher Mann, dein Schwiegervater, sagte er. Und wie er schlafen
kann. Hör mal! — Hans stand still und horchte. In der That: Das ging so an,
das konnte so bleiben.
An der hintern Längsseite des Hanfes steckte ein großer Kalkquast im niedrigen
Dach.
Was ist sie doch für eine nette Dirn! lobte der Mond. Mit dem Quast weißt
sie, so um Pfingsten herum, das ganze Haus von außen und innen. Du solltest
mal sehen, wie ihr das steht. Ein buntes Tuch um den Kopf, daß man nur
Augen und Mund und Kinn sieht, Spenster und Rock alter Jahrgänge, aber alles
nett sitzend, von oben bis unten kalkbespritzt, und in der Hand den großen triefenden
Quast.
Und hier ist ihr Fensterchen, unterbrach sich der Gute. Wenn du Mut hast,
so klopf an!
Und Hans hatte Mut und klopfte an. Er wartete ein Weilchen, es rührte
sich nichts. Er klopfte noch mal. Da tum ein tief aus Kissen herausquellendes,
furchtsames: Wat is dor? — Dat bon ik man, antwortete Hans. — Du, Hans? —
Ja! — Hans, weißt du denn nicht, daß sich das nicht schickt? — Ich will nur
was fragen. — Wichtiges? — Ungeheuer wichtig. — Dann wart, ich komme ans
Fenster.
Es war stille Nacht, und Verliebte haben scharfe Ohren. Er hörte allerlei,
was ihn entzückte. Ein Bett wurde zurückgeschlagen, die kurzen rauschenden Töne
des Anziehens von Frauenröcken. Das alles vernahm der selige Haus. Schließlich
klang das Fenster leise, der Mond beleuchtete einen verschlafnen, halb verwunderten,
halb unwilligen, aber sehr lieblichen Mädchenkopf.
Was willst du eigentlich, Hans?
Was fragen.
So hörte ich. Aber mitten in der Nacht? Du machst einem Angst. Muß
es denn just jetzt sein?
Ja, es muß jetzt sein.
Frag endlich los, ich bebe vor Bange.
Das thut just nicht nötig, es ist nichts Schlimmes.
Aber was, Hans?
Hans lachte leise.
Ja, Tine, ich habe immer vergessen . . . ich wollt man fragen. ... Es
kommt mir so wunderlich vor, daß du mich so gern hast. Das wollt ich bloß
fragen — warum?
Der Mädchenkopf lachte und zeigte dem Mond weiße Zähne.
Eigentlich sollt ich schelten. Aber wie kann man dich schelten! Du bist ja
nun mal anders als andre.
Sag, liebe Tine, warum liebst du mich?
Hans, das muß ich dir doch sagen. Wenn es überhaupt mit meiner Liebe
alle werden könnte, so brauchtest du mich uur noch mal wegen so dummer Fragen
zu wecken. Fühlst du denn nicht, daß es ganz unschicklich ist, nachts nnter mein
Fenster zu kommen. Wenn uus der alte Wächter sähe: um uns wäre es geschehn,
wir wären in der Leute und alter Weiber Mund. Ja, aber es hilft alles nichts,
ich mag schelten, wie ich will, lieben thu ich dich doch und werde es immer thun.
Ja ja, aber sag mir: weshalb du mich lieb hast?
Weil du ein so unmenschlich guter und netter Kerl bist — deshalb!
Ohne Gutenachtgruß schloß sich das Fenster. Hans stand erst ein bischen ver¬
blüfft davor. Dann that er das, was er den ganzen Abend gethan hatte: er
lachte. Und der gute Mond lachte auch. Es war ein höchst lächerlicher Augenblick.
Lachend nahmen sie beide ihren Rückweg, an dem Kalkquast, an den Fischergeräten
vorbei, er gehend, der Mond leuchtend.
Als er die Johannisbeeren passiert hatte, hätte er bald laut gejauchzt. Aber
er dämpfte seine Freude. Se! Se! sagte er — es ist Nacht, und alle Leute schlafen.
Sonst, Hans, wäre es an der Zeit zu lachen, wie dn noch niemals gelacht hast.
Sie hat mich gern, weil ich ein so unmenschlich guter und netter Kerl bin. Daß
ich so unmenschlich gut und nett bin. Wer hätte das gedacht. Ich selbst am aller¬
wenigsten.
Am folgenden Morgen beim Frühstück machte der mürrische Ernst dem Meister
eine Szene. Wenn der Meister ihm nicht eine andre Schlafstube anweisen könne,
müsse er sich „fremd machen." Mit Hans Stieper wolle er die Kammer nicht länger
teilen. Der habe ihn so recht in der Nacht aus dem tiefsten Schlaf, so zwischen
zwölf und ein Uhr, geweckt, ihn gefoppt und ihn einen unmenschlich guten und
netten Kerl genannt. Das brauche er sich nicht gefallen zu lassen.
Wenns weiter nichts ist! unterbrach ihn Hans. Meinetwegen soll Meister
keinen Gesellen verlieren. Ich nehm alles zurück: Du bist kein unmenschlich guter
und netter Kerl!
Nachdem die Befestigungen an der Mündung des
Peiho dem Erdboden gleich gemacht worden sind, sind auch die deutschen Truppen
der Mehrzahl nach mit dem Panzergeschwader, das in China notwendig war, wieder
auf der Rückkehr in die Heimat. Was für ein Gerede hat nicht die Beteiligung
Deutschlands an diesem Kriege in den Zeitungen hervorgerufen! Da war von
dem, was der Kaiser anzuordnen für gut befand, eigentlich nichts recht, und gleich¬
wohl ist der Zeiger auf dem Zifferblatt, wenn auch langsam doch stetig, besonders
dnrch den von Deutschland ausgeübten Druck bis an den Punkt geschoben worden,
wo das Uhrwerk zwölf schlagt.
Zuerst, als die Nachricht von der Ermordung des deutschen Gesandten die
Welt in Aufregung versetzte, und das mannhafte edle Wort des Kaisers die
volle Sühne verlangte. War diese Forderung nicht provokant, mußte sie andrer¬
seits nicht hinter dem zurückbleiben, was thatsächlich von dem fernen, durch die
Zwietracht der Mächte auf ungeraden und durch heimliche Hilfe auf geradem Wege
unterstützten China herausgedrückt werdeu konnte? Dieselben Blätter, oder wenigstens
dieselben Parteien, die es im Jahre 1870 dem Verantwortlicher Leiter der deutschen
Politik zum schwersten Vorwurf gemacht hatten, daß er die Chamade zur Fanfare
umgestaltet hätte, waren jetzt ebenso entrüstet, daß bei dieser Gelegenheit der kaiser¬
liche Mund selbst zum Sturme geblasen habe. Natürlich, die Fälle sind verschieden,
und hier war ein solcher, daß ein Minister am Platze sein mußte, der die Fanfare
zur Chamade umdichtete.
Was wollte denn dieses Deutschland? Niemand hatte es zum Heerrufer im
Wettstreite bestellt, und aus sich selber heraus konnte es den Anspruch darauf erst
recht uicht erheben. Wenn man auf dem einen Beine hinkt, kann man nicht in
einen Wettlnuf, der um die Welt geht, eintreten, oder die wilde Jagd schiebt den
Aufbringung unter Hohnlachen beiseite. Von den Philippinen her mußte den
Deutschen die Schadenfreude der Amerikaner noch in den Ohren klingen, und nun
Wollen wir gar im Reiche der Mitte den Takt zu der Musik angeben, die hier
aufgespielt werden soll? Wenn du nicht willst, daß deine Gesandten ermordet
werden, so laß deine zudringliche Nase von dem Speck weg, den die Chinesen in
ihrer Falle hängen haben. Innerhalb ihrer großen Mauer, so wollen es die
Chinesen, hat niemand etwas zu suchen, und wenn schon eine Ausnahme statthaft
ist, so kann sie nur zu Gunsten der Engländer und Russen, höchstens auch der
Franzosen gemacht werden, die alle ein historisches Recht darauf haben.
Den großen Worten entsprang sehr zum Verdruß der besser wissenden die
Vorbereitung großer Thaten. In einem Teile der radikalen Presse verstieg sich
der Ton der Kritik, die an den Maßnahmen der Regierung geübt wurde, zu der
Schärfe des Ausdrucks, der an die Konfliktsjahre erinnerte. Von dem Gespenst der
bleichen Furcht, das sogar in den Reihen der national gesinnten Parteien einher¬
schlich, soll hier gar nicht die Rede sein, aber je weiter von links her das Urteil
kam, um so deutlicher lautete es dahin, daß dem Weltmachtspielen ein jähes Ende
bevorstehe. Da man es ihm selber nicht bereiten konnte, so war die Vaterlands-
losigkeit groß genug, die Hoffnung durchblicken zu lassen, daß die wirklichen Welt¬
mächte sich des Dings annehmen möchten. Oder war das Ausmalen der Spannung,
die die Welt auseinander ziehn sollte, nicht ein direkter Hinweis dnranf, daß sich
Deutschland an dem in China aufbrodelnden Hexenkessel nicht bloß die Finger ver¬
brennen werde?
Wie viel Schiffe, Mannschaften und Landtruppen man in einem Kriege wie
dem chinesischen nötig habe, darüber die Entscheidung zu treffen, sollte man ver¬
nünftigerweise denen überlassen, die die Sache zu machen haben und deshalb die
Verantwortung tragen. Anderwärts geschieht das auch, und es giebt sogar Länder,
in denen dem Volk in der angegebnen Richtung nicht leicht zu viel gethan werden
kann. In Deutschland aber ist das anders, da weiß man ganz genau, wo das zu
wenig aufhört und das zu viel anfängt. Das hängt mit unsrer Geschichte zu¬
sammen, die an allen Ecken und Enden den Beweis liefert, welchen glorreichen
Anteil die linksliberalen Parteien an dein Aufbau des neuen Deutschen Reichs ge¬
nommen haben!
Eine ganze Panzerdivision mit den dazu gehörigen großen und kleinen Kreuzern
und mit dem, was an Torpedobooten nötig war! Das war allerdings eine imposante
Entfaltung unsrer Marinestreitkräfte, an die man nicht gewohnt war, und wenn
ein Patriot still und bange für sich über den Fall nachdachte, so hatte er alle Ur¬
sache dazu. Aber wenn Leute von der Seite, auf der das Streichen an den Flotten¬
forderungen unsrer Regierung seit dreißig Jahren chronisch War, sich in die Sache
mischten und bedenklich fragten, was bei einer so starken Entsendung aus der Ver¬
teidigung unsrer Küsten werden solle, so war nichts natürlicher als die Gegenfrage,
was gerade sie denn zu einem so vielstimmigen Geschrei berechtige. Wenn nicht
seit Jahrzehnten mit der größten Suffiscmz des Besserwissens die notwendigsten
Posten von der Liste der Forderungen abgesetzt wurden, dann fehlten jetzt die
nötigen Schiffe weder zu dem einen noch zu dem andern Zwecke.
Wenn in früherer Zeit bei irgend welchen festlichen Veranlassungen in Italien,
England oder sonstwo die fremden Mächte ihre Panzerkolosse zur Schau auffahren
ließen, dann konnte man sich wegen der Bescheidenheit der deutschen Vertretung in
höhnischem Spott nicht genug thun. Hier war es umgekehrt: Hohn und Spott
wegen einer Machtentfaltung, die übers Können hinausging und doch nicht aus¬
reichte, wenn das Weltkonzert in die Brüche ging. Deutschland brauchte, lahm an
dem einen Beine, wie es immer noch ist, nicht in die Zirkel hinein zu treten, die
die großen Mächte um die Erde hernmziehn. Ist dieses gewagte Hinaustreten in
eine Welt, wo die Kreuzwege durcheinander laufen, und Peter die fremden Menschen
nicht kennt, rin der sich selbst bescheidenden Weisheit vereinbar, die einstmals von
den Lippen des größten Staatsmanns kam? Die Knochen des pommerschen
Grenadiers sind vielfach zitiert worden, aber daß sie noch einmal von denen ins
Gefecht geführt werden würden, die bei des Fürsten Bismcirck Lebzeiten von seiner
staatsmännischen Überlegenheit nichts wissen wollten, das hätte sich so leicht keiner
träumen lassen, der auf die Worte des ersten Kanzlers etwas gab, und am wenigsten
dieser selbst.
Die Interessen, die Deutschland auf der Balkanhalbinsel zu vertreten hatte,
sollten nicht das Blut eines einzigen deutschen Soldaten wert sein, und nun wird
gar eine ganze, 24000 Mann starke Division dieses kostbaren Materials nach China
verschifft. Die Zeit ist aus den Fugen, und es ist etwas faul im Staate Däne¬
mark. — Kann das jemals gut gehn, wenn so viel kostbares Blut und so viel
teures Kapital auf eine so faule Nummer gesetzt wird? — Aber Freiwillige vor! —
und niemals ist ein Wechsel, den Seine Majestät auf die treue Gesinnung seines Heers
gezogen hat, prompter honoriert worden. Auch kann seine Regierung keinen schlagender»
Beweis für die Richtigkeit ihrer Politik bringen, als die Antwort, die die Armee
auf die Freiwilligenforderuug durch ganz Deutschland hin gegeben hat. Denn mit
der abgegebnen Erklärung ist nicht bloß der Soldat, sondern das ganze Volk vor
die Front getreten.
Für die besten Soldaten paßten nur die besten Offiziere und der beste Oberst-
kommnndierende. Daran hätte man sich halten sollen, um sich zu erklären, wie nur
die Wahl eines Mannes an die Spitze der Verbündeten Heeresmassen möglich war,
wie der Graf Waldersee ist. Wer sichs hinterher überlegt, muß sagen, daß nichts
andres gethan werden konnte: Kaiser Wilhelm konnte vielleicht einen andern, ebenso
guten, aber keinen bessern General in Vorschlag bringen. Aber nicht daran hat
man sich so sehr gestoßen, wie an der Initiative des Kaisers überhaupt, in der
wie in allem, was von Deutschland ausging, ein gefährliches provokatorisches
Hinaustreten aus den ihm gebührenden Grenzen gesehen wurde.
Lassen wir alles andre beiseite, und erinnern wir uns bloß, mit wie wenig
Witz und wie viel Behagen ein Teil der deutschen Presse den „Weltmarschall" nach
Ostasien hin begleitet hat. Nun hat sich das, was ein schnödes Wortspiel war, in
die wirkliche Wahrheit verkehrt. Die deutschen Soldaten haben mit Stolz den
Scherz in aller Form aceeptiert. Denn sie habe» unter Waldersees Führung nicht
nur die Ordnung in China mit den Soldaten der übrigen Welt wiederhergestellt,
sondern diese haben auch mit den Deutschen vor dem deutschen Marschall in Parade
gestanden. Das ist zwar nur eine militärische Form, aber sie bezeichnet besser als
alles andre den gegenwärtigen Stand der Dinge. Die gemeinsame Aktion ist mit
dem besten Erfolge und in so guter Manier zu Ende geführt worden, wie man
unter den obwaltenden Umständen nur wünschen kann. Der Krieg ist vorbei, was
noch zu thun ist, mag den Diplomaten überlassen werden.
Im Juli, nicht ganz ein Jahr, nachdem er sich auf den Befehl seines kaiser¬
lichen Herrn nach Ostasien eingeschifft hat, wird der Generalfeldmarschall von Waldersee
wieder in Deutschland sein. Zu derselben Zeit ungefähr werden auch die großen
Panzer in ihre heimatlichen Häfen wieder einlaufen, und auch drei Viertel von der
Division, die in China gekämpft hat, werden den heimischen Quartieren zurück-
gegeben sein. Was die zurückkehrenden Truppen zur See und im Felde mit Tapfer¬
keit und Disziplin geleistet haben, gehört von jetzt der Kriegsgeschichte an, was sie
für das Vaterland errangen, kann noch auf keiner Wngschale gemessen werden.
Jedenfalls haben sie alle Befürchtungen, die an die chinesische Expedition geknüpft
wurden, zu Schanden gemacht, und wenn auch die moralischen Erfolge, mit denen
sie zurückkehre», sich einer exakten Wertschätzung entzieh», so stehn sie doch den
besten gleich, was jemals deutsche Soldate» im Dienst für König und Vaterland
gethan haben. Was aber die materiellen Vorteile anlangt, die der glücklich voll¬
endete Krieg bringen soll, so kann Deutschland ihre Eiuheimsung so gut abwarten
wie irgend el» andres Land.
Im „Reichsboten" vom 9. Juni hat sich
„einer über unsern Artikel „Italien und der Dreibund" offenbar schwer geärgert.
Der „gute Herr" hat ganz übersehen, daß dieser Artikel im wesentlichen eine
italienische Stimme aus einer der angesehensten italienischen Zeitschriften, der Mova,
^lltoloAi», wiedergab, und er scheint auch gar nicht zu wissen, daß die dort aus¬
geführte Ansicht, eine Erneuerung des Dreibundes sei nur im Verein mit günstigen
Handelsverträgen möglich, im italienischen Parlament mehrfach geäußert worden ist.
Da ein Vertrag bekanntlich eine zweiseitige Sache ist, so schien uus die in Italien
herrschende Meinung beachtenswert genug, deutsche Leser darauf aufmerksam zu
machen. Erst die jüngsten Parlnmentsdebatten in Rom, namentlich die Erklärungen
des Ministers des Auswärtigen, Prinetti, der als Abgeordneter übrigens ganz anders
gedacht hat, können die ausgesprochnen Befürchtungen entkräften, und man kann an¬
nehmen, daß die Erneuerung des Dreibundes, der Italie» den ihm so dringend
nötigen Frieden solange erhalten hat, nunmehr wohl sicher zu erwarten ist.
Die Schweiz. Von dem Prachtwerke: Die Schweiz im neunzehnten
Jahrhundert, dessen ersten Band wir im dritten Bande des Jahrgangs 1899
der Grenzboten Seite 582 ff. ausführlich besprochen haben, ist nun endlich der dritte
und letzte Band erschienen. Er behandelt: Landwirtschaft, Industrie und Handel,
Arbeiterbewegung und Sozialismus, die Genossenschaftsbewegung, die Verkehrswege,
Hygieine, Werke der Menschenliebe, die Nationalfeste, den Alpinismus, die gute
alte Zeit und das moderne Leben, Finanzen und Bevölkerung. In einem allgemeinen
Überblick: Die Schweiz im Jahre 1900, liefert Paul Seippel u. a. manche dankens¬
werten Ergänzungen der Abhandlung Hiltys über das schweizerische Staatsrecht im
ersten Baude. Die Vergleichung des modernen Lebens mit der „guten alten Zeit"
fällt nicht überall und unbedingt zu Gunsten des ersten aus. Auch diesen dritten
Band ziert reicher und guter Bilderschmuck.
Zur Beachtung
Mit dein nächsten Kehle beginnt diese Zeitschrift das 3. Vierteljahr ihres «0. Jahr¬
ganges. Kie ist durch alle Kuchhandlungen und Postanstalten des In- und Auslandes zu
beziehen. Preis für das Vierteljahr » Mark. Mir bitten, die Bestellung schleunig zu
erneuern. Unsre Freunde und Keser bitten wir, sich die Verbreitung der Grenzbaten
angelegen sein zu lasse».
K-ipzig, im Juni JoellDie Verlagshandlung